Protokoll:
17212

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 17

  • date_rangeSitzungsnummer: 212

  • date_rangeDatum: 30. November 2012

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 16:33 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 17/212 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 212. Sitzung Berlin, Freitag, den 30. November 2012 I n h a l t : Wahl der Abgeordneten Ingrid Hönlinger als Schriftführerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erweiterung der Tagesordnung . . . . . . . . . . . Zur Geschäftsordnung Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE) . . . . . . Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU) . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 10: a) Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister der Finanzen: Fort- schritte beim Anpassungsprogramm für Griechenland b) Antrag des Bundesministeriums der Finan- zen: Änderungen im bestehenden An- passungsprogramm für Griechenland – Änderung der Garantieschlüssel; Ein- holung eines zustimmenden Beschlusses des Deutschen Bundestages nach § 3 Ab- satz 1 i. V. m. § 3 Absatz 2 Nummer 2 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes (StabMechG) (Drucksachen 17/11647, 17/11648, 17/11649, 17/11669) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister  BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD) . . . . . . . . Rainer Brüderle (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sahra Wagenknecht (DIE LINKE) . . . . . . . . . Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Michael Roth (Heringen) (SPD) . . . . . . . . . . Otto Fricke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Norbert Barthle (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Frank Schäffler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU) . . . . . . . . . Gunther Krichbaum (CDU/CSU) . . . . . . . . . Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 11: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Gesundheit zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Edgar Franke, Christine Lambrecht, Bärbel Bas, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der SPD: Korruption im Gesundheitswesen wirksam bekämpfen (Drucksachen 17/3685, 17/9587) . . . . . . . . . . Heinz Lanfermann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Elke Ferner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rudolf Henke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karin Maag (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25965 B 25965 B 25965 D 25966 D 25967 C 25967 D 25972 A 25975 B 25977 B 25979 C 25981 D 25982 D 25984 B 25985 A 25986 A 25987 A 25987 C 25988 C 25989 C 25591 C 25989 C 25989 D 25993 B 25995 B 25995 D 25997 A 25999 D 26001 B 26002 D Inhaltsverzeichnis II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012 Dr. Edgar Franke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Erwin Lotter (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Carola Reimann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Dietrich Monstadt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Maria Michalk (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 45: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vermeidung von Gefahren und Missbräu- chen im Hochfrequenzhandel (Hochfre- quenzhandelsgesetz) (Drucksache 17/11631) . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär  BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Carsten Sieling (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Björn Sänger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Richard Pitterle (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bettina Kudla (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Manfred Zöllmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 15: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwick- lung zu dem Antrag der Abgeordneten Heidrun Bluhm, Steffen Bockhahn, Halina Wawzyniak, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Ausverkauf staatlichen Eigentums stoppen – Keine Privatisierung der TLG- Wohnungen (Drucksachen 17/9150, 17/10361) . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 12: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwick- lung zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Joachim Hacker, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Wohnungspolitische Ver- antwortung bei Übertragung der bundesei- genen TLG-Wohnungen sichern (Drucksachen 17/9737, 17/10717) . . . . . . . . Gero Storjohann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Steffen Bockhahn (DIE LINKE) . . . . . . . . Hans-Joachim Hacker (SPD) . . . . . . . . . . . . . Jan Mücke, Parl. Staatssekretär  BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heidrun Bluhm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Arnold Vaatz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Steffen Kampeter (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Heidrun Bluhm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karl Holmeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Heidrun Bluhm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 49: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der Krebsfrüherken- nung und zur Qualitätssicherung durch klinische Krebsregister (Krebsfrüherken- nungs- und -registergesetz – KFRG) (Drucksache 17/11267) . . . . . . . . . . . . . . . . . Heinz Lanfermann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Marlies Volkmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Annette Widmann-Mauz, Parl.  Staatssekretärin BMG . . . . . . . . . . . . . . . . Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rudolf Henke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 50: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Katja Dörner, Ekin Deligöz, Ingrid Hönlinger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Ergän- zung des Artikels 6 zur Klarstellung der Kinderrechte) (Drucksache 17/11650) . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Diana Golze, Matthias W. Birkwald, Dr. Martina Bunge, weiteren Abgeordne- ten und der Fraktion DIE LINKE einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Gesetz zur grundgesetzlichen Verankerung von Kinderrechten) (Drucksache 17/10118) . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Katja Dörner, Jerzy Montag, Ekin Deligöz, weiterer 26003 B 26004 D 26006 B 26007 D 26009 C 26010 B 26011 C 26011 D 26013 A 26014 D 26016 C 26017 D 26019 B 26020 B 26021 B 26023 A 26023 B 26023 C 26024 B 26025 A 26027 A 26029 A 26030 A 26031 B 26031 D 26032 A 26033 A 26033 C 26034 C 26034 D 26035 D 26037 A 26038 A 26039 A 26039 D 26041 A 26041 B Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012 III Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Rechte der Kin- der von Strafgefangenen und Inhaftier- ten wahren (Drucksache 17/11578) . . . . . . . . . . . . . . . Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) . . . . . . . . . Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) . . . . . . . . . Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) . . . . Marco Buschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Norbert Geis (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) . Marco Buschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . Dr. Edgar Franke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Anlage 2 Erklärung des Abgeordneten Dr. Peter Röhlinger (FDP) zur namentlichen Abstim- mung über den Antrag: Patientenrechte wirksam verbessern (Drucksache 17/11008) (211. Sitzung, Tagesordnungspunkt 6 b) . . . . Anlage 3 Nachträglich zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2012/6/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. März 2012 zur Änderung der Richtlinie 78/660/ EWG des Rates über den Jahresabschluss von Gesellschaften bestimmter Rechtsfor- men hinsichtlich Kleinstbetrieben (Kleinst- kapitalgesellschaften-Bilanzrechtsände- rungsgesetz – MicroBilG) – Beschlussempfehlung und Bericht zu dem Antrag: Erleichterungen für Klein- und Kleinstkapitalgesellschaften bei der Of- fenlegung der Jahresabschlüsse (Tagesordnungspunkte 31 a und 31 b) Beate Walter-Rosenheimer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Alexander Funk und Manfred Kolbe (beide CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung über den Antrag: Änderungen im bestehenden Anpassungsprogramm für Griechenland – Änderung der Garantieschlüssel; Einholung eines zustimmenden Beschlusses des Deut- schen Bundestages nach § 3 Absatz 1 i. V. m. § 3 Absatz 2 Nummer 2 des Stabilisierungs- mechanismusgesetzes (StabMechG) (Zusatz- tagesordnungspunkt 10 b) . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 5 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Peter Danckert, Ewald Schurer und Rolf Schwanitz (alle SPD) zur namentlichen Ab- stimmung über den Antrag: Änderungen im bestehenden Anpassungsprogramm für Grie- chenland – Änderung der Garantieschlüssel; Einholung eines zustimmenden Beschlusses des Deutschen Bundestages nach § 3 Absatz 1 i. V. m. § 3 Absatz 2 Nummer 2 des Stabilisie- rungsmechanismusgesetzes (StabMechG) (Zu- satztagesordnungspunkt 10 b) . . . . . . . . . . . . Anlage 6 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Lothar Binding (Heidelberg), Dr. h. c. Susanne Kastner, Dr. Bärbel Kofler, Wolfgang Tiefensee und Heidemarie Wieczorek-Zeul (alle SPD) zur namentlichen Abstimmung über den An- trag: Änderungen im bestehenden Anpas- sungsprogramm für Griechenland – Änderung der Garantieschlüssel; Einholung eines zu- stimmenden Beschlusses des Deutschen Bun- destages nach § 3 Absatz 1 i. V. m. § 3 Absatz 2 Nummer 2 des Stabilisierungsme- chanismusgesetzes (StabMechG) (Zusatzta- gesordnungspunkt 10 b) . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 7 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Klaus Barthel, Wolfgang Gunkel, Hilde Mattheis, Marianne Schieder (Schwandorf), Ottmar Schreiner, Rüdiger Veit und Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (alle SPD) zur namentli- chen Abstimmung über den Antrag: Änderun- gen im bestehenden Anpassungsprogramm für Griechenland – Änderung der Garantieschlüs- sel; Einholung eines zustimmenden Beschlus- ses des Deutschen Bundestages nach § 3 Absatz 1 i. V. m. § 3 Absatz 2 Nummer 2 des 26041 B 26041 C 26042 C 26044 A 26044 A 26044 B 26045 C 26046 C 26047 C 26048 D 26049 B 26050 A 26050 D 26052 C 26053 A 26053 D 26054 A 26054 D 26055 C 26056 D IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012 Stabilisierungsmechanismusgesetzes (Stab- MechG) (Zusatztagesordnungspunkt 10 b) . . Anlage 8 Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichen Abstimmung über den Antrag: Änderungen im bestehenden Anpassungsprogramm für Griechenland – Änderung der Garantieschlüs- sel; Einholung eines zustimmenden Beschlus- ses des Deutschen Bundestages nach § 3 Ab- satz 1 i. V. m. § 3 Absatz 2 Nummer 2 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes (Stab- MechG) (Zusatztagesordnungspunkt 10 b) Veronika Bellmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Michael Brand (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Christine Buchholz (DIE LINKE) . . . . . . . . . Marco Bülow (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sylvia Canel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christian Hirte (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Burkhardt Müller-Sönksen (FDP) . . . . . . . . . Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Gerold Reichenbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . Anlage 9 Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26060 B 26060 D 26062 B 26063 A 26063 B 26064 A 26065 B 26066 A 26066 C 26067 B 26067 C 26068 B Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012 25965 (A) (C) (D)(B) 212. Sitzung Berlin, Freitag, den 30. November 2012 Beginn: 9.00 Uhr
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    Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012 26053 (A) (C) (D)(B) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- sammlung der NATO Anlage 2 Erklärung des Abgeordneten Dr. Peter Röhlinger (FDP) zur namentlichen Abstimmung über den An- trag: Patientenrechte wirksam verbessern (Drucksache 17/11008) (211. Sitzung, Tagesord- nungspunkt 6 b) In der Abstimmungsliste fehlt mein Name. Mein Vo- tum lautet NEIN. Anlage 3 Nachträglich zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2012/6/EU des Europäischen Par- laments und des Rates vom 14. März 2012 zur Änderung der Richtlinie 78/660/EWG des Rates über den Jahresabschluss von Ge- sellschaften bestimmter Rechtsformen hin- sichtlich Kleinstbetrieben (Kleinstkapitalge- sellschaften-Bilanzrechtsänderungsgesetz – MicroBilG)  Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Brinkmann (Hildesheim), Bernhard SPD 30.11.2012 Bulmahn, Edelgard SPD 30.11.2012 Ebner, Harald BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 30.11.2012 Ernst, Klaus DIE LINKE 30.11.2012 Fischer (Göttingen), Hartwig CDU/CSU 30.11.2012 Frankenhauser,  Herbert CDU/CSU 30.11.2012 Granold, Ute CDU/CSU 30.11.2012 Hardt, Jürgen CDU/CSU 30.11.2012* Heinen-Esser, Ursula CDU/CSU 30.11.2012 Hirte, Christian CDU/CSU 30.11.2012* Humme, Christel SPD 30.11.2012 Klamt, Ewa CDU/CSU 30.11.2012 Kuhn, Fritz BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 30.11.2012 Dr. Lauterbach, Karl SPD 30.11.2012 Leibrecht, Harald FDP 30.11.2012 Mast, Katja SPD 30.11.2012 Menzner, Dorothee DIE LINKE 30.11.2012 Dr. Miersch, Matthias SPD 30.11.2012 Nink, Manfred SPD 30.11.2012 Ploetz, Yvonne DIE LINKE 30.11.2012 Rachel, Thomas CDU/CSU 30.11.2012 Dr. Ratjen-Damerau, Christiane FDP 30.11.2012 Dr. Schavan, Annette CDU/CSU 30.11.2012 Schieder (Schwandorf), Marianne SPD 30.11.2012 Schlecht, Michael DIE LINKE 30.11.2012 Schuster, Marina FDP 30.11.2012 Dr. Schwanholz, Martin SPD 30.11.2012 Simmling, Werner FDP 30.11.2012 Dr. h. c. Thierse, Wolfgang SPD 30.11.2012 Ulrich, Alexander DIE LINKE 30.11.2012 Dr. Wadephul, Johann CDU/CSU 30.11.2012 Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 30.11.2012 Zypries, Brigitte SPD 30.11.2012  Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Anlagen 26054 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012 (A) (C) (D)(B) – Beschlussempfehlung und Bericht zu dem Antrag: Erleichterungen für Klein- und Kleinstkapitalgesellschaften bei der Offenle- gung der Jahresabschlüsse (Tagesordnungspunkte 31 a und 31 b) Beate Walter-Rosenheimer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit dem Kleinstkapitalgesellschaften- Bilanzrechtsänderungsgesetz ist nicht nur ein Wortunge- tüm geschaffen worden, sondern vor allem ist es der Ver- such von Schwarz-Gelb, kleine Unternehmen zu entlasten. Schauen wir uns diesen Versuch einmal ge- nauer an: Kleine Unternehmen können sich zukünftig aussuchen, ob sie ihren Jahresabschluss im Bundesanzeiger bekannt machen lassen oder ob sie ihn lediglich zur dauerhaften Hinterlegung beim Unternehmensregister einreichen. Die Unterlagen müssen dann aber trotzdem rechtzeitig elektronisch beim Bundesanzeiger eingereicht werden. Viel Entlastung kann dadurch also nicht erwartet wer- den; denn der Zeitdruck und Erfüllungsaufwand bleiben ja nahezu unverändert. Wirkungsvoller ist eher, dass Kleinstkapitalgesell- schaften keinen Anhang zur Bilanz mehr erstellen müs- sen. Dafür müssen unter der Bilanz ein paar mehr zu- sätzliche Angaben gemacht werden, also zum Beispiel die Darstellung der Haftungsverhältnisse. Außerdem kann ein vereinfachtes Gliederungsschema angewandt werden. Das eigentliche Problem blieb vom ersten Entwurf der Bundesregierung zunächst unberührt: die unange- messen hohen Ordnungsgelder ab 2 500 Euro aufwärts, die zu entrichten sind, wenn die Rechnungsunterlagen nicht spätestens zwölf Monate nach Abschluss des Ge- schäftsjahres beim Bundesanzeiger elektronisch einge- reicht wurden und die sechswöchige Androhungsfrist im Ordnungsgeldverfahren abgelaufen ist. Um zu verstehen, wer von diesen Ordnungsgeldern am stärksten betroffen ist, muss man folgende Zahl im Hinterkopf haben: In den Ordnungsverfahren der Jahre 2009 und 2010 wurden laut Antwort der Bundesregie- rung auf eine Anfrage von uns Grünen 97 Prozent der Ordnungsgeldverfahren gegen kleine Unternehmen ein- geleitet. Aber gerade für kleine Unternehmen ist der buchhal- terische Aufwand und die Erstellung des Jahresabschlus- ses schwerer zu erfüllen als für mittlere und große Unter- nehmen. 2 500 Euro sind für kleine Unternehmen ein harter Schlag – bis hin zur Existenzbedrohung. Die Bun- desregierung hätte am Ordnungsgeldverfahren durchaus spürbare Änderungen vornehmen können. Die EU- Richtlinie gibt hier nämlich keine verpflichtenden De- tails vor. Mit dem nachträglich hinzugefügten Entschließungs- antrag will Schwarz-Gelb unserem Vorschlag nun kurz- fristig nachkommen, die Höhe der Ordnungsgelder zu senken. Man könnte fast meinen, unser Antrag wäre ab- geschrieben worden. Das finden wir beinahe schmei- chelhaft, hätten die Autorinnen und Autoren halt auch unsere Zahlen übernommen. Wenn abschreiben, dann schon richtig! Denn leider meinen CDU/CSU und FDP, dass 1 000 Euro für kleine Unternehmen durchaus ver- träglich seien. Also, sagen wir es mal so: Natürlich ist dies besser, als alle pauschal mit 2 500 Euro oder mehr zu bestrafen. Aber wir glauben, dass auch eine geringere Summe ausreicht, um Unternehmen zur Ordnung zu ru- fen. Der Vorschlag im Entschließungsantrag geht uns nicht weit genug. Wir enthalten uns deshalb dazu. In unserem Antrag fordern wir echte Erleichterungen für Klein- und Kleinstkapitalgesellschaften bei der Of- fenlegung der Jahresabschlüsse: Wir wollen, dass die Ordnungsgelder an die Größe der Unternehmen angepasst werden. Dabei schlagen wir als Mindesthöhe für Kleinstunternehmen zukünftig 250 Euro vor, für Kleinunternehmen 500 Euro. Das ist ausreichend abschreckend und kann ja immer noch pro- gressiv gestaltet werden. Wir wollen außerdem, dass das Bundesamt für Justiz in Härtefällen ganz vom Ordnungsgeld absehen oder zu- mindest die Frist verlängern kann. Ich habe es in der ers- ten Rede zu diesem Thema ja bereits erwähnt: Gerade in kleinen Betrieben ist nur eine Person für die Rechnungs- legung und Buchhaltung verantwortlich. Vertretungs- kräfte sind ein Luxus, die sich die Kleinen nicht unbe- dingt leisten können. Im Krankheitsfall kann sich logischerweise die Ein- reichung der Bilanz drastisch verzögern. Deshalb begrü- ßen wir, wenn das Bundesjustizministerium zukünftig mehr Flexibilität beweist und nicht gleich nach starr bü- rokratischer Art mit Ordnungsgeldern droht. Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Alexander Funk und Manfred Kolbe (beide CDU/CSU) zur namentli- chen Abstimmung über den Antrag: Änderun- gen im bestehenden Anpassungsprogramm für Griechenland – Änderung der Garantieschlüs- sel; Einholung eines zustimmenden Beschlusses des Deutschen Bundestages nach § 3 Absatz 1 i. V. m. § 3 Absatz 2 Nummer 2 des Stabilisie- rungsmechanismusgesetzes (StabMechG) (Zu- satztagesordnungspunkt 10 b) In der Konsequenz unserer prinzipiellen ökonomi- schen und rechtlichen Bedenken gegen den eingeschla- genen Weg zur Eindämmung der Euro-Schuldenkrise lehnen wir den vorliegenden Antrag ab. Diese von uns seit nunmehr zweieinhalb Jahren im- mer wieder vorgetragenen Einwände werden leider voll- umfänglich durch die Entwicklung in Griechenland und den vorliegenden Bericht der Troika aus EZB, IWF und der Kommission bestätigt. Weder eine weitere Auszahlung der Tranchen aus den bereits beschlossenen Programmen noch eine Verände- rung der Zinskonditionen, die de facto einen Forde- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012 26055 (A) (C) (D)(B) rungsverzicht darstellt, lässt sich aus den bisherigen Er- fahrungen und den vorliegenden Daten aus unserer Sicht vertreten. Die nun vorgeschlagenen Maßnahmen dokumentieren nichts weniger als die im Übrigen realistische Einschät- zung, dass trotz der Bemühungen der griechischen Regierung und insbesondere der von den Reformen be- troffenen Menschen mittelfristig keine Schuldentragfä- higkeit Griechenlands hergestellt werden kann. Sie sind ein klares Eingeständnis, dass weder Programmkonzep- tion, ökonomische und gesellschaftspolitische Entwick- lung sowie die Umsetzung der Reformschritte richtig eingeschätzt worden sind noch dass unter diesen Rah- menbedingungen Griechenland eine tatsächliche Option auf eine Rückkehr an die Kapitalmärkte und wirtschaftli- che Konsolidierung hat. Im Gegenteil: Ausdrücklich nennt der Troika-Bericht eine Verschlechterung der Schuldentragfähigkeit seit der Verabschiedung des zweiten Programms; selbst nach den optimistischen hier zugrunde liegenden Szenarien steigt die Verschuldungsquote im Programmverlauf auf über 190 Prozent des BIP. Wie indes bei einer Zielgröße der Schuldenquote von 122 Prozent des BIP mittelfristig überhaupt eine Rückkehr Griechenlands an die Kapital- märkte denkbar sein soll, bleibt ebenso fragwürdig wie bereits beim Beschluss des 1. Griechenland-Programms. Klar und unmissverständlich dokumentiert der Troika-Bericht überdies die enormen Rückstände bei zentralen Programmpunkten: Seit Herbst stehe die Re- form der Steuerverwaltung nahezu still, die notwendige Senkung der Lohnstückkosten kommt bereits 2014 zum Erliegen, und die Erlöse aus Privatisierungen bedürfen einer stetigen Korrektur nach unten. Erstmalig wird be- reits im vorliegenden Antrag seine eigene Hinfälligkeit vorweggenommen: Bereits 2014 legt das Basisszenario eine weitere Finanzierungslücke von mindestens 4 Mil- liarden Euro nahe. Als wesentlicher Risikofaktor kommt der nur noch über EZB-Gelder (T-Bills) liquide griechische Banken- sektor hinzu, dessen Rekapitalisierungsbedarf auf 50 Milliarden Euro geschätzt wird. In Überdehnung ih- res Mandats betreibt die EZB überdies seit Mai 2010 eine Finanzierung des griechischen Staates in der Höhe von 45 Milliarden Euro. Wenn Konditionalität Bedingtheit und Bindung von Maßnahmen an die Umsetzung von gemeinsamen Ab- sprachen und Beschlüssen bedeutet, kann und darf die Konsequenz nun nicht sein, die Beschlüsse aufzuwei- chen, sondern dies muss eine ehrliche, selbstkritische und realistische Prüfung des bisherigen Weges zur Folge haben. Nach dieser Prüfung, die wir mit bestem Wissen und Gewissen vorgenommen haben, warnen wir nachdrück- lich vor einer Fortsetzung dieser Strategie und verweisen auf unsere Alternativvorschläge, die wir seit Mai 2010 zusammen mit zahlreichen Ökonomen immer wieder vorgebracht haben. Anlage 5 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Peter Danckert, Ewald Schurer und Rolf Schwanitz (alle SPD) zur namentlichen Abstimmung über den Antrag: Änderungen im bestehenden Anpassungs- programm für Griechenland – Änderung der Garantieschlüssel; Einholung eines zustimmen- den Beschlusses des Deutschen Bundestages nach § 3 Absatz 1 i. V. m. § 3 Absatz 2 Nummer 2 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes (Stab- MechG) (Zusatztagesordnungspunkt 10 b) Wir werden uns bei der heutigen Abstimmung einer Zustimmung verweigern und uns der Stimme enthalten. Diese Entscheidung haben wir nach reiflicher Überle- gung und unter Zugrundelegung der folgenden Bewer- tungen getroffen. Zur Situation in Griechenland halten wir fest: Die bis jetzt in Abstimmung mit der Troika getroffe- nen Maßnahmen in Griechenland haben nicht zur Stabi- lisierung geführt. Die Rezession der griechischen Wirt- schaft ist nicht gestoppt. Der Schuldenberg wächst. Es ist inzwischen von vielen anerkannt, dass Griechenland die härtesten Maßnahmen beschlossen und bereits in Teilen umgesetzt hat, die je ein europäischer Staat ergrif- fen hat. Trotzdem reichen die vorgeschlagenen Maßnah- men für eine längerfristige Konsolidierung nicht aus. Im Sozial-, Renten- und Gesundheitsbereich werden ein- schneidende Maßnahmen durchgeführt. Andererseits haben die europäischen Finanzminister bis jetzt nicht wirksam darauf gedrungen, eine Kapitalflucht aus Grie- chenland zu verhindern, das aus dem Land geschaffte Vermögen einzufrieren und die Vermögenden in größe- rem Umfang an den Konsolidierungsmaßnahmen in Griechenland zu beteiligen. Wir halten eine solche Be- teiligung sowohl gegenüber der griechischen als auch deutschen Bevölkerung für unerlässlich und erwarten eine solche Initiative von der Bundesregierung. Wir mussten in den vergangenen Jahren mehrfach die Erfahrung machen, dass diese Bundesregierung wichtige Entscheidungen nach Terminen von Landes- und Bun- destagswahlen trifft. Dass eine solche Verzögerung von Entscheidungen sowohl zulasten der hilfesuchenden Länder als auch zulasten des deutschen Steuerzahlers geht, wird immer offensichtlicher. Aktuell praktiziert die Bundesregierung diese Verzögerungstaktik wieder bei dem für Griechenland notwendigen Schuldenschnitt: Die von der EZB, dem IWF und der Bundesbank vorgeschla- gene Maßnahme wurde in den Verhandlungsrunden von der Bundesregierung nicht akzeptiert. Es ist aber nur eine Frage der Zeit, bis ein Schuldenschnitt für Grie- chenland unausweichlich sein wird. Die SPD-Fraktion wollte die Abstimmung über den Haushalt 2013 um einige Tage verschieben, bis endgül- tig die Auswirkungen des Anpassungsprogramms für Griechenland feststehen. Heute, sieben Tage nach der Verabschiedung des Haushalts 2013, steht fest: Es wer- 26056 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012 (A) (C) (D)(B) den nachträglich außerplanmäßige Ausgaben in Höhe von 600 Millionen Euro und Verpflichtungsermächti- gungen für 2014 in Höhe von 530 Millionen Euro einge- stellt werden. Zur Beratung im Deutschen Bundestag halten wir fest: Wir beanstanden die kurzfristige Zuleitung der Unter- lagen seitens des Bundeministeriums der Finanzen, die aufgrund ihrer Komplexität und der darin enthaltenen volkswirtschaftlichen Detailfragen keineswegs die gebo- tene inhaltliche Auseinandersetzung und darauffolgende parlamentarische Befassung gewährleistet hat. Im Einzelnen gab es folgende Zeitabläufe: Am Abend des 27. November wurde ein Anschreiben des Bundes- finanzministers an den Präsidenten des Bundestags samt Anlagen – Nrn. 2 bis 5a: Euro-Gruppen-Statement; Be- rechnung der Beitragsschlüssel der Slowakei für das Griechenland-Programm; Informationen zur Verbesse- rung des Sonderkontos sowie eine Übersicht über die Umsetzung der vorrangigen Maßnahmen/Prior Actions – versandt. Der aktualisierte Troika-Bericht sowie das Me- morandum of Understanding, MoU, in deutscher Über- setzung lagen zu diesem Zeitpunkt noch nicht vor. Am Morgen des 28. November folgte das wortgleiche Schreiben als Drucksache 17/11647 – Änderungen im bestehenden Anpassungsprogramm für Griechenland – Änderung der Garantieschlüssel; Einholung eines zu- stimmenden Beschlusses des Deutschen Bundestages nach § 3 Abs. 1 i. V. m. § 3 Abs. 2 Nr. 2 des Stabilisie- rungsmechanismusgesetzes. Ebenfalls am Morgen des 28. November wurde sodann der bis dato fehlende Troika-Bericht sowie das MoU nachgereicht, allerdings nur in englischer Sprache. Die deutsche Übersetzung des Troika-Berichts wurde um 12.42 Uhr versandt; die deut- sche Fassung des MoU wurde lediglich als Tischvorlage – nach Beginn der Sitzung des Haushaltsausschusses um 14 Uhr – verteilt. Zur Beschlussfassung im Deutschen Bundestag hal- ten wir fest: Das Bundesverfassungsgericht hat in mehreren Ent- scheidungen darauf hingewiesen, dass für den Deut- schen Bundestag ein aus dem Demokratieprinzip erwachsendes Verbot der Entäußerung seiner Haushalts- autonomie besteht. Der Deutsche Bundestag ist selbst dem Volke gegenüber verantwortlich und muss über die Summe der Belastungen der Bürger entscheiden. Das Parlament darf seine Budgetverantwortung auch nicht durch unbestimmte haushaltspolitische Ermächtigungen auf andere Akteure übertragen. Jede ausgabenwirksame solidarische Hilfsmaßnahme des Bundes größeren Um- fangs im internationalen oder unionalen Bereich muss vom Bundestag im Einzelnen selbst bewilligt werden. Es wäre eine verfassungsrechtlich unzulässige Einschrän- kung der Gestaltungsmöglichkeit des Bundestages, wenn die Bundesregierung ohne konstitutive Zu- stimmung des Bundestages Gewährleistungen überneh- men dürfte, bei denen der Eintritt des Gewährleistungs- falles allein vom Verhalten anderer Staaten abhängig wäre. Mit dem heute zur Abstimmung stehenden Antrag der Bundesregierung soll der Deutsche Bundestag seine Zu- stimmung zur Änderung des bestehenden Anpassungs- programms für Griechenland sowie zur Änderung des Garantieschlüssels erteilen, Drucksache 17/11647. Diese Änderungen hat die Bundesregierung jedoch ihrerseits in der Euro-Gruppe unter einen Vorbehalt gestellt. Die Än- derungen, Erleichterungen, für Griechenland sollen nur ins Auge gefasst werden, wenn zuvor ein von Griechen- land vorzunehmender Schuldenrückkauf zu einem posi- tiven Ergebnis gekommen ist. Ob die Schuldenrück- kaufaktion durch Griechenland positiv verlaufen ist, wird die Euro-Gruppe – und damit die Bundesregierung – erst später bewerten und danach bis zum 13. Dezember eine offizielle Entscheidung treffen. Die für diese Be- wertung erforderlichen Ergebnisunterlagen, insbeson- dere die Auswirkungen auf die Tragfähigkeitsanalyse, sind zum Zeitpunkt der konstitutiven Entscheidung des Deutschen Bundestages noch nicht bekannt. Das von der Bundesregierung eingeleitete Zustim- mungsverfahren läuft darauf hinaus, dass der Deutsche Bundestag die Bundesregierung vorbehaltlos zu den Änderungen ermächtigen soll, obwohl die Bundesregie- rung ihre Zustimmung innerhalb der Euro-Gruppe un- ter einen weiteren Vorbehalt gestellt hat. Der Deutsche Bundestag soll somit im Rahmen seines Budgetrechts eine konstitutive Zustimmung zu den Programmände- rungen zu einem Zeitpunkt erteilen, an dem die Erfül- lung der Vorbedingung, die sich die Bundesregierung ausbedungen hat, unklar ist. Dies ist mit dem Grund- satz des Verbots der Entäußerung der parlamentari- schen Haushaltsautonomie nur schwer in Übereinstim- mung zu bringen. Nach unserer Überzeugung darf der Deutsche Bundestag deshalb über die Programmände- rungen erst dann entscheiden, wenn er selbst auch Kenntnis über die Erfüllung oder Nichterfüllung des von der Euro-Gruppe formulierten Vorbehalts – positi- ves Ergebnis beim Schuldenrückkauf – erlangt hat. Eine vorbehaltlose Ermächtigung der Bundesregierung ist in diesem Zusammenhang unzulässig. Wir halten deshalb eine Abstimmung des Deutschen Bundestages über die Programmänderung in zeitlicher Nähe zum 13. Dezem- ber für rechtlich zwingend. Deshalb können wir bei der heutigen Entscheidung nicht zustimmen und werden uns der Stimme enthalten. Anlage 6 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Lothar Binding (Heidelberg), Dr. h. c. Susanne Kastner, Dr. Bärbel Kofler, Wolfgang Tiefensee und Heidemarie Wieczorek- Zeul (alle SPD) zur namentlichen Abstimmung über den Antrag: Änderungen im bestehenden Anpassungsprogramm für Griechenland – Än- derung der Garantieschlüssel; Einholung eines zustimmenden Beschlusses des Deutschen Bun- destages nach § 3 Absatz 1 i. V. m. § 3 Absatz 2 Nummer 2 des Stabilisierungsmechanismusge- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012 26057 (A) (C) (D)(B) setzes (StabMechG) (Zusatztagesordnungs- punkt 10 b) Europa steht vor einer historischen Aufgabe. Es geht um die Zukunft der gemeinsamen Währung und damit auch des gemeinsamen europäischen Projekts, eines Pro- jekts, das auf unserem Kontinent nicht nur zur Wohl- stands-, sondern vor allem auch zur Friedenssicherung beiträgt. Wir bekennen uns als Sozialdemokraten ohne Wenn und Aber zu Europa. Die gemeinsame Währung, der Euro, spielt dabei eine zentrale Rolle. Ohne den Euro wären die negativen Aus- wirkungen der Banken- und Finanzkrise noch stärker ausgefallen. Die Staaten der Euro-Zone sind längst eine Schicksalsgemeinschaft. Eine wirksame und nachhaltige Stabilisierung der Euro-Zone muss daher im Fokus unse- rer Bemühungen stehen, um die gegenwärtigen Heraus- forderungen zu bewältigen. Eine Rückabwicklung des Euro lehnen wir ab. Eine Renationalisierung der Politik liegt keinesfalls im Interesse Deutschlands. Zur Lösung der Finanz- und Staatsschuldenkrise in Europa sehen wir die Einrichtung eines Schuldentilgungsfonds mit einer spezifischen Ausprägung als eine der Kernmaßnahmen. Wir geben hier auf dem Weg der persönlichen Erklä- rung die Arbeitsrichtung vor, mit der wir die Kanzlerin zur Neuverhandlung nach Brüssel geschickt hätten: Auf- lage eines Wachstumsprogramms. Dabei sind Kernele- mente: Stopp des kontraproduktiven Austeritätsprogramms (Binnennachfrage), Unterstützung einer Verwaltungs- strukturreform in Griechenland, Konjunkturprogramm zur Verstärkung der Infrastruktur, Bankenunion. Im Mit- telpunkt der Bankenunion stehen: europäische Aufsicht, Rekapitalisierungsregime und Rekapitalisierungsbehörde, Bankenfonds und Einlagensicherung. Hierzu sind die wichtigsten Ideen und Maßnahmen von Peer Steinbrück in seinem Papier zur „Bändigung der Finanzmärkte“ bereits erarbeitet. Schuldentilgungsfond (in Anlehnung an die Empfehlungen des Sachverständi- genrates). Dabei bezieht sich der Vorschlag des Sachver- ständigenrates ausschließlich auf „Nicht-Programmlän- der“, also zum Beispiel nicht auf Griechenland. Deshalb müssen die Vorschläge des Sachverständigenrates modi- fiziert und weiterentwickelt werden. Gleichwohl geht es uns auch um „eine Brücke in eine langfristige Stabilitäts- ordnung“, wie der Sachverständigenrat formuliert. Dabei sollen die Euro-Länder jenseits eines Verschuldungsni- veaus von 60 Prozent des jährlichen BIP in einem Zeit- raum von 20 bis 30 Jahren durch ein Umschuldungspro- gramm auf einen langfristigen Tilgungspfad orientiert werden. Es wird von den Verhandlungen mit den anderen Mitgliedstaaten abhängen, ob dies auf der Basis einer ge- meinsamen Haftung möglich ist. Die Gründung eines Schuldentilgungsfonds wäre eine eindeutige, transparente, langfristige und glaubwürdige Verpflichtung aller teilnehmenden Länder für den Schul- denabbau, und damit auch ein klares Signal an „den Markt“. Der „Markt“ wird aber von Menschen betrieben, denen klar würde, dass es sich nicht lohnt, gegen eine solch starke Gemeinschaft zu spekulieren. Mit diesen Maßnahmen – Wachstumsprogramm, Bankenunion und Schuldentilgungsfonds –, gepaart mit unseren bekannten Regulierungsvorschlägen (Trennban- kensystem, Selbstbehalt, Finanztransaktionsteuer etc., etc.), besteht die Chance auf eine nachhaltige – bis in die kommende Generation reichende – Hilfe für Griechen- land im aktuellen Beispiel, aber insbesondere für Europa im Allgemeinen. Peer Steinbrück hat es in der Generalaussprache zu den Haushaltsberatungen klar formuliert: Ein Kollaps Griechenlands führt zu unhaltbaren politischen und öko- nomischen Kosten. Deshalb muss Griechenland in der Euro-Zone gehalten und stabilisiert werden. Dafür braucht es mehr Zeit und eine Streckung der Auflagen, die Griechenland erfüllen muss. Diese Punkte müssen im Zusammenhang weiterer finanzieller Hilfen berück- sichtigt werden. Als Ergebnis der wochenlangen Verhandlungen der Fi- nanzminister der Euro-Gruppe, des Internationalen Wäh- rungsfonds, IWF, und der Europäischen Zentralbank, EZB, soll Griechenland nun eine weitere Tranche aus der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität, EFSF, in Höhe von 34,7 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt werden. Weitere beabsichtigte Maßnahmen, um die Schuldenlast Griechenlands zu senken, sind ein Schul- denrückkaufprogramm, Zinsstundungen für Hilfskredite der EFSF und längere Darlehenslaufzeiten. Grundsätzlich gilt, dass die EFSF Finanzhilfen an Euro-Mitgliedstaaten nur gegen klar definierte Auflagen ausgeben soll. Im Falle Griechenlands sind die Auflagen bislang kaum erfüllt worden. Dennoch sind eine zeitli- che Streckung der Auflagen und eine Reduzierung der Schuldenlast das Gebot der Stunde, um einen Konkurs in Griechenland zu vermeiden. Teile der nun vorgelegten Maßnahmen sind notwen- dig, aber bestimmt nicht hinreichend, um die Probleme Griechenlands zu bewältigen. Die Bundesregierung al- lein sitzt auf europäischer Ebene an den Verhandlungs- tischen – und nicht die Opposition. Daher ist es zwar ge- boten, den lindernden Maßnahmen aus europapolitischer Verantwortung zuzustimmen, sich aber nicht damit zu- friedenzustellen, dass die Ursachen der Krise von der Bundesregierung nicht bekämpft werden. Dies wäre je- doch dringend erforderlich, um die Steuerzahler auf Dauer zu schützen und die Stabilität in Europa wiederzu- gewinnen. Unsere Zustimmung zu den weiteren finanziellen Hil- fen für Griechenland ist daher keine Billigung der Politik der schwarz-gelben Bundesregierung. Aus innenpoliti- schen, opportunistischen Überlegungen heraus infor- miert sie die Öffentlichkeit nur häppchenweise über die Kosten der Rettung des europäischen Projekts. Im Ge- gensatz zur Regierungskoalition, deren einziges Ziel es ist, die Zeit bis zur nächsten Bundestagswahl politisch zu überleben, steht die SPD-Bundestagsfraktion zu ihrer Verantwortung für unser Land und für Europa. Unsere Vorschläge, wie die Krise wirtschaftspolitisch sinnvoll und sozial gerecht überwunden werden kann, habe wir immer wieder vorgebracht. Die schwarz-gelbe Mehrheit 26058 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012 (A) (C) (D)(B) hat diese aber aus parteitaktischen Gründen stets igno- riert. Einfache Bürgerinnen und Bürger nehmen deutsche Hilfe als Selbsthilfe für die deutsche Banken wahr, Hedgefonds erhalten die Möglichkeit, entlang des Schlingerkurses der Kanzlerin Gewinne zu machen – „keinen Cent“ für Griechenland, eiserne Kanzlerin, ei- nige Wochen später dann doch … Und immer freut sich der Spekulant, und Deutschland übernimmt den größten Teil an Bürgschaften und Krediten – die aber nicht bei den „einfachen Bürgerinnen und Bürgern“ ankommen. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben nur wenig bis nichts vom deutschen Engagement, griechische schon gar nicht. Aber wenn es schiefgehen sollte, bezah- len die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in Deutsch- land – viele davon sind „einfache Bürgerinnen und Bür- ger“ – die Zeche. Wir meinen: Wenn schon bittere Medizin, dann soll sie wenigstens helfen. Aber die innenpolitisch motivierte Diskreditierung der Griechen als faule und unzuverläs- sige Europäer in den ersten Monaten während der Be- wusstwerdung der griechischen Staatsschuldenkrise war eine schreckliche Weichenstellung der Kanzlerin und ließ jegliche interkulturelle Kompetenz/europäische Ver- antwortung vermissen, von einem halbwegs ordentlichen, außenpolitisch vorbereiteten diplomatischen Krisenma- nagement ganz zu schweigen. Die stets verabreichte bit- tere Medizin hieß Austerität: Strenge, Sparsamkeit, Ent- haltsamkeit – Sparen bis zur Implosion der gesamten Wirtschaft in Griechenland. Die Binnennachfrage kolla- biert, steigende Arbeitslosigkeit, besonders die Jugendar- beitslosigkeit ruiniert die Entwicklungschancen der Ge- sellschaft, das Wirtschaftswachstum bricht ein. Und wie heißt die Medizin für die nächsten Rettungsschritte? Austerität. Das ist Merkel’sche Europapolitik. Da müs- sen wir uns nicht wundern, wenn viele Menschen in Eu- ropa unterhalb der Millionärsschwelle schlecht über Deutschland denken. Nun wird jeder sagen: Deutschland ist doch nicht allein auf der Welt. Ja, aber Deutschland tritt mit einer Wirtschaftsmacht in Europa auf, die ihres- gleichen nicht findet, und kaum eine andere Regierung ist dazu imstande, anderen ein Spardiktat zu verordnen, aber im eigenen Land das Geld der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler auszugeben – für ausgewiesen unsin- nige Klientelprojekte oder für solch exorbitant teure Schlingerkurse. Natürlich hat auch Griechenland – dies sei hier allein deshalb erwähnt, weil der heutige Beschluss Griechen- land betrifft – in den vergangenen Jahrzehnten und in jüngster Zeit Fehler gemacht und muss diese korrigieren. In den Verwaltungen, in der Industrie und Tourismuspo- litik, hinsichtlich der Finanzverwaltung und anderer Vollzugsverwaltungen, in der Strukturpolitik, durch Günstlingswirtschaft – aber nach den oben erwähnten fehlerhaften Weichenstellungen in der ersten Phase der Banken- und Staatsschuldenkrise; hier trägt die deutsche Regierung einen großen Anteil – sind diese Maßnahmen nicht mehr einfach durch „Druck auf Griechenland“ zu erwirken; denn „Druck auf Griechenland“ zeigt sich in- zwischen als Verstärkung von Armut, Gefährdung der Demokratie und Verschärfung der Spaltung Griechen- lands in Armut zu Hause und Reichtum anderswo. Würde auch nur der Hauch einer Chance bestehen, dass die deutschen Interessen in Europa und die europäi- schen Interessen in Deutschland mit dieser Regierung – wir denken an Kanzlerin Merkel, den Außenminister Westerwelle, den Wirtschaftsminister Rösler – zu einem vernünftigen Ausgleich gebracht werden könnten, wir hätten den Antrag gestellt, die Kanzlerin mit ihrer En- tourage nach Europa zurückzuschicken, um neu zu ver- handeln. Diese Hoffnung besteht nicht – und doch wol- len wir uns verbieten, Europa unter einer schlechten Regierung in Deutschland leiden zu lassen. Europa als Friedensunion, Europa als Wirtschaftsregion einer glo- balisierten Welt ist zu wichtig für alle Mitgliedstaaten, um sich solche Experimente leisten zu können. Um eine Idee von der Prozesssteuerung dieser Regie- rung zu bekommen, um einen indirekten Blick auf die Organisation internationaler Verhandlungen zu geben, sei hier erwähnt, warum wir uns mit jeglicher Entschei- dung auf der Grundlage solcher Vorbereitungen unend- lich schwertun. Dabei sei auch auf den Zeitablauf, die Zeitplanung demokratischer Entscheidungsprozesse hin- gewiesen, die gegenwärtig von einer Koalitionsmehrheit von CDU/CSU und FDP mit ihrer Verfahrensmehrheit durchgedrückt wird. Am Dienstag erhalten wir, jedenfalls jene Kollegin- nen und Kollegen, die bis in die späten Abendstunden im Büro arbeiten, erste Informationen zum Verhandlungser- gebnis von Kanzlerin Merkel und Minister Schäuble. In- nerhalb der nächsten 24 Stunden gibt es noch viel Post. Hunderte Seiten Kleingedrucktes, einiges zunächst nur in englischer Sprache. Nur mit größter Anstrengung und unter Vernachlässi- gung anderer Pflichten kann es gelingen, die Texte voll- ständig zu lesen. Eine vertiefende Beratung mit Fachleu- ten, mit Freunden, mit Befürwortern und mit Gegnern aus den Wahlkreisen solcher Beschlüsse, all dies ist in dem angestrebten Beratungsgang praktisch nicht mög- lich. Hinzu kommt, dass Fragen, die mündlich oder schriftlich gestellt werden, im Regelfall nur rudimentär beantwortet werden. Die Abstimmung war für Donners- tag geplant, drei Tage nach den Verhandlungen in der Euro-Gruppe. Hätten wir nicht Zusatzinformationen aus Regierun- gen anderer Länder, hätten wir nicht Zusatzinformationen von Sozialdemokraten aus dem Europäischen Parlament, hätten wir nicht die Unterstützung sehr kompetenter Fachbeamter aus einigen Ministerien und einiger Wissen- schaftler – von denen viele ihre eigenen Terminkalender aus Verantwortung für unsere Demokratie drangsaliert haben – und hätten wir nicht diese große arbeitsteilig or- ganisierte Fraktion, in der sich für fast jede Spezialfrage eine Fachfrau oder ein Fachmann findet: Qualifizierte Beratungen und unsere Entscheidungsfähigkeit wären gefährdet gewesen. Und dies, nachdem das Bundesverfassungsgericht die Regierung Merkel schon mehrfach ermahnt hat, die Beratungsrechte des Bundestages nicht zu beschneiden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012 26059 (A) (C) (D)(B) und die Exekutivmacht der Regierung nicht zu über- dehnen. Die SPD-Fraktion hatte folgerichtig eine Beschluss- fassung erst in der nächsten Woche (Sondersitzung) oder in der kommenden regulären Sitzungswoche vorgeschla- gen – leider gab es für diesen Vorschlag keine Mehrheit. Nun soll es dieser Freitag sein – ein Tag später als ge- plant. In dieser schlechten und schwierigen Ausgangslage mit unkalkulierbaren Risiken liegt der Gedanke nahe, die Griechenland-Hilfe abzulehnen. Einzelne Kollegen in der CDU und einzelne Kollegen in der FDP gehen diesen Weg. Allerdings lassen diese Kollegen die Frage offen, was eine Ablehnung der Hilfen für Griechenland kosten würde. Dabei denken wir nicht nur an Geld, son- dern auch daran, welchen Einfluss eine solche Entschei- dung auf die Vision Europa und seinen Stellenwert in der Welt hätte. Aber auch finanziell wäre zu beschreiben, was passierte, wenn plötzlich 60 Milliarden Euro Schul- den bei privaten Banken, davon 30 Milliarden Euro bei griechischen Banken, und etwa 190 Milliarden Euro in nicht privaten Instituten ungeplant abgeschrieben wer- den müssten – mit Blick auf die Insolvenz von Lehman Brothers und deren Folgen, ein Szenario, dessen Folgen nicht zu übersehen sind. Dagegen sind die Kosten der jetzt gemachten Vorschläge vergleichsweise genau kal- kulierbar – wenn, ja wenn sie nachhaltig zur Lösung der Probleme geeignet wären. Aber tatsächlich sind diese Vorschläge nur geeignet, Zeit zu gewinnen für Griechen- land, das Zeit benötigt für den Aufbau eines Wachstums- pfades, und für unsere schwarz-gelbe Regierung, die die Zeit bis zu den Bundestagswahlen überbrücken will, ohne die tatsächlichen Konsequenzen aus ihrer bisheri- gen Politik offenbaren zu müssen. Bei richtiger Wei- chenstellung in der Anfangsphase der Krise in Griechen- land, also bei rechtzeitiger, klarer, eindeutiger und massiver Hilfe, auch deutscher Hilfe, wäre es nicht zu diesen Zwangskräften gekommen, und außerdem wären die finanziellen Risiken und die möglicherweise entste- henden Kosten viel, viel niedriger gewesen. Aber das war gestern – vor circa drei Jahren. Heute schlägt uns die Regierung im Wesentlichen eine Maßnahme vor, den Schuldenrückkauf. Griechenland erhält aus schon zugesagten Program- men 10 Milliarden Euro (geliehen), um damit eigene Schuldtitel zurückzukaufen. Also, Griechenland kauft von professionellen Investoren, die griechische Staatsan- leihen/Staatsschuldverschreibungen halten, ihre eigenen Anleihen (Schuldtitel) zurück (Debt Buy-Back). Der Ge- danke dabei ist, dass eine Anleihe mit einem Nennwert (als sie ausgereicht wurde) von 100 Euro heute vielleicht nur noch 25 Euro am Markt wert ist. Wenn nun Grie- chenland diesen Schuldtitel für zum Beispiel 30 Euro (der genaue Wert ist kleiner gleich dem Schlusspreis vom Freitag, dem 23. November 2012) zurückkauft, ver- mindert sich sein Schuldenstand um 70 Euro, der Ver- käufer gewinnt gegenüber dem Marktwert 5 Euro, ver- liert gegenüber dem Nennwert aber 70 Euro. Wenn nun die professionellen Investoren denken, wissen, hoffen, dass sich Griechenland erholt und ihre Papiere wieder steigen, werden sie möglicherweise nicht jetzt verkau- fen, sondern noch warten. Welche spekulativen Risiken mit diesem Verfahren verbunden sind, ist daran zu er- kennen, das bereits öffentlich davon gesprochen wird, dass ein Hedgefonds, Third Point, bei einem Nennwert von 1 Euro für 17 Cent gekauft hat und nun darauf setzt, zu 26 bis 35 Cent zu verkaufen – im Rückkaufpro- gramm. Das sind Beispiele für Transferkanäle zwischen öffentlicher Armut und privatem Reichtum. Um hier mehr Klarheit zu haben, will der IWF – mit der für ihn gebotenen Vorsicht – seine „Entscheidungen unmittelbar nach den Ergebnissen des Schuldenrück- kaufs“ veröffentlichen. Hieran ist auch zu erkennen, dass die jetzt getroffenen Beschlüsse noch nicht als Bekämp- fung der Ursachen der Krise angesehen werden, sondern als eine Flickschusterei, um Schlimmeres in nächster Zukunft zu verhindern. (Deshalb wäre eine Abstim- mung, gegebenenfalls in einem zweistufigen Verfahren, im Deutschen Bundestag auch erst zu diesem Zeitpunkt notwendig gewesen.) Und wenn diese Maßnahme erfolgreich sein sollte, werden weitere zwei Maßnahmen möglich: Zinserleich- terungen und Laufzeitverlängerung. Deutschland, konkret etwa die KfW, soll die Zinsge- winne an den Krediten für Griechenland vermindern, die Zinsen für Darlehen der EFSF, European Financial Sta- bility Facility, sollen zehn Jahre gestundet werden, die Laufzeiten der bilateralen Kredite der EFSF sollen um 15 Jahre verlängert werden, definierte Zinsgewinne der Notenbanken aller Euro-Staaten sollen auf ein Sperr- konto in Griechenland einbezahlt werden. Bei all diesen Maßnahmen – es geht insgesamt um circa 44 Milliarden Euro – rund ums Geld stehen die Menschen nicht im Mittelpunkt. Aber auch wenn die Länder in der Euro-Zone eine gemeinsame Währung ha- ben – Europa ist ein Europa der Menschen. Deshalb wol- len wir das Augenmerk besonders auf die sozialen Fol- gen der Austerität in Griechenland lenken. Menschen verlieren Arbeit und Einkommen, Mindestlöhne wurden gesenkt, Familien können sich die Miete nicht mehr leis- ten, viele Menschen, besonders die jungen, verlassen Griechenland – unsere bisherige „Hilfe“ hat den Kollaps verhindert, aber den Menschen zu wenig bis gar nicht geholfen, oft waren die mit der Hilfe verbundenen Auf- lagen für viele Menschen die Vorboten von Armut. Diese Entwicklung wollen wir anhalten und in eine Hilfe wenden, die den Menschen tatsächlich hilft. Wir erin- nern an die Maßnahmen, die wir für Deutschland be- schlossen und durchgeführt haben, als das Wirtschafts- wachstum in mehreren Quartalen in Folge negativ war. In dieser Schrumpfungsphase wurden Konjunkturpro- gramme und die Kurzarbeit beschlossen – und alles ver- mieden, was die Binnennachfrage schwächen könnte. Mit dieser Erfahrung schlagen wir andere, jedenfalls deutlich weiter gehende Hilfsmaßnahmen für Griechen- land vor. Wir legen neben der monetären Seite der Hilfe stärkeren Wert auf die soziale Seite der Hilfe. Anders als die Regierung und die Koalitionsfraktio- nen wollten wir, ganz abgesehen von formalen Hinde- rungsgründen, dem Parlament gleichwohl keinen Antrag 26060 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012 (A) (C) (D)(B) zumuten, den wir zwischen Dienstag und Donnerstag in ungebührlicher Hektik erarbeiten, schreiben, beraten, abstimmen. Ein allgemeiner Entschließungsantrag – oh- nehin routinemäßig von den Regierungsfraktionen abge- lehnt – wäre der Problematik nicht angemessen gewe- sen. In der hektischen Beratungsfolge der Regierung und aufgrund der täglich neuen Hiobsbotschaften war es auch nicht möglich, einen fundierten Antrag langfristig vorzubereiten. Wir müssen eine neue Langsamkeit ein- führen, uns nicht mehr zu Getriebenen „der Märkte“ ma- chen lassen – der größte Fehler der Regierung. Zusammenfassend bietet sich hier ein Zitat von Obama an: „Put people first“, und wir ergänzen: „not money“. Da wir diese Möglichkeit nicht haben, die Kanzlerin zur Neuverhandlung zu schicken, da die Koalitions- mehrheit vor einer umfassenden Lösung zurückschreckt, auch infolge ungeschickter Verhandlungen mit den ande- ren Mitgliedstaaten, da die Verfahrensmehrheit keine ausreichende Zeit lässt, mehr zu überlegen, unterstützen wir die mageren Vorschläge, um Griechenland und dem Zusammenhalt Europas und allen Staaten, die diesem Kompromiss zugestimmt haben, etwas Zeit zu verschaf- fen – wohl wissend, dass schon bald weitere Maßnah- men erforderlich sein werden, die dann gegebenenfalls teurer werden, als wenn schon heute eine komplexe und umfassende Lösungsstrategie erarbeitet würde. In Ermangelung demokratischer Parlamentsmehrhei- ten für bessere Lösungen nehmen wir unsere Verantwor- tung für alle Menschen in Europa mit unserer Zustim- mung zur Hilfe für Griechenland wahr. Anlage 7 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Klaus Barthel, Wolfgang Gunkel, Hilde Mattheis, Marianne Schieder (Schwandorf), Ottmar Schreiner, Rüdiger Veit und Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (alle SPD) zur namentlichen Abstimmung über den An- trag: Änderungen im bestehenden Anpassungs- programm für Griechenland – Änderung der Garantieschlüssel; Einholung eines zustimmen- den Beschlusses des Deutschen Bundestages nach § 3 Absatz 1 i. V. m. § 3 Absatz 2 Nummer 2 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes (StabMechG) (Zusatztagesordnungspunkt 10 b) Wir sind überzeugt, dass auch innerhalb der Europäi- schen Union Solidarität herrschen muss und wir als größtes europäisches Land sowie als eine der stärksten Wirtschaftsnationen der Welt auch Verantwortung ge- genüber schwächeren Ländern haben. Wir wollen, dass Griechenland in der Euro-Zone bleibt. Wir halten den beschrittenen Weg aber für falsch. Wir sehen, dass in Griechenland zulasten der unteren und mittleren Schichten der Bevölkerung Sparopfer in bisher unbekannten Ausmaßen durchgedrückt werden. Dadurch wird die Wirtschaft immer weiter in die Rezes- sion getrieben. Die Verschuldung und Massenarbeitslo- sigkeit wachsen weiter an. Insbesondere die dramatisch hohe – jetzt schon 55 Prozent betragende und weiter stei- gende – Jugendarbeitslosigkeit ist nicht mehr hinzuneh- men. Gleichzeitig wird nichts unternommen, damit auch die Vermögenden einen wirksamen Beitrag zur Sanie- rung der Staatsfinanzen leisten. Wir wollen ein soziales und demokratisches Europa. Genau aus diesem Grund können wir die Politik des Verschleierns, Verzögerns und der Krisenverschärfung dieser Bundesregierung nicht mittragen. Deshalb sagen wir Nein zu der heutigen Entschei- dung, die diesen falschen Kurs weiter fortsetzt. Anlage 8 Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichen Abstimmung über den An- trag: Änderungen im bestehenden Anpassungs- programm für Griechenland – Änderung der Garantieschlüssel; Einholung eines zustimmen- den Beschlusses des Deutschen Bundestages nach § 3 Absatz 1 i. V. m. § 3 Absatz 2 Num- mer 2 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes (StabMechG) (Zusatztagesordnungspunkt 10 b) Veronika Bellmann (CDU/CSU): Ich trage im We- sentlichen die Begründung meiner Kollegen Alexander Funk und Klaus-Peter Willsch zur Ablehnung oben ge- nannten Antrages: In der Konsequenz unserer prinzipiellen ökonomi- schen und rechtlichen Bedenken gegen den eingeschla- genen Weg zur Eindämmung der Euro-Schuldenkrise lehnen wir den vorliegenden Antrag ab. Diese von uns seit nunmehr zweieinhalb Jahren im- mer wieder vorgetragenen Einwände werden leider voll- umfänglich durch die Entwicklung in Griechenland und den vorliegenden Bericht der Troika aus EZB, IWF und der Kommission bestätigt. Weder eine weitere Auszahlung der Tranchen aus den bereits beschlossenen Programmen noch eine Verände- rung der Zinskonditionen, die de facto einen Forde- rungsverzicht darstellt, lässt sich aus den bisherigen Er- fahrungen und den vorliegenden Daten aus unserer Sicht vertreten. Die nun vorgeschlagenen Maßnahmen dokumentieren nichts weniger als die im Übrigen realistische Einschät- zung, dass trotz der Bemühungen der griechischen Regierung und insbesondere der von den Reformen be- troffenen Menschen mittelfristig keine Schuldentragfä- higkeit Griechenlands hergestellt werden kann. Sie sind ein klares Eingeständnis, dass weder Programmkonzep- tion, ökonomische und gesellschaftspolitische Entwick- lung sowie die Umsetzung der Reformschritte richtig eingeschätzt worden sind noch dass unter diesen Rah- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012 26061 (A) (C) (D)(B) menbedingungen Griechenland eine tatsächliche Option auf eine Rückkehr an die Kapitalmärkte und wirtschaftli- che Konsolidierung hat. Im Gegenteil: Ausdrücklich nennt der Troika-Bericht eine Verschlechterung der Schuldentragfähigkeit seit der Verabschiedung des zweiten Programms; selbst nach den optimistischen hier zu grundeliegenden Szenarien steigt die Verschuldungsquote im Programmverlauf auf über 190 Prozent des BIP. Wie indes bei einer Zielgröße der Schuldenquote von 122 Prozent des BIP mittelfristig überhaupt eine Rückkehr Griechenlands an die Kapital- märkte denkbar sein soll, bleibt ebenso fragwürdig wie bereits beim Beschluss des ersten Griechenland-Pro- gramms. Klar und unmissverständlich dokumentiert der Troika-Bericht überdies die enormen Rückstände bei zentralen Programmpunkten: Seit Herbst stehe die Re- form der Steuerverwaltung nahezu still, die notwendige Senkung der Lohnstückkosten kommt bereits 2014 zum Erliegen, und die Erlöse aus Privatisierungen bedürfen einer stetigen Korrektur nach unten. Erstmalig wird be- reits im vorliegenden Antrag seine eigene Hinfälligkeit vorweggenommen: Bereits 2014 legt das Basisszenario eine weitere Finanzierungslücke von mindestens 4 Mil- liarden Euro nahe. Als wesentlicher Risikofaktor kommt der nur noch über EZB-Gelder (T-Bills) liquide griechische Banken- sektor hinzu, dessen Rekapitalisierungsbedarf auf 50 Milliarden Euro geschätzt wird. In Überdehnung ih- res Mandats betreibt die EZB überdies seit Mai 2010 eine Finanzierung des griechischen Staates in der Höhe von 45 Milliarden Euro. Die Inflationsgefahr ist damit nicht gebannt. Wenn Konditionalität Bedingtheit und Bindung von Maßnahmen an die Umsetzung von gemeinsamen Ab- sprachen und Beschlüssen bedeutet, kann und darf die Konsequenz nun nicht sein, die Beschlüsse aufzuwei- chen, sondern muss dies eine ehrliche, selbstkritische und realistische Prüfung des bisherigen Weges zur Folge haben. Wenn die bisherige Rettungspolitik beibehalten werden soll, eine Staatsinsolvenz, ein temporärer Aus- tritt aus dem Euro-Gebiet oder die Einführung einer Par- allelwährung nicht ermöglicht werden sollen, dann sollte man wenigstens so ehrlich sein, zu sagen, dass ein dauer- hafter Transfer und damit eine dauerhafte Haftung un- vermeidbar sind. Nach dieser Prüfung, die wir mit bestem Wissen und Gewissen vorgenommen haben, warnen wir nachdrück- lich vor einer Fortsetzung dieser Strategie und verweisen auf unsere Alternativvorschläge, die wir seit Mai 2010 zusammen mit zahlreichen Ökonomen immer wieder vorgebracht haben. Im Übrigen bin ich der Meinung, dass das Maßnah- menpaket meines Erachtens eine Scheinlösung ist, um den Internationalen Währungsfonds, IWF, im Boot zu halten. Zweifel sind angebracht, ob das Schuldrückkauf- programm von privaten Gläubigern tatsächlich funktio- niert. Beim letzten Schuldenschnitt wurde ihnen für die Hälfte der 60 Milliarden Euro Anleihen eine Garantie für 100-prozentige Rückzahlungen gegeben. Wozu sollten die Anleger jetzt für 30 Prozent verkaufen? Zweifel sind ebenfalls angebracht bei dem anderen Teil, der sich noch in Händen von Hedgefonds befindet. Die haben noch in den letzten Tagen teilweise Anteile zu weniger als 20 Prozent erworben und bekommen sie nun vom euro- päischen Steuerzahler für 30 Prozent zurückgekauft – Verluste werden sozialisiert, Gewinne privatisiert. Zweifellos verschaffen die Maßnahmen Griechenland eine Verschnaufpause. Allerdings folgen alle Maßnah- men dem Grundsatz, dass derjenige belohnt wird, der widerrechtlich Schulden macht. Wichtig ist für Griechenland, dass nicht nur die Poli- tik Reformen beschließt und auf Papier schreibt, sondern dass das ganze Land, Unternehmer, Arbeitnehmer und Selbstständige ihr Verhalten ändern. In diesem Sinne be- dauere ich außerordentlich, dass zwar die Euro-Staaten alle möglichen Regeln und Rechtsvorschriften sehr „kreativ interpretieren“, aber nicht wenigstens vorüber- gehend Kapitalverkehrskontrollen eingeführt haben. Das wäre ein gutes Zeichen sowohl an den europäischen Steuerzahler als auch an die griechische Bevölkerung gewesen, dass es keine Kapitalflucht und Steuerhinter- ziehung bei Beziehern von hohem Einkommen und Ka- pitaleinkünften geben kann. Als Verwirrspiel und In- sich-Geschäft bezeichne ich den Verzicht auf Zinsein- nahmen. Das heißt, die Euro-Länder leiten die „Ge- winne“ aus griechischen Staatsanleihen an Griechenland weiter. Die Zinsen, die die Bundesbank aus griechischen Staatsanleihen einnimmt, werden vom europäischen Partner an Griechenland gezahlt und landen erst einmal auf einem Sonderkonto. Von da werden sie an die wei- tergegeben, die griechische Staatsanleihen halten; das ist zum Beispiel die Deutsche Bundesbank. Wir bezahlen uns also quasi unsere Zinsen selbst. Wir erleben einen Schuldenschnitt durch die Hinter- tür, noch dazu einen, der vorwiegend Deutschland be- trifft. Denn offiziell heißt es, man wolle Griechenland eine Summe im Gegenwert dieser Gewinne schenken. Die Bundesbank schüttet Zinsgewinne aber nicht aus, sondern verwendet sie für die Risikovorsorge. Das Geld muss also aus dem Bundeshaushalt vom Steuerzahler vorgestreckt werden. Nur wenn kein Ausfallrisiko ent- steht, kann die Bundesbank vielleicht in 5, 10 oder 20 Jahren das Geld der Gewinne in den Bundeshaushalt zurückfließen lassen. Ob das eintritt, weiß niemand. Das ganze Paket ist eine Wette auf die Zukunft, ohne Aus- sicht auf Gewinn. Gleiches gilt für die Schuldenlasttragfähigkeit Grie- chenlands. Keiner von uns kann prognostizieren, ob es die Griechen bis 2022 tatsächlich von heute 190 Prozent auf unter 110 Prozent schaffen. Diese Zahlen sind reine Annahmen und politisches Wunschdenken, das sich wie- der einmal über ökonomische Realitäten hinwegsetzt. Die Genauigkeit, mit der hier gerechnet wurde, ist eine Scheingenauigkeit. Nur auf dem Papier sind die Bedin- gungen erfüllt. 26062 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012 (A) (C) (D)(B) Da aber Griechenland um jeden Preis im Euro gehal- ten und seine Zahlungsunfähigkeit vermieden werden soll, ist ein Schuldenschnitt auch für die öffentlichen Gläubiger zu erwarten – nicht heute und morgen, aber vielleicht schon in einem oder zwei Jahren. Denn es ist mehr als wahrscheinlich, dass die aktuellen Vereinbarun- gen nicht funktionieren. Die Rettungspolitik ist in eine Sackgasse geraten; denn sie verliert das Geld, das sie in Griechenland hineingepumpt hat, wenn sie nicht immer noch mehr hineinpumpt oder wie ein europäischer Dip- lomat so treffend formulierte: „Wer permanent den Kon- kurs verschleppt, muss sich im Klaren sein, dass er per- manent zahlen muss.“ Die Bundesregierung hat den Bürgern bisher immer gesagt, Griechenland koste kein Geld, es seien alles nur Garantien. Inzwischen ist klar, dass der Steuerzahler auf Geld verzichten muss, – in welcher Form auch immer. Das Maßnahmenpaket für Griechenland ist insofern nur eine Scheinlösung. „Es ist möglicherweise nicht das letzte Mal, dass der Deutsche Bundestag sich mit Fi- nanzhilfen für Griechenland befassen muss.“ Alles sei auf Kante genäht, sagte Bundesfinanzminister Dr. Schäuble und drückt sich damit schon bedeutend vor- sichtiger aus, als all die seinerzeitigen Zusicherungen es erahnen ließen. Wir sind mit den Beschlüssen voll in der Transferge- meinschaft an- und der Haftungsgemeinschaft wieder mit großen Schritten nähergekommen. Wenn jetzt argu- mentiert wird, dass ohne die Haftungsgemeinschaft die Euro-Zone zerbricht, dann zitiere ich den ehemaligen slowakischen Parlamentspräsidenten Richard Sulik: „Doch es verhält sich genau umgekehrt: Die Haftungs- gemeinschaft führt dazu, dass die Euro-Zone zerbricht.“ Statt uns auf den Austritt Griechenlands aus der Euro- Zone politisch und ökonomisch – zum Beispiel durch Einführung einer Parallelwährung – vorzubereiten, sind wir weiter dem Argument der Pfadabhängigkeit gefolgt, nachdem der einmal eingeschlagene Weg nicht mehr verlassen werden kann. Wenn Politik weiter am Markt vorbei agiert, wird sie längerfristig den Kürzeren ziehen. Ein Staatsbankrott wurde ausgeschlossen, deshalb muss gerettet werden, koste es, was es wolle. Michael Brand (CDU/CSU): In der gebotenen Kürze will ich zunächst feststellen, dass ich dem Griechenland- Paket heute zustimmen werde. Allerdings will ich darauf hinweisen, dass ich diese Zustimmung nach intensiver Lektüre und einer Reihe von Gesprächen in einer Abwägung von 51 : 49 ent- schieden habe. Dies stelle ich auch deshalb fest, um für etwaige Ab- stimmungen in der Zukunft und für meine Position zu den Verhandlungen innerhalb der Euro-Gruppe das Signal zu geben, dass auch in Zukunft bei der sicherlich prinzi- piell erforderlichen Hilfe für überschuldete Euro-Länder natürlich kein Automatismus für eine Zustimmung vo- rausgesetzt werden kann. Ausdrücklich will ich nochmals appellieren, noch mehr zu unternehmen, um dem Eindruck entgegenzutre- ten, dass in der Schuldenkrise zu viel Taktik im Spiel wäre. Auf Dauer wird die Glaubwürdigkeit von Politik auch dann leiden, wenn die Menschen – ob zu Recht oder zu Unrecht – den Eindruck erhalten, als ginge es um Taktik und als wolle man statt reinen Weins eine politische Salamitaktik anbieten. Dabei kann jeder erkennen: Die einfache Lösung für das sehr komplizierte Thema der Überschuldung von Griechenland und der daraus gewachsenen Gefahr für den Euro-Raum, die wäre schön – aber die gibt es nicht. Wir fahren auf Sicht, und wir müssen von Stufe zu Stufe beim Weg durch die Krise und heraus aus der Krise denken. Zum heute vorliegenden Paket ist richtig festzustel- len: Nein, es ist keine einfache Entscheidung, und es gibt auch keine völlige Garantie auf den gewünschten Erfolg. Aber richtig ist auch: Ein Abbruch der Hilfe würde weit größere Risiken verursachen. Mir erscheint eine ganze Reihe von Fragen noch im- mer offen. Wenn ich dem Paket dennoch zustimme, dann liegt das auch an der im vertretbaren Rahmen auf uns zu- kommenden zusätzlichen Belastung, die offenbar auch mit Blick auf den IWF zugestanden wurde. Den IWF an Bord zu behalten, erscheint mir deshalb von strategi- scher Bedeutung zu sein, um Unabhängigkeit von außer- halb der EU-Beteiligten in der Bewertung der erforderli- chen Restrukturierungsschritte weiter an Bord halten zu können. Zudem brauchen wir ernsthafte und zeitnahe Schritte, um zu einer Regelung für mögliche Insolvenzen von Staaten in der EU oder der Euro-Gruppe zu kommen. Wir sind in diese heutige Lage auch deshalb gekommen, weil es in der Euro-Gruppe keine Vereinbarungen dazu gibt, wie man mit derlei überschuldeten Staaten verläss- lich und in den Auswirkungen kontrollierbar umgehen sollte. Es ist gut und richtig, dass wir den Griechen helfen, aber zugleich den Druck aufrechterhalten, um Griechen- land und die anderen Partner weiter auf Kurs von Re- form und Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit zu halten – denn ohne Wettbewerbsfähigkeit gibt es kein Wachstum und keine Chance, langfristig aus dem Schuldental he- rauszukommen. Das gilt für alle, auch für Griechenland. Obschon Griechenland durch unsere Maßnahmen vor ebendieser Zahlungsunfähigkeit bewahrt werden soll, sind klare Regelungen erforderlich, damit die Lage von Griechenland und möglicherweise auch anderen Schuld- nerländern nicht den Druck hin zu einer fatalen Schul- den- und Transferunion ins Unermessliche erhöht. Wir alle wissen nicht, was die Euro-Zone und was auch die Bundesrepublik Deutschland an Lasten alles aushält. Es geht hier nicht um eine verfrühte Entlastung des Schuld- ners, es geht auch um die Verminderung der Überlastung von starken Schultern. Das Schlimmste für die Euro- Zone wäre, dass ihr Hauptpfeiler, nämlich die deutsche Volkswirtschaft, unter der Folge zu hoher Traglasten zu- sammenbrechen würde – auch das muss hier festgestellt werden. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012 26063 (A) (C) (D)(B) Es geht auch darum, einem Überspringen auf weitere Länder in der Euro-Zone zu begegnen. Mir sind der Ernst und die komplexe Verhandlungs- lage durchaus bewusst, in der sich die Euro-Zone und in der Folge auch unser Land befinden. Mit scheint, dass nicht nur aus deutschem, sondern vielleicht gar noch mehr aus gut verstandenem europäischem Zukunftsinte- resse heute zumindest schwere Fehler vermieden und grundsätzliche Regelungen angestrebt werden sollten, die uns und die unmittelbar nachfolgenden Generationen vor einem Versinken in der Schuldenfalle bewahren. Dies ist gerade vor dem Hintergrund der Neuvertei- lung der politischen und wirtschaftlichen Gewichte auf dem Globus noch einmal bedeutender für den „alten Kontinent“ Europa. Christine Buchholz (DIE LINKE): Ich stimme heute gegen den Antrag des Bundesfinanzministers Wolfgang Schäuble, weil er nicht der griechischen Be- völkerung hilft. Leider stimmen alle Fraktionen außer der Linken zu. Mit dem Antrag zwingen sie die Regie- rung in Athen, 10 Milliarden Euro an Banken und Hedgefonds zu zahlen, anstatt sie für Maßnahmen zur Aufrechterhaltung lebenswichtiger Einrichtungen des Sozialstaats zu verwenden, wie zum Beispiel das Ge- sundheitssystem. Die alten und neuen Bedingungen für Griechenland bestehen in einem unmenschlichen Sozialkahlschlag, der die griechische Bevölkerung in die Verelendung treibt. Die Bundesregierung will die Auszahlung jeder einzel- nen Tranche davon abhängig machen, ob die vereinbar- ten Lohn- und Rentenkürzungen stattgefunden haben. Die Steuern werden weiter erhöht, Renten und Löhne um 30 Prozent gekürzt und die Gesundheitsausgaben jährlich um 12 Prozent zusammengestrichen. Die Kür- zungen im Gesundheitswesen haben dramatische Aus- wirkungen. In Athen ist die Zahl der HIV-Neuinfektio- nen drastisch angestiegen. Auf diese tödliche Folge des Kürzungsdiktats möchte ich einen Tag vor dem morgi- gen Welt-Aids-Tag hinweisen. Finanzminister Wolfgang Schäuble hat in der Debatte offen gesagt, worum es wirklich geht: „Niemand profitiert von Europa mehr als wir Deutsche.“ Wenn er von Deutschen spricht, meint er die deutsche Wirtschaft. Die könne sich in der globalen Konkurrenz besser behaupten mit den ökonomischen Vorteilen, die ihr der Euro bringt. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Griechenland und Deutschland sol- len für die deutschen Wirtschaftsinteressen zahlen. Das ist der Kern der heutigen Abstimmung. Meine Solidarität gilt der Bevölkerung in Griechen- land, die sich gegen das Verarmungsprogramm wehrt. Deshalb habe ich heute gegen den Antrag gestimmt, der ein Antrag für die Banken und Hedgefonds ist. Marco Bülow (SPD): Zu meinem Abstimmungsver- halten zum heutigen Tage erkläre ich Folgendes: Ich lehne den Antrag ab und möchte dazu eine per- sönliche Erklärung zu Protokoll geben: Ich kann dem vorliegenden Antrag des Bundesminis- teriums der Finanzen nicht zustimmen. Die Bundesregierung will Griechenland Finanzhilfen in Höhe von knapp 44 Milliarden Euro gewähren. Leider wurden die Abgeordneten wieder einmal in ei- ner indiskutablen Art und Weise über dieses Paket infor- miert. Am Dienstag habe ich in der SPD-Fraktion von der Bitte der Bundesregierung erfahren, dass der Bun- destag der nächsten Tranche in Höhe von 43,7 Milliar- den Euro, die im Rahmen des zweiten Anpassungspro- gramms für Griechenland bereitgestellt werden sollen, zustimmen möge. Vorgelegt wurde von Bundesminister Schäuble dazu ein zweiseitiges englisches Papier. Dieses Papier war völlig ungenügend, sodass wir uns in der SPD-Bundestagsfraktion als Bundestagsabgeordnete keine Meinung dazu bilden konnten. Bundesminister Schäuble schickte uns danach in mehreren Mails Texte zu der Thematik. Am Mittwoch habe ich zwei deutsch übersetzte Texte erhalten, die 83 Seiten bzw. 153 Seiten lang waren. Es ist unmöglich diese Texte in zwei Tagen in der gebotenen Sorgfalt durchzuarbeiten, geschweige denn, darüber zu diskutie- ren und zu einer angemessenen Entscheidung zu kom- men. Hier geht es schließlich nicht um Nebensächlich- keiten. Eigentlich sollte die Entscheidung sogar am Donners- tag stattfinden, und nur auf Druck der SPD-Fraktion wurde die Abstimmung auf Freitag vertagt. Aber auch ein Tag mehr macht den Vorgang nicht akzeptabler. Lei- der ist diese Vorgehensweise keine Ausnahme, sondern scheint von Regierungsseite aus zur Regel zu werden. Viele Kolleginnen und Kollegen sind zu Recht brüskiert. Ich kann das ebenfalls nicht unterstützen. Hier geht es immerhin um 44 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Im Bundeshaushalt wären das mehr als die kompletten Etats im Bereich Verkehr/Bau (25,9 Milliar- den Euro) und Gesundheit (14,5 Milliarden Euro) zu- sammen. Man kann und darf so eine wichtige Entschei- dung nicht nebenbei treffen. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten von ihren Abgeordneten, dass sie ver- antwortungsvolle und gut überlegte Entscheidungen tref- fen. Ich halte auch insgesamt die Lösungsversuche für die griechische Schuldenkrise für höchst problemtisch. Es liegt weiterhin kein vernünftiger Wirtschaftsplan für Griechenland vor. Es gibt keine wirkliche Strategie, wie diese Krise nachhaltig angegangen werden soll. Es gibt keine ausreichenden Kontrollmöglichkeiten dafür, wie das bewilligte Geld verwendet wird. Es gibt noch immer offene Fragen, die vor der Abstimmung nicht mehr ge- klärt werden können. Auch die Zusagen – wie zum Bei- spiel die Finanztransaktionsteuer – wurden bisher nicht erfüllt. Die Politik in Griechenland ist immer noch un- sozial. Sie setzt auf einseitige Sparmaßnahmen, die be- sonders die unteren Bevölkerungsschichten treffen. Wir brauchen aber nachhaltige Maßnahmen: einen umfassen- den Sozial- und Wachstumspakt, eine umfassende Regu- lierung des Finanzmarktes, eine bessere Abstimmung in der Wirtschaftspolitik in der EU, eventuell eine europäi- 26064 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012 (A) (C) (D)(B) sche Wirtschaftsregierung und eine wirkungsvollere Verteilungspolitik, die die Ungleichgewichte in der EU ausgleicht. Ich werde deshalb aus inhaltlichen und formalen Gründen gegen die Vorlage der Regierung stimmen. Sylvia Canel (FDP): Wir werden heute gefragt, den Änderungen des zweiten Anpassungsprogramms für Griechenland zuzustimmen, damit die nächste Tranche in Höhe von 43,7 Milliarden Euro bereitgestellt werden kann. Das Budgetrecht ist unser Königsrecht. Ausgaben haben wir dem Steuerzahler gegenüber zu verantworten. Etwas zu verantworten, bedeutet, Antworten geben zu können und die Fragen zu kennen. Wird der Steuerzahler ungeschoren davonkommen? Die Verschleppung der Reformen hat zu einem höheren Finanzierungsbedarf geführt. Dieser wird unter anderem über drei verschiedene Maßnahmen gedeckt, die jeweils eine Beteiligung der Zentralbanken des Euro-Systems voraussetzen: Erstens hat die Europäische Zentralbank Griechen- land erlaubt, einen größeren Teil seiner Staatsfinanzie- rung über Schatzwechsel, T-Bills, zu finanzieren. Diese kurzfristigen Anleihen sind so gut wie Geld und erhöhen unmittelbar die Geldmenge, bewirken also inflationäre Effekte. Zweitens haben Zentralbanken des Euro-Systems ei- nem Rollover von griechischen Staatsanleihen in ihren Beständen zugestimmt. Das bedeutet, dass sie die Erlöse aus fällig werdenden Anleihen in ihrem Bestand in neu aufgelegte Anleihen Griechenlands reinvestieren wer- den. Diese Maßnahme ist direkte monetäre Staatsfinan- zierung, die verboten ist. Drittens werden erstmals Mittel aus dem Bundeshaus- halt direkt an den griechischen Staat überwiesen, die der Höhe nach dem Gewinn der Bundesbank aus dem Er- werb von griechischen Anleihen im Rahmen des frühe- ren Aufkaufprogramms SMP entsprechen. Es geht um einen Barbetrag von annähernd 3 Milliarden Euro. Diese Milliarden werden kassenwirksam. Was haben die Griechen von den Hilfsmilliarden? Zur Auszahlung vorgesehen sind 43,7 Milliarden Euro. Doch nur 10,6 Milliarden Euro davon sind für den Defizitaus- gleich des griechischen Budgets gedacht. Dagegen sind 23,8 Milliarden für die Abwicklung und Rekapitalisie- rung des griechischen Bankwesens vorgesehen. Gerettet wird nicht die griechische Bevölkerung. Wer der Hilfe zustimmt, der kann dies also nicht mit seiner Solidarität begründen – für die man überdies auch noch die Steuer- bürger bezahlen lässt. Es geht vielmehr um Griechenlands Bankensektor. Leider soll erst gegen Ende April 2013 feststehen, wie hoch das jeweilige individuelle Kapitalbedürfnis der griechischen Banken ist. Allerdings wird der griechische Bankenstabilisierungsfonds bereits vorher, nämlich schon im Dezember 2012, gegenüber vier „besonders wichtigen“ Banken eine Selbstverpflichtung abgeben, jedes spätere Kapitalbedürfnis dieser vier Banken zu be- friedigen. Da jedes Loch in der Kapitaldecke dieser Ban- ken unbedingt gestopft werden soll, entstehen hier Fehlanreize zur Verlagerung von Bankrisiken auf den europäischen Steuerzahler. Überdies werden diese vier „besonders wichtigen“ Banken gerettet, obwohl die EBA in ihrem Stresstest nur zwei griechische Banken als systemrelevant erkannt hat. Es ist überhaupt unklar, wa- rum diese vier „besonders wichtigen“ statt der zwei be- kannten systemrelevanten griechischen Banken gerettet werden sollen. Wem nutzt dies? Die Gläubiger dieser „besonders wichtigen“ Banken profitieren am meisten von unseren Überweisungen. Wir kennen nicht einmal ihre Namen. Die sogenannte Griechenland-Hilfe dient nicht Europa oder Griechenland, sondern ist und bleibt eine Subven- tionsmaschine für Griechenlands Gläubiger und die Gläubiger seiner Banken. Bemerkenswert: Erst jetzt kommt man auf die Idee, verbliebene Nachranggläubi- ger der griechischen Banken an deren Sanierung durch Bail-in zu beteiligen. Dies bringt 600 Millionen Euro. Es stellt sich die Frage, wie viele zusätzliche Milliarden Bail-in-Kapital zur Verfügung gestanden hätten, wenn man diese Maßnahme zu Beginn und nicht erst im drit- ten Jahr der griechischen Insolvenzverschleppung ver- langt hätte. Werden wir uns heute das letzte Mal mit dem Anpas- sungsprogramm für Griechenland befassen? Erstens werden die Mittel für die griechische Banken- rettung wegen der Fehlanreize nicht ausreichen. Wer heute zustimmt, der legt die Grundlage für die spätere Abforderung weiteren Sanierungskapitals für die grie- chischen Banken. Zweitens erwartet die Troika bis 2016 trotz der inzwi- schen vorgenommenen Abstriche immer noch Privatisie- rungserlöse in einer Höhe von fantasievollen 22 Milliar- den Euro. Jeden fehlenden Privatisierungseuro muss der europäische Steuerzahler später ausgleichen. Drittens haben die Euro-Staaten weitere Eventual- maßnahmen vereinbart. Sie sollen die Schulden Grie- chenlands um fast 8 Prozent des griechischen Bruttoin- landsprodukts reduzieren. Nach heutigen Verhältnissen entspricht dies weiteren 16 Milliarden Euro. Wie diese versprochenen Maßnahmen konkret aussehen sollen, bleibt uns indes unbekannt. Doch nur mit ihnen kann überhaupt 2020 der in Aussicht gestellte Schuldenstand von 124 Prozent und 2022 von 110 Prozent erreicht wer- den. Viertens kommen weitere Milliarden wegen der zehn- jährigen Stundung der Zinsen auf die EFSF-Kredite dazu. Die gestundeten Zinsen sind nicht mehr fällig und senken dadurch den Schuldenstand, weil nicht fällige Forderungen auf diesen nicht angerechnet werden müs- sen. Die gestundeten Zinsforderungen verzinsen sich al- lerdings während der zehn Jahre dauernden Stundungs- phase! Diese Milliardenforderung wird die EFSF im Jahr 2023 fällig stellen. Dann wird sie die Staatsschuld erhö- hen. Allein in der Hälfte des Zeitraums der Stundung von 2012 bis 2016 geht es um 13,6 Milliarden Euro. Man kann also realistisch mindestens mit der doppelten Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012 26065 (A) (C) (D)(B) Summe gestundeter Schulden rechnen. Diesen Betrag muss man ab 2023 der griechischen Staatsschuld hin- zurechnen. Die Angabe, im Jahr 2022 rechne man mit ei- nem tragfähigen Schuldenstand Griechenlands von 110 Prozent, trifft ab 2023 nicht mehr zu. Fünftens klafft trotz aller Maßnahmen immer noch eine aus der Streckung des Programms resultierende Fi- nanzierungslücke von fast 4 Milliarden Euro in den Jah- ren 2015 und 2016. Manche Fragen sind gestellt, einige Antworten liegen vor. Aus Verantwortung für das Budget, die Steuerzahler und auch für die griechische Bevölkerung ist festzuhal- ten: Es ist klar, dass heute erneut die Gläubiger von Ban- ken und Staaten auf Kosten der Allgemeinheit gerettet werden. Es ist klar, dass diese Anpassung des Pro- gramms keine Lösung der griechischen Schuldenmisere bedeutet. Es ist klar, dass die Zahlen geschönt und ge- glättet wurden. Es ist klar, dass bald wieder Mittel für Griechenland in einem hohen zweistelligen Milliarden- betrag fehlen werden. Es ist klar, dass der Bundestag nochmals über Griechenland verhandeln wird. Es ist vor allem klar, dass der eingeschlagene Weg gescheitert ist. Die uns zur Entscheidung gegebene Anpassung des Programms verschleiert und verschleppt in Wahrheit die seit 2010 anhaltende Insolvenz Griechenlands. Dazu senkt und stundet man die Zinsen, verschiebt Fälligkei- ten, verzichtet auf Avalgebühren, beteiligt die Privat- gläubiger durch einen Schuldenrückkauf und prolongiert die laufenden Kredite der Zentralbanken. Im Ergebnis bedeutet dies einen zweiten Schuldenschnitt mittels ei- ner Restrukturierung der Staatsschulden Griechenlands. Fände diese Schuldenrestrukturierung nach einem Aus- tritt Griechenlands aus der Euro-Zone statt, wären die Maßnahmen als erster Schritt zur Rückkehr in die Nor- malität und Stabilität zu begrüßen. Für ein Griechenland Innerhalb des Euro-Raums sind sie nicht mehr als Flick- schusterei. Christian Hirte (CDU/CSU): Den zur Abstimmung stehenden Anträgen der Bundesregierung stimme ich nicht zu. Die Abstimmung über ein weiteres Hilfspaket für Griechenland untermauert das wichtige und notwendige Mitspracherecht der Parlamente. Nur mit einer deutli- chen Einbindung der Parlamente kann überhaupt eine grundlegende Akzeptanz der politischen Entscheidungen innerhalb der Schuldenkrise in Europa erarbeitet wer- den. Die Entscheidungen und Maßnahmen der letzten Jahre habe ich mit großer Skepsis und Sorge begleitet. Ich bin weiterhin nicht davon überzeugt, dass alle bishe- rigen Maßnahmen ausreichen, die Schuldenkrise dauer- haft zu überwinden. Das Grundziel ist und bleibt für mich, Entscheidungen zu treffen, mit denen in den Kri- senländern eine Perspektive geschaffen wird, die dabei helfen, Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum zu entwi- ckeln. Am Ende des Weges muss erkennbar sein, dass die Lage in den Peripherieländern besser wird. Dies ist der Grund, warum ich dem Rahmen hierfür, mithin EFSF und ESM, zustimmen konnte. Das Ringen um die Beteiligungsrechte des Parlaments hat dazu ge- führt, dass die Abgeordneten im konkreten Einzelfall entscheiden können, ob sie die Einzelmaßnahmen für die jeweiligen Staaten mittragen können. Ich habe Hochach- tung vor dem Weg, den das griechische Volk und die Politik in Griechenland in den vergangenen Jahren ge- gangen sind. Die massiven Einschnitte und Reformen sind gegen große Widerstände auf den Weg gebracht worden. Kein Staat in Europa hat in jüngerer Vergangen- heit so entschieden Kurskorrekturen vornehmen müssen. Zugleich halte ich grundsätzlich den von Bundes- kanzlerin Angela Merkel und der Bundesregierung ein- geschlagenen Weg für richtig. Die vorsichtigen und ab- wägenden Schritte sind bisher der Garant dafür, dass Europa als Ganzes und insbesondere Deutschland in der Krise überhaupt noch Handlungsspielräume hat. Die Haltung der Bundesregierung hat eine generelle Verge- meinschaftung der Schulden verhindert, hat die Position der nationalen Parlamente gesichert und den notwendi- gen Reformdruck auf die Krisenstaaten erhalten. Bun- deskanzlerin Angela Merkel hat in ihrer jüngsten Regie- rungserklärung deutlich gemacht, dass wir weiterhin nur mit kleinen, die Folgen abschätzenden Schritten die be- stehende Krise bewältigen können. Jeder Ruf einzelner Akteure oder auch Wissenschaft- ler nach der einen großen Lösung kann gegenüber dem Anspruch praktischer und komplexer Politikgestaltung in der demokratischen Wirklichkeit nicht Stand halten. Deshalb stütze ich auch weiterhin grundsätzlich den Kurs der Bundesregierung in der Schuldenkrise. Es ist zudem ein richtiges Zeichen, dass wir nach innen wie außen mit solider Haushaltspolitik ein Signal setzen, dass wir uns in Europa an den eigenen Maßstäben mes- sen lassen wollen. Trotz Zustimmung im Allgemeinen kann das vorlie- gende dritte Paket für Griechenland nicht meine Zustim- mung finden. Auch wenn Troika und Euro-Gruppe den Reformweg Griechenlands insgesamt positiv bewerten, sind die skeptischen Erwähnungen nicht zu übersehen. Die nun vorgeschlagenen Maßnahmen wie Schulden- rückkäufe, Laufzeitverlängerung von Krediten oder Zins- senkungen können einen Beitrag zur Entspannung der Belastungen Griechenlands leisten. Sie ändern jedoch nichts an der weiter deutlich unzureichenden Wettbe- werbsfähigkeit der Wirtschaft. Der Ausblick auf Wirt- schaftswachstum, Schuldenstand im Verhältnis zum BIP oder Rückzahlbarkeit der Kredite hat sich im Vergleich zur Vergangenheit weiter verschlechtert. Dies alles zeigt aus meiner Sicht, dass wir mit der Streckung und Fort- führung der bisherigen Maßnahmen allein nicht zu ei- nem Aufwärtspfad in Griechenland gelangen können. Der weiter wachsende Schuldenberg und die volkswirt- schaftlichen und politischen Konsequenzen einer nun lediglich gestreckten Schuldenpolitik bereiten mir aller- größte Sorge – nicht nur für Griechenland, sondern für den generellen Weg in Europa, vor allem auch für das Verhältnis der europäischen Nationen untereinander. Mir ist bewusst, dass Deutschland und die übrigen europäischen Länder Griechenland auf dem Weg zu mehr Wettbewerbsfähigkeit und einem Aufschwung 26066 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012 (A) (C) (D)(B) massiv helfen müssen. All dies wird am Ende Geld kos- ten – auch deutsche Steuermittel. Dies wird auch meine Zustimmung finden. Der vorab beschriebene Weg zwi- schen grundsätzlicher Zustimmung für den Weg der Bundesregierung und großer Skepsis im Einzelfall eines Staates illustriert zum einen meine persönliche Ambiva- lenz bei der Bewertung des Themas. Er illustriert aber auch, dass es aus meiner Sicht längst kein klares Richtig oder Falsch mehr gibt. Unabhängig von den politischen Entscheidungen muss allen klar sein, dass wir Geld in die Hand nehmen müssen, um Europa und auch den Euro zu sichern, vor allem aber, um Schuldenländern wie Griechenland zu helfen. Maßstab meiner Entscheidung wird aber die Abwä- gung bleiben, ob die konkreten Punkte helfen, dem Ziel von mehr Wettbewerbsfähigkeit und einem wieder wachsenden Wohlstand gerecht zu werden. Im vorlie- genden konkreten Fall kann ich dies nicht mit Ja beant- worten. Burkhardt Müller-Sönksen (FDP): Am heutigen Tag entscheidet der Deutsche Bundestag über Änderun- gen am Finanzhilfeprogramm für Griechenland. Alle Entscheidungen des Bundestages, Griechenland betref- fend, standen unter dem Vorbehalt der prognostizierten Wirtschaftsentwicklung. Diese ist aus jetziger Sicht un- günstiger verlaufen als 2011 erwartet. Hintergrund die- ser negativen Entwicklung sind zwei Parlamentswahlen, welche aufgrund des Scheiterns der Regierungsbildung nötig wurden. Um das vereinbarte Programm dennoch zum Erfolg zu führen, sind Korrekturen und Anpassun- gen im Konzept erforderlich geworden. Aus meiner Sicht kann die Möglichkeit eines erfor- derlichen Schuldenschnittes für Griechenland nicht kate- gorisch ausgeschlossen, sollte aber auch nicht herbei- geredet werden. Entgegen früherer Äußerungen von Bundesfinanz- minister Schäuble gehe ich fest davon aus, dass es schon in 2013 zu negativen Auswirkungen von knapp 1 Mil- liarde Euro auf den Bundeshaushalt kommen wird. Auch rechne ich mittelfristig fest mit einem Anstieg der Infla- tion, welche als Folge der eingeschlagenen Maßnahmen zu sehen ist. Auch wenn die Inflation zurzeit sehr niedrig und eine Erhöhung insbesondere der exorbitant gestiege- nen Energiepreise zuzurechnen ist, muss die Gefahr der Inflation offen und ehrlich angesprochen werden. Ich werde am heutigen Tag, trotz meiner geäußerten Vorbehalte und meiner Kritik, den Änderungen am Fi- nanzhilfeprogramm für Griechenland meine Zustim- mung nicht verweigern. Eine sofortige Beendigung der Finanzhilfen, wie sie die Kritiker vorschlagen, hätte verheerende Folgen. Schon im Dezember würde Griechenland die Zahlungs- unfähigkeit drohen. Alle Verbindlichkeiten würden da- mit – auch das gehört dann auf der anderen Seite zur not- wendigen Ehrlichkeit – vollständig verloren sein, und mit negativen Auswirkungen auf weitere EU-Staaten wie insbesondere Italien, Spanien und Portugal ist fest zu rechnen. Dieser Dominoeffekt hätte auch direkte negative Aus- wirkungen auf das Wirtschaftswachstum in Deutschland. Steigende Arbeitslosigkeit und ein Rückgang der Steuer- einnahmen sowie der Sozialversicherungsbeiträge wären die direkten Folgen. Europa ist mehr als nur ein Währungsraum. Europa hat eine gemeinsame Geschichte und eine gemeinsame Zukunft. Die Europapolitik der FDP glaubt an das Er- folgsmodell Europa. Die jetzigen Kosten, trotz ihrer Höhe, sind wichtige Investitionen für die konsequente Umsetzung des europäischen Gedankens von Frieden, Freiheit und Zusammenhalt. Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Bei der Abstim- mung über den ESM habe ich mich gegen die Fraktions- meinung für ein Nein entschieden, weil ich Einrichtung und Ausgestaltung für verfassungsrechtlich problema- tisch hielt und die pünktlich zur Abstimmung publizierte Auffassung von Spanien und Italien, sie würden Mittel ohne Auflagen bekommen, als Provokation und das Konterkarieren der Bemühungen unserer Kanzlerin empfunden habe. Meine heutige Jastimme ist geschuldet der Fraktions- solidarität und hat ausdrücklich und ausschließlich das Ziel, Angela Merkel als letzte Bastion gegen die euro- päische Transferunion zu stützen. Ansonsten spricht lediglich die Tatsache, dass der IWF sich trotz allem weiterhin beteiligt, für eine Weiterfinanzierung Grie- chenlands. Die Mehrheitsinteressen im Euro-Raum und die Mehrheitsverhältnisse im Deutschen Bundestag, wo sich SPD und Grüne als Retter in der Not gerieren, machen mich aber minder optimistisch, dass am Ende eine Transferunion vermieden wird. Ausgerechnet SPD und Grüne, die Griechenland wider besseres Wissen den Weg in den Euro geebnet haben, die den Stabilitäts- und Wachstumspakt aufgegeben haben! Würde Angela Merkel intern an unseren Voten scheitern und die linke Seite des Hauses das Heft in die Hand bekommen, wäre der Weg in die Schuldenunion klar und die Stabilität un- serer Währung endgültig dahin. Vor dem, was die SPD und die Grünen wollen, kann man nur warnen: Die Einführung des Euro und die damit verbundene Ausdehnung unseres Realzinsvorteiles auf die Euro-Zone wurde von den meisten Staaten nicht zur Investition, sondern zu Konsumzwecken genutzt. Mir fehlt das Vertrauen, dass diese Staaten sich anders ver- halten, wenn wir ihnen über Euro-Bonds noch einmal und diesmal zulasten der deutschen Bonität niedrige Zin- sen bescheren. Es liegt gleichwohl auch an uns, zu ver- hindern, dass dies alles durch die Hintertür kommt. In weiten Teilen bin ich aber durchaus auch anderer Auffassung als viele Kollegen der CDU: Griechenland wird nicht wettbewerbsfähig werden. Auch hinsichtlich der Haushaltsdisziplin gibt es berechtigte Zweifel, wenngleich die uns dargestellten Änderungen einen leichten Hoffnungsschimmer begründen. Deshalb bin ich der festen Überzeugung, dass wir jetzt endlich die Zeit nutzen müssen, das Währungsge- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012 26067 (A) (C) (D)(B) biet neu zuzuschneiden. Griechenland hat ohne Abwer- tungsmöglichkeit keine Chance, wirtschaftlich wieder einigermaßen auf die Beine zu kommen. Im Übrigen mussten einige von uns schmerzlich lernen, dass ein Schuldenschnitt kein wirkliches Sanktionsmittel ist. Wenn wir den Währungsraum nur mit Transfermitteln und Haushaltskuratel zusammenhalten, entwickelt der Euro nicht die intendierte Binde, sondern eine Spreng- kraft. Das sollten all diejenigen sich vor Augen führen, die in der argumentativen Sackgasse immer das überge- ordnete Thema „Krieg und Frieden“ bemühen. Das gilt übrigens auch für die Europapolitik insge- samt. Wenn wir nicht aufhören, das Europa der Kon- zerne zulasten der kleinen Leute zu formen, verliert diese großartige Idee weiter an Akzeptanz. Unser Anlie- gen muss es sein, das bestaustarierte demokratische und gewaltenteilige System unserer Republik der EU als Ge- staltungsmaßstab anzubieten. Unser Anliegen muss es sein, das Prinzip der Subsidiarität in Europa endlich wirklich zu verankern. Der Lissabon-Vertrag, dem ich damals nicht zugestimmt habe, hat mir deutlich gezeigt, wie weit weg die Akteure von diesen Gedanken sind. Die Euro-Krise müsste ihnen zeigen, wie weit man da- mit kommt. Und ein ceterum censeo kann ich mir an dieser Stelle abschließend nicht verkneifen: Weil mein Ziel immer noch das Europa der Regionen ist, stehe ich den politi- schen Ideen unseres Finanzministers klar ablehnend ge- genüber, der sich offenkundig einen europäischen Bun- desstaat vorstellt. Nach den Erfahrungen mit dem Euro kann ich davor nur warnen. Gerold Reichenbach (SPD): Ich habe bei der Ab- stimmung mit Nein gestimmt. Es ist zwar völlig richtig, in der aktuellen Situation Griechenland zu helfen. Die von der Bundesregierung maßgeblich mit ausgehandelte, jetzt vorliegende Lösung gewährt Griechenland aller- dings nur einen Zeitaufschub, ohne die Probleme grund- legend zu lösen. Im Gegenteil: Sie beinhaltet eine Fort- setzung einer reinen Austeritätspolitik zulasten der Mehrheit der griechischen Bevölkerung, die zu einem immer tieferen Einbruch der griechischen Wirtschafts- leistung und damit zu einer Erhöhung der Haushaltsdefi- zite statt zu deren Abbau geführt hat. Notwendig wäre im Gegenteil eine Politik, die neben Hilfen zur Schuldentilgung Wachstumsimpulse für die griechische Volkswirtschaft und Maßnahmen zur Erhö- hung des griechischen Steueraufkommens beinhaltet. Diese Politik wird nicht ohne Belastung für die europäi- schen Partner zu haben sein. Aber auch hier ist die Bun- desregierung aus wahltaktischen Gründen nicht bereit, den Bürgern die Wahrheit zu sagen. Im Gegenteil: Die Bundeskanzlerin hat durch ihre Schaukelpolitik zwi- schen strikter Ablehnung und anschließender beschränk- ter Zustimmung zu Rettungsmaßnahmen Griechenland immer tiefer in die Krise hineingleiten lassen, wobei die Kosten der zwangsläufigen Rettungsmaßnahmen immer weiter stiegen. Ein schnelles und entschlossenes Agieren zu Beginn der Krise und eine offene Kommunikation der Notwendigkeit der Rettungsmaßnahmen für Griechen- land auch im deutschen Interesse sowie der dadurch ent- stehenden Kosten wären nicht nur von Anfang an not- wendig gewesen, sondern hätten die Belastungen für den deutschen Steuerzahler in Grenzen halten können. Bei dem schrittweisen Zugeständnis von Maßnahmen, bei dieser Politik der Bundeskanzlerin des „zögerlich – zu wenig – zu spät“ steigen die Kosten der europäischen Fi- nanzkrise unaufhörlich. Auch die jetzige Maßnahme dient lediglich dazu, wei- tere Entscheidungen und die Offenlegung der tatsächli- chen Belastung für den Bundeshaushalt auf die Zeit nach der Bundestagswahl zu verschieben. Dies liegt weder im Interesse der deutschen noch im Interesse der griechi- schen Bevölkerung. Ich bin nicht bereit, die Politik der Bundeskanzlerin, die aus rein wahltaktischen Gründen die Kosten der Griechenland-Rettung immer weiter nach oben treibt, weiter zu unterstützen. Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Erstens. Für mich als überzeugten Europäer, Befürworter des Euro und Streiter für ein Europa der gemeinsamen Verantwor- tung ist in der konkret anstehenden Entscheidung über ein drittes Hilfspaket für Griechenland absolut unstrittig: Wer Europa, den Euro und aktuell Griechenland im Interesse der gemeinsamen nachhaltigen ökonomischen Wohlfahrt, der sozialen Gerechtigkeit und der Sicherung von Demokratie und Rechtstaatlichkeit helfen und für die Zukunft stärken will, muss sich in Regierung, Parla- ment, Parteien und Öffentlichkeit endlich ehrlich ma- chen. Die tiefgreifende Zerrüttung von Europa rund um das Bankensystem, die Überschuldung der Nationalstaaten und die massiven Einbrüche an Wirtschaftskraft, Wachs- tum und Lebensqualität in traditionsreichen Partnerlän- dern der EU erfordern in Kürze den Einsatz von hohen öffentlichen Mitteln, um soziale Mindeststandards, Wachstumschancen und Zukunftsinvestitionen wie strukturelle Verbesserungen in Good Governance in den gefährdeten Mitgliedsländern der EU wie speziell aus aktuellem Anlass in Griechenland zu erreichen. Gerade von den reichen und starken Ländern wie Deutschland werden hier substanzielle Beiträge erwar- tet, die bei den Menschen allerdings mit Recht nur dann auf Zustimmung stoßen und Unterstützung finden wer- den, wenn ihre Regierung Ehrlichkeit, Transparenz, Vo- rausschau und Mut zur Wahrheit zu ihrem Prinzip er- klärt. Die Bundesregierung Merkel/Schäuble hat dieses Prinzip in der Vergangenheit immer wieder missachtet. Auch das jetzt vorgelegte dritte Hilfspaket gründet nicht auf Ehrlichkeit, Transparenz, Vorausschau und Mut zur Wahrheit. Es ist ein Programm der kurzfristigen Not- hilfe, begründet in wahltaktischen Interessen der Bun- desregierung in Deutschland, ohne Nachhaltigkeit, ohne Perspektive, ohne Rücksicht auf die existenziellen Lebenssorgen breiter Bevölkerungsschichten in Grie- chenland. Wer Vertrauen missbraucht, darf kein Ver- trauen erwarten. Die Bundesregierung bekommt meine Zustimmung zu ihrer Vorlage nicht. 26068 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012 (A) (C) (D)(B) Zweitens. Die Verbitterung breiter Bevölkerungs- schichten in Griechenland über eine ungebremste Politik der Austerität gegen alle ökonomische Vernunft wird sich noch steigern, wenn sich die konservative Regie- rung Samaras im Bunde mit der konservativ-neoliberal dominierten Troika erkennbar darauf konzentriert, Staatssanierung und Konsolidierung ohne soziale Aus- gewogenheit und soziale Gerechtigkeit zu betreiben. Im Gegenteil: Die Steuer- und Kapitalflucht einer kleinen Schicht reicher und superreicher Griechen wird hinge- nommen und nicht entschieden bekämpft, obwohl deren Patriotismus und Verantwortungsbewusstsein in dieser tiefgreifenden Krise von Staat, Wirtschaft und Gesell- schaft notwendiger denn je wäre. Dies gilt umso mehr, als steuerliche, solidarische Beiträge aus Ländern wie Deutschland, die unabweisbar notwendig sein werden und deren Ausmaß im Interesse von Europa, des Euro und auch von Griechenland noch gar nicht abzuschätzen sind, genau diesen solidarischen Beitrag voraussetzen und erzwingen. Wer sich aus politischem Kalkül und Korrumpiertheit der Pflicht zur Herstellung von Solidarität im eigenen Land verweigert, wird schwerlich die Solidarität von Menschen in anderen Ländern Europas erwarten dürfen und erfahren können. Genau hier liegt aber die wirkliche Gefährdung der Einheit Europas, der Sicherung des Euro und der Rettung von Staaten wie Griechenland, wenn durch das Fehlen von Patriotismus und Verantwortungs- bewusstsein notwendiger Solidarität, die wir für die Zu- kunft erst recht dringend gebrauchen werden, die Legiti- mation verweigert wird. Europa, der Euro und auch Griechenland lassen sich aber nach meiner festen Über- zeugung nur retten, wenn diese Legitimation gewonnen werden kann. Die Regierung Merkel/Schäuble macht ei- nen sehr schweren Fehler, wenn sie aus ideologischer Borniertheit durch Passivität und Unterlassung die Her- stellung dieser Legitimation hintertreibt oder jedenfalls unterlässt. Die vorgelegte Form des dritten Hilfspakets für Griechenland kann deshalb nicht meine Zustimmung bekommen. Anlage 9 Amtliche Mitteilungen Der Bundesrat hat in seiner 903. Sitzung am 23. No- vember 2012 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzustimmen bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Ab- satz 2 des Grundgesetzes nicht zu stellen: – Gesetz zu Änderungen im Bereich der geringfügi- gen Beschäftigung – Gesetz zur Festsetzung der Beitragssätze in der gesetzlichen Rentenversicherung für das Jahr 2013 (Beitragssatzgesetz 2013) – Zweites Gesetz zur Änderung des Siebten Buches Sozialgesetzbuch – Gesetz zur Änderung des Neunten Buches Sozial- gesetzbuch – Gesetz zur Neuordnung der Altersversorgung der Bezirksschornsteinfegermeister und zur Än- derung anderer Gesetze Der Bundesrat hat ferner die nachstehende Entschlie- ßung gefasst: Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, Re- gelungen zu treffen, dass öffentliche Schulen oder staatlich anerkannte Schulen, die unter unmittelbarer staatlicher Aufsicht stehen, keiner Zulassung gemäß § 176 SGB III bedürfen. Ebenso sollen Maßnahmen in Bildungsgängen, die durch Bundes- oder Landes- recht normiert sind, unter unmittelbarer staatlicher Aufsicht stehen und zu einem beruflichen Abschluss führen, keiner Zulassung bedürfen. Begründung: Die Umsetzung des Rechtsanspruches für die ein- und zweijähri- gen Kinder zum 1. August 2013 stellt alle Beteiligten vor große Herausforderungen. Die Länder unternehmen derzeit alles ihnen mögliche, um die Kommunen bei dieser Aufgabe zu unterstützen. Neben der finanziellen Beteiligung bei der Schaffung des bedarfs- gerechten Betreuungsangebotes gehört hierzu auch die Unterstüt- zung und Durchführung von Maßnahmen, um dem Fachkräfte- mehrbedarf zu begegnen. Dabei sind sich alle Beteiligten einig, dass unnötige bürokratische Hemmnisse vermieden und da, wo sie bestehen, abgebaut werden müssen. Genutzt werden können hier- bei grundsätzlich auch Maßnahmen im Rahmen der Arbeitsförde- rung. Allerdings bestehen hier nach den bestehenden gesetzlichen Regelungen unnötige bürokratische Hemmnisse, die der Nutzung der Möglichkeiten entgegenstehen beziehungsweise die Durchfüh- rung der notwendigen Maßnahmen erheblich verzögern. So könnte der durch den Ausbau des Betreuungsangebotes erhöhte Bedarf an Betreuungspersonal unter anderem durch Umschulungs- maßnahmen gedeckt werden. Diese Maßnahmen werden jedoch von der Bundesanstalt für Arbeit nur dann gefördert, wenn die ent- sprechenden Bildungseinrichtungen „zertifiziert“ sind, dies gilt gleichermaßen auch für staatlich anerkannte Fachschulen. Diese bürokratischen Hemmnisse gilt es abzubauen. Denn: Nur der staatlichen Schulaufsicht kommt die Garantenstellung für Bil- dungsgänge zu, die zu einem staatlich anerkannten Abschluss füh- ren. Insoweit unterscheiden sich hier die Rahmenbedingungen von denen staatlich ungeregelter Bildungsangebote. Die derzeitige Verpflichtung zur Zertifizierung auch der Bildungs- gänge, die zu staatlich geregelten Abschlüssen führen, erhöht den bürokratischen Aufwand und führt zu höheren Kosten und höhe- rem Zeitaufwand für die öffentliche Hand, ohne zu inhaltlichen Verbesserungen zu führen. Die Qualität der Schulen unter Auf- sicht der Länder wird durch die Aufsicht der Länder gewährleistet. Bundes- und landesrechtlich geregelte Bildungsgänge an diesen Schulen unterliegen gleichfalls der Qualitätskontrolle durch die Länder und sollten deshalb ebenfalls von der Zertifizierungspflicht durch die Verordnung über die Voraussetzungen und das Verfahren zur Akkreditierung von fachkundigen Stellen und zur Zulassung von Trägern und Maßnahmen der Arbeitsförderung nach dem Dritten Buch Sozialgesetz (Akkreditierungs- und Zulassungsver- ordnung Arbeitsförderung – AZAV) befreit werden. Damit ist im SGB III aufzunehmen, dass öffentliche oder staatlich anerkannte Schulen, die unter Aufsicht der staatlichen Schulver- waltung stehen, als Träger von Maßnahmen ohne weitere Prüfung zugelassen sind. Für durch Bundes- oder Landesrecht geregelte Bildungsgänge ist eine Zulassung nicht erforderlich. Die Regelung macht jedoch auch deutlich, dass eigene – nicht bundes- oder lan- desrechtlich geregelte – Bildungsangebote dieser Schulen selbst- verständlich einer Zulassung bedürfen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012 26069 (A) (C) (D)(B) – Siebtes Gesetz zur Änderung des Weingesetzes – Gesetz zum Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Erweiterung des Geltungsbereichs der Verordnung (EU) Nummer 1214/2011 des Eu- ropäischen Parlaments und des Rates über den gewerbsmäßigen grenzüberschreitenden Straßen- transport von Euro-Bargeld zwischen Mitglied- staaten des Euro-Raums – Gesetz zur Änderung des Versicherungsteuerge- setzes und des Kraftfahrzeugsteuergesetzes (Ver- kehrsteueränderungsgesetz – VerkehrStÄndG) Der Bundesrat hat ferner die nachstehende Entschlie- ßung gefasst: Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, alle Fahrzeuge mit einem Ausstoß von weniger als 50 Gramm CO2/Kilometer von der Kfz-Steuer zu befreien. Begründung: Die Bundesregierung hat im Regierungsprogramm Elektromobili- tät vom Mai 2011 den Benchmark für Zukunftstechnologie mit 50 Gramm CO2 je Kilometer festgelegt. Das Ziel des Regierungsprogramms Elektromobilität, die Kraft- fahrzeugsteuerbefreiung für reine Elektro-Personenkraftwagen von derzeit fünf auf zehn Jahre zu verlängern sowie auf andere reine Elektrofahrzeuge und Fahrzeuge mit besonders geringen kombinierten Prüfwerten von weniger als 50 Gramm Kohlendioxid- ausstoß je Kilometer zu erweitern, hat das BMVBS im Rahmen des Verkehrsteueränderungsgesetzes in Aussicht gestellt. Mit dem Verkehrsteueränderungsgesetz erfolgte die Umsetzung bezüglich der Steuerbefreiung von Fahrzeugen mit einem CO2- Wert von weniger als 50 g/km jedoch nicht. Der Bundesrat hatte dies bereits in seine Stellungnahme aufgenommen. Die technolo- gieoffene Förderung von Fahrzeugen mit 50 g CO2 je km durch die Befreiung von der Kfz-Steuer ist ein wichtiger Beitrag, um Forschung und Entwicklung hocheffizienter Antriebe, wie auch die Innovationsdynamik bei herkömmlichen Antrieben und den Trend zu immer mehr Hybridfahrzeugen voranzubringen. – Gesetz zur Stärkung der deutschen Finanzauf- sicht – Gesetz zur Änderung des Energiesteuer- und des Stromsteuergesetzes sowie zur Änderung des Luftverkehrsteuergesetzes Der Bundesrat hat ferner nachstehende Entschließun- gen gefasst: 1. Der Bundesrat vertritt die Ansicht, dass aus Grün- den der Standortsicherheit der deutschen Wirt- schaft Ausnahmeregeln bei der Energie- und Stromsteuer sowie weiteren energie- und klima- politischen Instrumenten grundsätzlich gerecht- fertigt sind. Diese sind jedoch nach Ansicht des Bundesrats ebenso grundsätzlich auf energieinten- sive Unternehmen zu beschränken, die im interna- tionalen Wettbewerb stehen oder kostenrelevanter spezifischer Teil entsprechender Wertschöpfungs- ketten sind. Die Regularien müssen dabei so aus- gestaltet werden, dass das energiepolitische Ziel- dreieck „sicher, bezahlbar, umweltverträglich“ durch Ausnahmetatbestände nicht gefährdet wird. Eine genaue Überprüfung der steuer- und sonsti- gen abgabenrechtlichen Ausnahmetatbestände ist aus Sicht des Bundesrates erforderlich, um Miss- brauch auf Kosten für die Allgemeinheit zu ver- hindern. 2. Der Ausbau der erneuerbaren Energien muss kon- sequent weiterverfolgt werden. Ziel bleibt eine zu- verlässige, wirtschaftliche und umweltverträgli- che Energieversorgung. Dabei ist der Bundesrat sich bewusst, dass nur ein Teil der steigenden Stromkosten auf den Ausbau der erneuerbaren Energien zurückzuführen ist. Vor diesem Hinter- grund und dem gesamtgesellschaftlichen Ziel, den Ausbau der erneuerbaren Energien konsequent weiter zu verfolgen, bittet der Bundesrat darum, die Strompreis treibenden Faktoren außerhalb des EEG zu identifizieren, zu untersuchen und entlas- tende Ausnahmeregelungen für besondere Unter- nehmenskreise im Lichte der oben genannten Kri- terien zu überprüfen. 3. Der Bundesrat bedauert, dass der Deutsche Bun- destag die Änderungen bei der Luftverkehrsteuer mit den Änderungen bei der Energie- und Strom- steuer verknüpft hat, die eine Fortführung der aus Wettbewerbsgründen unverzichtbaren Steuerbe- günstigungen für das Produzierende Gewerbe über das Jahr 2012 hinaus sicherstellen sollen. Da- durch ist aus zeitlichen Gründen eine vertiefte Diskussion, welche gesetzgeberische Konsequen- zen sich für die Luftverkehrsteuer aus dem Evalu- ierungsbericht ergeben sollten, den die Schweizer Beratungsgesellschaft INFRAS im Auftrag des Bundesfinanzministeriums erstellt hat, nicht mög- lich. Angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Situation, in der sich der Luftverkehr in Deutsch- land befindet, hält es der Bundesrat für erforder- lich, die Branche von der Luftverkehrsteuer zu entlasten. Er fordert die Bundesregierung daher unabhängig von der Unterstützung des Gesetzes zur Änderung des Energiesteuer- und des Strom- steuergesetzes sowie zur Änderung des Luftver- kehrsteuergesetzes auf, noch in dieser Legislatur- periode ein Gesetz zur Abschaffung der Steuer vorzulegen. Auch wenn in der Fortschreibung des INFRAS- Gutachtens vom 9. Oktober 2012 für den Passa- gierluftverkehr auch im Jahr 2012 ein Wachstum von 2,7 Prozent prognostiziert wird, findet dieses jedoch ausschließlich auf internationalen Verbin- dungen statt. Die Passagierzahlen im Inlandsflug- verkehr werden nach Einschätzung der Gutachter dagegen um 1,7 Prozent zurückgehen. Dass dies die Auslastung der kleineren internationalen Ver- kehrsflughäfen beeinträchtigt, die mangels Funk- tion als internationales Drehkreuz einen höheren Anteil an Inlandsverbindungen aufweisen, liegt auf der Hand. Diese Einschätzung bestätigen auch die Monatsstatistiken des Flughafenverban- des ADV, nach denen sich das Passagierwachs- 26070 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012 (A) (C) (D)(B) tum im Wesentlichen auf die sechs größten inter- nationalen Verkehrsflughäfen konzentriert. Mitverantwortlich für den Rückgang des inner- deutschen Passagierluftverkehrs ist vor allem auch das Low-Cost-Segment, in dem das Stre- ckenangebot gegenüber dem Vorjahr nochmals deutlich reduziert wurde. Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt sieht dies in seinem Low-Cost-Monitor 2/2012 als eine Folge der im Jahr 2011 eingeführten Luftverkehrsteuer, die bei Inlandsverbindungen auf den Hin- und Rückflug erhoben wird, so dass sie eine massive Zusatzbe- lastung darstellt. Gerade der Inlandsluftverkehr reagiert aufgrund niedriger Margen empfindlich auf zusätzliche Kostenfaktoren. Dass die Luftverkehrsteuer die Entwicklung des Luftverkehrs in Deutschland im Jahr 2011 beein- trächtigt hat, bestätigt auch das INFRAS-Gutach- ten – 2 Millionen weniger Passagiere ist die er- nüchternde Bilanz des deutschen Alleinganges. Diese Wachstumsdelle wird absehbar auch im Jahr 2012 nicht aufgeholt werden können. Viel- mehr findet ein nach Einschätzung der Gutachter reguläres Wachstum ausgehend von einem niedri- geren Niveau statt, so dass der Schaden für den Luftverkehrsstandort bleibt. Mittel- und langfristig führt die Luftverkehrsteuer zu einer nachhaltigen Schwächung der deutschen Luftverkehrswirtschaft, da deutsche Fluggesell- schaften, bedingt durch den hohen Anteil an Ab- flügen von inländischen Flughäfen am gesamten Flugangebot, höher belastet werden als die aus- ländische Konkurrenz. Insoweit besteht ein grö- ßerer Druck zur Weitergabe dieser Zusatzkosten an die Passagiere. Ausländische Fluggesellschaf- ten mit einem geringeren Anteil an Anflügen von inländischen Flughäfen können die luftverkehr- steuerinduzierten Zusatzkosten dagegen leichter abfangen, was ihnen einen Wettbewerbsvorteil verschafft. – Gesetz zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/ EU und weiterer aufenthaltsrechtlicher Vorschrif- ten – Gesetz zur Flexibilisierung von haushaltsrechtli- chen Rahmenbedingungen außeruniversitärer Wis- senschaftseinrichtungen (Wissenschaftsfreiheits- gesetz – WissFG) Der Bundesrat hat ferner die nachstehende Entschlie- ßung gefasst: a) Der Bundesrat nimmt die Klarstellung der Bun- desregierung in Bundestagsdrucksache 17/10123, wonach sich das WissFG ausschließlich auf haus- haltsrechtliche Vorgaben des Bundes bezieht, die im Bereich der gemeinschaftlich auf der Grund- lage von Artikel 91b des Grundgesetzes finanzier- ten Einrichtungen einer zwischen Bund und Ländern einvernehmlichen Umsetzung in der Ge- meinsamen Wissenschaftskonferenz bedürfen, zu- stimmend zur Kenntnis und fordert darüber hinaus eine zwischen Bund und Ländern einvernehmli- che Umsetzung des WissFG auch für die Mitglieds- einrichtungen der Hermann von Helmholtz- Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren im Ausschuss der Zuwendungsgeber und für die Fraunhofer-Gesellschaft zur Förderung der ange- wandten Forschung im Ausschuss Fraunhofer-Ge- sellschaft. b) Der Bundesrat teilt die Auffassung des Bundes- rechnungshofes, dass das WissFG wesentliche Fragen des Bund-Länder-Verhältnisses berührt. Er sieht daher das Einvernehmen mit den Län- dern auch in solchen Bereichen für unerlässlich an, in denen der Bund einen überwiegenden Fi- nanzierungsbeitrag leistet. c) Der Bundesrat erklärt, dass die Länder für Ge- spräche über einvernehmliche Umsetzungen zur Verfügung stehen und den Vorschlägen des Bun- des für erweiterte haushaltswirtschaftliche Hand- lungsmöglichkeiten im Bereich von Artikel 91b des Grundgesetzes entgegensehen. Allerdings müssen größere Freiräume der Wissenschaftsor- ganisationen mit spezifischen Zielvereinbarungen und konkreter Erfolgskontrolle einhergehen. d) Unter dieser Prämisse nimmt der Bundesrat in Aussicht, dass die Länder im Rahmen der Abstim- mungen in der Gemeinsamen Wissenschaftskon- ferenz, im Ausschuss der Zuwendungsgeber sowie im Fraunhofer-Ausschuss Deckungsfähig- keiten und überjährige Verfügbarkeit öffentlicher Mittel in einem großzügigen, nicht unrealistischen und mit den haushaltsmäßigen Vorgaben der Län- der übereinstimmenden Rahmen zulassen. e) Eine Besserstellung der Bediensteten von gemein- sam nach Artikel 91b des Grundgesetzes finan- zierten Wissenschaftsorganisationen ist auch aus Mitteln, die weder unmittelbar noch mittelbar von der deutschen öffentlichen Hand finanziert wer- den, davon abhängig, dass eine kostensteigernde Auswirkung auf die Vergütungen im öffentlich geförderten Bereich ausgeschlossen und durch die Besserstellung eine messbare Leistungsverbesse- rung bewirkt wird. Dabei sind auch betragsmä- ßige Vergütungsobergrenzen festzulegen und er- höhte Verwaltungskosten zu vermeiden. – Gesetz für einen Gerichtsstand bei besonderer Auslandverwendung der Bundeswehr – Gesetz über die weitere Bereinigung von Über- gangsrecht aus dem Einigungsvertrag – Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Ab- standsgebotes im Recht der Sicherungsverwah- rung – Gesetz zur Einführung einer Rechtsbehelfsbeleh- rung im Zivilprozess und zur Änderung anderer Vorschriften – Gesetz zur Durchführung der Verordnung (EU) Nr. 1177/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. November 2010 über die Fahr- gastrechte im See- und Binnenschiffsverkehr so- wie zur Änderung des Luftverkehrsgesetzes Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012 26071 (A) (C) (D)(B) – Gesetz zur Änderung der Gewerbeordnung und anderer Gesetze – Gesetz über die Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP-Sondervermögens für das Jahr 2013 (ERP-Wirtschaftsplangesetz 2013) – Gesetz zur Einrichtung einer Markttransparenz- stelle für den Großhandel mit Strom und Gas – Gesetz zur Anpassung des Bauproduktengesetzes und weiterer Rechtsvorschriften an die Verord- nung (EU) Nr. 305/2011 zur Festlegung harmoni- sierter Bedingungen für die Vermarktung von Bauprodukten – Gesetz zu dem Abkommen vom 17. November 2011 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Fürstentum Liechtenstein zur Vermei- dung der Doppelbesteuerung und der Steuerver- kürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Ein- kommen und vom Vermögen – Gesetz zu dem Abkommen vom 23. April 2012 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Großherzogtum Luxemburg zur Vermei- dung der Doppelbesteuerung und Verhinderung der Steuerhinterziehung auf dem Gebiet der Steu- ern vom Einkommen und vom Vermögen – Gesetz zu dem Abkommen vom 12. April 2012 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steu- ern vom Einkommen – Gesetz zu dem Freihandelsabkommen vom 6. Ok- tober 2010 zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Korea andererseits Wahl des Vizepräsidenten des Bundesrechnungshofes Der Bundesrat hat in seiner 903. Sitzung am 23. No- vember 2012 gemäß § 5 Absatz 1 des Bundesrechnungs- hofgesetzes Herrn Christian Ahrendt, MdB, zum Vize- präsidenten des Bundesrechnungshofes gewählt. Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen absieht: Auswärtiger Ausschuss – Unterrichtung durch die deutsche Delegation in der Inter- parlamentarischen Union 126. Versammlung der Interparlamentarischen Union vom 31. März bis 5. April 2012 in Kampala, Uganda – Drucksachen 17/10722, 17/11097 Nr. 1.4 – – Unterrichtung durch die deutsche Delegation in der Parla- mentarischen Versammlung Europa-Mittelmeer 6. Plenartagung der Parlamentarischen Versammlung Europa-Mittelmeer vom 12. bis 14. März 2010 in Am- man, Jordanien – Drucksachen 17/10927, 17/11428 Nr. 1.2 – – Unterrichtung durch die deutsche Delegation in der Parla- mentarischen Versammlung der Union für den Mittelmeer- raum 7. Plenartagung der Parlamentarischen Versammlung der Union für den Mittelmeerraum vom 3. bis 4. März 2011 in Rom, Italien – Drucksachen 17/10928, 17/11428 Nr. 1.3 – – Unterrichtung durch die deutsche Delegation in der Parla- mentarischen Versammlung der Union für den Mittelmeer- raum 8. Plenartagung der Parlamentarischen Versammlung der Union für den Mittelmeerraum vom 24. bis 25. März 2012 in Rabat, Marokko – Drucksachen 17/10929, 17/11428 Nr. 1.4 – Finanzausschuss – Unterrichtung durch den Bundesrechnungshof Bericht nach § 99 der Bundeshaushaltsordnung über die umsatzsteuerliche Behandlung der Leistungen von Kreditfabriken – Drucksachen 17/9283, 17/9616 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht zur Steuerbegünstigung für Biokraftstoffe 2011 – Drucksachen 17/10617, 17/10879 Nr. 3 – Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Unionsdokumente zur Kenntnis genommen oder von ei- ner Beratung abgesehen hat. Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft Dokumentennummer und Verbraucherschutz Drucksache 17/11439 Nr. A.9  Ratsdokument 14571/12 Drucksache 17/11439 Nr. A.10  Ratsdokument 14635/12 Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Drucksache 17/11108 Nr. A.18  Ratsdokument 13457/12  Drucksache 17/11108 Nr. A.19 Ratsdokument 13715/12  Drucksache 17/11108 Nr. A.20 Ratsdokument 13806/12  Drucksache 17/11108 Nr. A.21  Ratsdokument 13908/12  Drucksache 17/11242 Nr. A.11 Ratsdokument 14333/12 212. Sitzung Inhaltsverzeichnis ZP 10 Regierungserklärung zu Finanzhilfen für Griechenland ZP 11 Korruption im Gesundheitswesen TOP 45 Hochfrequenzhandel TOP 15, ZP 12 Privatisierung der TLG-Wohnungen TOP 49 Weiterentwicklung der Krebsfrüherkennung Tagesordnungspunkte Anlagen
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721200000

Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Früher war das besser! Da wurde noch gesagt: Guten Morgen!)


Guten Morgen, meine Damen und Herren!


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Guten Morgen, Herr Präsident!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle
herzlich und freue mich, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass
wir die heutige Tagesordnung mit der Wahl eines
Schriftführers eröffnen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Schon wieder? Die hauen alle ab da oben! – Weitere Zurufe: Ui! – Das ist gut!)


Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen schlägt vor, für die
Kollegin Agnes Krumwiede die Kollegin Ingrid
Hönlinger als Schriftführerin zu wählen.


(Zurufe von der CDU/CSU: Oh! Warum das denn? – Trittin wäre besser!)


– Alternativvorschläge sind denkbar, werden aber nicht
ernsthaft vorgetragen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Doch: Trittin! – Gegenruf des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich kann ja nicht, weil ich keine Krawatte habe! – Volker Kauder [CDU/CSU]: Damit er eine Krawatte anzieht!)


– Kollege Trittin fühlt sich, wenn ich das richtig verstan-
den habe, überfordert, was die Anregungen aus anderen
Fraktionen betrifft. – Dann ist damit die Kollegin Ingrid
Hönlinger als neue Schriftführerin gewählt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der LINKEN)


Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, behandeln
wir zunächst einen Geschäftsordnungsantrag. Die
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP haben fristge-

recht beantragt, die heutige Tagesordnung um die Bera-
tung des Antrags des Bundesministeriums der Finanzen
zu Änderungen im bestehenden Anpassungsprogramm
für Griechenland zu erweitern; dieser Antrag findet sich
auf der Drucksache 17/11647. Die Vorlage einschließ-
lich der Anlagen soll gleich im Anschluss in Verbindung
mit der Regierungserklärung unter Zusatzpunkt 10 a be-
raten werden. Die Fraktion Die Linke hat dieser Aufset-
zung widersprochen.

Dazu erteile ich zunächst das Wort der Parlamentari-
schen Geschäftsführerin der Fraktion Die Linke, Frau
Kollegin Enkelmann.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721200100

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Die Fraktion Die Linke widerspricht der Aufset-
zung der Anträge der Bundesregierung zur sogenannten
Griechenland-Rettung auf die heutige Tagesordnung und
vor allen Dingen der Sofortabstimmung heute.


(Beifall bei der LINKEN)


In der Nacht von Montag zu Dienstag haben sich die
Finanzminister der Europäischen Union geeinigt. Am
Dienstagvormittag haben wir dann via Agenturmeldung
erfahren, dass am Donnerstag der Bundestag abschließend
über dieses Paket entscheiden soll – ohne dass sich die
Fraktionen dazu verständigt haben. Dann haben wir am
späten Dienstag dieses Paket von Unterlagen – Informa-
tionen, Anträge etc. – bekommen. Nicht einmal der Haus-
haltsausschuss oder der Europaausschuss, die am Mitt-
woch getagt haben, hatten sämtliche Drucksachen für ihre
Beratung zur Verfügung. Im Gegenteil: Über die Auswir-
kungen, die zum Beispiel die angekündigten haushalts-
rechtlichen Ermächtigungen mit sich bringen, konnte der
Haushaltsausschuss nicht verlässlich und nicht zuverläs-
sig beraten. Das heißt, Sie wollen in den nächsten Jahren
– das kommt hinzu – ohne Nachtrag, also quasi mit einem
Blankoscheck, hier über die weiteren Mittel, die in den
Bundeshaushalt eingestellt werden müssen, entscheiden.
Da machen wir nicht mit, ganz klar.


(Beifall bei der LINKEN)






Dr. Dagmar Enkelmann


(A) (C)



(D)(B)


Aber kraft Ihrer Wassersuppe, also kraft der Mehrheit
der Koalition, wurde das heute auf die Tagesordnung ge-
setzt; Schützenhilfe gab es von SPD und Grünen. Kol-
lege Steinmeier, Sie haben vollkommen recht, wenn Sie
sagen: Das Parlament darf nicht zum Abnickorgan der
Regierung werden.


(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Genau!)


Vollkommen recht haben Sie damit!


(Beifall bei der LINKEN – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann muss das Parlament aber auch die Bereitschaft haben, sich mit der Sache auseinanderzusetzen!)


Nur: Diese Bundesregierung benutzt unser Parlament
immer öfter dafür. Da machen wir als Linke nicht mit.
Dagegen müssen wir uns alle wehren, als gesamtes Par-
lament.


(Beifall bei der LINKEN)


Bei der SPD gab es dann zwar einen Sturm im Wasser-
glas; aber er war schnell beendet. Deswegen meine ich,
Sie haben den Titel verdient: Umfaller der Woche.


(Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der SPD: Oh! – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach, nur der Woche?)


Die Linke lehnt ein derart undemokratisches Verfah-
ren ab. Oder haben Sie tatsächlich ernsthaft dieses ganze
Paket gelesen,


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Ja!)


beraten,


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Ja!)


abgewogen?


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Ja!)


– Das alles haben Sie gemacht, Herr Kauder? Ich würde
jetzt gern ein Quiz mit Ihnen machen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Also los! Auf geht’s!)


Haben Sie ernsthaft geprüft, welche Auswirkungen sich
aus diesen Entscheidungen auf die kommenden Haus-
halte, zum Beispiel für 2013, ergeben?


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Ja! – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 730 Millionen!)


In der vergangenen Woche haben wir hier den Haushalt
2013 beschlossen. Er ist schon heute Makulatur. Wir
wissen, dass es im nächsten Jahr um 730 Millionen Euro
geht, die weniger ausgegeben werden können. Das ist
ein Problem. Wo soll das herkommen?

Da wird ganz einfach von „Umschichtung“ im Haus-
halt gesprochen. Das, finde ich, ist eine Volksverdum-
mung. Man sollte ehrlich mit den Menschen umgehen.
Was heißt denn „Umschichtung“? Umschichtung heißt
doch, dass an irgendeiner Stelle gekürzt wird: zum Bei-
spiel bei Bildung, bei der Arbeitsmarktpolitik, bei So-
zialleistungen. Sagen Sie das den Leuten! Wo soll tat-

sächlich das Geld für 2013 und die kommenden Jahre
herkommen?


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Wenn Sie aufhören, sagt Ihnen der Schäuble das!)


Die Bundeskanzlerin hat erklärt, es gehe nicht, Grie-
chenland den Hahn abzudrehen.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Hahn ist tot!)


Das sei nicht verantwortbar.

Dass Sie hier im Schnellverfahren solche Anträge
durch den Bundestag bringen wollen, das ist unverant-
wortbar.


(Beifall bei der LINKEN)


Dass Sie nicht ernsthaft Alternativen geprüft haben, das
ist in hohem Maße verantwortungslos: Verantwortungs-
los ist das gegenüber dem griechischen Volk; verantwor-
tungslos ist das vor allem auch gegenüber den deutschen
Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern.

Stimmen Sie gegen die heutige Sofortabstimmung!


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721200200

Das Wort erhält nun der Kollege Michael Grosse-

Brömer für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Michael Grosse-Brömer (CDU):
Rede ID: ID1721200300

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Es wird schon ritualisiert: Sie stellen sich bei
fast jeder Griechenland-Debatte hier hin, sagen, es ging
zu schnell, Sie sind nicht ausreichend beteiligt worden.
Sie sind lange Parlamentarische Geschäftsführerin. Sie
werden mir bestätigen, dass dieser Ablauf – mit Bera-
tung im Ausschuss – kein außergewöhnlicher Ablauf ist,


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das ist sehr ungewöhnlich! Das wissen Sie auch!)


sondern er ist so, wie er typischerweise bei Gesetzent-
würfen in einer Sitzungswoche stattfindet. Das ist der
erste Punkt.

Der zweite Punkt, Frau Enkelmann. Sie sollten sich
mit Ihrer Fraktion mehr Gedanken über Ihre europapoli-
tische Einstellung und weniger über die Geschäftsord-
nung machen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das ist nicht nötig!)


Ich stelle nur nüchtern fest, dass jede Fraktion heute
in der Lage ist, eine Entscheidung zu treffen. Ich sage Ih-
nen eines: Allen Kollegen, egal wie sie heute abstim-
men, zu unterstellen, sie würden hier sitzen und leicht-
fertig, ohne Vorbereitung, in diese Abstimmung gehen,
halte ich ein Stück weit für frech.


(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)






Michael Grosse-Brömer


(A) (C)



(D)(B)


Im Zweifel wird jede Kollegin und jeder Kollege der
Verantwortung als Abgeordnete oder Abgeordneter ge-
recht geworden sein. Im Zweifel wird er nach Beratung
mit seinen Mitarbeitern und nach ausführlicher Informa-
tion durch den Bundesfinanzminister in der Lage sein,
heute eine verantwortungsbewusste, für ihn tragbare
Entscheidung zu treffen. Darum geht es. Das ist im Übri-
gen auch Aufgabe dieses Parlamentes.

Abschließend will ich Ihnen eines sagen: Wie häufig
stehen Sie hier und beklagen die Situation in Griechen-
land?


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Wir haben unsere Vorschläge eingebracht!)


Heute stellen Sie hier einen Geschäftsordnungsantrag,
der, würde er angenommen, natürlich dazu führen
würde, dass eine Verzögerung eintritt, dass die Men-
schen in Griechenland nicht die Unterstützung bekom-
men, die sie kriegen sollen.


(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der LINKEN)


Das wäre das Ergebnis Ihres Geschäftsordnungsantrags.

Was die Sache noch viel schlimmer macht, ist, dass
wir klare Vorgaben für die Griechen gemacht haben,
dass wir ihnen finanzielle, solidarische Unterstützung
zugesagt haben, wenn sie gewisse Auflagen erfüllen.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Was ist denn „solidarisch“? Kürzung der Sozialleistungen!)


Die Troika sagt: Ja, diese Auflagen sind erfüllt worden. –
Und Sie wollen dem griechischen Volk jetzt die Unter-
stützung verweigern.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Sie kürzen die Sozialleistungen beim griechischen Volk! Die Renten!)


So geht es nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der LINKEN: Unverschämt!)


Deswegen, Frau Enkelmann: Dieser Antrag ist sach-
lich nicht begründet, und er wurde von Ihnen auch nicht
schlüssig vorgetragen. Deswegen können wir ihn nur ge-
schlossen ablehnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721200400

Weitere Wortmeldungen zur Geschäftsordnung liegen

mir nicht vor.

Ich lasse dann darüber abstimmen. Wer stimmt für
den Aufsetzungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU
und FDP? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
Damit ist der Aufsetzungsantrag mit großer Mehrheit an-
genommen.

Ich rufe nun den Zusatzpunkt 10 a und die soeben
aufgesetzte Beratung des Antrags des Bundesministe-
riums der Finanzen, Zusatzpunkt 10 b, auf:

ZP 10 a) Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister der Finanzen

Fortschritte beim Anpassungsprogramm für
Griechenland

b) Beratung des Antrags des Bundesministeriums
der Finanzen

Änderungen im bestehenden Anpassungs-
programm für Griechenland – Änderung der
Garantieschlüssel;

Einholung eines zustimmenden Beschlusses
des Deutschen Bundestages nach § 3 Absatz 1
i. V. m. § 3 Absatz 2 Nummer 2 des Stabilisie-
rungsmechanismusgesetzes (StabMechG)


– Drucksachen 17/11647, 17/11648, 17/11649,
17/11669 –

Zu der Regierungserklärung liegt ein Entschließungs-
antrag der Fraktion Die Linke vor. Des Weiteren hat die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen einen Entschließungs-
antrag zu dem genannten Antrag des Bundesministe-
riums der Finanzen eingebracht.

Wir werden über den Antrag des Bundesministeriums
der Finanzen später namentlich abstimmen.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-
rung 90 Minuten vorgesehen. – Auch hierzu gibt es of-
fensichtlich Einvernehmen. Dann können wir so verfah-
ren.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundesminister der Finanzen, Wolfgang Schäuble.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-
zen:

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Wir haben schon eine Reihe von Schritten gehen
müssen, um Griechenland und damit die Euro-Zone ins-
gesamt zu stabilisieren. Es stellen sich erste Erfolge ein;
aber der vor uns liegende Weg ist noch lang. Jahrzehnte-
lange Versäumnisse können nicht in zwei Jahren aufge-
holt werden. Meine Damen und Herren, das haben wir
alle ein Stück weit gemeinsam in den letzten zweiein-
halb Jahren lernen müssen.

Der Bundestag hat im Februar dieses Jahres dem
zweiten Anpassungsprogramm für Griechenland zuge-
stimmt. Dieses Programm umfasst Darlehen in Höhe
von bis zu 164,5 Milliarden Euro. Diese Darlehen wer-
den über den Rettungsschirm EFSF ausgebracht. Damals
ist zum ersten Mal in dieser Weise in Europa auch eine
Umschuldung bei nichtöffentlichen Gläubigern durchge-
führt worden.

Heute beraten wir über Änderungen, die notwendig
sind, damit wir dieses Programm fortführen können. Nur





Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble


(A) (C)



(D)(B)


so können wir die Auszahlung der nächsten im Pro-
gramm vorgesehenen Tranchen an Griechenland ermög-
lichen. Die Auszahlung jeder Tranche ist nach dem
vereinbarten Programm an ein positives Votum der soge-
nannten Troika – das sind die drei Institutionen: Interna-
tionaler Währungsfonds, Europäische Zentralbank und
EU-Kommission – gebunden. Sie müssen gemeinsam
prüfen und berichten, inwieweit das Programm wie ver-
einbart umgesetzt worden ist. Wenn es Lücken gibt,
müssen Änderungen vorgeschlagen werden, um das ent-
sprechend anzupassen.

Dieser Bericht hat lange auf sich warten lassen; die
erste Tranche war eigentlich Ende Juni fällig. Er liegt
jetzt vor, und in ihm wird präzise dargelegt, inwieweit
die Maßnahmen der Vereinbarung – des sogenannten
Memorandum of Understanding – umgesetzt sind, ein-
schließlich auch der sogenannten Prior Actions; das sind
die Maßnahmen, die Griechenland vor Auszahlung der
nächsten Tranche des Kredits auszuführen verpflichtet
ist.

Es ist bekannt, dass es durch die beiden Wahlen, die
im März und im Juni in Griechenland stattgefunden ha-
ben – nach der ersten Wahl ist die Regierungsbildung ge-
scheitert –, erhebliche Verzögerungen in der Umsetzung
des Programms gegeben hat. Außerdem hat sich die kon-
junkturelle Situation nicht nur in Griechenland, sondern
in Europa und weltweit seit dem Beschluss über das Pro-
gramm verschlechtert.

Alle internationalen Beobachter sind sich aber auch
einig, dass die neue griechische Regierung mit großem
Einsatz an einer konsequenten Umsetzung der vereinbar-
ten Auflagen arbeitet und dass jetzt eine Reihe von Fort-
schritten erzielt worden ist.

Der gemeinsame Bericht dieser drei Institutionen
stellt fest, dass Griechenland angesichts der schlechteren
wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und der eingetre-
tenen Verzögerungen zwei Jahre mehr Zeit brauchen
wird, um seine Konsolidierungsziele zu erreichen. Das
heißt vor allen Dingen, dass der Primärüberschuss, der
nach dem Programm eigentlich Ende 2014 mit 4,5 Pro-
zent erreicht werden sollte, erst 2016 erreicht werden
kann.

Das führt – ohne weitere Maßnahmen – zu einer Fi-
nanzierungslücke in der Größenordnung von 14 Milliar-
den Euro. Damit kann auch die in der Schuldentragfä-
higkeitsanalyse zugrunde gelegte Schuldenstandsquote
von 120 Prozent des Bruttoinlandsprodukts im Jahre
2020 – so war das Programm verabschiedet – nicht mehr
erreicht werden. Sie würde ohne Veränderungen nach
den jetzigen Berechnungen bei 144 Prozent im Jahre
2020 liegen.

Deshalb mussten wir in der Euro-Gruppe Vorschläge
zur Schließung dieser Lücke und zur Verbesserung der
Schuldentragfähigkeit erarbeiten. Diese Vorschläge be-
deuten eine Änderung des bestehenden Programms.
Dazu bitte ich den Bundestag nach § 3 unseres Gesetzes
über den Stabilisierungsmechanismus um seine vorhe-
rige Zustimmung. Der deutsche Vertreter kann nur zu-

stimmen, wenn der Deutsche Bundestag dem vorher zu-
gestimmt hat.

Im Kern entscheiden wir heute über Fortsetzung oder
Abbruch dieses Griechenland-Programms – Fortsetzung
des Programms mit Anpassungen, die es in der Spur hal-
ten, oder Nichtauszahlung dieser Tranchen mit allen
Konsequenzen, die das nicht nur für Griechenland, son-
dern für ganz Europa und darüber hinaus bedeuten
würde.

Im Vergleich zu den Prognosen aus dem Mai 2010
– das war die erste Entscheidung über ein Hilfspro-
gramm für Griechenland – ist der Einbruch des Brutto-
inlandsprodukts in Griechenland erheblich größer ge-
worden. Man geht jetzt für den Zeitraum von 2010 bis
2013 von einem Gesamtrückgang der volkswirtschaftli-
chen Gesamtleistung Griechenlands von 22 Prozent aus.


(Zuruf von der LINKEN)


– Wir hatten 2010 andere Prognosen der Institutionen.
Wir können uns immer nur an die Zahlen halten, die von
den entsprechenden internationalen Institutionen aufge-
stellt werden. Wenn wir anfangen, durch Mehrheitsent-
scheidungen in den Fraktionen von wirtschaftlichen Pro-
gnosen abzusehen, wird das alles nicht besser. Das hilft
uns alles nichts.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Was halten Sie von einer anderen Politik?)


– Es ist schön, dass Sie diesen Zwischenruf machen. Ich
wollte nämlich gerade darauf hinweisen.

Wir wissen heute, dass sich die wirtschaftliche Situa-
tion in Griechenland mit den üblichen Kategorien kon-
junktureller Entwicklung, also Rezession und Auf-
schwung, in Wahrheit nicht beschreiben lässt. In Wahrheit
erleben wir – das sehen wir heute vielleicht deutlicher, als
wir es vor 2010 gesehen haben – das Wegbrechen eines
zuvor nicht nachhaltigen, eher auf dem Papier bestehen-
den Bruttosozialprodukts, sozusagen eines Scheinwohl-
standes, der auf Pump, nämlich maßgeblich mithilfe von
Auslandskrediten, finanziert worden ist.

Da gibt es eine Parallele zu dem, was wir in Deutsch-
land und Europa vor etwas mehr als 20 Jahren erlebt ha-
ben. Die griechische Wirtschaft befindet sich in einem
Transformationsprozess, der vielleicht am ehesten dem-
jenigen ähnelt, den die osteuropäischen Länder nach
dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des sowjeti-
schen Imperiums leisten mussten. Das ist ein Gesun-
dungsprozess hin zu mehr Nachhaltigkeit, der sehr
schmerzhaft ist. Aber dessen Ursachen liegen nicht im
Anpassungsprogramm. Das ist eine der großen Täu-
schungen. Das Anpassungsprogramm für Griechenland
ist nicht die Ursache für die schlechte wirtschaftliche
Entwicklung. Im Gegenteil: Mit unseren Finanzhilfen
können wir die damit verbundenen Härten nicht vermei-
den, aber wir können sie wenigstens abmildern. Aufhal-
ten können wir den Prozess nicht. Die Alternative hieße
nämlich, unwirtschaftliche Strukturen mit Milliarden
und Abermilliarden Euro künstlich am Leben zu halten.
Es führt kein Weg daran vorbei: Griechenland muss in





Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble


(A) (C)



(D)(B)


einem mühsamen Prozess Wettbewerbsfähigkeit erlan-
gen. Dazu sind strukturelle Reformen unumgänglich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wenn man sich diese schwierigen wirtschaftlichen
Rahmenbedingungen verdeutlicht, stellt man fest, dass
die in Griechenland bisher erzielten Erfolge erheblich
sind, auch wenn sie noch hinter den ursprünglichen Pro-
grammzielen zurückbleiben.

Griechenland hat sein Haushaltsdefizit deutlich redu-
ziert. Nach der Bewertung der Troika hat Griechenland
eine der umfassendsten Haushaltskonsolidierungen um-
gesetzt, die ein Mitgliedsland der Europäischen Union in
den letzten 30 Jahren unternehmen musste und unter-
nommen hat. In den Jahren 2009 bis 2011 ist eine Redu-
zierung des Defizits um 6 Prozentpunkte des Brutto-
inlandsprodukts erreicht worden, und für das laufende
Jahr ist eine weitere Rückführung um 2,5 Prozentpunkte
auf dann noch 6,9 Prozent geplant.

Der strukturelle Haushaltssaldo hat sich seit 2009 um
13 Prozentpunkte des Bruttoinlandsprodukts verbessert.
Mit der Umsetzung der Maßnahmen in den kommenden
zwei Jahren wird das weiter reduziert werden.

Noch einmal: In den Jahren 2009 bis 2012 wird das
gesamtstaatliche Defizit in Griechenland um zwei Drit-
tel, um mehr als 22 Milliarden Euro, abgebaut.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Man muss auch sehen, was Griechenland schon geleistet
hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die makroökonomischen Ungleichgewichte gehen
zurück. Das ist für die Frage, ob Griechenland irgend-
wann auf einen wettbewerbsfähigen Kurs kommt, viel
wichtiger. Das Leistungsbilanzdefizit Griechenlands
sinkt. Es beträgt in diesem Jahr mit 8 Prozent des Brutto-
inlandsprodukts weniger als die Hälfte seines Höchst-
stands. Im Jahre 2008 waren es nämlich 18 Prozent.

Noch wichtiger ist: Griechenland gewinnt an Wettbe-
werbsfähigkeit. Das zeigt sich an einer Trendumkehr bei
den Lohnstückkosten. Bis 2009 sind die Lohnstückkos-
ten in Griechenland nämlich schneller gestiegen als im
restlichen Euro-Raum.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Richtig!)


Von 2009 bis 2012 hat Griechenland dagegen eine Ver-
ringerung seiner Lohnstückkosten um 10 Prozent er-
reicht, wohingegen sie im Euro-Raum insgesamt um
2 Prozent gestiegen sind. Das zeigt, dass die Lohnflexi-
bilisierung durch die Arbeitsmarktreformen im Anpas-
sungsprogramm eine wichtige und richtige Rolle spielt.

Griechenland hat zuletzt endlich auch tiefgreifende
Strukturreformen durchgeführt: im öffentlichen Sektor,
bei den Renten, im Gesundheitswesen, im Arbeitsmarkt
und – mit Abstrichen – auch auf den Güter- und Dienst-
leistungsmärkten. Auch die Weltbank bestätigt Grie-
chenland in ihrem Bericht Doing Business Report, in

dem darüber berichtet wird, wie die Rahmenbedingun-
gen für die Geschäftstätigkeit sind, und der für alle Län-
der erstellt wird, große Fortschritte.

Während der langen Beratungen, die jetzt zu dem Be-
richt der Troika geführt haben, haben wir zusätzliche
Maßnahmen verabredet und auch umgesetzt, die über
die bisherigen Programmauflagen hinausgehen.

Der Haushalt für das kommende Jahr mit der Schlie-
ßung einer Fiskallücke von 13,5 Milliarden Euro ist un-
ter den Umständen, die wir alle im Fernsehen verfolgt
haben, vor zwei Wochen an einem Sonntagabend verab-
schiedet worden. Man muss das bei den gestellten Anträ-
gen, das jetzt gar nicht zu entscheiden, auch noch in Er-
innerung behalten.

Das Renteneintrittsalter wird ab dem 1. Januar 2013
auf 67 Jahre erhöht.


(Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE] verlässt den Saal – Volker Kauder [CDU/ CSU]: Das ist der Gipfel: Enkelmann geht! Erst stellt sie hier Anträge, dann verschwindet sie! – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aus Protest! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie will im Büro die Unterlagen lesen! – Heiterkeit bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist trotzdem wich-
tig; wir kennen ja die Debatte aus dem eigenen Land. –
In Griechenland ist jetzt beschlossen worden, dass das
Renteneintrittsalter ab dem 1. Januar 2013 auf 67 Jahre
erhöht wird; die Gesundheitsausgaben werden auf ein
Niveau von maximal 6 Prozent des Bruttoinlandspro-
dukts begrenzt; es gibt einen Rahmen für den Mindest-
lohn; die Lohnnebenkosten sind reduziert worden, und
eine Fülle von Zugangs- und Ausübungsbeschränkungen
für regulierte Berufe wird abgeschafft.

Unter diesen Voraussetzungen – dass Griechenland es
umgesetzt hat – schlagen wir in der Euro-Gruppe jetzt
Maßnahmen dafür vor, die genannte Finanzlücke von
14 Milliarden Euro bis 2014 zu schließen und die Schul-
dentragfähigkeit wiederherzustellen. Diese Maßnahmen
sind Anpassungen des zweiten Griechenland-Programms.
Es handelt sich nicht um ein drittes, neues Programm. Im
Übrigen: Der finanzielle Gesamtrahmen bleibt unverän-
dert.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kommt darauf an, wie man zählt!)


– Es ist schon so, Frau Künast. – Es handelt sich im We-
sentlichen um folgende Einzelmaßnahmen: Zunächst
einmal plant Griechenland, ausstehende Staatsschuldtitel
von privaten Gläubigern zu den derzeit niedrigen Markt-
werten zurückzukaufen. Die liquiden Mittel dafür müs-
sen im laufenden Programm aufgebracht werden. Mit
diesem Beitrag des Privatsektors kann der Schulden-
stand signifikant weiter reduziert werden. Wie hoch der
Betrag genau ausfällt, muss abgewartet werden.

Die Mitgliedstaaten leisten ihrerseits einen Beitrag, in-
dem die Zinsen aus dem ersten Griechenland-Programm





Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble


(A) (C)



(D)(B)


– das sind die bilateralen Kredite, die wir über die KfW
ausgereicht und durch den Bund verbürgt haben – weiter
abgesenkt werden. Das heißt für uns: Die KfW wird wei-
terhin ihre Finanzierungskosten decken, aber sie wird
keine darüber hinausgehenden Erträge mehr an den Bund
überweisen können. Das bedeutet im Bundeshaushalt
Mindereinnahmen in Höhe von 130 Millionen Euro jähr-
lich. Diese Mindereinnahmen können im Rahmen des
Haushaltsvollzugs im kommenden Jahr aufgefangen wer-
den.

Es ist kein Nachtragshaushalt erforderlich.

Griechenland erhält für die EFSF-Darlehen – das sind
die Darlehen aus dem zweiten Griechenland-Programm –
eine Zinsstundung von zehn Jahren. Der Finanzbedarf
wird damit in der Programmperiode um 3,7 Milliarden
Euro verringert. Nach den Buchungsregeln von Eurostat
erhöht sich dadurch nicht der Schuldenstand. Die Lauf-
zeit der Kredite beider Hilfsprogramme wird um
15 Jahre verlängert. Der Grund ist, dass der große Berg
von Tilgungen, der sonst nach 2022 auf Griechenland
zukommen würde, mit dieser Streckung abgeflacht wer-
den soll.

Wir haben darüber hinaus verabredet, den Abbau der
T-Bill-Finanzierung – das sind die kurzfristigen Schuld-
titel – weniger schnell umzusetzen, als es im Programm
vorgesehen war. Was bisher im Programm vorgesehen
war, war sehr ambitioniert. Ich will noch sagen: Diese
Maßnahme ist vertretbar, weil sich Griechenland im Ver-
gleich zu anderen Ländern mit einem verhältnismäßig
geringen Anteil an kurzfristigen T-Bills an der Gesamt-
schuld finanziert.

Darüber hinaus sollen die Gewinne – wenn sie sich
verwirklicht haben –, die die Europäische Zentralbank
aus ihrem Sekundärmarktprogramm erzielt, wenn die
Anleihen zu 100 Prozent zurückgezahlt werden – man
hat ja im Rahmen des Sekundärmarktprogramms zu we-
sentlich niedrigeren Kursen gekauft –, an Griechenland
ausgereicht werden. Die EZB rechnet aus heutiger Sicht
in den kommenden Jahren mit Gewinnen aus diesem
SMP-Portfolio in einer Größenordnung von insgesamt
bis zu 10 Milliarden Euro.

Der rechnerische Anteil Deutschlands daran beläuft
sich auf etwa 27 Prozent. Im laufenden Jahr jedenfalls
entfällt als Anteil auf die Deutsche Bundesbank ein rech-
nerischer Gewinn am EZB-Ertrag von rund 600 Millio-
nen Euro, den wir im kommenden Jahr an Griechenland
weiterreichen. Die notwendige haushaltsrechtliche Er-
mächtigung dazu müssen wir über eine außerplanmäßige
Verpflichtungsermächtigung nach den §§ 37 und 38 der
Bundeshaushaltsordnung schaffen.

Diese Maßnahmen zusammen führen dazu, dass das
Programm weiter finanziert werden kann und dass auch
der griechische Schuldenstand deutlich absinkt. Er würde
sich nach den Berechnungen der Troika bis zum Jahr
2020 auf 126,5 Prozent und bis 2022 auf 115 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts belaufen. All diese Vorhersagen
können sich immer wieder ändern. Aber aus heutiger
Sicht sind das die Zahlen, mit denen die internationalen
Institutionen rechnen.

Wir sind bei allen Maßnahmen immer für das Prinzip
der Konditionalität eingetreten. Das gilt auch hier. Grie-
chenland wird all diese Erleichterungen nur erhalten,
wenn es seine Reformmaßnahmen Zug um Zug weiter
konsequent umsetzt. Wir haben übrigens Verbesserun-
gen in der Programmüberwachung vereinbart. Das von
Griechenland eingerichtete Sonderkonto ist gestärkt
worden: Dorthin werden künftig auch Privatisierungser-
löse und ein Teil künftiger Primärüberschüsse unmittel-
bar fließen. Sämtliche Zahlungen von diesem Konto sind
im Voraus detailliert der EFSF bzw. dem ESM zu mel-
den und müssen nachträglich vom Kontoinhaber bestä-
tigt werden.

Wir haben auf Bitten des Internationalen Währungs-
fonds in den Beratungen der Euro-Gruppe vorsorglich
über zusätzliche Maßnahmen gesprochen, mit denen im
Jahr 2022 der Schuldenstand weiter abgesenkt werden
könnte, wenn es notwendig sein sollte. Das könnte etwa
im Bereich der Mittel des Europäischen Strukturfonds
durch die Anpassung des griechischen Kofinanzierungs-
anteils oder durch eine weitere Absenkung der Zinsen
für die Griechenland-Kredite erfolgen.

Wir haben vereinbart, falls nötig über solche Maßnah-
men zu sprechen, wenn Griechenland einen Primärüber-
schuss erreicht hat, also einen Einnahmeüberschuss vor
dem Schuldendienst erwirtschaftet, und wenn das Pro-
gramm vollständig umgesetzt ist. Entscheidend ist in
jedem Fall das Erreichen dieses Einnahmeüberschusses
– des Primärüberschusses – vor dem Schuldendienst.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vor dem Schuldenschnitt!)


– Vorsichtig, Herr Trittin. – Wir dürfen auch weiterhin
keine falschen Anreize für ein Nachlassen der griechi-
schen Reformbemühungen setzen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, da geht es nicht da-
rum, dass wir sagen: „Wir trauen denen nicht“, sondern
es geht darum, dass wir wissen: Auch wir würden ver-
gleichbare Maßnahmen nur unter allergrößten Wider-
ständen treffen können, und nur, wenn man dazu ge-
zwungen ist; das muss man doch klar sehen. Deswegen
muss man wissen: Aktuelle Spekulationen über einen
Schuldenerlass würden genau diese falschen Anreize
setzen. Wenn man sagt: „Die Schulden werden erlas-
sen“, dann ist die Bereitschaft, zu sparen, um weiterhin
Hilfe zu bekommen, entsprechend geschwächt. Deswe-
gen wären das falsche Anreize. Wenn wir Griechenland
helfen wollen, diesen schwierigen Weg zu gehen, müs-
sen wir Schritt für Schritt vorangehen. Die falschen Spe-
kulationen zur falschen Zeit lösen das Problem nicht,
sondern sie machen es geradezu unlösbar.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Im Übrigen muss jeder wissen: Die Absicherung von
Krediten an Griechenland über Gewährleistungen des
Bundes erfordert haushaltsrechtlich nun einmal, dass nur
eine geringe Wahrscheinlichkeit besteht, dass Darlehen
nicht zurückgezahlt werden. Bei einem Schuldenerlass
würde das im Stabilitätsmechanismus vorgesehene Ge-





Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble


(A) (C)



(D)(B)


währleistungsinstrument nicht mehr zur Verfügung ste-
hen. Auch an der Rechtsfrage kann man sich nicht vor-
beimogeln; man muss es einfach wissen. Deswegen ist
es richtig, wenn wir jetzt keine falschen Spekulationen
betreiben.

Es handelt sich bei diesen Anpassungsmaßnahmen
um wesentliche Änderungen. Deswegen ist nach dem
Stabilisierungsmechanismusgesetz die vorherige Zu-
stimmung des Deutschen Bundestages notwendig.

Die Auszahlung der anstehenden Tranche ist der
nächste Schritt. Es handelt sich insgesamt um drei Tran-
chen; die erste war Ende Juni vorgesehen, die zweite
Ende September, die dritte Ende Dezember. Die Auszah-
lung dieser Tranchen ist abhängig von der erst im De-
zember vorliegenden Schuldentragfähigkeitsanalyse. Das
war vor einem Jahr genauso der Fall, weil wir auch dort
erst das Ergebnis des Schuldenerlasses der Privatgläubi-
gerbeteiligung abwarten mussten, um die Schuldentrag-
fähigkeitsanalyse durch die Troika erstellen lassen zu
können.

In diese Analyse muss das Ergebnis des Schulden-
rückkaufprogramms eingehen, und das Ergebnis kennen
wir heute noch nicht. Auf der Grundlage dieses Ergeb-
nisses kann dann die Troika die Empfehlung über die
Auszahlung der Programmtranche aussprechen. Davon
ist dann nach unseren Gesetzen der Haushaltsausschuss
zu unterrichten, und ihm ist Gelegenheit zur Stellung-
nahme zu geben, wobei das Plenum die Stellungnahme
an sich ziehen kann. So ist die Rechtslage.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei allen von mir
genannten Maßnahmen geht es in Wahrheit nicht allein
um Griechenland. Die potenziellen Auswirkungen eines
griechischen Defaults auf andere Euro-Länder und den
Euro-Raum wären gravierend. In Wahrheit wären die
Konsequenzen gar nicht absehbar. Es könnte ein Prozess
in Gang gesetzt werden, an dessen Ende der ganze Euro-
Raum auseinanderbrechen würde. Deshalb tun wir zu-
sammen mit unseren Partnern alles, was in unserer Kraft
steht, um Griechenland die notwendigen Anpassungen
zu erleichtern.

Die Probleme Griechenlands können nicht – ich sage
es noch einmal – über Nacht gelöst werden. Das Anpas-
sungsprogramm läuft noch zwei Jahre, und wenn danach
ein weiterer Finanzbedarf bestehen sollte, dann werden
wir Griechenland – das haben wir schon vor einem Jahr
erklärt – zur Wiedererlangung des Marktzugangs weiter
Hilfestellung geben, unter der Voraussetzung, dass Grie-
chenland die Programmauflagen uneingeschränkt erfüllt.

Wir befolgen bei alledem eine Politik, die mit mög-
lichst geringen Risiken und möglichst geringen Kosten
für Deutschland und Europa Griechenlands Haushalt
und Wirtschaft saniert. Es ist Ziel und es muss auch Ziel
bleiben, dass Griechenland eines Tages seine Schulden
wieder allein tragen kann und dass Griechenland von
den Märkten wieder als Kreditnehmer akzeptiert wird.

Die Bundesregierung weiß um die Opfer, die das Pro-
gramm der griechischen Bevölkerung auferlegt. Es wäre
unredlich, so zu tun, als könnte sich die Lage in Griechen-
land schnell verbessern. Deshalb war für uns von Anfang

an wichtig, dass die Entscheidung auch zu schmerzhaften
Reformen vom griechischen Souverän, also dem griechi-
schen Volk, getragen wird. Das ist durch die beiden Wah-
len geschehen.

Ich will daran erinnern, dass ich schon vor zweiein-
halb Jahren von dieser Stelle aus gesagt habe: Die grie-
chische Bevölkerung muss eine schwere Last tragen. –
Es ist auch sehr die Frage, ob das alles in Griechenland
gerecht und fair ist. Aber wenn die griechische Bevölke-
rung bereit ist, die Last zu tragen – es ist ihre Entschei-
dung –, dann werden wir ihr dabei helfen. Genau das ist
jetzt die Lage, und die Voraussetzungen sind gegeben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Im Übrigen gibt es für den Reformprozess Griechen-
lands keine Blaupause, so wenig, wie wir vor etwas
mehr als 20 Jahren die Blaupause für den Transforma-
tionsprozess in Deutschland und Europa hatten. Aber
wenn wir von Anfang an die von einigen immer noch
geforderte schnelle, große Lösung praktiziert hätten,
dann wären die Anreize für Griechenland, Reformen
umzusetzen, entfallen, und die bisherigen Fortschritte
wären dann nicht eingetreten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deshalb, verehrte Kolleginnen und Kollegen, werden
wir auch weiterhin nur Schritt für Schritt vorgehen kön-
nen, und wir werden Schritt für Schritt vorgehen. Nur
mit diesem schrittweisen Vorgehen werden wir beides
erreichen: die Kosten und Risiken zu begrenzen und für
die Fortsetzung des Anpassungsprozesses in Griechen-
land zu sorgen.

Natürlich kostet die Unterstützung des griechischen
Reformprozesses Geld; aber ohne unsere Unterstützung
würde nicht nur die Zukunft Griechenlands auf dem
Spiel stehen, sondern die Zukunft des Euro-Raums ins-
gesamt. Es geht darum, unser gemeinsames Europa zu
erhalten – unseren gemeinsamen Wohlstand. Nur in ei-
nem geeinten Europa, liebe Kolleginnen und Kollegen,
das immer noch der weltgrößte Wirtschaftsraum ist, ha-
ben wir – auch wir Deutschen – eine Chance, uns im glo-
balen Wettbewerb zu behaupten.

Im Wettbewerb der Systeme und der Volkswirtschaf-
ten können wir nur als Wirtschaftsgemeinschaft und nur
mit einer stabilen gemeinsamen Währung konkurrieren.
Man überlege sich: Wenn wir heute den Euro nicht hät-
ten, der immerhin 25 Prozent der Weltwährungsreserven
ausmacht, dann hätten wir ganz andere Probleme, übri-
gens nicht zuletzt in Deutschland. Wir würden wahr-
scheinlich unter massiven Auf- und Abwertungen in Eu-
ropa leiden, und unsere wirtschaftliche Lage und unser
Arbeitsmarkt wären dramatisch schlechter.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb muss man unseren Mitbürgerinnen und Mit-
bürgern, die bei all dem natürlich fragen: „Wisst ihr, was
ihr tut und was ihr verantwortet?“, gelegentlich auch sa-





Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble


(A) (C)



(D)(B)


gen – das muss man wieder und wieder sorgfältig be-
gründen –: Niemand profitiert von Europa mehr als wir
Deutschen,


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


wirtschaftlich und politisch ohnedies.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir in die Zu-
kunft Europas investieren, wenn wir für ein starkes Eu-
ropa arbeiten, dann investieren wir in unsere eigene Zu-
kunft. Deshalb bitte ich Sie um Zustimmung zu meinem
Antrag.


(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721200500

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem

Kollegen Frank-Walter Steinmeier für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD):
Rede ID: ID1721200600

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Irgendwie ist es auch rührend, Herr Schäuble, dass Sie
uns, die Opposition, jetzt daran erinnern wollen, dass
Griechenland zu retten ist bzw. warum und mit welchen
Instrumenten. Vielleicht habe ich in den vergangenen
zwei Jahren etwas verpasst. Aber wenn ich mich recht
erinnere, Herr Schäuble, dann waren es über lange Zeit
nicht Sie, die Regierungsfraktionen, die für den Verbleib
Griechenlands in der Währungsunion geworben haben.
Das waren andere hier im Hause.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Da waren doch viele in den Regierungsfraktionen
über Monate dem Stammtisch heftig auf der Spur. Wir
sagen Ihnen seit zweieinhalb Jahren beständig und un-
verändert: Wer täglich mit dem Rausschmiss Griechen-
lands unterwegs ist, gefährdet das, worauf wir angewie-
sen sind: die Währungsunion als Ganzes. – Das war vor
zweieinhalb Jahren schon so. Insofern brauchen wir da
keine Belehrungen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Noch vor vielen Monaten, noch vor zwei Jahren beka-
men viele auf der anderen Seite des Hohen Hauses
leuchtende Augen, wenn es um den Rausschmiss Grie-
chenlands, wenn es um Griechenland-Bashing ging. Al-
les fing an mit: Kein Cent für Griechenland! Im Sommer
hieß es dann: Lasst uns Griechenland aus der Euro-Zone
entfernen, dann wird in Europa alles wieder gut! So re-
deten in unverantwortlicher Weise viele von Ihnen; die
meisten im Hintergrund und im kleinen Kreis. Manche
– Herr Dobrindt, Herr Seehofer, Herr Söder, auch Herr
Rösler – redeten öffentlich darüber. Ob es Unerfahren-
heit oder Profilierungssucht war: Sie redeten jedenfalls
unverhohlen und öffentlich darüber.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Regierung – auch Sie, Frau Merkel – hat diese
Debatte über den Sommer hinweg in unverantwortlicher
Art und Weise laufen lassen. Über Wochen hinweg hörte
man aus dem Kanzleramt nicht einen einzigen Ton dazu.
Wenn man heute in die Boulevardpresse schaut, dann
sieht man, wie über Griechenland und über Europa ge-
schrieben wird, und dann kann man feststellen, dass der
Ungeist, den Sie selbst beschworen haben, nicht mehr in
die Flasche zurückzukriegen ist. Das ist auch Ihre Ver-
antwortung, Frau Merkel.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE])


Abwarten und zuschauen, wie sich die Dinge entwi-
ckeln, mag manchmal gut für den Koalitionsfrieden ge-
wesen sein. Für unser Ansehen in Europa, für Deutsch-
lands Ansehen in Europa war es das nicht. Deshalb sage
ich: Politische Haltung sieht anders aus.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Herr Schäuble, wenn ich heute von Ihnen andere
Töne höre, dann nehme ich das erstens zur Kenntnis und
werde Sie zweitens dafür nicht kritisieren. Ich sage nur:
Es ist gut, dass Sie in der Koalition gerade noch die
Kurve gekriegt haben. Besser wäre gewesen, wir hätten
solch klare Worte schon im Sommer von Ihnen gehört.
Aber Sie haben nicht einmal zugehört: uns nicht, einem
Teil der Ökonomen nicht, den europäischen Partnern
nicht und, Herr Schäuble, vor dem Sommer nicht einmal
Ihrer Geburtstagsgratulantin Frau Lagarde. Alle haben
Ihnen gesagt: Das, was ihr hier in Deutschland disku-
tiert, ist nicht europäische Verantwortung. Das sind nicht
einmal deutsche Interessen. Das, was bei Ihnen propa-
giert wird, ist schlicht ökonomischer Harakiri. Ökonomi-
sche Vernunft wurde über Wochen hinweg auf dem Altar
des Populismus geopfert. Die Verbeugung vor der Volks-
seele war Ihnen wichtiger, einer Volksseele, die Sie zu-
nächst erst hochgekocht haben.

Das Schlimme ist, dass auch diejenigen, die sich so
geäußert haben, wussten – das unterstelle ich –, dass es
nie nur um Griechenland ging, auch nicht nur um den
Euro, sondern dass es immer um den Bestand der Wäh-
rungsunion als Ganzes ging. Hätte man sie in diesen Mo-
naten gewähren lassen, hätte keiner hier zu Hause und
bei den europäischen Nachbarn widersprochen, hätten
wir die Brandstifter gewähren lassen, dann hätten die
Söders, Dobrindts und viele andere leichtfertig den ers-
ten Dominostein gekippt, was einen Flächenbrand in
ganz Europa ausgelöst hätte. Daran darf doch einmal er-
innert werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich will einräumen, Herr Schäuble: Sie waren derje-
nige und lange der Einzige in der Regierung, der das
böse Finale dieses politischen Bühnenstücks erahnt und
wahrscheinlich befürchtet hat. Was wir heute über die





Dr. Frank-Walter Steinmeier


(A) (C)



(D)(B)


Zukunft Griechenlands in der Währungsunion sagen,
klingt anders als fast alles, was wir über den Sommer aus
Ihrer Koalition gehört haben. Das ist gut.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Aber dann verließ Sie auch schon wieder Ihr Mut;
dann sind Sie leider auf halbem Wege stehen geblieben.
Eine ehrliche Haltung heute wäre gewesen, zu sagen:
Leute, es ist richtig, Griechenland zu helfen. Es ist auch
richtig, Griechenland dabei etwas abzuverlangen. Aber
unsere Annahmen über die schnelle Gesundung Grie-
chenlands, unsere Versicherungen über die schnelle
Rückzahlung von gewährten Krediten waren falsch. Wir
haben uns verkalkuliert. Die Rettung Griechenlands kos-
tet Geld, auch das des deutschen Steuerzahlers. – Herr
Schäuble, ich verlange nicht, dass Sie sagen: Die Sozis
haben recht. Aber ich erwarte schon, dass Sie sagen: Wir
haben uns geirrt, und zwar gewaltig.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Das kann er nicht! Das konnte er noch nie!)


Heute wäre Gelegenheit gewesen, sich ehrlich zu ma-
chen und den Menschen die ganze Wahrheit zu sagen,
die schlicht und einfach darin besteht, festzustellen, dass
weder Griechenland noch Europa allein über Kredite,
Bürgschaften und Garantien zu retten sind. Die schlichte
Wahrheit ist, dass die Rettung Europas echtes Geld kos-
tet, auch unser Geld kostet. Genau vor dieser Wahrheit
schrecken Sie zurück, weil Ihnen der Mut fehlt, weil Sie
Angst vor Ihren eigenen Leuten haben, Angst vor der
Niedersachsenwahl, Angst vor der Bundestagswahl.

Ich darf daran erinnern: Mit Angst vor einer Land-
tagswahl in Nordrhein-Westfalen fing Ihr schwankender
Kurs zur Euro-Rettung an.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Krise kleinreden, Lösungen über Wahltermine hin-
wegschieben, das gehört bei Ihnen seitdem einfach zum
Repertoire. Damit mögen Sie von den Taktikern des
politischen Kleinkriegs sogar Beifall bekommen, Herr
Schäuble, der Dimension der Krise, die wir in Europa in
der Tat haben, werden Sie damit nicht gerecht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Warum sage ich das? Weil ich mich an den Eiertanz
erinnere, den Sie selbst am Dienstag laut Medienberich-
ten vollführt haben. Erst haben Sie im Fernsehen gesagt,
die ganze Vereinbarung der Finanzminister in der Nacht
von Montag auf Dienstag koste den Steuerzahler keinen
Cent. Dann wurde nachgeschoben, es gebe jedenfalls
keine zusätzlichen Ausgaben, sondern es gehe nur um
Mindereinnahmen. Dann haben wir ungläubig nachge-
fragt. Dann hieß es, 730 Millionen Euro koste das Ganze,
aber das sei ja kein frisches Geld, sondern das gehe nur
vom Bundesbankgewinn ab. Erst als Herr Weidmann am
Mittwoch erklärte, von ihm sei jedenfalls mit keiner
Überweisung zu rechnen, wurde klar, dass es doch um

neues, um frisches Geld geht. Dazu, wie Sie das aufbrin-
gen wollen, hat auch der Haushaltsausschuss gestern
nichts Genaues erklärt. Wir haben einem Brief von Ihnen
entnommen, es könnte um die Größenordnung von
2,7 Milliarden Euro gehen.

Ich sage Ihnen nach diesen drei Tagen, die wir hinter
uns haben, ganz ehrlich: Ich kann den Ärger meiner
Haushälter gut verstehen. Abgesehen davon, dass man
mit Parlamentariern so nicht umgeht – das ist das eine –,


(Beifall bei der SPD)


darf ich für die SPD hier im Deutschen Bundestag sagen:
Bei dem Maß an Verantwortung, das dieses Parlament in
europäischen Angelegenheiten bisher gezeigt hat, ist das
auch unverständlich, unfair und nicht angemessen, Herr
Schäuble.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich muss Ihnen auch sagen: Der Ärger über den Um-
gang mit dem Parlament geht leider auch über den Kreis
der Haushälter hinaus. Warum? Aus unserer Perspektive
sieht das doch so aus: Da sitzen die Finanzminister auf
der europäischen Ebene wochenlang zusammen. Sie
treffen sich im Wochenabstand. Die Diskussion dreht
sich im Kreis. Man geht ohne Einigung auseinander. Das
geht über Wochen so. Dann bekommen wir am Dienstag
ein in vieler Hinsicht noch offenes Verhandlungsergeb-
nis auf den Tisch, dazu noch ohne die erklärenden Unter-
lagen. Und dann wird gesagt: Aber spätestens am Don-
nerstag dieser Woche wird entschieden – hopp oder top!

Es wäre das Mindeste gewesen, Herr Schäuble, Frau
Bundeskanzlerin, an einer Verabschiedung des Antrags
schon am Donnerstag dieser Woche nicht festzuhalten.
Sie müssen einfach zugeben: So kann man mit einem
Parlament dauerhaft nicht umgehen. Das überfordert
nicht nur die Parlamentarier, das ist auch kein anständi-
ger Umgang mit diesem Hohen Haus.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE])


Ich bin der Letzte, der nicht weiß, dass es im europäi-
schen Geschäft oft um schnelle Entscheidungen geht, lei-
der erst recht in den Fällen, in denen wir versuchen, den
Finanzmärkten mit Politik zuvorzukommen. Aber die Fi-
nanzminister selbst haben doch das ganze Paket unter
den Vorbehalt gestellt – lesen Sie sich den Beschluss
noch einmal durch –, dass das griechische Schuldenrück-
kaufprogramm tatsächlich funktioniert. Ob es funktio-
niert, wissen wir am 13. Dezember 2012. Frühestens am
13. Dezember wissen wir auch, ob und in welchem Um-
fang sich der IWF an diesem Programm beteiligt. Was
hätte also dagegengesprochen, in zwei Stufen zu verfah-
ren, also jetzt das Schuldenrückkaufprogramm zu eröff-
nen und im Dezember abschließende Entscheidungen zu
fällen?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Sie haben sich mit Ihrer Mehrheit anders entschieden.
Das dürfen Sie.





Dr. Frank-Walter Steinmeier


(A) (C)



(D)(B)


Aber ich darf Ihnen sagen: Ihre ganzen Einwände
zum Verfahren haben mich nicht überzeugt. Wir erwar-
ten, dass Sie nach dem 13. Dezember hier im Bundestag
eine Bewertung des Rückkaufprogramms vorlegen, die
Wirkung auf die Schuldenentwicklung Griechenlands
vortragen und ausdrücklich die Beteiligung des IWF an
diesem Programm versichern. Darauf kommt es uns an.


(Beifall bei der SPD)


Was das Schuldenrückkaufprogramm angeht: Auch
da vollführen Sie seit Dienstag einen Eiertanz. Herr
Schäuble hat wolkig erklärt: Das Programm wird finan-
ziert aus EFSF-Mitteln. Das mag ja sein; dagegen will
ich gar nichts sagen. Nur: Auch das Geld fällt am Ende
ja nicht vom Himmel. Was Sie jetzt vorschlagen, ist auf
der einen Seite ganz einfach, auf der anderen Seite aber
auch hart am Rande der Seriosität. Sie nehmen nämlich
einfach das Geld aus dem EFSF-Topf, das für spätere
Zeiten vorgesehen ist. Dabei verschweigen Sie, dass die-
ses Geld am Ende fehlen wird und dass damit ein drittes
Griechenland-Paket umso wahrscheinlicher wird.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich hoffe, das haben Sie wenigstens den Regierungsfrak-
tionen gesagt; sonst fallen die demnächst wieder aus al-
len Wolken.


(Beifall bei der SPD)


Seit den Tagen, als „Kein Cent für Griechenland“
noch schick war und als der Rausschmiss aus der Wäh-
rungsunion schon populär war, mussten viele Ihrer Leute
bis zur heutigen Abstimmung einen weiten Weg gehen.
Sie wissen genau: Das, was Sie heute vorlegen, ist noch
keine nachhaltige Lösung für Griechenland. Bis 2022
wird diese Lösung sowieso nicht tragen. Das ist auch
keine Lösung, die bis 2016 trägt.

Herr Schäuble, Sie haben Zeit gekauft – das ist wich-
tig genug –, vielleicht ein paar Monate, vielleicht ein,
zwei Jahre für Griechenland. Vor allem aber gewinnen
Sie Zeit für sich selbst, um der Koalition unangenehme
Wahrheiten und noch unangenehmere Entscheidungen
zu ersparen.

Ich werde in diesen Tagen von Journalisten gefragt,
ob die SPD für den Schuldenschnitt sei. Ich antworte
dann immer: Was ist das für eine Frage? Die SPD sähe
Europa am liebsten ohne Krise, wirtschaftlich stabil,
politisch erfolgreich.


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Aber die Krise ist da, auch wenn Sie sich darüber lustig
machen.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Nein, darüber machen wir uns nicht lustig, sondern über den Quatsch, den Sie vorher gesagt haben!)


Sie stellen jetzt fest, dass Ihr Werkzeugkasten inzwi-
schen leer ist. Sie wissen, dass die Basiszahlen für Grie-
chenland auch ohne Ihre Luftbuchungen am Ende auf ei-
nen Schuldenschnitt hinauslaufen. Sie aber scheuen
diese Wahrheit wie der Teufel das Weihwasser,


(Beifall bei der SPD)


so wie Sie alle Wahrheiten gescheut haben, die sechs
Monate später dann doch eintraten.

Ich erinnere an Draghis Ankündigung, dass die Euro-
päische Zentralbank Schuldtitel aufkaufen werde. Ich er-
innere daran, dass Draghi als Person und diese Ankündi-
gung aus den Reihen der Regierungsfraktionen damals
öffentlich verhetzt wurden. Sechs Monate später, Frau
Bundeskanzlerin, war das, was Draghi angekündigt
hatte, auch das Mittel Ihrer Wahl.

Genauso können Sie jetzt das verschieben, was am
Ende ökonomisch unvermeidlich sein wird. Sie können
es verschieben über Weihnachten, über die Niedersach-
senwahl, über die Bayernwahl, über die Bundestags-
wahl. Eines jedoch sage ich Ihnen mit aller Klarheit: Der
Schuldenschnitt wird zwar jetzt verschoben, aber irgend-
wann wird es dazu kommen, und dann werden wir Sie
aus Ihrer Verantwortung dafür nicht entlassen, meine
Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD – Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Die Wähler werden sie entlassen! – Norbert Barthle [CDU/CSU]: Diese Verantwortung tragen wir gerne!)


Jetzt heißt es bei Ihnen wie schon so oft: Bis hierher
und nicht weiter. – Wir haben das schon einmal gehört.
Der unvermeidliche Söder sagt, ein Schuldenschnitt
wäre der Dammbruch. Meine Damen und Herren, das ist
immer dieselbe Methode: Haltet den Dieb! Schuld sind
andere, im Zweifel die Opposition. Mit den schlechten
Nachrichten wollen wir nichts zu tun haben. – Wer re-
giert eigentlich in diesem Lande? Man hat den Eindruck,
Sie hätten damit nichts zu tun.


(Beifall bei der SPD)


Wir könnten es uns in dieser Situation sehr leicht ma-
chen und sagen: Das, was Sie da vorgelegt haben, ist
halbherzig und mutlos. – Wir könnten es uns sehr leicht
machen und sagen: Sie gehen weiterhin von falschen
Annahmen aus, und die endgültigen Kosten werden ver-
schleiert. – Wir könnten uns das alles sehr leicht ma-
chen, weil Sie sich im Kern immer noch an dem Punkt
vorbeidrücken, dass die Rechnung am Ende auch dem
deutschen Steuerzahler präsentiert wird. Argumente für
die Ablehnung, meine Damen und Herren, liefern Sie
zuhauf.

Wir hatten dazu in der Fraktion eine schwierige und
– das sage ich Ihnen auch – hochstreitige Debatte; das ist
Ihnen nicht verborgen geblieben. Ich verstehe jeden aus
meiner Fraktion, dem die Entscheidung nicht leichtfällt.
Aber wir haben uns gemeinsam entschlossen, nicht den
einfachen Weg zu gehen, sondern jenseits aller innen-
politischen und parteitaktischen Überlegungen zu unse-
ren Werten, zu unseren Überlegungen und zu unseren
Überzeugungen zu stehen.


(Beifall bei der SPD)


Wir benoten heute nicht eine Koalition in Berlin, die
seit Jahren zwischen europäischer Verantwortung und
antieuropäischem Geschwätz schwankt. Wir Sozialde-
mokraten machen nicht Politik für den Tag, sondern wir
denken in langen Linien. Wir bleiben unserer europäi-





Dr. Frank-Walter Steinmeier


(A) (C)



(D)(B)


schen Verantwortung treu. Wir können die Griechen
nicht im Stich lassen, die in diesen Tagen, in den letzten
Monaten harte Opfer auf sich genommen haben und die
jetzt, in der Stunde der Not, von uns erwarten dürfen,
dass wir das Wort von der europäischen Solidarität auch
einhalten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Meine Damen und Herren, für uns bleiben europäi-
sche Integration und gemeinsame Währung unschätzbar
hohe Werte. Wenn dieses Paket, so unvollständig und
halbherzig es sein mag, dazu beiträgt, Griechenland je-
denfalls jetzt vor dem Konkurs zu bewahren und wenigs-
tens auf Sicht den Flächenbrand in der Währungsunion
zu verhindern, dann werden wir es nicht aufhalten. Wir
werden mehrheitlich zustimmen. Aber unsere Kritik
bleibt, und wir werden sie öffentlich äußern. Sie werden
am Ende sehen: Wir werden auch in diesem Punkt nach
und nach recht bekommen.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721200700

Nächster Redner ist der Kollege Rainer Brüderle für

die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Rainer Brüderle (FDP):
Rede ID: ID1721200800

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir be-

schließen heute einen Antrag des Bundesfinanzministers
zum letzten Gipfel der Euro-Gruppe. Dieser Antrag ist
Voraussetzung, Mandat für die Beschlussfassung auf eu-
ropäischer Ebene. So sieht es unsere hart erkämpfte Par-
lamentsbeteiligung vor. Wir können stolz darauf sein,
dass das Parlament hierüber entscheidet.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dass wir Sie dazu gezwungen haben? – Gegenruf des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]: Herr Trittin, was für ein Quatsch!)


Die Finanzminister, die Europäische Zentralbank und
der IWF haben festgestellt, dass Griechenland die Aufla-
gen, die sogenannten Prior Actions, erfüllt hat.

Die Reformmaßnahmen verlangen der Bevölkerung
Griechenlands große Opfer ab. Die Deutschen fühlen zu
Recht mit, wenn sie Bilder aus griechischen Kranken-
häusern, wenn sie Berichte über die Situation in Grie-
chenland sehen. Was Griechenland durchmacht, ist eine
bittere Therapie; aber die Reformmaßnahmen sind not-
wendig. Jahrzehntelang wurde der öffentliche Sektor
aufgebläht. Wir können dort beobachten, was es für den
sozialen Frieden bedeutet, wenn zu lange auf den Staat
gesetzt wird und wenn nicht genügend Arbeitsmöglich-
keiten außerhalb des öffentlichen Sektors vorhanden
sind.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Gesellschaften mit wenigen privaten Unternehmen nei-
gen zum Erlahmen, Gesellschaften mit gar keinen priva-
ten Unternehmen neigen zum Sterben.

Es gibt einige hier im Hause, deren Ideal die Verge-
sellschaftung der Produktionsmittel ist.


(Zurufe von der LINKEN)


Der Versuch, unternehmerische Freiheit, unternehmeri-
sches Denken durch Fünfjahrespläne zu ersetzen, ist
grandios gescheitert.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Sahra Wagenknecht [DIE LINKE]: Ihre Gesellschaft macht nur Schulden!)


Auch ein Sozialismus light mit 100 Milliarden Euro Ver-
mögensabgabe, höheren Steuern und unrealistisch hohen
Sozialausgaben führt zu Lähmungstendenzen der Gesell-
schaft. Griechenland sollte für all diejenigen eine War-
nung sein, die auf höheren Staatsanteil, auf weniger Ex-
porte und auf mehr Umverteilung setzen. Das hat noch
nirgendwo geklappt.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Griechenland steuert um, Griechenland will mehr
Wettbewerbsfähigkeit erreichen, und Griechenland
braucht mehr Zeit für die Absenkung der Verschuldung.
Das hat die Euro-Gruppe festgestellt. Zwei Eckdaten
sind entscheidend: zum einen der sogenannte Primär-
überschuss, der sich errechnet aus den Einnahmen minus
den Staatsausgaben ohne Schuldendienst. Als Ziel für
die Erreichung eines Primärüberschusses ist von der
Euro-Gruppe jetzt das Jahr 2016 festgelegt worden. Der
andere Punkt ist die Schuldentragfähigkeit. Das ist vor
allem für den IWF wichtig, weil er nur Länder unterstüt-
zen darf, die eine Perspektive auf eine Schuldentragfä-
higkeit haben. Es ist nicht selbstverständlich, dass der
IWF so lange und auf Dauer dabeibleibt. Aber auch Län-
der wie Indien, China und Brasilien überlegen sich, wel-
chen Beitrag sie zur Lösung der Probleme Europas leis-
ten können, soweit sie nicht andere Verpflichtungen im
Blick behalten müssen.

Es wurde ein Kompromiss bei der Schuldentragfähig-
keit erreicht. 2020 soll eine Verschuldung von 124 Pro-
zent der Wirtschaftsleistung erreicht werden. 2022 soll
die Schuldenquote bei unter 110 Prozent liegen. Das ist
ambitioniert, aber machbar.

Die Finanzminister haben sich auf einen Mix von
Maßnahmen verständigt: zum Beispiel auf eine Zinssen-
kung der Kredite aus dem ersten Griechenland-Paket;
Herr Steinmeier, damals haben Sie sich kraftvoll enthal-
ten.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie Herr Westerwelle in der Generalversammlung!)






Rainer Brüderle


(A) (C)



(D)(B)


Der deutsche Anteil wurde über die KfW finanziert. Es
ist also so geregelt, dass wir eine schwarze Null schrei-
ben. Dennoch ergibt sich für den Bundeshaushalt ein
Margenverlust durch entgangene Zinseinnahmen von
130 Millionen Euro. Griechenland wird eine Zinspause
eingeräumt: Die Laufzeiten der EFSF-Kredite werden
beim zweiten Griechenland-Paket um 15 Jahre verlän-
gert; das heißt: Stundung, aber nicht Schenkung. Die
Opportunitätskosten, wie das Ökonomen nennen, will
ich einmal außer Betracht lassen. Die Gewinne der EZB
aus den Griechenland-Anleihen werden über die Bun-
desbank weitergegeben. Die Bundesbank ist autonom;
das heißt, sie legt selbst die Regeln fest, welche Gewinne
sie macht. Deshalb hat der Finanzminister eine außer-
planmäßige Verpflichtungsermächtigung für den Bun-
deshaushalt angesprochen.

Der Kanzlerkandidat der SPD müsste das Haushalts-
recht kennen. Er hat das früher in mindestens zwei Fäl-
len selbst so gemacht: beim Gebäudesanierungspro-
gramm und bei den Phoenix-Ausgleichsmaßnahmen. In
seiner Rede letzte Woche verlangte er nun, einen neuen
Haushalt aufzustellen. Das halte ich für Aufgeblasenheit.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es geht um ein verzweifeltes Ablenkungsmanöver des
Kanzlerkandidaten. Ich höre, es soll Genossen geben,
die ihn „Problem-Peer“ nennen. Da scheint jedes Mittel
recht zu sein, um von diesem Problem abzulenken.

Wo ist denn der Plan des Oberweltökonomen Peer
Steinbrück für die Rettung der Euro-Zone? Sie erzählen
viel, aber ein Konzept haben Sie nicht. Sie haben letzte
Woche zum Zeitaufschub Griechenlands erklärt, Sie
seien noch zu keinem Ergebnis gekommen, wüssten
noch nicht, was Sie machen würden. Sie würden ja auch
nicht mit den Regierungschefs an einem Tisch sitzen.
Man muss sich auf der Zunge zergehen lassen, was das
in diesem Zusammenhang bedeutet: Sie haben keine
Position. Unter Steinbrück wäre Deutschland ohne Posi-
tion, ohne Konzept, ohne eigenen Kompass in die Ver-
handlungen gegangen. Ich weiß nicht, ob die europäi-
schen Partner sich darüber freuen würden oder eher
geschockt wären.


(Zuruf von der CDU/CSU: Eben!)


Die Augen Europas und der Welt richten sich auf
Deutschland, und Steinbrück will in einer solchen Situa-
tion eine Politik des positionslosen Stuhls betreiben. Das
kann man bei einem Atrium-Talk bei den Bochumer
Stadtwerken machen, aber nicht bei verantwortlicher
Politik.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es soll ein Programm zum Rückkauf eigener Anlei-
hen durch Griechenland geben. Da sind Flexibilitäten
eingebracht worden, weil man nicht weiß, in welchem
Umfang das realisiert werden kann.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Buchungstricks heißen jetzt Flexibilität!)


Das hat man bei der privaten Gläubigerbeteiligung übri-
gens genauso gemacht. Damit hat man gute Ergebnisse
erzielen können.

Für meine Fraktion sind einige Dinge besonders
wichtig: Wir bewegen uns innerhalb der bestehenden
Hilfsprogramme. Wir verändern die Zeitachse, aber las-
sen im Reformdruck auf Griechenland nicht nach; das ist
wichtig. Es bleibt bei einer klaren Konditionierung: Es
wird ein Sperrkonto für die Mittel eingerichtet, und die
Reformfortschritte werden durch die Troika festgestellt;
sie sind die Basis für die weitere Auszahlung. Entschei-
dend ist für uns, dass der IWF weiter an Bord ist, weil er
international großes Ansehen hat und über die meiste
Expertise verfügt.

Der Bundesfinanzminister hat immer wieder ein-
dringlich darauf hingewiesen: Ein Schuldenschnitt ist
rechtlich derzeit in Deutschland, aber auch in einigen an-
deren europäischen Ländern nicht möglich.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Betonung liegt auf „derzeit“!)


Diese Rechtsauffassung wird übrigens vom Kanzlerkan-
didaten der SPD geteilt.

Über Einlassungen der Opposition in diesem Zusam-
menhang muss ich mich schon wundern. Sie stellen sich
hier hin und behaupten, mehr für Griechenland tun zu
wollen, einen sofortigen Schuldenschnitt vornehmen zu
wollen. Sie sollten mit den Zusammenhängen besser
vertraut sein: Die Rettungsschirme zahlen derzeit die
Kredite an Griechenland aus. Dafür garantieren die Mit-
gliedstaaten, auch Deutschland. Dies müsste sofort ge-
stoppt werden, wenn ein Schuldenschnitt vereinbart
würde; das ist die allgemeine Einschätzung, auch die des
Bundesfinanzministers. Das könnte niemand vertreten.
Was zu einem späteren Zeitpunkt eintreten kann,


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha!)


kann heute keiner mit Sicherheit sagen, selbst Herr
Trittin nicht. Ich formuliere es einmal so: Es gibt nicht
nur einen Londoner Club für private Schuldenschnitte,
sondern auch einen Pariser Club für öffentliche Schul-
denschnitte. Das sollte man im Hinterkopf behalten.


(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Aha! – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha! Sie nähern sich der Wahrheit an, Kollege Brüderle!)


Es ist auch nicht auszuschließen – Stand heute –, dass
die Maßnahmen in Sachen Griechenland weiteres Geld
kosten werden.

Mittlerweile sind wir alle Vertreter der Dominotheo-
rie. Das heißt: Wenn ein Euro-Land fällt, fallen andere
mit. Damit wären unvorhersehbare soziale, politische
und gesellschaftliche Folgen verbunden. Das kann kei-
ner wollen. Das Risiko kann man nicht eingehen. Des-
halb sind diese Maßnahmen auf den Weg gebracht wor-
den, und sie werden unterstützt.

Ich sage aber ganz klar: Griechenland ist ein Extrem-
fall und kein Präzedenzfall. Wir kaufen hier Zeit. Dabei





Rainer Brüderle


(A) (C)



(D)(B)


geht es aber weniger um Athen; es geht um Rom, Paris
und Madrid. Das muss man in diesem Zusammenhang
klar sehen. Diese Länder kämen schnell auf den Radar-
schirm der Finanzmärkte, wenn Griechenland kippen
sollte.

Die OECD hat diese Woche vor einem Zerfall der
Euro-Zone gewarnt. Neben den ungelösten Problemen
der Vereinigten Staaten – Stichwort „Fiscal Cliff“ – ist
das nach Ansicht der OECD die größte Gefahr für die
Weltwirtschaft. Deutschland – auch das ist eine Feststel-
lung der OECD – kommt dabei besser als alle anderen
Länder über die Runden. Wir sind Hort der Stabilität.
Deshalb haben wir guten Grund, diese Politik mit Ge-
duld und Ruhe, wie es die christlich-liberale Koalition
praktiziert, fortzusetzen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das wird so bleiben. Auch in der Vorweihnachtszeit
nächsten Jahres werden wir diese Politik fortsetzen, weil
das eine erfolgreiche, realistische Politik ist.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721200900

Das Wort erhält jetzt die Kollegin Sahra Wagenknecht

für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Sahra Wagenknecht (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721201000

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Herr Brüderle, wenn Sie sagen, dass wir stolz darauf sein
müssen, dass in Deutschland immerhin noch das Parla-
ment über Milliardenausgaben öffentlicher Haushalte
entscheidet, dann ahnt man mit ziemlicher Sorge, worauf
man sich in Zukunft noch einzustellen hat.


(Otto Fricke [FDP]: Was sagen Sie zu den anderen Ländern Europas?)


Zur Sache. Wenn ein Unternehmer immer neue
Schulden macht, um damit eine Zahlungsfähigkeit vor-
zutäuschen, die es längst nicht mehr gibt, dann nennt
man das im realen Leben Konkursverschleppung. Wer
einen Konkurs verschleppt, der macht sich strafbar und
kann dafür im schlimmsten Fall ins Gefängnis gehen.

Jeder weiß, dass Griechenland zahlungsunfähig ist
und den riesigen Schuldenberg unmöglich aus eigener
Kraft bedienen kann. Jeder weiß im Grunde auch, dass
sich daran in Zukunft nichts ändern wird, dass die Situa-
tion vielmehr von Jahr zu Jahr und von Sparpaket zu
Sparpaket dramatischer wird. Herr Schäuble, Sie können
hier doch nicht im Ernst behaupten, es gäbe keinen Zu-
sammenhang zwischen diesem Kürzungsprogramm und
dem Wirtschaftseinbruch. Da ist der IWF inzwischen
weiter.


(Beifall bei der LINKEN)


Deshalb weiß auch jeder, dass es am Ende einen Schul-
denschnitt geben wird und dass dieser Schuldenschnitt
für Deutschland sehr teuer sein wird.

Die Linke hat diesen Schuldenschnitt übrigens schon
2010 gefordert. Damals hätte er den deutschen Steuer-
zahler noch nichts gekostet; denn damals hätten die Ban-
ken und die privaten Anleger diese Kosten tragen müs-
sen. Heute fordern diesen Schuldenschnitt der IWF, die
Europäische Zentralbank und sogar der Vorsitzende des
CDU-Wirtschaftsrates, Lauk, der Ihnen mittlerweile die
gleiche Klatsche gibt wie wir und von politischer Insol-
venzverschleppung spricht. Hören Sie daher bitte auf,
dieses Parlament und die Wählerinnen und Wähler für
dumm zu verkaufen! Frau Bundeskanzlerin, und auch
Sie, Herr Schäuble, Sie wissen doch ganz genau, dass
wir heute nur deshalb über weitere Milliardensummen
entscheiden und diese freigeben sollen, damit Sie nicht
vor der Bundestagswahl zugeben müssen, dass Sie, Ihre
Koalition und natürlich auch SPD und Grüne, die immer
zugestimmt haben, Milliarden an deutschen Steuergel-
dern in den Sand gesetzt haben.


(Beifall bei der LINKEN)


Damit der Bankrott Ihrer Griechenlandpolitik nicht of-
fensichtlich wird, werfen Sie dem verlorenen Geld noch
einmal Milliarden hinterher. Ich finde, das ist eine ver-
antwortungslose Veruntreuung von Steuergeld.


(Beifall bei der LINKEN)


Herr Steinmeier, wenn Sie sagen, dass auch Sie davon
ausgehen, dass es einen Schuldenschnitt gibt, dann kön-
nen Sie diesem weiteren Geldversenken doch nicht zu-
stimmen. Es ist wirklich ungeheuerlich, dass Sie heute
immer noch dabei sind.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Wir sind nicht so zynisch wie Sie!)


Wir reden hier nicht über Peanuts. Die Gelder einge-
rechnet, die jetzt freigegeben werden sollen, sind binnen
zwei Jahren fast 200 Milliarden Euro an vermeintlichen
Griechenlandhilfen geflossen. Gleichzeitig wurde dem
Land das brutalste Kürzungsprogramm zulasten von Ar-
beitnehmern, Familien, Kindern, Arbeitslosen und Rent-
nern diktiert, das je in einem Euro-Land durchgesetzt
wurde. Im Ergebnis sind die griechischen Schulden
heute um 60 Milliarden Euro höher als vor dem ersten
Hilfspaket. Wenn das kein Bankrott Ihrer Politik ist, was
ist es dann?


(Beifall bei der LINKEN)


Alle Prognosen, mit denen Sie arbeiten, bestehen aus
Lügenzahlen. Das ist doch alles Augenwischerei. Grie-
chenland hat seit Beginn seiner angeblichen Rettung
20 Prozent seiner Wirtschaftskraft verloren. Für das
nächste Jahr ist ein weiterer Einbruch von 8 Prozent vor-
hergesagt. Die griechischen Arbeitslosenzahlen sind vor
allem für junge Menschen eine einzige Tragödie. Dieses
Land wird auf absehbare Zeit keine Überschüsse erwirt-
schaften, und mit jedem neuen Sparpaket wird die Situa-
tion nur noch schlimmer.





Sahra Wagenknecht


(A) (C)



(D)(B)


Seit letztem Montag haben sämtliche Apotheken in
Thessaloniki geschlossen, weil die Regierung seit Mona-
ten kein Geld mehr für Medikamente erstattet. Die Busse
fahren nicht mehr, weil die Regierung ihre Schulden bei
den Busunternehmen nicht bezahlt. Dieses Land liegt am
Boden. Eine rabiat faschistische Partei mit Naziparolen
und Schlägertrupps sonnt sich in wachsenden Umfrage-
werten, und Sie tun so, als müsse man nur weitermachen
wie bisher, die Daumenschrauben noch ein bisschen
mehr anziehen und noch ein paar Milliarden drauflegen,
dann würde es auf wundersame Weise irgendwann wie-
der aufwärtsgehen. Ich sage Ihnen: Das Einzige, das auf-
wärtsgeht – und dies sehr zuverlässig –, sind nach wie
vor die griechischen Schulden. Das Einzige, das Sie mit
diesen endlosen Milliarden, die Sie hier immer wieder
verpulvern, erreichen, ist eine Befreiung der privaten
Gläubiger Griechenlands, der Banken, der Hedgefonds
und der anderen Spekulanten, von ihrer Verantwortung
und von allen Verlusten; denn dorthin fließt das Geld
und nicht an den griechischen Staat.

Tatsächlich haben wir in diesem Parlament noch kein
einziges Mal über echte Griechenland-Hilfen entschieden;
wir entscheiden immer nur über Hilfen für Banken und
Spekulanten. Selbst die vermeintliche Gläubigerbeteili-
gung war – das sieht man, wenn man die Ergebnisse be-
trachtet – eigentlich eher eine Gläubigersanierung; denn
überraschenderweise – oder auch nicht überraschender-
weise – haben sich die griechischen Schulden im Ergebnis
so gut wie gar nicht reduziert. Das einzige Ergebnis ist,
dass seither ein noch größerer Teil des Griechenland-Risi-
kos vom europäischen Steuerzahler getragen wird.

Auch heute entscheiden wir nicht über Griechenland-
Hilfen. Wir entscheiden auch heute wieder über Hilfen
für Banken und Spekulanten. Schauen Sie sich doch ein-
mal an, wohin diese 35 Milliarden Euro, die Sie jetzt
freigeben wollen, fließen sollen! 10 Milliarden Euro sind
dafür bestimmt, privaten Investoren auch noch die letz-
ten Griechenland-Anleihen abzukaufen, und zwar, wie
üblich, zu völlig überhöhten Kursen. „Hedge-Fonds ma-
chen Kasse in Athen“ hat die Financial Times am Mitt-
woch getitelt, und sie hatte recht. Hedgefonds, die im
Sommer griechische Anleihen gekauft haben, können
mit Ihrem Rückkaufprogramm diese Anleihen jetzt mit
sage und schreibe 42 Prozent Rendite wieder verkaufen.


(Zurufe von der LINKEN: Pfui!)


Diese Traumrenditen der Spekulanten finanzieren Sie
mit dem hart erarbeiteten Steuergeld der Bürgerinnen
und Bürger. Sind Sie denn noch bei Sinnen?


(Beifall bei der LINKEN)


Die Finanzmafia hat an Ihrer großartigen Euro-Rettung
schon mehr als genug verdient. Ich meine, statt ihr im-
mer neue Milliarden in den Rachen zu werfen, wäre es
endlich an der Zeit, sie zu einem Totalverzicht zumin-
dest auf den Teil der Griechenland-Anleihen zu zwin-
gen, die sie noch nicht beim Steuerzahler abgeladen hat.

Aber auch der Rest des Griechenland-Pakets geht
nicht an griechische Apotheken und Busunternehmen,
geschweige denn an Menschen in Not. Dieser zweite
Teil wird den griechischen Banken zur Verfügung ge-

stellt, um ihre Kapitalausstattung zu verbessern. 25 Mil-
liarden Euro sollen dorthin fließen. Warum hält man sich
nicht an die Eigentümer und an die Gläubiger dieser
Banken? Warum hält man sich nicht einmal an die grie-
chische Oberschicht, die ihren riesigen Reichtum gerade
dem korrupten griechischen System und damit auch den
ganzen Schulden, die in den letzten Jahrzehnten gemacht
wurden, verdankt?


(Beifall bei der LINKEN)


Auch ich weiß, dass die griechischen Multimillionäre
ihr Vermögen größtenteils außer Landes geschafft haben.
Die griechischen Banken, die wir jetzt so großzügig be-
schenken wollen, waren an diesen Transaktionen aber
nicht ganz unbeteiligt. Warum werden zum Beispiel
Banken in der Schweiz, bei denen griechische Milliar-
denvermögen lagern, nicht unter Druck gesetzt, die ent-
sprechenden Daten offenzulegen? Die USA haben es
doch auch geschafft, zum Beispiel die Schweizer UBS
zu einer Offenlegung sämtlicher Transaktionen zehn
Jahre rückwirkend zu bewegen, übrigens sogar ohne den
Einsatz von Kavallerie. Ist die Euro-Zone so viel schwä-
cher als die USA, oder will man den griechischen Mil-
lionären gar nicht ans Geld, weil es, wie wir es auch in
Deutschland sehen, zu Ihrem Politikstil gehört, lieber
zehnmal der Mittelschicht in die Tasche zu greifen, als
auch nur einmal bei den wirklich Reichen zuzulangen?
Das ist doch Ihre Politik.


(Beifall bei der LINKEN)


Diese feige Politik haben Sie von Anfang an auch in
Griechenland betrieben. Wenn sich das nicht ändert,
dann wird Griechenland weiter in den Abgrund taumeln,
und der deutsche Steuerzahler wird verdammt hohe Kos-
ten zu schultern haben. Wem wollen Sie diese absurde
Politik eigentlich noch erklären?


(Otto Fricke [FDP]: Frau Wagenknecht als Verteidigerin des Steuerzahlers! Mann, Mann!)


Wem wollen Sie als christliche Partei erklären, dass Sie
für irgendwelche Spekulanten den Weihnachtsmann
spielen, während Sie gleichzeitig Geld für den Kauf ei-
nes Weihnachtsbaums aus den Hartz-IV-Regelsätzen ge-
strichen haben, weil das offenbar den Bundesetat über-
fordern würde?


(Zuruf von der LINKEN: Pfui!)


Wem wollen Sie erklären, dass hier in Deutschland Stra-
ßen verrotten, Schulen verfallen und in Krankenhäusern
Dauernotstand herrscht, weil die Länder und Gemeinden
mit der sogenannten Schuldenbremse stranguliert wer-
den, während Sie durch Beschlüsse wie den heutigen
Deutschland immer tiefer in den Schuldensumpf trei-
ben? Die Großzügigkeit, die Sie an den Tag legen, wenn
es um die Sanierung gestrauchelter Finanzspekulanten in
Griechenland, in Spanien oder eben auch hier zu Hause
geht, möchte ich einmal erleben, wenn es um soziale
Ausgaben geht, und da geht es in der Regel um sehr viel
kleinere Beträge.

Mit den gut 700 Millionen Euro – in dieser Höhe wird
der Bundeshaushalt 2013 durch die aktuellen Beschlüsse
unmittelbar belastet – könnten Sie in der Bundesrepublik





Sahra Wagenknecht


(A) (C)



(D)(B)


20 000 Kitaplätze zusätzlich schaffen. Um die Studien-
gebühren in Niedersachsen zum Beispiel sofort abzu-
schaffen, bräuchten Sie gerade einmal 100 Millionen
Euro.


(Beifall bei der LINKEN)


Aber Kitas und Universitäten sind in einer marktkonfor-
men Demokratie natürlich viel unwichtiger als Banken
und Hedgefonds.

Abschließend noch etwas zum Verfahren. Es hat im
Rahmen der angeblichen Euro-Rettung ja schon Tradi-
tion, über Milliardensummen im Eilverfahren zu ent-
scheiden. Mit der Entscheidung heute ist der gerade
letzte Woche beschlossene Haushalt schon wieder Ma-
kulatur, und die meisten von Ihnen ahnen, dass vieles
von dem, was hier heute erzählt wurde, in kürzester Zeit
auch wieder Makulatur sein wird. Ich frage Sie: Warum
spielen Sie alle dann als brave Marionetten in dieser Fas-
sadendemokratie mit und lassen eine Koalition weiter
herumstümpern, die offenbar glaubt, die soziale Realität
in Deutschland und Europa ließe sich genauso leicht fri-
sieren wie der Armuts- und Reichtumsbericht?


(Beifall bei der LINKEN – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Von Fassadendemokratie verstehen Sie was! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Irgendwann muss mal Schluss sein! – Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Gefühlt waren das schon 20 Minuten!)


Diese Frage geht natürlich vor allem an Sie, werte
Kolleginnen und Kollegen von SPD und Grünen. Ich er-
innere mich noch gut, wie sich Herr Steinbrück hier vor
einer guten Woche am Rednerpult aufgeblasen und die
Europapolitik der Kanzlerin in der Luft zerrissen hat.
Herr Steinmeier hat auch heute wieder den großen Kriti-
ker gegeben. Aber was folgt daraus?


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721201100

Frau Kollegin!


Dr. Sahra Wagenknecht (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721201200

Ich komme zum Schluss. – Nach SPD-Logik folgt of-

fenbar daraus, sich erneut als brave Abnickerin des
Merkel-Kurses zu betätigen. Auch diese Steuermilliar-
den werden wieder mit Zustimmung von SPD und Grü-
nen versenkt.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Feierabend!)


Ich denke, das ist jämmerlich für Oppositionsparteien,
vermeintliche, und es ist ein Trauerspiel für die Demo-
kratie.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Linke jedenfalls wird auch diesmal gegen das
verantwortungslose Verbrennen von Steuergeldern und
gegen den bankenhörigen Europakurs der Kanzlerin
stimmen, der Europa kaputtmacht, die Menschen gegen-
einander aufbringt und auf jeden Fall verantwortungslos

gegenüber dem europäischen Projekt und den europäi-
schen Ideen ist.


(Lebhafter Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der LINKEN: Bravo! – Volker Kauder [CDU/CSU]: Unglaublich!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721201300

Nächster Redner ist Volker Kauder für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Volker Kauder (CDU):
Rede ID: ID1721201400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Wir haben in der letzten Woche den Bundeshaushalt für
das Jahr 2013 verabschiedet. Frau Kollegin Wagenknecht,
offenbar ist Ihnen entgangen, was dort beschlossen
wurde; denn so, wie Sie heute über unser Land geredet
haben, kann man nur reden, wenn man wirklich keine
Ahnung hat von dem, was dieser Deutsche Bundestag in
seiner Mehrheit für dieses Land beschlossen hat und tut.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Ich erinnere einmal daran, weil Sie das Beispiel gebracht
haben, dass es für zusätzliche Kitaplätze 580 Millionen
Euro gibt. Allein der Zuschuss zur Rentenversicherung
beträgt 80 Milliarden Euro. Mehr als 50 Prozent des
Bundeshaushalts entfallen auf soziale Leistungen. Da
brauchen wir uns von Ihnen solche Reden nicht gefallen
zu lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Aber jetzt zum heutigen Tag. Die Finanzminister in
Europa haben in einer schwierigen Verhandlungsrunde
nach Wegen gesucht, wie man eine Antwort auf die He-
rausforderung Griechenland finden kann. Das waren,
wie gesagt, keine einfachen Verhandlungen. Ich muss
auch heute noch einmal sagen: Ich bewundere Wolfgang
Schäuble. Er hat eine ganze Nacht beraten, war aber am
nächsten Morgen da, um allen Fraktionen zu erläutern,
was auf europäischer Ebene geschehen ist.


(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es ist auch nicht so, dass Wolfgang Schäuble am Diens-
tag überfallartig zu uns gekommen ist und uns zum ers-
ten Mal mitgeteilt hat, was geschieht. Er hat regelmäßig
auch Ihre Fraktion in Telefonschaltkonferenzen über den
Stand der Diskussion informiert.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: So ist es!)


Niemand kann sagen, er sei nicht informiert gewesen.


(Beifall des Abg. Gunther Krichbaum [CDU/ CSU])


Am Dienstag gab es die letzte Information.

Nur um die Dinge einmal auf den Punkt zu bringen,
Herr Kollege Steinmeier: Wir haben von Anfang an an-
geboten, in dieser Woche zu entscheiden; ich komme





Volker Kauder


(A) (C)



(D)(B)


gleich darauf zu sprechen, warum. Wir haben Sie ge-
fragt, ob Sie bereit sind, am Donnerstag oder Freitag
eine Entscheidung zu treffen. Da haben Sie uns gesagt:
in dieser Woche gar nicht mehr. – Daraufhin haben wir
gesagt: Auch wenn Sie nicht mehr in dieser Woche, son-
dern erst in der nächsten oder gar übernächsten Woche
entscheiden wollen, sind wir bereit, es am Donnerstag zu
tun. – Dann haben uns die Grünen gefragt, ob wir bereit
sind, am Freitag zu entscheiden. Da habe ich gesagt:
Okay, wenn ihr am Freitag mitmachen wollt, machen wir
es am Freitag. – Es ist also ein Märchen, wenn behauptet
wird, wir hätten gesagt: Es muss unbedingt am Donners-
tag entschieden werden.


(Beifall des Abg. Gunther Krichbaum [CDU/ CSU])


Wir haben nur gesagt: Wenn Sie nicht wollen, dann ent-
scheiden wir am Donnerstag. – So einfach war die Sa-
che; nur um bei der Wahrheit zu bleiben. Die Grünen ha-
ben gesagt, dass sie unabhängig von Ihnen am Freitag
mitmachen würden. Darüber sollten Sie sich einmal Ge-
danken machen, damit das klar ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Ja, ja! Sie sollten sich über ganz andere Dinge Gedanken machen!)


Jetzt zum Thema. Wir haben in Griechenland durch-
aus Erfolge zu verzeichnen. Allerdings sind wir noch
nicht so weit, wie wir sein müssten. Ich kann nur sagen:
Diejenigen, die davon reden, wir hätten Griechenland,
wie Sie es formulieren, gleich am Anfang die Luft he-
rauslassen und hätten Schuldenschnitte machen sollen,
verkennen, dass nur auf dem Weg, den wir gegangen
sind, die notwendigen Reformen eingeleitet werden
konnten. Ich will Sie etwas fragen: Glauben Sie, dass die
Regierung Samaras, die viel erreicht hat, dies erreicht
hätte, wenn die Opposition in Griechenland hätte sagen
können: „Ihr müsst euch gar nicht anstrengen; wir krie-
gen das Geld auch ohne eigene Anstrengungen“? Dann
wäre überhaupt nichts geschehen. Deswegen war unser
Weg richtig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass Griechenland
etwas mehr Zeit braucht. Aber wir sagen auch: Diese
Zeit muss genutzt werden, um voranzukommen. Wir
müssen Schritt für Schritt vorgehen und die Entwicklung
in Europa und in Griechenland begleiten. „Schritt für
Schritt“ heißt auch, zu akzeptieren, dass wir nicht über
Instrumente reden, die vielleicht im Jahr 2020 zum Ein-
satz kommen könnten, sondern dass wir über das reden,
was jetzt geschieht.

Manch eine Prognose, die jetzt mit Blick auf Grie-
chenland abgegeben wird, muss man hinterfragen. Wie
oft haben sich die Leute, die Prognosen zur wirtschaftli-
chen Entwicklung in diesem Land abgegeben haben,
schon geirrt? Ich kann darüber nur schmunzeln: Wir ha-
ben die Prognose bekommen, dass wir im dritten und
vierten Quartal 2012 mit einem Abschwung zu rechnen
haben. Jetzt sagen die Leute, die diese Prognose abgege-
ben haben, dass im dritten Quartal nicht mit einem Ab-

schwung zu rechnen ist. Das wissen wir aber alle selber;
denn das dritte Quartal ist bereits vorbei.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Insofern kann ich nur sagen: Mit Prognosen sollte man
vorsichtig sein. Wir sind auf der sicheren Seite, wenn
wir sagen: Wir sind solidarisch mit Griechenland. Schritt
für Schritt werden die weiteren Maßnahmen umgesetzt.
Es wird nur dann eine Tranche freigegeben, wenn die
Voraussetzung, dass etwas Bestimmtes getan wurde, er-
füllt ist. Das war in Griechenland jetzt der Fall.

Im Übrigen muss klar sein: All diejenigen, die über ir-
gendwelche Schuldenschnitte sprechen – völlig abwe-
gig –, müssen wissen, dass sich in dem Fall auch andere
Länder zu Wort melden würden. Was sollen denn Portu-
gal und Irland dazu sagen? Frau Wagenknecht, Sie reden
einen solchen Unsinn daher und wissen gar nicht, wel-
che Konsequenzen das hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der SPD)


Deswegen kann ich nur sagen: Der Weg, den wir ge-
hen, ist richtig.


(Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Mal sehen, wie die Halbwertszeit ist! – Peer Steinbrück [SPD]: Welche Zinsen wollen Sie nehmen?)


Wir müssen in Europa die Wettbewerbsfähigkeit aller
europäischen Länder voranbringen. Wir sehen doch, wie
der Wettbewerb weltweit läuft. Allein in Shanghai wer-
den jedes Jahr mehr Akademiker mit ihrem Studium fer-
tig als in ganz Europa. Wir sehen doch, was dieser Wett-
bewerb bedeutet. Wir werden diesen Wettbewerb nur
bestehen, wenn wir alle in Europa vorankommen. Dieser
Weg wird jetzt gegangen, und zwar nicht nur in Grie-
chenland. Alle müssen diesen Weg mitgehen, und jeder
muss schauen, dass er bei der Wettbewerbsfähigkeit vor-
ankommt. Das wird jetzt unterstützt.

Dass wir heute darüber beraten, zeigt auch, dass wir
uns im Deutschen Bundestag unserer Verantwortung be-
wusst sind. Wir alle hier im Deutschen Bundestag haben
damals, als es um die Parlamentsbeteiligung ging, ge-
sagt: Wir wissen, dass uns dies im einen oder anderen
Fall viel abfordern wird, weil wir nicht Beratungszeiten
von mehreren Wochen in Anspruch nehmen können. –
Das ist auch dieses Mal so. Wir haben aber auch gesagt,
dass wir als Deutscher Bundestag bereit sind, uns in die
Dinge hineinzuknien und die notwendigen schnellen
Entscheidungen herbeizuführen. Niemand in Europa soll
sagen können: Weil sich die Deutschen nicht ernsthaft
um die Dinge bemühen, kommen wir nicht voran. – Das
ist auch ein wichtiges Signal an die Märkte. Deshalb ist
es richtig, dass wir heute die Entscheidung treffen und
dem Antrag des Bundesfinanzministeriums zustimmen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir werden uns mit dem Thema Europa noch mehr-
fach befassen müssen. Ich kann nur sagen: Es lohnt sich
auch. Dieses Europa ist mehr als nur ein Europa von
Euro und Cent.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Nicht dieses!)






Volker Kauder


(A) (C)



(D)(B)


Dieses Europa ist eine Werte- und Schicksalsgemein-
schaft. Eine Werte- und Schicksalsgemeinschaft hält vor
allem dann zusammen, wenn es besonders schwierig ist,
und rennt nicht auseinander. Heute ist ein Tag dafür, dies
zu beweisen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721201500

Das Wort erhält nun der Kollege Jürgen Trittin, Bünd-

nis 90/Die Grünen.


Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721201600

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Kollegin Wagenknecht, wenn Sie Seit‘ an Seit‘ mit
Hans-Werner Sinn leichtfertig den Konkurs Griechen-
lands in Kauf nehmen wollen,


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Ach!)

dann ist das nicht links, sondern dann ist das Unsinn,
und es ist unsozial.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Deswegen müssten Sie heute eigentlich mit uns gemein-
sam zustimmen, wenn wir diese Koalition zwingen, ihre
falsche Politik in Europa zu korrigieren. Darum geht es.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Volker Kauder [CDU/ CSU]: Na, na, na! – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Wo?)


Über Jahre hinweg haben Sie, Frau Bundeskanzlerin,
haben Sie, Herr Kauder, uns erzählt: Die Griechen kom-
men aus dem Mustopf, wenn sie nur ordentlich und rich-
tig sparen. – Ich erinnere mich noch an Äußerungen wie:
Die müssen sparen, bis es quietscht. – Das stammt aus
Ihren Reihen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Was? Wo? – Zuruf von der LINKEN: Das haben Sie jetzt rausverhandelt?)


Was stellen wir heute fest, nachdem die Griechen
über drei Jahre hinweg jedes Jahr 4,5 Prozent – jedes
Jahr! – ihres Primärdefizits abgebaut haben? Die Grie-
chen haben mehr Schulden. Was heißt das? Eine aus-
schließlich auf Sparen setzende Konsolidierungspolitik
verschärft die Rezession.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Wer hat das immer gesagt?)


Eine Rezession verschärft das Einnahmeproblem des
griechischen Staates.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Ach!)

Die Folgen dieses Einnahmeproblems sind nicht etwa sin-
kende, sondern wachsende Schulden. Das ist offenbar.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Deswegen ist es richtig,

(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Zuzustim men!)


den Griechen in dieser Situation mehr Zeit zu geben.
Mehr Zeit kostet Geld, 44 Milliarden Euro zusätzlich.
Heute sind Sie gezwungen, Ihre falsche Politik zu korri-
gieren. Wenn Sie den Mut hätten, sie in aufrechter Hal-
tung zu korrigieren, dann hätten Sie uns heute keine
Vertagungsfinanzierung vorgelegt. Sie haben von Flexi-
bilisierung gesprochen, man kann auch von kreativer
Buchführung sprechen, lieber Herr Brüderle. Hätten Sie
für diese 44 Milliarden Euro einfach ein drittes Paket
von Bürgschaften gemacht, wäre das solide gewesen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Eine aufrechte Korrektur wäre auch gewesen, wenn
Sie gesagt hätten: Okay, wir schauen jetzt mal, wie sich
das vollzieht; wir wissen noch nicht alles genau; aber wir
wissen heute schon – auch zu diesem Eingeständnis
musste man Herrn Schäuble zwingen –, dass uns diese
Maßnahmen im Jahre 2013 im Haushalt 730 Millionen
Euro kosten werden.


(Otto Fricke [FDP]: Wir wissen nicht, wie viel die Bundesbank überweisen wird, Herr Trittin! – Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Das steht doch noch gar nicht fest!)


Sie können sich nicht damit herausreden, zu sagen: Wir
geben nicht mehr aus, sondern das sind nur gesunkene
Einnahmen. – Das ist die Realität für 2013 nach Aus-
kunft des Bundesfinanzministeriums.

Lieber Herr Vorsitzender des Haushaltsausschusses – –


(Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Nee, nee, nee! – Otto Fricke [FDP]: Bin ich nicht mehr! – Iris Gleicke [SPD]: Das ist die Kollegin Merkel; darauf bestehen wir!)


– Sind Sie nicht mehr, stimmt, ist die Kollegin Merkel.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Auch ein Herr Trittin kann nicht alles wissen!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721201700

Die zahlen das ja auch beide nicht privat.


Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721201800

Was hindert Sie eigentlich daran, diesen Fehlbetrag in

einem ordentlichen Nachtragshaushalt zu etatisieren?
Sie haben Angst, dass Sie in den eigenen Reihen bei die-
ser notwendigen Korrektur Ihrer Politik nicht die Mehr-
heiten haben, die Sie brauchen, um handlungsfähig zu
sein. Das ist der Kern des Problems, das Sie haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Nun kann man angesichts der Situation, in der sich
Griechenland befindet, sagen: Das kostet nun einmal
Geld. – Das versuchen Sie in die Reihen der Opposition
zu transportieren; die Opposition fordere das. Nein, ich
will das deutlich sagen: Dass das Geld kostet, ist keine
gute Nachricht, ist kein Grund zum Jubeln. Es ist das
Produkt einer zögerlichen Europapolitik, bei der die eu-
ropapolitische Haltung, die hier am Schluss in Reden,
zum Beispiel von Herrn Kauder, immer wieder hochge-





Jürgen Trittin


(A) (C)



(D)(B)


halten wird, tatsächlich nach Wahlterminen ausgerichtet
wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das erste Griechenland-Paket haben Sie wegen der
Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen versäumt, und
jetzt machen Sie hier wieder einen Schleiertanz, damit
die Bürgerinnen und Bürger die Wahrheit nicht hören
sollen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist die Aussage von Herrn Steinbrück: Schleiertanz! – Gegenruf des Abg. Peer Steinbrück [SPD]: Denken Sie sich mal etwas Neues aus!)


Die Menschen kennen diese Wahrheit aber heute schon.
Deswegen glaube ich, dass Sie endlich dazu stehen soll-
ten, dass nur mit Austerität der Euro nicht zu retten ist.
Es muss Konsolidierung geben, es muss Strukturrefor-
men geben.


(Otto Fricke [FDP]: Ja!)


Den Euro und das gemeinsame Europa wird es aber nur
geben, wenn neben den Strukturreformen gleichzeitig in
Wachstum, in Innovation und in Entwicklung investiert
wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Deswegen passt es nicht zu einer ernsthaften Anstren-
gung dahin gehend, dieses Europa auf einen anderen
Kurs zu bringen, wenn Sie im Zusammenhang mit dem
mehrjährigen Finanzrahmen zusammen mit David
Cameron dafür sorgen, dass ausgerechnet in den Berei-
chen Strukturveränderungen, Investitionen in Infrastruk-
tur, Investitionen in Forschung gekürzt wird. Das ist das
Fortsetzen der falschen Politik, die Sie über Jahre betrie-
ben haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wenn richtig ist, dass Griechenland das bloße Sparen
und der Verzicht darauf, seine Investitionsfähigkeit zu
stärken, in die Krise und zu mehr Schulden geführt hat,
dann müssen Sie sich auch der Tatsache stellen, dass
Griechenland schon lange kein Ausgabeproblem, son-
dern ein Einnahmeproblem hat. Deswegen ist es übri-
gens richtig, zu sagen: Wir machen das schrittweise. Ich
erwarte von der griechischen Regierung, dass sie die
neuen Steuergesetze tatsächlich auf den Weg bringt. Ich
finde auch, dass wir in Europa einen Anspruch darauf
haben, dass diese neuen Steuergesetze in Griechenland
tatsächlich vollzogen werden. Das ist so.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU] – Zuruf von der LINKEN: Verbrauchsteuern!)


– Nein, ich rede an dieser Stelle von Unternehmensteu-
ern, lieber Kollege.

Aber wenn man diese klare Haltung an den Tag legt,
dann muss man auch zu den eigenen Zusagen stehen.
Deswegen ist es nicht zu früh, sondern in meinen Augen

eine peinliche Verzögerung, dass wir erst heute über
diese Sache entscheiden; denn seit Anfang November
liegt der Bericht der Troika vor. Er besagt: Griechenland
hat das umgesetzt, was wir vereinbart haben. – Wenn
Griechenland das Vereinbarte umgesetzt hat, dann müs-
sen wir an dieser Stelle auch liefern. Das ist der Tag, um
den es heute geht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Hören Sie auf, so zu tun, als gäbe es schon wieder
eine neue rote Linie! Sie, Herr Brüderle, haben erklärt
– das Wort „derzeit“ hat mir gut gefallen –, derzeit solle
man nicht über einen Schuldenschnitt reden.


(Otto Fricke [FDP]: Zustimmung!)


Ja, derzeit muss man nicht über einen Schuldenschnitt
reden; denn da gibt es rechtliche Hürden. Aber es wird
einmal so sein, und Sie haben es selber angekündigt. Sie
selber haben mit dem Hinweis auf den Pariser Club an-
gekündigt, dass am Ende des Tages die Wiederherstel-
lung der Schuldentragfähigkeit Griechenlands nur
darüber gehen wird, dass die Schuldenbelastung Grie-
chenlands durch einen Schuldenschnitt gemindert wird.
Ich finde, Sie hätten den Mut haben sollen, das in dieser
Form und nicht so verklausuliert über den Pariser Club
und Ähnlichem auszusprechen. Sie hätten den Mut ha-
ben müssen, zu sagen: Ja, es ist so. Es kostet uns am
Ende in einem schrittweisen Prozess Geld. – Das wäre
eine glaubwürdige Korrektur der Haltung gewesen, die
Sie hier an den Tag gelegt haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Letzte Bemerkung: Wegen der Prognosen und nicht
um Recht zu behalten, sondern um Ihnen einen Rat zu
geben: Sie sollten gelegentlich doch auf die Grünen hö-
ren. Die Grünen haben sich im Juni auf einem viel be-
achteten kleinen Parteitag mit der Frage Europa und
Hilfe für Griechenland auseinandergesetzt. Lesen Sie
diesen Beschluss einmal nach! Darin wird wörtlich aus-
geführt: Griechenland muss mehr Zeit haben. Das Pro-
gramm muss gestreckt werden. – Ich freue mich darüber,
dass CDU, CSU und FDP mit einem halben Jahr Verspä-
tung der Umsetzung eines grünen Parteitagsbeschlusses
nachkommen. Das ist ein guter Tag.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721201900

Das Wort erhält nun die Kollegin Gerda Hasselfeldt

für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1721202000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Heute waren vonseiten der Opposition wieder einmal die
Besserwisser hier.


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Ja, wenn es so ist!)






Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)


Es wäre nur gut, wenn das auch immer mit der ganzen
Wahrheit verbunden wäre. Zur ganzen Wahrheit gehört,
dass wir heute und auch in den vergangenen Monaten
nicht über Griechenland und dessen Probleme diskutiert
und nicht so schwierige Entscheidungen vor uns hätten,
wenn es Ihre Fehlentscheidungen zu Zeiten der rot-grü-
nen Regierung nicht gegeben hätte. Auch das gehört zur
ganzen Wahrheit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wenn wir schon bei der Wahrheit sind: Hierzu gehört
auch, dass man den Leuten in einer Rede keine Unwahr-
heiten erzählt, wie das der Kollege Trittin gerade getan
hat. Herr Kollege Trittin, es geht nicht um ein neues Pro-
gramm im Umfang von 44 Milliarden Euro, wie Sie
heute gesagt haben. Diese 44 Milliarden Euro sind Teil
des Programms, das wir schon beschlossen haben. Die-
ser Betrag wird jetzt nach Vorlage des Troika-Berichts
im Rahmen des bereits beschlossenen Programms ausge-
zahlt und ist Teil der Tranchen, die erst ausgezahlt wer-
den sollten, nachdem der Troika-Bericht und die Bewer-
tung dieses Berichts vorliegen. Es geht also nicht um ein
neues Programm, sondern um die Realisierung dessen,
was schon vor einem halben Jahr hier im Hause und auf
europäischer Ebene beschlossen wurde.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Peer Steinbrück [SPD]: Die Haltbarkeitsdauer nimmt ab am Ende! Das wissen Sie doch! Das ist doch eine klare Täuschung!)


Heute geht es um die Anpassung des Programms,
weil die Ziele, nämlich Primärüberschuss ab dem Jahr
2014 und Schuldentragfähigkeit ab dem Jahr 2020, zeit-
lich nicht so erreicht werden, wie das zunächst einmal
vorgesehen war. Und es geht hier auch darum, Entschei-
dungen auf der Grundlage des Troika-Berichts und der
Fortschritte in Griechenland zu treffen. Hier ist schon
feststellbar – das muss man bei einer solchen Debatte
auch deutlich sagen –: Die Griechen haben enorme An-
strengungen an den Tag gelegt. Sie haben deutliche
Maßnahmen in den Bereichen Steuern, Soziales, Ar-
beitsmarkt und Verwaltung getroffen. Dies geschah zu-
gegebenermaßen zunächst einmal etwas verzögert, dann
aber doch in einer sehr kurzen Zeit mit enormen Belas-
tungen für die Menschen.

Das Ergebnis ist ja auch schon zum Teil – nicht über-
all – spürbar: Das Haushaltsdefizit ist deutlich zurückge-
gangen – der Finanzminister hat darauf hingewiesen –,
das Leistungsbilanzdefizit ist zurückgegangen, und die
Lohnstückkosten sind gesunken. Das heißt, die Wettbe-
werbsfähigkeit hat sich spürbar ein Stück weit verbes-
sert. Dass dies nicht von heute auf morgen geht, das wis-
sen wir alle. In diesem Land ist eben nicht nur ein
kleiner Umstrukturierungsprozess, sondern ein Transfor-
mationsprozess notwendig.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: So ist es!)


Dieser braucht seine Zeit und ist nicht innerhalb von
wenigen Monaten erreichbar. Vor allem ist er aber nicht
prozentgenau prognostizierbar.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Deshalb sind diese Anpassungsmaßnahmen des Pro-
gramms notwendig und richtig. Das gilt auch für den
Kurs: „Solidarität ja, Hilfe ja, Unterstützung ja“, um Zeit
zu gewinnen, aber nur unter der Bedingung, dass Refor-
men durchgeführt und die Haushalte konsolidiert werden.
Dieser Kurs wird jetzt fortgesetzt. Wir würden einen gro-
ßen Fehler machen, wenn wir jetzt, da Griechenland auf
dem Weg der Besserung ist, hier stehen bleiben und sagen
würden: Jetzt geht nichts mehr.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wir alle diskutieren auch kontrovers in den eigenen
Reihen und in den Veranstaltungen mit den Menschen.
Das jetzt Erreichte bestärkt mich darin, dass der Kurs
richtig ist und dass das, was uns die Sozialdemokraten
und Grünen in den vergangenen Monaten und Jahren
vorgeschlagen haben, nämlich eine Vergemeinschaftung
von Schulden, Euro-Bonds usw., der falsche Weg gewe-
sen wäre,


(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Das machen Sie doch gerade!)


weil dadurch der Druck, Reformen durchzuführen, von
den Griechen genommen worden wäre.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Peer Steinbrück [SPD]: Auf diesem Weg sind Sie doch längst!)


Es geht nun darum, dass die Anpassungsmaßnahmen,
die vorgenommen werden – Zinssenkung, Verlängerung
der Laufzeit von Krediten, Verwendung der Gewinne
aus den Sekundärmarktaufkäufen der Europäischen Zen-
tralbank –, schon auch Geld kosten. Das ist auch kein
Geheimnis, und daraus haben wir nie ein Geheimnis ge-
macht.


(Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Doch!)


Das sind Mindereinnahmen im Bundeshaushalt.


(Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Die müssen an anderer Stelle kompensiert werden!)


Ich wundere mich schon, dass manchmal gerade die-
jenigen, die dies jetzt beklagen, die Gleichen sind, die
uns früher vorgeworfen haben, an den Zinseinnahmen,
beispielsweise aus den Hilfen an Griechenland, auch
noch zu verdienen.


(Rainer Brüderle [FDP]: Eben!)


So ein Verhalten ist schon ein bisschen pharisäerhaft.
Das muss man einmal deutlich zum Ausdruck bringen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das alles entbindet uns nicht davon, den Druck auf
Griechenland und auch auf die anderen Krisenländer
aufrechtzuerhalten. Deshalb ist jede Diskussion über ei-
nen Schuldenerlass alles andere als hilfreich. Ein Schul-
denerlass ist rechtlich nicht möglich; das ist hier auch
schon mehrfach gesagt worden. Er ist bzw. wäre das fal-
sche Signal an Griechenland, aber auch das falsche Si-
gnal an jedes andere Krisenland in Europa; denn in dem





Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)


Moment, in dem ein Erlass von Schulden öffentlich in
Aussicht gestellt wird, entweicht doch jeder Druck.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagen Sie mal dem Brüderle! Er hat das doch gesagt!)


Dann ist kein Druck mehr da, die Haushalte zu konsoli-
dieren und Reformen voranzubringen, um die Wettbe-
werbsfähigkeit zu verbessern.

Deshalb bleibt gar nichts anderes übrig, als diesen
Kurs, den wir eingeschlagen haben,


(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Welchen Kurs?)


in dem Sinne fortzuführen: Wir zeigen Solidarität in
Europa. Wir sind solidarisch.


(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Das ist ein Brummkreisel, aber kein Kurs!)


Wir helfen den betroffenen Ländern, um Zeit zu gewin-
nen, aber nicht Zeit dafür, um den Schlendrian früherer
Jahre fortzusetzen, sondern dafür, die notwendigen Re-
formen auf den Weg zu bringen, ihre Haushalte zu kon-
solidieren, mit dem Ziel, dass jedes einzelne europäische
Land wettbewerbsfähig wird. Das wird zum Wohle nicht
nur dieses einzelnen europäischen Landes sein, sondern
ganz Europas.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721202100

Ich erteile das Wort dem Kollegen Michael Roth für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Michael Roth (SPD):
Rede ID: ID1721202200

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Es ist

stets ein besonderes Vergnügen, nach Ihnen, liebe Frau
Kollegin Hasselfeldt, sprechen zu dürfen. Aber es ist
kein Vergnügen, Ihnen immer wieder dabei zuschauen
zu müssen, wie Sie hier die Unschuld vom Lande mi-
men, wie Sie tricksen, tarnen und täuschen.


(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ CSU)


Herr Schäuble wirft nur Nebelkerzen. Er erklärt den
Bürgerinnen und Bürgern überhaupt nichts. Herr Kauder
und die anderen Kolleginnen und Kollegen von CDU/
CSU und FDP formulieren neue Dogmen darüber, was
garantiert nicht passiert.


(Otto Fricke [FDP]: Da kann man wieder einmal nur Rot sehen!)


Und wir wissen doch: Es passiert immer genau das, was
Sie vorher striktamente ablehnen, liebe Kolleginnen und
Kollegen.


(Beifall bei der SPD)


Das wäre alles nicht so schlimm, wenn es nicht maß-
geblich der Grund dafür wäre, dass viele Bürgerinnen

und Bürger in unserem Land unseren Entscheidungen
mit Skepsis und mit Ablehnung begegnen.


(Zuruf von der LINKEN: Recht haben sie!)


Damit müssen wir umgehen. Es ist immer wieder wich-
tig, den Bürgerinnen und Bürgern Folgendes zu erklären:
Wir stimmen heute Morgen hier im Bundestag nicht über
Lohn- und Rentenkürzungen ab, die Hunderttausende
von Griechen in die Armut getrieben haben. Wir stim-
men heute Morgen im Bundestag auch nicht darüber ab,
dass Arbeitnehmerrechte und Gesundheitsleistungen in
Griechenland massiv beschnitten worden sind. Wir stim-
men heute Morgen auch nicht darüber ab, dass eine Poli-
tik der Rezession vor allem junge Menschen in die Mas-
senarbeitslosigkeit getrieben hat. Darüber entscheiden
wir heute Morgen nicht.

Aber wir stimmen heute darüber ab, ob die immer
wieder gestellte Forderung der Sozialdemokratie und der
Grünen eine Chance erhält, nämlich dass Griechenland
Luft zum Atmen bekommt, dass Griechenland mehr Zeit
erhält: Zeit für die notwendigen Strukturreformen, Zeit,
um das Land zu reformieren. Dass das, worauf sich die
EU-Finanzminister geeinigt haben, unseren Erwartun-
gen nicht vollumfänglich entspricht, ist klar. Da gibt es
vieles zu kritisieren. Da ist auch manches überhaupt
nicht schlüssig. Es paart sich, wie gesagt, immer mit Ih-
rem kläglichen Versuch, die Dinge schöner zu machen,
als sie tatsächlich sind, oder Dinge strikt abzulehnen, die
dann doch irgendwann einmal kommen werden. Aber
diese Entscheidung heute ist die Voraussetzung dafür,
dass die Demokratie und auch der Staat Griechenland
nicht weiter gefährdet wird. Diejenigen von uns, die ein-
mal in Griechenland waren, wissen, wie dramatisch die
Verhältnisse dort und wie hoffnungslos viele Menschen
sind. Davor dürfen wir auch hier im Deutschen Bundes-
tag nicht die Augen verschließen.


(Beifall bei der SPD)


Ich fände es gut, wenn wir immer wieder daran erin-
nern, dass die Krise viele Gesichter und viele Schicksale
hat. Da ist nicht allein der milliardenschwere Reeder, der
sein Geld in die Schweiz transferiert oder hier in Berlin
am Immobilienmarkt investiert. Es sind gerade die jun-
gen Menschen, die von schmerzhaften Einschnitten am
allerhärtesten betroffen sind. Ich höre immer wieder,
Griechenland sei ein Fass ohne Boden. Dieser Satz
strotzt nur so vor Verachtung vor den Einzelschicksalen.
Insofern wäre es wichtig, dass wir ein deutliches Zei-
chen der Hoffnung setzen, dass die Menschen spüren,
am Ende eines langen Tunnels gibt es auch wieder Licht.

Wir in Deutschland haben vor vielen Jahrzehnten ein-
mal einen großen Vertrauensvorschuss geschenkt be-
kommen. Es wäre gut, wenn wir diesen Vertrauensvor-
schuss auch den Griechinnen und Griechen gewähren.

Für die Sozialdemokratie in Deutschland und in Eu-
ropa ist Europa – das haben wir immer wieder deutlich
gemacht – keine Frage der Taktik, es ist eine Frage der
Haltung. Deswegen werden wir trotz Ihrer Politik heute
die Zustimmung zur Griechenland-Hilfe erteilen.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721202300

Otto Fricke ist der nächste Redner für die FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Otto Fricke (FDP):
Rede ID: ID1721202400

Geschätzter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Ich möchte meine Rede mit einer grundlegenden
Frage beginnen. Die Frage ist, warum es – übrigens uns
allen, allen Fraktionen und auch der Mehrheit der Bürger
in unserem Land – so schwerfällt, mit dem Thema der
Staatsverschuldung in Europa und mit der Frage umzu-
gehen, was wir da machen müssen und was der eigentli-
che Grund dafür ist. Seien wir doch ehrlich, es trifft doch
alle. Es begegnet uns in allen unseren Gesprächen. Alle
sagen: „Ja, Europa, das weiß ich, ist unsere Zukunft, das
brauchen wir, das müssen wir machen.“ Aber alle sagen
auch: „Warum muss ich es jetzt sein, warum muss das so
oder so laufen?“

Der Ursprungsfehler liegt nach meiner Meinung in
der Tatsache, dass wir immer gesagt haben, dass Europa
uns – bildlich gesprochen – den Himmel bringen wird.
Wenn wir Europa hätten, wäre alles schön.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Wer hat denn das gesagt, Herr Fricke?)


Was wir vergessen haben, ist, dass Europa eine ganz
andere Aufgabe hat, nämlich die Aufgabe, dass wir es
über Europa schaffen, uns Europäer vor all den schlim-
men Dingen zu schützen, die uns ökonomisch, in unserer
soziokulturellen Existenz, in unserem wahren Leben ge-
genübergetreten sind, und davor zu schützen, dass es
Einschnitte gibt. Zu dieser Tatsache gehört das Doppel-
spiel, dass Europa uns wahnsinnig viel Freiheit gegeben
hat: nicht nur die berühmte Reisefreiheit, nicht nur die
Möglichkeiten der Bildung und des freien Warenver-
kehrs, sondern auch die Freiheit, uns unsere Selbstver-
wirklichung so zu gestalten, wie wir es uns als Europäer
vorstellen. Es hat uns aber auch Verantwortung gebracht,
dieses immer wieder zu schützen, die Werte Europas zu
schützen, die europäische Familie in ihrer Existenz zu
schützen.

Wie man das nun macht, darüber streiten wir. Was da-
bei der richtige Weg ist, darüber diskutieren wir. Ich will
ganz klar und deutlich sagen: Dabei machen alle Seiten
hier Lernprozesse durch. Diese Lernprozesse werden wir
immer wieder machen. Das muss man den Bürgern klar
sagen, und dessen muss man sich auch bewusst sein: Die
europäische Schuldenkrise und Europa selbst sind nicht
etwas, wo ich einen Hebel umlegen kann und alles ist
gut. Es ist zum Glück auch nicht mehr etwas, wo ich ei-
nen Hebel umlege und alles ist schlecht. Europa wird für
uns ständige Diskussionen, ständige Arbeit und ständi-
ges Abwägen bedeuten. Dabei tun wir uns alle nicht
leicht, und wir werden heute einen weiteren Schritt ma-
chen, der vielen nicht leichtfällt, den aber viele nach Ab-
wägung und Vorlegung der Daten und Fakten so be-
schließen – nicht mit großer Freude, sondern mit großer
Verantwortung.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Den ihr letzte Woche noch geleugnet habt!)


Meine Damen und Herren, wir müssen auch die Feh-
ler sehen, die wir in der Diskussion machen. Bleiben wir
bei dem Bild der europäischen Familie. Wenn ein Fami-
lienmitglied zu demjenigen, der finanziell etwas besser
dasteht, kommt und sagt: „Ich habe Schulden und will
davon wegkommen“, dann sagt man doch – so kennen
wir das auch im Privatleben, wenn wir jemandem aus
der Familie helfen –: Ich bin bereit, dir zu helfen. – Wir
sagen aber auf gar keinen Fall: Es ist schlimm, dass du
Schulden hast. Wir werden sie dir erlassen; dann ist alles
wunderbar. – Nein, wir erwarten Veränderungen, und
diese Veränderungen sind Teil aller Schritte, die wir ma-
chen. Deswegen sage ich ganz bewusst: Nichts zu geben
ist genauso falsch wie alles zu geben. Zu diesem Schluss
komme ich, wenn ich von einem europäischen Familien-
mitglied erwarte, dass es sich ändert und wieder auf den
Pfad der Tugend zurückkehrt. Es reicht nicht, seitens der
Opposition als einzigen Vorwurf vorzubringen: Sie sa-
gen ja gar nicht, was passiert. Sie verheimlichen, dass es
einen Schaden geben wird. Sie müssen uns sagen, wie
der Schaden aussehen wird.

In Richtung Rot und Grün sage ich deutlich: Der
Schaden ist in dem Moment aufgetreten, als Griechen-
land in die Euro-Zone aufgenommen worden ist, ohne
die Bedingungen wirklich zu erfüllen. Mit dieser Ent-
scheidung ist der Schaden in den Bilanzen Europas exis-
tent.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Es nützt jetzt aber nichts, von Schuld und Sühne zu spre-
chen, und es nützt auch nichts, darauf hinzuweisen, dass
es sich noch dadurch verschärft hat, dass selbst Deutsch-
land unter Rot-Grün die Maastricht-Kriterien nicht er-
füllt hat. Vielmehr ist jetzt die Aufgabe, diesen Schaden
zu minimieren: für unsere Rentner, für unsere Lebens-
versicherten und für unseren Mittelstand. Das ist die
Aufgabe, die wir im Moment haben.


(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da hätten Sie früher anfangen müssen!)


Das werden wir auch schaffen, in Freiheit für Europa
und in Verantwortung des starken Deutschlands für das
gegenwärtig schwache Griechenland, aber auch in Er-
wartung einer Eigenverantwortung Griechenlands. Des-
wegen wird die weit überwiegende Mehrheit meiner
Fraktion dieser Vorlage zustimmen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721202500

Das Wort hat jetzt der Kollege Norbert Barthle für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)



Norbert Barthle (CDU):
Rede ID: ID1721202600

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Wir stimmen heute über die Anpassung des
Griechenland-II-Programms unter dem EFSF ab. Ich
halte noch einmal fest: Das Programmvolumen bleibt
bestehen. Die wesentlichen Eckdaten bleiben bestehen.
Das Garantievolumen für Deutschland erhöht sich da-
durch nicht. Es geht um die Auszahlung von drei für
2012 vorgesehenen und zusammengefassten Tranchen
mit einem Volumen von 43,7 Milliarden Euro, die Be-
standteil des Programms sind. Das Programm umfasst
164 Milliarden Euro. Gut die Hälfte davon, 78 Milliar-
den Euro, ist schon ausgezahlt worden. Jetzt kommen
drei weitere Tranchen, die dann freigegeben werden,
wenn es uns in vier Wochen erneut vorgelegt wird. – So
viel noch einmal für die Herren Trittin und Steinbrück
zum Mitschreiben.

Zweitens. Wir haben innerhalb dieses Programms
Veränderungen vorgenommen. Die Prognosen der
Troika reichen bis 2022. Dass man daran Zweifel haben
kann, ist unbestritten. Auch die Troika verfügt nicht über
hellseherische Fähigkeiten, um exakt vorauszusagen,
was bis 2022 passiert. Viele von uns haben Zweifel da-
ran, gar keine Frage. Das ist auch in Ordnung. Man kann
kritisch nachfragen. Nicht ganz in Ordnung ist es aber
aus meiner Sicht, wenn man all die Unterlagen, die wir
bekommen, die dicken Berichte der Troika, die man le-
sen kann und in denen man viele Daten, Fakten und Zah-
len findet, ignoriert und dann hier sagt: Das ist ohnehin
alles umsonst. Da ist Hopfen und Malz verloren. Das ist
ein Fass ohne Boden. Das hilft alles nicht.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Wer sagt denn das?)


Das geht nicht, meine Damen und Herren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Denn das ist eine Missachtung dessen, was bisher geleis-
tet worden ist, auch von Griechenland.

Lassen Sie mich noch einmal kurz die wesentlichen
Fakten erläutern. Griechenland hat sein Haushaltsdefizit
in den letzten zweieinhalb Jahren um zwei Drittel abge-
baut. Dafür wurden die Löhne im öffentlichen Sektor ge-
kürzt. Es wurde bei Sozialausgaben und Renten einge-
spart. Es gab deutliche Steuererhöhungen. In der Rente,
im Gesundheitssystem und auf dem Arbeitsmarkt wurden
Strukturreformen vorgenommen, die die Verkrustungen
zumindest langsam aufzulösen beginnen. Die Personal-
ausgaben wurden um 23 Prozent und die Sozialausgaben
um 26 Prozent reduziert. Die Rente wurde um 7 Prozent
reduziert. Meine Damen und Herren, ab dem 1. Januar
2013 – das ist nicht mehr weit weg – gilt in Griechen-
land ein Renteneintrittsalter von 67 Jahren. Stellen Sie
sich einmal vor, was in Deutschland passieren würde,
wenn wir das Renteneintrittsalter innerhalb eines Jahres
in diesem Maße erhöhen würden. Man muss zur Kennt-
nis nehmen, dass einiges geschieht. Das gebietet der
Respekt vor dem griechischen Volk.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Wettbewerbsfähigkeit wurde verbessert. Die Lohn-
stückkosten gingen um 10 Prozent zurück. Das Leis-
tungsbilanzdefizit Griechenlands wurde deutlich abge-
senkt. Also, wir tun gut daran, das anzuerkennen.
Würden wir dieselben Sparanstrengungen, die Griechen-
land bereits bis 2016 beschlossen hat – eine Reduzierung
der Ausgaben um 20 Prozent –, auf Deutschland übertra-
gen, dann müssten wir unsere Ausgaben um 60 Milliar-
den Euro reduzieren. Man kann sich vorstellen, was das
bedeuten würde. Deshalb Respekt und Anerkennung vor
dem, was dort geleistet wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dass es für den Bundeshaushalt Belastungen gibt, ist
unbestritten.


(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach!)


Erstmals machen sich die Auswirkungen der Kredite für
Griechenland im Bundeshaushalt bemerkbar.


(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Letztes Mal hast du uns noch gemaßregelt!)


Nur, meine Damen und Herren, wir reduzieren die Ge-
winne, die die KfW mit den Krediten für Griechenland
erzielt. Ich muss nicht unbedingt die moralische Keule
schwingen, um sagen zu dürfen: Ich halte es für ange-
messen, wenn man in dieser Situation die Gewinne, die
wir erzielen, um 130 Millionen Euro reduziert. Dann ste-
hen noch die 599 Millionen Euro zur Debatte, die aus
dem SMP resultieren sollen. Darüber, meine Damen und
Herren, können wir nicht befinden. Darüber entscheidet
ganz allein die unabhängige Europäische Zentralbank
bzw. die unabhängige Deutsche Bundesbank.


(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber wir zahlen es auf jeden Fall!)


Wie hoch der an uns abgeführte Bundesbankgewinn im
März des kommenden Jahres letztlich sein wird, wissen
wir noch nicht. Es könnte durchaus sein, dass sich dieser
Betrag wieder amortisiert. Da müssen wir abwarten.

Ich stelle fest: Das, was wir bisher auf europäischer
Ebene gemacht haben – das war die Politik und die klare
Linie von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundes-
finanzminister Wolfgang Schäuble –, nämlich den
Fiskalvertrag durchzusetzen, die Schuldenbremse durch-
zusetzen, Finanzmarktreformen durchzusetzen, eine in-
stitutionelle Vertiefung der EU durchzusetzen, ist der
richtige Weg in die Zukunft unserer Europäischen
Union.

Was hören wir von der Opposition? Herr Trittin redet
wieder von einer Art Schuldentilgung. Er will die Schul-
den einfach beschneiden. Von der SPD hören wir, es
gebe Uneinigkeit innerhalb der Regierung. Der eine re-
det von Schleiertanz, der andere von Eiertanz. Vielleicht
können Sie sich einigen, um welchen Tanz es sich tat-
sächlich handelt. Ich habe eher den Eindruck, dass in den
Reihen der SPD ein großer Eiertanz vollführt wird: Ein-
mal enthalten Sie sich, dann stimmen Sie wieder zu,





Norbert Barthle


(A) (C)



(D)(B)


dann wissen Sie nicht, ob Sie zustimmen sollen. Jetzt
stimmen Sie zu. Gott sei Dank haben Sie sich berappelt.
Auch dafür meine Anerkennung. Wenn ich die Reden
der Opposition höre, kann ich aber keinen Hinweis er-
kennen, dass es sowohl für Griechenland als auch für
Europa als auch für Deutschland besser wäre, wenn Sie
regieren würden. Hier habe ich keine Hinweise erkannt.

Wir machen den Weg frei für die weitere Konsolidie-
rung, für die Zukunft Griechenlands, für eine gute Zu-
kunft Europas. Zeigen Sie Herz und Verstand! Stimmen
Sie diesem Antrag zu! Dann tun Sie etwas Gutes für
Europa, für Griechenland und für Deutschland!

Danke.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721202700

Das Wort hat jetzt der Kollege Frank Schäffler von

der FDP-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)



Frank Schäffler (FDP):
Rede ID: ID1721202800

Herr Präsident! Bei der Frage, die wir heute diskutie-

ren, geht es auch um die Situation Griechenlands; das ist
ganz klar. Es ist sehr einschneidend, was in Griechen-
land passiert. Es geht aber aus meiner Sicht um viel
mehr. Es geht um die Frage: Welches Europa wollen
wir?


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wollen Ihr eigenes!)


Der heutige Finanzminister hat 1996 ein Buch geschrie-
ben mit dem Titel „Und der Zukunft zugewandt“. Zur
Rolle Deutschlands in Europa hat er formuliert: „Wir
müssen uns davor hüten, als Besserwisser und Moraler-
zieher aufzutreten.“ Ich glaube, genau um dieses Span-
nungsfeld geht es. Es stellt sich jetzt die Frage in
Europa: Welches Europa wollen wir? Wollen wir ein
Europa der 17? Wollen wir ein Europa der 27? Oder
wollen wir ein Europa der 50? Das ist die Frage, um die
es jetzt geht.

Das Europa der 17 führt am Ende, wie die aktuelle
Entwicklung zeigt, dazu, dass es sich abschottet, dass es
einen eigenen Weg geht, dass es die anderen am Katzen-
tisch sitzen lässt. Das ist ein anderes Europa als das
Europa, das die Gründungsväter nach dem Krieg aufge-
baut haben.

Wir erleben in Europa, dass einige Länder schon nicht
mehr dabei sind oder an den Katzentisch gedrängt wer-
den. Schauen Sie sich England an. England zieht sich
sukzessive aus dem Integrationsprozess in Europa zu-
rück. Die Schweiz liegt mitten in Europa und ist ein Bei-
spiel für ein föderales Europa. Tschechien und Polen ge-
hören ebenfalls zu Europa. Sie sind Teil unserer langen
Geschichte. Es sind viele Länder in Europa, die nicht am
Euro partizipieren und beim Euro nicht mitmachen. Dies
alles belegt, um welche Kernfrage es geht, nämlich um
die Frage: Welches Europa wollen wir?

An dieser Stelle möchte ich noch einmal den Finanz-
minister zitieren. Der Finanzminister hat in seinem Buch
Lord Ralf Dahrendorf zitiert:

Kein zentralistisches, sondern ein föderal aufgebau-
tes Europa, organisiert nach dem Prinzip der Viel-
falt, wird das Europa der Zukunft sein.

Genau um diese Frage geht es. Ich glaube, Europa hat
nur dann eine Zukunft, wenn es föderal und vielfältig
aufgebaut wird und wenn es sich nicht auf wenige Staa-
ten konzentriert, die ein anderes Europa wollen als der
Rest.

Vielen Dank.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721202900

Jetzt hat das Wort Klaus-Peter Willsch von der CDU/

CSU-Fraktion.


Klaus-Peter Willsch (CDU):
Rede ID: ID1721203000

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Ich danke meiner Fraktion dafür, dass ich als
Vertreter einer Mindermeinung in der Fraktion gleich-
wohl heute im Rahmen ihres Zeitkontingents vortragen
kann.

Ich will beginnen mit einem Zitat:

Ich hätte mir nie träumen lassen, dass ausgerechnet
die erfolgreichste europäische Zentralbank nach
dem Zweiten Weltkrieg – die Bundesbank – in
Europa einmal in eine absolute Minderheitenposi-
tion geraten würde. Lange galt die Bundesbank als
Leitbild für erfolgreiche Geldpolitik. Und darauf
baut die heutige Währungsunion auf! Eine solche
Institution nun so ins Abseits zu stellen und Positio-
nen, die ihr jetziger Präsident vertritt, in Europa
beinahe lächerlich zu machen – dass all das mög-
lich ist, bedrückt mich sehr und ist kein gutes Zei-
chen für die Zukunft. Wir erleben einen Paradig-
menwechsel.

Das hat am 11. Oktober Professor Jürgen Stark gesagt.
Das ist einer der Gründerväter des Euro, einer der Kon-
strukteure des Euro, Sherpa und Staatssekretär im
Finanzministerium und später Chefvolkswirt der EZB.

Warum sage ich das? Weil ich in der Tat Sorge habe
um unsere Konstruktion einer unabhängigen Zentral-
bank sowohl auf der europäischen als auch auf der deut-
schen Ebene. Wenn ich sehe, dass umstandslos entspre-
chendes Handeln dieser unabhängigen Institutionen auf
den Tagungen der Finanzminister in der Euro-Gruppe
vorausgesetzt wird, dass einfach vorausgesetzt wird,
dass Restgrößen durch die EZB durch Anleihekäufe oder
ELA-Geschäfte mit Griechenland gedeckt werden, dass
einfach vorausgesetzt wird, dass die Bundesbank Ge-
winne – vermeintliche oder tatsächliche – aus Sekundär-
marktprogrammen weiterreichen wird, damit sie an
Griechenland gezahlt werden können, dann muss ich sa-
gen: Das ist nicht das, was ich unter Unabhängigkeit der
Notenbanken verstehe.





Klaus-Peter Willsch


(A) (C)



(D)(B)


Es wird häufig – so auch heute wieder – denen, die
der Rettungsschirmpolitik kritisch gegenüberstehen,
vorgeworfen, sie würden mit zu hohem Einsatz spielen,
und es sei unabsehbar, was danach folge. Natürlich ist es
möglich, dass Länder aus einer Währungsunion aus-
scheiden. Dass ein Land aus der Währungsunion aus-
scheidet, führt nicht automatisch zu Armageddon. Wir
haben das zuletzt praktisch erlebt bei der Auflösung der
Währungsunion von der Tschechei und der Slowakei.
Nachdem sich das Land nach einer Volksabstimmung in
zwei Länder geteilt hatte, hatte man zunächst versucht,
an der gemeinsamen Krone festzuhalten. Aber relativ
schnell nach der staatlichen Unabhängigkeit ist man zu
separaten Währungen übergegangen, weil es Wettbe-
werbsfähigkeitsdisparitäten gab.

Im Übrigen ist für eine Vielzahl von Staatsinsolven-
zen in der Nachkriegszeit genau aufgezeichnet worden,
wie es funktioniert; denken Sie nur an die Arbeiten von
Rogoff und Reinhart. Der Pariser Club und der Londo-
ner Club sind angesprochen worden; der IWF kommt
hinzu. Programme werden verhandelt, ein Moratorium
wird erklärt, Quoten werden ausgehandelt. Das hat den
Vorteil, dass alle Gläubiger am Tisch sitzen und die
Schulden nicht auf staatliche Institutionen übertragen
werden. Das hat in vielen Fällen funktioniert: Türkei,
Polen, Russland. Ich könnte noch mehr Fälle aufzählen;
das will ich Ihnen aber ersparen. Jedenfalls funktioniert
es. Es ist keinesfalls so, dass der Weltuntergang droht,
wenn man diesen Weg beschreitet.

Der Euro-Raum ist nicht gleich Europa. Keiner stellt
das kolossale Friedensprojekt, das Einigungsprojekt des
gemeinsamen Europas infrage. Keiner stellt die positi-
ven wirtschaftlichen Auswirkungen dieses großen ge-
meinsamen Europas mit den vier Freiheiten infrage.
Auch Solidarität gehört dazu. Aber der Euro-Währungs-
raum war nie als solidarisches, sondern als währungs-
technisches Projekt gedacht. Wenn es dann nicht funk-
tioniert, muss man auch offen sein für Änderungen
dieses Währungsraumes; sonst führt der Weg zwangs-
läufig in eine Transferunion, die wir alle nie wollten.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Nur wer für die Folgen des eigenen Tuns haftet, wird
auf Dauer verantwortungsvoll handeln. Übergroße Soli-
darität – und zwar in Bereichen, für die sie nie gedacht
war – macht träge und generiert Mitnahmeeffekte. Das
kennen wir aus der Sozialpolitik, aber leider auch – ich
komme aus Hessen – aus dem Länderfinanzausgleich.
Deshalb lautet mein Appell ganz klar: Lassen Sie uns
diese Politik beenden!

Ich will zum Schluss kommen. Heute Morgen habe
ich in der Financial Times Deutschland gelesen, dass
Herr Juncker Helmut Kohl aus der Erinnerung zitiert:

Von Helmut Kohl habe ich den Satz behalten: Was
im Privatleben richtig ist, ist im zwischenstaatli-
chen Leben nicht falsch.

Das kann ich nur nachhaltig unterstreichen. Wir alle wis-
sen aus dem Privatleben, dass man zu hohe Schulden
nicht mit immer neuen Schulden bekämpfen kann. Wir
wissen aus dem Privatleben, dass man schlechtem Geld

kein gutes hinterherwirft. Lassen Sie uns diesen Weg
heute hier beenden!

Vielen Dank.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721203100

Als letzter Redner in dieser Aussprache hat jetzt das

Wort der Kollege Gunther Krichbaum von der CDU/
CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Gunther Krichbaum (CDU):
Rede ID: ID1721203200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

persönlich respektiere absolut die Meinung anderer und
insbesondere derer, die heute diesem Antrag vielleicht
nicht zustimmen können. Ich habe den Kollegen, die un-
mittelbar vor mir gesprochen haben, sorgfältig zugehört.
Ich muss Ihnen sagen: Heute steht sehr viel auf dem
Spiel, und zwar viel mehr, als manchem möglicherweise
bewusst ist. In Wahrheit entscheiden wir darüber, wie es
bei uns in der Euro-Zone und in Europa weitergeht. Ris-
kieren wir ein Auseinanderbrechen, oder gehen wir den
Weg weiter, den wir bereits entschlossen eingeschlagen
haben? Mein ausdrücklicher Dank gilt Ihnen, Herr Fi-
nanzminister Schäuble, und der Bundesregierung für die
guten Verhandlungen.

Wir sollten eines nicht in Abrede stellen: Wir hatten
Griechenland zuvor bereits Bedingungen – Prior Actions,
wie es technisch heißt – gestellt, 71 an der Zahl, bevor es
jetzt zu diesem Abschluss kam. Sämtliche Bedingungen
wurden erfüllt. Es wäre geradezu abwegig und unred-
lich, wenn man sich jetzt nicht auch in Verantwortung
üben wollte und dem heutigen Antrag zustimmte.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Griechenland hat die Bedingungen erfüllt. Die Erfolge,
die sich zwischenzeitlich bereits eingestellt haben, soll-
ten wir nicht in Abrede stellen. Gestern habe ich im
Deutschlandfunk ein Interview des heute bereits erwähn-
ten Herrn Professor Sinn verfolgt, das an Arroganz nicht
mehr zu überbieten ist.


(Beifall des Abg. Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/ CSU])


Denn es geht einfach nicht, dass alles und jedes in den
Boden gestampft wird und man überhaupt nicht mehr
davon Notiz nimmt, was sich in dem Land getan hat und
weiterhin tun wird.

Der Euro ist eine stabile Währung; er bleibt eine sta-
bile Währung. An nichts anderem können wir das besser
ablesen als am Außenwert dieser Währung im Verhältnis
zum Dollar; dieser Wert ist nach wie vor stabil. Wir müs-
sen auch unterstreichen, dass wir, vor allem unsere deut-
sche Wirtschaft, stark vom Euro profitieren. Es gehört an
einem solchen Tag auch dazu, festzuhalten: Wenn wir in
Deutschland das Zinsniveau der letzten Jahre beibehal-
ten hätten und wir uns weiterhin zu diesem Zins hätten





Gunther Krichbaum


(A) (C)



(D)(B)


rekapitalisieren müssen, dann hätten wir Jahr für Jahr
15 Milliarden bis 17 Milliarden Euro mehr zahlen müs-
sen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: So ist es!)


Das heißt, die Turbulenzen sind im Augenblick dafür
verantwortlich, dass unsere Haushalte an dieser Stelle
entlastet werden. Deswegen halte ich es für nicht ganz
daneben, etwas zurückzugeben.

Wir schaffen mehr Stabilität für die Euro-Zone, aber
gerade auch für uns. Ich möchte noch einmal kurz die
deutsche Wirtschaft beleuchten. Ich glaube, es reicht
nicht, wenn allein die Bundesregierung oder wir Parla-
mentarier davon reden, was uns der Euro gebracht hat. In
früheren Zeiten, bevor wir den Euro hatten, war es so,
dass Abwertungen ständig unsere deutsche Wirtschaft,
die exportorientiert aufgestellt ist, unter Druck gesetzt
haben. Das bedeutet, über Nacht wurden unsere Pro-
dukte um den Faktor der Abwertung teurer; damit wur-
den unsere Chancen und unsere Wettbewerbsfähigkeit
beschränkt. Das ist nicht mehr der Fall. Deswegen wün-
sche ich mir, dass gerade in den Unternehmen deutlicher
kommuniziert wird, wie sehr jeder einzelne Arbeitsplatz
davon abhängt.

Die Situation in Europa und in der Euro-Zone ist na-
türlich nach wie vor schwierig. Ja, es ist auch wahr, dass
der Weg, der vor uns liegt, steinig ist. Aber wir werden
ihn gemeinsam gehen, weil wir nur gemeinsam von ei-
nem geeinten Europa profitieren können.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die jetzigen Entwicklungen können uns allesamt nicht
egal sein. Es geht darum, Vertrauen herzustellen und zu-
rückzugewinnen, Vertrauen zwischen uns in Europa,
aber auch in Europa; denn genau daran wird aktuell stark
gezweifelt.

Herr Bundesminister Schäuble, es ist ein Erfolg der
Verhandlungen, dass die Troika bestehen bleibt; denn so
mancher in der Welt fragt sich, was denn der IWF in Eu-
ropa verloren hat, der normalerweise in ganz anderen
Teilen dieser Welt agiert. Auch das ist ein Erfolg. Wir
sollten ihn dadurch honorieren, dass wir dem heutigen
Antrag zustimmen und damit ein gutes, vertrauensbil-
dendes Signal nach Europa senden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721203300

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion Die Linke zu der Regie-
rungserklärung. Wer stimmt für den Entschließungsan-
trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/11706?
Ich bitte um Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthal-
tungen? – Der Entschließungsantrag ist gegen die Stim-
men der Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller übri-
gen Fraktionen abgelehnt.

Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag
des Bundesministeriums der Finanzen einschließlich der
Anlagen auf Drucksachen 17/11647, 17/11648, 17/11649
und 17/11669 mit dem Titel „Änderungen im bestehen-
den Anpassungsprogramm für Griechenland – Änderung
der Garantieschlüssel; Einholung eines zustimmenden
Beschlusses des Deutschen Bundestages“. Es ist na-
mentliche Abstimmung verlangt. Zu der Abstimmung
liegen zahlreiche Erklärungen nach § 31 unserer Ge-
schäftsordnung vor.1)

Haben die Schriftführerinnen und Schriftführer die
Plätze eingenommen? – Das ist der Fall. Ich eröffne die
Abstimmung und bitte, die Karten einzuwerfen.

Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgegeben hat? – Dann schließe ich
den Wahlgang. Ich bitte die Schriftführerinnen und
Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Er-
gebnis wird Ihnen nach der Auszählung bekannt gege-
ben.2)

Wir setzen die Abstimmung fort und kommen zu dem
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen zu dem Antrag des Bundesministeriums der Finan-
zen. Wer stimmt für den Entschließungsantrag auf
Drucksache 17/11731? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Damit ist der Entschließungsantrag abgelehnt mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion
Die Linke bei Enthaltung der SPD und Zustimmung der
Grünen.

Ich rufe Zusatzpunkt 11 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(14. Ausschuss)

Dr. Edgar Franke, Christine Lambrecht, Bärbel
Bas, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD

Korruption im Gesundheitswesen wirksam be-
kämpfen

– Drucksachen 17/3685, 17/9587 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Edgar Franke

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. Gibt es
Widerspruch dagegen? – Das scheint nicht der Fall zu
sein. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner das Wort dem Kollegen Heinz Lanfermann von der
FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Heinz Lanfermann (FDP):
Rede ID: ID1721203400

Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Meine Damen

und Herren! Mit Ihrem Antrag zeichnen Sie uns hier ein
ganz finsteres Bild eines Korruptionssumpfes, in dem

1) Anlagen 2 bis 8
2) Ergebnis Seite 25591 C





Heinz Lanfermann


(A) (C)



(D)(B)


sich die gesamte Ärzteschaft die Taschen füllt, Abrech-
nungsbetrug auf der Tagesordnung steht, Fangprämien
und Schmiergeldzahlungen gang und gäbe sein sollen
und damit lebensgefährliche Beeinträchtigungen der Pa-
tienten wohlwissend in Kauf genommen werden.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Lanfermann, das ist unter aller Kanone!)


Damit verunglimpfen Sie einen in der Bevölkerung äu-
ßerst angesehenen Berufsstand, und das – das wird deut-
lich, wenn man es sich genau anschaut – eigentlich allein
aufgrund von Vermutungen, unbewiesenen Schlussfol-
gerungen und Pauschalierungen.


(Elke Ferner [SPD]: Mann!)


Was fehlt, ist, was man bei solch schwerem Geschütz er-
warten sollte, eine konkrete Darstellung von Fakten,
Entwicklungen, Zahlen, Statistiken etc. Im Grunde ge-
nommen ist das alles absolut unseriös, was im Übrigen
gar nicht so schlecht zu Ihrer Gesamthaltung in der Ge-
sundheitspolitik passt.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen der Abg. Elke Ferner [SPD])


Darüber hinaus vermischen Sie völlig undifferenziert
tatsächlich korrupte Handlungsweisen mit Streitfragen
zwischen Krankenhäusern und Kassen, zum Beispiel
über die richtige Abrechnungsmethode.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt mal!)


Sie scheinen kein Interesse daran zu haben, zu fragen, ob
ein Tatbestand kompliziert ist, ob eine Berechnungssys-
tematik vielleicht anfällig für Fehler ist oder ob es zu-
mindest unterschiedliche Interpretationen gibt, über die
man einmal in Ruhe nachdenken und diskutieren sollte.
Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD,
dass eine seriöse gesundheitspolitische Debatte Ihres
Antrags wirklich nicht bedarf.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zumindest ein Gefühl des Unbehagens, wenn nicht
mehr, haben wir bei den Fraktionen der Grünen und der
Linken bemerkt, die sich im Ausschuss bei der Abstim-
mung über diesen Antrag enthalten haben.

Gott sei Dank sieht die Realität in unserem Gesund-
heitswesen völlig anders aus als von Ihnen beschrieben.
Wir haben in Deutschland eines der besten Gesundheits-
systeme in der ganzen Welt. Natürlich gibt es auch Kri-
tikwürdiges. Aber das ist nicht die Regel, sondern die
Ausnahme.


(Elke Ferner [SPD]: Die Ausnahmen sind aber ganz schön teuer!)


Um es Ihnen noch einmal zu erklären: Die Ausnahmen
bestätigen die Regel, gerade weil es so wenige sind.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Trotz der begrenzten Mittel zur Finanzierung sind die
Leistungsfähigkeit, der Versorgungsumfang und die
Qualität des Gesundheitssystems unverändert Spitzen-
klasse. Das liegt vor allem daran, dass sich die Ärzte im
besten hippokratischen Sinne um das Wohl ihrer Patien-
ten kümmern. Trotz mancher als Unbill empfundener
Maßnahmen oder schlecht organisierter Abläufe – sei es
die Honorardeckelung, seien es die Pauschalvergütungen
oder entsprechende Arbeits- und Bürokratieaufwände in
den Praxen oder in Krankenhäusern oder Probleme bei
den Hausbesuchen – tun sie ihre Arbeit. Natürlich be-
schweren sie sich auch einmal und sagen: Das könnte
man alles besser machen. – Trotzdem tun sie ihre Arbeit
auch in den Fällen, bei denen sie genau wissen, dass sie
für diese konkrete Behandlung bei dem herrschenden
System gar kein Honorar bekommen, sondern quasi um-
sonst arbeiten.


(Beifall bei der FDP)

Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Es gibt keine

Berufsgruppe ohne schwarze Schafe.

(Elke Ferner [SPD]: Deshalb macht man dann auch nichts, oder?)

Es geht auch nicht darum, irgendwelche Menschen oder
Gruppen pauschal zu verteidigen. Wir sind uns alle ei-
nig: Missbrauch, Betrug und Korruption müssen in allen
Bereichen bekämpft werden; sie können nicht geduldet
werden.


(Elke Ferner [SPD]: Warum tun Sie dann nichts?)


Wir müssen aber auch sehen, dass es entgegen mancher
Behauptung von Ihnen Instrumente gibt. Im Sozialrecht,
im § 128 SGB V, gibt es Regelungen, die


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der gilt ausdrücklich nicht für Ärzte!)


empfindliche Maßnahmen bei Fehlverhalten vorsehen,
es gibt das Berufsrecht der Ärzte, das natürlich Bestech-
lichkeit verbietet. Bei Verstößen drohen – das wissen Sie
ganz genau – berufsrechtliche Konsequenzen bis hin
zum Verlust der Approbation.


(Elke Ferner [SPD]: Und was passiert im Berufsrecht? Wie viele Approbationsentzüge sind denn beschlossen worden?)


Natürlich gibt es menschliche Unzulänglichkeiten –
überall. Natürlich gibt es auch Vollzugsdefizite. Das hat
noch nie irgendjemand bestritten. Es sind allerdings
auch Instrumente geschaffen worden. Zum Beispiel ha-
ben – darüber haben wir im Gesundheitsausschuss vor
kurzem im Rahmen eines Expertengesprächs diskutiert –
die Kassen, ihr Spitzenverband und die Verbände der
Ärzteschaft schon vor Jahren die Antikorruptionsstellen
eingerichtet. Wenn Sie konkrete Vorschläge dazu haben,
wie sie besser arbeiten könnten oder was man am Sys-
tem verbessern kann, dann legen Sie diese bitte vor, statt
– wie hier – wieder pauschale Verdächtigungen auszu-
sprechen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Elke Ferner [SPD]: Wer regiert denn? Sie oder wir?)






Heinz Lanfermann


(A) (C)



(D)(B)


Die zweite große Forderung betrifft die behaupteten
Falschabrechnungen in Krankenhäusern – ein beliebtes
Thema. Das fängt schon damit an, dass immer alle Zah-
len nach dem Motto durcheinandergeworfen werden:
Jede dritte Abrechnung ist falsch. – Ja, von den geprüf-
ten Abrechnungen. Wenn man dann aber schaut, wie
viele Abrechnungen überhaupt geprüft werden, dann
werden aus dem einen Drittel rund 4 bis 5 Prozent. Das
ist schon etwas anderes, das sollten Sie auch so sagen.


(Elke Ferner [SPD]: Sie können das doch nicht relativieren, Herr Lanfermann!)


Was heißt im Übrigen falsch? Was meinen Sie damit?
Heißt falsch, dass das inkorrekt ist? Heißt falsch, dass
das Betrug ist? Oder ist es nicht so, dass es unterschiedli-
che Auffassungen darüber geben kann, wie zum Beispiel
Vorschriften auszulegen sind? Ist es nicht so, dass es
auch sogenannte falsche Zahlen gibt, die auch deswegen
angeblich falsch sind, weil dahinter unterschiedliche In-
dikationen stehen: die eine, die der Arzt im Krankenhaus
tatsächlich gestellt hat, und die andere, die der Prüfer der
Kasse rückblickend für richtig hält?

Das kann ich nicht entscheiden. Wenn Sie aber einen
Vorschlag für eine bessere Systematik haben, dann legen

Sie ihn vor. Natürlich sind in diesem Fall beide Seiten
aufgerufen, selbst im besten Sinne der von uns hochge-
schätzten Selbstverwaltung Vorschläge dahin gehend zu
machen, wie man diese unterschiedlichen Betrachtungs-
weisen in Einklang bringen kann.

Meine Damen und Herren, einer Berufsgruppe pau-
schal solche Neigungen zu unterstellen, wie Sie das tun,
ist – ich wiederhole es – einfach unseriös.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war am eigentlichen Thema vorbeigeredet!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721203500

Bevor ich die nächste Rednerin aufrufe, gebe ich Ih-

nen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern
ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung zu
dem Anpassungsprogramm für Griechenland bekannt:
abgegebene Stimmen 584. Mit Ja haben gestimmt 473,
mit Nein haben gestimmt 100, Enthaltungen 11. Der An-
trag ist angenommen.

Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 584;
davon

ja: 473
nein: 100
enthalten: 11

Ja

CDU/CSU

Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck


(Reutlingen)

Manfred Behrens (Börde)

Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen


(Bönstrup)

Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun

Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer (Hamburg)


(Karlsruhe Land)

Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Peter Friedrich


(Hof)

Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn

Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung (Konstanz)

Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster

(Villingen Schwenningen)

Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig

Jens Koeppen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers


(Heidelberg)

Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer (Altötting)

Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller (Erlangen)

Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann (Bremen)

Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche (Potsdam)

Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht (Weiden)

Anita Schäfer (Saalstadt)

Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt (Fürth)

Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön (St. Wendel)

Dr. Kristina Schröder


(Wiesbaden)

Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer

(Weil am Rhein)

Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl (Heilbronn)


Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Volkmar Vogel (Kleinsaara)

Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg (Hamburg)

Peter Weiß (Emmendingen)

Sabine Weiss (Wesel I)

Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Elisabeth Winkelmeier-

Becker
Dagmar G. Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew

SPD

Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Hans-Peter Bartels
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding (Heidelberg)

Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf (Rosenheim)

Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Michael Groß
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann


(Wackernheim)

Hubertus Heil (Peine)

Wolfgang Hellmich

Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Hinz (Essen)

Frank Hofmann (Volkach)

Dr. Eva Högl
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe (Leipzig)

Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)

Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Petra Merkel (Berlin)

Ullrich Meßmer
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Thomas Oppermann
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Karin Roth (Esslingen)

Michael Roth (Heringen)

Annette Sawade
Axel Schäfer (Bochum)

Bernd Scheelen
Ulla Schmidt (Aachen)

Carsten Schneider (Erfurt)

Swen Schulz (Spandau)

Frank Schwabe
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Ute Vogt
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer

FDP

Christian Ahrendt
Christine Aschenberg-

Dugnus
Daniel Bahr (Münster)

Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Hans-Werner Ehrenberg
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Dr. Christel Happach-Kasan
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Michael Kauch
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Patrick Kurth (Kyffhäuser)

Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Sabine Leutheusser-

Schnarrenberger
Dr. Martin Lindner (Berlin)

Michael Link (Heilbronn)

Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller (Aachen)

Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann


(Lausitz)

Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto


(Frankfurt)

Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Judith Skudelny
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Manfred Todtenhausen
Dr. Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel


(Lüdenscheid)

Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)


BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Kerstin Andreae
Marieluise Beck (Bremen)

Volker Beck (Köln)

Cornelia Behm
Birgitt Bender
Agnes Brugger
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz (Herborn)

Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Stephan Kühn
Renate Künast
Markus Kurth

Undine Kurth (Quedlinburg)

Monika Lazar
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller (Köln)

Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann E. Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth (Augsburg)

Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Ulrich Schneider
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang Strengmann-

Kuhn
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Arfst Wagner (Schleswig)

Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler

Nein

CDU/CSU

Veronika Bellmann
Wolfgang Bosbach
Thomas Dörflinger
Alexander Funk
Dr. Peter Gauweiler
Manfred Kolbe
Paul Lehrieder
Dr. Carsten Linnemann
Thomas Silberhorn
Christian Freiherr von Stetten
Arnold Vaatz
Klaus-Peter Willsch

SPD

Klaus Barthel
Marco Bülow
Wolfgang Gunkel
Hilde Mattheis

Dr. Wilhelm Priesmeier
Gerold Reichenbach
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Werner Schieder (Weiden)

Ottmar Schreiner
Rüdiger Veit
Waltraud Wolff


(Wolmirstedt)


FDP

Jens Ackermann
Nicole Bracht-Bendt
Sylvia Canel
Joachim Günther (Plauen)

Heinz-Peter Haustein
Dr. Lutz Knopek
Holger Krestel
Lars Lindemann
Frank Schäffler
Torsten Staffeldt

DIE LINKE

Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Nicole Gohlke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jan Korte
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay

Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Petra Pau
Jens Petermann
Richard Pitterle
Ingrid Remmers
Paul Schäfer (Köln)

Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann

Enthalten

CDU/CSU

Christian Hirte

SPD

Doris Barnett
Dr. Peter Danckert
Gabriele Hiller-Ohm
Steffen-Claudio Lemme
Holger Ortel
Stefan Rebmann
Ewald Schurer
Rolf Schwanitz
Dr. Marlies Volkmer

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Hans-Christian Ströbele

Wir fahren in der Debatte fort. Als nächste Rednerin
rufe ich Elke Ferner für die SPD-Fraktion ans Redner-
pult.


(Beifall bei der SPD)



Elke Ferner (SPD):
Rede ID: ID1721203600

Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen!

Herr Lanfermann, ich hätte wetten können, dass Ihre

Rede so ausfällt, wie sie ausgefallen ist. Das entspricht
Ihrer Klientelpolitik, die Sie in dieser Wahlperiode ge-
macht haben.


(Zurufe von der FDP: Oh!)


Die Bekämpfung der Korruption im Gesundheitswe-
sen ist längst überfällig. Die gesetzlichen Krankenkassen
verlieren durch Korruption, Abrechnungsbetrug und fal-
sche Abrechnungen Jahr für Jahr bis zu 18 Milliarden





Elke Ferner


(A) (C)



(D)(B)


Euro. Herr Lanfermann, diese Summe als Peanuts abzu-
tun, ist mehr als fahrlässig.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Was tun Sie von Schwarz-Gelb dagegen? Nichts. Be-
reits in der letzten Wahlperiode wollten wir etwas gegen
die Korruption im Gesundheitswesen tun. Das ist leider
an unserem Koalitionspartner CDU/CSU gescheitert.
Dennoch finden wir, dass dies auch in dieser Wahl-
periode ein Thema sein muss. 18 Milliarden Euro jähr-
lich entsprechen 1,8 Beitragssatzpunkten oder – herun-
tergerechnet auf den Krankenkassenbeitrag eines
Durchschnittsverdieners oder einer Durchschnittsverdie-
nerin – 24 Euro im Monat, die die Versicherten mehr be-
zahlen als sie müssten, wenn man der Korruption im Ge-
sundheitswesen wirklich den Kampf ansagen würde.

Die Korruption im Gesundheitswesen führt also zu
einem Schaden der Versichertengemeinschaft. Das
Schlimmste aber ist, dass sie manchmal auch zu erhebli-
chen Nachteilen für die betroffenen Patientinnen und Pa-
tienten führt. Herr Lanfermann, es ist eine Form der Kör-
perverletzung, wenn ein kranker Mensch nicht die nach
medizinischen Kriterien beste Therapie, sondern die
Therapie erhält, für die der behandelnde Arzt vom Phar-
mahersteller das meiste Geld bekommt.


(Beifall bei der SPD)


Die Korruptionsskandale im Gesundheitswesen sind
leider keine Seltenheit, sondern sie gehören mittlerweile
fast zur alltäglichen Berichterstattung in der Presse:
Fangprämien für Krankenhauseinweisungen, Herzklap-
penskandal und Ratiopharm-Affäre sind nur drei Bei-
spiele von vielen. Sie wissen genauso gut wie wir, dass
der BGH in seinem Urteil vom März dieses Jahres fest-
gestellt hat, dass ein freiberuflicher Arzt wegen Bestech-
lichkeit nicht strafrechtlich belangt werden kann, weil er
weder ein Amtsträger noch ein Beauftragter der Kran-
kenkassen ist. Das ist eine Gesetzeslücke, die wir als Ge-
setzgeber schließen müssen. Wer das nicht will, der lässt
eben auch dauerhaft Korruption im Gesundheitswesen
zu.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Sie sagen, dass es keine Beispiele gibt. Ich möchte Ih-
nen daher ein paar Beispiele nennen.

Erstes Beispiel. In Hamburg mussten aufgrund des
BGH-Urteils zur Bestechlichkeit von Ärzten die Ermitt-
lungen gegen ein Pharmaunternehmen eingestellt wer-
den. Die Ermittlungsgruppe von acht Polizisten und ei-
nem Steuerfahnder wurde aufgelöst. Die Ankläger hatten
dem Unternehmen vorgeworfen, Ärzte für die Verschrei-
bung eines Krebsmedikaments bestochen zu haben. Ins-
gesamt soll das Pharmaunternehmen seit 2006 rund
120 Ärzte und 60 Apotheker mit einer monatlichen
Summe zwischen 1 000 und 5 000 Euro bedacht haben,
um so den Verkauf des eigenen Medikaments anzukur-
beln. Der Marktvorteil, den sich das Unternehmen da-
durch verschafft hat, soll im siebenstelligen Bereich lie-
gen. Die Staatsanwaltschaft hätte diesen Betrag gerne

eingezogen. Durch das BGH-Urteil war dies leider nicht
möglich – und Sie weigern sich, etwas an den Gesetzen
zu ändern.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Mutmaßungen!)

In Dresden – das ist das zweite Beispiel – musste ein

Verfahren wegen Bestechlichkeit eingestellt werden. In
diesem Verfahren ist bundesweit gegen mehr als 50 Krebs-
ärzte ermittelt worden. Das Unternehmen soll Krebsärz-
ten mehrere Hundert Euro pro Patient für die Bevorzu-
gung seiner Produkte gezahlt haben. Laut Staatsanwalt
lagen viele Beweismittel, viele Erkenntnisse über Zu-
wendungen vor. In einem Fall gab es Zahlungen von bis
zu 500 000 Euro an einen einzigen Arzt. Wenn das kein
Skandal ist, dann weiß ich nicht, was ein Skandal sein
soll.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Heinz Lanfermann [FDP]: Warum haben sie es eingestellt?)


– Wegen des BGH-Urteils, Herr Lanfermann, nicht weil
sie keine Beweise hatten.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Also wegen der Rechtslage!)


– Wegen der unvollständigen Rechtslage, die Sie durch
Ihre Untätigkeit zu verantworten haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Heinz Lanfermann [FDP]: Sie haben gar nichts verstanden! Das ist viel schlimmer!)


Drittes Beispiel. Zwischen Januar und Oktober 2009
hat eine Ärztin mehrere Tausend Rezepte auf Namen ih-
rer Patienten ausgestellt, eine dritte Person ging damit zu
einer Frankfurter Apotheke und ließ sich andere Medika-
mente im Wert von rund zwei Drittel des Rezeptwertes
aushändigen. Der Apotheker hat die Rezepte dann bei
der Krankenkasse vollumfänglich abgerechnet. Der Ge-
winn wurde zwischen Ärztin und Apotheker geteilt. Der
Schaden der Krankenkassen belief sich auf 2 Millionen
Euro. All das wird nicht geahndet.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Was? Da haben Sie wieder etwas verwechselt!)


Wenn aber zum Beispiel ein Medikamentenabhängi-
ger drei Rezepte fälscht, wird er wegen dieser drei Re-
zeptfälschungen – ein Schaden von unter 200 Euro – zu
einer Geldstrafe von 2 000 Euro verurteilt; denn das ist
Betrug. Niemand käme auf die Idee, Rezeptfälschungen
durch Medikamentenabhängige zu legalisieren. Aber,
liebe Kollegen und Kolleginnen von der FDP und der
Union, eine Rezeptfälschung bleibt eine Rezeptfäl-
schung, egal ob sie ein Medikamentenabhängiger oder
ein Arzt begangen hat.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Die ist auch strafbar!)


Das ist eine Zweiklassenjustiz. Deshalb müssen wir da
etwas verändern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Heinz Lanfermann [FDP]: Fragen Sie einmal einen Juristen in Ihrer Fraktion!)






Elke Ferner


(A) (C)



(D)(B)


In unserem Antrag steht, was genau wir wollen. Ers-
tens. Wir brauchen eine ergänzende Regelung im Straf-
gesetzbuch, um sicherzustellen, dass Korruptionshand-
lungen Straftatbestände darstellen. Es kann nicht sein,
dass sich ein angestellter Arzt, der sich von Pharma-
unternehmen für die Verordnung bestimmter Arzneimit-
tel schmieren lässt, strafbar macht, sein freiberuflich ar-
beitender Kollege aber nicht.

Zweitens. Wir brauchen gesetzliche Regelungen, um
systematischen Falschabrechnungen von Krankenhäu-
sern ein Ende zu bereiten. Hierzu gehören wirkungsvolle
Sanktionen.

Ich sage Ihnen eines: Wenn die maximale Strafe für
zu hohe Abrechnungen ist, nur das Honorar zu bekom-
men, das man sowieso bekommen hätte, dann könnte
man genauso gut sagen, dass jemand, der beim Schwarz-
fahren erwischt wird, maximal den Fahrpreis nachzahlen
muss, oder dass jemand für das Vorzeigen der Fahrkarte
1 Euro für den Aufwand bekommen sollte. Diese Rege-
lungen gehen so nicht.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721203700

Frau Kollegin Ferner, der Kollege Henke würde Ih-

nen gerne eine Zwischenfrage stellen.


Elke Ferner (SPD):
Rede ID: ID1721203800

Gerne.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721203900

Bitte.


Rudolf Henke (CDU):
Rede ID: ID1721204000

Frau Kollegin Ferner, ich würde gerne wissen, ob Ih-

nen bewusst ist, dass jemand, auf dessen Fehlverhalten
die zuständige kassenärztliche Vereinigung aufmerksam
gemacht wird und dem dieses nachgewiesen wird, durch
die Gesetzgebung der Koalition davon bedroht ist, seine
Zulassung und damit seine Existenzgrundlage zu verlie-
ren. Die Auswirkung besteht eben nicht nur darin, dass
er nur noch das Honorar bekommt, das ihm zustünde,
wenn er ehrlich agiert hätte, sondern darin, die komplette
Tätigkeit als Kassenarzt einstellen zu müssen. Ich will
nur wissen, ob Ihnen das bewusst ist. Sie haben ja den
Gesetzgebungsprozess im Zusammenhang mit dem Ver-
sorgungsstrukturgesetz genau verfolgt.


Elke Ferner (SPD):
Rede ID: ID1721204100

Herr Kollege Henke, erstens habe ich eben von Kran-

kenhäusern und nicht von niedergelassenen Ärzten ge-
sprochen.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Vorher schon!)


– Herr Lanfermann,


(Heinz Lanfermann [FDP]: Sie müssen sich schon mit dem Kollegen unterhalten!)


dass maximal das vergütet wird, was sowieso hätte ver-
gütet werden müssen, war im Zusammenhang mit Kran-
kenhäusern. Das können Sie, wenn Sie es akustisch nicht

verstanden haben, im Protokoll nachlesen, wenn es dann
vorliegt.

Zweitens. Herr Henke, natürlich ist mir bekannt, dass
das Standesrecht Regelungen dazu vorsieht. Aber es ist
mir nicht bekannt, dass alle diejenigen, die Abrech-
nungsbetrug begangen haben, am Ende auch ihre Appro-
bation verloren haben. Wie viele haben denn ihre Appro-
bation für solche Vorgänge, über die wir hier diskutieren,
abgeben müssen?


(Steffen-Claudio Lemme [SPD]: Keiner!)


Dazu können Sie in Ihrem Redebeitrag ja noch etwas sa-
gen. Auf alle Fälle ist mir persönlich davon nichts be-
kannt; im Gegenteil. Man sieht dann immer nur: Das
Verfahren wird eingestellt, es wird ein kleines Bußgeld
bezahlt, und dann läuft alles weiter wie bisher. Das ist
die Realität, Herr Kollege Henke.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE])


Drittens. Wir brauchen qualifizierte Schwerpunkt-
staatsanwaltschaften und Ermittlungsgruppen bei der
Kriminalpolizei, damit solchen Korruptionsfällen ver-
nünftig begegnet werden kann.


(Lars Lindemann [FDP]: Gesundheitsgeheimpolizei!)


Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn Sie nichts tun, ma-
chen Sie sich zum Handlanger derer, die im Gesund-
heitswesen mit sehr viel krimineller Energie agieren. Ich
kann Sie nur auffordern, liebe Kollegen und Kollegin-
nen, im Interesse der Versicherten, im Interesse der
Patientinnen und Patienten und vor allen Dingen im
Interesse derjenigen Leistungserbringer und Leistungs-
erbringerinnen, die sich korrekt verhalten – das ist die
überwiegende Mehrzahl; sie werden bei Abrechnungs-
betrug selber um ihren wohlverdienten Lohn gebracht –,


(Beifall der Abg. Dr. Carola Reimann [SPD])


also im Interesse all derer jetzt endlich tätig zu werden.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Wir haben Regelungen!)


Wenn Ihnen unser Antrag nicht gefällt, dann legen Sie
doch selber einen vor! Aber tun Sie endlich etwas, an-
statt hier nichts zu tun!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721204200

Für die CDU/CSU hat jetzt das Wort der Kollege Max

Straubinger.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1721204300

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die

SPD malt wieder ein Zerrbild von den tatsächlichen Zu-
ständen in unserem Gesundheitswesen.


(Steffen-Claudio Lemme [SPD]: Das liefert ihr doch!)






Max Straubinger


(A) (C)



(D)(B)


– Nein, das liefern Sie mit Ihrem Antrag, indem Sie
nämlich all diejenigen, die Gesundheitsleistungen in un-
serem Land erbringen – seien es Ärzte, Apotheker oder
andere Beteiligte –, grundsätzlich als korrupt hinstellen
wollen.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Genau! – Elke Ferner [SPD]: Herr Straubinger!)


– Ja, natürlich.


(Elke Ferner [SPD]: Nur weil es das Strafgesetzbuch gibt, sind doch nicht alle kriminell!)


Das ist ein völlig falscher Eindruck, den Sie bewusst mit
der Schätzung einer Organisation erzeugen wollen, die
mir persönlich nicht bekannt ist.


(Elke Ferner [SPD]: Selbst wenn es nur die Hälfte wäre, wäre es schlimm genug!)


Meines Erachtens sollte man mit Schätzungen immer
sehr vorsichtig sein, zumal dann, wenn hier in keinster
Weise Differenzierungen vorgenommen werden.

Sie werfen Korruption und mögliche Falschabrech-
nungen in einen Topf. Vor allen Dingen Falschabrech-
nungen muss man sehr differenziert betrachten. Ich war
selbst einmal Mitglied im Verwaltungsrat unseres örtli-
chen Krankenhauses. Natürlich gibt es immer wieder un-
terschiedliche Sichtweisen in der Frage, ob die eine Ab-
rechnung oder Codierung richtig oder falsch war. Das
kann unter den einzelnen Ärzten bzw. Beteiligten auch
strittig sein. Das ist aber in keinster Weise gleichzuset-
zen mit Korruption oder mit bewusstem Abkassieren in
unserem Gesundheitswesen.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: So ist es!)


Das insinuieren Sie mit Ihrem Antrag, und dagegen weh-
ren wir uns, werte Kolleginnen und Kollegen der SPD.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Es ist richtig, dass festgestellt worden ist, dass Ärzte
nicht Amtsträger sind und auch nicht der Bestechlichkeit
geziehen werden können. In all den Fällen, die Sie ge-
nannt haben, gab es Ermittlungen von Staatsanwalt-
schaften, die nicht zu Ende geführt worden sind,


(Elke Ferner [SPD]: Werden konnten! Wegen des BGH-Urteils!)


aber nicht wegen der Rechtslage, sondern weil wahr-
scheinlich die Vorwürfe so substanzlos waren.


(Elke Ferner [SPD]: Das stimmt ja nicht! So war es nicht!)


Dies zeigt sehr deutlich, dass Sie hier mit Kanonen auf
Spatzen schießen.

Gleichwohl ist natürlich entscheidend und wichtig,
dass ordentlich abgerechnet und korruptem Verhalten
entgegengewirkt wird. Ich bin überzeugt, dass wir ein
solches Verhalten bereits nach der bestehenden Geset-
zeslage ausreichend bekämpfen können


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Das können Sie eben nicht!)


und auch bekämpft haben. Der Kollege Henke hat vor-
hin dargestellt, dass, wenn strafbares, betrügerisches
oder bewusst manipulatives Verhalten an den Tag gelegt
wird, über das Standesrecht letztendlich sogar die Ap-
probation entzogen werden kann, und das geschieht
auch.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Seltenst!)


Mir ist ein Fall bekannt, in dem einer Ärztin bei uns in
Niederbayern die Approbation entzogen worden ist. Das
zeigt sehr deutlich: Es gibt bereits gesetzliche Regelun-
gen, die gewährleisten, dass man korruptem Verhalten,
so es feststellbar ist, entgegenwirken kann.

Was den Streit über die Abrechnungsmethoden be-
trifft, gilt es in unserem Gesundheitswesen die richtigen
Grundlagen zu schaffen. Die Regelungen, die man trifft,
haben angesichts der Materie letztendlich natürlich im-
mer auch mit subjektiven Eindrücken zu tun, etwa mit
eigenen medizinischen Kenntnissen oder der eigenen
Codierfähigkeit. Es kann immer Streit darüber geben, ob
alles richtig dargelegt worden ist. Ein Beispiel für einen
solchen Streit ist die Frage, ob ein stationärer Aufenthalt
notwendig war oder man eine Behandlung auch ambu-
lant hätte durchführen können. Darüber kann man im
Nachhinein natürlich immer streiten, und die Situation
kann man unterschiedlich bewerten. Aber das hat mit
korrupten oder strafbaren Handlungen nichts zu tun.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Wir lehnen Ihren Antrag, in dem Sie fordern, neue
Straftatbestände zu schaffen, ab, weil es unserer Mei-
nung nach derzeit ausreichende Regelungen gibt, im
Strafrecht genauso wie im Standesrecht. Für uns ist nicht
nachvollziehbar, warum neue Straftatbestände geschaf-
fen werden sollten. Ich bin davon überzeugt, dadurch
würde man eher für noch größere Verunsicherung sorgen
– das könnte unter Umständen sogar die medizinische
Versorgung der Bürgerinnen und Bürger beeinträchtigen –,
als dass man etwas Positives bewirken würde.

Was die Falschabrechnungen von Krankenhäusern
angeht, gelten die bereits bestehenden Sanktionsmecha-
nismen. Die Sanktionen sind massiv. Uns steht also ein
wirksames Instrumentarium zur Verfügung.

In der Vergangenheit haben wir vorgeschlagen,
Schwerpunktstaatsanwaltschaften zur Bekämpfung von
Vermögensstraftaten und Korruption im Gesundheitswe-
sen einzurichten. Im Bereich der Wirtschaftskriminalität
und der Korruptionsbekämpfung haben zahlreiche Län-
der bereits solche Schwerpunktstaatsanwaltschaften ge-
bildet. Auch in diesem Zusammenhang bin ich der Mei-
nung, dass Sie manchen Dingen, die es bereits gibt,
„hinterhereilen“.

Sie schlagen die Umstrukturierung der Stellen zur
Fehlverhaltensbekämpfung in Profit-Center vor, um ne-
gative Auswirkungen der Verwaltungskostenbudgetie-
rung zu vermeiden. Dazu muss ich sagen: Trotz der





Max Straubinger


(A) (C)



(D)(B)


Budgetierung der Verwaltungsausgaben konnten die
Krankenkassen in den Jahren 2011 und 2012 ihre Aktivi-
täten zur Fehlverhaltensbekämpfung in unvermindertem
Umfang fortsetzen; auch das muss festgestellt werden.
Sie insinuieren in Ihrem Antrag, diese Aktivitäten seien
ob der Begrenzung der Verwaltungskosten nicht fortge-
setzt worden. Das ist nicht der Fall.

Ich glaube, dass die rechtlichen Regelungen, die wir
getroffen haben, ausreichend sind, um der Korruption
wirksam entgegenzutreten. Besteht der Verdacht auf
Falschabrechnung, muss ihm immer nachgegangen wer-
den. Man muss die Situation allerdings differenziert
betrachten; auch hierfür haben wir ausreichende Mög-
lichkeiten geschaffen. Ihr Antrag ist eher ein Schaufens-
terantrag; deshalb werden wir ihn ablehnen.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721204400

Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort die Kol-

legin Kathrin Vogler.


(Beifall bei der LINKEN)



Kathrin Vogler (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721204500

Vielen Dank, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Im Frühjahr hat der Bundesgerichtshof ent-
schieden, dass die „Bestechung“ von niedergelassenen
Vertragsärztinnen und -ärzten durch die Pharmaindustrie
nach der jetzigen Gesetzeslage nicht strafbar sei.


(Elke Ferner [SPD]: So ist es!)


Wohlgemerkt: nach der jetzigen Rechtslage. Aber das
bedeutet auf keinen Fall, dass das so bleiben muss.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Folge war, dass die Staatsanwaltschaften reihen-
weise Ermittlungsverfahren gegen Ärzte und Pharma-
vertreter einstellen mussten, und das zeigt ein bisschen
die Dimension des Problems. Dieses Problem scheint bei
dieser Bundesregierung und der schwarz-gelben Koali-
tion noch gar nicht angekommen zu sein.

Ich habe hier eine Kleine Anfrage, die die Kollegin
Ulrike Flach, die Parlamentarische Staatssekretärin beim
Bundesminister für Gesundheit, beantwortet hat. Da
heißt es in der Vorbemerkung zum Beispiel, das BMG,
also das Bundesministerium für Gesundheit, prüfe die
Wirksamkeit der dargestellten berufs- und sozialrechtli-
chen Vorschriften.


(Elke Ferner [SPD]: Aha! Was ist dann herausgekommen?)


An weiterer Stelle heißt es, das BMG habe keine konkre-
ten Erkenntnisse zur Anzahl von Zulassungsentziehun-
gen, und auch das wolle es über eine Anfrage bei den
Ländern usw. prüfen.

Seit dem Urteil sind inzwischen acht Monate und
nach der Antwort auf diese Kleine Anfrage immerhin ein
Vierteljahr ins Land gegangen. Ich frage mich: Wann
kommen denn Ihre Prüfungen, wann kommen Ihre Ab-

fragen endlich zu Erkenntnissen, die Sie auch zum Han-
deln leiten könnten?


(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Aber Sie wollen an das Thema nicht heran. Sie mei-
nen, die Regelungen im Sozial- und Standesrecht wür-
den reichen. Sie reichen eben nicht. Wenn wir noch nicht
einmal wissen, wie viele Ärzte und Ärztinnen ihre Ap-
probation verlieren, dann zeigt das doch, dass wir hier
ganz dringend handeln müssen.


(Beifall bei der LINKEN)


Denn wenn wir das nicht tun, kann dieser Zustand
von Ärzten und Pharmaindustrie geradezu als Freibrief
für diese unzulässige Zusammenarbeit gedeutet werden.
Vor kurzem hat es eine Studie gegeben, in der viele
Ärzte und Ärztinnen und auch Pharmareferenten und
Heilmittelerbringer befragt worden sind. Uns muss zu
denken geben, was dabei herausgekommen ist. Viele
Ärztinnen und Ärzte denken: Wenn das nicht strafbar ist,


(Elke Ferner [SPD]: Ist es erlaubt!)


dann ist es ja nur ein Kavaliersdelikt. Wenn wir damit
Schluss machen wollen, dann brauchen wir dringend
eindeutig schärfere Gesetze.


(Beifall bei der LINKEN)


Deswegen danke ich den Kolleginnen und Kollegen
von der SPD auch ausdrücklich dafür, dass sie ihren An-
trag „Korruption im Gesundheitswesen wirksam be-
kämpfen“ heute hier zur Abstimmung stellen. Zu Recht
führen Sie aus, dass es eben nicht um Kleinkram geht,
sondern dass der mögliche Schaden allein für die gesetz-
liche Krankenversicherung zwischen 5 Milliarden und
18 Milliarden Euro im Jahr liegt. Ihre Vorschläge gehen
in die richtige Richtung, aber sie reichen uns leider nicht
aus. Deswegen werden wir uns heute enthalten.

Sinnvoll finde ich die Forderung, Korruption von nie-
dergelassenen Ärzten als Straftatbestand aufzunehmen.
Allerdings frage ich mich und frage auch Sie, warum Sie
entsprechende Regelungen auf die Kassenärzte begren-
zen wollen und warum Sie zum Beispiel die Zahnärzte
außen vor lassen.


(Zurufe von der FDP: Oh!)


Sie schreiben in Ihrem Antrag ganz richtig, dass es
nicht nur um finanziellen Schaden geht, sondern dass es
auch um das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Pa-
tient geht und darum, dass ein Arzt, der sich in seinem
Verordnungsverhalten durch finanzielle Vorteile steuern
lässt, möglicherweise seinen Patienten nicht immer die
beste Therapie zur Verfügung stellt. Ich frage mich na-
türlich: Sollen nicht auch Privatversicherte das gleiche
Recht auf optimale Versorgung nach medizinischen Ge-
sichtspunkten und nicht nach Profitkriterien erhalten?


(Beifall bei der LINKEN)


Darum sollte die Forderung umfassender sein und
sich nicht nur auf Kassenärzte beschränken; denn alle





Kathrin Vogler


(A) (C)



(D)(B)


Menschen haben ein Recht auf gute medizinische Ver-
sorgung.


(Mechthild Rawert [SPD]: Frau Vogler, dann kennen wir ja schon Ihren nächsten Antrag!)


– Ja, das ist doch schön. Vielleicht können wir den ja zu-
sammen einbringen.


(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Oh! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Dann kriege ich Zahnschmerzen!)


Vergeblich habe ich auch danach gesucht, wie Sie die
hauptsächlichen Nutznießer von Bestechung und Vor-
teilsgewährung zur Rechenschaft ziehen wollen. Was ist
mit Klinikleitungen, die Ärzte für die Einweisung von
Patienten vergüten, also die sogenannten Fangprämien
zahlen, oder was ist mit der Pharmaindustrie? Was sonst
als Bestechung ist es, wenn Ärzte für die Verordnung be-
stimmter Mittel – wie die Kollegin Ferner beschrieben
hat – mit Geschenken, schönen Reisen, Fortbildungen
oder gleich mit Cash entlohnt werden? Auch die soge-
nannten Anwendungsbeobachtungen, bei denen es in der
Regel nicht um wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern
um die Steuerung des Verschreibungsverhaltens geht,
gehören meines Erachtens verboten.

Es ist doch so: Tag für Tag stürmen 15 000 Pharma-
referentinnen und Pharmareferenten die Praxen,


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Das sind auch Arbeitsplätze!)


halten die Ärztinnen und Ärzte von ihren eigentlichen
Aufgaben ab und gaukeln ihnen vor, dass der 17. Lipid-
senker viel besser sei als die anderen 16, obwohl die In-
haltsstoffe eigentlich gleich sind. Da werden viele Mil-
liarden Euro für Marketing ausgegeben, damit noch
mehr Milliarden zulasten der gesetzlichen Krankenkas-
sen ausgegeben werden. Und die Kranken, was haben
die davon? Nichts. Deswegen müssen wir dagegen etwas
unternehmen.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich finde es auch ein bisschen schade, dass Sie von
der SPD vergessen haben, die Ursachen für die zuneh-
mende Korruption im Gesundheitswesen etwas näher zu
analysieren.


(Widerspruch bei der SPD – Zuruf von der FDP: Jetzt wird es spannend!)


An etlichen Stellschrauben hat nicht zuletzt auch Ihre
Fraktion gedreht. Denn Sie haben aktiv daran mitge-
wirkt, das Gesundheitswesen von einem sozialen Siche-
rungssystem zu einem Gesundheitsmarkt umzubauen.


(Zuruf von der LINKEN: Genau!)


Sie haben dazu beigetragen, dass manche Arztpraxis und
manches Krankenhaus heute eher ein medizinisches Wa-
renhaus ist


(Zurufe von der FDP: Oh!)


und dass privates Profitstreben mehr und mehr Vorrang
vor der Sorge um die Patienten erhält.


(Elke Ferner [SPD]: Wer Ihnen den Unsinn aufgeschrieben, den sollten Sie entlassen!)


– Sie haben doch die Privatisierung der Krankenhäuser
und die Konzentration in den großen Krankenhausketten
vorangetrieben.


(Elke Ferner [SPD]: Wie bitte? Seit wann ist denn der Bund für die Krankenhäuser zuständig?)


– Davon wollen Sie heute nichts mehr wissen; glückli-
cherweise haben Sie dazugelernt. – Sie haben auch die
individuellen Gesundheitsleistungen zugelassen, die Sie
heute scharf kritisieren.

Sie preisen den ökonomischen Wettbewerb zwischen
den Krankenkassen und zwischen den Leistungserbrin-
gern. Jetzt haben Sie das, was Sie wollten: Sie haben ei-
nen Markt, Sie haben Marktteilnehmer, die miteinander
konkurrieren und ihre Geschäftsgeheimnisse gewahrt se-
hen wollen, etwa wenn es etwa um Rabattverträge oder
Versorgungsverträge geht. Im Interesse der Korruptions-
bekämpfung wäre es doch sinnvoll, alle diese Verträge
auch offenzulegen, um alle finanziellen Abhängigkeiten
erkennen und Korruption einfach den Boden entziehen
zu können.


(Beifall bei der LINKEN)


Mehr Transparenz und Sauberkeit brauchen wir auch
in den Gremien, in denen wichtige Entscheidungen für
das Gesundheitswesen getroffen werden. Diese Ent-
scheidungen müssen unabhängig von Industrieinteressen
getroffen werden, sie sollten nur nach fachlichen Ge-
sichtspunkten getroffen werden. Ich erinnere da nur an
die Interessenkonflikte in der Ständigen Impfkommis-
sion, STIKO, und in der Weltgesundheitsorganisation.
Es ist doch sehr anrüchig, wenn solche Gremien Be-
schlüsse fassen, bestimmte Impfstoffe in gigantischem
Ausmaß anzuschaffen, während einige Mitglieder dieser
Gremien gleichzeitig oder wenig später auf der Gehalts-
liste der Pharmaindustrie auftauchen. Wir brauchen mei-
nes Erachtens auch hier Transparenz auf Euro und Cent
sowie eine Karenzzeit, bevor Entscheider in die Indus-
trie wechseln dürfen.


(Beifall bei der LINKEN)


Apropos Gehaltslisten: Die SPD hat diesen Antrag
wahrscheinlich nicht zufällig heute auf die Tagesord-
nung gesetzt; eigentlich wollten Sie ja heute etwas ande-
res diskutieren lassen. Wir haben am Montag im Focus
gelesen, dass einige Kolleginnen und Kollegen aus dem
Gesundheitsausschuss doch eine ganze Menge Nebentä-
tigkeiten ausüben. Wenn wir uns hier einig sind, dass die
therapeutischen Entscheidungen von Ärztinnen und Ärz-
ten nicht von finanziellen Zuwendungen der Industrie
abhängig sein sollen, dann frage ich Sie jetzt – insbeson-
dere in Richtung der Union –: Stimmen Sie mir dann
auch zu, dass Gleiches für die Entscheidungen von Ge-
sundheitspolitikerinnen und Gesundheitspolitikern gel-
ten sollte, also dass Abgeordnetenverhalten nicht durch
Lobbygruppen und Geldflüsse beeinflusst werden darf?





Kathrin Vogler


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der FDP: Oh!)


Da möchte ich Sie jetzt fragen: Wie soll das gehen, wenn
jemand aus Nebenjobs fünf- oder gar sechsstellige Be-
träge erhält,


(Zurufe von der FDP: Oh!)


wenn bei jemandem, wie zum Beispiel beim Kollegen
Henke, die Abgeordnetentätigkeit vom Einkommen her
eher der Nebenjob ist?


(Heinz Lanfermann [FDP]: Oh! – Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Mein Gott! Unverschämt! – Weiterer Zuruf von der FDP: So billig!)


Wenn man sich einmal die Vortragsliste des Kollegen
Koschorrek anschaut, stellt man fest: Sie liest sich wie
das Who is Who der Gesundheitswirtschaft.


(Lars Lindemann [FDP]: Weil Ihnen keiner zuhören will! Das ist das Problem! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Das ist unfassbar!)


Sie haben das alles veröffentlicht, wie es sich gehört,
auch wenn wir nicht genau wissen, was sie denn für wel-
chen Vortrag von wem bekommen haben.

Jens Spahn hat mir in einem persönlichen Gespräch
versichert, er habe durch seine frühere Teilhaberschaft in
einer Beratungsfirma keinen Interessenkonflikt gehabt.
Ich glaube Ihnen, Herr Kollege, dass Sie davon selber
überzeugt sind; den anderen Kollegen glaube ich es
auch.


(Zurufe von der CDU/CSU)


Aber wenn, wie wir wissen, auch die allermeisten Ärzte
glauben, Zuwendungen der Pharmaindustrie würden ihr
Verhalten gegenüber dem Patienten nicht beeinflussen,
dann müssen wir doch auch vor der eigenen Tür kehren.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Nein, nein! Sie sind gerade bei fremden Türen, nicht bei eigenen! Das wollen wir mal nicht verwechseln! – Weiterer Zuruf der Abg. Beatrix Philipp [CDU/CSU])


– Ja, ja. Wenn das Verschreibungsverhalten nicht beein-
flusst würde, würde sich die Industrie den Aufwand
doch sparen. Ich denke, sie würde sich auch den Auf-
wand sparen, vierstellige Honorare für Vorträge zu zah-
len, wenn sie sich nichts davon versprechen würden.


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf der Abg. Beatrix Philipp [CDU/CSU])


Wenn im Stadtrat meiner Heimatstadt Emsdetten über
die Schließung einer Grundschule entschieden wird, hat
die Ehefrau des Schulhausmeisters als Ratsfrau den
Ratssaal zu verlassen und darf sich nicht an der Abstim-
mung beteiligen. Aber im Gesundheitsausschuss des
Bundestages stimmen der Ärzteverbandspräsident, der
Klinikaufsichtsrat oder der Berater der Medizintechnik-
branche über Gesetze ab, die Milliarden von Einnahmen
oder Ausgaben für ihre Klientel, für ihre Mitglieder, für
ihre Kunden bedeuten.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Versicherungsvertreter haben Sie noch vergessen!)


Das können Sie doch nicht wirklich ausblenden.


(Beifall bei der LINKEN – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Dürfen Gewerkschaftsmitglieder dann auch nicht mit abstimmen?)


Vielleicht ist diese lange Reihe von Nebentätigkeiten
für Unternehmen und Lobbyverbände ein Grund dafür,
warum sich Ihre Fraktionen so hartnäckig gegen stren-
gere Transparenzregeln im Bundestag gewendet haben
und warum Sie auch seit Jahren verhindern, dass
Deutschland endlich die UN-Konvention gegen Korrup-
tion ratifiziert.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich finde, dieses Haus sollte mit gutem Beispiel voran-
gehen. Was wir von Ärzten erwarten, sollten auch wir
Abgeordnete leisten. Lassen Sie uns gemeinsam die Be-
stechlichkeit von Ärzten und Abgeordneten unterbinden
und die UN-Konvention gegen Korruption endlich ratifi-
zieren!

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721204600

Das Wort hat jetzt die Kollegin Maria Klein-

Schmeink von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-
nen und Kollegen! Ich bin über den Verlauf der Diskus-
sion ein bisschen ernüchtert, gerade vonseiten der Regie-
rungskoalition. Denn Sie blenden den eigentlichen
Aufhänger aus dem SPD-Antrag, den wir heute hier hät-
ten aufnehmen müssen, völlig aus, nämlich die Frage:
Was machen wir, nachdem der BGH entschieden hat,
Korruption und Bestechlichkeit bei niedergelassenen
Ärzten sind mit Mitteln des Strafrechts nicht zu ahnden,
mit dieser Regelungslücke?


(Heinz Lanfermann [FDP]: Das ist keine Regelungslücke! Es gefällt Ihnen nur nicht!)


Dazu haben Sie keinen einzigen Satz verloren, und das
nach der Diskussion, die wir gestern über Patienten-
rechte geführt haben und in der wir über den Schutz des
Arzt- und Patientenverhältnisse sowie über das notwen-
dige Vertrauen geredet haben. Vor diesem Hintergrund
finde ich das mehr als dürftig. Das sei an dieser Stelle
ganz klar gesagt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sie arbeiten sich an einem alten SPD-Antrag ab, der
zugegebenermaßen nicht besonders gut ist.


(Widerspruch des Abg. Dietrich Monstadt [CDU/CSU] – Heinz Lanfermann [FDP]: Wir haben ihn nicht aufgesetzt!)






Maria Klein-Schmeink


(A) (C)



(D)(B)


In ihm wird ein richtiges Thema angesprochen, aber
nicht zwischen Bestechlichkeit auf der einen Seite und
Abrechnungsproblemen und Differenzen zwischen
Krankenkassen und Krankenhäusern auf der anderen
Seite unterschieden.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Ja, da haben Sie recht!)


Das finde ich bedauerlich, weil das die notwendige Klar-
heit, die wir hier brauchen, verunmöglicht.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das stimmt!)


Das ist der große Fehler an diesem Antrag. Trotzdem be-
zeichnet er doch ein richtiges Problem, das jetzt in der
Welt ist.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Aber nicht die richtigen Lösungen!)


Das Problem ist in der Welt; seit Juni dieses Jahres
wissen wir das. Aber Sie gehen auf diesen Tatbestand
nicht ein. Das finde ich wirklich bedauerlich; denn es
geht doch darum: Wie können wir in der Öffentlichkeit
den wichtigen Aspekt klarstellen – und wir als Gesetzge-
ber müssen dafür Sorge tragen –, dass das Arzt-Patien-
ten-Verhältnis eben nicht durch wirtschaftliche Interes-
sen überformt werden darf? Das ist die große Aufgabe,
die wir als Gesetzgeber haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE])


Da reicht die Berufsordnung alleine nicht aus. Die Be-
rufsordnung braucht im Hintergrund ein scharfes
Schwert. Wenn Korruptionsregeln nicht als schärfstes
Schwert im Hintergrund notwendig wären, gäbe es über-
haupt keine in unserem Strafgesetzbuch.

Ich finde es sehr bedauerlich, dass Sie nicht in der
Lage sind, auch nur ansatzweise darauf einzugehen, was
Sie in Bezug auf diese Regelungslücke überhaupt tun
wollen. Nichts sagen Sie dazu, und das finde ich dürftig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Heinz Lanfermann [FDP]: Wo Sie eine Lücke sehen, wo aber keine ist, werden wir nicht tätig! – Gegenruf der Abg. Elke Ferner [SPD]: Die Lücke sind Sie, Herr Lanfermann!)


Die Richter haben sehr eindeutig klargemacht, dass es
eine Regelungslücke gibt


(Heinz Lanfermann [FDP]: Im Strafrecht, aber nicht anderweitig!)


und dass sie mit den vorhandenen Mitteln des Strafrechts
nicht auf einen solchen Fall reagieren können, wie er da
vorgelegen hat.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Weil es andere Möglichkeiten gibt!)


Es ging immerhin um eine Zuwendung in Höhe von
10 000 Euro. Das war ja nun nicht eine Petitesse, son-
dern eine richtig große Summe. Dies war aber strafrecht-
lich nicht zu ahnden.

Jetzt kommen wir einmal zur Berufsordnung, dem In-
strument, das dann gerne ins Feld geführt wird. Was fin-
den wir sowohl in den Berufsordnungen der Ärztekam-
mern in den Ländern als auch in der Berufsordnung der
Bundesärztekammer? Natürlich gibt es dort eine Rege-
lung, die davon spricht, dass es nicht erlaubt ist, Zuwen-
dungen anzunehmen. Das ist das eine. Aber wie ahnde
ich das, und wie setze ich die Berufsordnung um?

Gucken Sie sich doch einmal die Berichte der ver-
schiedenen Ärztekammern darüber an, wie sie mit dem
Berufsrecht umgegangen sind.


(Elke Ferner [SPD]: Ja, Herr Henke, wie machen Sie das denn?)


Dort wird gesagt: Wir können nur dann wirklich tätig
werden, wenn wir auch strafrechtliche Möglichkeiten im
Hintergrund haben. – Wenn man nicht ganz eindeutige
Belege hat, ist es nämlich nicht so einfach, eine Zulas-
sung zu entziehen, weil man damit der betreffenden Per-
son natürlich auch ihre wirtschaftliche Grundlage, ihre
Erwerbsmöglichkeit, entzieht. Eine solche Eindeutigkeit
wird in der Regel durch das Strafrecht und die staats-
anwaltschaftliche Ermittlung erreicht. Diese Regelungs-
lücke haben Sie offengelassen. Hier tun Sie derzeit
nichts, wie man jetzt ja sehen kann. – Das ist der eine
Punkt.

Nächster Punkt. Welche Gemengelage entsteht jetzt
insgesamt? Niedergelassene Ärzte können nicht belangt
werden, Ärzte, die im gleichen MVZ arbeiten, aber dort
angestellt sind, können sehr wohl belangt werden. Kön-
nen wir das als gerecht empfinden? Kann die Bevölke-
rung so etwas als gerecht empfinden? Kann sie es als
gerecht empfinden, dass es im SGB V rechtliche Rege-
lungen gibt, wonach andere Heilmittelerbringer in Re-
gress genommen und mit einem Zulassungsentzug be-
droht werden können? Ein Zulassungsentzug von zwei
Jahren und das Verbot, in dieser Zeit für die GKV tätig
zu werden, ist dort für die „anderen Leistungserbringer“,
aber nicht für die Ärzteschaft vorgesehen. Ist das ge-
recht? Können Sie mir darstellen, inwiefern das Gerech-
tigkeit herstellt? Ich meine, nein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE])


Nach all dem, was ich Ihnen hier jetzt aufgezeigt
habe, sagen Sie: Wir werden nicht tätig. Das finde ich er-
staunlich.


(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Das ist ein Armutszeugnis!)


Wie müssten doch eigentlich in einem gestuften Verfah-
ren vorgehen und auf der ersten Stufe zunächst schauen,
was unsere Stellen gegen Fehlverhalten im Gesundheits-
wesen besser als bisher machen können und welche
Instrumente sie im Hintergrund brauchen, um ihre Er-
mittlungsmöglichkeiten auch tatsächlich umzusetzen.
Jedoch Fehlanzeige bei Ihnen!

Zweite Stufe: Wir müssen schauen, was wir in Bezug
auf die Berufsordnungen machen können. Können wir
hier nachschärfen? Ich höre nichts.





Maria Klein-Schmeink


(A) (C)



(D)(B)


Dritte Stufe. Wir müssen schauen, was wir im SGB V
machen können. Warum stellen wir die Leistungserbrin-
ger und die Ärzteschaft dort nicht gleich?

Vierte Stufe. Wir müssen schauen, was wir beim
Strafrecht machen können. Folgen wir vielleicht dem
Vorschlag, den uns auch der GKV-Spitzenverband vor-
gelegt hat, wonach für alle Leistungserbringer im Ge-
sundheitswesen eine strafrechtliche Norm im SGB V als
besondere Gesetzgebung vorgesehen werden sollte?

Dieses Vorgehen könnte man verantworten und würde
dem Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung und ins-
besondere auch dem Schutz des Vertrauensverhältnisses
zwischen Arzt und Patient gerecht werden. Insofern
würde ein wirklicher Patientenschutz erreicht werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich meine, das ist das Mindeste, das wir nach der Dis-
kussion, die wir gestern über Patientenrechte geführt ha-
ben, auf den Weg bringen müssen.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721204700

Das Wort hat die Kollegin Karin Maag von der CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Karin Maag (CDU):
Rede ID: ID1721204800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja,

es gibt ein BGH-Urteil, und erfreulicherweise wurde da-
rin festgestellt, dass die niedergelassenen Ärzte weder
Amtsträger noch Beauftragte der Krankenkassen sind.
Das ist eine wichtige und zentrale Aussage, und das ist
gut und richtig so.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, und dann?)


– Frau Klein-Schmeink, ich komme zu Ihnen.

Wir wollen, dass sich die Leistungserbringer und die
Kostenträger in diesem System auf Augenhöhe begeg-
nen. Wir wollen vor allem, dass sie sich mit gegenseiti-
gem Respekt begegnen. Deswegen brauchen wir die
niedergelassenen Ärzte als Freiberufler und als selbst-
ständige Partner auch der Patienten und Versicherten in
diesem System – als Partner mit Expertise. Vor allem
– das ist mir ganz wichtig – brauchen wir sie als Vertrau-
enspersonen. So werden sie nämlich von den Versicher-
ten empfunden. Ich bin mir ganz sicher, liebe Frau
Ferner, dass sich die meisten Ärzte und auch alle ande-
ren Leistungserbringer in diesem System als solche Ver-
treter der Versicherten verstehen und dass sie ihre Pa-
tienten gut durch dieses System begleiten wollen.


(Elke Ferner [SPD]: Das hat ja niemand bestritten!)


Ich bin mir genauso sicher, dass auch die Patienten
das so sehen und sehen wollen. Für die Patienten ist
doch ihr Arzt derjenige, der ihnen bei der Beantragung
von Rehamaßnahmen hilft oder mit dem sie ganz intime
Gespräche führen.

Ich glaube, wir alle tun uns keinen Gefallen – jetzt
wende ich mich an Sie, Frau Ferner –, wenn wir dieses
System kaputtreden wollen und quasi einen Kreuzzug


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das will doch keiner!)


gegen einen Berufsstand anfangen. So wird das Ganze
im Moment ja darstellt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Elke Ferner [SPD]: Tun wir doch gar nicht!)


Ich bin mir sehr sicher, dass unser Gesundheitssystem
nur dann funktioniert, wenn es von gegenseitigem Re-
spekt und Vertrauen getragen wird:


(Elke Ferner [SPD]: Deswegen kann man doch keine Korruption zulassen! – Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Deswegen müssen wir Korruption unterbinden! – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist mit Vorteilsnahme?)


gegenüber den Partnern und gegenüber den Patienten.

Gestatten sie mir noch eine Anmerkung zu den Aus-
einandersetzungen in der letzten Zeit zwischen Leis-
tungserbringern und Kostenträgern. Wenn wir dieses
Vertrauen der Patienten und Versicherten erhalten wol-
len, dann sollten sich auch die entsprechenden Selbstver-
waltungspartner entsprechend verhalten.


(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Meinen Sie, Sie kommen mit Appellen gegen 10 000 Euro an?)


Weil wir das Vertrauen brauchen und erhalten wollen,
werden wir mit Augenmaß und einem sehr breiten An-
satz auch schwarze Schafe kenntlich machen müssen. Ja,
es gibt diese schwarzen Schafe. Das bestreitet kein
Mensch.


(Elke Ferner [SPD]: Ach! Das ist ja schon einmal ein Fortschritt!)


– Danke, Frau Ferner. – Diese schwarzen Schafe müssen
wir aufspüren. Wir müssen einen Rahmen dafür vorge-
ben, dass diese schwarzen Schafe der Gemeinschaft der
Versicherten nicht weiter schaden können.

Ich sage das, weil uns heute Gegenteiliges wieder
vorgeworfen wurde, aber vor allem, weil uns das Ver-
trauen der Patienten so wichtig ist: Wir haben in dieser
Legislaturperiode schon einiges dafür getan, dass die Pa-
tienten sicher sein können, dass dann, wenn es um ihre
Gesundheit geht, das Richtige und das Notwendige ver-
ordnet wird.


(Elke Ferner [SPD]: Was ist denn mit den Beispielen? Wollen Sie die Beispiele, die ich Ihnen eben genannt habe, abstreiten?)






Karin Maag


(A) (C)



(D)(B)


Dazu gehört selbstverständlich, dass die Zuweisung
gegen Entgelt verboten ist. Das wird nicht nur in den Be-
rufsordnungen geregelt. Mit dem GKV-Versorgungs-
strukturgesetz haben wir das Verbot der Zuweisung ge-
gen Entgelt für Vertragsärzte seit diesem Jahr im SGB V
sozialrechtlich verankert.


(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Sehr richtig!)


Wir haben im Bereich der Hilfsmittel die entspre-
chenden Regeln


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und die Heilmittel?)


in § 128 SGB V verschärft. Vertragsärzte dürfen sich
deshalb nicht mehr an Gesellschaften von Gesundheits-
handwerkern beteiligen.

Die Anwendungsbeobachtungen, die kritisiert wur-
den, müssen die pharmazeutischen Unternehmen schon
heute nach § 67 AMG anmelden. Sicher kann man hier
über mehr Transparenz reden.


(Elke Ferner [SPD]: Viel Spaß bei Ihrem Koalitionspartner!)


Reden wir von dem, liebe Frau Klein-Schmeink, was
im System noch möglich ist. Vor gut drei Wochen fand
dazu ein Expertengespräch statt. Es ist nicht so, dass wir
uns nicht kümmern. Hier wird immer der Eindruck er-
weckt: Es gibt eine gute und eine schlechte Seite.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dazu haben Sie beigetragen! – Elke Ferner [SPD]: Was haben Sie denn drei Jahre lang gemacht?)


Ich glaube nicht, dass wir das, was im Expertengespräch
herausgekommen ist, heute schon erörtert haben. Dabei
ist herausgekommen, dass die Schwarz-Weiß-Sicht nicht
weiterhilft.

Einer der Experten war der Oberstaatsanwalt der Zen-
tralstelle zur Bekämpfung von Vermögensstraftaten und
Korruption im Gesundheitswesen bei der Generalstaats-
anwaltschaft Frankfurt. Dieser Oberstaatsanwalt merkte
ausdrücklich an, dass ergebnisoffen zu prüfen sei, dass
ein Strukturwandel, wenn er denn notwendig ist, nur mit
der Wirtschaft, mit den Unternehmen selbst erreicht wer-
den könne, und zwar mit effizienten Lösungsansätzen
außerhalb des Strafrechts. Ich empfehle die Lektüre.

Uns geht es, wie gesagt, um diesen breiten Ansatz.
Ich habe die berufs- und sozialversicherungsrechtlichen
Vorschriften genannt. Natürlich müssen auch die Kassen
Verdachtsfälle melden, diesen konkret nachgehen und
dann Konsequenzen ziehen. Ihnen stehen dazu seit 2004
die Einheiten zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Ge-
sundheitswesen zur Verfügung.

Es wurde in dem genannten Expertengespräch darauf
hingewiesen, dass Compliance ein wichtiges Thema ist.
Rechtliche Schulung von Pharmareferenten und Verhal-
tenskodizes, die sicher früherer falscher Vermarktung
entgegensteuern, wurden im Expertengespräch aus-
drücklich als probate Mittel benannt. Die an der New

Yorker Börse gelisteten Pharmaunternehmen – nicht nur
die Pharmaunternehmen, aber auch sie – sind ohnehin
den strengen US-Verhaltensregeln unterworfen. Dort
müssen wir uns den Input holen.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht in Deutschland! – Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Aber doch nicht hier!)


Ich bin durchaus auch für weitere Neuregelungen of-
fen. Ich nehme diese Anregung auch aus der Experten-
anhörung mit. Frau Pfeiffer hat zu Recht auf etwas hin-
gewiesen, was uns zu denken geben muss, nämlich den
falschen Zungenschlag in der Berichterstattung in den
Medien im dem Sinne, dass Korruption im Gesundheits-
wesen nach dem BGH-Urteil erlaubt sei. Das ist ein ver-
heerender Eindruck, der durch diese Berichterstattung
entstand.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Das sind natürlich Dinge, die geeignet sind, das Ver-
trauen der Patienten in dieses System zu erschüttern.

Aber wenn wir jetzt bei den Experten bleiben, und da-
ran halte ich mich, dann geht es um Maßnahmen wie
Ordnungswidrigkeiten nach dem Heilmittelgesetz, die
vorgeschlagen wurden, liebe Frau Klein-Schmeink, oder
nach dem GWB. Das seien die Dinge, die angemessen
und sinnvoll seien. Das wird nicht von mir vorgeschla-
gen, sondern vom genannten Oberstaatsanwalt. Ich bin
auch davon überzeugt, dass man die Kontrollen im Be-
reich der Ordnungswidrigkeiten in Zusammenarbeit mit
den Kammern effizient und effektiv ausgestalten muss.


(Abg. Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Frau Klein-Schmeink hat eine Frage. Ich würde sie
auch zulassen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721204900

Bitte schön, Frau Klein-Schmeink.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Maag, Sie haben dankenswerterweise die Pro-
bleme durchaus wenigstens angesprochen. Ich möchte
Sie fragen, ob es nicht richtig wäre, dass man auf der ei-
nen Seite im SGB V entsprechend dem Umgang mit den
anderen Leistungserbringern Regelungen gegen uner-
laubte Zuwendungen schafft – das ist das eine – und auf
der anderen Seite für die Verfolgung und Ahndung solch
unerlaubter Zuwendung eine strafrechtliche Hürde ein-
führt, damit man sagen kann: „Das ist nicht erlaubt und
wird letztendlich auch geahndet“?


Karin Maag (CDU):
Rede ID: ID1721205000

Frau Kollegin Klein-Schmeink, da will ich Ihnen

auch aus der Expertenanhörung mit den Worten der Frau
Pfeiffer antworten.





Karin Maag


(A) (C)



(D)(B)



(Dr. Marlies Volkmer [SPD]: Sie hatten einen Experten aus dem Bereich! Andere sahen das anders!)


Die sagt tatsächlich – ich finde das auch differenziert
und richtig –, dass es als Ultima Ratio durchaus möglich
sein kann, wenn wir es anders nicht in den Griff bekom-
men, dass wir uns strafrechtliche Sanktionen überlegen
müssen – Ultima Ratio! Ich hoffe, ich habe damit Ihre
Frage ausreichend beantwortet.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir kommen darauf zurück!)


Ich will nun zum Ende kommen und wiederholen,
dass wir mit diesem ruhigen und breiten Ansatz auf dem
richtigen Weg sind. Für mich ist zentral wichtig, dass wir
darauf achten, dass dieses gute System weiterhin das
Vertrauen der Patienten verdient. Wir setzen uns dafür
ein, dass sich die Leistungserbringer und die Kostenträ-
ger mit Achtung und gegenseitigem Respekt begegnen
und so die Basis für vertrauensvolle Zusammenarbeit
schaffen, ohne die es gar nicht möglich ist, schwarze
Schafe zu definieren und dann auch zu bestrafen. Wir
werden dieses Expertengespräch in Ruhe auswerten und
dann auch möglichen Handlungsbedarf definieren.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir kommen darauf zurück!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721205100

Für die SPD-Fraktion hat jetzt der Kollege Dr. Edgar

Franke das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Edgar Franke (SPD):
Rede ID: ID1721205200

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Unser Antrag „Korruption im Gesundheitswe-
sen wirksam bekämpfen“ ist jetzt genau zwei Jahre alt.
Der Antrag ist aktueller denn je. Als wir den Antrag ein-
gebracht haben, sagten einige, er sei überflüssig. Herr
Lanfermann hat es eben noch einmal bestätigt. Er hat ge-
sagt, es gebe keine nennenswerte Korruption im Ge-
sundheitswesen. Später wurde gesagt, der Antrag sei
überflüssig, da bald alle Rechtsfragen in einer höchst-
richterlichen Entscheidung beschieden würden. Frau
Klein-Schmeink hat jedenfalls ein bisschen in diese
Richtung argumentiert.

Nun hat der BGH im März dieses Jahres entschieden,
dass Schmiergeldzahlungen an niedergelassene Ärzte
straflos sind. Der BGH hat in diesem Fall selbst nach
einjährigem Suchen keinen Paragrafen gegen die Kor-
ruption im Gesundheitswesen gefunden. Der BGH sagt
ausdrücklich – man kann es nicht oft genug wiederho-
len –, es sei Aufgabe des Gesetzgebers, „zu befinden, ob
die Korruption im Gesundheitswesen strafwürdig ist und
durch Schaffung entsprechender Straftatbestände eine
effektive strafrechtliche Ahndung ermöglicht werden
soll …“.


(Elke Ferner [SPD]: Aha, Herr Lanfermann! Hören Sie mal genau hin!)


Das heißt im Klartext – ich fasse es noch einmal zu-
sammen –: Der BGH ist offenbar der Meinung, Herr
Lanfermann: Erstens. Es gibt Korruption im Gesund-
heitswesen. Zweitens. Korruption im Gesundheitswesen
ist derzeit nicht strafwürdig. Drittens. Eine effektive
strafrechtliche Behandlung der Korruption im Gesund-
heitswesen ist derzeit nicht möglich.

Die BGH-Entscheidung, Herr Lanfermann, wird übri-
gens von allen Fachleuten als Aufforderung an den Ge-
setzgeber verstanden,


(Heinz Lanfermann [FDP]: Es heißt doch „ob“!)


eine Gesetzeslücke zu schließen. Genau das fordert die
SPD in ihrem Antrag, meine sehr verehrten Damen und
Herren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Heinz Lanfermann [FDP]: Sie haben doch richtig zitiert! „Ob“!)


Deswegen ist dieser Antrag alles andere als überflüssig.
Es gibt für diese Regierung überhaupt keinen Grund, in
dem Fall nicht tätig zu werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Es ist niemandem zu erklären – das hat Frau Ferner
schön dargelegt –, dass ein angestellter Arzt, wenn er ge-
schmiert wird, strafrechtlich zur Verantwortung gezogen
werden kann, dass dagegen dem niedergelassenen Kolle-
gen – vielleicht arbeitet er sogar im selben MVZ – gar
nichts passiert. Das versteht kein Mensch bei uns in
Deutschland.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ein freiberuflicher Arzt kann selbst dann nicht be-
straft werden, wenn er beispielsweise im Bereich Onko-
logie, also im Bereich der Krebsbehandlung, bei der es
um Leben und Tod geht, Schmiergeld nimmt. Er kann
selbst dann nicht bestraft werden, wenn er aufgrund von
Schmiergeldzahlungen Medikamente verschreibt, die
vielleicht schlechter wirken und vielleicht sogar noch
teurer sind. Auch das versteht kein Mensch in Deutsch-
land.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich hatte Gelegenheit, mit dem stellvertretenden Ge-
neralstaatsanwalt der USA, James Cole, ein persönliches
Gespräch zu führen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Ui!)


Er sagte, in den USA wäre auch ein solches Verhalten
„absolutely illegal“. Ich glaube, was in den USA illegal
ist, muss auch in Deutschland illegal sein, meine sehr
verehrten Damen und Herren!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Zurufe von der FDP: Oh! Todesstrafe! – Schwangerschaftsabbruch, oder was?)






Dr. Edgar Franke


(A) (C)



(D)(B)


Ich glaube, die Straflosigkeit eines solchen Verhaltens
kann man wirklich niemandem erklären. Im Übrigen
muss man auch die volkswirtschaftlichen Schäden nen-
nen, ganz zu schweigen von den Schäden für die Kran-
kenkassen und damit für die Beitragszahler. Wir wissen:
Ein Kassenarzt löst durch sein Tun vom Rezept bis zur
Krankenhauseinweisung im Schnitt fünfmal so hohe
Kosten aus, wie er an Honoraren bekommt. Und: Die
Liste der Abhängigen ist lang. Dazu gehören der ortho-
pädische Schuhmachermeister, der Augenoptiker, das
Sanitätshaus und der Hörgeräteakustiker. Da fließt Geld,
es werden Verordnungspauschalen gezahlt, und, was viel
schlimmer ist, es fehlt vor allen Dingen bei den handeln-
den Akteuren an Unrechtsbewusstsein.

Zuweisungen gegen Entgelt hat auch die Bussmann-
Studie der Uni Halle-Wittenberg ausdrücklich belegt.
20 Prozent der Ärzte haben gesagt, Zuweisungen gegen
Entgelt seien gängige Praxis. Auch das hat Frau Elke
Ferner genannt.


(Elke Ferner [SPD]: 20 Prozent! Das sind ja keine Peanuts!)


Nun wird verschiedentlich angemerkt – auch heute
wieder –, es gebe zwei Gründe, die dagegen sprächen:
zum einen die standesrechtliche Berufsordnung der
Ärzte und zum anderen die Regelungen im SGB V, die
es in der Praxis angeblich verbieten, finanzielle Zuwen-
dungen anzunehmen. Aber wie ist die Praxis? Im Ge-
sundheitsausschuss haben wir erfahren: Es gibt ganz we-
nige Verfahren im Rahmen der Berufsordnung. Zudem
folgen auf die Vorschriften des SGB V keine Sanktio-
nen. Auch Verfahren gemäß der Berufsordnung folgen
keine Sanktionen,


(Elke Ferner [SPD]: Aha, Herr Henke!)


jedenfalls gibt es in der alltäglichen Praxis keine Sank-
tionen. Es gibt deswegen keine Sanktionen, weil zum
Beispiel der Entzug der Approbation ein Grundrechts-
eingriff ist. Wenn es keine staatsanwaltschaftlichen Ver-
fahren gibt, dann gibt es auch keine Verfahren der Ärzte-
kammer. Hier beißt sich nämlich die Katze in den
Schwanz.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Auch deswegen brauchen wir eine rechtliche Grundlage,
um hier Klarheit zu schaffen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, alle Patienten in
Deutschland müssen sicher sein, dass bei Entscheidun-
gen der Ärzte, etwa bei Verordnungsentscheidungen,
keine monetären Gründe, sondern allein medizinische
Gründe eine Rolle spielen. Auch deshalb muss die Poli-
tik handeln.

Es war hier schon davon die Rede, dass ein falscher
Zungenschlag aufkomme, und es wurde gesagt, Frau
Maag, wir würden einen Kreuzzug gegen die Ärzte füh-
ren. Ich glaube, das ist dummes Zeug. Wir brauchen und
wollen keine Lex Ärzte. Wir wollen auch keine Lex
Pharmaindustrie. Wir wollen unser Gesundheitswesen
schützen. Das ist unser Ziel.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir wollen speziell die Effizienz unseres Gesundheits-
wesens schützen. Deshalb brauchen wir eine Abschre-
ckung gerade für diejenigen, die bewusst das System
ausnutzen. Wir brauchen eine Strafrechtsnorm für das
Gesundheitswesen, die die Patienten, den fairen Wettbe-
werb – er ist die Grundlage für die Effizienz –, die Leis-
tungsträger und die Ärzte schützt.

In der Debatte wurde sowohl von Herrn Lanfermann
als auch von Frau Maag das Bild vom schwarzen Schaf
benutzt. Man muss ganz klar sagen: Ein Arzt, der be-
trügt, schädigt seine Kollegen.


(Elke Ferner [SPD]: Wohl wahr! – Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Genau!)


Warum schädigt er seine Kollegen? Es gibt nämlich eine
Gesamtvergütung. Derjenige, der schummelt, schädigt
die ordentlich abrechnenden Ärzte. Deswegen ist eine
solche Vorschrift im Interesse der Ärztinnen und Ärzte.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn man jetzt nicht handelt, ist das kein Etappen-
sieg der Freiberuflichkeit, wie es der eine oder andere
Verband nennt, sondern vielmehr eine Legitimierung der
Korruption im Gesundheitswesen. Deshalb fordern wir
die Bundesregierung auf, zu handeln. Unsere Vorschläge
sind die richtige Antwort. Es ist kein Schaufensterantrag.
Es ist ein Antrag, der dafür sorgt, dass wir unser gutes,
effizientes Gesundheitswesen in Deutschland behalten.
So wird ein Schuh daraus.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721205300

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Erwin Lotter von

der FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Erwin Lotter (FDP):
Rede ID: ID1721205400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Franke,
Ihr Antrag ist zwar schon zwei Jahre alt, aber er ist in der
Zwischenzeit auch nicht besser geworden. Der BGH hat
dem Gesetzgeber nur aufgetragen, zu prüfen, ob er
Handlungsbedarf sieht. Er hat nicht das Ergebnis vorge-
geben.


(Elke Ferner [SPD]: Was haben Sie denn geprüft?)


Wir sind im Gegensatz zu Ihnen der Meinung, dass die
bisherigen Rechtsgrundlagen einschließlich Berufsrecht
durchaus ausreichen. Ich will das, was Sie zuletzt sagten,
aufgreifen: Wenn ein Arzt schummelt, also Abrech-
nungsbetrug begeht,


(Elke Ferner [SPD]: Ah! Das ist nur schummeln bei Ihnen! – Zuruf vom BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Das können Sie einmal erläutern!)






Dr. Erwin Lotter


(A) (C)



(D)(B)


dann ist es jetzt schon möglich, das strafrechtlich zu
würdigen.

Es ist erstaunlich, wie die Opposition, namentlich die
SPD, immer wieder versucht, bereits erledigte Themen
zu exhumieren und in aller Ausführlichkeit noch einmal
durchzuprügeln. Langsam macht sich nicht nur bei mir
Ärger darüber breit, dass sich die Sozialdemokraten
nicht den wirklich wichtigen Anliegen der Gesundheits-
politik widmen. Stattdessen werden alte Kriegsbeile
wieder aus dem Archiv geholt und Zank angezettelt,
ohne dass hierfür ein erkennbarer Anlass besteht.

Vor noch nicht einmal einem halben Jahr haben wir
hier im Plenum im Rahmen einer Aktuellen Stunde auf
Antrag der SPD diskutiert. In dieser Debatte wurde der
Ärzteschaft im Wege des Generalverdachts durchaus un-
terstellt, an allen Ecken und Enden der Korruption ver-
fallen zu sein. Ein entsprechender Antrag wurde nicht
nur im Gesundheitsausschuss abgelehnt. Am gleichen
Tag, dem 25. April, hat auch der Rechtsausschuss mehr-
heitlich entschieden, diesen Antrag abzulehnen.


(Zuruf von der SPD: Leider!)


Seither gibt es keinen neuen Sachstand. Weder wur-
den neue Zahlen vorgelegt, die die Unterstellungen der
Opposition untermauern könnten, noch hat es ein neues
Gerichtsurteil gegeben, auf das sich die SPD berufen
könnte.


(Zuruf der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE])


Nichts dergleichen. Wieder sitzen wir hier und reiten ein
totes Pferd.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Ich kann mir das nur dadurch erklären, dass sich die
Sozialdemokraten die Ärzteschaft als Lieblingsgegner
auserkoren haben


(Elke Ferner [SPD]: Oh! Das ist aber wichtig!)


und alles versuchen, um dieser ungeliebten Berufs-
gruppe endlich etwas auf die Mütze zu geben. Allein,
Ihre Behauptungen, meine Damen und Herren von der
SPD, haben keine belastbare Basis.


(Elke Ferner [SPD]: Selbst Ärzte finden das nicht in Ordnung, wenn Kollegen korrupt sind! – Gegenruf des Abg. Heinz Lanfermann [FDP]: Frau Ferner, Sie dürfen gar keine Zwischenrufe machen, weil Sie nie im Gesundheitsausschuss dabei sind!)


– Frau Ferner, wenn Sie schon Zwischenrufe machen,
dann machen Sie doch wenigstens intelligente. Das
würde die Debatte voranbringen.


(Beifall bei der FDP)


Im Rechtsausschuss haben die Liberalen klargestellt,
dass selbstverständlich korruptes Verhalten von Medizi-
nern nicht geduldet werden kann. Erneut muss ich darauf
verweisen, dass die ärztliche Berufsordnung dies auch
kodifiziert hat. In § 31 der bundesweit gültigen Bestim-
mungen ist geregelt:

Ärztinnen und Ärzten ist es nicht gestattet, … für
die Verordnung oder den Bezug von Arznei- oder
Hilfsmitteln … ein Entgelt oder andere Vorteile zu
fordern, sich … gewähren zu lassen.

Auch wenn die Ärzte, wie der BGH eindeutig festge-
stellt hat, keine Adressaten der Strafvorschriften wegen
Bestechlichkeit sind, ist die Berufsordnung hier eindeu-
tig: Korruptes Verhalten bei Ärzten wird nach wie vor
konsequent verfolgt.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eben nicht!)


Dessen ungeachtet wirft die SPD zwei Sachen undif-
ferenziert in einen Topf: Korruption und Falschabrech-
nungen. Dass es gerade im Bereich der Krankenhäuser
zuweilen zu falschen Abrechnungen kommt, ist unbe-
stritten. Aber die Rechtsexperten der Opposition sollten
sich schon darüber klar sein, dass eine Strafverfolgung
nur bei einer Vorsatztat in Betracht kommt, es sei denn,
die Fahrlässigkeit ist schon eindeutig strafbewehrt, was
sich aus § 15 StGB ergibt.

Bei falschen Krankenhausabrechnungen muss diffe-
renziert werden, ob diese systematisch fehlerhaft erfolg-
ten und eine betrügerische Absicht dahinter steht. Ande-
renfalls kann es sich auch um ein Versehen handeln. Ich
räume gerne ein, dass es in diesem Bereich hier und da
auch einmal zur Schlamperei kommen kann. Das liegt
aber auch daran, dass es bei Abrechnungen häufig an ei-
ner eindeutigen Systematik fehlt. Manchmal handelt es
sich um unterschiedliche Abrechnungsmöglichkeiten im
Rahmen der diagnosebezogenen Fallgruppen; da ist das
Fehlerspektrum sehr breit.

Möchten Sie, meine Damen und Herren von der SPD,
bei Ihrem Ruf nach neuen Vorschriften vorschlagen,
dass auch fahrlässige Falschabrechnungen zu sanktionie-
ren seien? Fahrlässig handelt, wer objektiv seine Pflich-
ten verletzt und dies nach seinen eigenen Kenntnissen
vorhersehen und vermeiden konnte. Wer eine unkorrekte
Abrechnung einreicht, muss dabei erkannt haben, dass er
gegen seine Pflicht gegenüber der Krankenkasse ver-
stößt. Versuchen Sie bitte einmal, sich in den Kranken-
hausbetrieb mit seiner Unzahl von Vorgängen und Ab-
rechnungen hineinzuversetzen. Die Ärzte leiden ohnehin
dank der Gesundheitspolitik der SPD unter der Last der
Bürokratie.


(Elke Ferner [SPD]: Seit wann sind wir in der Regierung? Dann schaffen Sie doch die Bürokratie ab! Sie regieren doch!)


Es passt ins Ärztebild der SPD, wenn sie meint, die
Mediziner für mögliche Fehler bei der Ausführung der
Bürokratie auch noch mit der Keule des Strafrechts be-
drohen zu müssen. Aber wundern müssen wir Liberale
uns über diese Auffassung schon lange nicht mehr.


(Elke Ferner [SPD]: Vor allem seit die FDP den Minister stellt!)


Auch wenn ich selber kein Jurist bin, so ist mir doch
aus Gesprächen mit zahlreichen Kolleginnen und Kolle-
gen der Grundsatz vertraut, dass bereits geregelte Sach-
verhalte nicht nochmals geregelt werden müssen. Dieser





Dr. Erwin Lotter


(A) (C)



(D)(B)


Grundsatz hebelt die Forderung der SPD, neue Straf-
rechtsvorschriften einzuführen, eindeutig aus. Das war
vor einem halben Jahr so, und das ist heute nicht anders.

Lassen Sie mich zum Abschluss eines deutlich sagen:
Ich verwehre mich dagegen, dass die Liberalen aus-
schließlich als Lobbyisten der Ärzteschaft dargestellt
werden,


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das haben Sie gerade wieder bewiesen!)


die vor Problemen in ihren eigenen Reihen die Augen
verschließen. Ich bin selber Arzt und kann Ihnen versi-
chern, dass wir um ein faires und positives Bild unseres
Berufsstandes bemüht sich. Das Wichtigste für uns sind
eine gute, innovative Patientenversorgung und das nach-
haltige Bemühungen um die Gesundheit der Bevölke-
rung. Entscheidend hierfür ist ein Vertrauensverhältnis
zwischen dem Arzt und den Patienten.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Keineswegs fehlt es den Ärzten, wie die SPD unter-
stellt, an einem Unrechtsbewusstsein gegenüber
„schwarzen Schafen“ in ihren eigenen Reihen. Die gibt
es, aber es gibt auch ein moralisches Selbstverständnis
bei der übergroßen Mehrzahl der Ärzte, dass Fehlverhal-
ten geahndet werden muss. Die Ärzte sind sicher keine
„Halbgötter in Weiß“. Sie sind aber auch keine „Halb-
teufel in Weiß“. Wenn die Opposition dies endlich zur
Kenntnis nehmen würde, wäre schon ein großer Schritt
getan, und die heutige Debatte hätte gar nicht erst statt-
finden müssen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721205500

Jetzt hat das Wort die Kollegin Dr. Carola Reimann

von der SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Carola Reimann (SPD):
Rede ID: ID1721205600

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Die Redebeiträge der Koalitionsfraktionen, die wir
hier bislang zu hören bekamen, lassen eine klare Bot-
schaft erkennen. Sie lautet: Von dieser Bundesregierung
ist in Sachen Korruptionsbekämpfung nichts zu erwar-
ten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Heinz Lanfermann [FDP]: Schon der erste Satz ist falsch!)


Wir alle kennen die Fakten; sie wurden in unserem
Antrag schon umfassend genannt. Bis zu 18 Milliarden
Euro gehen den Versicherten jährlich durch Korruption,
Abrechnungsbetrug und Falschabrechnungen verloren.
Noch gravierender sind die gesundheitlichen Gefahren
für die Patientinnen und Patienten, wenn nicht allein me-
dizinische Gründe den Ausschlag für eine Behandlungs-
entscheidung geben.

Das ist für Sie ebenso wenig Anlass, gesetzgeberisch
aktiv zu werden, wie das Urteil und die bemerkenswer-
ten, geradezu auffordernden Worte des BGH im Juni die-
ses Jahres. Einige von Ihnen haben die Worte offensicht-
lich nicht mehr so ganz im Ohr, deswegen zitiere ich:

Es ist Aufgabe des Gesetzgebers,

so das Gericht,

… durch die Schaffung entsprechender Straftatbe-
stände eine effektive strafrechtliche Ahndung zu er-
möglichen.


(Beifall bei der SPD – Elke Ferner [SPD]: Ja! Und was tun Sie?)


Ich frage mich: Wie viele Alarmglocken müssen denn
noch läuten, damit Sie endlich aufwachen?

Es ist nicht so – das ist ja auch angeklungen –, dass
wir uns jetzt das erste Mal mit diesem Thema beschäfti-
gen. Als Braunschweigerin kann ich mich noch gut an
das Urteil des dortigen Oberlandesgerichts Anfang 2010
erinnern. Schon damals ging es um Zuwendungen von
Apothekern, Pharmaunternehmen und anderen Partnern
des Gesundheitswesens an niedergelassene Ärzte. Dies
war letztlich Auslöser für die Rechtsprechung des BGH.

Das Urteil des BGH liegt seit mehr als einem halben
Jahr vor. Es hat weitreichende Folgen, unter anderem
die, dass korruptes Verhalten von Kassenärzten nach gel-
tendem Recht nicht strafbar ist. Dabei muss man sich die
Rahmenbedingungen in unserem Gesundheitssystem vor
Augen führen. Ärztinnen und Ärzte handeln in einem
komplexen Umfeld, mit teilweise schwer durchschauba-
ren und intransparenten Abrechnungssystemen, einem
Umfeld, in dem Milliarden Euro umgesetzt werden, in
dem aber auch Kostendruck herrscht. Der gesunde Men-
schenverstand sagt uns doch, dass solche Rahmenbedin-
gungen leider auch geeignet sind, einen Nährboden für
Korruption zu bieten.


(Elke Ferner [SPD]: Ja!)


Dabei sind Ärzte nicht anfälliger als andere Berufs-
gruppen, aber eben auch nicht automatisch resistent.
Deshalb ist der Dauervorwurf, hier würde ein ganzer Be-
rufsstand unter Generalverdacht gestellt, genauso absurd
wie das Gerede von einer Kultur des Misstrauens, das
wir uns immer anhören müssen. Das sind alles Ablen-
kungsmanöver.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wer zu solchen Vorwürfen greift, dem sind in der Regel
die Argumente ausgegangen.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Man kann sich nicht einigen!)


Wenig überzeugend ist auch Ihr Verweis auf berufs-
rechtliche Regelungen. Ich würde es ja gut finden, wenn
es anders wäre, aber Sie wissen genau, dass diese Rege-
lungen nicht wirksam sind und dass sie, Kollege Lotter,
leider nicht zu einer konsequenten Strafverfolgung füh-
ren. Es fehlen einfach die strafrechtlichen Sanktions-
möglichkeiten.





Dr. Carola Reimann


(A) (C)



(D)(B)


Mir ist bis heute nicht bekannt, ob der Fall, der zum
Urteil des Oberlandesgerichts Braunschweig und letzt-
lich zur Rechtsprechung des BGH geführt hat, berufs-
rechtliche Konsequenzen nach sich gezogen hat. Bei der
Ausschusssitzung im September haben wir im Rahmen
eines Expertengesprächs danach gefragt. Der Vizepräsi-
dent der Bundesärztekammer konnte die Frage zum da-
maligen Zeitpunkt nicht beantworten. Auf eine schriftli-
che Darstellung warten wir noch heute.


(Elke Ferner [SPD]: Tja!)


Wir brauchen eine strafrechtliche Sanktionsmöglich-
keit, denn letztendlich sind Kassen und Ärztekammern
immer auch auf die Zusammenarbeit mit den Staatsan-
waltschaften angewiesen; das sagen alle. Nur, wenn sich
niedergelassene Ärzte bei korruptem Verhalten und Be-
stechung gar nicht erst strafbar machen – also Korrup-
tion gar nicht strafbar ist –, dann wird auch keine Staats-
anwaltschaft tätig werden können.


(Elke Ferner [SPD]: So ist es! – Maria KleinSchmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Ohne Straftatbestand werden Sie diese Probleme nicht in
den Griff bekommen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Kollege Franke und die Kollegin Klein-
Schmeink haben es auch schon angesprochen: Was für
angestellte Ärzte gilt, muss auch für niedergelassene
Ärzte gelten.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! So ist es!)


Tun Sie doch bitte nicht so, als ob die Freiberuflichkeit
oder gar die Freiheit in Gefahr wäre, wenn korruptes
Verhalten wirklich konsequent verfolgt wird. Das ist ge-
nauso absurd wie die anderen Vorwürfe, die wir hier ge-
hört haben.

Wir hatten eine Aktuelle Stunde, das ist richtig, aber
nicht zu unserem Antrag, sondern zum BGH-Urteil.
Minister Bahr hat in dieser Aktuellen Stunde vor gut ei-
nem halben Jahr angekündigt, das Urteil des Bundesge-
richtshofs auszuwerten, zu prüfen, welche Konsequen-
zen aus diesem Urteil zu ziehen seien, und ebenfalls zu
prüfen, wie die weiteren Anregungen des Bundesge-
richtshofs umgesetzt werden könnten.


(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Ja, die prüfen sich doch tot!)


Der Minister hatte seinerzeit gesagt, dass die Konse-
quenzen nicht schon ein paar Tage nach Erlass des Ur-
teils gezogen werden könnten. Aber nun – der Minister
ist leider nicht da – sind schon etliche Tage ins Land ge-
zogen. Der Ausschuss hat sich mehrmals mit diesem
Thema befasst, im Zusammenhang mit unserem Antrag
natürlich, aber auch in Expertengesprächen zum Urteil
des BGH. Alle Fachleute waren sich da einig, dass
Handlungsbedarf besteht. Und was hören wir aus dem

Ministerium? Nichts. Mit jedem Tag, der verstreicht,
rückt die Bundestagswahl näher. Damit blüht der Kor-
ruptionsbekämpfung das gleiche Schicksal wie der Ein-
führung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs oder
dem Härtefallfonds, nämlich: keine Lösung in dieser Le-
gislaturperiode.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Kolleginnen und Kollegen, wer unseren Antrag „Kor-
ruption im Gesundheitswesen wirksam bekämpfen“ ge-
nau gelesen hat, der weiß, dass es eben nicht um einen
Generalverdacht geht. Es geht auch nicht um die Freibe-
ruflichkeit der Ärzte, die Union, FDP und auch einige
Ärztefunktionäre sehr hoch halten


(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Wie eine Monstranz!)


und vielleicht mehr lieben als mancher Arzt oder man-
che Ärztin, die ich vor Ort treffe.

Wir haben ein Ziel, und das ist der Schutz der Patien-
tinnen und Patienten. Deshalb brauchen wir eine wirk-
same Bekämpfung von Korruption und Fehlverhalten im
Gesundheitswesen, sodass die Patientinnen und Patien-
ten sicher sein können, dass sie wirklich das bekommen,
was medizinisch begründet ist. Deshalb bitte keine Aus-
reden mehr, bitte keine Ablenkungsmanöver mehr!


(Elke Ferner [SPD], an die CDU/CSU und die FDP gewandt: Sagen Sie doch einfach: Wir wollen es nicht!)


Gehen Sie das Problem endlich an! Unser Antrag ist der
richtige Weg dahin.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den letzten Satz lassen wir mal weg! Aber ansonsten ist es gut!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721205700

Das Wort hat jetzt der Kollege Dietrich Monstadt von

der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie können jetzt noch richtig was gutmachen!)



Dietrich Monstadt (CDU):
Rede ID: ID1721205800

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Meine Damen und Herren! Zum wiederholten Mal
diskutieren wir heute den Antrag der SPD zur Korrup-
tionsbekämpfung im Gesundheitswesen. Aber auch Wie-
derholungen über zwei Jahre hinweg, meine Damen und
Herren von der SPD, sind nicht geeignet, uns hier zu
überzeugen. Frau Kollegin Klein-Schmeink, ich bin
gerne bei Ihnen, wenn Sie den Antrag für nicht beson-
ders gut halten.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber der Ansatz war richtig!)






Dietrich Monstadt


(A) (C)



(D)(B)


Meine Damen und Herren, ich bin nach wie vor der
festen Überzeugung: Weder der niedergelassene Arzt
noch der Apotheker oder der Krankenhausdirektor in
Deutschland steht morgens mit dem Vorsatz auf, sich wi-
der besseres Wissen korrupt zu verhalten, Patienten und
dem Gesundheitssystem bewusst zu schaden oder sich
persönliche Vorteile zu verschaffen.


(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Sie verallgemeinern! Das ist eine völlig unzulässige Verallgemeinerung!)


Diese meine Überzeugung kann von Ihnen auch heute,
in dieser Debatte, nicht erschüttert werden.

Mit Ihrem Antrag, meine Damen und Herren von der
SPD, stellen Sie die Ärzteschaft und das Gesundheits-
system in Deutschland unter Generalverdacht.


(Elke Ferner [SPD]: Das ist absurd, was Sie erzählen!)


Sie, Frau Kollegin Ferner und Frau Dr. Reimann, bilden
die Spitze dieser Bewegung mit Ihren unqualifizierten
und undifferenzierten Behauptungen in Bezug auf Kor-
ruptionstatbestände


(Elke Ferner [SPD]: „Unqualifiziert“ ist Ihre Rede!)


und die angebliche Höhe der Fallzahlen. Sie zeichnen
das nicht zutreffende Bild des gierigen Arztes. Damit
treiben Sie einen Keil zwischen Arzt und Patient und ge-
fährden das hier zu Recht bestehende Vertrauensverhält-
nis.


(Elke Ferner [SPD]: Wollen Sie die Beispiele bestreiten? – Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Nein, die Korrupten treiben einen Keil!)


Sie tragen die Verantwortung dafür, wenn durch derar-
tige Forderungen die Beziehung zwischen Arzt und Pa-
tient gefährdet wird.

Meine Damen und Herren, Ärzte in Deutschland sind
keine raffgierigen Scharlatane, die den ganzen Tag damit
beschäftigt sind, sich die Taschen vollzumachen


(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Nicht alle, aber einige!)


und das Wohl ihrer Patienten aufs Spiel zu setzen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Die Wirklichkeit sieht anders aus: Ärztinnen und Ärzte
setzen sich umfassend, sieben Tage die Woche, bis zu
24 Stunden am Tag, teilweise unter großer körperlicher
und seelischer Belastung für ihre Patienten ein.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer bestreitet das denn? – Gegenruf des Abg. Max Straubinger [CDU/CSU]: Sie!)


Meine Damen und Herren, wir haben uns bereits mit
dem Antrag der SPD wie auch mit der BGH-Entschei-
dung vom 22. Juni 2012 beschäftigt. Der BGH hat ent-
schieden, dass niedergelassene Vertragsärzte in der

Wahrnehmung ihrer Aufgaben weder Amtsträger noch
Beauftragte der Krankenkassen sind. Insoweit betrifft
dieser Beschluss ausschließlich den strafrechtlichen Be-
reich. Aber nach wie vor macht sich der Arzt, der dem
Patienten einen Gesundheitsschaden zufügt, der Körper-
verletzung strafbar. Nach wie vor ist ein Verhalten des
Arztes, das zu einem Vermögensschaden etwa der Kran-
kenkasse führt, als Untreue gemäß § 266 StGB strafbar.
Der BGH-Beschluss hat daran nichts geändert. Bedeu-
tung entfaltet der BGH-Beschluss nur dort, wo weder ein
Gesundheitsschaden noch ein Vermögensschaden ein-
tritt.

Der BGH-Beschluss bedeutet aber nicht, dass rechts-
freie Räume entstehen und etwa ein Pharmahersteller ei-
nem Kassenarzt für die Verschreibung seiner Produkte
Vorteile gewähren darf. Vielmehr ist die Faktenlage auch
und gerade durch die BGH-Entscheidung gleich geblie-
ben. Fehlverhalten kann und wird geahndet. So bestimmt
etwa die ärztliche Berufsordnung in § 31 Abs. 1, dass es
Ärztinnen und Ärzten nicht gestattet ist, für Patientenzu-
weisungen oder Verordnungen

… ein Entgelt oder andere Vorteile zu fordern, sich
oder Dritten versprechen oder gewähren zu lassen
oder selbst zu versprechen oder zu gewähren.

Die Überwachung dieser Vorschrift der Berufsord-
nung obliegt den Landesärztekammern. Bei Verstößen
als Folge berufsunwürdigen Verhaltens kommen Maß-
nahmen wie Geldbußen bis 50 000 Euro oder Entzug der
Approbation in Betracht.

Sozialrechtlich sind die Kassenärztlichen Vereinigun-
gen durch § 81 a SGB V verpflichtet, Stellen zur Be-
kämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen ein-
zurichten. Sie haben dabei mit den Krankenkassen und
ihren Verbänden zusammenzuarbeiten. Diese Stellen in-
formieren die Staatsanwaltschaft, wenn es einen An-
fangsverdacht auf strafbare Handlungen gibt. Weiter gibt
es die Regelung im Arzneimittelgesetz, die in § 67
Abs. 6 die Anzeige jedweder Anwendungsbeobachtung
vorschreibt. Sozialrechtliche Sanktionen ergeben sich
aus § 128 SGB V; die Kollegin Maag hat auf diese Rege-
lung bereits hingewiesen.

Kassenärztliche Vereinigungen, Ärztekammern und
Kassen können auf wirksame und sinnvolle berufs- und
sozialrechtliche Regelungen zurückgreifen. Anstatt nach
neuen Straftatbeständen zu rufen, sollten wir alle zusam-
men die konsequente Umsetzung der bereits existieren-
den Regelungen fordern. Herr Kollege Dr. Franke, wenn
es keine Verfahren gibt, war die Beweislage offensicht-
lich nicht ausreichend und konnten entsprechende Ver-
fahren nicht durchgeführt werden. Auch das müssen Sie
akzeptieren.

Erlauben Sie mir, mich in der gebotenen Kürze mit
dem SPD-Antrag im Einzelnen auseinanderzusetzen.
Die SPD fordert, im StGB einen Sonderstraftatbestand
zu schaffen. Dieser Punkt des Antrags ist – ich hatte das
bereits ausgeführt – überflüssig. Schon heute wird jede
Korruptionshandlung, auch durch Ärzte, strafrechtlich
sanktioniert. Schon heute kann jedes Fehlverhalten ge-
ahndet werden.





Dietrich Monstadt


(A) (C)



(D)(B)


Der SPD-Antrag fordert weiter, dass „systematische
Falschabrechnungen“ von Krankenhäusern mit spürba-
ren Sanktionen geahndet werden. Falschabrechnungen
im Krankenhaus kommen vor, und das ist nicht korrekt.
Die Systematik, die von der SPD hier unterstellt wird, ist
allerdings nicht belegbar. Ich habe vor diesem Hohen
Haus schon einmal darauf hingewiesen: Es gibt keine
amtliche Statistik über zu hohe Krankenhausabrechnun-
gen. Prüfungen des MDK deuten aber darauf hin, dass
circa 4 Prozent aller Krankenhausabrechnungen Auffäl-
ligkeiten aufweisen oder falsch sind. Die Prüfungen zei-
gen auch, dass bei einigen Häusern Auffälligkeiten be-
sonders gehäuft vorkamen. Es kann aber doch nicht sein,
meine Damen und Herren von der SPD, dass Sie auf-
grund des Handelns einiger schwarzer Schafe den Ruf
der Krankenhäuser ruinieren, indem Sie sie als systema-
tische Falschabrechner bezeichnen. Im Übrigen kommen
Falschabrechnungen sowohl zuungunsten der Kranken-
kassen als auch zuungunsten der Krankenhäuser vor.


(Zuruf von der FDP: So ist das!)


Die SPD fordert weiter die Einrichtung von Schwer-
punktstaatsanwaltschaften bzw. Verwaltungseinheiten
mit sozialrechtlichem Spezialwissen. Bemerkenswert ist
zuallererst, dass Sie damit allen Staatsanwälten der zu-
ständigen Behörden unterstellen, sie würden die ständige
Rechtsprechung des Bundessozialgerichts und des BGH
in Strafsachen nicht kennen. Ich habe bereits in der letz-
ten Debatte darauf hingewiesen, dass Sie zuerst vor Ihrer
eigenen Tür kehren sollten. Niemand wird Sie hindern,
in den von Ihnen geführten Bundesländern schnell und
umfassend tätig zu werden und entsprechende Behörden
einzurichten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Justizverwaltung ist Ländersache. Der Bund kann und
darf hier nicht tätig werden.

Weiterhin verlangt die SPD in ihrem Antrag die Ein-
führung eines besonderen, auf sozialversicherungsrecht-
liche Sachverhalte abzielenden Straftatbestands. Dies ist
ebenfalls überflüssig, das StGB ist auch in diesen Fällen
ausreichend.

Als letzten Punkt schlägt die SPD die Errichtung von
Stellen zur Fehlverhaltensbekämpfung bei den Kranken-
kassen ergänzend zu den Verpflichtungen der Kassen-
ärztlichen Vereinigungen vor. Dieser Ansatz, Fehlverhal-
ten gebündelt zu bekämpfen, ist sicher sinnvoll und
damit das einzig Gehaltvolle des gesamten Antrags. Die
weitere Ausgestaltung dieser Stellen sowie ihre genaue
finanzielle Ausstattung sollten wir gemeinsam weiter im
Blick behalten.

Zusammenfassend bleibt festzuhalten: Das Urteil des
Großen Senats des BGH vom 22. Juni 2012 hat bestätigt:
Niedergelassene Ärzte in Deutschland sind Freiberufler,
und deshalb ist die Beeinflussung des Verordnungsver-
haltens von niedergelassenen Vertragsärzten durch die
Industrie nach StGB nicht strafbar. Als Freiberufler ver-
bietet ihnen ihre Berufsordnung solches Verhalten je-
doch ausdrücklich. Ärzte sollen nach medizinischen Kri-
terien entscheiden, nicht nach finanziellen Interessen der
Krankenkassen oder anderer Beteiligter im Gesundheits-

wesen. Deshalb ist es richtig und wichtig, dass der Arzt
in diesem Land Freiberufler ist. Er ist nicht Angestellter
oder Beauftragter einer Krankenkasse.

Bei den Ärzten eine Spezialregelung einzuführen und
einen Sonderstraftatbestand im StGB zu schaffen, ist
nicht nur überflüssig, sondern stellt Ärzte in Deutsch-
land unter Generalverdacht. Das ist nicht die Politik die-
ser christlich-liberalen Koalition. Ich halte es da gerne
mit Herrn Lanfermann: Wo keine Lücke ist, werden wir
auch nicht tätig.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das habe ich aber ganz anders verstanden!)


Ich bitte Sie, der Beschlussempfehlung des Gesund-
heitsausschusses zu folgen und den Antrag der SPD ab-
zulehnen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Da war Frau Maag aber ein bisschen differenzierter als Sie!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721205900

Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt

hat jetzt das Wort die Kollegin Maria Michalk für die
CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Maria Michalk (CDU):
Rede ID: ID1721206000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lassen Sie mich am Ende dieser Debatte und zu Beginn
meiner Rede etwas Grundsätzliches sagen: Es geht bei
dieser Debatte um Vertrauen.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Darüber sind wir uns doch einig. Das Vertrauen ist ein
ganz wichtiger Kapitalstock. Das gilt grundsätzlich, aber
erst recht im Gesundheitswesen und vor allem im soge-
nannten Arzt-Patienten-Verhältnis.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Recht haben Sie!)


Wer kein Vertrauen in Menschen, in Organisationen
oder in Systeme hat, das heißt, sich überhaupt nicht mehr
auf das Verhalten anderer verlässt oder verlassen will,
der muss in unserer komplexen Welt eigentlich verrückt
werden. In jeder Sekunde unseres Lebens verlassen wir
uns darauf, dass ein anderer etwas richtig macht. Sonst
wäre die Gestaltung unseres Lebens noch viel schwieri-
ger. Und selbstverständlich sind wir Menschen ent-
täuscht, wenn man unser Vertrauen nicht rechtfertigt und
wir auf das falsche Pferd gesetzt haben. Diese grundsätz-
liche Feststellung möchte ich einfach einmal an den An-
fang meiner Rede stellen.

In dieser Debatte über den Antrag der SPD ist mehr-
fach gesagt worden, wie falsch es ist, Korruption, Ab-
rechnungsbetrug und Falschabrechnungen in einen Topf





Maria Michalk


(A) (C)



(D)(B)


zu werfen. Vertrauen hat etwas mit Erwartungen zu tun.
Erwartungen kann man in zwei Kategorien einteilen: Es
gibt Erwartungen, die zwar erfüllbar sind, die aber durch
Fehlverhalten enttäuscht werden. Dazu zähle ich zum
Beispiel den bewussten Abrechnungsbetrug, den es in
unserem Land tatsächlich gibt. Es gibt aber auch Erwar-
tungen, die gar nicht erfüllt werden können. Dazu zähle
ich die Erwartung, dass Menschen keine Fehler machen.
Ich denke hier zum Beispiel an die Falschabrechnung.
Oder will hier jemand behaupten, dass wir Menschen
grundsätzlich fehlerfrei sind und immer alles richtig ma-
chen? Der Unterschied ist, dass bei einem Abrechnungs-
betrug von Anfang an nicht die Bereitschaft besteht, die
Erwartung zu erfüllen und Fehler zu vermeiden. Das
muss man natürlich als verwerflich empfinden.

Der Begriff der Korruption wurde hier mehrfach defi-
niert. Korruption ist aufs Schärfste zu verurteilen; auch
darüber sind wir uns einig.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja schon mal was!)


Leider müssen wir immer wieder feststellen, dass es
auch in unserem Land diese kriminelle Energie gibt. Die
Frage ist, wie viel von diesem Gift unser Land ertragen
kann. Wie lange will man warten? So lange, bis dieses
Gift dem Allgemeinwohl so schadet, dass der Schaden
nicht mehr zu verkraften ist? An diesem Punkt sind wir
nun angelangt.

Wir haben viele Maßnahmen eingeleitet; sie wurden
schon genannt. Ich will sie zum Schluss kurz zusammen-
fassend nennen: Mit den §§ 197 a SGB V und 47 a
SGB XI ist eine Rechtsgrundlage geschaffen worden,
um die verschiedenen Formen von Fehlverhalten im Ge-
sundheitswesen effektiver ahnden bzw. vermeiden zu
können. Ob bei den gesetzlichen Krankenkassen, den
Pflegekassen, ihren Verbänden oder dem GKV-Spitzen-
verband – überall wurden Stellen zur Bekämpfung von
Fehlverhalten im Gesundheitswesen eingerichtet.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721206100

Frau Kollegin Michalk, die Frau Kollegin Klein-

Schmeink würde Ihnen gerne eine Frage stellen.


Maria Michalk (CDU):
Rede ID: ID1721206200

Bitte schön.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721206300

Bitte schön.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Da Sie so deutlich darauf hinweisen, dass Sie Maß-
nahmen ergriffen haben: Können Sie mir vielleicht sa-
gen, ob auch die Ärzteschaft in den Geltungsbereich des
entsprechenden Paragrafen im SGB V, der Zuwendun-
gen untersagt, einbezogen ist?


Maria Michalk (CDU):
Rede ID: ID1721206400

Liebe Kollegin, Sie wissen, dass wir unterschiedliche

Arbeitsverhältnisse und unterschiedliche Anstellungs-

verhältnisse haben. Darauf sind meine Kollegen, vor
allen Dingen Herr Monstadt, eingegangen. Deshalb müs-
sen wir in diesem Bereich mit unterschiedlichen Instru-
menten arbeiten. Fakt ist aber, dass es in unserem Land
genügend Möglichkeiten gibt, Fehlverhalten zu ahnden
und kriminelle Energie abzustrafen. Ich werde dazu
gleich noch zwei Punkte nennen.


(Elke Ferner [SPD]: Deshalb gibt es auch reihenweise Verfahren! – Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr spannend!)


Ich komme noch einmal auf die Prüfstellen zurück.
Sie wissen, wir haben uns im Gesundheitsausschuss
mehrfach mit ihrer Arbeitsweise auseinandergesetzt. Die
Liste der Fehlverhalten liest sich tatsächlich wie ein
Krimi. Als normal denkender Mensch stellt man sich im-
mer wieder die Frage, wie einfältig oder wie raffiniert
der eine oder andere gewissenlose Zeitgenosse in unse-
rer Gesellschaft ist, um seine eigenen Interessen durch-
zusetzen. Darin sind wir uns doch einig.

Ein Unrechtsbewusstsein zu haben, hat etwas mit Ge-
wissen zu tun. Bei dem einen schlägt das Gewissen wie
eine große, in sich ruhende Uhr; da funktioniert das Ge-
wissen. Leider gibt es in unserer Mitte Zeitgenossen, bei
denen das Gewissen nur leise tickt. Bei ihnen meint
man: Die Uhr steht still. Diese Menschen haben kein Ge-
wissen. Auch darum geht es.

Ich will ein Beispiel nennen: Es ist sicherlich ein ris-
kantes Geltungsbedürfnis, wenn ein junger Mann seinen
Doktortitel erschwindelt. Er wurde dann, unbemerkt von
allen Beteiligten im System, als Falschdoktor eingestellt
und hat längere Zeit in der Psychiatrie gearbeitet. Das ist
tatsächlich geschehen. Aber am Ende wurde er bestraft.

Ein zweites Beispiel: Es steckt sicherlich unfassbare
Habgier dahinter, wenn die Ehefrau eines niedergelasse-
nen Arztes bereits unterzeichnete Rezepte von ihrem ei-
genen Ehemann aus der Praxis stiehlt und jahrelang mit
ihrer Apothekerfreundin Medikamente abrechnet, die
nie verordnet und verkauft wurden. Sie wurden aber ab-
gerechnet; anschließend wurde der Gewinn geteilt. Auch
das ist geschehen; es ist ein Schaden entstanden. Aber
unsere Instrumente haben bewirkt, dass beide bestraft
wurden.

Betrug ist in unserem Land strafbar, und auch wenn
die Mühlen unseres Rechtsstaats gelegentlich sehr, sehr
langsam mahlen – das will ich durchaus eingestehen –,
so steht am Ende doch die Gerechtigkeit. In beiden Fäl-
len gab es eine Verurteilung.

Abgesehen von dem konkreten Schaden für unser Ge-
meinwesen ist nicht zu ermessen, wie groß die menschli-
che Enttäuschung und Verletzungen sind, die – so glaube
ich – bei den Betroffenen und bei den Mitbetroffenen nie
heilen.

Jede Bürgerin und jeder Bürger unseres Landes kann
sich mit einem konkreten Verdacht oder einem glaubhaf-
ten Hinweis auf Fehlverhalten im Gesundheitswesen an
die zuständigen Kranken- und Pflegekassen, an die Ver-
bände oder an den GKV-Spitzenverband wenden. Es





Maria Michalk


(A) (C)



(D)(B)


sind sogar Hinweisgeberformulare entwickelt worden,
um einerseits effizient den Hinweisen nachgehen zu
können und andererseits Vertraulichkeit zu wahren; denn
nicht jeder Verdacht hat sich bestätigt.

Fassen wir zusammen: Wenn Leistungserbringer trotz
Aufklärung öffentlich und weniger öffentlich bekanntge-
wordener Fehlverhalten und trotz des dazu ausgespro-
chenen Strafmaßes immer wieder versuchen, sich per-
sönliche oder institutionelle Vorteile zu verschaffen,
dann gehört das an den Pranger. Noch einmal: Hier sind
wir uns einig.

Wir dürfen aber um Gottes willen nicht alle und alles
in einen Topf werfen. Es ist auch unsere politische Auf-
gabe, immer wieder für die Anerkennung der Leistungs-
erbringer zu werben, die in unserem Gesundheitswesen
Tag und Nacht fachliche Hochleistungen erbringen und
einen uneingeschränkten Einsatz leisten. Neben ihrem
Gehalt verdienen sie unsere Anerkennung


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Anhörung zu diesem Antrag hat deutlich ge-
macht, dass die bestehenden sozialrechtlichen Regelun-
gen zu Fehlverhalten wie etwa die Möglichkeit zum Ent-
zug der Zulassung mindestens so wirksam sind wie die
Debatte über neue Straftatbestände. Wettbewerbsrechtli-
che, sozialrechtliche oder berufsrechtliche Abmahnver-
fahren und die damit verbundenen Strafen wirken. Sie
werden von wirklich Kriminellen aber leider manchmal
als bedeutungslos erachtet. Sie tun es trotzdem nach dem
Motto: Man wird mich schon nicht erwischen.

Daher erinnere ich an die differenzierte Betrachtung,
die in einer alten Volksweisheit sehr gut ausgedrückt
wird und die uns mahnt, nicht alles in einen Topf zu wer-
fen und die Dinge differenziert zu betrachten. Sie lautet:
Nicht sehr groß ist meist die Kluft zwischen Teufelskerl
und Schuft.


(Elke Ferner [SPD]: Das gilt sogar für die Regierung!)


Wir haben in unserem Gesundheitswesen Teufelskerle,
die ihr ganzes Können dafür einsetzen, dass das Leben
von Menschen gerettet wird und dass Menschen geheilt
werden.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich denke,
die Debatte hat gezeigt: Die Regelungen sind vorhanden.
Sie müssen angewendet werden. Deshalb ist es richtig,
dass der Gesundheitsausschuss empfohlen hat, den An-
trag der SPD abzulehnen. Wir als Union werden es tun.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721206500

Vielen Dank, Frau Kollegin Maria Michalk.

Wir haben keine weiteren Wortmeldungen zu diesem
Tagesordnungspunkt, sodass ich die Aussprache schlie-
ßen darf.

Wir kommen nun zur Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zu

dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Kor-
ruption im Gesundheitswesen wirksam bekämpfen“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/9587, den Antrag der Fraktion der So-
zialdemokraten auf Drucksache 17/3685 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind
die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! – Das ist die
Fraktion der Sozialdemokraten. Enthaltungen? – Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Die Be-
schlussempfehlung ist angenommen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind beim Ta-
gesordnungspunkt 45:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vermei-
dung von Gefahren und Missbräuchen im

(Hochfrequenzhandelsgesetz)


– Drucksache 17/11631 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Die Geschäftsfüh-
rer haben diese Zeit vereinbart. Sie sind damit auch alle
einverstanden? – Dann ist das so beschlossen.

Ich kann die Aussprache eröffnen. Als Erster in unse-
rer einstündigen Aussprache hat das Wort unser Kollege
und Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministe-
rium der Finanzen Hartmut Koschyk. Bitte schön, Kol-
lege Hartmut Koschyk für die Bundesregierung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


H
Hartmut Koschyk (CSU):
Rede ID: ID1721206600


Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Meine Kollegin-
nen und Kollegen! Unser Parlament hat heute mit der
Zustimmung zur Freigabe der nächsten Tranchen für
Griechenland ein ganz wichtiges Signal für die Stabili-
sierung der Euro-Zone gesetzt. Mit dieser Plenardebatte
markieren wir einen wichtigen Meilenstein des Master-
plans der Bundesregierung, von CDU/CSU und FDP bei
der Regulierung der Finanzmärkte.


(Beifall des Abg. Ralph Brinkhaus [CDU/ CSU])


Ich möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich bei
den Finanzpolitikern von CDU/CSU und FDP dafür be-
danken, dass sie bei vielen dieser Gesetzesvorhaben eine
wirkliche Schrittmacherfunktion haben, dass sie in ei-
nem guten Ringen mit unserem Haus auf zusätzliche und
schnellere Initiativen drängen. Das ist gut und wichtig.
Für diese Zusammenarbeit möchte ich mich zu Beginn
der Beratung dieses wichtigen Gesetzentwurfes aus-
drücklich bei den Kollegen bedanken.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf schreitet die
Bundesregierung abermals in Europa voran und leistet
einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung der Finanz-





Parl. Staatssekretär Hartmut Koschyk


(A) (C)



(D)(B)


märkte. Wir haben dies beim Verbot von Leerverkäufen
bereits getan. Wir haben dies bei unserem Gesetzentwurf
für die Bankenrestrukturierung inklusive Bankenabgabe
getan. Wir tun dies bei der Finanztransaktionsteuer, wo
es der Bundesregierung gelungen ist, nach einer anfäng-
lichen Unterstützung von nur wenigen Staaten jetzt die
erforderlichen zehn Staaten zu gewinnen, um über ver-
stärkte Zusammenarbeit bei diesem Thema endlich vo-
ranzukommen. Schließlich tun wir dies jetzt auch bei
Maßnahmen zur Einschränkung des Hochfrequenzhan-
dels.

Wir alle wissen, dass sich in den letzten Jahren auf-
grund technologischer Entwicklungen der elektronische
Handel von Finanzprodukten zunehmend ausgeweitet
und an Bedeutung gewonnen hat. Bestimmte Handels-
teilnehmer setzen bei diesem elektronischen Handel al-
gorithmische Handelsprogramme, also Computerpro-
gramme, ein. Die Kauf- und Verkaufssignale erfolgen in
sehr kurzen Abständen von teilweise nur einigen Sekun-
denbruchteilen, und die Titel werden nur für extrem
kurze Zeiträume gehalten. Das versteht man unter Hoch-
frequenzhandel. Der Einsatz dieser computergestützten
Hochfrequenzhandelsstrategien hat die Geschwindig-
keit und die Komplexität des Handels massiv erhöht.
Das birgt natürlich eine Vielzahl von Risiken und Gefah-
ren für die Stabilität der Märkte.

Extreme Börsenszenarien, bei denen in der Vergan-
genheit innerhalb weniger Minuten gravierende Markt-
ausschläge vorkamen, dokumentieren diese Risiken ein-
drucksvoll. Wir haben wiederholt, insbesondere beim
sogenannten Flash Crash im Mai 2010, erleben müssen,
dass der computergesteuerte Hochfrequenzhandel
extreme Kursbewegungen ohne jeglichen Bezug zu real-
wirtschaftlichen Entwicklungen hervorrufen kann. Zu-
gleich eröffnet der Hochfrequenzhandel auch erhebliche
Möglichkeiten zum Marktmissbrauch. Mit dem vorlie-
genden Gesetzentwurf wollen wir diesen Risiken und
Gefahren entgegenwirken.

Natürlich wurde dieses Problem auch auf europäi-
scher Ebene erkannt, und das ist gut so. Es werden ent-
sprechende Regelungen im Rahmen der Überarbeitung
der europäischen Finanzmarktrichtlinie MiFID erörtert,
aber es schadet nichts, wenn auch bei dieser wichtigen
Finanzmarktregulierung Deutschland wieder – ich habe
die Beispiele genannt – voranschreitet, Tempo macht
und die Richtung bestimmt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das Gesetz, das wir heute dem Bundestag zur Bera-
tung vorlegen, ergänzt wichtige nationale und internatio-
nale Regulierungsvorhaben, die bereits auf den Weg ge-
bracht wurden oder sich auf der Zielgeraden befinden.
Ich denke nur an die neuen Vorschriften für außerbörsli-
che Derivategeschäfte, also Geschäfte mit sogenannten
OTC-Derivaten. Ich denke an die Umsetzung von Basel
III. Und ich denke an die Einführung zusätzlicher Kapi-
talzuschläge für systemrelevante Banken. Wir werden all
diese Projekte zügig vorantreiben, um unser Finanzsys-
tem national, europäisch und international robuster und
stabiler zu machen. Das ist ein zentrales Anliegen dieser

Bundesregierung und der sie tragenden Fraktionen von
CDU/CSU und FDP.

Lassen Sie mich den Gesetzentwurf kurz vorstellen:

Er sieht eine Zulassungspflicht für bislang nicht regu-
lierte Hochfrequenzhändler vor. Damit wird eine derzeit
bestehende Aufsichtslücke geschlossen. Erfasst werden
nicht nur unmittelbare Handelsteilnehmer, sondern auch
mittelbare, die über sogenannte Order-Routing-Systeme
an der Börse handeln.

Zudem werden strengere Anforderungen an den
Hochfrequenzhandel gestellt. Die in diesem Markt-
segment tätigen Wertpapierdienstleister und Fondsge-
sellschaften müssen ihre Handelssysteme künftig so um-
gestalten, dass Störungen des Markts unterbleiben.

Darüber hinaus werden die Dokumentationspflichten
erweitert. Künftig müssen alle Änderungen der Handels-
algorithmen dokumentiert werden, um die Arbeit der
Aufsicht, aber auch – das ist für uns genauso wichtig –
die Ahndung von marktmanipulierendem Verhalten zu
erleichtern.

Die Auskunfts- und Eingriffsrechte der Börsenauf-
sicht und der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungen
werden in dem Gesetz konkretisiert, und bestimmte
Handelsstrategien von Hochfrequenzhändlern werden
als Marktmanipulation eingestuft.

Ferner wird eine Pflicht zur Kennzeichnung der Algo-
rithmen eingeführt. Damit wird die Abschaltung der Al-
gorithmen, die fehlerhaft sind oder zur Manipulation der
Märkte eingesetzt werden können, durch Börsenaufsicht
und BaFin erleichtert. So werden die Aufsicht und Steu-
erung noch einmal gestärkt.

Ebenfalls ist in dem Gesetzentwurf eine Verpflich-
tung für Börsenbetreiber vorgesehen, ihren Handelsteil-
nehmern für die exzessive Nutzung der Handelssysteme
eine Gebühr aufzuerlegen.

Eingeführt werden schließlich auch eine Begrenzung
des Verhältnisses von aufgegebenen Orders und tatsäch-
lich ausgeführten Geschäften sowie einheitliche Min-
destgrenzen für die kleinstmöglichen Kursänderungen.

Mit den Mindestpreisänderungsgrößen soll dem
Trend im Wertpapiergeschäft zu immer kleineren Preis-
anpassungen und damit zu immer mehr Geschäftsab-
schlüssen entgegengewirkt werden.

Um Ausweichreaktionen der Marktteilnehmer auf al-
ternative Plattformen, wie zum Beispiel multilaterale
Handelssysteme, zu verhindern, sollen die Regelungen
des Hochfrequenzhandelsgesetzes auch auf diese Sys-
teme erstreckt werden.

Wir begrüßen, dass der Bundesrat diesem Gesetzent-
wurf grundsätzlich positiv gegenübersteht. Er schlägt je-
doch vor, die im Gesetzentwurf vorgesehene Erlaubnis-
pflicht für Hochfrequenzhändler zu streichen. Diesem
Ansinnen können wir nicht entsprechen. Denn die Ein-
führung einer Erlaubnispflicht ist ein wesentlicher Be-
standteil unseres Gesetzentwurfes und dient dazu, beste-
hende Aufsichtslücken zu schließen. Ein Verzicht auf die
Erlaubnispflicht würde zu einer Verminderung der ge-





Parl. Staatssekretär Hartmut Koschyk


(A) (C)



(D)(B)


planten Aufsichtsintensität führen. Deshalb lehnen wir
vonseiten der Bundesregierung das ab.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich darf zusammenfassen: Die neue gesetzliche Rege-
lung, die wir Ihnen heute vorlegen, beseitigt entschei-
dende Schwachstellen, die sich im Zuge der Finanzkrise
aufgetan haben. Es ist gut und richtig, dass die Bundes-
regierung gemeinsam mit den Koalitionsfraktionen von
CDU/CSU und FDP bei diesem Thema, einem wichti-
gen Meilenstein der Finanzmarktregulierung in Europa,
erneut voranschreitet.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721206700

Vielen Dank, Herr Staatssekretär Hartmut Koschyk. –

Nächster Redner für die Fraktion der Sozialdemokraten
ist unser Kollege Dr. Carsten Sieling. Bitte schön, Kol-
lege Dr. Sieling.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Carsten Sieling (SPD):
Rede ID: ID1721206800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Verehrter Herr Staatssekretär, Sie können uns hier in je-
der Rede die Geschichte – man ist ja geneigt, zu sagen:
das Märchen – davon erzählen, was die Koalition schon
alles angefasst und in Gang gebracht hat.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Ihr Kanzlerkandidat hat doch schon vor drei Jahren gesagt, er habe alles erledigt!)


Sie können aber nicht vergessen machen, dass Sie schon
mehr als drei Jahre regieren. Es stellt sich die Frage, wa-
rum Sie bei einem so wichtigen Thema wie diesem erst
jetzt etwas tun.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Wir sind die Ersten in Europa, Herr Sieling!)


Also: Warum erst jetzt?


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Ist das eigentlich Ihre einzige Kritik an dem Gesetzentwurf, oder kommt da auch noch was anderes?)


Der Staatssekretär hat auf ein Ereignis hingewiesen,
das in Ihrer Regierungszeit stattgefunden und in der Tat
die ganze Branche, die ganze Welt aufgeschreckt hat.
Herr Kollege, es handelt sich um den Flash Crash vom
Mai 2010.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Wo?)


Jetzt schreiben wir November 2012.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Wo war das denn? Wo war denn der Flash Crash? In New York!)


Zweieinhalb Jahre brauchten Sie – dieses Ereignis ist ja
in Ihre Regierungszeit gefallen –, um uns Vorschläge
vorzulegen. Das reicht nicht. Das ist armselig. Das ist

keine durchgreifende Finanzmarktregulierung, liebe
Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Richard Pitterle [DIE LINKE] – Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Oh! Das tut jetzt weh!)


Sie sagen jetzt, Sie treiben nun die Finanztransaktion-
steuer voran. Das ist wirklich eine Märchengeschichte.
Wir haben Sie hier zum Jagen tragen müssen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Übrigens ist das erst seit Sommer letzten Jahres Ihre
Auffassung. Auch hier gilt: Wenn es nicht eine aktive
Opposition gegeben hätte – da muss man alle drei Oppo-
sitionsfraktionen einbeziehen –, dann hätten wir das
nicht erreicht. Sie können sich das wirklich nicht ans Re-
vers heften.


(Beifall bei der SPD)


Es bleibt dabei: Sie kommen zu spät – auch in diesem
Falle –, und Ihre Vorschläge sind unzureichend. Es ist
sogar so, dass Sie uns in Wirklichkeit Sand in die Augen
streuen. Sie sagen, Sie würden den Hochfrequenzhandel
einschränken. Wenn Sie ihn wirklich einschränken wür-
den, was notwendig ist, dann müssten Sie anders vorge-
hen. Sie machen nichts anderes, als die Computer, die
Gefahren für die Stabilität der Märkte hervorrufen, neu
anzustreichen; bestenfalls wechseln Sie einen Monitor
aus. Sie müssten aber auch den Mut haben, Geschäfte,
die schädlich sind, abzuschalten. Man kann nicht mit ei-
nem Bummelzug gegen eine Entwicklung in Lichtge-
schwindigkeit anfahren.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Oh! Heute ist der Tag der missglückten Metaphern!)


– Es handelt sich nicht um eine Metapher, sondern um
ein ernstes Problem, Kollege,


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Dann kommen Sie doch auch mal mit ernsten Argumenten! – Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Werden Sie doch mal konkret!)


und zwar um das ernste Problem, dass in Europa mittler-
weile 40 Prozent des Börsenhandels in Form des Hoch-
frequenzhandels abgewickelt werden; in den USA sind
es sogar 70 Prozent.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Na ja!)


Im Kern geht es darum, dass die Computeralgorith-
men, die es gibt – der Staatssekretär hat dies angespro-
chen –, vorher betrachtet und untersucht werden müssen.
Sie schlagen in Ihrem Gesetzentwurf nichts anderes vor,
als hinterher auf Fehlentwicklungen zu reagieren. Das
reicht unseres Erachtens nicht aus. Man muss vorher tä-
tig werden, um Schlechtes und Schlimmes zu verhin-
dern, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Und Sie wissen bestimmt auch, wie!)


– Natürlich. Ich komme gleich darauf zu sprechen, wenn
ich die Vorschläge unserer Fraktion benenne.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Ah!)






Dr. Carsten Sieling


(A) (C)



(D)(B)


Immer wieder werden Gegenargumente angeführt.
Das beliebteste Gegenargument, das von den Börsen-
händlern angeführt wird, ist die Liquidität: Durch den
dynamischen Handel würde Liquidität erzeugt, die man
so dringend braucht. – Jeder Börsenhändler bekommt
bei diesem Wort in der Tat feuchte Augen. Man darf aber
nicht vergessen, dass 90 Prozent der Orders in diesem
Bereich storniert werden. Es sind Scheinaktivitäten, de-
nen entgegengetreten werden muss. Erste Maßnahmen
gibt es an den Börsen selber. Sie aber tun mit Ihrem Ge-
setz nichts dafür,


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Das ist überhaupt nicht wahr! Sie haben es nicht gelesen!)


durchzugreifen; Sie tun nichts dafür, das mit Ihren Vor-
schlägen hinreichend einzudämmen.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Dann gehen Sie auf unseren Vorschlag ein!)


Ich bin ziemlich sicher, Herr Kollege: Wenn wir eine
Anhörung durchführen, wird sehr sauber herausgearbei-
tet werden,


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Aber jetzt wissen Sie es noch nicht!)


dass Ihre Vorschläge an dieser Stelle nicht zureichend
sind.

Wir plädieren in der Tat dafür, Maßnahmen zu ergrei-
fen, diesen Hochfrequenzhandel einzuschränken. Denn
es ist nicht ersichtlich, dass diese explodierenden Märkte
– dieser Bereich hat ja durchaus auch zu der Entwick-
lung von Blasen beigetragen – einen volkswirtschaftli-
chen Nutzen haben. Sie haben wenig Bezug zur Real-
wirtschaft und müssen vor diesem Hintergrund auf den
Prüfstand gestellt werden. Was Sie vorlegen, ist keine
Antwort. Ich will an dieser Stelle noch einmal sagen: Es
verursacht Gefahren, wenn der Handel in Millisekunden
gemacht wird und niemand eine Möglichkeit hat, darauf
zu reagieren.

Sie sehen in Ihrem Gesetz ein paar Maßnahmen vor,
die unseres Erachtens nicht hinreichend sein werden.

Zunächst will ich die Volatilitätsunterbrecher anspre-
chen, die Sie an den Börsen einbauen wollen, um die
Preisschwankungen einzuschränken. Solche Dinge wer-
den an den Börsen schon angegangen. Es käme zu Un-
terbrechungen, die unseres Erachtens nicht hinreichend
sind. Wir meinen, dass zwei wesentliche Maßnahmen er-
griffen werden müssten, wenn man vorher in diesen
Finanzmarkt eingreifen will.

Die Erste. Sie haben gesagt: Wir wollen genehmi-
gen. – Ja, genehmigen ist wichtig. Man braucht ein Zu-
lassungsverfahren für die Algorithmen. Man darf nicht
erst hinterher reagieren, nachdem es Verwerfungen ge-
geben hat. Man braucht einen Stresstest für die gefährli-
chen und komplizierten Computerprogramme. Deshalb
ist es notwendig, systematisch das zu untersuchen, was
sich in den letzten Jahren entwickelt hat. Unser Anliegen
ist: Bevor es zu neuen Flash Crashs kommen kann – die
Aufsicht in den USA hat hundert Fälle von Preisaus-
schlägen oder Preisabstürzen benannt, die dem Markt

schaden –, muss man die notwendigen Informationen
und den Mut haben, gegebenenfalls schädliche Handels-
strategien zu verbieten.

Der zweite Punkt bezieht sich auf die Mindesthalte-
fristen. In dieser Frage ist der Gesetzentwurf leider ganz
dünn; anders kann man es nicht sagen. Schauen Sie doch
nach Australien! Warum ist es möglich, in Australien
Mindesthaltefristen einzuführen,


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Ein großer Finanzplatz! – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Ein großes Land, aber ein kleiner Finanzplatz!)


die bei 2 bis 5 Sekunden liegen? Warum folgen Sie nicht
dem Votum des Europäischen Parlaments? Das Europäi-
sche Parlament votiert dafür, eine Mindesthaltefrist von
einer halben Sekunde einzuführen. Dem haben übrigens
unter anderem die Europaparlamentskollegen von CDU
und CSU zugestimmt. Warum, Kollege Michelbach, ma-
chen Sie das nicht auch hier? Wir brauchen eine Begren-
zung und deshalb Mindesthaltefristen. Das ist aus unse-
rer Sicht ein wichtiger Punkt; denn wir wollen eine
wirkliche Regulierung dieses Bereichs. Wir wollen auch
eine Reduzierung dieses Bereichs auf das wirtschaftlich
Notwendige. Das muss ein Ziel sein. Eine solche Maß-
nahme ist allerdings nur ein Baustein. Sie muss sich in
die anderen Maßnahmen einfügen.

Das Wirkungsvollste – das will ich an dieser Stelle
auch sagen – sind Preissignale, ist die Verteuerung von
Aktivitäten, die keinen wirtschaftlichen Nutzen haben.
Auch wenn es gerade in den Reihen der Koalition hier
und da zu empörtem Aufstöhnen führt:


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Nein, nein! Das kriegen Sie nicht hin, dass wir empört aufstöhnen! Dazu ist die Qualität zu gering!)


Das wirksamste Mittel ist das – Kollege Brinkhaus, Sie
werden uns das nachher wieder erzählen –, was auch Sie
in Ihrer Fraktion lange blockiert haben: eine Finanz-
transaktionsteuer, die die Vorteile, die diese Millisekun-
den bieten, nicht mehr wirksam werden lässt, sondern
mit zusätzlicher Bepreisung marktnahe Signale aussen-
det, die solche Aktivitäten dann unterbinden. Das wird
zur Stabilität der Finanzaktivitäten beitragen.

Da müssen Sie mehr bringen als dieses Gesetz.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721206900

Vielen Dank, Kollege Dr. Carsten Sieling. – Nächster

Redner für die Fraktion der FDP: unser Kollege Björn
Sänger. Bitte schön, Kollege Björn Sänger.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Björn Sänger (FDP):
Rede ID: ID1721207000

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Der 28. Juli 1866 war ein Meilenstein in der Ge-
schichte der Kommunikationstechnik. Was geschah an
diesem 28. Juli 1866?





Björn Sänger


(A) (C)



(D)(B)



(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie werden es uns gleich erzählen!)


– Genau, ich werde es gleich ausführen; Sie brauchen
nicht zu lange gespannt zu sein. – An diesem Tag wurde
das erste Transatlantikkabel zwischen den USA und
Europa in Betrieb genommen. Es ist – es liegt ja noch
da – 9 000 Tonnen schwer –, und es erreichte – man
kann sich das kaum vorstellen – die sagenhafte Daten-
übertragungsrate von 36 Bit pro Sekunde – wir Parla-
kom-Nutzer wissen, wie schnell das ist.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das ist ein wahres Wort, gelassen ausgesprochen! – Heiterkeit des Abg. Ralph Brinkhaus [CDU/ CSU])


Zu der damaligen Zeit war das eine gigantische Investi-
tion. Diese Investition brachte große Veränderungen im
Wirtschaftsleben: Die Märkte wuchsen zusammen,
Preisunterschiede zwischen auf beiden Seiten gehandel-
ten Rohstoffen und Wertpapieren schrumpften, und der
wirtschaftliche Austausch wuchs. Die Kommentatoren
der damaligen Zeit waren sich einmütig einig: Dieses
Kabel ist ein Segen für die Menschheit.

Heute, 146 Jahre später, sticht erneut ein Schiff in
See, um ein Kabel zu verlegen: ein Glasfaserkabel zwi-
schen London und Halifax. Es wird etwa 570 Kilometer
kürzer sein, insgesamt nur noch eine Strecke von
6 000 Kilometern überbrücken. Durch dieses Glasfaser-
kabel sollen ab 2013 ausschließlich Finanzdaten und
Kursinformationen übermittelt werden. Einmal hin und zu-
rück wird 59 Millisekunden dauern – das ist eine Ge-
schwindigkeit von 200 Kilometern pro Millisekunde – und
damit – jetzt kommen wir zu dem Vorteil dieses Glas-
faserkabels – 6 Millisekunden weniger als bislang. Für ei-
nen Vorteil von 6 Millisekunden werden also 6 000 Kilo-
meter Glasfaserkabel verlegt. Daran kann man sehen,
welche wirtschaftliche Bedeutung der Hochfrequenz-
handel hat. Die Investorengruppe, die hinter dieser In-
vestition steht, besteht ausschließlich aus Hochfrequenz-
händlern; sie befördern an dieser Stelle den technischen
Fortschritt.

Heutzutage werden bereits circa 50 Prozent der an
den wichtigsten Börsen durchgeführten Transaktionen
durch Algorithmen abgewickelt, von Maschine zu Ma-
schine. Die Software kann innerhalb von Bruchteilen
von Sekunden Daten nicht nur erfassen, sondern auch
analysieren und dann entscheiden und Transaktionen
ausführen. Entscheidend für diese Systeme sind die
Technik, das Limit und die Geschwindigkeit.

Das macht den Menschen verständlicherweise Angst.
Man fragt sich: Ist das sinnvoll? Braucht man das über-
haupt? Es kommen Gedanken auf, wie das denn ist mit
einem Zug ohne Zugführer oder mit einem Flugzeug
ohne Pilot. Das alles ist technisch möglich; aber ein rich-
tig gutes Gefühl dabei hat man als Nutzer nicht. Diese
Fragen sind berechtigt; das zeigen nicht zuletzt die Flash
Crashs der Vergangenheit.

Im traditionellen Verhältnis Mensch/Maschine braucht
man etwa 1 000 Millisekunden, um manuell in einen

Prozess einzugreifen. Ich sagte anfangs: Für einen Vor-
teil von 6 Millisekunden wird eine gigantische Investi-
tion angeschoben. – Das zeigt eindeutig: 1 000 Milli-
sekunden sind eine unendlich lange Zeit.

Wir brauchen ganz klar Regulierung, wenngleich wir
mit den bestehenden Circuit Breakern oder auch den Ex-
post-Mechanismen zur Stornierung von Orders schon ei-
nen gewissen Schutz haben. Alle die Probleme sind ja
nicht in Deutschland aufgetreten; vielmehr fand – der
Kollege Flosbach hat vorhin sehr richtig dazwischenge-
rufen – der Flash Crash im Mai 2010 in New York statt.
Das zeigt eigentlich, dass wir in Deutschland am Markt
schon sehr gute Schutzmechanismen haben,


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Darum konnten Sie sich so lange Zeit lassen mit dem Gesetz!)


wenngleich wir natürlich noch nachrüsten müssen, was
wir mit dem vorliegenden Gesetz tun.

Auch hier gilt: Wir müssen uns das Ganze ziemlich
genau anschauen, damit wir die guten Seiten, die vom al-
gorithmischen Handel durchaus auch ausgehen,


(Manfred Zöllmer [SPD]: Welche denn?)


von den Problemen trennscharf unterscheiden können.
Finanzprodukte sind Dual-Use-Güter, vergleichbar ei-
nem Unimog, der im Winter ein sehr sinnvolles Fahr-
zeug zum Räumen der Straßen ist, aber eben auch in
Kriegseinsätzen einsetzbar ist.


(Beifall der Abg. Dr. Birgit Reinemund [FDP])


Jetzt komme ich zu den, wohlgemerkt, guten Eigen-
schaften des algorithmischen Handels. Der Hochfre-
quenzhandel ist eine Teilmenge – Sie als Sozialdemokra-
ten haben mit Sicherheit Mengenlehre in der Schule
gehabt – des algorithmischen Handels.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Die Mengenlehre ist von den Sozialdemokraten erfunden worden!)


Er wird unter anderem von großen Kapitalsammelstellen
eingesetzt, von Fonds, die zum Beispiel Mittel für die
Altersvorsorge verwalten. Wenn sie größere Aktienpa-
kete in den Markt hineingeben, dann machen sie das
nicht auf einmal, sondern da wird ein entsprechender Al-
gorithmus eingesetzt, der das Aktienpaket sozusagen
kurspflegend abstößt, genauso wie man natürlich auch
kurspflegend ankauft. Das ist zumindest aus meiner
Sicht ein sehr sinnvoller Einsatz des algorithmischen
Handels.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Das ist aber kein Hochfrequenzhandel!)


– Das ist kein Hochfrequenzhandel; das ist richtig. Aber
der Hochfrequenzhandel ist eine Teilmenge des algorith-
mischen Handels.

Die Strategien des Hochfrequenzhandels werden im-
mer komplexer und lasten die Systeme immer mehr aus.
Es kommt zu einer Überlastung. Es kommt möglicher-
weise auch zu einer stärkeren Volatilität. Es kommt zu
einer Missinformation zwischen vermuteter Liquidität
und tatsächlich am Markt vorhandener Liquidität, weil





Björn Sänger


(A) (C)



(D)(B)


über bestimmte Strategien sehr schnell Orders gestellt
werden, die dann gar nicht zur Ausführung kommen.
Der faire Handel wird beeinträchtigt. Es kommt zu einer
Art technischem Insiderhandel, weil die Informationen
zwar zur Verfügung stehen, aber eigentlich nur derje-
nige, der über die entsprechenden Systeme verfügt, diese
auch nutzen kann.

Wir als Koalitionsfraktionen haben gesagt – Staatsse-
kretär Koschyk hat das gerade sehr richtig ausgeführt –:
Wir wollen im Vorgriff auf das, was auf europäischer
Ebene mit der MiFID kommt, voranschreiten und schon
einmal ein paar Punkte festlegen. Das sind im Wesentli-
chen vier Punkte:

Wir schaffen zum einen die Zulassungspflicht für
Hochfrequenzhändler. Wir werden die Definition des Ei-
genhandels erweitern. Es wird eine Erlaubnispflicht ge-
ben, und die entsprechenden Herrschaften werden zu-
künftig von der BaFin beaufsichtigt werden.

Wir schaffen, zweitens, Sorgfaltspflichten. Die Sys-
teme dürfen den normalen Handel nicht stören. Es wird
Gebühren für eine exzessive Systemnutzung geben. Des
Weiteren wird es eine Verpflichtung geben, dass es zu ei-
nem angemessenen Verhältnis zwischen eingestellten
Aufträgen und tatsächlich ausgeführten Aufträgen kommt.
Es wird eine Veränderung der Mindestpreisänderungs-
größe geben, um die hohe Frequenz zu reduzieren.

Wir werden drittens Transparenz schaffen. Es wird
eine Trader ID geben, damit man nicht mit geschlosse-
nem Visier agieren kann. Wer am Markt handelt, muss
klar sagen, wer er ist. Die Software und der Algorithmus
werden dokumentiert werden müssen, damit man, wenn
es Probleme gibt, darauf zurückgreifen und auch eingrei-
fen kann. Dafür werden wir die Börsenaufsicht und die
BaFin mit entsprechenden Auskunftsrechten ausstatten.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Weiterhin werden marktmissbräuchliche Handelsstra-
tegien – damit kommen wir zum vierten Punkt – zukünf-
tig verboten werden können. Wenn sich herausstellt,
dass eine Strategie marktmissbräuchlich eingesetzt wer-
den kann, dann kann sie verboten werden.

So viel zu dem, was Sie vorhin gesagt haben, Kollege
Sieling, offensichtlich ohne den Gesetzentwurf vorher
gelesen zu haben.

Klar ist: Wir müssen an der einen oder anderen Stelle
noch das eine oder andere nachjustieren. Dazu wird es
eine Anhörung geben, meines Erachtens insbesondere zu
der Frage: Was genau ist denn der – in Anführungszei-
chen – „unschädliche“ algorithmische Handel, und wo
fängt der Hochfrequenzhandel an? Da wird man sicher-
lich noch ein bisschen genauer hinschauen.

Klar ist auch: Wir wollen diesen Bereich regulieren.
Wir wollen Abwanderung verhindern; denn jeder Hoch-
frequenzhändler, der nicht mehr in Deutschland handelt,
handelt auch nicht mehr unter Aufsicht der BaFin.

Dieses Gesetz ist ein weiterer Beitrag dieser Bundes-
regierung zur Systemstabilität in den Finanzmärkten. Es
ist ein gutes Gesetz. Ich freue mich auf die weiteren Be-
ratungen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721207100

Herr Kollege Björn Sänger, vielen Dank. – Nächster

Redner ist unser Kollege Richard Pitterle für die Frak-
tion Die Linke. Bitte schön, Kollege Richard Pitterle.


(Beifall bei der LINKEN)



Richard Pitterle (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721207200

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
soll der Hochfrequenzhandel an den Börsen und anderen
Handelssystemen reguliert werden. Beim Hochfrequenz-
handel geht es um Schnelligkeit, eine Schnelligkeit, die
ich beim Regierungshandeln jedoch vermisse.

Herr Flosbach, Sie sagten im Mai in einem Interview
mit der Börsen-Zeitung, dass wir mit der Regulierung
des Hochfrequenzhandels nicht warten sollten, bis ent-
sprechende Regelungen auf europäischer Ebene verhan-
delt sind, und dass das noch lange dauern kann.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Als Erste in ganz Europa sind wir dran! – Gegenruf des Abg. Manfred Zöllmer [SPD]: Bis jetzt haben Sie noch gar nichts! – Weiterer Gegenruf des Abg. Dr. Carsten Sieling [SPD]: Japan und USA haben es schon lange!)


Erst heute, also am 30. November 2012, findet die
erste Lesung des Gesetzentwurfs statt. Für den 16. Ja-
nuar 2013 ist eine Anhörung im Bundestag vorgesehen,
und am 1. März 2013 soll der Gesetzentwurf verabschie-
det werden. Insgesamt werden dann also rund zehn Mo-
nate vergangen sein. So eilig ist das also offenbar doch
nicht; aber für den Wahlkampf kommt das gerade noch
rechtzeitig.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Die Regierung kann dann nämlich behaupten, dass sie
gehandelt hat und angeblich die Finanzmärkte reguliert.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Ja, so ist es!)


Herr Brinkhaus wird uns nachher in seiner Rede sa-
gen, hier gehe Gründlichkeit vor Schnelligkeit. Ich frage
mich aber wirklich, warum Sie sich auf die vorgebliche
Gründlichkeit immer nur dann berufen, wenn es darum
geht, gegen die Spekulation vorzugehen. Als es darum
ging, den Fiskalpakt zu beschließen, der tatsächlich
gründlich zu hinterfragen ist, galt Ihr Motto „Gründlich-
keit vor Schnelligkeit“ nicht.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich meine, die schwarz-gelbe Koalition ist auch bei die-
sem Gesetzentwurf nicht gründlich; aber dazu komme
ich noch.

Was zeichnet den Hochfrequenzhandel aus?

Das erste Merkmal sind extrem kurze Haltefristen
von teilweise Nanosekunden. Das heißt, kaum hat man
ein Wertpapier gekauft, wird es wieder verkauft.





Richard Pitterle


(A) (C)



(D)(B)


Das zweite Merkmal ist eine sehr hohe Anzahl von
Kauf- und Verkaufsaufträgen.

Beides lässt sich nur mit mathematischen Handels-
programmen und mit superschnellen Computern umset-
zen, mit Computern, die so programmiert sind, dass sie
in Sekundenbruchteilen automatisch Wertpapiere kaufen
und gleich wieder verkaufen. Menschen werden nicht
mehr eingeschaltet, alles läuft automatisch ab. Dieses
Geschäft ist sehr lukrativ. Zwar sind die Kursgewinne
nur minimal, aber die Menge macht’s.

Dass damit große Risiken für den Markt, aber auch
für die Wertpapierhändler verbunden sind, ist offensicht-
lich. Das hat sich in der Praxis auch öfter gezeigt, zum
Beispiel beim Einbruch des US-amerikanischen Aktien-
marktes an der New Yorker Börse am 6. Mai 2010, bei
dem die Börsenkurse innerhalb von Minuten kräftig fie-
len und sich genauso schnell wieder erholten, bekannt
geworden unter dem Namen „Flash Crash“. Dieses Bei-
spiel ist hier schon von mehreren Rednern aufgeführt
worden. Darüber hinaus können Börsencomputerpro-
gramme auf Marktereignisse überreagieren, sodass sich
die Schwankungen der Kurse gegenseitig verstärken.

Bei dem Hochfrequenzhandel geht es aber nicht nur
um die Risiken aus Computerfehlern, um automatisch
ausgelöste Reaktionen auf Marktbewegungen und um
die Ausnutzung minimaler Kursdifferenzen, sondern
auch um Manipulationen der Wertpapierkurse und damit
um betrügerisches Handeln.

Ich frage Sie: Was ist das für ein Geschäftsmodell?
Das hat mit Realwirtschaft doch überhaupt nichts mehr
zu tun. Einen volkswirtschaftlichen Nutzen sehe ich hier
nicht. Stattdessen sehe ich vielerlei schädliche Praktiken.


(Beifall bei der LINKEN)


Hochfrequenzhändler spähen Gebote beispielsweise
von Versicherungen aus, decken sich mit den entspre-
chenden Wertpapieren ein, treiben damit die Preise in die
Höhe und stoßen die gekauften Papiere zu höheren Prei-
sen wieder ab. Viele Aufträge von Hochfrequenzhänd-
lern werden nur mit der Absicht gesetzt, die Preise zu
manipulieren. Vor ihrer Ausführung werden sie storniert.
Mit diesen Praktiken destabilisieren Hochfrequenzhänd-
ler die Märkte. Sie manipulieren die Preise und erwirt-
schaften daraus ihre Gewinne zulasten anderer, zum Bei-
spiel zulasten von Versicherungsgesellschaften, die ihre
Einnahmen am Kapitalmarkt anlegen müssen. Das ist
doch eine Fehlentwicklung! Diese extrem kurzfristigen
Zockereien verteuern realwirtschaftliche Transaktionen
und dienen als Spielball von Spekulanten. Das muss
doch beendet werden!


(Beifall bei der LINKEN)


Der vorliegende Gesetzentwurf wurde bereits im Mai
eingebracht. Nicht nur wir, sondern auch die Fachwelt
hatte sich darüber gewundert; denn auf europäischer
Ebene werden die Richtlinien ebenfalls überarbeitet, um
den Hochfrequenzhandel zu regulieren.

Jetzt komme ich zu Ihrer Gründlichkeit. Der Gesetz-
entwurf enthält doch nichts Neues oder gar Überraschen-
des. Es soll in Deutschland im Wesentlichen das gesetz-

lich festgeschrieben werden, was bereits an den Börsen
durch viele Börsenordnungen geregelt und praktiziert
wird.

Warum dann überhaupt noch ein Gesetzentwurf für
Deutschland und im Vorgriff auf eine schon in der Dis-
kussion befindliche Regelung auf EU-Ebene? Sie stehen
unter dem Druck der Öffentlichkeit, die Maßnahmen ge-
gen die Spekulation verlangt; aber Sie schrecken vor ei-
ner echten Regulierung zurück. Von wegen Richtung
vorgeben! Herr Staatssekretär Koschyk sprach davon,
die Richtung vorzubestimmen. Da lachen ja die Hühner.

Was meine ich mit meiner Kritik? Uns fehlt beispiels-
weise eine Mindesthaltedauer. Das heißt, wenn ein
Händler ein Angebot abgibt, soll er für eine bestimmte
Zeit daran gebunden sein. Wir denken hier an mindes-
tens eine halbe Minute.


(Beifall bei der LINKEN)


Es darf nicht sein, dass Angebote unterbreitet werden,
die die Kurse beeinflussen und Marktreaktionen auslö-
sen, die Angebote dann aber sofort storniert werden,
noch bevor ein Kunde eine realistische Möglichkeit hat,
das Angebot anzunehmen. Das hat sogar der CSU-Fi-
nanzexperte und Berichterstatter für dieses Thema im
Europäischen Parlament, Markus Ferber, gemerkt, der
genau diese Mindesthaltedauer fordert. Wenn Sie schon
unsere Meinung nicht ernst nehmen wollen, dann hören
Sie doch auf Ihren CSU-Kollegen im Europaparlament.


(Beifall bei der LINKEN – Manfred Zöllmer [SPD]: Ausnahmsweise!)


– Ausnahmsweise, ja.

Die Risiken aus dem Hochfrequenzhandel würden
sich schließlich reduzieren, sobald die Finanztransak-
tionsteuer eingeführt würde.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Das musste kommen!)


Mit dieser und der eben genannten Mindesthaltedauer
würde der Hochfrequenzhandel schlicht nicht mehr at-
traktiv sein. Damit würden die Spekulanten ausge-
bremst, und wir hätten endlich ein Tempolimit beim
Hochfrequenzhandel, wie Sie es in Ihrem Gesetzentwurf
fordern.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721207300

Vielen Dank, Kollege Richard Pitterle für die Frak-

tion Die Linke. – Nächster Redner in unserer Ausspra-
che ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser
Kollege Dr. Gerhard Schick. Bitte schön, Kollege
Dr. Gerhard Schick.


Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721207400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als

Erstes kann man vielleicht einmal festhalten, dass bei
den Abgeordneten der allgemeine Wunsch besteht, dass
sich die Geschwindigkeit der Datenübertragung bei den





Dr. Gerhard Schick


(A) (C)



(D)(B)


Parlamentsrechnern nach und nach der an der Börse an-
passen möge.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN)


Ich bin Herrn Sänger sehr dankbar für dieses konkrete
Beispiel aus der Praxis mit dem Kabel. An diesem Bei-
spiel wird sehr gut deutlich, worum es geht und wo eine
unterschiedliche Einschätzung besteht. Das alte Transat-
lantikkabel aus dem 19. Jahrhundert hat es in einer Zeit,
in der es ganz schwierig war, über den Atlantik mit Schif-
fen Daten zu schicken, ermöglicht, auf Kaufaufträge und
Entwicklungen verschiedenster Art viel schneller zu re-
agieren, und es hat damit wirklich realwirtschaftlichen
Nutzen geschaffen.

Was passiert heute? Das neue Transatlantikkabel er-
möglicht es, innerhalb von 60 Millisekunden Daten hin-
und herzuschicken. Zum Vergleich: Ein Wimpernschlag
dauert 100 Millisekunden. Das heißt, wir erreichen hier
eine Geschwindigkeit, in der der Mensch gar nicht den-
ken kann, in der gar keine realwirtschaftlichen Disposi-
tionen möglich sind.

Die zusätzliche Geschwindigkeitserhöhung von 5 bis
6 Millisekunden kann deswegen überhaupt keinen real-
wirtschaftlichen Nutzen entfalten. Hier geht es um Inge-
nieurskunst. Es ist spannend, dass so etwas gemacht
werden kann. Aber der realwirtschaftliche Nutzen ist ge-
ring; denn dieses Kabel wird, wie Sie richtig sagen, aus-
schließlich für den Hochfrequenzhandel, also für das Er-
zeugen von Finanzdaten, genutzt. Das heißt, da wird
Geld mit Geld verdient.

Das führt nicht dazu, dass ein einziger Unternehmer
besser an Kredite kommt. Das heißt, der realwirtschaftli-
che Nutzen einer solchen Investition ist nicht gegeben.
Das ist gerade ein Symbol dafür, dass die Finanzmärkte
immer mehr um sich selbst kreisen und ihre eigentliche
Dienstleistungsfunktion für unsere Wirtschaft, für unsere
Gesellschaft nicht mehr erbringen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Dann eben ist ein solches Projekt Verschwendung von
Energie und Geld. Es wäre doch sinnvoll, dass sich Inge-
nieure an die Lösung von Problemen machen, die uns als
Gesellschaft beschäftigen, anstatt die Möglichkeit zu er-
leichtern, dass Geld mit Geld verdient wird.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Diese Problemlösungen werden von den Grünen blockiert!)


Das ist kein Seitenaspekt: In Europa werden etwa
40 Prozent und in den USA 70 Prozent des Handels von
Hochfrequenzhändlern betrieben. Das heißt, es wird mit
einem nur minimalen Informationsvorsprung Geld ver-
dient, ohne dass die Marktinfrastruktur wirklich verbes-
sert wird. Die langsameren Händler müssen schlechtere
Preise akzeptieren, nachdem die Gewinne schon einge-
fahren sind. Damit wird viel in unregulierte Märkte ver-
drängt.

Die Befürworter des Hochfrequenzhandels argumen-
tieren mit einer besseren Liquidität oder mit geringeren
Spreads, also mit Preisunterschieden zwischen den Han-
delsplätzen, die die Transaktionskosten für alle Investoren
verringern. Aber genau das ist nicht der Fall. Vielmehr
entsteht eine Pseudoliquidität, die für realwirtschaftliche
Investitionen keinen Mehrwert schafft. Liquidität schaf-
fen Market Maker, also Händler, die ständig An- und
Verkaufspreise festsetzen. Aber Market Maker gab es
lange vor dem Hochfrequenzhandel. Das ist kein Vorteil,
sondern es ist eher so, dass der Hochfrequenzhandel die
Market Maker zur Seite drängt.

Dann kommt es genau zu den Problemen, die öffent-
lich diskutiert worden sind. Es gibt den englischen Be-
griff „fat finger“; das könnte man ungefähr mit „Wurst-
finger“ übersetzen. Dies besagt, dass allein durch
fehlerhafte Algorithmen oder Tippfehler plötzlich un-
glaubliche Kursentwicklungen entstehen. An dieser
Stelle sieht man, dass Hochfrequenzhandel dieser Art
nicht nur keinen Nutzen bringt, sondern tatsächlich auch
für die Realwirtschaft Schaden verursachen kann, weil
für diejenigen, die sich an diesen Preisen orientieren
müssen, eine sinnvolle Orientierung nicht möglich ist,
weil plötzlich irrationale Ausschläge stattfinden können.

Jetzt ist die Frage, wie man vorgeht; das ist schon an-
gesprochen worden. Es gibt eine europäische Entwick-
lung. Am 26. Oktober 2012 sind die beiden Entwürfe der
Kommission im Europäischen Parlament in erster Le-
sung debattiert und an den Rat mit Veränderungen über-
wiesen worden. Warum machen wir das jetzt hier? Ich
finde es durchaus richtig, dass man an manchen Stellen
versucht, Impulsgeber zu sein. Aber hier sind wir gar
nicht Impulsgeber.


(Manfred Zöllmer [SPD]: So ist es!)


Der Impuls ist längst da. Was soll das an dieser Stelle?
Ich habe da Zweifel. Ich glaube, es würde mehr Sinn er-
geben, wenn wir als Deutscher Bundestag uns mit Ener-
gie in die europäische Debatte einschalten und schauen
würden, dass das Ganze in Europa zügiger vorankommt.
Vor allem sollten die Regelungen stimmen. Aber selbst
wenn man unterstellt, dass es sinnvoll ist, hier mit einem
eigenen Gesetzentwurf in die Debatte zu gehen, müsste
in der Substanz das Richtige auf den Weg gebracht wer-
den. Es fehlt aber schon die klare Definition, was eigent-
lich Hochfrequenzhandel ist. Das Wort steht zwar in der
Überschrift des Gesetzentwurfs, es wird danach aber
nicht klar definiert. Ich glaube, so wird es schwierig, das
sauber zu regeln.

Sie bleiben nach wie vor dem Prinzip treu, dass die
Selbstkontrolle der Märkte am besten funktioniert. Sonst
kann man sich nicht erklären, warum die konkrete Aus-
gestaltung der Regeln den Handelsplattformen selbst
überlassen wird. Sie tun so, als ob es da keine Interes-
senkonflikte gäbe.


(Manfred Zöllmer [SPD]: So ist es!)


Wenn Handelsplattformen einen großen Teil ihres
Umsatzes im Hochfrequenzhandel machen und daran
auch noch durch die Bereitstellung der IT-Infrastruktur
an Hochfrequenzhändler verdienen, warum sollten sie





Dr. Gerhard Schick


(A) (C)



(D)(B)


dem dann klare Grenzen setzen? An dieser Stelle wird
man staatliche Regeln und auch die Kontrolle der Ein-
haltung dieser Regeln durch staatliche Aufsicht brau-
chen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich will ein Zitat von jemandem bringen, den ich sel-
ten zitiere: „Wir brauchen ein Tempolimit für den High-
Speed-Handel.“ Das stammt von Markus Söder.


(Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hört! Hört! – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Das hat Markus Söder nicht verdient, dass Sie ihn zitieren!)


Das hat er beim Besuch der Börse gesagt. Es klingt gut.
Ich würde diesen Satz unterschreiben. Aber das Problem
ist: Genau dieses Tempolimit fehlt in dem hier vorlie-
genden Gesetzentwurf. Darin steht zwar alles Mögliche,
aber keine Regelung eines Tempolimits.

Wir Grünen haben ein Tempolimit auf europäischer
Ebene klar eingefordert. Ich will unsere Vorschläge kurz
nennen:

Der Anteil des Hochfrequenzhandels sollte auf
20 Prozent der Orders begrenzt werden.

Jede Order sollte für mindestens 1 Sekunde aufrecht-
erhalten werden müssen. – Das war unser Vorschlag.
Das Europäische Parlament hat sich jetzt auf eine halbe
Sekunde geeinigt. Das ist genau die Regelung eines
Tempolimits, die bei Ihnen fehlt.

Die Orders sollten mit einer Latenz, einer Verzöge-
rung, von 100 Millisekunden ausgeführt werden. Das
Atlantikkabel wäre dann in der Tat überflüssig, und man
könnte das Geld für sinnvollere Investitionen einsetzen.

Wertpapiere sollten für mindestens 30 Sekunden ge-
halten werden. Die Order-Transaktions-Verhältnisse
sollten auf 50 zu 1 begrenzt werden.

Mit solchen klaren Regeln würden wir ein Tempo-
limit einsetzen. Genau das wäre unsere Aufgabe. Nicht
hilfreich ist ein Gesetzentwurf, der in dieser Form wahr-
scheinlich nichts bringen wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721207500

Vielen Dank, Kollege Dr. Gerhard Schick. – Nächste

Rednerin für die Fraktion der CDU/CSU ist unsere Kol-
legin Frau Bettina Kudla. Bitte schön, Frau Kollegin
Bettina Kudla.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Bettina Kudla (CDU):
Rede ID: ID1721207600

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Wir haben jetzt mehrfach gehört, was Hoch-
frequenzhandel ist: In Bruchteilen von Sekunden werden
an den Börsen extrem hohe Volumina bewegt.

Ich denke, das Problem ist – die Welt hat sich nun ein-
mal so entwickelt –, dass an den deutschen Börsen schon
40 Prozent der Umsätze über den Hochfrequenzhandel
abgewickelt werden. In Amerika ist der Anteil deutlich
höher; dort sind es 70 Prozent. Warum sind diese Zahlen
so wichtig? Sie zeigen uns: In der Realität hat der Hoch-
frequenzhandel eine hohe Bedeutung, weil er schon ei-
nen hohen Anteil am Börsenhandel ausmacht.

Die Befassung mit dem Thema hat mich ein bisschen
an das Internet erinnert. Mit dem Internet kann man zwar
viel Gutes machen, aber das Internet kann auch zu hohen
Verwerfungen führen. Trotzdem ist das Internet heutzu-
tage nicht mehr aus dem Leben wegzudenken. Insofern
muss man das Problem von vielen Seiten betrachten.

Die Geschwindigkeit ist dabei mit das größte Pro-
blem. Sie führt zu vielen Verwerfungen; das wurde be-
reits mehrfach angesprochen. Insbesondere hat sie zu
einem Preisverfall an den Börsen geführt. Aber ein gene-
relles Verbot, wie es von einigen Personen in diesem
Hause gefordert wird, lehne ich ab.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Wer fordert das denn?)


Es gibt nämlich nicht den einen Hochfrequenzhandel,
sondern es gibt verschiedene Handelsstrategien. Die
meisten davon tragen positiv zum Marktgeschehen am
Finanzmarkt bei, zum Beispiel durch Liquiditätsbereit-
stellung und -verbesserung.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Was wird denn da verbessert?)


Das zeigt im Grunde die Komplexität des Problems. Ein
pauschales Verbot ist daher weder angemessen, noch
bringt es eine Verbesserung des regulatorischen Rah-
mens mit sich.

Mit dem heute in erster Lesung zu beratenden Gesetz-
entwurf zur Vermeidung sowohl von Gefahren als auch
von Missbräuchen im Hochfrequenzhandel will die Bun-
desregierung den aufgezeigten Risiken entgegentreten.
Insgesamt schaffen wir dadurch mehr Transparenz und
mehr Sicherheit im Markt.

Was bedeutet das im Detail? Wir wollen mit einer Zu-
lassungspflicht für Hochfrequenzhändler eine Übersicht
über die Marktteilnehmer in diesem Bereich schaffen.
Darüber hinaus stellen wir deutlich strengere Anforde-
rungen an die Branche. Die Handelssysteme müssen so
ausgestaltet sein, dass Störungen des Marktes unterblei-
ben, damit eben nicht mehr solche binnen Sekunden aus-
gelösten Verwerfungen auf dem Finanzmarkt möglich
sind.

Außerdem stärken wir mit dem Gesetzentwurf die
Auskunfts- und Eingriffsrechte für die Börsenaufsicht
und für die BaFin, und wir schreiben Gebühren für die
exzessive Nutzung von Handelssystemen vor. Ganz
wichtig ist, dass bestimmte Handelsstrategien von Hoch-
frequenzhändlern als Marktmanipulation eingestuft wer-
den können. Es soll eine Begrenzung des Verhältnisses
zwischen aufgegebenen Orders und tatsächlich ausge-
führten Geschäften eingeführt werden. Damit geht man
ganz gezielt das kursmanipulative Problem der soge-





Bettina Kudla


(A) (C)



(D)(B)


nannten Quote-Stuffing-Taktik an, bei der Händler aus
handelstaktischen Gründen pro Sekunde eine große An-
zahl an Orders senden, nur um sie sofort wieder unaus-
geführt zu löschen.

Den Finanzmarkt in Deutschland kann man nicht iso-
liert betrachten, sondern man muss ihn in den weltweiten
Finanzmarkt einordnen. Um Ausweichreaktionen zu
vermeiden, werden die Regelungen des vorliegenden
Gesetzentwurfes daher auch auf multilaterale Handels-
systeme ausgeweitet. Das Hochfrequenzhandelsgesetz
ist somit ein wichtiger Baustein im Ordnungsrahmen für
die Finanzmärkte. Mit diesem haben wir gleichzeitig den
positiven Nutzen erkannt und die Risiken deutlich be-
grenzt. Wir erreichen damit eine höhere Stabilität und
Krisenfestigkeit.

Abschließend möchte ich festhalten: Die Bundes-
regierung ist tatsächlich Vorreiter. Die Bundesregierung
zieht im Gegensatz zu anderen europäischen Staaten die
Vorschriften aus der sogenannten MiFID-Richtlinie, also
der EU-Richtlinie zur Regulierung der Finanzmärkte,
deutlich vor und schafft daher mehr Vertrauen im
Finanzmarkt.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721207700

Vielen Dank, Frau Kollegin Bettina Kudla für die

Unionsfraktion. – Jetzt als nächster Redner für die Frak-
tion der Sozialdemokraten unser Kollege Manfred
Zöllmer. Bitte schön, Kollege Manfred Zöllmer.


(Beifall bei der SPD)



Manfred Zöllmer (SPD):
Rede ID: ID1721207800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

„Knightmare on Wall Street“ – das war in diesem Fall
keine Erfindung eines Hollywood-Regisseurs, sondern
das Ergebnis des Handelns einzelner Computer an der
New Yorker Börse, die eine neue Software hatten. Im
Ergebnis hatte dann die Aktienhandelsfirma Knight
Capital in 45 Minuten 440 Millionen US-Dollar verlo-
ren. Das war schade für die Firma.

Es wäre nicht so schlimm gewesen, wenn es nur eine
einzelne Firma betroffen hätte. Die Auswirkungen eines
solchen Fehlverhaltens sind gesamtwirtschaftlicher Art,
und das ist das Problem. Der Hochfrequenzhandel birgt
– das haben wir vorhin schon gehört – eine ganze Reihe
von Risiken. Dabei steht die Geschwindigkeit im Vor-
dergrund. Es geht eigentlich gar nicht mehr um Mikro-
sekunden. Inzwischen sind wir bei Nanosekunden. Das
heißt, es geht um ein milliardstel Teil einer Sekunde. Es
geht um Algorithmen, das heißt, der Mensch ist weitge-
hend außen vor. Die Computer haben die Möglichkeit,
Märkte zu manipulieren. Sie können Aufträge geben, die
sie sofort wieder zurückziehen. Das ist eine Lizenz zum
Gelddrucken für diejenigen, die dort tätig sind; sonst
würden sie nicht solche aberwitzigen Investitionen ma-
chen, wie sie Herr Sänger hier beschrieben hat.

Liebe Frau Kudla, mit Liquiditätsverbesserung und
der Verbesserung der Märkte hat dies überhaupt nichts
zu tun. Wir haben eben gehört, dass die Realwirtschaft
überhaupt keinen Nutzen von dieser Art der Tätigkeit
hat. Die Konsequenzen muss die Allgemeinheit tragen.
Wir sind nicht gegen Veränderungen an der Börse. Der
Parketthandel ist Geschichte. Seit 1987 ist eigentlich
klar, dass es Probleme geben kann. In diesem Jahr brach
der Markt an einem Tag um 22 Prozent ein. Simple auto-
matisierte Systeme hatten das verursacht. Natürlich kön-
nen auch die „Wurstfinger“ irgendeines Menschen, der
etwas in die Tastatur eingibt und sich um ein paar Stellen
vertut, die Ursache für einen Crash sein.

Die entscheidende Frage, die wir uns stellen müssen,
ist: Kann der vorgelegte Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung die Bedrohung der Funktionsfähigkeit der Finanz-
märkte verhindern?


(Björn Sänger [FDP]: Ja!)


Erste Vorbemerkung: Sie müssen verdammt viel
Angst vor Peer Steinbrück haben,


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


wenn Sie einen solchen Gesetzentwurf vorlegen, wo Sie
doch ganz genau wissen, dass Brüssel daran arbeitet,
dass wir eine entsprechende Richtlinie bekommen. Es
geht bei Ihnen zunächst wie immer nach dem Motto:
Schnell noch ein bisschen virtuelle Regulierung.


(Beifall bei der SPD)


Sie wollen Vorreiter sein. Das geht dann nach dem
Motto: Wo wir sind, ist vorne, und wenn wir hinten sind,
ist hinten vorne. Ich frage mich: Warum handeln Sie erst
jetzt? Die Probleme sind doch seit geraumer Zeit be-
kannt. Sie haben bisher aber nichts gemacht, obwohl die
Algorithmen teilweise wirklich außer Rand und Band
sind.

Die entscheidende Frage ist: Was würde dieses Gesetz
eigentlich bewirken? Nicht nur Herr Söder hat das Stich-
wort „Tempolimit“ aufgebracht. Auch auf der Home-
page des Finanzministeriums heißt es: „Tempolimit für
den Hochfrequenzhandel“. Schauen wir uns den Gesetz-
entwurf doch einmal an. Ein Punkt ist die Zulassungs-
pflicht für Hochfrequenzhändler. Sehr schön, das kann
man machen; aber das hat mit Tempolimit überhaupt
nichts zu tun. Dann wollen Sie die Systeme so ausgestal-
ten, dass Störungen des Marktes unterbleiben. Sehr
schön – getreu dem Motto: Wir verbieten den Diebstahl;
damit verhindern wir in Zukunft Diebstähle –; aber auch
das bedeutet kein Tempolimit für den Hochfrequenzhan-
del. Sie sprechen von zusätzlichen Informationspflich-
ten. Ja, nur mit Tempolimit ist es nicht weit her. Die Ver-
antwortung für die Umsetzung laden Sie dann bei der
Börse bzw. der Geschäftsführung der Börse ab. Man
muss einmal die Frage stellen – der Kollege hat das eben
schon deutlich gemacht –: Hat die Geschäftsführung der
Börse eigentlich ein Interesse daran, ein Tempolimit für
den Hochfrequenzhandel umzusetzen?


(Björn Sänger [FDP]: Ja!)






Manfred Zöllmer


(A) (C)



(D)(B)


Die Antwort ist klar; sie lautet: Nein. Sie hat kein Inte-
resse daran, weil sie daran verdient, und wenn man an et-
was verdient, hat man kein Interesse daran, es einzudäm-
men. Sie machen in diesem Fall sozusagen den Bock
zum Gärtner.


(Beifall bei der SPD)


Zusammenfassend können wir also feststellen: Im
Gesetzentwurf wird darauf verzichtet, eine wirklich
wirksame Tempobremse einzuziehen. Sie haben keine
Mindesthaltedauer vorgesehen, was eine Tempobremse
wäre. Das Europäische Parlament wird darauf aber nicht
verzichten. Sie werden dies letztendlich umsetzen müs-
sen. Eine Finanzmarkttransaktionsteuer in Verbindung
mit einer Mindesthaltefrist wäre eine echte Tem-
pobremse.

Ich glaube, wir müssen hier noch ordentlich nachar-
beiten. Das Europäische Parlament und wir werden Sie
weiter drängen, hier richtig zu regulieren, damit das Ziel
„Tempolimit“ auch tatsächlich erreicht wird. Der uns
vorliegende Gesetzentwurf leistet das nicht.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Richard Pitterle [DIE LINKE])



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721207900

Vielen Dank, Kollege Manfred Zöllmer. – Nächster

Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege
Ralph Brinkhaus. Bitte schön, Kollege Ralph Brinkhaus.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Ralph Brinkhaus (CDU):
Rede ID: ID1721208000

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es han-

deln nicht mehr Menschen, sondern Computer in Bruch-
teilen von Millisekunden über Glasfaserkabel jenseits
und diesseits des Atlantiks. Wir betreten scheinbar das
Reich der Finsternis. Wir blicken in das Auge des Bösen,
und irgendwo riecht es auch ein bisschen nach Schwefel,
sagen die einen. Die anderen sagen: Hochfrequenzhan-
del ist doch gut; das verschafft den Märkten Liquidität
und hilft bei der Preisstellung.

Nun ist es an uns, diesen Widerspruch in irgendeiner
Art und Weise aufzulösen. Das kennen wir; denn bei al-
len Projekten, die wir bei der Finanzmarktregulierung in
den vergangenen zwei Jahren angegangen sind, haben
wir mit diesem Widerspruch leben müssen. Die einen
sagen: Komplett verbieten! Alles ist böse, und die ande-
ren sagen: Wir haben mit der Krise nichts zu tun gehabt.
Das ist doch alles gar nicht so schlimm. Das ist funktio-
nal; das ist unter anderem für die Versorgung der Real-
wirtschaft mit Liquidität wichtig. – Wir haben dies er-
lebt, als wir die Vergütungsstrukturen reguliert haben.
Wir haben dies erlebt, als wir die Leerverkäufe reguliert
haben. Wir haben dies erlebt, als wir die Ratingagentu-
ren reguliert haben. Wir haben dies erlebt, als wir die
Fonds reguliert haben.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Das ist aber interessant!)


Wir haben dies auch erlebt, als wir das Bankenrestruk-
turierungswesen reguliert haben.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Sehr gut!)


Wir haben dies erlebt, als wir die Wertpapierberatung re-
guliert haben, und wir werden dies noch erleben und er-
leben es gerade bei der Regulierung von Eigenkapital
und Liquidität bei Banken und Versicherungen. Wir erle-
ben dies auch ganz aktuell in den letzen Wochen und Ta-
gen, wenn es darum geht, die OTC-Derivate zu regulie-
ren. Mit diesem Widerspruch müssen wir leben.

Wie gehen wir damit um, meine Damen und Herren?
Schauen wir doch zunächst einmal auf die Opposition.
Die Opposition sagt: Das ist alles ganz fürchterlich
schlimm. – Ich glaube, die Bilder von Schwefel, die ich
eben gezeichnet habe, reichen Ihnen noch nicht. Sie sa-
gen: Verbieten! Mehr einschränken! Das ist alles viel zu
wenig, alles viel zu spät. – Ehrlich gesagt, kann ich das
überhaupt nicht kritisieren; denn das ist die Aufgabe der
Opposition. Die Aufgabe von Regierungshandeln ist
eine andere. Die Aufgabe von Regierungshandeln ist es,
abzuwägen, auszugleichen und Kompromisse zu finden.
Für Ihre Kritik müssen Sie keine Verantwortung über-
nehmen. Wir aber müssen für das, was wir umsetzen,
Verantwortung übernehmen. Das Leben ist also nicht
ganz so leicht, wie Sie sich das an der einen oder ande-
ren Stelle vorstellen.

Zur Philosophie dieses Gesetzentwurfs gehört es, dass
wir die Vor- und Nachteile abgewogen haben. Dadurch
sind wir zu einem Ergebnis gekommen, das aus Sicht der
Opposition sicherlich mehr beinhalten könnte – das zu
sagen, ist auch Ihre Aufgabe –, wozu wir aber sagen:
Wir müssen uns auch der Kritik der Märkte stellen.

Jetzt komme ich auf den „Flash Crash“, der heute
schon eine große Rolle gespielt hat. Ich denke einmal,
Herr Zöllmer und Herr Sieling, das war ein bisschen
komplizierter, als Sie es hier dargestellt haben. Ich gehe
aber davon aus, dass Sie alle den 100-Seiten-Bericht der
amerikanischen Börsenaufsicht im Detail studiert haben
und uns im Rahmen der Anhörung an der einen oder an-
deren Stelle sagen können, was da genau passiert ist. Es
ist jedenfalls komplizierter, als Sie es hier ausgeführt ha-
ben. Deshalb sind wir in diesem Zusammenhang gegen
einfache Lösungen.

Ich komme jetzt zu den Kritikpunkten, die Sie ange-
führt haben. Sie sagen: zu spät. Dieses Argument kommt
immer; was wir machen, machen wir immer zu spät.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Weil die keine Gegenargumente haben!)


Dabei sind wir oft die Ersten in Europa. Man kann sich
aber auch fragen, liebe Kollegen von der SPD – es sind
nur wenige da, und ich sehe nur Kollegen –, ob es den
Hochfrequenzhandel nicht schon in den Jahren 2007,
2008, 2009 gegeben hat und was zu jener Zeit dagegen
gemacht worden ist.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Elf Jahre SPD-Finanzminister!)






Ralph Brinkhaus


(A) (C)



(D)(B)


Dieses Argument der SPD ist also nicht überzeugend.
Vorschläge zum Hochfrequenzhandel habe ich in den
letzten Jahren weder von Ihnen noch von Ihrem gut be-
schäftigten Kanzlerkandidaten gehört. Deshalb sollte
man das Argument „zu spät“ nicht gelten lassen.

Die Linken sagen: Ganz verbieten.


(Richard Pitterle [DIE LINKE]: Das haben wir nicht gesagt!)


– Das ging ein bisschen in diese Richtung. – Ein kom-
plettes Verbot wäre natürlich ein radikaler Schnitt. Man
müsste einmal sehen, welche Auswirkungen das auf die
Finanzmärkte hätte. Vielleicht ist dieser Schritt sogar
richtig; aber den Nachweis sind Sie uns bisher schuldig
geblieben. Ich glaube, das Schwert „Komplettverbot“,
das allzu oft von der linken Seite dieses Hauses ge-
schwungen wird, hilft uns am Ende des Tages nicht wei-
ter.

Jetzt komme ich zu einem Thema, das Sie alle an ir-
gendeiner Stelle vereint, nämlich die Mindesthaltefris-
ten. Auch wir haben uns mit diesem Thema beschäftigt.
Haben Sie sich eigentlich auch einmal mit der Frage be-
schäftigt, was Mindesthaltefristen verursachten, wenn
sie denn eingeführt würden? Ich rede jetzt nicht davon,
dass irgendwelche Geschäfte abwandern, dass die Ge-
schäfte von Computern in Frankfurt auf Computer in der
Schweiz übertragen werden, sondern ich rede davon,
was es bedeutet, wenn ich mein Angebote über eine ge-
wisse Zeit stellen muss, während andere in kürzeren Ab-
ständen hineingehen können. Was bedeutet das für die
Preisstellung? Was bedeutet das für die Liquidität der
Märkte? Was bedeutet das für die Stornoraten?


(Manfred Zöllmer [SPD]: Klären Sie uns auf!)


Im Grunde genommen werden doch bei einer Mindest-
haltedauer Frequenz und Geschwindigkeit bei den Ange-
boten durch Frequenz und Geschwindigkeit bei den
Stornierungen ersetzt. Das muss man doch beachten.
Deswegen sage ich Ihnen: So einfach, wie Sie es darge-
stellt haben, ist es nicht. Ich glaube, es lohnt sich, dass
wir uns im Rahmen der Anhörung noch einmal intensiv
mit diesem Thema beschäftigen


(Manfred Zöllmer [SPD]: Das werden wir tun!)


und prüfen, ob eine Mindesthaltefrist tatsächlich gut ist
oder weniger gut. Ich denke, wir werden dort zu einem
Ergebnis kommen.

Ich könnte auf weitere Kritikpunkte eingehen. Das ist
aber nicht Aufgabe in erster Lesung; denn darüber wer-
den wir uns noch zur Genüge austauschen.

Ich möchte noch etwas Grundsätzliches sagen, weil
das bereits angesprochen wurde. Die einen haben gesagt,
wir würden zu spät handeln. Herr Schick von den Grü-
nen hat gesagt: Wartet doch ab, was auf europäischer
Ebene unternommen wird! Das steht doch bald an. –
Wieso machen wir das jetzt eigentlich, wo doch auf eu-
ropäischer Ebene im Rahmen der MiFID-Überarbeitung
auch sehr viel über den Hochfrequenzhandel gesprochen
wird? Diese Frage kann ich Ihnen beantworten.

Erstens. Die MiFID ist hier in Deutschland wahr-
scheinlich nicht vor 2014 oder 2015 umsetzbar. Wir ha-
ben mit unseren europäischen Freunden die Erfahrung
gemacht, dass die Bereitschaft, eine Sache fertigzube-
kommen, in der letzten Zeit arg abgenommen hat – es sei
denn, man ist motiviert wie bei der Bankenunion, wenn
es darum geht, an irgendwelche Geldtöpfe heranzukom-
men. Wir warten auf europäischer Ebene immer noch
auf die Umsetzung von Basel III. Wir warten immer
noch auf die Umsetzung von Solvency. Bei Solvency ist
überhaupt kein Ende absehbar; bei Basel III werden wir
vielleicht ein bisschen Verspätung haben. Wir wollen
uns also nicht darauf verlassen, wann die Kollegen in
Europa fertigwerden. Wir wollen unsere Finanzmärkte
jetzt regulieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das ist die Aufgabe dieser Regierung. Dieser Aufgabe
haben sich diese Regierung und diese Koalitionsfraktio-
nen gestellt mit wahrscheinlich schon über 20 Gesetzen
und Initiativen. Es würde sich einmal lohnen, sie nach-
zuzählen.

Zweitens. Regulierungspolitik setzt immer auch Zei-
chen. Wir setzen auf nationaler Ebene das Zeichen ge-
genüber der Branche, dass wir nicht alles dulden. Ich
denke, dieses Zeichen ist dringend notwendig, weil wir
alle – da sind wir uns sicherlich einig – wissen, dass wir
höllisch aufpassen müssen, dass die Exzesse der Finanz-
märkte nicht fortgeführt werden. Dementsprechend set-
zen wir an dieser Stelle ganz bewusst das Zeichen: Es
gibt Grenzen. Ich glaube, es ist richtig und auch wichtig,
dass wir da nicht auf europäische Initiativen warten, son-
dern es selber machen. Wir senden aber auch ein Zei-
chen an die Opposition: Wir können mehr, als nur kri-
tisieren, problematisieren und Vorschläge machen; wir
sind auch in der Lage, etwas umzusetzen. Wir haben
gezeigt, dass wir Dinge umsetzen. Wir versuchen, mög-
lichst viel von dem umzusetzen, was in unserem Koali-
tionsvertrag steht: Kein Finanzmarktprodukt, kein Ver-
triebskanal, kein Akteur soll unreguliert bleiben. Ich
glaube, meine Damen und Herren, wir sind da in den
letzten drei Jahren schon verdammt weit gekommen.
Wenn ich vergleiche, was diese Regierung geleistet hat
und was Vorgängerregierungen mit einem SPD-Finanz-
minister geleistet haben, komme ich zu dem Ergebnis:
Es ist bravourös, was wir gemacht haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Manfred Zöllmer [SPD]: Sie müssen sich schon selber loben!)


Vor diesem Hintergrund denke ich, dass es sich lohnt,
noch in dieser Legislaturperiode den Hochfrequenzhan-
del zu regulieren, genauso wie wir noch die Honorarbe-
ratung regeln und Ihnen Vorschläge zu einem Banken-
testament und zum Umgang mit dem Problem „too big
to fail“ vorlegen werden, genauso wie wir die OTC-De-
rivate in den nächsten Wochen regulieren werden und im
Bereich der Versicherungsaufsicht, wenn die Umsetzung
von Solvency II zu lange dauert, darauf drängen werden,
das eine oder andere vorzuziehen. So werden wir es
beim Hochfrequenzhandel machen: Wir werden diesen
Gesetzentwurf überweisen und ihn in den Ausschüssen





Ralph Brinkhaus


(A) (C)



(D)(B)


beraten. Wir werden die Stellungnahmen erhalten und
uns jeder Kritik stellen. Ich denke, wir werden zu einem
guten Ergebnis kommen und auch diesen Punkt, die Re-
gulierung des Hochfrequenzhandels, mit der Koalition
beschließen. Wir machen einen Haken dran. Das zeigt,
wie gut wir sind.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721208100

Vielen Dank, Kollege Ralph Brinkhaus.

Wir haben auf unserer Rednerliste keine weitere
Wortmeldung, sodass ich die Aussprache schließe.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/11631 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann haben wir gemeinsam die Überweisung so be-
schlossen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tages-
ordnungspunkt 15 sowie Zusatzpunkt 12 auf:

15 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Heidrun Bluhm, Steffen
Bockhahn, Halina Wawzyniak, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion DIE LINKE

Ausverkauf staatlichen Eigentums stoppen –
Keine Privatisierung der TLG-Wohnungen

– Drucksachen 17/9150, 17/10361 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Sebastian Körber

ZP 12 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Hans-Joachim Hacker, Sören
Bartol, Uwe Beckmeyer, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD

Wohnungspolitische Verantwortung bei Über-
tragung der bundeseigenen TLG-Wohnungen
sichern

– Drucksachen 17/9737, 17/10717 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Götz

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann haben wir das gemeinsam so
beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als Erster hat unser Kol-
lege Gero Storjohann für die Fraktion der CDU/CSU das
Wort. Bitte schön, Kollege Gero Storjohann.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Gero Storjohann (CDU):
Rede ID: ID1721208200

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die aus der
Treuhandanstalt entstandenen Nachfolgegesellschaften,
die Treuhandliegenschaftsgesellschaften TLG Immobi-
lien GmbH und die TLG Wohnen GmbH, sollten bereits
2008 vom Bund verkauft werden. Die damalige Finanz-
krise stand einer Veräußerung der Immobilien im Wege.
Inzwischen hat sich der Markt verändert, und so ist jetzt
seitens der Bundesregierung eine Veräußerung eingelei-
tet worden. An beiden Gesellschaften – das möchte ich
feststellen – besteht kein wichtiges Bundesinteresse im
Sinne der Bundeshaushaltsordnung.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Aber an sozialem Wohnen, Herr Storjohann!)


Die Bundesrepublik ist deshalb verpflichtet, sich von
den Beteiligungen an den Treuhandliegenschaftsgesell-
schaften zu trennen.

Das Verkaufsverfahren wurde vom Bundesfinanz-
ministerium europaweit bekannt gemacht. Investoren
konnten bis zum 16. April ihr Kaufinteresse bekunden.
Die Anträge der Fraktion Die Linke und der SPD zielen
darauf ab, die Privatisierung der TLG Immobilien
GmbH bzw. ihres Wohnungsbestandes zu stoppen.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das trifft nicht zu!)


In der Begründung des Antrags der Linken heißt es, dass
der Ausverkauf öffentlichen Eigentums die wirtschaftli-
che und politische Handlungsfähigkeit des Sozialstaates
schwäche und daher verhindert werden müsse.


(Beifall bei der LINKEN)


Diese Auffassung teilen wir


(Beifall bei der LINKEN)


von der CDU/CSU nicht.

Ich erinnere an den Verkauf von 114 000 bundeseige-
nen Eisenbahnerwohnungen im Jahre 2000, der damals
von der rot-grünen Bundesregierung vorgenommen wor-
den ist.


(Sören Bartol [SPD]: Aber wir sind lernfähig! Das ist doch jetzt eine ganz andere Wohnungssituation! Es war damals falsch!)


Jetzt geht es um einen Bestand von 11 350 Wohnungen
im Osten Deutschlands. In den damaligen Verhandlun-
gen wurde der denkbar weitestgehende Mieterschutz er-
reicht.


(Lachen bei Abgeordneten der LINKEN)


So bewertete es jedenfalls der von mir geschätzte Kol-
lege Kurt Bodewig, damals Verkehrsminister von der
SPD,


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Was hat das mit dem TLG-Verkauf zu tun?)


auf dem Gewerkschaftstag der Eisenbahner in Magde-
burg am 26. November 2000.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Sie wissen doch, dass es schiefgegangen ist!)






Gero Storjohann


(A) (C)



(D)(B)


Warum sollte dies also beim Verkauf der TLG-Immobi-
lien nicht zutreffen?


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Weil es schiefgegangen ist! – Hans-Joachim Hacker [SPD]: Weil wir zur Bundesregierung kein Vertrauen haben!)


Ich möchte hervorheben, dass in Deutschland ange-
messenes und bedarfsgerechtes Wohnen im Rahmen des
geltenden Rechts sehr wohl gewährleistet ist. Im födera-
len System der Bundesrepublik ist es übrigens nicht Auf-
gabe des Bundes, unmittelbar oder mittelbar über Bun-
desunternehmen wie die TLG Wohnen Wohnraum zur
Verfügung zu stellen.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Deswegen wollten wir es ja übernehmen!)


Ihre Schwarzmalerei über die zukünftige Situation
der Mieter ist verantwortungslos, und Sie schüren
Ängste bei den betroffenen Menschen. Das soziale Miet-
recht stellt einen angemessenen Ausgleich zwischen
Mietern und Vermietern her.


(Daniela Wagner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht mehr lange!)


Ein gegebenenfalls vereinbarter Mieterschutz in Form
einer Sozialcharta erreicht in aller Regel ein höheres
Schutzniveau als gesetzlich ohnehin vorgesehene Rege-
lungen.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721208300

Herr Kollege Storjohann, gestatten Sie eine Zwi-

schenfrage des Herrn Kollegen Bockhahn von der Frak-
tion Die Linke?


Gero Storjohann (CDU):
Rede ID: ID1721208400

Aber gern.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721208500

Bitte schön.


Steffen Bockhahn (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721208600

Vielen Dank, Herr Kollege Storjohann. Es war ja ein

schwerer Vorwurf, als Sie sagten, dass wir Ängste schü-
ren würden und unsere Befürchtungen unbegründet
seien. Haben Sie gestern Abend zufällig Zeit gehabt,
eine Sendung im Zweiten Deutschen Fernsehen zu
schauen? Ein gewisser Rolf Elgeti – wenn ich richtig in-
formiert bin, ist er der Vorstand der kaufenden TAG –
hat in einer Sendung darüber gesprochen, dass die Miet-
preise in Deutschland viel zu niedrig seien, dass Wohnen
deutlich teurer werden müsse und dass das Investment in
Wohnungen noch lange nicht ausgeschöpft sei. Er hat
darüber hinaus in der letzten Woche erklärt, dass er der
Auffassung ist, dass eine Mietpreiserhöhung in Höhe
von 5 Prozent per annum auch in den gerade gekauften
Wohnungsbeständen absolut in Ordnung sei.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: So ist es ja auch!)


Ich frage Sie, ob Sie sich in die Lage einer Mieterin
oder eines Mieters einer der gerade verkauften Wohnun-
gen hineinversetzen können. Die haben schon Befürch-
tungen, dass die bisherige solide und die Mietpreise
dämpfende Wohnungspolitik nicht mehr fortgeführt
wird.


Gero Storjohann (CDU):
Rede ID: ID1721208700

Erstens. Ich hatte gestern Abend keine Gelegenheit,

eine Sendung im ZDF zu schauen, weil ich hier im Ple-
num war.


(Florian Pronold [SPD]: Die ganze Zeit? Wir prüfen das!)


Zweitens ist eine Erhöhung von 5 Prozent im Rahmen
des Mietspiegels in Berlin etwas ganz Normales. Inso-
fern ist das keine besondere Situation, die Sie hier be-
schreiben. Ich bin hier in Berlin auch Mieter und be-
komme ähnliche Mieterhöhungen präsentiert. Ich habe
die Gewissheit, dass mein Vermieter die Finanzkraft hat,
dafür zu sorgen, dass der gesamte Wohnungsbestand
energetisch top ist und dass alles für mich als Mieter
prima hergerichtet ist. Insofern kann ich Ihre Befürch-
tung nicht nachvollziehen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Herr Präsident, ich fahre fort. – Wir haben bei den
Wohnungsverkäufen in einzelnen Fällen selbstverständ-
lich auch negative Erfahrungen gemacht. Aber mit der
TAG haben wir einen Käufer gefunden, der in Deutsch-
land sehr wohl ein gutes Renommee hat. Es handelt sich
um eine Firma, die schon lange auf dem Markt ist, und
nicht um einen Finanzinvestor aus Übersee, der sich um
die Wohnungsbestände beworben hat. Eine Sozialcharta
wird dafür sorgen, dass Kündigungen für ältere und be-
hinderte Menschen ausgeschlossen werden. Auch ein
Verbot von Luxussanierungen wird enthalten sein. Wir
sind sehr zuversichtlich, dass wir eine gute Entscheidung
getroffen haben.

Aus Gründen des EU-Beihilferechts ist es übrigens
nicht zulässig, die Bieter zum Verbot von Mieterhöhun-
gen zu verpflichten, wie Sie das hier anregen. Es ist auch
nicht erlaubt, mit den Kommunen im Rahmen einer sol-
chen Ausschreibung in Einzelverhandlungen einzutre-
ten. Alles das, was Sie vorschlagen, ist im Ergebnis un-
redlich.

Ich kann nur hoffen, dass Sie im Laufe der Zeit erken-
nen, dass wir hier eine gute Entscheidung vorbereitet ha-
ben und die Immobiliengesellschaft TAG aus Hamburg
etwas Gutes entwickelt. Sie hat letzten Endes auch eine
gute Entscheidung für sich selbst getroffen. Wir werden
uns dafür einsetzen, dass die vorgesehene Sozialcharta
eingehalten wird.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Prinzip Hoffnung!)


Wir sind zuversichtlich, dass die Veräußerung eine gute
Entscheidung für die Bundesrepublik Deutschland und
auch für die Mieter gewesen ist.





Gero Storjohann


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Haben Sie die mal gefragt?)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721208800

Vielen Dank, Kollege Gero Storjohann. – Der nächste

Redner ist schon da: für die Fraktion der Sozialdemokra-
ten unser Kollege Hans-Joachim Hacker. Bitte schön,
Kollege Hans-Joachim Hacker.


(Beifall bei der SPD)



Hans-Joachim Hacker (SPD):
Rede ID: ID1721208900

Danke, Herr Präsident. – Das Wochenende steht vor

der Tür; deswegen wollen wir zügig über die beiden vor-
liegenden Beschlussempfehlungen diskutieren.

Herr Kollege Storjohann, das, was Sie hier vorgetra-
gen haben, ist reine Ideologie.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Schauen Sie sich doch einmal den Wohnungsmarkt an!
Der Wohnungsmarkt ist im Moment durch steigende
Mieten gekennzeichnet – das ist der Trend –, insbeson-
dere bei Neuvermietungen in Ballungsräumen und in
Universitätsstädten. Es gibt entsprechende Statistiken.
Danach betrug die Mietsteigerung in Hamburg allein im
Jahr 2011 7,5 Prozent.


(Oliver Luksic [FDP]: Wer regiert denn in Hamburg? – Sebastian Körber [FDP]: Sie regieren ganz allein in Hamburg!)


– Ursache dafür ist doch die Situation auf dem Woh-
nungsmarkt in Hamburg und nicht die Wohnungswirt-
schaft des Senats. –


(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)


In Berlin gab es eine Mietsteigerung von 7,4 Prozent.
Der eine oder andere von uns wird etwas davon gemerkt
haben. In Freiburg im Breisgau betrug die Mietsteige-
rung 8,1 Prozent. Das lässt sich grafisch darstellen als
Linie der Mietpreissteigerungen in den letzten Jahren,
Herr Storjohann.

Die SPD-Bundestagsfraktion meint: Wir dürfen nicht
nur zuschauen, sondern müssen das Mietrecht gestalten,
und zwar im Großen wie im Kleinen. Mit „im Kleinen“
meine ich die TLG Wohnen. Hier hätten wir handeln
müssen. Es gibt zwei TLG-Teilbestände: TLG Wohnen
und TLG Immobilien. Der SPD-Bundestagsfraktion geht
es bei der Frage, wie mit dem Bestand der TLG Wohnen
umgegangen werden soll, der vor allem an der Ostsee-
küste, im Großraum Berlin und in Sachsen zu finden ist,
um soziale Aspekte und den Mieterschutz. Deswegen
haben wir diesen Antrag gestellt.

Wir fordern in unserem Antrag, die Bestände der
TLG Wohnen nicht weiter zu veräußern. Bei der
TLG Immobilien sieht das anders aus, Herr Storjohann;
auch wir sind der Meinung, dass der Bund bei Bürohäu-
sern und ähnlichen Immobilien nicht ewig und drei Tage
die Eigentümerfunktion ausüben muss. Im Bereich Woh-
nen ist das aber etwas anderes. Wohnen ist ein soziales
Gut.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Richard Pitterle [DIE LINKE] – Christian Lange [Backnang] [SPD]: So ist es!)


Warum haben Sie etwas dagegen, dass die Länder
durch den Bund angesprochen werden. Bei den Liegen-
schaften, die durch die Konversion, die Reform der Bun-
deswehr frei werden, machen wir doch Ähnliches. Da
wird sogar mit den Kommunen gesprochen, allerdings
nicht konkret genug; doch das ist ein anderes Thema.
Die Botschaft, dass mit den Ländern gesprochen werden
soll, war richtig.

Zu Beginn dieser Legislaturperiode haben wir hier
über ein ähnliches Thema diskutiert, über den Seenver-
kauf vor allem in Brandenburg und Mecklenburg-Vor-
pommern. Damals haben wir gesagt: Stopp der Verkäufe
und Aufnahme von Verhandlungen mit den Ländern!
Dann soll entschieden werden, wie die Seen an die Kom-
munen oder Länder übergeben werden können. – Dieses
Vorhaben haben Sie von FDP und CDU/CSU damals
blockiert.


(Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär: Sie wollten das geschenkt haben!)


Was haben Sie später tatsächlich gemacht? Sie haben
Verhandlungen mit den Ländern aufgenommen; auf die-
sem Wege wurden Lösungen gefunden. Warum haben
Sie unseren Antrag damals eigentlich abgelehnt? Dafür
gab es keinen sachlichen Grund.


(Parl. Staatssekretär Steffen Kampeter nimmt in den Reihen der CDU/CSU-Fraktion Platz.)


Auch bei diesem Thema gibt es keinen sachlichen
Grund, unserem Antrag nicht zuzustimmen, Herr
Storjohann. Sie haben aber nicht reagiert.

Wir haben uns auch mit anderen Vorschlägen be-
schäftigt. Wer den Antrag gelesen hat, stellt fest, dass
wir ein Festpreisverfahren wollten. Wir wollten, dass die
Sanierungsmaßnahmen weitergeführt werden. Vor allen
Dingen wollten wir aber, dass dieser Prozess mit den
Mieterinnen und Mietern organisiert wird und die Miete-
rinnen und Mieter nicht einfach durch ein Rundschrei-
ben informiert werden.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist aber eine sehr umfassende Sozialcharta, die wir vereinbart haben!)


Das alles haben Sie abgelehnt. Das kritisieren wir scharf.
Wir kritisieren, dass Sie sich den Erfordernissen des
Wohnungsmarktes verweigern und in keiner Weise auf
die Notwendigkeiten eingehen.

Sie haben hier eine Sozialcharta angekündigt, Kollege
Storjohann. Ich glaube nicht, dass eine Sozialcharta Si-
cherheit und Ruhe bringen wird. Wir haben das Projekt
in Dresden noch vor Augen, bei dem auch eine Sozial-
charta existierte. Am Ende mussten wir aber feststellen,
dass sie viele Lücken hatte.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Aber der Bund macht doch eine Schlichtungsstelle zur Einhaltung, eine von uns finanzierte Schlichtungsstelle!)






Hans-Joachim Hacker


(A) (C)



(D)(B)


Dass die Sozialcharta keine Sicherheit bringen wird,
beweist die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine
Anfrage, die wir zu diesem Thema gestellt haben. Das
war keine schlüssige Antwort. Sie haben nur auf das
Phänomen Sozialcharta verwiesen. Wir wissen alle, dass
dieses keine Sicherheit gibt. Wir werden das alles erle-
ben.

Sie hätten auf unsere Vorschläge eingehen können.
Sie hätten sie nicht alle übernehmen müssen; aber Sie
hätten die Verhandlungen mit den Ländern aufnehmen
können und den Kommunen, den kommunalen Woh-
nungsgesellschaften und den Genossenschaften Ange-
bote machen können.

Herr Staatssekretär


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Abgeordneter!)


– Herr Abgeordneter; aber Sie haben hier eine Doppel-
funktion, lieber Kollege –, im Informationsblatt des
GdW lese ich, mit welchen Lobgesängen die Bundesre-
gierung das Genossenschaftswesen preist, das in diesem
Jahr übrigens ein Jubiläum hat. Die Frau Bundeskanzle-
rin preist das Genossenschaftswesen über alle Maßen.
Jetzt bieten wir an, die Fähigkeiten und Qualitäten von
Wohnungsgenossenschaften in den neuen Ländern zu
nutzen, und Sie gehen nicht darauf ein. Das ist doppel-
züngig. Dazu kann ich nichts anderes sagen.


(Jan Mücke, Parl. Staatssekretär: Das ist aber das wirtschaftlichste Angebot für den Bund!)


– Herr Mücke, Sie haben noch Gelegenheit, zu diesen
Vorwürfen Stellung zu nehmen.

Herr Minister Ramsauer kündigt, gerade was Woh-
nungen angeht, ständig etwas Neues an. Im Zusammen-
hang mit den Immobilienliegenschaften, die von der
BImA verwaltet werden, und den Konversionsflächen
durch die Bundeswehrreform kommt er mit der Idee, ei-
nen geschlossenen Konversionsfonds vorzulegen. Ich
hatte Sie neulich schon gefragt, wann das kommen wird.
Das kann nicht kommen, weil Ihr Kollege Ihnen das aus
der Hand genommen hat. Der Bundesfinanzminister hat
Ihnen das untersagt.

Jetzt kommt der Bundesbauminister mit einer neuen
Idee, nämlich aus den Liegenschaften der Bundeswehr
Studentenwohnungen zu machen. Herr Mücke, ich stelle
Ihnen die Frage: Wird Herr Dr. Ramsauer auch den Nah-
verkehr zwischen dem Campus und der Liegenschaft im
Wald organisieren?


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das ist doch nicht der Punkt!)


Das sind doch fixe Ideen, die Sie am Wochenende in
Traunstein ausbrüten. Das, was Sie hier an Wohnungs-
politik vorlegen, hat doch keine Substanz.


(Beifall bei der SPD)


Es gibt einen zweiten Antrag, und zwar von den Lin-
ken. Sie wollen den Gesamtverkauf stoppen. Ich glaube,
wir haben uns im Ausschuss schon darüber unterhalten.
Das war eine kleine Fehlformulierung. Sie meinen wohl

eigentlich den Wohnungsbestand und nicht die Gewer-
beimmobilien. Das nehmen wir jetzt einfach so hin. – Für
mich ist es nicht ganz einfach, nachzuvollziehen, dass Sie
sich selbst – entgegen der Intention Ihres Antrags – am
Bieterverfahren beteiligen. Das ist für mich nicht logisch.
Ich kann das nur damit in Verbindung bringen, dass Sie
vielleicht doch die Absicht hatten, die Experten
Lafontaine und Dr. Gysi in den Vorstand dieser Gesell-
schaft aufzunehmen. Oder was stand dahinter? Ich war
mir darüber nicht so ganz im Klaren.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das ist jetzt wirklich unter Ihrem Niveau!)


Ich warne davor. Mir ist in diesem Moment eigentlich
das Interesse der Mieterinnen und Mieter höherwertig
als die Funktion dieser beiden Experten, die sich be-
kanntermaßen schon als Minister und Senator betätigt
haben.


(Beifall bei der SPD – Heidrun Bluhm [DIE LINKE]: Das sind ja üble Unterstellungen! – Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Sehr einfältig, Herr Kollege!)


Meine Damen und Herren, der Vorschlag, dass eine
Partei eine Genossenschaft gründet, ist wirklich ein Ding
aus der Mottenkiste. Das nehmen wir Ihnen nicht ab.

Den zweiten Punkt Ihres Antrags unterstützen wir
nachdrücklich,


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Jetzt kommt der erste gute Teil Ihrer Rede, Herr Kollege!)


nämlich dass die soziale Kompetenz bei diesen Entschei-
dungen beachtet werden muss, was durch Schwarz-Gelb
leider nicht beachtet worden ist. Deshalb enthalten wir
uns bei Ihrem Antrag.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr gut!)


Ich komme zum Ende. Was ist das Fazit dieser beiden
Anträge? Der Antrag der SPD-Bundestagsfraktion ist
gut. Er ist gut für die Mieterinnen und Mieter, und er ist
auch gut für den regionalen Wohnungsmarkt in den Ge-
bieten, in denen die TLG-Wohnungen liegen.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Er ist auch gut für Ihre PR! Aber er ist nichts in der Substanz!)


Die Koalitionsfraktionen – Herr Storjohann, ich
schreibe Ihnen das ins Stammbuch – haben aus ideologi-
schen Gründen blockiert. Es gibt viele andere Beispiele
dafür, dass Bundesvermögen auf andere, sozialverträgli-
che Weise privatisiert worden ist.

Mein letzter Satz: Kolleginnen und Kollegen von der
Koalition, Sie fahren heute mit einem „Mangelhaft“
nach Hause in Ihre Wahlkreise. Ich wünsche Ihnen trotz-
dem eine gute Fahrt.


(Beifall bei der SPD)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721209000

Das war unser Kollege Hans-Joachim Hacker. –

Nächster Redner ist der Parlamentarische Staatssekretär,





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)


Kollege Jan Mücke. Bitte schön, Herr Parlamentarischer
Staatssekretär Jan Mücke.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


J
Jan Mücke (FDP):
Rede ID: ID1721209100


Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Hacker, wenn
ich Ihre Rede so höre und Ihre Anträge lese, und zwar
sowohl den von der SPD-Fraktion als auch den von den
Linken, dann könnte man meinen, dass der von den
Maya prophezeite Weltuntergang auf heute vorverlegt
wurde; denn Sie tun so, als stünde die gesamtdeutsche
Wohnungsversorgung auf dem Spiel.


(Zuruf von der SPD: Sie müssen an Ihrer Lesekompetenz arbeiten!)


Ich darf Sie bitten, auf dem Teppich zu bleiben.

Worüber reden wir? Wir reden über die Privatisierung
der TLG-Wohnungen. Dabei geht es um 11 500 Woh-
nungen; dies sind 0,03 Prozent des deutschen Gesamt-
wohnbestandes bzw. 0,14 Prozent des ostdeutschen Be-
standes. Die Objekte verteilen sich weiträumig auf
insgesamt 53 Standorte in ganz Ostdeutschland. Es gibt
demzufolge auch keine Konzentration. Der größte Stand-
ort ist meine Heimatstadt Dresden mit 2 173 Wohneinhei-
ten. Selbst das ist nicht einmal 1 Prozent des Dresdener
Gesamtwohnungsbestandes. Zudem liegen diese Domi-
zile nicht in angespannten, sondern in entspannten Woh-
nungsmärkten, meist dort, wo Leerstand und Bevölke-
rungsschwund herrschen. Angesichts dieser Fakten ist
es, meine Damen und Herren von den Linken, geradezu
absurd, Grundfragen der Wohnungspolitik an der Priva-
tisierung der TLG-Wohnungen festzumachen. Aber die
Realität hat Sie ja noch nie gestört, liebe Kollegen von
den Linken.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Widerspruch bei der LINKEN)


In Teil eins Ihres Antrags haben Sie entweder Allge-
meinplätze oder sogar Falschbehauptungen formuliert.
Die Forderungen in Teil zwei Ihres Antrags sind ange-
sichts der tatsächlichen Lage auf dem ostdeutschen
Wohnungsmarkt schlicht und ergreifend überflüssig.
Keine Kommune und keine Landesregierung – auch
nicht die rot-rote in Brandenburg – hat Interesse am Er-
werb der TGL-Wohnungen bekundet. Das finde ich sehr
spannend.


(Zurufe von der FDP: Aha! – Hans-Joachim Hacker [SPD]: Sie haben doch kein Angebot gemacht!)


Offenbar sehen die Länder und Kommunen selbst dort,
wo SPD und Linke gemeinsam regieren, die Lage längst
nicht so kritisch, wie Sie hier der Öffentlichkeit weisma-
chen wollen.

Zurück zur Realität und damit zu Ihnen, verehrte Kol-
legen von der SPD. Auch Sie haben in Ihrem Antrag ge-
fordert, die Privatisierung der TLG-Wohnungen nicht
fortzuführen. Nebenbei betrachtet: Sie haben Ihren An-

trag einige wenige Tage nach den Linken eingebracht.
Ich war versucht, an ein linkes Wettrennen zu denken.
Wenn ich beide Anträge nebeneinanderlege, habe ich
den Eindruck, dass die Aussagen inhaltlich fast identisch
sind.


(Karin Binder [DIE LINKE]: Das sollte Ihnen doch zu denken geben, die große Einheit in diesem Hohen Hause!)


Insofern wäre es ehrlicher gewesen, Sie hätten gemein-
sam einen Antrag eingebracht. Aber dass die SPD über-
haupt die Unverfrorenheit besitzt,


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Na, na, Herr Mücke!)


einen solchen Antrag einzubringen, geschätzte Kollegen
von der SPD, das finde ich ein sehr starkes Stück. Denn
als Sie noch im Bund regierten, sind Sie nicht halb so
zimperlich gewesen, wenn es um Wohnungsprivatisie-
rungen ging.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Hans-Joachim Hacker [SPD]: Da hatten wir eine andere Situation!)


Erstes Beispiel. In Ihrer Regierungszeit, im Jahr 2000,
gingen – das ist schon angesprochen worden – rund
113 000 Eisenbahnerwohnungen über den Verkaufstisch,
davon rund 64 000 an einen durch die japanische Groß-
bank Nomura finanzierten Investor.


(Zuruf von der FDP: Heuschrecke!)


In Münteferings Diktion ist dies eine klassische Heu-
schrecke.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Amerikanisch!)


Die ehemalige Arbeiterpartei SPD verkaufte damit nicht
nur einfach Wohnungen an eine Heuschrecke, sondern
auch eine ganze betriebliche Sozialeinrichtung.


(Zuruf von der FDP: Sehr richtig!)


Ihr damaliger SPD-Bauminister Reinhard Klimmt
wischte die Kritik daran rigoros beiseite und erklärte
mannhaft, die Bundesregierung halte an der Absicht fest,
notwendige Beiträge zur Haushaltsentlastung durch Pri-
vatisierung der Eisenbahnerwohnungen zu realisieren.


(Beifall bei der FDP – Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war allerdings noch von Kohl eingefädelt!)


Das ist sehr interessant.

Zweites Beispiel. Unter Ihrer Regierungsverantwor-
tung, Kolleginnen und Kollegen von der SPD und von
den Grünen, wurden 2004 weitere 82 000 öffentliche
Wohnungen der Bundesversicherungsanstalt für Ange-
stellte, BfA, privatisiert. Das sind die sogenannten
GAGFAH-Wohnungen.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Die Grünen auch neoliberal!)


Beide Großverkäufe sind schon allein zahlenmäßig
ganz andere Kaliber als die TLG-Wohnungen, ganz ab-





Parl. Staatssekretär Jan Mücke


(A) (C)



(D)(B)


gesehen von den sozialen Rahmenbedingungen. Erst mit
dem GAGFAH-Verkauf wurde überhaupt erstmals eine
Sozialcharta eingeführt,


(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


wobei diese Sozialcharta gegenüber der Dresdner So-
zialcharta inhaltlich deutlich abfällt.

Ein Blick auf die Details lohnt sich. Ihre damalige
GAGFAH-Sozialcharta beinhaltete sieben Punkte. Diese
bezogen sich hauptsächlich auf den Mieterschutz. Die
Dresdner Sozialcharta beinhaltete hingegen 20 Punkte


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Hat auch nicht geholfen!)


zum Mieterschutz, zum Arbeitnehmerschutz, zur Stadt-
entwicklung, zu Vertragsstrafen und zu Kontrollen. Das
ist die Wahrheit, und bitte bleiben Sie bei der Wahrheit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Hans-Joachim Hacker [SPD]: Herr Mücke, wir haben doch heute eine andere Situation als vor zehn Jahren!)


Ich weiß, es tut Ihnen jetzt weh, aber es kommt noch
ein drittes Beispiel. Auch im rot-roten Berliner Senat
– man höre und staune! – ging es forsch zur Sache.


(Zurufe von der CDU/CSU: Oh! – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Ein Zerberus!)


2004 wurde die landeseigene GSW mit fast 70 000 Woh-
nungen verkauft, und weitere Tausende Wohnungen ver-
äußerten die kommunalen Berliner Wohnungsgesell-
schaften seither allein.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das war auch falsch! Das haben wir unterdessen ganz klar gesagt! – Lachen bei der FDP)


– Hochinteressante Bemerkung.

Aber auch die Berliner Grünen zierten sich nicht.
2003 schlugen sie angesichts des „katastrophalen Schul-
denbergs“ bei den Berliner Wohnungsgesellschaften vor,
mehr als die Hälfte des gesamten Berliner Wohnungsbe-
standes – man höre und staune! – zu verkaufen.


(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Wir sind fassungslos!)


Meine Damen und Herren, da liegt es wohl auf der Li-
nie, wenn erst Anfang dieses Jahres die grün-rote Lan-
desregierung von Baden-Württemberg mit dem grünen
Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann an der
Spitze die 21 000 Wohnungen ihrer Landesbank an einen
privaten Investor verkaufte.


(Oliver Luksic [FDP]: Dann ist das moralisch in Ordnung!)


Man kann es sehr einfach zusammenfassen: Niemand
hat in Deutschland mehr öffentliche Wohnungen an so-
genannte Heuschrecken verkauft als Linkspartei, SPD
und Grüne zusammen.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hans-Joachim Hacker [SPD]: Was hat das mit der heutigen Entscheidung zu tun?)


Deshalb: Verschonen Sie bitte die Öffentlichkeit mit Ih-
ren Täuschungsmanövern! Sie handeln zutiefst unauf-
richtig, und Ihre Anträge sind unredlich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was stört die FDP an Privatisierungen?)


Meine Damen und Herren, es ist doch sehr seltsam,
dass Ihnen derartige Großtransaktionen im Gegensatz
zur Mini-TLG-Transaktion offenbar keine Bauch-
schmerzen bereitet haben. Klar, es waren ja Ihre eigenen
Veräußerungen, es waren sozusagen gute Verkäufe, die
von den Richtigen durchgeführt wurden.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721209200

Sie denken an die Redezeit, Herr Staatssekretär?


(Petra Müller [Aachen] [FDP]: Schade eigentlich! – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Es könnte stundenlang so weitergehen!)


J
Jan Mücke (FDP):
Rede ID: ID1721209300


Ich bin gleich am Ende meines Manuskripts. – Auch
hierzu ein Beispiel: Das SPD-Mitglied Franz-Georg
Rips, Direktor des Deutschen Mieterbundes, lobte nach
dem Verkauf der 82 000 GAGFAH-Wohnungen durch
die rot-grüne Landesregierung die Sozialcharta: „Dieses
Mieterschutz-Paket kann sich sehen lassen“.


(Daniela Wagner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na ja! Das hat nicht so geklappt!)


Als ein Jahr später Dresden die WOBA verkaufte,
sprach er von einem Albtraum für die Mieterinnen und
Mieter – trotz weitaus besserer Sozialcharta. – Klar, hier
hatten die Falschen verkauft.


(Daniela Wagner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht nicht um „falsch“ oder „richtig“!)


Bitte hören Sie auf mit dieser Doppelmoral! Das, was
Sie hier tun, ist eine Verhohnepipelung der Öffentlich-
keit. Das hat nichts mit Wahrheit und Klarheit zu tun.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721209400

Herr Staatssekretär.

J
Jan Mücke (FDP):
Rede ID: ID1721209500


Ich glaube, dass die Veräußerung der TLG Wohnen
eine gute Entscheidung ist. Wir gucken uns die Märkte
an. Sie können weiter versuchen, die Öffentlichkeit zu
belügen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hans-Joachim Hacker [SPD]: Na ja, Mücke, das war ein bisschen zu viel! Das gehört sich für einen Staatssekretär nicht!)







(A) (C)



(D)(B)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721209600

Jeder ist für das verantwortlich, was er sagt. Aber das

Wort „Lüge“ sollte in diesem Haus nicht vorkommen.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das finde ich aber auch! Das war nicht in Ordnung!)


Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke un-
sere Kollegin Heidrun Bluhm. Bitte schön, Frau Kolle-
gin Heidrun Bluhm.


(Beifall bei der LINKEN)



Heidrun Bluhm (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721209700

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Vor allem meine Damen und Herren der Bundesre-
gierung und auch sehr geehrter Herr Kampeter vom
Bundesfinanzministerium – wo ist er jetzt? Er sitzt jetzt
hier als Abgeordneter –, glauben Sie vielleicht im Ernst,
dass Sie uns durch Ihren hektischen Aktionismus, den
Sie beim Verkauf der TLG Wohnen GmbH an den Tag
gelegt haben, austricksen können?


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Nein!)


Der vorgestern eilig vollzogene und geheimnisvolle Ab-
schluss des Kaufvertrages wird Sie nicht davor schützen,
dass Ihre Machenschaften nicht doch ans Tageslicht
kommen; denn dafür werden wir sorgen.


(Beifall bei der LINKEN – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Den Termin habe ich öffentlich verkündet, Frau Kollegin!)


Abgesehen davon, dass Sie in vollem Wissen darum
gehandelt haben, dass die Parlamentarier in dieser Wo-
che Anträge auf einen Verkaufsstopp öffentlich abschlie-
ßend beraten werden, haben Sie damit vor allem die
Mieterinnen und Mieter vor vollendete Tatsachen ge-
stellt, ohne sie davon in Kenntnis zu setzen.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Unglaublich!)


Das soll der neue Eigentümer nicht morgen, nicht
nächste Woche oder nächsten Monat tun; nein, das soll
er im nächsten Jahr machen; so ist die Verlautbarung.
Aber das Jahr ist lang! Das ist ein Skandal, meine Da-
men und Herren,


(Beifall bei der LINKEN)


so wie Ihre gesamte Informationspolitik gegenüber den
betroffenen Mieterinnen und Mietern in den letzten Mo-
naten ein Skandal war.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das ist die Wahrheit! – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Nach Mückes Rede könnt ihr euch das ersparen, oder?)


Offensichtlich haben Sie sehr viel zu verheimlichen,
wenn Sie sowohl Ihr Parlament als auch die Mieterinnen
und Mieter, vor allem aber die Öffentlichkeit völlig he-
raushalten wollen.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Nach des Staatssekretärs Rede könnt ihr euch das sparen, könnt ihr nach Hause gehen, oder?)


Eigentlich wollten Sie ein offenes, transparentes und be-
dingungsfreies Bieterverfahren durchführen. Ihre Vorge-
hensweise ist weder transparent noch offen und schon
gar nicht bedingungsfrei.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie haben vorgestern für knapp eine halbe Milliarde
Euro das letzte Wohnungsvermögen der Bürgerinnen
und Bürger der ehemaligen DDR an den internationalen
Immobilienmarkt verscherbelt,


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das ist jetzt aber Ideologie!)


obwohl Sie auch die Chance gehabt hätten, diese Woh-
nungen denjenigen zu verkaufen, denen sie eigentlich
gehören.


(Beifall bei der LINKEN – Hans-Joachim Hacker [SPD]: Wem denn?)


Wenn die Mieterinnen und Mieter auch ein zweites Mal
dafür bezahlt hätten, wären sie doch nach 22 Jahren end-
lich rechtmäßige Eigentümer der Wohnungen geworden.
Sie wollten Tatsachen schaffen, obwohl im Parlament
Anträge eingebracht wurden, den Verkauf zu stoppen
oder eine Übertragung an die Kommunen, wie es der Ei-
nigungsvertrag vorsieht, vorzunehmen.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Gut zuhören, Kollegen!)


Ich zitiere aus § 1 Abs. 1 des Treuhandgesetzes:

Volkseigenes Vermögen, das kommunalen Aufga-
ben und kommunalen Dienstleistungen dient, ist
durch Gesetz den Gemeinden und Städten zu über-
tragen.


(Beifall des Abg. Steffen Bockhahn [DIE LINKE])


Aber für Sie ist das, wie der aktuelle Verkaufsfall be-
weist, keine kommunale Aufgabe der Daseinsvorsorge.
Das ist ein Irrtum. Das ist ein sozialer Skandal.


(Beifall bei der LINKEN)


Meine Damen und Herren, Sie begünstigen schamlos
private Finanzinvestoren. Schon vor der Verkaufsent-
scheidung haben Sie diese Haushaltseinnahme in das
Jahr 2013 verschoben. Warum? Ich sage es Ihnen: Weil
die TAG das Kapital erst an der Börse besorgen muss.
30 Millionen Aktien müssen erst verkauft werden, damit
der Kaufpreis aufgebracht werden kann. Das braucht na-
türlich Zeit; deshalb die Verschiebung. Diese Aktien
werden vornehmlich angelsächsische Kapitalanleger mit
hohen Renditeerwartungen, die die Mieterinnen und
Mieter hinterher zu erwirtschaften haben, erwerben.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Was ist denn eine hohe Renditeerwartung?)


Mit diesem Deal tragen Sie dazu bei, dass sich die Ge-
samtbilanz des Käufers allein durch die hohe Werthaltig-
keit der TLG Wohnen GmbH wesentlich verbessern
wird. Das ist Begünstigung der Privatwirtschaft auf Kos-
ten des Allgemeinwohls. Auch das ist ein Skandal.


(Beifall bei der LINKEN)






Heidrun Bluhm


(A) (C)



(D)(B)


Die viel gepriesene Sozialcharta, die Sie verhandelt
haben wollen, geht völlig am Leben vorbei. Vereinbart
wurde hauptsächlich das, was sowieso nicht eintreten
wird oder ohnehin geltendes Recht ist, zum Beispiel Lu-
xussanierungen im Plattenbau. Ich bitte Sie: Wo wollen
Sie da eine Luxussanierung durchführen? Das fällt über-
haupt nicht an. Ein anderes Beispiel sind Eigenbedarfs-
kündigungen. Eine Aktiengesellschaft kann überhaupt
keine Eigenbedarfe anmelden, es sei denn, der Vor-
standsvorsitzende hat keine Wohnung.


(Sebastian Körber [FDP]: Was hat das denn mit dem Thema zu tun?)


Aber ich denke nicht, dass er in Kitzscher, in Dresden
oder vielleicht in Strausberg wohnen möchte. Deshalb
kommt für ihn auch keine Eigenbedarfskündigung in-
frage.

Wirklich geholfen hätte den Mieterinnen und Mie-
tern, wenn in dieser Sozialcharta die jetzige Miethöhe
festgeschrieben worden wäre.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Oh ja! Am besten für 50 Jahre! – Oliver Luksic [FDP]: Reichen denn die nächsten 100 Jahre?)


Davon steht in Ihrer Sozialcharta allerdings überhaupt
nichts. Ihre Sozialcharta ist scheinheilig, gewissenlos
und wird keinen Mieter vor maximaler Verwertung sei-
ner Wohnung schützen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Sebastian Körber [FDP]: Ihre Rede ist scheinheilig!)


Der Vorstandsvorsitzende der TAG Immobilien AG hat
sich erst gestern bei Frau Illner zu dem Thema geäußert,
das Herr Bockhahn eben angesprochen hat.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das war echter Quatsch!)


Zum Schluss noch eine Bemerkung zur Rolle der Bar-
clays Bank, meine Damen und Herren.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721209800

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen

Arnold Vaatz?


Heidrun Bluhm (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721209900

Wenn das meine Redezeit verlängert, bitte.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Ja, leider! – Petra Müller [Aachen] [FDP]: Jetzt bin ich ja mal gespannt!)



Arnold Vaatz (CDU):
Rede ID: ID1721210000

Frau Kollegin, Sie haben sich doch selber an dem

Bieterverfahren beteiligt, und zwar mit der extra neu ge-
gründeten Wohnungsgesellschaft FAIRWOHNEN.


(Beifall bei der LINKEN – Daniela Wagner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eine lustige Idee!)


Können Sie erläutern, wie die Bedingungen für die Er-
werber dieser Wohnungen, also für die Mitglieder der
Genossenschaft, gewesen wären, wenn Sie den Zuschlag
erhalten hätten, und können Sie erläutern, wie Sie das
Ganze finanziert hätten?


(Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Sehr gute Frage!)



Heidrun Bluhm (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721210100

Herr Kollege Vaatz, vieles darf ich Ihnen nicht sagen,

weil wir in diesem Zusammenhang eine Verschwiegen-
heitserklärung unterschrieben haben.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Ach, sieh an! Der Bundesregierung vorwerfen, sie sage nichts, und selber Verschwiegenheitserklärungen unterzeichnen! Das ist typisch! – Gegenruf des Abg. Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Wer hat die Verschwiegenheitserklärung denn verlangt? – Oliver Luksic [FDP]: Hinterzimmer! So viel zum Thema Transparenz!)


Aber ich glaube, das, was Sie wissen wollen, darf ich an
dieser Stelle sagen. Die TLG FAIRWOHNEN hätte sich
für die Mieterinnen und Mieter als Eigentümer zur Ver-
fügung gestellt, um ihnen diese Genossenschaft hinter-
her zu übergeben. Die Vermutung, Gysi und Lafontaine
seien vielleicht für den Vorstand vorgesehen gewesen
– Herr Hacker hat das in seiner Rede gesagt –, ist falsch.


(Beifall des Abg. Steffen Bockhahn [DIE LINKE])


Wäre uns der Zuschlag erteilt worden, hätten wir den
Mieterinnen und Mietern diese Genossenschaft selbst-
verständlich für die Eigenverwaltung zur Verfügung ge-
stellt. Wenn Sie die Satzung der TLG FAIRWOHNEN
gelesen hätten, dann würden Sie wissen, was eine wirkli-
che Sozialcharta ausmacht: das Festschreiben und
Selbstbestimmen, wie sich eine solche Genossenschaft
entwickelt, das Festschreiben und Selbstbestimmen,
wann wo investiert wird, und das Festschreiben und
Selbstbestimmen, wie hoch die Miete sein soll.


(Beifall bei der LINKEN)


Das wäre eine Sozialcharta gewesen, die wirklich hätte
verhandelt werden können.


(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Leider haben Sie meine Frage damit aber nicht beantwortet! – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: War das jetzt die Antwort auf die Frage?)


Im Übrigen, Herr Vaatz, rede ich hier und heute nicht als
Aufsichtsratsvorsitzende der TLG FAIRWOHNEN, son-
dern als Mitglied und wohnungspolitische Sprecherin
der Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN – Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Bravo! – Oliver Luksic [FDP]: Gut, dass Sie das noch mal gesagt haben! Sicher ist sicher!)


Ein letztes Wort zur Rolle der Barclays Bank. Gerade
hat der Bundesfinanzminister für die Einfädelung des





Heidrun Bluhm


(A) (C)



(D)(B)


Deals jemanden als Transaktionsbeauftragten bestellt,
der in England wegen Manipulation des Libor vor Ge-
richt steht. Der Vorstandsvorsitzende der Bank ist bereits
zurückgetreten, sicherlich nicht, weil diese Vorwürfe vor
Gericht haltlos sind. Die Auswahl dieses Transakteurs
durch den Bundesfinanzminister ist zumindest instinkt-
los, wenn nicht auch schon ein Skandal.


(Beifall bei der LINKEN)


Was der wirkliche Skandal ist, sage ich Ihnen jetzt.
Drei Mal dürfen Sie raten, wen die TAG Immobilien mit
der Börsenemission für die 30 Millionen Aktien beauf-
tragt hat, die für das Eigenkapital notwendig sind. Natür-
lich die Barclays Bank. Da kommt übrigens auch der jet-
zige TAG-Vorstandsvorsitzende her, wie in seiner Vita
zu lesen ist. So schließt sich der Kreis und – so sollte ich
vielleicht besser sagen – der Filz.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721210200

Jetzt muss ich Sie trotzdem auf die Redezeit aufmerk-

sam machen.


Heidrun Bluhm (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721210300

Ja, sofort. Ich komme zum Schluss. – Egal, was auf

dem Immobilienpaket der TLG draufsteht – immer ist
Barclays drin.

Nehmen wir einmal an, die Barclays Bank wird dafür
auch noch bezahlt. Das hat Herr Kampeter mir auf meine
Anfrage aus Geheimniskrämerei nicht beantwortet. Aber
1 Prozent wird schon drin sein. 1 Prozent für diesen Deal
heißt für die Barclays Bank fast 5 Millionen Euro.

Meine Damen und Herren in der Regierung und aus
der Koalition, fragen Sie sich gelegentlich auch einmal,
für wen Sie Politik machen oder wer Sie gewählt hat?
Sicher nicht. Sonst würden Sie sich nicht als Trittbrett
für die internationale Finanzindustrie betätigen. Aber
eins haben Sie ja jetzt erreicht.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721210400

Sie haben mir versprochen, zum Schluss zu kommen.


Heidrun Bluhm (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721210500

Das leidige und von vielen Skandalen begleitete

Thema der Treuhand ist nach 22 Jahren endlich Ge-
schichte.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721210600

Das war unsere Kollegin Heidrun Bluhm für die Frak-

tion Die Linke. – Jetzt gebe ich dem Kollegen Steffen
Kampeter das Wort zu einer Kurzintervention.


Steffen Kampeter (CDU):
Rede ID: ID1721210700

Frau Kollegin Bluhm, Sie haben mich persönlich an-

gesprochen und insinuiert, dass der Verkauf dieser Woh-
nungen ein unsozialer Akt sei. Sie sind leider über die
wesentlichen Inhalte der Sozialcharta hinweggegangen.
Da ich sie den Linken in der letzten Fragestunde eigent-

lich erläutert haben sollte, möchte ich sie hier heute nicht
vortragen. Ich möchte Sie aber im Wesentlichen daran
erinnern.

Es gibt eine umfassende erweiterte Kündigungs-
schutzregelung für fünf Jahre, ein lebenslanges Wohn-
recht für ältere Bewohnerinnen und Bewohner, das auch
von Angehörigen weiter genutzt werden kann, einen Sa-
nierungsschutz, den Vorrang der Mieterprivatisierung.
Darüber hinaus hat sich die TAG verpflichtet, die Bera-
tung beim örtlichen Mieterverein zur Sozialcharta zu un-
terstützen. Sie hat – das halte ich für viel besser als die
Festschreibung der derzeitigen Mieten, wie von Ihnen
gefordert – die Beibehaltung des bisherigen Investitions-
niveaus akzeptiert. Denn es geht hier doch nicht um
Miethöhe, sondern es geht um anständiges Wohnen, das
wir den Mieterinnen und Mietern garantieren können.


(Zuruf von der FDP: So ist es!)


Selbst für den möglichen Weiterverkauf dieser Wohnun-
gen hat sich der Erwerber verpflichtet, die Rechte aus
der Sozialcharta weiter zu gewähren. Es gibt Vertrags-
strafen für Nichteinhaltung. Von der TAG aus Hamburg
ist eine sehr individuelle Mieterinformation vorgesehen.
Dies ist ein sehr umfassendes soziales Absicherungspa-
ket für diese Privatisierung.

Wir haben zum einen für den Bundeshaushalt einen
auskömmlichen Ertrag erzielt, und wir haben zum ande-
ren mit der Sozialcharta für die Mieterinnen und Mieter
bei dieser Privatisierung eine lebendige soziale Markt-
wirtschaft aufleben lassen. Ihre Hetze, Ihre Unterschla-
gung der Sozialcharta


(Widerspruch bei der LINKEN)


ist unangemessen, führt zur Verängstigung der Mieter.
Sie sollten das einstellen. Dies ist ein faires Angebot an
alle Beteiligten. Die christlich-liberale Koalition steht zu
den Verpflichtungen der sozialen Marktwirtschaft auch
im Wohnungsbereich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721210800

Das war die Kurzintervention des Abgeordneten

Steffen Kampeter. – Wollen Sie, Frau Kollegin Heidrun
Bluhm?


Heidrun Bluhm (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721210900

Herr Kollege Kampeter, Sie rufen hier so laut und

müssen natürlich das verteidigen, was die Bundesregie-
rung an dieser Stelle verhandelt hat. Legen Sie die So-
zialcharta doch offen. Legen Sie sie auf die Startseite des
Internetauftritts des Bundesfinanzministeriums. Dann le-
gen wir andere Sozialchartas dagegen. Dann können wir
vergleichen, was das wert ist, was Sie hier eben so emo-
tional vorgetragen haben. Man könnte ja glauben, Sie
stünden wirklich dahinter.


(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Tue ich!)


Wir sind gemeinsam mit den Mieterinnen und Mie-
tern, mit denen wir sehr intensiv im Gespräch waren,
und gemeinsam mit dem Deutschen Mieterbund zutiefst





Heidrun Bluhm


(A) (C)



(D)(B)


der Auffassung, dass das, was Sie hier vorgelegt haben,
sowieso geltendes Recht ist. Was Sie zusätzlich geregelt
haben, ist nur das, was bei diesen Wohnungen sowieso
nicht zu befürchten ist – mit einer Ausnahme: Im Hin-
blick auf behinderte und ältere Menschen haben Sie et-
was geregelt, was den Investor immerhin für fünf Jahre
bindet, danach aber nicht mehr.

Insofern ist das, was Sie eben veranstaltet haben, eine
schöne Show gewesen. Aber im Sinne der Mieterinnen
und Mieter, die von dieser Privatisierung betroffen sind,
haben Sie nichts geregelt.


(Beifall bei der LINKEN – Oliver Luksic [FDP]: Plattitüden, sonst nichts!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721211000

Wir fahren fort in der Rednerliste. Frau Kollegin

Daniela Wagner, Sie waren schon einmal fast vorne am
Rednerpult, jetzt erneut, bitte schön. Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen Daniela Wagner.


Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721211100

Vielen Dank. – Herr Präsident! Verehrte Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen! Kollegen! Es befinden sich
noch knapp 10 Prozent des Wohnungsbestands in der
Bundesrepublik in der Hand von öffentlichen Woh-
nungsunternehmen; diese sind vor allen Dingen im Be-
sitz von Ländern und Kommunen. Nach zahlreichen
Privatisierungen ist der öffentliche Wohnungsbestand
bereits deutlich geschrumpft, obwohl er bei der Vermei-
dung von Verdrängungsprozessen eine wesentliche Rolle
spielen kann und sollte. So kann zum Beispiel einkom-
mensschwachen Mietern bezahlbarer Wohnraum bereit-
gestellt werden. Die öffentlichen Wohnungsunterneh-
men können aber auch beispielgebend sein bei der
ökologischen und energetischen Gebäudesanierung oder
bei dem altersgerechten Umbau des Wohnungsbestands.
Überall dort ist die öffentliche Hand, sind die öffentli-
chen Wohnungsunternehmen ein bisschen Vorbild.

Die öffentliche Wohnungswirtschaft muss daher auf
allen Ebenen – Länder und Kommunen – gestärkt wer-
den. Einen weiteren Verkauf öffentlicher Wohnungen an
nicht nachhaltig wirtschaftende Finanzinvestoren darf es
aus unserer Sicht nicht mehr geben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Müssen öffentliche Wohnungen dennoch aufgrund
finanzieller Zwänge verkauft werden, dann sind nach-
haltig wirtschaftende Wohnungsgesellschaften, Genos-
senschaften oder kommunale Konsortien oder eine Mie-
terprivatisierung zu bevorzugen.

Wir sagen aber auch: Eine Privatisierung öffentlichen
Wohnungsbestandes ist nicht per se abzulehnen. Sie
muss allerdings im Einzelfall geprüft werden. Das Er-
gebnis kann in dem einen Fall so, in dem anderen Fall
anders ausfallen. Wir sehen vor allen Dingen darin ein
Problem, dass der Wohnungsbestand der TLG en bloc
verkauft werden soll. Damit entzieht er sich einer Mie-
terprivatisierung.

Auf den uns vorliegenden Antrag möchten wir nur in
aller Kürze eingehen; wir hatten die Debatte ja schon ein-
mal. Die TLG in eine bundeseigene Wohnungsgesell-
schaft umzuwandeln, macht angesichts der Größe und der
Struktur des Unternehmens – 1 151 Objekte, 11 917 Miet-
wohneinheiten, verteilt über 212 Kommunen und eine lo-
kale Konzentration in den neuen Bundesländern – kei-
nen Sinn. Die Rahmendaten machen deutlich, dass die
TLG als wohnungspolitisches Steuerungsinstrument des
Bundes schlicht nicht geeignet ist. Selbst wenn man die
Wohnungen der TLG mit denen der BImA fusionierte,
hätte das entstehende Unternehmen nicht einmal die
Größe der Nassauischen Heimstätte mit 60 000 Wohnun-
gen in Hessen.

Wir halten es durchaus für richtig, die TLG zu privati-
sieren. Allerdings glauben wir, dass es besser gewesen
wäre, sie in kleine Pakete aufzuteilen und diese an lokale
Wohnungsgesellschaften zu verkaufen, auf gar keinen
Fall aber an einen einzelnen Finanzinvestor.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Ich habe den Eindruck, dass der politische Druck, der
angesichts der Erfahrungen aus der Vergangenheit mit
den Machenschaften der GAGFAH respektive Fortress,
Annington und anderer entstanden ist, Wirkung zeigt. Es
gibt in diesem Fall eine Sozialcharta, die sich verglichen
mit früheren Sozialchartas sehen lassen kann. Wenn ich
es richtig verstanden habe, finden die einzelnen Regel-
werke sogar Eingang in die individuellen Mietverträge.
Wenn dem so ist, dann ist das ein riesiger Fortschritt;
denn eine Sozialcharta, die nicht in den individuellen
Mietvertrag aufgenommen wird, ist das Papier nicht
wert, auf dem sie geschrieben steht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Herr Mücke, es geht nicht darum, ob der Richtige
oder der Falsche verkauft. Es ist nicht so, dass man das
beurteilen muss entlang der Frage: Sind das Liberale
oder Schwarze oder Grüne oder Rote, die die Privatisie-
rung beschlossen haben? Entscheidend ist, dass die Pri-
vatisierung funktioniert, das heißt, dass am Ende nicht
die Mieterinnen und Mieter die Angelegenheit ausbaden
müssen. Ihre Interessen müssen geschützt sein: Sie müs-
sen die Chance haben, sich an jemanden zu wenden. Sie
müssen ein Vorkaufsrecht bekommen, wenn ihre Woh-
nung verkauft werden soll. Sie müssen einen Ansprech-
partner im Haus haben. Es muss sich jemand kümmern –
anders als man das bei großen Wohnungsverkäufen in
der Vergangenheit erleben musste.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn Sie das bewerkstelligt haben sollten, dann wäre
das gut. Allerdings haben Sie sich nur für fünf respektive
zehn Jahre festgelegt. Wir wissen nicht, was dann die
TAG mit den Beständen vorhat. Das ist genau der Punkt,
an dem ich große Sorge habe.

Wenn man zum Beispiel die Äußerungen des TAG-
Vorstands von gestern Abend in der Sendung von





Daniela Wagner


(A) (C)



(D)(B)


Maybrit Illner verfolgt hat, die ich mir natürlich ange-
schaut habe, dann kann man durchaus auch böse Ahnun-
gen haben, was in fünf oder zehn Jahren mit diesen
Wohnungsbeständen geschieht. Dann gnade den Mietern
Gott.

Deswegen sage ich: Es ist sehr wichtig, dass man den
richtigen Vertragspartner hat, dass die richtigen Rege-
lungen Eingang in die Mietverträge finden und dass bei
einer solchen Sozialcharta am besten noch eine dingliche
Absicherung im Grundbuch passiert, damit die Mieterin-
nen und Mieter nachher nicht das Nachsehen haben.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721211200

Vielen Dank, Frau Kollegin Daniela Wagner. –

Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist Kol-
lege Karl Holmeier. Bitte schön, Kollege Karl Holmeier.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Karl Holmeier (CSU):
Rede ID: ID1721211300

Sehr verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen

und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Nichts ist so alt wie der Antrag der Linken von gestern.
Der heute zur Debatte stehende Antrag ist sogar von vor-
gestern. Ich will Ihnen auch sagen, warum: Erstens hat
der Bund die TLG-Wohnungen inzwischen verkauft. Da-
mit hat sich der Antrag zu einem Großteil erledigt. Zwei-
tens offenbart dieser Antrag, dass die Kolleginnen und
Kollegen von der Linken auch über 20 Jahre nach dem
Ende des SED-Staates noch immer nicht in der Wirklich-
keit angekommen sind.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich will daher gleich zu Beginn zum Zwecke der
Staatsbürgerkunde der Linken eines darstellen: VEB-
Wohnen gibt es in der Bundesrepublik Deutschland
nicht; denn nach unserem Staatsverständnis ist es nicht
Aufgabe des Bundes, den Menschen mit eigenen Unter-
nehmen Wohnraum zur Verfügung zu stellen.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Sollte es auch nicht!)


Genauso wenig ist es Aufgabe des Staates, mit eigenen
Supermärkten Lebensmittel anzubieten.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das sollte er auch gar nicht!)


Das ist sogar gesetzlich geregelt. Sie müssten es nur
nachlesen. Nach der Bundeshaushaltsordnung soll sich
der Bund nur dann an privaten Unternehmen beteiligen,
wenn ein wichtiges Interesse dafür besteht.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das ist unbestritten!)


Mit dem Wegfall des Treuhandauftrages der TLG be-
steht aber gerade kein wichtiges Interesse des Bundes
mehr, sodass er zur Privatisierung verpflichtet ist.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721211400

Herr Kollege Karl Holmeier, gestatten Sie eine Zwi-

schenfrage unserer Kollegin Heidrun Bluhm?


Karl Holmeier (CSU):
Rede ID: ID1721211500

Gerne.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721211600

Bitte schön.


Heidrun Bluhm (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721211700

Herr Kollege Holmeier, ich möchte Sie fragen, wenn

das stimmt, was Sie gerade zu den Eigentumsmöglich-
keiten des Bundes gesagt haben, wie sich die Bundes-
regierung und die Koalition vorstellen, mit den Gott sei
Dank noch vorhandenen Wohnungen in der Bundes-
anstalt für Immobilienaufgaben umzugehen.


Karl Holmeier (CSU):
Rede ID: ID1721211800

Es ist zurzeit nichts in der Planung. Wir werden se-

hen, was kommt.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Komisch!)


Mit Ihrer Forderung operieren die Linken insofern
nahe an der Rechtswidrigkeit.

Das wichtige Bundesinteresse lässt sich auch nicht
aus der unbestrittenen Verantwortung des Staates herlei-
ten, für bedarfsgerechten und bezahlbaren Wohnraum in
Deutschland zu sorgen. Mit Blick auf die TLG Immobi-
lien, die in ihrem Portfolio Büros, Einzelhandelsge-
schäfte und Gewerbeflächen hält, ist dies so klar, dass
dies eigentlich auch der Linken auffallen müsste.

Aber auch bei einem Blick auf das Portfolio der TLG
Wohnen ist kein wichtiges Interesse des Bundes zu er-
kennen; denn diese Wohnungen befinden sich im We-
sentlichen überhaupt nicht an den Orten, wo Wohnungs-
engpässe bestehen – es ist bereits gesagt worden, dass
diese Wohnungen sich auf über 50 Orte in Deutschland
verteilen – und wo eventuell der Staat zur Stabilisierung
des Mietwohnungsmarktes gefragt wäre. Die Wohnun-
gen befinden sich vielmehr im Wesentlichen dort, wo ein
ausgewogener Wohnungsmarkt vorhanden ist und wo
zum Teil sogar Leerstand herrscht.

Vor diesem Hintergrund kann ich nicht erkennen, wa-
rum der Staat in den Wettbewerb mit privaten Unterneh-
men treten und in das Immobiliengeschäft einsteigen
sollte.

Im Übrigen möchte ich betonen, dass die christlich-li-
berale Koalition und die von ihr getragene Bundesregie-
rung die Unterstützung sozial schwacher Haushalte bei
der Wohnraumversorgung durchaus ernst nimmt; denn
letztlich ist dies Aufgabe eines Sozialstaates. Dazu,
meine Damen und Herren, stehen wir uneingeschränkt.
Wesentliche Anhaltspunkte hierfür sind die Gewährung
von Wohngeld zur Stärkung der Mietzahlungsfähigkeit
und die soziale Wohnraumförderung der Länder. In die-
sem Rahmen kümmert sich der Staat um die Bereitstel-
lung preiswerter Mietwohnungen für sozial schwache





Karl Holmeier


(A) (C)



(D)(B)


Haushalte und die Unterstützung bei der Bildung selbst
genutzten Wohneigentums vor allem für Haushalte mit
Kindern.

Auch die Schaffung von behindertengerechtem
Wohnraum wird von zahlreichen Ländern und Kommu-
nen gefördert. Darüber hinaus hat sich der Bund auch di-
rekt im Zusammenhang mit der Privatisierung der TLG
Wohnen erfolgreich dafür eingesetzt, dass sozial schwa-
che Mieter und Menschen mit Behinderung geschützt
werden.

Im Rahmen einer dem Käufer auferlegten Sozial-
charta werden die Mieter umfassend und weit über die
gesetzlichen Vorschriften hinaus geschützt. Herr Staats-
sekretär Kampeter hat es ja bereits gesagt, aber ich
möchte es trotzdem erwähnen: Alle bestehenden Miet-
verträge werden unverändert übernommen. Bestands-
mieter erhalten fünf Jahre Schutz vor Kündigungen we-
gen Eigenbedarfs und wegen Hinderung an einer
angemessenen wirtschaftlichen Verwertung sowie zehn
Jahre Schutz vor Mieterhöhungen wegen Luxussanie-
rung. Ältere und schwerbehinderte Bestandsmieter er-
halten ein lebenslanges Wohnrecht. Zusätzlich hat sich
die TAG Immobilien AG gegenüber dem Bund vertrag-
lich verpflichtet, Instandhaltungen und Investitionen im
bisherigen Umfang fortzusetzen. Um die Einhaltung der
Sozialcharta zu überwachen, wird der Bund sogar eine
Ombudsstelle einrichten. Die Mieter der TLG Wohnen
können sich jederzeit dorthin wenden. Die Ombudsstelle
unterstützt die Mieter bei der Durchsetzung ihrer Rechte
aus der Sozialcharta.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieser An-
trag zeigt nicht die besondere soziale Einstellung der
Linken. Dieser Antrag zeigt vielmehr, dass diese Frak-
tion leider noch immer nicht in der Wirklichkeit ange-
kommen ist und hierzu offensichtlich auch nicht willens
ist. Sie blendet die Realität schlichtweg aus und bleibt
damit die Fraktion von gestern. Deshalb werden wir den
Antrag ablehnen.

Danke.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hans-Joachim Hacker [SPD]: Was sagen Sie denn zu dem SPD-Antrag? – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Ja, das ist die Fraktion von vorgestern! Alter Erich! – Zuruf von der LINKEN: Sie haben die Realität wirklich ausgeblendet!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721211900

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu dem An-
trag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Ausverkauf
staatlichen Eigentums stoppen – Keine Privatisierung
der TLG-Wohnungen“. Der Ausschuss empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10361, den
Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/9150
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unions-

fraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke bei Enthaltung der SPD-Fraktion und
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Zusatzpunkt 12. Wir kommen zur Abstimmung über
die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung zu dem Antrag der Fraktion
der SPD mit dem Titel „Wohnungspolitische Verantwor-
tung bei Übertragung der bundeseigenen TLG-Wohnungen
sichern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/10717, den Antrag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/9737 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen ange-
nommen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich den
nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, teile ich Ihnen
mit, dass sich die Fraktionen darauf verständigt haben,
den Tagesordnungspunkt 47 – es handelt sich hier um
Vorlagen zur Verbraucherpolitik – von der Tagesordnung
abzusetzen. Außerdem sollen die Tagesordnungs-
punkte 49 und 50 getauscht werden, sodass wir zunächst
über den Tagesordnungspunkt 49 beraten. Sind Sie mit
dieser Vereinbarung einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann ist so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 49 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Weiter-
entwicklung der Krebsfrüherkennung und zur
Qualitätssicherung durch klinische Krebsre-

(Krebsfrüherkennungsund -registergesetz – KFRG)

– Drucksache 17/11267 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)
Innenausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Heinz Lanfermann für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Heinz Lanfermann (FDP):
Rede ID: ID1721212000

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Wir kennen die Fallzahlen: Jährlich verzeichnen
wir in etwa 500 000 Neuerkrankungen. Gut 220 000 Pa-
tienten mit Krebsdiagnose sterben in Deutschland pro
Jahr an ihrer Erkrankung. Jeder vierte Todesfall ist
krebsinduziert. Auch wenn in Europa die Sterbensraten
zum Beispiel bei Darm-, Magen-, Prostata- oder auch
Brustkrebs erfreulicherweise und nicht zuletzt aufgrund
verbesserter Behandlungsmethoden rückläufig sind, so
ist schon allein wegen der höheren Lebenserwartung mit
einer generellen Zunahme von Krebserkrankungen zu





Heinz Lanfermann


(A) (C)



(D)(B)


rechnen. Diese Tatsache allein ist Anlass genug, um die
Bemühungen im Kampf gegen diese Krankheit zu ver-
stärken. Die Entwicklung neuartiger Medikamente dau-
ert Jahre, erfordert einen sehr hohen Finanzaufwand und
muss hohe Zulassungshürden überwinden. Ohnehin ist
auf lange Sicht keine Standardtherapie zu erwarten, die
zu einer garantierten Heilung führen würde. Aber jeder
Schritt, den wir heute unternehmen, um das Bewusstsein
für Krebs und die damit zusammenhängenden Probleme
zu stärken, wird der Gesellschaft helfen, die Krankheit
zu vermeiden und zu bekämpfen, und den Betroffenen
und Angehörigen helfen, mit ihr besser umgehen zu kön-
nen.

Vor diesem Hintergrund ist es richtig, dass die Bun-
desregierung mit der Präventionsstrategie das Bewusst-
sein der Bevölkerung für eine gesunde Lebensweise
frühzeitig schärfen will – darüber werden wir hier dem-
nächst diskutieren –, um bereits an der Wurzel anzuset-
zen und Auslöser bzw. Entwicklungsverlauf bei vielen
Krankheiten zu verhindern.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ein weiterer wichtiger Ansatz sind die im Nationalen
Krebsplan identifizierten und mit dem Krebsfrüherken-
nungs- und Krebsregistergesetz benannten Lösungsmaß-
nahmen, mit denen wir wichtige strukturelle Fortschritte
bei der onkologischen Versorgung initiieren werden.

Der erste Schwerpunkt unseres Gesetzes ist auf die
Verbesserung der Früherkennungsmöglichkeiten gerich-
tet. Schon heute gibt es zahlreiche Früherkennungsme-
chanismen, die allen Menschen offenstehen. Leider wird
das bestehende Angebot bisher nur unzureichend ge-
nutzt. Außerdem erfüllen die Vorsorge für Gebärmutter-
hals- und Darmkrebs nicht die Empfehlungen der EU-
Leitlinie zur Qualitätssicherung von Krebsfrüherken-
nungsprogrammen, ein Umstand, dem wir mit dem Ge-
setz Rechnung tragen. Wir wollen und werden mit unse-
ren Maßnahmen dafür sorgen, dass die Qualität der
Krebsfrüherkennung verbessert wird und damit die
Grundlage dafür schaffen, dass insgesamt mehr Men-
schen an Vorsorgeuntersuchungen teilnehmen.


(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Sehr gut!)


Wir werden deshalb ein Einladungswesen institutio-
nalisieren. Die Bürger werden künftig in regelmäßigen
Abständen ein Schreiben erhalten, in dem die Kranken-
kassen auf die Möglichkeiten zur Teilnahme an entspre-
chenden Vorsorgeprogrammen hinweisen. Heute gibt es
ein solches Verfahren bereits für das Mammografie-
Screening. Wir werden das auch auf den Bereich von
Gebärmutterhals- und Darmkrebsvorsorge ausweiten.
Außerdem sorgen wir dafür, dass die Altersgrenzen und
die Häufigkeit für einzelne Voruntersuchungen an den
Stand des aktuellen medizinischen Forschungswissens
angepasst werden. Die Wirksamkeit der organisierten
Krebsfrüherkennung werden wir dann alle zwei Jahre
auf den Prüfstand stellen.

Wie im Nationalen Krebsplan vorgeschlagen, legen
wir den zweiten Schwerpunkt unseres Gesetzes auf den

flächendeckenden Ausbau klinischer Krebsregister. Das
erlaubt uns in Zukunft eine bundesweite Datenerhebung
und -auswertung, bezogen auf die verschiedenen Ein-
richtungen. Diese Erkenntnis ist sehr wichtig, da die un-
terschiedlichen Kliniken nach unterschiedlichen Metho-
den und Ansätzen verfahren. Damit lassen sich wichtige
Schlüsse auf die Wirksamkeit von Therapien ziehen. Das
fördert und beschleunigt die Forschung und animiert die
Kliniken, nach wirksameren Behandlungsmethoden zu
streben. Aber auch die Patienten profitieren beispiels-
weise bei der Krankenhauswahl von den gewonnenen
Erkenntnissen. Um den Wettstreit um die beste Behand-
lungsmethode zu befeuern, wollen wir eine möglichst
transparente Datenbasis schaffen. Deshalb verpflichten
wir die Länder zu einer jährlichen landesweiten und den
GKV-Spitzenverband zu einer bundesweiten Auswer-
tung alle fünf Jahre.

Sicherlich gibt es den einen oder anderen sachlichen
Aspekt, den man im Zusammenhang mit diesem Gesetz
diskutieren kann, sei es die Höhe der Krebsregisterpau-
schale, seien es die Finanzierungsanteile, die Kassen
oder Länder aufzubringen haben, seien es die Fragen
nach der genauen Auswertbarkeit der Datensätze durch
Politik, Wissenschaft und Bevölkerung. Darüber können
und werden wir im Ausschuss konstruktiv beraten.

Die Stoßrichtung – da bin ich mir sicher – stimmt.
Wir sind uns einig, dass die identifizierten Maßnahmen
der richtige Schritt sind, um die Volkskrankheit Krebs
weiter einzudämmen, besser behandeln zu können und
empirisch belegt wirksame Behandlungsmethoden zu
entwickeln.

Auch mit Blick auf die Finanzierbarkeit unseres Ge-
sundheitssystems sind Früherkennung und die frühe Be-
kämpfung von Krebs wichtig. Sie vermeiden auch hohe
Behandlungskosten in Millionenhöhe; diese Mittel kön-
nen wir sehr gut an anderer Stelle verwenden.

Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen für Ihre
Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721212100

Die Kollegin Dr. Marlies Volkmer hat nun für die

SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Marlies Volkmer (SPD):
Rede ID: ID1721212200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Im Gegensatz zur gestrigen Debatte wird die heutige
nicht so kontrovers verlaufen. Das ist in Anbetracht der
späten Stunde auch ganz gut so.

Die Überlebenschancen und die Lebensqualität krebs-
kranker Menschen haben sich in den letzten Jahren deut-
lich verbessert. Das liegt an der verbesserten Früherken-
nung sowie an verbesserter Diagnostik und Therapie.
Aber die demografische Entwicklung, die eine höhere
Lebenserwartung zur Folge hat, wird die Zahl krebs-
kranker Menschen wieder ansteigen lassen. Es bleibt





Dr. Marlies Volkmer


(A) (C)



(D)(B)


eine große Herausforderung. Mein Vorredner hat schon
darauf hingewiesen, dass jährlich über 470 000 Men-
schen an Krebs erkranken und fast 220 000 Menschen
pro Jahr daran versterben. Damit ist in Deutschland
Krebs die zweithäufigste Todesursache nach Herz-Kreis-
lauf-Erkrankungen.

Wir haben in unserer Regierungszeit bereits wichtige
und erfolgreiche Initiativen im Bereich der Früherken-
nung gestartet. Die bekannteste Initiative ist das Mam-
mografie-Screening, das 2004 eingeführt worden ist.
Mammografie-Screening-Zentren arbeiten inzwischen
flächendeckend in Deutschland. Sie arbeiten nach einem
Einladungssystem und qualitätsgesichert. Diese gelun-
gene Initiative dient als Vorbild für weitere Früherken-
nungsmaßnahmen, wie sie der vorliegende Gesetzent-
wurf vorsieht.

Wir haben im Jahr 2008 in der Großen Koalition im
SPD-geführten Gesundheitsministerium einen Nationa-
len Krebsplan erarbeitet. Daran haben wir 20 Organisa-
tionen mit weit über 100 Fachleuten beteiligt. Mit dem
Krebsplan, den wir 2008 vorgelegt haben, haben wir
einen wichtigen Meilenstein gesetzt und den Ausgangs-
punkt für weitere gesetzgeberische Maßnahmen geschaf-
fen, die jetzt erfolgen sollen. Das Krebsplan-Umsetzungs-
gesetz soll erste Ziele dieses jüngst aktualisierten
Planes umsetzen. Dazu wird die Krebsfrüherkennung
weiterentwickelt und werden weiter reichende Rege-
lungskompetenzen in die Hände des Gemeinsamen Bun-
desausschusses gelegt. So soll die Inanspruchnahme von
Krebsfrüherkennungen verbessert werden. Wir wollen
die Altersgrenze, die jetzt sehr starr festgelegt ist, verän-
dern; wir wollen sie flexibilisieren. In stärkerem Maße
sollen organisierte, qualitätsgesicherte Krebsfrüherken-
nungsprogramme etabliert werden.

Als weitere Maßnahmen werden die Bundesländer
zur Einrichtung klinischer Krebsregister verpflichtet.
Klinische Krebsregister erfassen die Qualität der Be-
handlung eines jeden Krebspatienten, also idealerweise
vom Beginn der Diagnose über die Nachsorge bis zum
Versterben eines Patienten in einer Einrichtung, idealer-
weise aufgeschlüsselt nach Region und Bundesland und
dann zusammengefasst für Deutschland.

Der vorliegende Gesetzentwurf hebt sich positiv von
all den anderen Gesetzentwürfen oder Initiativen ab, die
Sie bisher vorgelegt haben.


(Michaela Noll [CDU/CSU]: Das ist doch gut, dass Sie das auch so sehen!)


Er kann helfen, sowohl die Forschung zu Krebserkran-
kungen als auch die Qualität der gesundheitlichen Ver-
sorgung Krebskranker zu verbessern. Die bundesweite
Einführung klinischer Krebsregister ist überfällig. Denn
es ist an der Zeit, dass wir auch in Deutschland Aussa-
gen darüber machen können, welche Art der Therapie in
welchem Stadium bei welcher Krebserkrankung am er-
folgversprechendsten ist. Das können wir nämlich bisher
noch nicht. Hier waren die neuen Bundesländer mit ih-
rem Gemeinsamen Krebsregister Vorreiter. Ich denke,
die Erfahrungen, die wir in den neuen Bundesländern

mit dem Gemeinsamen Krebsregister gemacht haben,
können für uns Vorbildcharakter haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dieser Gesetzentwurf hat aber auch verschiedene
handwerkliche Mängel, und verschiedene Aspekte blei-
ben unberücksichtigt. Ich will einige Beispiele nennen.
Was die Frage der Finanzierung angeht, ist es richtig, ne-
ben den gesetzlichen Krankenkassen die Länder zu betei-
ligen. Auch die Länder müssen ein Interesse an klinischen
Krebsregistern haben, weil auch sie daran interessiert sein
müssen, dass sich die Versorgung in ihrer Region verbes-
sert.

Aber aus welchem Grund werden die privaten Kran-
kenkassen bei der Finanzierung außen vor gelassen?
Auch privatversicherte Patientinnen und Patienten profi-
tieren von den Forschungsergebnissen, und Screening-
Untersuchungen sollten auch für privatversicherte Patien-
tinnen und Patienten möglich sein. Wenn Sie jetzt sagen,
das sei bei der privaten Krankenversicherung nicht mög-
lich, dann müssten Sie auch einmal erklären, warum Sie
sich immer für das offensichtlich unfaire zweigeteilte Ge-
sundheitssystem einsetzen.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Etwas erstaunlich finde ich auch, dass Sie zwar der
Früherkennung als Präventionsmaßnahme einen hohen
Stellenwert beimessen, dabei aber auf halber Strecke ste-
hen bleiben. Denn noch wichtiger als Screenings in der
Vorbeugung sind doch gesundheitsbewusstes Verhalten
und eine gesundheitsfördernde Umwelt.

Sie vernachlässigen zudem wichtige Ursachen der
Krebsentstehung. Ich möchte ein Beispiel nennen. Wir
alle wissen, dass Rauchen unumstritten Krebs, insbeson-
dere Lungenkrebs, verursacht. Der Zigarettenkonsum
stellt heute das bedeutendste einzelne Gesundheitsrisiko
in den Industrieländern dar und ist die Hauptursache für
frühzeitige Sterblichkeit. Warum also sollte nicht ein
Teil der Einnahmen aus der Tabaksteuer für die Finan-
zierung klinischer Krebsregister herangezogen werden?
Lungenkrebs ist schließlich die dritthäufigste Krebser-
krankung in Deutschland. Nach Schätzungen des
Robert-Koch-Instituts ist eine Lungenkrebserkrankung
bei neun von zehn Männern und bei mindestens sechs
von zehn Frauen auf das Rauchen zurückzuführen. Wa-
rum – das muss ich dann auch fragen – verbieten Sie
nicht endlich konsequent die Tabakwerbung?


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Von einem Gesetz, das als Krebsplan-Umsetzungsge-
setz betitelt ist, hätten wir uns weitergehende Verbesse-
rungen vor allem im Präventionsbereich gewünscht, ins-
besondere da Ihr groß angekündigtes und übrigens im
Bundeshaushalt nicht vorgesehenes Präventionsgesetz in
Ihrer Regierungszeit wohl nicht mehr kommen wird. Wir
werden uns aber einem konstruktiven Dialog nicht ver-
weigern, und wir hoffen sehr, dass die Mängel, die sich
noch in dem Gesetzentwurf finden, im Laufe des parla-
mentarischen Verfahrens ausgeräumt werden können.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(D)(B)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721212300

Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin

Annette Widmann-Mauz.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


A
Annette Widmann-Mauz (CDU):
Rede ID: ID1721212400


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Die Vorrednerinnen und
Vorredner haben bereits auf die Bedeutung von Krebs als
Erkrankung für die Patientinnen und Patienten selbst in
ihrer gesundheitlichen Lage und auf die Bedeutung und
die Auswirkungen auf die Familien und das berufliche
und soziale Umfeld hingewiesen. Ich möchte das unter-
streichen: Krebs ist eine Diagnose, die nicht nur den
Menschen persönlich in eine ganz neue Überlegensphase
bringt, sondern auch das gesamte Umfeld vor viele Fra-
gen stellt. Deshalb ist es sehr wichtig, dass wir das nicht
nur im Hinblick auf das Gesundheitswesen mit dem Fo-
kus auf Versicherungen und Leistungserbringern disku-
tieren, sondern dabei auch den Blick auf die Menschen
nicht vergessen.

Genau das war das Ziel des Nationalen Krebsplans,
der, wie die Kollegin Volkmer ausgeführt hat, im Jahr
2008 vom Bundesministerium für Gesundheit gemein-
sam mit der Deutschen Krebsgesellschaft, der Deutschen
Krebshilfe und der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Tu-
morzentren ins Leben gerufen wurde. Mehr als 20 Orga-
nisationen und weit über 100 Fachexperten und Fach-
expertinnen haben seit dieser Zeit konkrete Empfehlungen
erarbeitet. Weit über 100 Empfehlungen sind es gewor-
den. In diesem Frühjahr wurden sie der Öffentlichkeit
vorgestellt.

Mit dem Entwurf eines Krebsfrüherkennungs- und -re-
gistergesetzes, den wir heute im Deutschen Bundestag in
erster Lesung einbringen, gehen wir den nächsten
Schritt. Denn wir setzen zwei zentrale Bereiche des Na-
tionalen Krebsplans um: zum einen die Verbesserung
und Weiterentwicklung der Krebsfrüherkennung und
zum anderen den Aufbau und Ausbau flächendeckender
klinischer Krebsregister.

Krebs ist eine schwerwiegende und zunehmende Er-
krankung. Daher müssen wir die Chancen der Früher-
kennung gerade in diesem Bereich besser nutzen. Im Be-
reich des Darmkrebses könnten wir durch eine
rechtzeitige Früherkennung deutlich mehr Krebs vermei-
den oder in einem heilbaren Stadium entdecken. Mit die-
sem Gesetz bieten wir den Versicherten ein weiteres An-
gebot an. In Deutschland gibt es schon ein breites
Angebot an Leistungen zur Krebsfrüherkennung. Den-
noch ist in Deutschland Darmkrebs bei Frauen und Män-
nern die zweithäufigste Krebserkrankung und Todesur-
sache. Ganz offensichtlich erreicht das bestehende
Früherkennungsangebot unsere Bürgerinnen und Bürger
nur unzureichend. Deshalb sollen anspruchsberechtigte
Frauen und Männer künftig persönlich zur Krebsfrüh-
erkennung eingeladen werden. Hiermit folgen wir den
guten Erfahrungen bei der Umsetzung des Modells des

organisierten Mammografie-Screenings und den ent-
sprechenden Empfehlungen der europäischen Leitlinien.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir wollen niemanden zu einer Krebsfrüherkennung
überreden oder ihn dazu drängen. Die Bürgerinnen und
Bürger sollen vielmehr zu einer selbstbestimmten und
vor allen Dingen zu einer informierten Entscheidung be-
fähigt werden; das ist wichtig. Genauso wie jede andere
medizinische Maßnahme ist kein Krebsfrüherkennungs-
test perfekt. Auch er beinhaltet Risiken und Belastungen.
Auch falsche positive Diagnosen können vorkommen,
die dann wiederum zu unnötiger Diagnostik oder Thera-
pie führen können. Daher muss gleichzeitig mit der
Einladung verständlich und neutral über Vor- und Nach-
teile solcher Krebsfrüherkennungsuntersuchungen infor-
miert werden. Belastungen für die Versicherten, zum
Beispiel durch fehlerhafte Diagnosen, müssen wir auf
ein Minimum reduzieren. Die Qualität und der Erfolg
der Krebsfrüherkennung, insbesondere die Senkung der
Sterblichkeit bei Krebserkrankung, sollen mithilfe epide-
miologischer Krebsregister erfasst und überwacht wer-
den.

Der zweite Schwerpunkt des Gesetzes liegt im flä-
chendeckenden Ausbau klinischer Krebsregister; denn
hier kommt die Qualität der Krebsbehandlung in den Fo-
kus. Patientinnen und Patienten haben ein Recht auf eine
qualitativ hochwertige Versorgung auf dem aktuellen
Stand der medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse.
Leider aber weist die Qualität der Versorgung von
Krebspatienten in unserem Land immer noch erhebliche
Unterschiede auf. Die Arbeit klinischer Krebsregister
macht diese Unterschiede sichtbar. Dies wird dadurch
erreicht, dass die Qualität der onkologischen Versorgung
für jede Patientin und jeden Patienten in allen Behand-
lungsphasen und allen Behandlungsschritten erfasst, be-
wertet und rückgemeldet wird. Krebspatientinnen und
Krebspatienten profitieren von diesen klinischen Krebs-
registern; denn durch deren Arbeit können sie sicher
sein, dass die Behandlung von unabhängigen Fachleuten
geprüft wird und dadurch Maßnahmen ergriffen werden,
um die Therapie so optimal wie möglich zu gestalten.

Es wird auch ein Qualitätsvergleich zwischen den
Einrichtungen gezielt gefördert; denn das Ziel ist, dass
sich die Versorgung und die Einrichtungen an den Bes-
ten orientieren und sich auch qualitativ weiterentwi-
ckeln. In einem zweiten Schritt erhalten wir dadurch na-
türlich auch wichtige Erkenntnisse für die Forschung,
die dann wiederum die Voraussetzungen liefert, dass die
Krebsbehandlung auch in Zukunft gemäß aktuellem wis-
senschaftlichen Stand durchgeführt werden kann.

Klinische Krebsregister sind nicht neu. Wir haben
schon heute 50 Register dieser Art, die auch bereits er-
folgreich arbeiten. Uns fehlen aber einheitliche Struktu-
ren; denn die existierenden klinischen Krebsregister sind
zu unterschiedlich strukturiert und organisiert. Sie unter-
scheiden sich auch hinsichtlich ihrer Aufgaben, die sie
wahrnehmen. Deshalb schaffen wir mit diesem Gesetz
den rechtlichen und finanziellen Rahmen für eine ein-
heitliche und flächendeckende klinische Krebsregistrie-
rung in ganz Deutschland.





Parl. Staatssekretärin Annette Widmann-Mauz


(A) (C)



(D)(B)


Wir können mit diesem Gesetz Gutes für die Men-
schen in unserem Land bewirken, und wir werden genü-
gend Zeit haben, in den Beratungen im Ausschuss die
wesentlichen Details zu vertiefen, um im Interesse der
Menschen in unserem Land einen wichtigen Schritt vo-
ranzukommen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721212500

Das Wort hat die Kollegin Kathrin Vogler für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Kathrin Vogler (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721212600

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Wie Sie wissen, hatte ich in dieser Woche noch
nicht so oft Gelegenheit, die Arbeit dieser Bundesregie-
rung zu loben. Das möchte ich zum Wochenende hin
noch nachholen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


– Danke schön. – Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
zur Krebsfrüherkennung korrigieren Sie nämlich einen
ausgemachten Unsinn aus den Zeiten der Großen Koali-
tion. Diese wollte nämlich Krebskranke, die vor ihrer Er-
krankung nicht an Vorsorgeuntersuchungen teilgenom-
men hatten, dadurch bestrafen, dass sie die sogenannte
Chronikerregelung verlieren und dadurch doppelt so
hohe Zuzahlungen leisten müssen wie andere chronisch
Kranke. Was für ein Unsinn!


(Beifall bei der LINKEN)


Menschen durch finanzielle Anreize und Strafen zu ge-
sundheitsbewusstem Verhalten quasi nötigen zu wollen,
ist der falsche Ansatz, und es widerspricht auch dem
Bild vom mündigen, selbstbestimmten Bürger.

Das Einladungsmodell, das Sie jetzt einführen wol-
len, wird der Freiheit und Selbstbestimmung sehr viel
besser gerecht. Aber diese Verbesserung ist aus unserer
Sicht nur die halbe Miete. Wie Sie wissen, lehnt die
Linke Zuzahlungen, also die Beteiligung Kranker an den
Krankheitskosten, generell als unsozial und unsolida-
risch ab.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie abzuschaffen, würde auch verhindern, dass künftige
Regierungskoalitionen wieder derartigen Unsinn damit
anstellen können.

Gut ist auch, dass Sie endlich die Qualität der Versor-
gung, aber auch der Vorsorge bei Krebs durch Krebsre-
gister voranbringen wollen. Das sagen auch die Fachver-
bände, die die Bedeutung von Krebsregistern betonen.
Kritisch bewerten sie aber Ihre Umsetzungsstrategie.
Das Ziel, alle Daten flächendeckend zu erfassen und
auszuwerten, um sie für eine bessere Versorgung der
Krebskranken zu nutzen, kann mit diesem Gesetz nur
bedingt erreicht werden. Hier können wir noch gemein-

sam für Verbesserungen sorgen. Ich hoffe auf konstruk-
tive Anregungen in der Sachverständigenanhörung, die
wir im Dezember im Gesundheitsausschuss durchführen
werden. Anregungen können wir uns auch aus der Ge-
schichte holen. Die DDR zum Beispiel hatte ein zentra-
les Krebsregister. Die ostdeutschen Bundesländer haben
das gemeinsam weitergeführt, und das könnten wir viel-
leicht als Muster für eine bundesweite Lösung verwen-
den.


(Beifall bei der LINKEN)


Der vorliegende Gesetzentwurf klebt jedenfalls zu
sehr an den bestehenden Strukturen. Bei aller Wertschät-
zung für den Föderalismus, man bekommt einfach ver-
lässlichere Daten für die Qualität von Krebsvorsorge und
Krebsversorgung, wenn man sie zusammenführt und die
Kräfte bündelt.

Auch mit Ihrem Vorschlag zur Finanzierung sind wir
noch nicht ganz einverstanden. Vom Krebsregister und
von der verbesserten Forschung sollen ja alle Menschen
in Deutschland profitieren. Aber bei den Kosten wird al-
lein die gesetzliche Krankenversicherung verpflichtet.
Die privaten Krankenversicherer können, wenn sie es
denn mögen, auch etwas dazugeben. Das hat bei Ihnen ja
schon System. Bei der Patientenberatung haben Sie das
ganz genauso gemacht: Die gesetzlichen Kassen müssen
zahlen; die privaten Versicherungskonzerne werden
freundlich um einen Obolus gebeten. Die privaten Kran-
kenversicherer einmal zu irgendetwas zu verpflichten,
das ist wohl mit der FDP nicht drin.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Das geschieht doch dauernd in allen möglichen Gesetzen! Da fehlt Ihnen der Überblick!)


– Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie das wäre, Herr
Lanfermann, wenn die FDP ihre Pläne zur Privatisierung
der gesamten Krankenversicherung durchsetzen könnte.
Dann gäbe es Fortschritte wohl nur noch durch freiwil-
lige Selbstverpflichtung, und wir hätten anstelle eines
Gesundheitsministers einen Chefbittsteller. Das ist mit
uns auf jeden Fall nicht zu machen.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Auf euch kommt es aber nicht an! – Gegenruf der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Auf Sie auch nicht mehr!)


Deswegen wird die Linke auch in diesem Gesetzge-
bungsverfahren wieder darauf drängen, dass die Zwei-
klassenmedizin beendet wird. Wir kämpfen weiterhin für
eine solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung,
in der alle versichert sind und in der alle eine Top-Ge-
sundheitsversorgung erhalten.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Ende des Jammers!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721212700

Das Wort hat der Kollege Dr. Harald Terpe für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.






(A) (C)



(D)(B)



Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721212800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Eine Regierung kann sich glücklich schätzen, wenn sie
die Chance bekommt, ein solches Gesetz auf den Weg zu
bringen, insbesondere was die Frage der Einführung
oder der Stärkung der Krebsregister betrifft. Es ist schon
darauf hingewiesen worden, dass es in der deutschen
Geschichte auch gute Vorläuferbeispiele gibt. Insbeson-
dere die epidemiologischen Krebsregister, die in den ost-
deutschen Bundesländern, aber auch in einigen west-
deutschen Bundesländern geführt werden, kann man als
Basis für die Weiterführung dieses Krebsregisters neh-
men.

Ein Meilenstein an dieser Stelle ist für meine Begriffe
jedoch die Stärkung der klinischen Krebsregister. Ich
selbst habe während meiner beruflichen Tätigkeit die
Möglichkeit gehabt, in Mecklenburg-Vorpommern so-
wohl ein epidemiologisches als auch ein klinisches
Krebsregister für Forschungsarbeiten und für die Patien-
tenbetreuung zu nutzen. Ich kann nur sagen, dass wir an
dieser Stelle wirklich – auch wenn es schon Freitagnach-
mittag ist und kaum noch einer zuhört – einen Meilen-
stein setzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich will auf der anderen Seite noch einige Punkte auf-
greifen, bei denen wir in der Ausschussberatung an die-
ser oder jener Stelle vielleicht noch etwas nachbessern
können. Wir wissen ja, dass die Weltgesundheitsorgani-
sation davon ausgeht, dass man 30 Prozent der Krebs-
erkrankungen durch Prävention verhindern kann. Im Ge-
setz ist zugegebenermaßen zwar etwas zur Prävention
ausgeführt, aber da geht es im Wesentlichen um die Se-
kundärprävention, zu der ich nachher noch etwas sagen
werde. Die Primärprävention wird jedoch an keiner
Stelle erwähnt. Es gilt aber auch die Primärprävention zu
stärken. Wir finden, sie muss, gerade was die Krebs-
erkrankungen betrifft, auch finanziell unterlegt sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Sie gehen in Ihrem Gesetzentwurf auf die Auswei-
tung der Früherkennungsuntersuchungen ein und wollen
die Sekundärprävention stärken. Dabei gilt es zu berück-
sichtigen, dass Nutzen und Qualität von Früherken-
nungsmaßnahmen nachgewiesen sein bzw. von Zeit zu
Zeit überprüft werden müssen.

Auch hierzu wird im Gesetzentwurf an einigen Stel-
len etwas ausgeführt, beispielsweise dass alle zwei Jahre
evaluiert werden muss. Wir wissen, dass Brust-, Darm-
und Gebärmutterhalskrebsvorsorgeuntersuchungen im
Rahmen der Krebsfrüherkennung bereits einen festen
Platz im deutschen Gesundheitssystem haben. Aber
mangelnde Sensitivität oder Spezifität, auch falsche Be-
funde, Überdiagnosen und Übertherapien können den
Nutzen für die Patientinnen und Patienten reduzieren
oder schlimmstenfalls den Patienten sogar schaden. Das
ist allen in der Fachwelt bekannt. Deswegen hat die EU-

Kommission zu Recht empfohlen, neue Krebsfrüherken-
nungsuntersuchungen erst dann einzuführen, wenn sie
randomisiert in kontrollierten Studien evaluiert worden
sind.

Insofern haben wir als Gesetzgeber natürlich Sorge zu
tragen, dass Krebsfrüherkennung durch entsprechende
Studienbelege und Begleitforschung gerechtfertigt wird,
beispielsweise für Darmkrebsfrüherkennung, Darmspie-
gelungen und Stuhluntersuchungen. Ein Einladewesen
wird erst dann sinnvoll, wenn man es auf eine solche Ba-
sis stellt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Lassen Sie mich zum Abschluss noch auf etwas hin-
weisen – auch das wurde schon angesprochen –, das wir
kritisieren und wo wir noch eine Änderung herbeiführen
wollen: Das Prognos-Institut hat empfohlen, bei der
Finanzierung dieses Vorhabens nicht nur die gesetzli-
chen Krankenkassen, sondern auch die privaten Kran-
kenkassen einzubeziehen. Nun wird formuliert, diese
könnten sich ja auf freiwilliger Basis beteiligen. Ich
glaube, das ist zu wenig. Wir müssen uns immer wieder
fragen: Welche Interessen vertreten wir denn eigentlich
als Gesetzgeber, als Abgeordnete?

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein schönes Wo-
chenende.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721212900

Das Wort hat der Kollege Rudolf Henke für die

Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Rudolf Henke (CDU):
Rede ID: ID1721213000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! In diesen Minuten treffen
sich im Rathaus meiner Heimatstadt Aachen auf Einla-
dung des Oberbürgermeisters Marcel Philipp Vertreter
aus Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft, um
mit dem Betriebsrat der Firma Talbot über die Zukunft
dieses fast 175 Jahre alten Werks für Waggonbau und Ei-
senbahntechnik zu sprechen. Der Eigentümer Bombar-
dier hat angekündigt, das Unternehmen im nächsten Jahr
zu schließen. Bleibt es dabei, dann werden rund 600 Be-
schäftigte in Aachen ihren Arbeitsplatz verlieren, ob-
wohl der Konzern früher versprochen hatte, dass das
Werk Aachen gesetzt ist.

Mit der heutigen Konferenz soll ein Plan entwickelt
werden, die Arbeitsplätze in der Aachener Bahnindustrie
zu erhalten und die Zerstörung der dortigen betrieblichen
Kompetenz abzuwenden.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Falsches Manuskript!)


Dem Betriebsrat, der Belegschaft und der Stadt Aachen
wünsche ich von hier aus viel Erfolg bei dem Bemühen,
die Pläne von Bombardier zu durchkreuzen. Dass eine
solche Konferenz überhaupt möglich ist, hängt damit zu-
sammen, dass die Information über die beabsichtigte





Rudolf Henke


(A) (C)



(D)(B)


Werkschließung fast ein Jahr vor deren geplantem Ter-
min zur Verfügung steht.


(Iris Gleicke [SPD]: So viel zum Krebsregister! – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Thema verfehlt!)


So ähnlich muss man sich auch die Verbesserung der
Behandlungschancen vorstellen, die dann erzielt wird,
wenn eine Krebskrankheit bei Vorsorgeuntersuchungen
entdeckt wird, lange bevor sie beim Patienten zu konkre-
ten Beschwerden führt. Je kleiner der Tumor, so die An-
nahme, desto größer die Chance, die Krankheit durch
frühzeitige Intervention zu heilen und damit Leben zu
retten. Vor diesem Hintergrund ist der Gedanke der Stär-
kung der Früherkennungsuntersuchungen auf Krebs nur
zu begrüßen.

Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht für den
Bereich der Früherkennung vor, die informierte Ent-
scheidung über eine Teilnahme an Krebsfrüherken-
nungsuntersuchungen zu verbessern, Altersgrenzen und
Zielgruppen bei der Krebsfrüherkennung zu flexibilisie-
ren sowie in stärkerem Maße organisierte und qualitäts-
gesicherte Krebsfrüherkennungsprogramme zu etablie-
ren.

Es ist in früheren Zeiten anders beurteilt worden, aber
ich persönlich finde in diesem Zusammenhang die Strei-
chung der gesetzlichen Regelung aus § 62 Abs. 1
SGB V, welche die Gewährung einer reduzierten Belas-
tungsgrenze für chronisch Kranke an die regelmäßige
Inanspruchnahme an einer Krebsfrüherkennungsuntersu-
chung gekoppelt hatte, sehr begrüßenswert, nicht deswe-
gen, weil ich glaube, dass Eigenbeteiligung von vornher-
ein Schimpf und Schande verdient hätte, sondern
deswegen, weil eine Freiwilligkeit der Teilnahme an ei-
ner Krebsfrüherkennungsmaßnahme notwendig ist; denn
es handelt sich um eine Intervention bei Gesunden. Weil
es dabei natürlich sowohl zu unterbleibenden Diagnosen
als auch zu Diagnosen kommen kann, die falsch positiv
sind und eine Abklärungsdiagnostik auslösen, macht es
wenig Sinn, einen materiellen Anreiz zu setzen; es ist
viel vernünftiger, dafür zu sorgen, dass der aufgeklärte
Adressat eine informierte Entscheidung trifft.

Frau Klein-Schmeink hat eben in einem Zwischenruf
an das Epidemiologische Krebsregister Nordrhein-West-
falen erinnert. Wir wissen aus seinem aktuellen „Report
2012 mit Datenbericht 2010“, dass infolge der Mammo-
grafie-Screenings im Zeitraum von 2005 bis 2008 insge-
samt 7 176 positive Diagnosen gestellt wurden, es aber
auch 2 036 Intervallkarzinome gab, bei denen die Dia-
gnose nicht infolge des Screenings gestellt wurde, son-
dern in den nachfolgenden 24 Monaten. Das offenbart
ein bisschen die Problematik und die Notwendigkeit der
Abwägung.

Zweiter Schwerpunkt des Gesetzentwurfs ist der flä-
chendeckende Aufbau klinischer Krebsregister, welche
den stationären Bereich unseres Gesundheitswesens stär-
ker betreffen. Die Idee: Durch aussagekräftige Qualitäts-
berichterstattung in Form klinischer Krebsregister kann
die Behandlung von Krebspatienten in Deutschland
transparenter gestaltet werden. Durch die Berücksichti-

gung der erhobenen Erkenntnisse können wir die Be-
handlung von Krebskranken im Alltag verbessern.

Zwei Beispiele. Erstes Beispiel. Bei Darmkrebs zei-
gen Untersuchungen, dass zusätzlich zur Operation eine
Chemotherapie das Überleben der Patienten deutlich
verbessert; sie haben eine 15 Prozent höhere Überle-
benswahrscheinlichkeit. Aufgrund der klinischen Krebs-
register weiß man, dass diese Therapieempfehlung je-
doch bisher noch unzureichend umgesetzt wird; so kann
man gezielt auf Verbesserungen hinarbeiten.

Zweites Beispiel. Bei manchen Patientinnen mit
Brustkrebs soll eine zusätzliche Hormontherapie über
fünf Jahre durchgeführt werden. Aus Daten klinischer
Krebsregister erfährt man, dass diese Hormontherapie
mitunter vor Ablauf der fünf Jahre beendet wird. Ist dies
der Fall – das zeigen die Daten –, geht das mit einer
verminderten Überlebenswahrscheinlichkeit der Patien-
tinnen einher. Diese Erkenntnisse bekräftigen die Not-
wendigkeit einer konsequenten Orientierung an der leit-
liniengerechten Therapie und erlauben entsprechende
Interventionen.

Wir machen die Therapie also dadurch wirksamer und
effektiver für die Patienten, dass aus den Krebsregistern
Erkenntnisse resultieren, die dann zur Korrektur von
festgestelltem leitlinienabweichendem Verhalten führen.

Ich warne ein bisschen vor der Illusion, zu glauben,
dass man damit auch gleich neue Therapieschemata ent-
wickelt. Ich glaube, die Krebsregister werden eher zur
Entwicklung von Hypothesen führen, und aus diesen
Hypothesen werden dann wissenschaftliche Studien ent-
wickelt, die prospektiv und, wenn nötig, randomisiert so
durchgeführt werden, dass man echte Wirksamkeitsver-
gleiche anstellen kann.

Darüber werden wir sicher im Ausschuss in allen Ein-
zelheiten debattieren. Das gilt auch für den Hinweis,
dass es klug wäre, die neu zu schaffenden Krebsregister
so zu konzipieren, dass den beteiligten Kliniken die ei-
genen Daten für Maßnahmen innerhalb ihres internen
Qualitätsmanagements einfach und zeitnah zur Verfü-
gung stehen, ohne dass eine doppelte Erfassung an meh-
reren Stellen notwendig wird. Man muss das so einfach
wie möglich gestalten.

Gestatten Sie mir – nachdem ich den Gesetzentwurf
der Bundesregierung derart begrüßt habe – zum Schluss
noch eine persönliche Bemerkung. Die Leiterin meines
eigenen Büros hier in Berlin, Frau Inken Benthien,
scheidet mit dem heutigen Tag aus der Arbeit im Deut-
schen Bundestag aus. Sie hat sechs Jahre lang bei drei
Abgeordneten, den Kollegen Hubert Hüppe und
Volkmar Klein und bei mir, gearbeitet. Sie ist in dieser
Zeit zu einer Expertin der Gesundheits- und Behinder-
tenpolitik geworden. Ich nehme das zum Anlass, um
mich bei all den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der
Abgeordneten in diesem Bundestag zu bedanken, die un-
endlich viel dazu beitragen, dass die Qualität unserer Ar-
beit auch von außen wahrgenommen wird.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Mit ihrer engagierten Arbeit begleiten sie das Parlament
und unterstützen damit die Menschen und die Demokra-





Rudolf Henke


(A) (C)



(D)(B)


tie in Deutschland und in Europa und erweisen ihnen ei-
nen großen Dienst. Dafür herzlichen Dank.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721213100

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/11267 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 50 a bis 50 c auf:

a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Katja
Dörner, Ekin Deligöz, Ingrid Hönlinger, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes

(Ergänzung des Artikels 6 zur Klarstellung der Kinderrechte)


– Drucksache 17/11650 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Innenausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Diana
Golze, Matthias W. Birkwald, Dr. Martina
Bunge, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Geset-

(Gesetz zur grundgesetzlichen Verankerung von Kinderrechten)


– Drucksache 17/10118 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Innenausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Federführung strittig

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Dörner, Jerzy Montag, Ekin Deligöz, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Rechte der Kinder von Strafgefangenen und
Inhaftierten wahren

– Drucksache 17/11578 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Innenausschuss
Rechtsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Katja Dörner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen.


Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721213200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen,

liebe Kollegen! Es ist längst überfällig, die Kinderrechte
explizit ins Grundgesetz aufzunehmen und damit die
Rechte der Kinder zu stärken. Die Zeit ist einfach reif
dafür.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


20 Jahre nach der Ratifizierung der UN-Kinderrechts-
konvention in Deutschland, nach der mehrfachen Auf-
forderung des UN-Ausschusses für die Rechte des Kin-
des, nach langen, intensiven Diskussionen auch in der
Kinderkommission des Deutschen Bundestages und nach
jahrelangen, intensiven Vorarbeiten des Aktionsbündnis-
ses Kinderrechte, das vor zwei Wochen einen interessan-
ten Formulierungsvorschlag vorgelegt hat, sollten sich
jetzt auch die Regierungsfraktionen einer Diskussion auf
der Grundlage konkreter Formulierungen, so wie sie
heute vorliegen, nicht länger verweigern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Die Kinderrechte im Grundgesetz zu stärken, ist mit-
nichten Symbolpolitik. Ich sage das, weil ich weiß, dass
diese Argumentation gleich vonseiten der Regierungs-
fraktionen kommen wird. Ich will die Symbolfunktion
gar nicht geringschätzen. Auch das Zeichen – uns geht
es um die Kinder, die Kinder stehen im Mittelpunkt, und
ihre Rechte haben Verfassungsrang – ist nämlich sehr
wohl viel wert, insbesondere in einer Gesellschaft wie
der unseren, die sich nicht gerade durch Kinderfreund-
lichkeit auszeichnet.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Unser Vorschlag macht klar, dass es bei der expliziten
Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz um viel
mehr geht. Es geht darum, klarzustellen, dass Kindern
mit Blick auf Förderung, auf Schutz und auf Beteiligung
bei allen sie betreffenden Entscheidungen Rechte zuste-
hen, die sich von denen der Erwachsenen durchaus un-
terscheiden. Kinder sind eben keine kleinen Erwachse-
nen. Naturgemäß bzw. entwicklungsbedingt haben
Förderung, Schutz und Partizipation für sie eine ganz be-
sondere Bedeutung. Hier sind Eltern, aber eben auch der
Staat ganz besonders in der Pflicht.

Es geht darum, zu verankern, dass das Wohl des
Kindes bei allem staatlichen Handeln besonders zu be-
rücksichtigen ist. Das ist sehr wichtig. Dies zu berück-
sichtigen, ist von zentraler Bedeutung für die Kinder-
freundlichkeit eines Landes.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)






Katja Dörner


(A) (C)



(D)(B)


Das Grundgesetz ist das Fundament unserer gesamten
Gesetzgebung. Durch die Aufnahme dieser Anforderun-
gen, der besonderen Berücksichtigung des Kindeswohls,
überwinden wir das derzeitige Stückwerk. Ich kann mir
denken, dass die Kolleginnen und Kollegen von den Re-
gierungsfraktionen gleich aufzählen werden, was sie in
dieser Legislaturperiode angeblich alles zugunsten der
Kinder getan haben. Ich verzichte ausdrücklich darauf,


(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Sagen Sie es ruhig!)


hier darzulegen, was Sie nicht getan haben; denn ich
finde, das gehört heute nicht hier her. Heute geht es da-
rum, dass mit der Aufnahme der Kinderrechte in das
Grundgesetz in jedem Gesetzgebungsprozess, ob in der
Energiepolitik, beim Planungsrecht oder im Bereich der
sozialen Sicherung, das Kindeswohl besonders berück-
sichtigt werden muss. Ich frage mich, was daran Sym-
bolpolitik sein soll. Ich finde, das ist ein Paradigmen-
wechsel im Sinne der Kinder.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Ich finde es auch sehr schade, dass sich Ministerin
Schröder zum Formulierungsvorschlag des Aktions-
bündnisses so skeptisch geäußert hat, und das sogar, be-
vor der Formulierungsvorschlag überhaupt öffentlich
kommuniziert worden ist. Auch die Haltung der Bundes-
justizministerin finde ich sehr enttäuschend. In ihrer
Stellungnahme zur Initiative des Bundesrates hat sie im
Grunde nur gesagt: Schon jetzt sind die Kinderrechte im
Grundgesetz angemessen verankert, weil auch Kinder
Menschen sind. Dazu muss man sagen: In der Debatte
über Kinderrechte sind wir eigentlich schon weiter. Ich
appelliere an die beiden Ministerinnen: Lassen Sie doch
eine offene Debatte über dieses Thema in diesem Hause
zu.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Wir möchten auf der Grundlage eines konkreten For-
mulierungsvorschlags mit allen Kolleginnen und Kolle-
gen hier im Hause, auch mit Ihnen von den Regierungs-
fraktionen, ins Gespräch kommen. Ich weiß, dass es in
allen Fraktionen Unterstützerinnen und Unterstützer die-
ses Anliegens gibt. Warum sollte uns im Bund nicht
gelingen, was in einigen Bundesländern mit breiter
Mehrheit interfraktionell – ich erwähne Bayern und
Nordrhein-Westfalen – gelungen ist?

Um die Rechte der Kinder zu stärken, müssen wir
viele kleine Schritte unternehmen. Wir müssen aber auch
im Sinne der Kinder gemeinsam große Sprünge machen.
In diesem Sinne hoffe ich, dass wir eine ernsthafte Dis-
kussion führen werden. Ich würde mich über eine kon-
struktive Begleitung des Gesetzgebungsverfahrens sehr
freuen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721213300

Der Kollege Dr. Patrick Sensburg hat für die Unions-

fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Patrick Sensburg (CDU):
Rede ID: ID1721213400

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Der Schutz der Kinder und der Kinderrechte ist
ein besonderes Anliegen, nicht nur der Opposition, Frau
Dörner, sondern auch der Koalition. Kinder genießen
unsere besondere Aufmerksamkeit,


(Caren Marks [SPD]: Sie tun nur nichts!)


weil sie ihrer bedürfen – als schwächere Menschen, die
ihre Rechte nicht so leicht durchsetzen können wie Er-
wachsene. Die christlich-liberale Koalition hat sie im
Blick.

Ich danke ganz besonders denjenigen, die sich seit
Jahren für die Aufnahme von Kinderrechten ins Grund-
gesetz einsetzen, aber aus einem anderen Grund als dem,
den Sie, Frau Kollegin, schwerpunktmäßig genannt ha-
ben. Wichtiger ist meines Erachtens der Punkt, den Sie
nur am Rande erwähnt haben. Ich glaube wie Sie, dass
das wiederholte Aufzeigen von Kinderrechten in unserer
Gesellschaft etwas verändert. Dieser Dialog hilft, den
Fokus auf die Rechte zu legen, die Kinder erhalten müs-
sen. Von daher danke ich ganz explizit den am Aktions-
bündnis Beteiligten, UNICEF, dem Deutschen Kinder-
hilfswerk und vielen anderen, auch den Lehrerinnen und
Lehrern, die sich an Schulen immer wieder mit dem
Thema beschäftigen.

Ich selbst habe erst letzte Woche zugesagt, einen Ter-
min wahrzunehmen, bei dem wir über das Thema Kin-
derrechte im Grundgesetz diskutieren werden. Die Frage
ist aber: Was haben Sie mit Ihrem Antrag eigentlich ge-
macht? Ich habe ihn mir angeschaut und gesehen, dass
Sie den Vorschlag des Aktionsbündnisses Kinderrechte
fast wortgleich kopiert haben.


(Zuruf der Abg. Katja Dörner [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Sie haben ein bisschen am Satzbau gedreht, aber an-
sonsten ist das keine eigene Leistung, außer dass Sie die
Verortung in Art. 6 gewählt haben statt in einem neuen
Art. 2 a. Das ist auch unter dem Gesichtspunkt der Sys-
tematik des Grundgesetzes nicht besonders klug.


(Zuruf von der CDU/CSU: Ein Plagiat!)


Zu fragen ist erst einmal: Wo ist eigentlich die Lücke
im Grundgesetz? Wo brauchen wir im Grundgesetz ei-
gene Regelungen für die Kinderrechte? Ein Beispiel ist
der geforderte Schutz der Kinder, wenn es um Fürsorge
und um einen angemessenen Lebensunterhalt geht. Auch
der Anspruch auf Meinungsfreiheit wird geäußert sowie
das Recht auf Anhörung in Gerichts- und Verwaltungs-
verfahren. Man findet auch Rechte in Form eines Ver-
bots, zum Beispiel Kinder als Soldaten zu rekrutieren.

Wo gibt es im Grundgesetz Lücken, die wir schließen
müssen? Wenn Sie so einen Antrag stellen, dann hätte
ich mir von Ihnen gewünscht, dass Sie die Lücken auf-





Dr. Patrick Sensburg


(A) (C)



(D)(B)


zeigen. Wir haben im Grundgesetz genügend Artikel.
Sie hätten doch wenigstens einen finden können.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Sie hätten zuhören können!)


Wo diskutieren Sie zum Beispiel über das Thema
Kindersoldaten? Würden Sie in diesem Zusammenhang
im Grundgesetz nichts ändern wollen? Das ist bezeich-
nend. Denken Sie einmal über Art. 4 Abs. 3 nach. Man
könnte viel weiter gehen, als Sie es in Ihrem Antrag tun.
Da scheint nicht viel mehr zu kommen als das reine Ko-
pieren eines Antrags, den eine gute Vereinigung gestellt
hat, wie ich es eingangs bereits sagte. Ich würde mir
wünschen, dass Sie eigene inhaltliche Arbeit leisten. Da
kommt nicht viel.


(Beifall bei der CDU/CSU – Katja Dörner: Machen Sie es doch besser! Was kommt denn von Ihnen? – Diana Golze [DIE LINKE]: Wann kommt denn Ihr Antrag?)


– Ich habe noch ein paar Minuten, in denen ich noch ein
paar Dinge sagen werde. Ich möchte mich aber erst ein-
mal mit dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen be-
schäftigen.

Frau Kollegin Dörner, Sie haben Politikwissenschaf-
ten und im Nebenfach öffentliches Recht studiert.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind ja richtig informiert, Herr Sensburg!)


Sehen wir uns das Grundgesetz an: Ihnen müsste doch
bekannt sein, dass alle Menschen von Geburt an Grund-
rechtsträger sind.


(Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Die herrschende Meinung sagt sogar, dass die Grund-
rechte auch für diejenigen gelten, die noch nicht geboren
sind. Sie gelten also sogar vor der Geburt. Ich würde mir
wünschen, dass Sie diese Breite der Grundrechtsträger-
schaft wahrnehmen. Das tun Sie vom Bündnis 90/Die
Grünen gerade nicht.

Wenn wir uns die einzelnen Artikel des Grundgeset-
zes anschauen, dann werden wir feststellen, dass alle von
Ihnen geforderten Rechte – seien es die Meinungsfrei-
heit, die Handlungsfreiheit oder die Koalitionsfreiheit
bei Kindern – im Grundgesetz bereits verankert sind;
denn Kinder sind Grundrechtsträger, und zwar nicht, wie
Sie fälschlich meinen, als Objekte, sondern als Subjekte,
die einen Anspruch haben. Ich glaube, das ist Ihnen bei
der gesamten Diskussion bisher noch nicht aufgefallen.
Wir sehen das. Wir wünschen uns eine stärkere Fokus-
sierung auf die Kinderrechte.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen Sie es doch besser!)


Ich frage mich: Wo ist in Ihrem Vorschlag der Bereich
sexueller Missbrauch von Kindern enthalten? Müssen
wir hierzu das Grundgesetz ändern? Sie glauben das an-
scheinend nicht. Sie sind ja der Meinung, man müsse

noch nicht einmal einfachgesetzliche Regelungen tref-
fen.

Wenn wir zum Beispiel im Kampf gegen Kinderpor-
nografie im Internet Kinderrechte durchsetzen wollen,
dann verabschieden sich die Grünen. Sie sagen ganz
schnell: Da müssen wir nichts machen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es ist also eine reine Schaufensterpolitik, wenn Sie
angeblich neue Grundrechte fordern, die sich nicht be-
nennen lassen, sich bei den einfachgesetzlichen Maß-
nahmen aber verabschieden.

Ich habe mir die Parteiprogramme der Grünen ange-
sehen und gefragt: Wie halten es denn die Grünen tat-
sächlich mit dem Kinderschutz?


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben sich richtig gut vorbereitet!)


Gehen sie über die Forderung hinaus, Grundrechte zu
verändern? Wird etwas Neues geschaffen? Ist etwas da-
ran? 1985 forderten Sie in Lüdenscheid im Sauerland,
dass gewaltfreie Sexualität zwischen Kindern und Er-
wachsenen niemals Gegenstand strafrechtlicher Verfol-
gung sein dürfe. Das ist ein Zitat. Im Gegenteil, sie sei
von allen Restriktionen zu befreien, die ihr in dieser Ge-
sellschaft auferlegt sind. Das verstehen Sie also unter
Wahrnehmung von Kinderrechten.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn Ihnen zu diesem Thema nichts anderes einfällt, dann ist das armselig!)


Wenn Sie jetzt sagen, das sei von 1985 und davon hät-
ten Sie sich ja verabschiedet, dann frage ich: Was war
denn 2008, als es um die Veränderung von § 182 StGB
ging und Sie nicht gegen den sexuellen Missbrauch
durch Lehrer vorgehen wollten? Sie sind immer noch der
Meinung, dass wir – ich betone, dass wir von Lehrern re-
den, die sexuellen Kontakt mit Kindern haben – keine
neuen Gesetze und keine Gesetzesänderung brauchen.
So sieht die Realität aus, wenn Sie von Kinderschutz re-
den.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In welcher Welt leben Sie eigentlich?)


Das ist das Schlimme. Deswegen haben Sie für mich
jede Glaubwürdigkeit verloren, für Grundrechte von
Kindern zu kämpfen. Sie benennen kein einziges, das
wir ändern müssten. Sie sträuben sich, Kinderschutz ein-
fachgesetzlich durchzusetzen.

Ich bin froh, dass wir eine Ministerin haben, die das
Thema anpackt, die mit dem Bundeskinderschutzgesetz
und mit vielen anderen Gesetzen


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


die richtigen Maßnahmen zum Kinderschutz ergreift. Ich
glaube, Sie haben sich mit Ihrem Antrag, mit Ihrem Ge-
setzentwurf und in der Praxis selbst disqualifiziert.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721213500

Die Kollegin Dörner hat das Wort zu einer Kurzinter-

vention.


Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721213600

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Ich fühle mich


(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Missverstanden?)


äußerst angegriffen durch die Äußerungen unseres Kol-
legen Herrn Dr. Sensburg. Er hat hier in den Raum ge-
stellt, dass Mitglieder meiner Fraktion oder meiner Par-
tei den sexuellen Missbrauch von Kindern in irgendeiner
Weise relativieren, für gutheißen oder für nicht absolut
abscheulich halten. Ich möchte Sie wirklich bitten, diese
Aussage, die Sie hier zumindest indirekt in den Raum
gestellt haben, zurückzunehmen. Ich muss sagen: Das ist
wirklich eine Unverschämtheit meiner Partei und meiner
Fraktion gegenüber.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721213700

Sie haben das Wort zu einer Erwiderung.


Dr. Patrick Sensburg (CDU):
Rede ID: ID1721213800

Liebe Frau Kollegin Dörner, ich kann natürlich relativ

wenig zu Ihrem Parteiprogramm sagen. Sie selbst sind
dafür verantwortlich, alte Zöpfe abzuschneiden und viel-
leicht auch neue Wege zu beschreiten. Ich lade Sie ein,
Frau Dörner, die Strafbarkeit von sexuellem Kontakt von
Lehrern mit Minderjährigen zu regeln und dabei gemein-
sam mit uns zusammenzuarbeiten. Ich lade Sie ein, in Ih-
rer Partei eine Diskussion zum Thema Pädophilie zu
führen


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wird immer schlimmer!)


und sich damit auseinanderzusetzen, um in Ihren eige-
nen Reihen mit diesen alten Dingen aufzuräumen, die
Sie anscheinend seit Jahren immer noch mitschleppen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721213900

Nun hat die Kollegin Marlene Rupprecht für die SPD-

Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Marlene Rupprecht (SPD):
Rede ID: ID1721214000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-

gen! Die meisten hier kennen mich und wissen, dass ich
eher zusammenbinde und nicht trenne. Aber jetzt muss
ich erst einmal ein paar Watschen verteilen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Dr. Sensburg, wenn man neu ist und noch nichts
vom Thema versteht, sollte man den Mund halten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Sie haben keine Ahnung von dem, was hier gemacht
worden ist und wer was gemacht hat.


(Thomas Silberhorn [CDU/CSU]: Ist das so in der SPD?)


Ich habe lange genug an einer Förderschule gearbeitet.
Ich erkläre Ihnen jetzt, warum wir Kinderrechte ins
Grundgesetz schreiben wollen, und zwar so, dass auch
Sie es verstehen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Alles, was einer Gesellschaft wichtig ist, legt sie in
ihrer Verfassung nieder; in unserem Fall ist dies das
Grundgesetz. In einem ersten Entwurf des Grundgeset-
zes stand, dass Ehe, Familie und Kinder unter besonde-
rem Schutz stehen. Das Wort „Kinder“ hat man dann ge-
strichen, weil man Kinder unter Familie subsumierte.
Das Verfassungsgericht hat bis 1968 gebraucht, um fest-
zustellen, dass Kinder Grundrechtsträger sind. Daher er-
klären Sie uns hier jetzt nicht, dass das alles selbstver-
ständlich ist.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir leben im 21. Jahrhundert. Wir sind hoffentlich
eine Gesellschaft, die lernt. Wenn man lernt, verändert
man auch seine Sichtweise auf Kinder. Früher hat man
Kinder ohne Bestrafung verkauft. In der Bibel ist von
den Sklaven, den gekauften Kindern und den eigenen,
den leiblichen die Rede. Das steht übrigens im Zusam-
menhang mit dem, worüber wir zurzeit heftig diskutie-
ren. Wir haben heute eine andere Sichtweise auf Kinder.
Kinder werden zum Subjekt und sind nicht mehr Objekt
von Eltern, von Gesellschaft etc. Dies ist aber bisher in
der Verfassung so nicht nachlesbar.


(Zuruf von der CDU/CSU: So einen Quatsch hört man von der SPD eher selten!)


Ich habe viel mit Kindern gearbeitet und zum Beispiel
auch versucht, ihnen klarzumachen, dass in unserer Ver-
fassung unsere gesellschaftlichen Werte niedergelegt
sind. Die erste Frage, die Kinder dann stellen, ist: Wo
sind wir? Sind wir nur Objekte, nur Gegenstand elterli-
cher Erziehung? – Die Kinder drücken dies natürlich an-
ders aus. Deshalb wollen wir, dass die Kinderrechte in
unserer Verfassung verankert werden. Es geht um die
Niederlegung unserer gemeinsamen Werte; darüber steht
nichts. Die Menschenrechte in unserer Verfassung sind
die Basis, auf der wir stehen, und unser Wertekanon. Das
ist hier manchmal ein bisschen unbekannt. Aber deshalb
wiederhole ich es ja.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Bei Ihnen vielleicht! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Na, na, na!)






Marlene Rupprecht (Tuchenbach)



(A) (C)



(D)(B)


– Wissen Sie, ich habe eines gelernt in meinem Leben,
nämlich dass ich bei bestimmten Dingen ruhig bin und
erst einmal lerne.


(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Seien Sie doch jetzt einmal ruhig!)


Aber es scheint bei Ihnen nicht modern zu sein, dass
man erst einmal zuhört und schaut: Was haben die ande-
ren schon gemacht? Warum haben sie es gemacht?

Wir wollen die Kinderrechte deshalb in der Verfas-
sung haben, damit das, was sich an gesellschaftlicher
Veränderung vollzogen hat, nämlich dass Kinder bei uns
einen anderen Stellenwert als früher haben, auch in der
Verfassung erkennbar wird. Wir wollen die Kinderrechte
dort haben, wo es um individuelle Rechte geht, wo es
darum geht, was Familie bedeutet.

Wir wollen sie in Art. 2 haben – unser Gesetzentwurf
kommt noch –; dort, wo es um die individuellen Rechte
geht, nämlich um die Rechte auf Schutz und Förderung,


(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Das habe ich doch gesagt!)


soll das Recht auf Schutz der Kinder verankert werden.

Wir wollen die Kinderrechte auch in Art. 6 haben.
Zur Stärkung der Familien und der Kinder soll bestimmt
werden, dass der Staat dafür sorgt, dass die für Kinder
und Familien notwendigen Rahmenbedingungen ge-
schaffen werden; das darf nicht nur eine Wohltat sein.

Wir wollen auch, dass es einen Lautsprecher für Kin-
der gibt, wo dies nötig ist, damit man sie hört.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Sie brauchen gar kein Mikrofon!)


Ich habe es schon einmal gesagt: Hier im Saal gibt es ei-
nen einzelnen Stuhl; der gehört dem Wehrbeauftragten.
Der Wehrbeauftragte ist für 180 000 Menschen da. Für
Millionen von Kindern haben wir hier keinen Fürspre-
cher,


(Michaela Noll [CDU/CSU]: Wir haben die Kinderkommission!)


es sei denn, wir Kinderbeauftragte machen den Mund
auf und sind laut genug. Wir debattieren die Kinder-
rechte heute als letzten Tagesordnungspunkt am Freitag-
nachmittag!


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Sie sind laut genug!)


– Ja, ich weiß. Ich kann das hier auch im nächsten Jahr
tun. Ich hoffe, dass es dann genug Lautsprecher gibt.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich wünsche mir, dass dann da hinten jemand sitzt und
die Kinderrechte hier verteidigt, für die Kinder spricht
und sich nicht abmeiert mit parteipolitischem Gezänk.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir sind uns einig: Es kommen unterschiedliche Ge-
setzentwürfe in den Bundestag. Was wir machen müs-
sen, ist, darüber zu debattieren, wie wir die Kinderrechte
verankern wollen. In der Sache ist Bewegung. Ich lade
Sie dazu ein, mitzumachen. Machen Sie mit! Begeben
Sie sich auf den Weg dahin, dass unsere Kinder merken,
dass wir sie wertschätzen!


(Zuruf von der CDU/CSU: Das tun wir doch!)

Denn Demokratie braucht Menschen, die wertgeschätzt
werden, die aufrecht gehen und die verstanden werden.
Den Eindruck, dass das bei Ihnen so ist, habe ich im Mo-
ment nicht.

Danke.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721214100

Das Wort hat der Kollege Marco Buschmann für die

FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Marco Buschmann (FDP):
Rede ID: ID1721214200

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Frau Kollegin Rupprecht, bei allem Respekt
vor Ihrem Engagement und Ihrer Leidenschaft: Manch-
mal ist es besser, die Dinge sine ira et studio, mit einer
gewissen Nüchternheit anzugehen,


(Zurufe von der SPD: Oh! – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ein ganz Schlauer!)


insbesondere dann, wenn es um zwei Themen geht, die
so viel Besonnenheit erfordern wie diese. Wir diskutie-
ren ja einerseits über die Stellung der Kinder in unserem
Rechtssystem. Andererseits diskutieren wir über die
Frage, ob es angemessen, richtig und geboten ist, unsere
Verfassung zu ändern; denn die Bindungswirkung, die
Orientierungskraft unserer Verfassung resultiert daraus,
dass wir nur Hand an sie anlegen, nur dann wirklich et-
was ändern, wenn wir auch aufzeigen können, dass da-
mit echter Fortschritt verbunden ist, und nicht lediglich
Symbolpolitik betrieben wird.


(Dagmar Ziegler [SPD]: Sie machen doch nichts!)


Ich habe mir Ihre Argumentation sehr aufmerksam
angehört. Gehen wir einmal einzeln die Argumente, die
Sie vortragen, ganz nüchtern, sine ira et studio durch:

Sie sagen erstens, die Subjektstellung der Kinder sei
im Grundgesetz nicht ausreichend dokumentiert. Sie ha-
ben aber gerade doch selber die Verfassungsrechtspre-
chung angeführt, die noch einmal ausdrücklich klarge-
stellt hat, dass selbstverständlich Kinder auch Menschen
sind, dass sie Menschenwürde haben, dass sie natürlich
Träger der Grundrechte aus Art. 1, Art. 2 usw. sind. Pro-
fessor Sensburg hat uns gerade weitere Beispiele ge-
nannt. Die Subjektstellung der Kinder stellt niemand in
unserem Rechtssystem – niemand! – infrage.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Abwegig!)






Marco Buschmann


(A) (C)



(D)(B)


Deshalb gibt es hier auch kein Defizit in der Rechtsord-
nung. Niemand stellt das infrage!


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Abwegige Debatte! – Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: 20 Jahre hat das Verfassungsgericht gebraucht, dies festzustellen!)


Ihr zweites Argument ist sicherlich das gewichtigste.
Sie sprechen über den Schutz vor Gewalt, vor Vernach-
lässigung, vor Ausbeutung. Das ist sicherlich ein zentra-
les Argument. Wer könnte dagegen sein, dass Kinder da-
vor zu schützen sind? Nur, die Frage ist: Was kann die
Verfassung hier leisten? Ist das nicht genau eine Frage
des einfachen Rechts? Dazu möchte ich gerade für Sie
auszugsweise aus einem Beitrag der Berliner Republik
zitieren; die Berliner Republik ist ja nicht gerade das
Verkündungsorgan der Koalition. Diese Bemerkung in
der Berliner Republik ist gemacht worden vor dem Hin-
tergrund des schrecklichen Versagens der Jugendämter
in Bremen und Mecklenburg-Vorpommern, durch das
der kleine Kevin und die kleine Lea-Sophie zu Tode ka-
men. In der Berliner Republik ist zu lesen:

Die Jugendämter dürfen und müssen daher im Not-
fall eingreifen. Weil sie dies in Bremen und Schwe-
rin versäumt haben, wurden sie mitschuldig am Tod
des kleinen Kevin und von Lea-Sophie. Wenn sich
jetzt gerade die Länder Bremen und Mecklenburg-
Vorpommern für Kinderrechte im Grundgesetz
stark machen, ist dies bestenfalls Ausdruck politi-
scher Hilflosigkeit, schlimmstenfalls der Versuch,
die Verantwortung für eigenes Versagen der Bun-
desverfassung zuzuschreiben.


(Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Sie sind ja unterirdisch, Herr Kollege! Absolut unterirdisch! Sie missbrauchen die Kinder! – Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es wird ja immer schlimmer! – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wirklich unterirdisch! Das ist an Niveaulosigkeit nicht zu überbieten!)


Die Landesverfassungen von Bremen und Meck-
lenburg-Vorpommern kennen schon heute aus-
drückliche Kinderrechte, gerettet hat dies Kevin
und Lea-Sophie nicht. Hier zeigt sich: Probleme
beim Gesetzesvollzug löst man nicht mit Verfas-
sungsänderungen.

Ende des Zitats aus der Berliner Republik, die, wie ge-
sagt, nicht das Verkündungsorgan unserer politischen
Richtung ist, sondern Ihrer Fraktionskollegen.


(Beifall bei der FDP – Dagmar Ziegler [SPD]: Die von der Berliner Republik sitzen aber nicht im Bundestag! – Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sprechen Sie manchmal mit den Kollegen aus Ihrer eigenen Fraktion? Die sehen das nämlich anders!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721214300

Kollege Buschmann, gestatten Sie eine Frage oder

Bemerkung des Kollegen Lenkert?


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Nur Fragen, keine Bemerkungen!)



Dr. Marco Buschmann (FDP):
Rede ID: ID1721214400

Selbstverständlich.


Ralph Lenkert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721214500

Vielen Dank, Herr Kollege Buschmann. – Ich habe

neulich im Internet nach Urlaubsangeboten gesucht. Da
habe ich ein Hotel gefunden, das geschrieben hat: „ga-
rantiert kein Kinderlärm“, und: „Kinder ausdrücklich
nicht erwünscht“ – und das in unserer Republik!


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Es gibt nun mal auch alte Menschen!)


Jetzt sage ich Ihnen: Wenn wir wollen, dass so etwas
nicht vorkommt, dann müssen wir die Kinderrechte im
Grundgesetz verankern,


(Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Genau! – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Was hat denn das eine mit dem anderen zu tun?)


weil dann diese Werbung eindeutig gegen die Verfas-
sung verstoßen würde.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Ach was! Das ist doch Quatsch!)


Bis jetzt berufen sich solche Hotels darauf, dass die Kin-
derrechte nicht in der Verfassung stehen, und ignorieren
sie.

Durch die Toleranz, die Sie gegenüber solchen Äuße-
rungen zeigen, und durch Ihre Weigerung, Kinderrechte
ins Grundgesetz aufzunehmen, befördern Sie Kinder-
feindlichkeit in unserem Lande. Das müssen Sie sich an-
heften lassen. Ich würde gern von Ihnen wissen, was Sie
unternehmen wollen, damit ich solche Werbeangebote
zukünftig nicht mehr finden muss.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Norbert Geis [CDU/CSU]: Die finden Sie, mit und ohne Kinderrechte im Grundgesetz!)



Dr. Marco Buschmann (FDP):
Rede ID: ID1721214600

Lieber Herr Kollege, beide Dinge haben nichts mitei-

nander zu tun.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Man tut nämlich etwas für Kinder, wenn man, so wie wir
es getan haben, das Bürgerliche Gesetzbuch ändert,
wenn man das Baurecht ändert, um zu verhindern, dass
mit Verweis auf Kinderlärm gegen die Schaffung neuer
Kindergartenplätze vorgegangen werden kann,


(Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Man kann auch das eine tun, ohne das andere zu lassen! – Norbert Geis [CDU/CSU]: Genau! Dafür brauchen wir nichts im Grundgesetz!)


wenn man in den Bundesländern dafür sorgt, dass die Ju-
gendämter ordentlich ausgestattet sind, und wenn man
das materielle Recht so ändert, dass die Rechte der Kin-





Marco Buschmann


(A) (C)



(D)(B)


der in concreto verwirklicht und verteidigt werden kön-
nen. Mir, weil ich einen anderen Maßstab anlege und auf
die Frage: „Was bringt diese vorgeschlagene Verfas-
sungsänderung?“,


(Dagmar Ziegler [SPD]: Nehmen Sie doch erst mal die Hand aus der Tasche! Das lernen schon Kinder! – Gegenruf der Abg. Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht die FDP!)


antworte, dass sie nichts bringt, Kinderfeindlichkeit vor-
zuwerfen, ist ein rhetorischer Taschenspielertrick, der
näherer Erläuterung nicht bedarf.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dagmar Ziegler [SPD]: Ungeheuerlich! – Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Aber was tun Sie denn? Sie missbrauchen die Kinder, um Parteipolitik zu machen!)


Ich möchte noch einmal auf die Bemerkung aus der
Berliner Republik zurückkommen und wiederhole den
letzten Satz:

Probleme beim Gesetzesvollzug löst man nicht mit
Verfassungsänderungen.

Man muss das einfache Recht und vor allen Dingen die
Ausstattung der Behörden, die es durchsetzen müssen,
so anpassen, dass wirklich etwas für Kinder getan wird.
Eigentlich wissen das die Kollegen von den Grünen, und
das wissen auch die Kollegen von der SPD. Denn wenn
man danach schaut, was Sie in der Endphase Ihrer Re-
gierungsverantwortung vorgeschlagen haben, findet man
einen Antrag von Ihnen mit dem Titel „Die Zukunft un-
seres Landes sichern – Ein kindergerechtes Deutschland
schaffen“. Ihr Anspruch war in diesem Antrag, den Sie
auf den Weg gebracht haben, ein kindergerechtes
Deutschland zu schaffen. Sie diagnostizierten aber nicht
an einer einzigen Stelle ein Defizit in unserer Verfas-
sungsordnung, sondern schlugen ausschließlich Maß-
nahmen auf der Ebene des einfachen Rechts vor. Das ist
auch richtig so. Warum sich daran in den letzten Jahren
etwas geändert haben soll, darauf gehen Sie mit keinem
Wort ein.

Ich möchte zu einem weiteren Argument kommen.
Frau Dörner hat sehr intensiv mit der UN-Kinderrechts-
konvention argumentiert. Nur: Sie müssen sehen, dass
selbst die Rechtsexperten, die Ihrem Anliegen sehr auf-
geschlossen gegenüberstehen, beispielsweise der DAV-
Verfassungsrechtsausschuss, die also sagen: „Das ist ein
sympathisches Anliegen; lasst uns darüber sprechen“,
darauf hinweisen, dass selbstverständlich aus der UN-
Kinderrechtskonvention keinerlei Notwendigkeit abge-
leitet werden kann, unsere Verfassung zu ändern.

Zum Schluss möchte ich Sie auffordern: Um den Kin-
dern konkret zu helfen und ihre Lage zu verbessern,
müssen wir auf der Ebene des einfachen Rechts und des
Gesetzesvollzugs in den Ländern ansetzen. Hier müssen
wir etwas tun!


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Richtig! – Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Natürlich! Das ist doch unbestritten!)


Selbst in solchen Bundesländern, die die Kinderrechte in
ihre Landesverfassungen aufgenommen haben, kommt
es zu schlimmen Skandalen, weil das einfache Recht und
der Gesetzesvollzug dort nicht klappen. Daran müssen
wir vorrangig etwas ändern. Das ist die vorrangige Bau-
stelle, mit der wir Kindern wirklich helfen. Das mit uns
zu tun, dazu lade ich Sie ein und ermutige ich Sie.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721214700

Das Wort hat die Kollegin Diana Golze für die Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Diana Golze (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721214800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Herr Buschmann, man kann auch das eine tun,
ohne das andere zu lassen.


(Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Genau!)


Natürlich können wir einfache Gesetze machen, die gut
sind und den Kindern helfen, und uns trotzdem für die
Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz aus-
sprechen.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir – Sie mit Ihrer Mehrheit, die Opposition hat sich
enthalten – haben in diesem Hause ein Bundeskinder-
schutzgesetz beschlossen, das sicherlich gute Ansätze
beinhaltet, das aber ganz konkret – Sie haben von der
personellen, der ordentlichen Ausstattung der Jugend-
ämter gesprochen – vor Ort für Probleme sorgt. Mein
Landkreis, in dem leider die Linke nicht die Mehrheit
hat – Entschuldigung! –,


(Marco Buschmann [FDP]: Die FDP wohl auch nicht!)


wird jetzt gegen dieses Gesetz klagen. Andere Land-
kreise im Land Brandenburg werden ebenfalls klagen.
Sie haben zwar nette Dinge beschlossen, sagen aber
nicht, wie die Jugendämter das umsetzen sollen. Einfa-
che Gesetze helfen nämlich nicht, wenn sie vor Ort nicht
umsetzbar sind.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Herr Sensburg, dieselben Argumente, die Sie ge-
bracht haben, wurden gebracht – es war weit vor meiner
Zeit, aber ich habe sie nachgelesen –, als es um die
Gleichberechtigung von Mann und Frau ging. Zum
Glück gab es dann irgendwann andere Mehrheiten. Des-
wegen werden Sie es jetzt ertragen müssen, dass Ihnen
eine Frau noch einmal sagt, warum wir für Kinderrechte
im Grundgesetz sind.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)






Diana Golze


(A) (C)



(D)(B)


Vor wenigen Tagen haben wir den Weltkinderrechts-
tag begangen. Am 20. November 1989 ist die UN-Kin-
derrechtskonvention beschlossen worden. 1992 ist sie in
Deutschland ratifiziert worden. Das Problem ist aber,
dass die Kinderrechtskonvention – im Gegensatz zu an-
deren Staaten – mit einfacher Gesetzgebung gleichzuset-
zen ist,


(Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Genau!)


zum Beispiel mit einem Sozialgesetzbuch oder einem
Baugesetzbuch. In anderen Staaten, zum Beispiel Nor-
wegen – die Kinderkommission war letztes Jahr dort –,
steht die UN-Konvention über der Verfassung. Norwe-
gen hat diese Konvention erst dann ratifiziert, als festge-
stellt wurde: Wir können es rechtfertigen, wir haben un-
sere einfache Gesetzgebung und unsere Verfassung so
angepasst, dass wir die Konvention tatsächlich umsetzen
können. – Deutschland geht leider bei allen Menschen-
rechtskonventionen einen anderen Weg. Wir ratifizieren
erst, schmücken uns damit und sehen dann, dass wir Pro-
bleme bei der Umsetzung im Alltag bekommen. Die
Kinderrechte in die Verfassung aufzunehmen, wäre ein
weiterer Schritt für die Umsetzung der Kinderrechtskon-
vention auch in Deutschland.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das Aktionsbündnis Kinderrechte begrüßt die heutige
Debatte hier sehr. Die Mitglieder sind schon genannt
worden: Kinderhilfswerk, Kinderschutzbund, UNICEF,
Deutsche Liga für das Kind haben sich zusammenge-
schlossen und einen eigenen Vorschlag gemacht. Der
Gesetzentwurf, den die Linke einbringt, liegt schon et-
was länger vor. Im Endeffekt kommt es mir nicht auf je-
des einzelne Wort an, nicht darauf, dass alles so geregelt
wird, wie wir es in unserem Gesetzentwurf – meine
Fraktion möge es mir verzeihen – formuliert haben. Im
Endeffekt geht es doch darum, endlich eine parlamenta-
rische Mehrheit für die Aufnahme von Kinderrechten in
das Grundgesetz zu gewinnen.


(Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Genau!)


Eine gesellschaftliche gibt es bereits. Das zeigen alle
möglichen Umfragen.

Ich finde es einfach schade, dass die Vertreter der Ko-
alitionsfraktionen diese Debatte dafür benutzen, die Un-
terstützerinnen und Unterstützer dieser Gesetzentwürfe
zu diskreditieren und ihnen in einer Art und Weise, die
ich einfach ablehne, unmögliche Dinge zu unterstellen.
Es geht uns schlicht und ergreifend darum, den Kindern
und ihren Rechten einen höheren Stellenwert zu verlei-
hen. Kinder sind nämlich keine kleinen Erwachsenen.
Sie sind zum Beispiel auch keine kleinen Erwerbslosen.
Deshalb glaube ich auch, dass eine Aufnahme von Kin-
derrechten in das Grundgesetz eine Besserstellung auch
im einfachen Gesetz für die Kinder nach sich ziehen
würde. Das würde ich mir an vielen Stellen sehr wün-
schen.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Eine Anmerkung möchte ich noch zu der Frage, was
die Bundesländer dazu sagen, machen. Vor genau einem
Jahr, im November 2011, hat der Bundesrat eine Ent-
schließung verabschiedet, in der der Bundestag aufge-
fordert wird, ein Gesetzesvorhaben zur Aufnahme von
Kinderrechten in das Grundgesetz auf den Weg zu brin-
gen. Der Vorbehalt der Länder ist demzufolge keine
Ausrede, diese grundgesetzliche Änderung nicht vorzu-
nehmen.

Ich freue mich übrigens sehr, dass Ministerin
Schröder an dieser Debatte heute teilnimmt. Frau
Schröder, ich wünsche mir auch von Ihnen, eine Offen-
heit für dieses Thema zu zeigen. Sie haben zum Beispiel
die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Kinderrechte-
kongresses sehr enttäuscht. Die jungen Delegierten wa-
ren am Mittwoch in der Kinderkommission zu Gast. Sie
haben vor zwei Wochen am 2. Kongress der Kinder-
rechte teilgenommen. Als sie nach Hause kamen, muss-
ten sie in den Zeitungen lesen: Die Ministerin hat sich
gegen die Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz
ausgesprochen. Das finde ich sehr schade.

Ich bitte Sie alle von den Koalitionsfraktionen: Öff-
nen Sie sich für die inhaltlichen Argumente! Seien Sie
bereit für Veränderungen! Das Rad der Geschichte hat
sich weitergedreht.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721214900

Das Wort hat der Kollege Norbert Geis für die

Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1721215000

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Wenn man die Verfassung ändern will, braucht
man sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat eine
Zweidrittelmehrheit.


(Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Richtig!)


Wenn man eine Chance haben will, eine Zweidrittel-
mehrheit zu erreichen, muss man sich zusammensetzen,
bevor man überhaupt einen Gesetzentwurf einbringt.
Das haben Sie nicht getan. Deswegen besteht natürlich
schon ein bisschen der Verdacht, dass es hier mehr um
die Demonstration geht und weniger um die Frage, ob
Kinderrechte ins Grundgesetz aufgenommen bzw. ein-
fachgesetzlich geregelt werden sollen.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind ja überzeugende Argumente! – Diana Golze [DIE LINKE]: Seit sieben Jahren diskutieren wir darüber!)






Norbert Geis


(A) (C)



(D)(B)


Lassen Sie mich ein Weiteres nennen – wir reden ja
nicht das erste Mal über die Aufnahme von Kinderrech-
ten ins Grundgesetz –:


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Eben!)


Es wird immer wieder behauptet, die Kinderrechtskon-
vention sei erst dann richtig umgesetzt, wenn sie – in
Form von Kinderrechten – im Grundgesetz steht.


(Diana Golze [DIE LINKE]: Das wäre zumindest eine Konsequenz!)


Liebe Frau Rupprecht, ich respektiere Sie sehr und ich
schätze auch Ihr Engagement; aber ich glaube, über die
Aufnahme von Rechten ins Grundgesetz muss man
wirklich in aller Ruhe nachdenken.


(Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Ja!)


Dann muss man auch einmal feststellen, dass das, was
Sie fordern, schon im Grundgesetz enthalten ist. Das ist
nun einmal so, und das hat auch das Bundesverfassungs-
gericht so festgestellt.

Lassen Sie mich Art. 1 Grundgesetz nennen: „Die
Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das ist der tra-
gende Satz in unserem Grundgesetz, er gilt für jeden in
Deutschland, ob er Ausländer ist, ob er im Gefängnis
sitzt, ob er alt ist, ob er jung ist. Er gilt natürlich auch für
Kinder.

Oder Art. 2 Grundgesetz: Wie für jeden Erwachsenen
gilt dieser auch für Kinder. Das Kind hat ein Recht da-
rauf, sich entfalten zu können, sich entwickeln zu kön-
nen. Es hat einen Anspruch auf körperliche Unversehrt-
heit, natürlich auch auf die Freiheit der Person und das
Recht auf Leben. Das steht den Kindern genauso zu wie
jedem anderen. Jeder, der in Deutschland wohnt oder
sich in Deutschland bewegt, hat diese Rechte.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721215100

Kollege Geis, gestatten Sie eine Frage oder Bemer-

kung der Kollegin Rupprecht?


Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1721215200

Bitte.


Marlene Rupprecht (SPD):
Rede ID: ID1721215300

Herr Geis, ich stimme Ihnen natürlich zu, dass die

Grundrechte für alle Menschen in Deutschland gelten.
Aber unser Grundgesetz ist von Erwachsenen für Er-
wachsene geschrieben. Haben Sie die genaue Formulie-
rung, die in Art. 2 steht, wirklich so gut in Erinnerung?
Da steht:

Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner
Persönlichkeit …

Das heißt, es wird davon ausgegangen, dass es sich um
eine fertige Persönlichkeit handelt, die diese nun entfal-
tet. Im Hinblick auf Kinder müsste formuliert werden:
Jeder hat das Recht auf die Entwicklung und freie Ent-
faltung seiner Persönlichkeit. – Dann wäre niedergelegt,
dass wir dem Kind alles geben, damit es sich zu einer

Persönlichkeit entwickeln kann und diese dann entfalten
kann. Da ist der ganze Fördergedanke drin.


(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Damit schaden Sie den Kindern!)


So gibt es viele Stellen, wo wir nur Erwachsene im
Blick haben und das nur in Erwachsenensprache festge-
halten wird. Deshalb wüsste ich gern, wie Sie es inter-
pretieren, wenn Nichtjuristen, aber auch Verfassungs-
rechtler hier ein Defizit feststellen und nicht sehen
können, dass hier Kinderrechte niedergelegt wären.


(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Das sagt keiner!)



Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1721215400

Ich darf Ihnen ganz kurz darauf antworten: Art. 2

Grundgesetz gilt natürlich für jedes Kind genauso.


(Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Natürlich!)


Entwicklung bedeutet natürlich auch Förderung der Ent-
wicklung. Ich komme nachher noch darauf zu sprechen,
wenn ich Art. 6 Grundgesetz behandle; da sind die ei-
gentlichen Kinderrechte ja enthalten.

Art. 2 Grundgesetz hat beispielsweise am Anfang der
90er-Jahre eine ganz entscheidende Rolle gespielt. Es
wurde festgestellt – vom Bundesverfassungsgericht ge-
nauso wie auch von der Gesetzgebung –, dass jedes
Kind, auch das noch nicht geborene Kind, das Recht auf
Leben hat. Das gilt also nicht nur für Erwachsene, son-
dern auch für jedes Kind, ja sogar für das noch nicht ge-
borene Kind; auch dieses Kind hat im Sinne von Art. 2
und Art. 1 Grundgesetz bereits Rechte. Deswegen kann
ich das, was Sie sagen, so nicht annehmen.

Ich komme jetzt aber darauf zu sprechen, wo es um
Art. 6 Grundgesetz geht. Da sagt das Bundesverfas-
sungsgericht in seinem Urteil vom 1. April 2008, dass
die Eltern die Verpflichtung haben, Kinder zu erziehen,
dass die Eltern die Verpflichtung haben, für die Kinder
zu sorgen, dass sie aber auch das Recht gegenüber dem
Staat haben, zunächst einmal allein für ihre Kinder zu
sorgen, und dass der Staat zunächst nur ein Wächteramt
hat. Erst dann, wenn die Eltern diesem Anspruch nicht
gerecht werden, hat der Staat das Recht, einzugreifen.

Das Bundesverfassungsgericht hat in dem von mir er-
wähnten Urteil festgestellt, dass damit ein Grundrecht
der Kinder gegenüber den Eltern auf Erziehung sowie
auf Sorge und gegenüber dem Staat auf Schutz der Fami-
lie, auf Schutz der Erziehung durch die Eltern korres-
pondiert. Dies ist also in Art. 6 Grundgesetz niederge-
legt. Ich halte diesen Artikel für einen elementaren
Grundsatz unserer Verfassung, und zwar auch deswegen:
In Art. 6 Abs. 2 bis 5 geht es nur um das Wohl des Kin-
des. Was heißt „Wohl des Kindes“? Das heißt, wenn den
Eltern das Wohl des Kindes anvertraut ist, dann geht es
darum, dass die Eltern kein Gewaltverhältnis gegenüber
dem Kind entfalten, sondern dass sie für das Kind sor-
gen. „Wohl“ heißt, dass sie das Kind lieben. Das ist ein
natürliches Recht der Eltern, aber auch ihre natürliche
Pflicht.


(Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Ja!)






Norbert Geis


(A) (C)



(D)(B)


Art. 6 Grundgesetz ist hervorragend formuliert. Es
handelt sich um einen Grundsatz unseres ganzen gesell-
schaftlichen Zusammenlebens, nämlich dass es in einer
Familie ohne Liebe nicht geht. Das Wohl des Kindes for-
dert dies. Deswegen leite ich daraus ab, dass Kinder-
rechte sogar im Grundgesetz festgelegt sind. Ich meine,
das hat eine so fundamentale Bedeutung auch für die
Rechte der Kinder, dass ich Ihnen nicht recht geben
kann, liebe Frau Rupprecht, dass die Kinderrechte noch
nicht in unserer Verfassung sind. Sie sind bereits enthal-
ten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721215500

Kollege Geis, gestatten Sie eine Frage oder Bemer-

kung des Kollegen Buschmann?


Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1721215600

Ich glaube, wir dürfen nur Fragen zulassen.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721215700

Nein, beides ist möglich.


Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1721215800

Bemerkungen also auch. – Gerne, Herr Buschmann.


Dr. Marco Buschmann (FDP):
Rede ID: ID1721215900

Herr Kollege Geis, würden Sie mir zustimmen, dass

sich das Argument der Kollegin Rupprecht, dass der
Wortlaut von Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes nur an die
fertige Persönlichkeit und damit an den Erwachsenen
adressiert ist, vor dem Hintergrund, dass das Bundesver-
fassungsgericht in ständiger Rechtsprechung ab dem
53. Band seiner Entscheidungen in Art. 2 Abs. 1 immer
auch die Entfaltung des Kindes und damit seine Ent-
wicklung geschützt sieht, beispielsweise in der Schule,
so wahrscheinlich nicht halten lässt?


Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1721216000

Ich bedanke mich für den Hinweis und für die Klar-

stellung. Danke schön.

Die Privilegierung von Ehe und Familie, verehrte
Frau Rupprecht, meine sehr verehrten Damen und Her-
ren, hat ihren Grund in der Sorge der Eltern für die Kin-
der. Es gibt keinen anderen Grund für diese Privilegie-
rung. Wir haben hier schon oft genug über die
Privilegierung von Ehe und Familie gestritten, als es um
die Frage der Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen
Lebensgemeinschaften mit Ehe und Familie ging.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da haben Sie auch noch einiges zu lernen, Herr Geis!)


Gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften können
diese Privilegierung nicht haben. Die Privilegierung ha-
ben Ehe und Familie wegen der Generationenfolge, aber
auch um das Humankapital, wie es die Juristen nennen,
zu übertragen. Das heißt, all das, was wir an Entwick-
lung haben, und all das, was wir an Kulturwerten haben,

wird zunächst erst einmal dem Kind übertragen und ihm
gewissermaßen schon von ganz klein auf eingepflanzt.

Ich meine, aus dem Grundsatz der Verfassung bezüg-
lich der Privilegierung von Ehe und Familie selbst ergibt
sich – oder zumindest ist das ein Hinweis darauf –, dass
die Kinderrechte bereits in der Verfassung stehen.

Das, was Sie wollen, ist einfachgesetzlich, wie es
Herr Buschmann und auch Herr Sensburg gesagt haben,
viel besser zu lösen. Sie können einfachgesetzlich auf
die einzelnen Ansprüche eingehen und sie vernünftig re-
geln. Das haben wir auch getan. Im Übrigen ist im Ge-
setzentwurf der Grünen in wunderbarer Weise aufge-
zählt – Frau Dörner, Sie sollten zuhören; das ist nämlich
ein Lob für Ihren Gesetzentwurf –,


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da kann der Herr Sensburg einmal zuhören!)


was alles geleistet worden ist, und zwar einfachgesetz-
lich. Meiner Meinung nach ist es entscheidend, dass Sie
das, was Sie wollen, einfachgesetzlich und nicht im
Grundgesetz regeln.

Frau Rupprecht, Sie haben es mit Recht gesagt: Im
Grundgesetz sollen die Grundlinien der Rechtsordnung
aufgezeigt werden. Und die Grundlinien werden in die-
sem Grundgesetz in einer wunderbaren Weise aufge-
zeigt.


(Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Ja, sehe ich auch so!)


Wir sollten und dürfen das Grundgesetz nicht über-
frachten; denn sonst kommen noch ganz viele andere,
die ihre Rechte auch im Grundgesetz verankert sehen
wollen. Wir haben aber alle Not, auf dem einfachgesetz-
lichen Weg für die Rechte der Kinder zu kämpfen. Hier
sehe ich in Ihnen eine gute und starke Bundesgenossin.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721216100

Der Kollege Dr. Edgar Franke hat nun für die SPD-

Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Edgar Franke (SPD):
Rede ID: ID1721216200

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Ich hätte nicht gedacht, dass wir heute, am Frei-
tagnachmittag, eine so emotionale Debatte führen, aber
ich glaube, bei diesem Thema ist das nicht verwunder-
lich, und Marlene Rupprecht ist ja auch jemand, die
gerne emotional diskutiert.

„Das Grundgesetz hat keine Kinder“, hat Heribert
Prantl in der Süddeutschen Zeitung vom 17. dieses Mo-
nats formuliert. Ich denke, er hat recht; denn Kinder,
Herr Geis, kommen als Inhaber eigener Rechte in unse-
rer Verfassung in der Tat nicht vor. Das verwundert ei-
gentlich. In letzter Zeit wird unser Grundgesetz ja in fast
schon inflationärer Weise – da gebe ich Ihnen auch teil-





Dr. Edgar Franke


(A) (C)



(D)(B)


weise recht – mit immer mehr Forderungen bezüglich
der Aufnahme von Staatszielen und verfassungsrechtli-
chen Ergänzungen konfrontiert.


(Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Da stimme ich auch zu!)


Es stimmt auch, dass bei solchen Forderungen immer
die Gefahr besteht, dass man die wirklich wichtigen
Grundrechte und Staatsziele entwertet, indem man alles
und jedes in die Verfassung aufnimmt. Auch hier gebe
ich Ihnen recht.

Für mich als zweifacher Vater ist es aber schon er-
staunlich, dass man den Kindern bis zum heutigen Tage
keine originären Verfassungsrechte gegeben hat – und
das vor dem Hintergrund der Diskussion über Kindes-
misshandlungen, Kindestötungen und Kindesverwahrlo-
sung.

Es ist sicherlich auch so – das hat 1968 ja das Bundes-
verfassungsgericht formuliert –, dass Kinder einen An-
spruch auf Förderung ihrer Fähigkeiten und auf best-
möglichen Schutz haben. Das ist aber, Herr Geis, ein
ungeschriebenes Grundrecht. Marlene Rupprecht hat
wirklich richtigerweise formuliert: Alles, was wichtig
ist, wird in der Verfassung niedergelegt. Deshalb sollten
auch Kinderrechte in der Verfassung ausdrücklich nor-
miert werden.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Natürlich ist das auch ein Programmsatz bzw. eine Sym-
bolnorm, aber Kinder sollten in unserer Gesellschaft ei-
nen anderen Stellenwert haben. Auch deshalb sollten
ihre Rechte ausdrücklich in unserer Verfassung normiert
werden.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, vor
20 Jahren – das ist auch schon angesprochen worden –
ist die UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland in
Kraft getreten. Das war ein Meilenstein in der Entwick-
lung der Kinderrechte. Gerade Sozialdemokratinnen und
Sozialdemokraten haben immer dafür gestanden. Jetzt
müssen wir sie tatsächlich umsetzen. „Tatsächlich um-
setzen“ bedeutet, dass wir Art. 6 Abs. 2 Grundgesetz än-
dern. „Tatsächlich umsetzen“ bedeutet auch, dass wir
noch mehr machen.

Ich glaube, unser Vorschlag, den Frau Rupprecht
schon verschiedentlich vorgetragen hat, dass wir einen
Kinderbeauftragten ähnlich wie den Wehrbeauftragten in
Art. 45 b Grundgesetz schaffen wollen, ist vernünftig,
weil man dann auch gucken kann, was tatsächlich ge-
macht wird. Dieser Kinderbeauftragte könnte sich dabei
auf eine verfassungsrechtliche Regelung stützen. Des-
wegen erscheint das sinnvoll.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das politische Problem ist immer – das war ja auch
ein Thema, das Sie angesprochen haben –: Wie setze ich
etwas um? Ich glaube, ein Kinderbeauftragter könnte
hier das eine oder andere bei Diskussionen über die
Frage, wie sich die Verwaltung dazu verhält, ganz prag-

matisch leisten. Vor allen Dingen muss man sagen:
Wenn wir einen Kinderbeauftragten haben, dann brau-
chen wir natürlich auch die notwendigen personellen
und sachlichen Ressourcen. Sonst würde das nicht funk-
tionieren. Insofern spricht doch einiges dafür, eine insti-
tutionelle Absicherung zu schaffen.

Meine Damen und Herren, ich glaube, eine Verfas-
sungsänderung würde zu einer Bewusstseinsänderung
führen und auch dazu, dass viele darüber diskutieren
würden, welche Bedeutung Kinder in unserer Gesell-
schaft haben.

Eine Grundgesetzänderung würde zweierlei bewir-
ken:

Erstens. Kinder sind eigene Subjekte – dieser Punkt
spielte auch bei der Diskussion um die Beschneidung
eine Rolle – mit damit verbundenen Rechten. Zweitens
– ich habe es vorhin schon angedeutet –: Die Verwaltung
ist angehalten, die Verfassung insofern zu respektieren,
als die Rechte der Kinder bei der Umsetzung von Vorga-
ben immer eine höhere Priorität haben.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich habe von Caren Marks etwas gelernt. Wenn sie in
familienpolitischen Diskussionen auftritt, dann sagt sie
immer: Jedes Kind kann es schaffen, vorausgesetzt, wir
sind gut genug. – Wir, das ist die Gesellschaft. Vor die-
sem Hintergrund sollten wir die gesellschaftliche Dis-
kussion führen. Die heutige Diskussion, auch wenn sie
teilweise sehr emotional war, ist eine gute Grundlage,
um diese wichtige Verfassungsänderung zu erreichen
und die Rechte von Kindern in unserem Land zu verbes-
sern.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721216300

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/11650 und 17/11578 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 50 b. Der Gesetzentwurf auf
Drucksache 17/10118 soll ebenfalls an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden.
Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der
CDU/CSU und FDP wünschen Federführung beim
Rechtsausschuss. Die Fraktion Die Linke wünscht Fe-
derführung beim Ausschuss für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend.

Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Die Linke abstimmen, also Federführung beim
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Überwei-
sungsvorschlag ist mit den Stimmen der Unionsfraktion,





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)


der FDP-Fraktion, der SPD-Fraktion, der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke abgelehnt.

Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP abstimmen, also Fe-
derführung beim Rechtsausschuss. Wer stimmt für die-
sen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Der Überweisungsvorschlag ist an-
genommen.

Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 12. Dezember 2012, 13 Uhr,
ein.

Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen etwas
Erholung, bevor wir wieder zusammenkommen.