Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, meine Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle
herzlich und freue mich, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass
wir die heutige Tagesordnung mit der Wahl eines
Schriftführers eröffnen.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen schlägt vor, für die
Kollegin Agnes Krumwiede die Kollegin Ingrid
Hönlinger als Schriftführerin zu wählen.
– Alternativvorschläge sind denkbar, werden aber nicht
ernsthaft vorgetragen.
– Kollege Trittin fühlt sich, wenn ich das richtig verstan-
den habe, überfordert, was die Anregungen aus anderen
Fraktionen betrifft. – Dann ist damit die Kollegin Ingrid
Hönlinger als neue Schriftführerin gewählt.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, behandeln
wir zunächst einen Geschäftsordnungsantrag. Die
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP haben fristge-
recht beantragt, die heutige Tagesordnung um die Bera-
tung des Antrags des Bundesministeriums der Finanzen
zu Änderungen im bestehenden Anpassungsprogramm
für Griechenland zu erweitern; dieser Antrag findet sich
auf der Drucksache 17/11647. Die Vorlage einschließ-
lich der Anlagen soll gleich im Anschluss in Verbindung
mit der Regierungserklärung unter Zusatzpunkt 10 a be-
raten werden. Die Fraktion Die Linke hat dieser Aufset-
zung widersprochen.
Dazu erteile ich zunächst das Wort der Parlamentari-
schen Geschäftsführerin der Fraktion Die Linke, Frau
Kollegin Enkelmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die Fraktion Die Linke widerspricht der Aufset-zung der Anträge der Bundesregierung zur sogenanntenGriechenland-Rettung auf die heutige Tagesordnung undvor allen Dingen der Sofortabstimmung heute.
In der Nacht von Montag zu Dienstag haben sich dieFinanzminister der Europäischen Union geeinigt. AmDienstagvormittag haben wir dann via Agenturmeldungerfahren, dass am Donnerstag der Bundestag abschließendüber dieses Paket entscheiden soll – ohne dass sich dieFraktionen dazu verständigt haben. Dann haben wir amspäten Dienstag dieses Paket von Unterlagen – Informa-tionen, Anträge etc. – bekommen. Nicht einmal der Haus-haltsausschuss oder der Europaausschuss, die am Mitt-woch getagt haben, hatten sämtliche Drucksachen für ihreBeratung zur Verfügung. Im Gegenteil: Über die Auswir-kungen, die zum Beispiel die angekündigten haushalts-rechtlichen Ermächtigungen mit sich bringen, konnte derHaushaltsausschuss nicht verlässlich und nicht zuverläs-sig beraten. Das heißt, Sie wollen in den nächsten Jahren– das kommt hinzu – ohne Nachtrag, also quasi mit einemBlankoscheck, hier über die weiteren Mittel, die in denBundeshaushalt eingestellt werden müssen, entscheiden.Da machen wir nicht mit, ganz klar.
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Dr. Dagmar Enkelmann
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Aber kraft Ihrer Wassersuppe, also kraft der Mehrheitder Koalition, wurde das heute auf die Tagesordnung ge-setzt; Schützenhilfe gab es von SPD und Grünen. Kol-lege Steinmeier, Sie haben vollkommen recht, wenn Siesagen: Das Parlament darf nicht zum Abnickorgan derRegierung werden.
Vollkommen recht haben Sie damit!
Nur: Diese Bundesregierung benutzt unser Parlamentimmer öfter dafür. Da machen wir als Linke nicht mit.Dagegen müssen wir uns alle wehren, als gesamtes Par-lament.
Bei der SPD gab es dann zwar einen Sturm im Wasser-glas; aber er war schnell beendet. Deswegen meine ich,Sie haben den Titel verdient: Umfaller der Woche.
Die Linke lehnt ein derart undemokratisches Verfah-ren ab. Oder haben Sie tatsächlich ernsthaft dieses ganzePaket gelesen,
beraten,
abgewogen?
– Das alles haben Sie gemacht, Herr Kauder? Ich würdejetzt gern ein Quiz mit Ihnen machen.
Haben Sie ernsthaft geprüft, welche Auswirkungen sichaus diesen Entscheidungen auf die kommenden Haus-halte, zum Beispiel für 2013, ergeben?
In der vergangenen Woche haben wir hier den Haushalt2013 beschlossen. Er ist schon heute Makulatur. Wirwissen, dass es im nächsten Jahr um 730 Millionen Eurogeht, die weniger ausgegeben werden können. Das istein Problem. Wo soll das herkommen?Da wird ganz einfach von „Umschichtung“ im Haus-halt gesprochen. Das, finde ich, ist eine Volksverdum-mung. Man sollte ehrlich mit den Menschen umgehen.Was heißt denn „Umschichtung“? Umschichtung heißtdoch, dass an irgendeiner Stelle gekürzt wird: zum Bei-spiel bei Bildung, bei der Arbeitsmarktpolitik, bei So-zialleistungen. Sagen Sie das den Leuten! Wo soll tat-sächlich das Geld für 2013 und die kommenden Jahreherkommen?
Die Bundeskanzlerin hat erklärt, es gehe nicht, Grie-chenland den Hahn abzudrehen.
Das sei nicht verantwortbar.Dass Sie hier im Schnellverfahren solche Anträgedurch den Bundestag bringen wollen, das ist unverant-wortbar.
Dass Sie nicht ernsthaft Alternativen geprüft haben, dasist in hohem Maße verantwortungslos: Verantwortungs-los ist das gegenüber dem griechischen Volk; verantwor-tungslos ist das vor allem auch gegenüber den deutschenSteuerzahlerinnen und Steuerzahlern.Stimmen Sie gegen die heutige Sofortabstimmung!
Das Wort erhält nun der Kollege Michael Grosse-
Brömer für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Es wird schon ritualisiert: Sie stellen sich beifast jeder Griechenland-Debatte hier hin, sagen, es gingzu schnell, Sie sind nicht ausreichend beteiligt worden.Sie sind lange Parlamentarische Geschäftsführerin. Siewerden mir bestätigen, dass dieser Ablauf – mit Bera-tung im Ausschuss – kein außergewöhnlicher Ablauf ist,
sondern er ist so, wie er typischerweise bei Gesetzent-würfen in einer Sitzungswoche stattfindet. Das ist dererste Punkt.Der zweite Punkt, Frau Enkelmann. Sie sollten sichmit Ihrer Fraktion mehr Gedanken über Ihre europapoli-tische Einstellung und weniger über die Geschäftsord-nung machen.
Ich stelle nur nüchtern fest, dass jede Fraktion heutein der Lage ist, eine Entscheidung zu treffen. Ich sage Ih-nen eines: Allen Kollegen, egal wie sie heute abstim-men, zu unterstellen, sie würden hier sitzen und leicht-fertig, ohne Vorbereitung, in diese Abstimmung gehen,halte ich ein Stück weit für frech.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012 25967
Michael Grosse-Brömer
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Im Zweifel wird jede Kollegin und jeder Kollege derVerantwortung als Abgeordnete oder Abgeordneter ge-recht geworden sein. Im Zweifel wird er nach Beratungmit seinen Mitarbeitern und nach ausführlicher Informa-tion durch den Bundesfinanzminister in der Lage sein,heute eine verantwortungsbewusste, für ihn tragbareEntscheidung zu treffen. Darum geht es. Das ist im Übri-gen auch Aufgabe dieses Parlamentes.Abschließend will ich Ihnen eines sagen: Wie häufigstehen Sie hier und beklagen die Situation in Griechen-land?
Heute stellen Sie hier einen Geschäftsordnungsantrag,der, würde er angenommen, natürlich dazu führenwürde, dass eine Verzögerung eintritt, dass die Men-schen in Griechenland nicht die Unterstützung bekom-men, die sie kriegen sollen.
Das wäre das Ergebnis Ihres Geschäftsordnungsantrags.Was die Sache noch viel schlimmer macht, ist, dasswir klare Vorgaben für die Griechen gemacht haben,dass wir ihnen finanzielle, solidarische Unterstützungzugesagt haben, wenn sie gewisse Auflagen erfüllen.
Die Troika sagt: Ja, diese Auflagen sind erfüllt worden. –Und Sie wollen dem griechischen Volk jetzt die Unter-stützung verweigern.
So geht es nicht.
Deswegen, Frau Enkelmann: Dieser Antrag ist sach-lich nicht begründet, und er wurde von Ihnen auch nichtschlüssig vorgetragen. Deswegen können wir ihn nur ge-schlossen ablehnen.
Weitere Wortmeldungen zur Geschäftsordnung liegenmir nicht vor.Ich lasse dann darüber abstimmen. Wer stimmt fürden Aufsetzungsantrag der Fraktionen der CDU/CSUund FDP? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –Damit ist der Aufsetzungsantrag mit großer Mehrheit an-genommen.Ich rufe nun den Zusatzpunkt 10 a und die soebenaufgesetzte Beratung des Antrags des Bundesministe-riums der Finanzen, Zusatzpunkt 10 b, auf:ZP 10 a) Abgabe einer Regierungserklärung durch denBundesminister der FinanzenFortschritte beim Anpassungsprogramm fürGriechenlandb) Beratung des Antrags des Bundesministeriumsder FinanzenÄnderungen im bestehenden Anpassungs-programm für Griechenland – Änderung derGarantieschlüssel;Einholung eines zustimmenden Beschlussesdes Deutschen Bundestages nach § 3 Absatz 1i. V. m. § 3 Absatz 2 Nummer 2 des Stabilisie-rungsmechanismusgesetzes
– Drucksachen 17/11647, 17/11648, 17/11649,17/11669 –Zu der Regierungserklärung liegt ein Entschließungs-antrag der Fraktion Die Linke vor. Des Weiteren hat dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen einen Entschließungs-antrag zu dem genannten Antrag des Bundesministe-riums der Finanzen eingebracht.Wir werden über den Antrag des Bundesministeriumsder Finanzen später namentlich abstimmen.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-rung 90 Minuten vorgesehen. – Auch hierzu gibt es of-fensichtlich Einvernehmen. Dann können wir so verfah-ren.Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hatder Bundesminister der Finanzen, Wolfgang Schäuble.
Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-zen:Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Wir haben schon eine Reihe von Schritten gehenmüssen, um Griechenland und damit die Euro-Zone ins-gesamt zu stabilisieren. Es stellen sich erste Erfolge ein;aber der vor uns liegende Weg ist noch lang. Jahrzehnte-lange Versäumnisse können nicht in zwei Jahren aufge-holt werden. Meine Damen und Herren, das haben wiralle ein Stück weit gemeinsam in den letzten zweiein-halb Jahren lernen müssen.Der Bundestag hat im Februar dieses Jahres demzweiten Anpassungsprogramm für Griechenland zuge-stimmt. Dieses Programm umfasst Darlehen in Höhevon bis zu 164,5 Milliarden Euro. Diese Darlehen wer-den über den Rettungsschirm EFSF ausgebracht. Damalsist zum ersten Mal in dieser Weise in Europa auch eineUmschuldung bei nichtöffentlichen Gläubigern durchge-führt worden.Heute beraten wir über Änderungen, die notwendigsind, damit wir dieses Programm fortführen können. Nur
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Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
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so können wir die Auszahlung der nächsten im Pro-gramm vorgesehenen Tranchen an Griechenland ermög-lichen. Die Auszahlung jeder Tranche ist nach demvereinbarten Programm an ein positives Votum der soge-nannten Troika – das sind die drei Institutionen: Interna-tionaler Währungsfonds, Europäische Zentralbank undEU-Kommission – gebunden. Sie müssen gemeinsamprüfen und berichten, inwieweit das Programm wie ver-einbart umgesetzt worden ist. Wenn es Lücken gibt,müssen Änderungen vorgeschlagen werden, um das ent-sprechend anzupassen.Dieser Bericht hat lange auf sich warten lassen; dieerste Tranche war eigentlich Ende Juni fällig. Er liegtjetzt vor, und in ihm wird präzise dargelegt, inwieweitdie Maßnahmen der Vereinbarung – des sogenanntenMemorandum of Understanding – umgesetzt sind, ein-schließlich auch der sogenannten Prior Actions; das sinddie Maßnahmen, die Griechenland vor Auszahlung dernächsten Tranche des Kredits auszuführen verpflichtetist.Es ist bekannt, dass es durch die beiden Wahlen, dieim März und im Juni in Griechenland stattgefunden ha-ben – nach der ersten Wahl ist die Regierungsbildung ge-scheitert –, erhebliche Verzögerungen in der Umsetzungdes Programms gegeben hat. Außerdem hat sich die kon-junkturelle Situation nicht nur in Griechenland, sondernin Europa und weltweit seit dem Beschluss über das Pro-gramm verschlechtert.Alle internationalen Beobachter sind sich aber aucheinig, dass die neue griechische Regierung mit großemEinsatz an einer konsequenten Umsetzung der vereinbar-ten Auflagen arbeitet und dass jetzt eine Reihe von Fort-schritten erzielt worden ist.Der gemeinsame Bericht dieser drei Institutionenstellt fest, dass Griechenland angesichts der schlechterenwirtschaftlichen Rahmenbedingungen und der eingetre-tenen Verzögerungen zwei Jahre mehr Zeit brauchenwird, um seine Konsolidierungsziele zu erreichen. Dasheißt vor allen Dingen, dass der Primärüberschuss, dernach dem Programm eigentlich Ende 2014 mit 4,5 Pro-zent erreicht werden sollte, erst 2016 erreicht werdenkann.Das führt – ohne weitere Maßnahmen – zu einer Fi-nanzierungslücke in der Größenordnung von 14 Milliar-den Euro. Damit kann auch die in der Schuldentragfä-higkeitsanalyse zugrunde gelegte Schuldenstandsquotevon 120 Prozent des Bruttoinlandsprodukts im Jahre2020 – so war das Programm verabschiedet – nicht mehrerreicht werden. Sie würde ohne Veränderungen nachden jetzigen Berechnungen bei 144 Prozent im Jahre2020 liegen.Deshalb mussten wir in der Euro-Gruppe Vorschlägezur Schließung dieser Lücke und zur Verbesserung derSchuldentragfähigkeit erarbeiten. Diese Vorschläge be-deuten eine Änderung des bestehenden Programms.Dazu bitte ich den Bundestag nach § 3 unseres Gesetzesüber den Stabilisierungsmechanismus um seine vorhe-rige Zustimmung. Der deutsche Vertreter kann nur zu-stimmen, wenn der Deutsche Bundestag dem vorher zu-gestimmt hat.Im Kern entscheiden wir heute über Fortsetzung oderAbbruch dieses Griechenland-Programms – Fortsetzungdes Programms mit Anpassungen, die es in der Spur hal-ten, oder Nichtauszahlung dieser Tranchen mit allenKonsequenzen, die das nicht nur für Griechenland, son-dern für ganz Europa und darüber hinaus bedeutenwürde.Im Vergleich zu den Prognosen aus dem Mai 2010– das war die erste Entscheidung über ein Hilfspro-gramm für Griechenland – ist der Einbruch des Brutto-inlandsprodukts in Griechenland erheblich größer ge-worden. Man geht jetzt für den Zeitraum von 2010 bis2013 von einem Gesamtrückgang der volkswirtschaftli-chen Gesamtleistung Griechenlands von 22 Prozent aus.
– Wir hatten 2010 andere Prognosen der Institutionen.Wir können uns immer nur an die Zahlen halten, die vonden entsprechenden internationalen Institutionen aufge-stellt werden. Wenn wir anfangen, durch Mehrheitsent-scheidungen in den Fraktionen von wirtschaftlichen Pro-gnosen abzusehen, wird das alles nicht besser. Das hilftuns alles nichts.
– Es ist schön, dass Sie diesen Zwischenruf machen. Ichwollte nämlich gerade darauf hinweisen.Wir wissen heute, dass sich die wirtschaftliche Situa-tion in Griechenland mit den üblichen Kategorien kon-junktureller Entwicklung, also Rezession und Auf-schwung, in Wahrheit nicht beschreiben lässt. In Wahrheiterleben wir – das sehen wir heute vielleicht deutlicher, alswir es vor 2010 gesehen haben – das Wegbrechen eineszuvor nicht nachhaltigen, eher auf dem Papier bestehen-den Bruttosozialprodukts, sozusagen eines Scheinwohl-standes, der auf Pump, nämlich maßgeblich mithilfe vonAuslandskrediten, finanziert worden ist.Da gibt es eine Parallele zu dem, was wir in Deutsch-land und Europa vor etwas mehr als 20 Jahren erlebt ha-ben. Die griechische Wirtschaft befindet sich in einemTransformationsprozess, der vielleicht am ehesten dem-jenigen ähnelt, den die osteuropäischen Länder nachdem Zusammenbruch der Sowjetunion und des sowjeti-schen Imperiums leisten mussten. Das ist ein Gesun-dungsprozess hin zu mehr Nachhaltigkeit, der sehrschmerzhaft ist. Aber dessen Ursachen liegen nicht imAnpassungsprogramm. Das ist eine der großen Täu-schungen. Das Anpassungsprogramm für Griechenlandist nicht die Ursache für die schlechte wirtschaftlicheEntwicklung. Im Gegenteil: Mit unseren Finanzhilfenkönnen wir die damit verbundenen Härten nicht vermei-den, aber wir können sie wenigstens abmildern. Aufhal-ten können wir den Prozess nicht. Die Alternative hießenämlich, unwirtschaftliche Strukturen mit Milliardenund Abermilliarden Euro künstlich am Leben zu halten.Es führt kein Weg daran vorbei: Griechenland muss in
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Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
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einem mühsamen Prozess Wettbewerbsfähigkeit erlan-gen. Dazu sind strukturelle Reformen unumgänglich.
Wenn man sich diese schwierigen wirtschaftlichenRahmenbedingungen verdeutlicht, stellt man fest, dassdie in Griechenland bisher erzielten Erfolge erheblichsind, auch wenn sie noch hinter den ursprünglichen Pro-grammzielen zurückbleiben.Griechenland hat sein Haushaltsdefizit deutlich redu-ziert. Nach der Bewertung der Troika hat Griechenlandeine der umfassendsten Haushaltskonsolidierungen um-gesetzt, die ein Mitgliedsland der Europäischen Union inden letzten 30 Jahren unternehmen musste und unter-nommen hat. In den Jahren 2009 bis 2011 ist eine Redu-zierung des Defizits um 6 Prozentpunkte des Brutto-inlandsprodukts erreicht worden, und für das laufendeJahr ist eine weitere Rückführung um 2,5 Prozentpunkteauf dann noch 6,9 Prozent geplant.Der strukturelle Haushaltssaldo hat sich seit 2009 um13 Prozentpunkte des Bruttoinlandsprodukts verbessert.Mit der Umsetzung der Maßnahmen in den kommendenzwei Jahren wird das weiter reduziert werden.Noch einmal: In den Jahren 2009 bis 2012 wird dasgesamtstaatliche Defizit in Griechenland um zwei Drit-tel, um mehr als 22 Milliarden Euro, abgebaut.
Man muss auch sehen, was Griechenland schon geleistethat.
Die makroökonomischen Ungleichgewichte gehenzurück. Das ist für die Frage, ob Griechenland irgend-wann auf einen wettbewerbsfähigen Kurs kommt, vielwichtiger. Das Leistungsbilanzdefizit Griechenlandssinkt. Es beträgt in diesem Jahr mit 8 Prozent des Brutto-inlandsprodukts weniger als die Hälfte seines Höchst-stands. Im Jahre 2008 waren es nämlich 18 Prozent.Noch wichtiger ist: Griechenland gewinnt an Wettbe-werbsfähigkeit. Das zeigt sich an einer Trendumkehr beiden Lohnstückkosten. Bis 2009 sind die Lohnstückkos-ten in Griechenland nämlich schneller gestiegen als imrestlichen Euro-Raum.
Von 2009 bis 2012 hat Griechenland dagegen eine Ver-ringerung seiner Lohnstückkosten um 10 Prozent er-reicht, wohingegen sie im Euro-Raum insgesamt um2 Prozent gestiegen sind. Das zeigt, dass die Lohnflexi-bilisierung durch die Arbeitsmarktreformen im Anpas-sungsprogramm eine wichtige und richtige Rolle spielt.Griechenland hat zuletzt endlich auch tiefgreifendeStrukturreformen durchgeführt: im öffentlichen Sektor,bei den Renten, im Gesundheitswesen, im Arbeitsmarktund – mit Abstrichen – auch auf den Güter- und Dienst-leistungsmärkten. Auch die Weltbank bestätigt Grie-chenland in ihrem Bericht Doing Business Report, indem darüber berichtet wird, wie die Rahmenbedingun-gen für die Geschäftstätigkeit sind, und der für alle Län-der erstellt wird, große Fortschritte.Während der langen Beratungen, die jetzt zu dem Be-richt der Troika geführt haben, haben wir zusätzlicheMaßnahmen verabredet und auch umgesetzt, die überdie bisherigen Programmauflagen hinausgehen.Der Haushalt für das kommende Jahr mit der Schlie-ßung einer Fiskallücke von 13,5 Milliarden Euro ist un-ter den Umständen, die wir alle im Fernsehen verfolgthaben, vor zwei Wochen an einem Sonntagabend verab-schiedet worden. Man muss das bei den gestellten Anträ-gen, das jetzt gar nicht zu entscheiden, auch noch in Er-innerung behalten.Das Renteneintrittsalter wird ab dem 1. Januar 2013auf 67 Jahre erhöht.
– Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist trotzdem wich-tig; wir kennen ja die Debatte aus dem eigenen Land. –In Griechenland ist jetzt beschlossen worden, dass dasRenteneintrittsalter ab dem 1. Januar 2013 auf 67 Jahreerhöht wird; die Gesundheitsausgaben werden auf einNiveau von maximal 6 Prozent des Bruttoinlandspro-dukts begrenzt; es gibt einen Rahmen für den Mindest-lohn; die Lohnnebenkosten sind reduziert worden, undeine Fülle von Zugangs- und Ausübungsbeschränkungenfür regulierte Berufe wird abgeschafft.Unter diesen Voraussetzungen – dass Griechenland esumgesetzt hat – schlagen wir in der Euro-Gruppe jetztMaßnahmen dafür vor, die genannte Finanzlücke von14 Milliarden Euro bis 2014 zu schließen und die Schul-dentragfähigkeit wiederherzustellen. Diese Maßnahmensind Anpassungen des zweiten Griechenland-Programms.Es handelt sich nicht um ein drittes, neues Programm. ImÜbrigen: Der finanzielle Gesamtrahmen bleibt unverän-dert.
– Es ist schon so, Frau Künast. – Es handelt sich im We-sentlichen um folgende Einzelmaßnahmen: Zunächsteinmal plant Griechenland, ausstehende Staatsschuldtitelvon privaten Gläubigern zu den derzeit niedrigen Markt-werten zurückzukaufen. Die liquiden Mittel dafür müs-sen im laufenden Programm aufgebracht werden. Mitdiesem Beitrag des Privatsektors kann der Schulden-stand signifikant weiter reduziert werden. Wie hoch derBetrag genau ausfällt, muss abgewartet werden.Die Mitgliedstaaten leisten ihrerseits einen Beitrag, in-dem die Zinsen aus dem ersten Griechenland-Programm
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Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
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– das sind die bilateralen Kredite, die wir über die KfWausgereicht und durch den Bund verbürgt haben – weiterabgesenkt werden. Das heißt für uns: Die KfW wird wei-terhin ihre Finanzierungskosten decken, aber sie wirdkeine darüber hinausgehenden Erträge mehr an den Bundüberweisen können. Das bedeutet im BundeshaushaltMindereinnahmen in Höhe von 130 Millionen Euro jähr-lich. Diese Mindereinnahmen können im Rahmen desHaushaltsvollzugs im kommenden Jahr aufgefangen wer-den.Es ist kein Nachtragshaushalt erforderlich.Griechenland erhält für die EFSF-Darlehen – das sinddie Darlehen aus dem zweiten Griechenland-Programm –eine Zinsstundung von zehn Jahren. Der Finanzbedarfwird damit in der Programmperiode um 3,7 MilliardenEuro verringert. Nach den Buchungsregeln von Eurostaterhöht sich dadurch nicht der Schuldenstand. Die Lauf-zeit der Kredite beider Hilfsprogramme wird um15 Jahre verlängert. Der Grund ist, dass der große Bergvon Tilgungen, der sonst nach 2022 auf Griechenlandzukommen würde, mit dieser Streckung abgeflacht wer-den soll.Wir haben darüber hinaus verabredet, den Abbau derT-Bill-Finanzierung – das sind die kurzfristigen Schuld-titel – weniger schnell umzusetzen, als es im Programmvorgesehen war. Was bisher im Programm vorgesehenwar, war sehr ambitioniert. Ich will noch sagen: DieseMaßnahme ist vertretbar, weil sich Griechenland im Ver-gleich zu anderen Ländern mit einem verhältnismäßiggeringen Anteil an kurzfristigen T-Bills an der Gesamt-schuld finanziert.Darüber hinaus sollen die Gewinne – wenn sie sichverwirklicht haben –, die die Europäische Zentralbankaus ihrem Sekundärmarktprogramm erzielt, wenn dieAnleihen zu 100 Prozent zurückgezahlt werden – manhat ja im Rahmen des Sekundärmarktprogramms zu we-sentlich niedrigeren Kursen gekauft –, an Griechenlandausgereicht werden. Die EZB rechnet aus heutiger Sichtin den kommenden Jahren mit Gewinnen aus diesemSMP-Portfolio in einer Größenordnung von insgesamtbis zu 10 Milliarden Euro.Der rechnerische Anteil Deutschlands daran beläuftsich auf etwa 27 Prozent. Im laufenden Jahr jedenfallsentfällt als Anteil auf die Deutsche Bundesbank ein rech-nerischer Gewinn am EZB-Ertrag von rund 600 Millio-nen Euro, den wir im kommenden Jahr an Griechenlandweiterreichen. Die notwendige haushaltsrechtliche Er-mächtigung dazu müssen wir über eine außerplanmäßigeVerpflichtungsermächtigung nach den §§ 37 und 38 derBundeshaushaltsordnung schaffen.Diese Maßnahmen zusammen führen dazu, dass dasProgramm weiter finanziert werden kann und dass auchder griechische Schuldenstand deutlich absinkt. Er würdesich nach den Berechnungen der Troika bis zum Jahr2020 auf 126,5 Prozent und bis 2022 auf 115 Prozent desBruttoinlandsprodukts belaufen. All diese Vorhersagenkönnen sich immer wieder ändern. Aber aus heutigerSicht sind das die Zahlen, mit denen die internationalenInstitutionen rechnen.Wir sind bei allen Maßnahmen immer für das Prinzipder Konditionalität eingetreten. Das gilt auch hier. Grie-chenland wird all diese Erleichterungen nur erhalten,wenn es seine Reformmaßnahmen Zug um Zug weiterkonsequent umsetzt. Wir haben übrigens Verbesserun-gen in der Programmüberwachung vereinbart. Das vonGriechenland eingerichtete Sonderkonto ist gestärktworden: Dorthin werden künftig auch Privatisierungser-löse und ein Teil künftiger Primärüberschüsse unmittel-bar fließen. Sämtliche Zahlungen von diesem Konto sindim Voraus detailliert der EFSF bzw. dem ESM zu mel-den und müssen nachträglich vom Kontoinhaber bestä-tigt werden.Wir haben auf Bitten des Internationalen Währungs-fonds in den Beratungen der Euro-Gruppe vorsorglichüber zusätzliche Maßnahmen gesprochen, mit denen imJahr 2022 der Schuldenstand weiter abgesenkt werdenkönnte, wenn es notwendig sein sollte. Das könnte etwaim Bereich der Mittel des Europäischen Strukturfondsdurch die Anpassung des griechischen Kofinanzierungs-anteils oder durch eine weitere Absenkung der Zinsenfür die Griechenland-Kredite erfolgen.Wir haben vereinbart, falls nötig über solche Maßnah-men zu sprechen, wenn Griechenland einen Primärüber-schuss erreicht hat, also einen Einnahmeüberschuss vordem Schuldendienst erwirtschaftet, und wenn das Pro-gramm vollständig umgesetzt ist. Entscheidend ist injedem Fall das Erreichen dieses Einnahmeüberschusses– des Primärüberschusses – vor dem Schuldendienst.
– Vorsichtig, Herr Trittin. – Wir dürfen auch weiterhinkeine falschen Anreize für ein Nachlassen der griechi-schen Reformbemühungen setzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, da geht es nicht da-rum, dass wir sagen: „Wir trauen denen nicht“, sondernes geht darum, dass wir wissen: Auch wir würden ver-gleichbare Maßnahmen nur unter allergrößten Wider-ständen treffen können, und nur, wenn man dazu ge-zwungen ist; das muss man doch klar sehen. Deswegenmuss man wissen: Aktuelle Spekulationen über einenSchuldenerlass würden genau diese falschen Anreizesetzen. Wenn man sagt: „Die Schulden werden erlas-sen“, dann ist die Bereitschaft, zu sparen, um weiterhinHilfe zu bekommen, entsprechend geschwächt. Deswe-gen wären das falsche Anreize. Wenn wir Griechenlandhelfen wollen, diesen schwierigen Weg zu gehen, müs-sen wir Schritt für Schritt vorangehen. Die falschen Spe-kulationen zur falschen Zeit lösen das Problem nicht,sondern sie machen es geradezu unlösbar.
Im Übrigen muss jeder wissen: Die Absicherung vonKrediten an Griechenland über Gewährleistungen desBundes erfordert haushaltsrechtlich nun einmal, dass nureine geringe Wahrscheinlichkeit besteht, dass Darlehennicht zurückgezahlt werden. Bei einem Schuldenerlasswürde das im Stabilitätsmechanismus vorgesehene Ge-
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Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
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währleistungsinstrument nicht mehr zur Verfügung ste-hen. Auch an der Rechtsfrage kann man sich nicht vor-beimogeln; man muss es einfach wissen. Deswegen istes richtig, wenn wir jetzt keine falschen Spekulationenbetreiben.Es handelt sich bei diesen Anpassungsmaßnahmenum wesentliche Änderungen. Deswegen ist nach demStabilisierungsmechanismusgesetz die vorherige Zu-stimmung des Deutschen Bundestages notwendig.Die Auszahlung der anstehenden Tranche ist dernächste Schritt. Es handelt sich insgesamt um drei Tran-chen; die erste war Ende Juni vorgesehen, die zweiteEnde September, die dritte Ende Dezember. Die Auszah-lung dieser Tranchen ist abhängig von der erst im De-zember vorliegenden Schuldentragfähigkeitsanalyse. Daswar vor einem Jahr genauso der Fall, weil wir auch dorterst das Ergebnis des Schuldenerlasses der Privatgläubi-gerbeteiligung abwarten mussten, um die Schuldentrag-fähigkeitsanalyse durch die Troika erstellen lassen zukönnen.In diese Analyse muss das Ergebnis des Schulden-rückkaufprogramms eingehen, und das Ergebnis kennenwir heute noch nicht. Auf der Grundlage dieses Ergeb-nisses kann dann die Troika die Empfehlung über dieAuszahlung der Programmtranche aussprechen. Davonist dann nach unseren Gesetzen der Haushaltsausschusszu unterrichten, und ihm ist Gelegenheit zur Stellung-nahme zu geben, wobei das Plenum die Stellungnahmean sich ziehen kann. So ist die Rechtslage.Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei allen von mirgenannten Maßnahmen geht es in Wahrheit nicht alleinum Griechenland. Die potenziellen Auswirkungen einesgriechischen Defaults auf andere Euro-Länder und denEuro-Raum wären gravierend. In Wahrheit wären dieKonsequenzen gar nicht absehbar. Es könnte ein Prozessin Gang gesetzt werden, an dessen Ende der ganze Euro-Raum auseinanderbrechen würde. Deshalb tun wir zu-sammen mit unseren Partnern alles, was in unserer Kraftsteht, um Griechenland die notwendigen Anpassungenzu erleichtern.Die Probleme Griechenlands können nicht – ich sagees noch einmal – über Nacht gelöst werden. Das Anpas-sungsprogramm läuft noch zwei Jahre, und wenn danachein weiterer Finanzbedarf bestehen sollte, dann werdenwir Griechenland – das haben wir schon vor einem Jahrerklärt – zur Wiedererlangung des Marktzugangs weiterHilfestellung geben, unter der Voraussetzung, dass Grie-chenland die Programmauflagen uneingeschränkt erfüllt.Wir befolgen bei alledem eine Politik, die mit mög-lichst geringen Risiken und möglichst geringen Kostenfür Deutschland und Europa Griechenlands Haushaltund Wirtschaft saniert. Es ist Ziel und es muss auch Zielbleiben, dass Griechenland eines Tages seine Schuldenwieder allein tragen kann und dass Griechenland vonden Märkten wieder als Kreditnehmer akzeptiert wird.Die Bundesregierung weiß um die Opfer, die das Pro-gramm der griechischen Bevölkerung auferlegt. Es wäreunredlich, so zu tun, als könnte sich die Lage in Griechen-land schnell verbessern. Deshalb war für uns von Anfangan wichtig, dass die Entscheidung auch zu schmerzhaftenReformen vom griechischen Souverän, also dem griechi-schen Volk, getragen wird. Das ist durch die beiden Wah-len geschehen.Ich will daran erinnern, dass ich schon vor zweiein-halb Jahren von dieser Stelle aus gesagt habe: Die grie-chische Bevölkerung muss eine schwere Last tragen. –Es ist auch sehr die Frage, ob das alles in Griechenlandgerecht und fair ist. Aber wenn die griechische Bevölke-rung bereit ist, die Last zu tragen – es ist ihre Entschei-dung –, dann werden wir ihr dabei helfen. Genau das istjetzt die Lage, und die Voraussetzungen sind gegeben.
Im Übrigen gibt es für den Reformprozess Griechen-lands keine Blaupause, so wenig, wie wir vor etwasmehr als 20 Jahren die Blaupause für den Transforma-tionsprozess in Deutschland und Europa hatten. Aberwenn wir von Anfang an die von einigen immer nochgeforderte schnelle, große Lösung praktiziert hätten,dann wären die Anreize für Griechenland, Reformenumzusetzen, entfallen, und die bisherigen Fortschrittewären dann nicht eingetreten.
Deshalb, verehrte Kolleginnen und Kollegen, werdenwir auch weiterhin nur Schritt für Schritt vorgehen kön-nen, und wir werden Schritt für Schritt vorgehen. Nurmit diesem schrittweisen Vorgehen werden wir beideserreichen: die Kosten und Risiken zu begrenzen und fürdie Fortsetzung des Anpassungsprozesses in Griechen-land zu sorgen.Natürlich kostet die Unterstützung des griechischenReformprozesses Geld; aber ohne unsere Unterstützungwürde nicht nur die Zukunft Griechenlands auf demSpiel stehen, sondern die Zukunft des Euro-Raums ins-gesamt. Es geht darum, unser gemeinsames Europa zuerhalten – unseren gemeinsamen Wohlstand. Nur in ei-nem geeinten Europa, liebe Kolleginnen und Kollegen,das immer noch der weltgrößte Wirtschaftsraum ist, ha-ben wir – auch wir Deutschen – eine Chance, uns im glo-balen Wettbewerb zu behaupten.Im Wettbewerb der Systeme und der Volkswirtschaf-ten können wir nur als Wirtschaftsgemeinschaft und nurmit einer stabilen gemeinsamen Währung konkurrieren.Man überlege sich: Wenn wir heute den Euro nicht hät-ten, der immerhin 25 Prozent der Weltwährungsreservenausmacht, dann hätten wir ganz andere Probleme, übri-gens nicht zuletzt in Deutschland. Wir würden wahr-scheinlich unter massiven Auf- und Abwertungen in Eu-ropa leiden, und unsere wirtschaftliche Lage und unserArbeitsmarkt wären dramatisch schlechter.
Deshalb muss man unseren Mitbürgerinnen und Mit-bürgern, die bei all dem natürlich fragen: „Wisst ihr, wasihr tut und was ihr verantwortet?“, gelegentlich auch sa-
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25972 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012
Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
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gen – das muss man wieder und wieder sorgfältig be-gründen –: Niemand profitiert von Europa mehr als wirDeutschen,
wirtschaftlich und politisch ohnedies.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir in die Zu-kunft Europas investieren, wenn wir für ein starkes Eu-ropa arbeiten, dann investieren wir in unsere eigene Zu-kunft. Deshalb bitte ich Sie um Zustimmung zu meinemAntrag.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Frank-Walter Steinmeier für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Irgendwie ist es auch rührend, Herr Schäuble, dass Sieuns, die Opposition, jetzt daran erinnern wollen, dassGriechenland zu retten ist bzw. warum und mit welchenInstrumenten. Vielleicht habe ich in den vergangenenzwei Jahren etwas verpasst. Aber wenn ich mich rechterinnere, Herr Schäuble, dann waren es über lange Zeitnicht Sie, die Regierungsfraktionen, die für den VerbleibGriechenlands in der Währungsunion geworben haben.Das waren andere hier im Hause.
Da waren doch viele in den Regierungsfraktionenüber Monate dem Stammtisch heftig auf der Spur. Wirsagen Ihnen seit zweieinhalb Jahren beständig und un-verändert: Wer täglich mit dem Rausschmiss Griechen-lands unterwegs ist, gefährdet das, worauf wir angewie-sen sind: die Währungsunion als Ganzes. – Das war vorzweieinhalb Jahren schon so. Insofern brauchen wir dakeine Belehrungen.
Noch vor vielen Monaten, noch vor zwei Jahren beka-men viele auf der anderen Seite des Hohen Hausesleuchtende Augen, wenn es um den Rausschmiss Grie-chenlands, wenn es um Griechenland-Bashing ging. Al-les fing an mit: Kein Cent für Griechenland! Im Sommerhieß es dann: Lasst uns Griechenland aus der Euro-Zoneentfernen, dann wird in Europa alles wieder gut! So re-deten in unverantwortlicher Weise viele von Ihnen; diemeisten im Hintergrund und im kleinen Kreis. Manche– Herr Dobrindt, Herr Seehofer, Herr Söder, auch HerrRösler – redeten öffentlich darüber. Ob es Unerfahren-heit oder Profilierungssucht war: Sie redeten jedenfallsunverhohlen und öffentlich darüber.
Die Regierung – auch Sie, Frau Merkel – hat dieseDebatte über den Sommer hinweg in unverantwortlicherArt und Weise laufen lassen. Über Wochen hinweg hörteman aus dem Kanzleramt nicht einen einzigen Ton dazu.Wenn man heute in die Boulevardpresse schaut, dannsieht man, wie über Griechenland und über Europa ge-schrieben wird, und dann kann man feststellen, dass derUngeist, den Sie selbst beschworen haben, nicht mehr indie Flasche zurückzukriegen ist. Das ist auch Ihre Ver-antwortung, Frau Merkel.
Abwarten und zuschauen, wie sich die Dinge entwi-ckeln, mag manchmal gut für den Koalitionsfrieden ge-wesen sein. Für unser Ansehen in Europa, für Deutsch-lands Ansehen in Europa war es das nicht. Deshalb sageich: Politische Haltung sieht anders aus.
Herr Schäuble, wenn ich heute von Ihnen andereTöne höre, dann nehme ich das erstens zur Kenntnis undwerde Sie zweitens dafür nicht kritisieren. Ich sage nur:Es ist gut, dass Sie in der Koalition gerade noch dieKurve gekriegt haben. Besser wäre gewesen, wir hättensolch klare Worte schon im Sommer von Ihnen gehört.Aber Sie haben nicht einmal zugehört: uns nicht, einemTeil der Ökonomen nicht, den europäischen Partnernnicht und, Herr Schäuble, vor dem Sommer nicht einmalIhrer Geburtstagsgratulantin Frau Lagarde. Alle habenIhnen gesagt: Das, was ihr hier in Deutschland disku-tiert, ist nicht europäische Verantwortung. Das sind nichteinmal deutsche Interessen. Das, was bei Ihnen propa-giert wird, ist schlicht ökonomischer Harakiri. Ökonomi-sche Vernunft wurde über Wochen hinweg auf dem Altardes Populismus geopfert. Die Verbeugung vor der Volks-seele war Ihnen wichtiger, einer Volksseele, die Sie zu-nächst erst hochgekocht haben.Das Schlimme ist, dass auch diejenigen, die sich sogeäußert haben, wussten – das unterstelle ich –, dass esnie nur um Griechenland ging, auch nicht nur um denEuro, sondern dass es immer um den Bestand der Wäh-rungsunion als Ganzes ging. Hätte man sie in diesen Mo-naten gewähren lassen, hätte keiner hier zu Hause undbei den europäischen Nachbarn widersprochen, hättenwir die Brandstifter gewähren lassen, dann hätten dieSöders, Dobrindts und viele andere leichtfertig den ers-ten Dominostein gekippt, was einen Flächenbrand inganz Europa ausgelöst hätte. Daran darf doch einmal er-innert werden.
Ich will einräumen, Herr Schäuble: Sie waren derje-nige und lange der Einzige in der Regierung, der dasböse Finale dieses politischen Bühnenstücks erahnt undwahrscheinlich befürchtet hat. Was wir heute über die
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Zukunft Griechenlands in der Währungsunion sagen,klingt anders als fast alles, was wir über den Sommer ausIhrer Koalition gehört haben. Das ist gut.
Aber dann verließ Sie auch schon wieder Ihr Mut;dann sind Sie leider auf halbem Wege stehen geblieben.Eine ehrliche Haltung heute wäre gewesen, zu sagen:Leute, es ist richtig, Griechenland zu helfen. Es ist auchrichtig, Griechenland dabei etwas abzuverlangen. Aberunsere Annahmen über die schnelle Gesundung Grie-chenlands, unsere Versicherungen über die schnelleRückzahlung von gewährten Krediten waren falsch. Wirhaben uns verkalkuliert. Die Rettung Griechenlands kos-tet Geld, auch das des deutschen Steuerzahlers. – HerrSchäuble, ich verlange nicht, dass Sie sagen: Die Sozishaben recht. Aber ich erwarte schon, dass Sie sagen: Wirhaben uns geirrt, und zwar gewaltig.
Heute wäre Gelegenheit gewesen, sich ehrlich zu ma-chen und den Menschen die ganze Wahrheit zu sagen,die schlicht und einfach darin besteht, festzustellen, dassweder Griechenland noch Europa allein über Kredite,Bürgschaften und Garantien zu retten sind. Die schlichteWahrheit ist, dass die Rettung Europas echtes Geld kos-tet, auch unser Geld kostet. Genau vor dieser Wahrheitschrecken Sie zurück, weil Ihnen der Mut fehlt, weil SieAngst vor Ihren eigenen Leuten haben, Angst vor derNiedersachsenwahl, Angst vor der Bundestagswahl.Ich darf daran erinnern: Mit Angst vor einer Land-tagswahl in Nordrhein-Westfalen fing Ihr schwankenderKurs zur Euro-Rettung an.
Die Krise kleinreden, Lösungen über Wahltermine hin-wegschieben, das gehört bei Ihnen seitdem einfach zumRepertoire. Damit mögen Sie von den Taktikern despolitischen Kleinkriegs sogar Beifall bekommen, HerrSchäuble, der Dimension der Krise, die wir in Europa inder Tat haben, werden Sie damit nicht gerecht.
Warum sage ich das? Weil ich mich an den Eiertanzerinnere, den Sie selbst am Dienstag laut Medienberich-ten vollführt haben. Erst haben Sie im Fernsehen gesagt,die ganze Vereinbarung der Finanzminister in der Nachtvon Montag auf Dienstag koste den Steuerzahler keinenCent. Dann wurde nachgeschoben, es gebe jedenfallskeine zusätzlichen Ausgaben, sondern es gehe nur umMindereinnahmen. Dann haben wir ungläubig nachge-fragt. Dann hieß es, 730 Millionen Euro koste das Ganze,aber das sei ja kein frisches Geld, sondern das gehe nurvom Bundesbankgewinn ab. Erst als Herr Weidmann amMittwoch erklärte, von ihm sei jedenfalls mit keinerÜberweisung zu rechnen, wurde klar, dass es doch umneues, um frisches Geld geht. Dazu, wie Sie das aufbrin-gen wollen, hat auch der Haushaltsausschuss gesternnichts Genaues erklärt. Wir haben einem Brief von Ihnenentnommen, es könnte um die Größenordnung von2,7 Milliarden Euro gehen.Ich sage Ihnen nach diesen drei Tagen, die wir hinteruns haben, ganz ehrlich: Ich kann den Ärger meinerHaushälter gut verstehen. Abgesehen davon, dass manmit Parlamentariern so nicht umgeht – das ist das eine –,
darf ich für die SPD hier im Deutschen Bundestag sagen:Bei dem Maß an Verantwortung, das dieses Parlament ineuropäischen Angelegenheiten bisher gezeigt hat, ist dasauch unverständlich, unfair und nicht angemessen, HerrSchäuble.
Ich muss Ihnen auch sagen: Der Ärger über den Um-gang mit dem Parlament geht leider auch über den Kreisder Haushälter hinaus. Warum? Aus unserer Perspektivesieht das doch so aus: Da sitzen die Finanzminister aufder europäischen Ebene wochenlang zusammen. Sietreffen sich im Wochenabstand. Die Diskussion drehtsich im Kreis. Man geht ohne Einigung auseinander. Dasgeht über Wochen so. Dann bekommen wir am Dienstagein in vieler Hinsicht noch offenes Verhandlungsergeb-nis auf den Tisch, dazu noch ohne die erklärenden Unter-lagen. Und dann wird gesagt: Aber spätestens am Don-nerstag dieser Woche wird entschieden – hopp oder top!Es wäre das Mindeste gewesen, Herr Schäuble, FrauBundeskanzlerin, an einer Verabschiedung des Antragsschon am Donnerstag dieser Woche nicht festzuhalten.Sie müssen einfach zugeben: So kann man mit einemParlament dauerhaft nicht umgehen. Das überfordertnicht nur die Parlamentarier, das ist auch kein anständi-ger Umgang mit diesem Hohen Haus.
Ich bin der Letzte, der nicht weiß, dass es im europäi-schen Geschäft oft um schnelle Entscheidungen geht, lei-der erst recht in den Fällen, in denen wir versuchen, denFinanzmärkten mit Politik zuvorzukommen. Aber die Fi-nanzminister selbst haben doch das ganze Paket unterden Vorbehalt gestellt – lesen Sie sich den Beschlussnoch einmal durch –, dass das griechische Schuldenrück-kaufprogramm tatsächlich funktioniert. Ob es funktio-niert, wissen wir am 13. Dezember 2012. Frühestens am13. Dezember wissen wir auch, ob und in welchem Um-fang sich der IWF an diesem Programm beteiligt. Washätte also dagegengesprochen, in zwei Stufen zu verfah-ren, also jetzt das Schuldenrückkaufprogramm zu eröff-nen und im Dezember abschließende Entscheidungen zufällen?
Sie haben sich mit Ihrer Mehrheit anders entschieden.Das dürfen Sie.
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Aber ich darf Ihnen sagen: Ihre ganzen Einwändezum Verfahren haben mich nicht überzeugt. Wir erwar-ten, dass Sie nach dem 13. Dezember hier im Bundestageine Bewertung des Rückkaufprogramms vorlegen, dieWirkung auf die Schuldenentwicklung Griechenlandsvortragen und ausdrücklich die Beteiligung des IWF andiesem Programm versichern. Darauf kommt es uns an.
Was das Schuldenrückkaufprogramm angeht: Auchda vollführen Sie seit Dienstag einen Eiertanz. HerrSchäuble hat wolkig erklärt: Das Programm wird finan-ziert aus EFSF-Mitteln. Das mag ja sein; dagegen willich gar nichts sagen. Nur: Auch das Geld fällt am Endeja nicht vom Himmel. Was Sie jetzt vorschlagen, ist aufder einen Seite ganz einfach, auf der anderen Seite aberauch hart am Rande der Seriosität. Sie nehmen nämlicheinfach das Geld aus dem EFSF-Topf, das für spätereZeiten vorgesehen ist. Dabei verschweigen Sie, dass die-ses Geld am Ende fehlen wird und dass damit ein drittesGriechenland-Paket umso wahrscheinlicher wird.
Ich hoffe, das haben Sie wenigstens den Regierungsfrak-tionen gesagt; sonst fallen die demnächst wieder aus al-len Wolken.
Seit den Tagen, als „Kein Cent für Griechenland“noch schick war und als der Rausschmiss aus der Wäh-rungsunion schon populär war, mussten viele Ihrer Leutebis zur heutigen Abstimmung einen weiten Weg gehen.Sie wissen genau: Das, was Sie heute vorlegen, ist nochkeine nachhaltige Lösung für Griechenland. Bis 2022wird diese Lösung sowieso nicht tragen. Das ist auchkeine Lösung, die bis 2016 trägt.Herr Schäuble, Sie haben Zeit gekauft – das ist wich-tig genug –, vielleicht ein paar Monate, vielleicht ein,zwei Jahre für Griechenland. Vor allem aber gewinnenSie Zeit für sich selbst, um der Koalition unangenehmeWahrheiten und noch unangenehmere Entscheidungenzu ersparen.Ich werde in diesen Tagen von Journalisten gefragt,ob die SPD für den Schuldenschnitt sei. Ich antwortedann immer: Was ist das für eine Frage? Die SPD säheEuropa am liebsten ohne Krise, wirtschaftlich stabil,politisch erfolgreich.
Aber die Krise ist da, auch wenn Sie sich darüber lustigmachen.
Sie stellen jetzt fest, dass Ihr Werkzeugkasten inzwi-schen leer ist. Sie wissen, dass die Basiszahlen für Grie-chenland auch ohne Ihre Luftbuchungen am Ende auf ei-nen Schuldenschnitt hinauslaufen. Sie aber scheuendiese Wahrheit wie der Teufel das Weihwasser,
so wie Sie alle Wahrheiten gescheut haben, die sechsMonate später dann doch eintraten.Ich erinnere an Draghis Ankündigung, dass die Euro-päische Zentralbank Schuldtitel aufkaufen werde. Ich er-innere daran, dass Draghi als Person und diese Ankündi-gung aus den Reihen der Regierungsfraktionen damalsöffentlich verhetzt wurden. Sechs Monate später, FrauBundeskanzlerin, war das, was Draghi angekündigthatte, auch das Mittel Ihrer Wahl.Genauso können Sie jetzt das verschieben, was amEnde ökonomisch unvermeidlich sein wird. Sie könnenes verschieben über Weihnachten, über die Niedersach-senwahl, über die Bayernwahl, über die Bundestags-wahl. Eines jedoch sage ich Ihnen mit aller Klarheit: DerSchuldenschnitt wird zwar jetzt verschoben, aber irgend-wann wird es dazu kommen, und dann werden wir Sieaus Ihrer Verantwortung dafür nicht entlassen, meineDamen und Herren.
Jetzt heißt es bei Ihnen wie schon so oft: Bis hierherund nicht weiter. – Wir haben das schon einmal gehört.Der unvermeidliche Söder sagt, ein Schuldenschnittwäre der Dammbruch. Meine Damen und Herren, das istimmer dieselbe Methode: Haltet den Dieb! Schuld sindandere, im Zweifel die Opposition. Mit den schlechtenNachrichten wollen wir nichts zu tun haben. – Wer re-giert eigentlich in diesem Lande? Man hat den Eindruck,Sie hätten damit nichts zu tun.
Wir könnten es uns in dieser Situation sehr leicht ma-chen und sagen: Das, was Sie da vorgelegt haben, isthalbherzig und mutlos. – Wir könnten es uns sehr leichtmachen und sagen: Sie gehen weiterhin von falschenAnnahmen aus, und die endgültigen Kosten werden ver-schleiert. – Wir könnten uns das alles sehr leicht ma-chen, weil Sie sich im Kern immer noch an dem Punktvorbeidrücken, dass die Rechnung am Ende auch demdeutschen Steuerzahler präsentiert wird. Argumente fürdie Ablehnung, meine Damen und Herren, liefern Siezuhauf.Wir hatten dazu in der Fraktion eine schwierige und– das sage ich Ihnen auch – hochstreitige Debatte; das istIhnen nicht verborgen geblieben. Ich verstehe jeden ausmeiner Fraktion, dem die Entscheidung nicht leichtfällt.Aber wir haben uns gemeinsam entschlossen, nicht deneinfachen Weg zu gehen, sondern jenseits aller innen-politischen und parteitaktischen Überlegungen zu unse-ren Werten, zu unseren Überlegungen und zu unserenÜberzeugungen zu stehen.
Wir benoten heute nicht eine Koalition in Berlin, dieseit Jahren zwischen europäischer Verantwortung undantieuropäischem Geschwätz schwankt. Wir Sozialde-mokraten machen nicht Politik für den Tag, sondern wirdenken in langen Linien. Wir bleiben unserer europäi-
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schen Verantwortung treu. Wir können die Griechennicht im Stich lassen, die in diesen Tagen, in den letztenMonaten harte Opfer auf sich genommen haben und diejetzt, in der Stunde der Not, von uns erwarten dürfen,dass wir das Wort von der europäischen Solidarität aucheinhalten.
Meine Damen und Herren, für uns bleiben europäi-sche Integration und gemeinsame Währung unschätzbarhohe Werte. Wenn dieses Paket, so unvollständig undhalbherzig es sein mag, dazu beiträgt, Griechenland je-denfalls jetzt vor dem Konkurs zu bewahren und wenigs-tens auf Sicht den Flächenbrand in der Währungsunionzu verhindern, dann werden wir es nicht aufhalten. Wirwerden mehrheitlich zustimmen. Aber unsere Kritikbleibt, und wir werden sie öffentlich äußern. Sie werdenam Ende sehen: Wir werden auch in diesem Punkt nachund nach recht bekommen.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Nächster Redner ist der Kollege Rainer Brüderle für
die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir be-schließen heute einen Antrag des Bundesfinanzministerszum letzten Gipfel der Euro-Gruppe. Dieser Antrag istVoraussetzung, Mandat für die Beschlussfassung auf eu-ropäischer Ebene. So sieht es unsere hart erkämpfte Par-lamentsbeteiligung vor. Wir können stolz darauf sein,dass das Parlament hierüber entscheidet.
Die Finanzminister, die Europäische Zentralbank undder IWF haben festgestellt, dass Griechenland die Aufla-gen, die sogenannten Prior Actions, erfüllt hat.Die Reformmaßnahmen verlangen der BevölkerungGriechenlands große Opfer ab. Die Deutschen fühlen zuRecht mit, wenn sie Bilder aus griechischen Kranken-häusern, wenn sie Berichte über die Situation in Grie-chenland sehen. Was Griechenland durchmacht, ist einebittere Therapie; aber die Reformmaßnahmen sind not-wendig. Jahrzehntelang wurde der öffentliche Sektoraufgebläht. Wir können dort beobachten, was es für densozialen Frieden bedeutet, wenn zu lange auf den Staatgesetzt wird und wenn nicht genügend Arbeitsmöglich-keiten außerhalb des öffentlichen Sektors vorhandensind.
Gesellschaften mit wenigen privaten Unternehmen nei-gen zum Erlahmen, Gesellschaften mit gar keinen priva-ten Unternehmen neigen zum Sterben.Es gibt einige hier im Hause, deren Ideal die Verge-sellschaftung der Produktionsmittel ist.
Der Versuch, unternehmerische Freiheit, unternehmeri-sches Denken durch Fünfjahrespläne zu ersetzen, istgrandios gescheitert.
Auch ein Sozialismus light mit 100 Milliarden Euro Ver-mögensabgabe, höheren Steuern und unrealistisch hohenSozialausgaben führt zu Lähmungstendenzen der Gesell-schaft. Griechenland sollte für all diejenigen eine War-nung sein, die auf höheren Staatsanteil, auf weniger Ex-porte und auf mehr Umverteilung setzen. Das hat nochnirgendwo geklappt.
Griechenland steuert um, Griechenland will mehrWettbewerbsfähigkeit erreichen, und Griechenlandbraucht mehr Zeit für die Absenkung der Verschuldung.Das hat die Euro-Gruppe festgestellt. Zwei Eckdatensind entscheidend: zum einen der sogenannte Primär-überschuss, der sich errechnet aus den Einnahmen minusden Staatsausgaben ohne Schuldendienst. Als Ziel fürdie Erreichung eines Primärüberschusses ist von derEuro-Gruppe jetzt das Jahr 2016 festgelegt worden. Derandere Punkt ist die Schuldentragfähigkeit. Das ist vorallem für den IWF wichtig, weil er nur Länder unterstüt-zen darf, die eine Perspektive auf eine Schuldentragfä-higkeit haben. Es ist nicht selbstverständlich, dass derIWF so lange und auf Dauer dabeibleibt. Aber auch Län-der wie Indien, China und Brasilien überlegen sich, wel-chen Beitrag sie zur Lösung der Probleme Europas leis-ten können, soweit sie nicht andere Verpflichtungen imBlick behalten müssen.Es wurde ein Kompromiss bei der Schuldentragfähig-keit erreicht. 2020 soll eine Verschuldung von 124 Pro-zent der Wirtschaftsleistung erreicht werden. 2022 solldie Schuldenquote bei unter 110 Prozent liegen. Das istambitioniert, aber machbar.Die Finanzminister haben sich auf einen Mix vonMaßnahmen verständigt: zum Beispiel auf eine Zinssen-kung der Kredite aus dem ersten Griechenland-Paket;Herr Steinmeier, damals haben Sie sich kraftvoll enthal-ten.
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Der deutsche Anteil wurde über die KfW finanziert. Esist also so geregelt, dass wir eine schwarze Null schrei-ben. Dennoch ergibt sich für den Bundeshaushalt einMargenverlust durch entgangene Zinseinnahmen von130 Millionen Euro. Griechenland wird eine Zinspauseeingeräumt: Die Laufzeiten der EFSF-Kredite werdenbeim zweiten Griechenland-Paket um 15 Jahre verlän-gert; das heißt: Stundung, aber nicht Schenkung. DieOpportunitätskosten, wie das Ökonomen nennen, willich einmal außer Betracht lassen. Die Gewinne der EZBaus den Griechenland-Anleihen werden über die Bun-desbank weitergegeben. Die Bundesbank ist autonom;das heißt, sie legt selbst die Regeln fest, welche Gewinnesie macht. Deshalb hat der Finanzminister eine außer-planmäßige Verpflichtungsermächtigung für den Bun-deshaushalt angesprochen.Der Kanzlerkandidat der SPD müsste das Haushalts-recht kennen. Er hat das früher in mindestens zwei Fäl-len selbst so gemacht: beim Gebäudesanierungspro-gramm und bei den Phoenix-Ausgleichsmaßnahmen. Inseiner Rede letzte Woche verlangte er nun, einen neuenHaushalt aufzustellen. Das halte ich für Aufgeblasenheit.
Es geht um ein verzweifeltes Ablenkungsmanöver desKanzlerkandidaten. Ich höre, es soll Genossen geben,die ihn „Problem-Peer“ nennen. Da scheint jedes Mittelrecht zu sein, um von diesem Problem abzulenken.Wo ist denn der Plan des Oberweltökonomen PeerSteinbrück für die Rettung der Euro-Zone? Sie erzählenviel, aber ein Konzept haben Sie nicht. Sie haben letzteWoche zum Zeitaufschub Griechenlands erklärt, Sieseien noch zu keinem Ergebnis gekommen, wüsstennoch nicht, was Sie machen würden. Sie würden ja auchnicht mit den Regierungschefs an einem Tisch sitzen.Man muss sich auf der Zunge zergehen lassen, was dasin diesem Zusammenhang bedeutet: Sie haben keinePosition. Unter Steinbrück wäre Deutschland ohne Posi-tion, ohne Konzept, ohne eigenen Kompass in die Ver-handlungen gegangen. Ich weiß nicht, ob die europäi-schen Partner sich darüber freuen würden oder ehergeschockt wären.
Die Augen Europas und der Welt richten sich aufDeutschland, und Steinbrück will in einer solchen Situa-tion eine Politik des positionslosen Stuhls betreiben. Daskann man bei einem Atrium-Talk bei den BochumerStadtwerken machen, aber nicht bei verantwortlicherPolitik.
Es soll ein Programm zum Rückkauf eigener Anlei-hen durch Griechenland geben. Da sind Flexibilitäteneingebracht worden, weil man nicht weiß, in welchemUmfang das realisiert werden kann.
Das hat man bei der privaten Gläubigerbeteiligung übri-gens genauso gemacht. Damit hat man gute Ergebnisseerzielen können.Für meine Fraktion sind einige Dinge besonderswichtig: Wir bewegen uns innerhalb der bestehendenHilfsprogramme. Wir verändern die Zeitachse, aber las-sen im Reformdruck auf Griechenland nicht nach; das istwichtig. Es bleibt bei einer klaren Konditionierung: Eswird ein Sperrkonto für die Mittel eingerichtet, und dieReformfortschritte werden durch die Troika festgestellt;sie sind die Basis für die weitere Auszahlung. Entschei-dend ist für uns, dass der IWF weiter an Bord ist, weil erinternational großes Ansehen hat und über die meisteExpertise verfügt.Der Bundesfinanzminister hat immer wieder ein-dringlich darauf hingewiesen: Ein Schuldenschnitt istrechtlich derzeit in Deutschland, aber auch in einigen an-deren europäischen Ländern nicht möglich.
Diese Rechtsauffassung wird übrigens vom Kanzlerkan-didaten der SPD geteilt.Über Einlassungen der Opposition in diesem Zusam-menhang muss ich mich schon wundern. Sie stellen sichhier hin und behaupten, mehr für Griechenland tun zuwollen, einen sofortigen Schuldenschnitt vornehmen zuwollen. Sie sollten mit den Zusammenhängen besservertraut sein: Die Rettungsschirme zahlen derzeit dieKredite an Griechenland aus. Dafür garantieren die Mit-gliedstaaten, auch Deutschland. Dies müsste sofort ge-stoppt werden, wenn ein Schuldenschnitt vereinbartwürde; das ist die allgemeine Einschätzung, auch die desBundesfinanzministers. Das könnte niemand vertreten.Was zu einem späteren Zeitpunkt eintreten kann,
kann heute keiner mit Sicherheit sagen, selbst HerrTrittin nicht. Ich formuliere es einmal so: Es gibt nichtnur einen Londoner Club für private Schuldenschnitte,sondern auch einen Pariser Club für öffentliche Schul-denschnitte. Das sollte man im Hinterkopf behalten.
Es ist auch nicht auszuschließen – Stand heute –, dassdie Maßnahmen in Sachen Griechenland weiteres Geldkosten werden.Mittlerweile sind wir alle Vertreter der Dominotheo-rie. Das heißt: Wenn ein Euro-Land fällt, fallen anderemit. Damit wären unvorhersehbare soziale, politischeund gesellschaftliche Folgen verbunden. Das kann kei-ner wollen. Das Risiko kann man nicht eingehen. Des-halb sind diese Maßnahmen auf den Weg gebracht wor-den, und sie werden unterstützt.Ich sage aber ganz klar: Griechenland ist ein Extrem-fall und kein Präzedenzfall. Wir kaufen hier Zeit. Dabei
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geht es aber weniger um Athen; es geht um Rom, Parisund Madrid. Das muss man in diesem Zusammenhangklar sehen. Diese Länder kämen schnell auf den Radar-schirm der Finanzmärkte, wenn Griechenland kippensollte.Die OECD hat diese Woche vor einem Zerfall derEuro-Zone gewarnt. Neben den ungelösten Problemender Vereinigten Staaten – Stichwort „Fiscal Cliff“ – istdas nach Ansicht der OECD die größte Gefahr für dieWeltwirtschaft. Deutschland – auch das ist eine Feststel-lung der OECD – kommt dabei besser als alle anderenLänder über die Runden. Wir sind Hort der Stabilität.Deshalb haben wir guten Grund, diese Politik mit Ge-duld und Ruhe, wie es die christlich-liberale Koalitionpraktiziert, fortzusetzen.
Das wird so bleiben. Auch in der Vorweihnachtszeitnächsten Jahres werden wir diese Politik fortsetzen, weildas eine erfolgreiche, realistische Politik ist.Vielen Dank.
Das Wort erhält jetzt die Kollegin Sahra Wagenknecht
für die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!Herr Brüderle, wenn Sie sagen, dass wir stolz darauf seinmüssen, dass in Deutschland immerhin noch das Parla-ment über Milliardenausgaben öffentlicher Haushalteentscheidet, dann ahnt man mit ziemlicher Sorge, woraufman sich in Zukunft noch einzustellen hat.
Zur Sache. Wenn ein Unternehmer immer neueSchulden macht, um damit eine Zahlungsfähigkeit vor-zutäuschen, die es längst nicht mehr gibt, dann nenntman das im realen Leben Konkursverschleppung. Wereinen Konkurs verschleppt, der macht sich strafbar undkann dafür im schlimmsten Fall ins Gefängnis gehen.Jeder weiß, dass Griechenland zahlungsunfähig istund den riesigen Schuldenberg unmöglich aus eigenerKraft bedienen kann. Jeder weiß im Grunde auch, dasssich daran in Zukunft nichts ändern wird, dass die Situa-tion vielmehr von Jahr zu Jahr und von Sparpaket zuSparpaket dramatischer wird. Herr Schäuble, Sie könnenhier doch nicht im Ernst behaupten, es gäbe keinen Zu-sammenhang zwischen diesem Kürzungsprogramm unddem Wirtschaftseinbruch. Da ist der IWF inzwischenweiter.
Deshalb weiß auch jeder, dass es am Ende einen Schul-denschnitt geben wird und dass dieser Schuldenschnittfür Deutschland sehr teuer sein wird.Die Linke hat diesen Schuldenschnitt übrigens schon2010 gefordert. Damals hätte er den deutschen Steuer-zahler noch nichts gekostet; denn damals hätten die Ban-ken und die privaten Anleger diese Kosten tragen müs-sen. Heute fordern diesen Schuldenschnitt der IWF, dieEuropäische Zentralbank und sogar der Vorsitzende desCDU-Wirtschaftsrates, Lauk, der Ihnen mittlerweile diegleiche Klatsche gibt wie wir und von politischer Insol-venzverschleppung spricht. Hören Sie daher bitte auf,dieses Parlament und die Wählerinnen und Wähler fürdumm zu verkaufen! Frau Bundeskanzlerin, und auchSie, Herr Schäuble, Sie wissen doch ganz genau, dasswir heute nur deshalb über weitere Milliardensummenentscheiden und diese freigeben sollen, damit Sie nichtvor der Bundestagswahl zugeben müssen, dass Sie, IhreKoalition und natürlich auch SPD und Grüne, die immerzugestimmt haben, Milliarden an deutschen Steuergel-dern in den Sand gesetzt haben.
Damit der Bankrott Ihrer Griechenlandpolitik nicht of-fensichtlich wird, werfen Sie dem verlorenen Geld nocheinmal Milliarden hinterher. Ich finde, das ist eine ver-antwortungslose Veruntreuung von Steuergeld.
Herr Steinmeier, wenn Sie sagen, dass auch Sie davonausgehen, dass es einen Schuldenschnitt gibt, dann kön-nen Sie diesem weiteren Geldversenken doch nicht zu-stimmen. Es ist wirklich ungeheuerlich, dass Sie heuteimmer noch dabei sind.
Wir reden hier nicht über Peanuts. Die Gelder einge-rechnet, die jetzt freigegeben werden sollen, sind binnenzwei Jahren fast 200 Milliarden Euro an vermeintlichenGriechenlandhilfen geflossen. Gleichzeitig wurde demLand das brutalste Kürzungsprogramm zulasten von Ar-beitnehmern, Familien, Kindern, Arbeitslosen und Rent-nern diktiert, das je in einem Euro-Land durchgesetztwurde. Im Ergebnis sind die griechischen Schuldenheute um 60 Milliarden Euro höher als vor dem erstenHilfspaket. Wenn das kein Bankrott Ihrer Politik ist, wasist es dann?
Alle Prognosen, mit denen Sie arbeiten, bestehen ausLügenzahlen. Das ist doch alles Augenwischerei. Grie-chenland hat seit Beginn seiner angeblichen Rettung20 Prozent seiner Wirtschaftskraft verloren. Für dasnächste Jahr ist ein weiterer Einbruch von 8 Prozent vor-hergesagt. Die griechischen Arbeitslosenzahlen sind vorallem für junge Menschen eine einzige Tragödie. DiesesLand wird auf absehbare Zeit keine Überschüsse erwirt-schaften, und mit jedem neuen Sparpaket wird die Situa-tion nur noch schlimmer.
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Sahra Wagenknecht
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Seit letztem Montag haben sämtliche Apotheken inThessaloniki geschlossen, weil die Regierung seit Mona-ten kein Geld mehr für Medikamente erstattet. Die Bussefahren nicht mehr, weil die Regierung ihre Schulden beiden Busunternehmen nicht bezahlt. Dieses Land liegt amBoden. Eine rabiat faschistische Partei mit Naziparolenund Schlägertrupps sonnt sich in wachsenden Umfrage-werten, und Sie tun so, als müsse man nur weitermachenwie bisher, die Daumenschrauben noch ein bisschenmehr anziehen und noch ein paar Milliarden drauflegen,dann würde es auf wundersame Weise irgendwann wie-der aufwärtsgehen. Ich sage Ihnen: Das Einzige, das auf-wärtsgeht – und dies sehr zuverlässig –, sind nach wievor die griechischen Schulden. Das Einzige, das Sie mitdiesen endlosen Milliarden, die Sie hier immer wiederverpulvern, erreichen, ist eine Befreiung der privatenGläubiger Griechenlands, der Banken, der Hedgefondsund der anderen Spekulanten, von ihrer Verantwortungund von allen Verlusten; denn dorthin fließt das Geldund nicht an den griechischen Staat.Tatsächlich haben wir in diesem Parlament noch keineinziges Mal über echte Griechenland-Hilfen entschieden;wir entscheiden immer nur über Hilfen für Banken undSpekulanten. Selbst die vermeintliche Gläubigerbeteili-gung war – das sieht man, wenn man die Ergebnisse be-trachtet – eigentlich eher eine Gläubigersanierung; dennüberraschenderweise – oder auch nicht überraschender-weise – haben sich die griechischen Schulden im Ergebnisso gut wie gar nicht reduziert. Das einzige Ergebnis ist,dass seither ein noch größerer Teil des Griechenland-Risi-kos vom europäischen Steuerzahler getragen wird.Auch heute entscheiden wir nicht über Griechenland-Hilfen. Wir entscheiden auch heute wieder über Hilfenfür Banken und Spekulanten. Schauen Sie sich doch ein-mal an, wohin diese 35 Milliarden Euro, die Sie jetztfreigeben wollen, fließen sollen! 10 Milliarden Euro sinddafür bestimmt, privaten Investoren auch noch die letz-ten Griechenland-Anleihen abzukaufen, und zwar, wieüblich, zu völlig überhöhten Kursen. „Hedge-Fonds ma-chen Kasse in Athen“ hat die Financial Times am Mitt-woch getitelt, und sie hatte recht. Hedgefonds, die imSommer griechische Anleihen gekauft haben, könnenmit Ihrem Rückkaufprogramm diese Anleihen jetzt mitsage und schreibe 42 Prozent Rendite wieder verkaufen.
Diese Traumrenditen der Spekulanten finanzieren Siemit dem hart erarbeiteten Steuergeld der Bürgerinnenund Bürger. Sind Sie denn noch bei Sinnen?
Die Finanzmafia hat an Ihrer großartigen Euro-Rettungschon mehr als genug verdient. Ich meine, statt ihr im-mer neue Milliarden in den Rachen zu werfen, wäre esendlich an der Zeit, sie zu einem Totalverzicht zumin-dest auf den Teil der Griechenland-Anleihen zu zwin-gen, die sie noch nicht beim Steuerzahler abgeladen hat.Aber auch der Rest des Griechenland-Pakets gehtnicht an griechische Apotheken und Busunternehmen,geschweige denn an Menschen in Not. Dieser zweiteTeil wird den griechischen Banken zur Verfügung ge-stellt, um ihre Kapitalausstattung zu verbessern. 25 Mil-liarden Euro sollen dorthin fließen. Warum hält man sichnicht an die Eigentümer und an die Gläubiger dieserBanken? Warum hält man sich nicht einmal an die grie-chische Oberschicht, die ihren riesigen Reichtum geradedem korrupten griechischen System und damit auch denganzen Schulden, die in den letzten Jahrzehnten gemachtwurden, verdankt?
Auch ich weiß, dass die griechischen Multimillionäreihr Vermögen größtenteils außer Landes geschafft haben.Die griechischen Banken, die wir jetzt so großzügig be-schenken wollen, waren an diesen Transaktionen abernicht ganz unbeteiligt. Warum werden zum BeispielBanken in der Schweiz, bei denen griechische Milliar-denvermögen lagern, nicht unter Druck gesetzt, die ent-sprechenden Daten offenzulegen? Die USA haben esdoch auch geschafft, zum Beispiel die Schweizer UBSzu einer Offenlegung sämtlicher Transaktionen zehnJahre rückwirkend zu bewegen, übrigens sogar ohne denEinsatz von Kavallerie. Ist die Euro-Zone so viel schwä-cher als die USA, oder will man den griechischen Mil-lionären gar nicht ans Geld, weil es, wie wir es auch inDeutschland sehen, zu Ihrem Politikstil gehört, lieberzehnmal der Mittelschicht in die Tasche zu greifen, alsauch nur einmal bei den wirklich Reichen zuzulangen?Das ist doch Ihre Politik.
Diese feige Politik haben Sie von Anfang an auch inGriechenland betrieben. Wenn sich das nicht ändert,dann wird Griechenland weiter in den Abgrund taumeln,und der deutsche Steuerzahler wird verdammt hohe Kos-ten zu schultern haben. Wem wollen Sie diese absurdePolitik eigentlich noch erklären?
Wem wollen Sie als christliche Partei erklären, dass Siefür irgendwelche Spekulanten den Weihnachtsmannspielen, während Sie gleichzeitig Geld für den Kauf ei-nes Weihnachtsbaums aus den Hartz-IV-Regelsätzen ge-strichen haben, weil das offenbar den Bundesetat über-fordern würde?
Wem wollen Sie erklären, dass hier in Deutschland Stra-ßen verrotten, Schulen verfallen und in KrankenhäusernDauernotstand herrscht, weil die Länder und Gemeindenmit der sogenannten Schuldenbremse stranguliert wer-den, während Sie durch Beschlüsse wie den heutigenDeutschland immer tiefer in den Schuldensumpf trei-ben? Die Großzügigkeit, die Sie an den Tag legen, wennes um die Sanierung gestrauchelter Finanzspekulanten inGriechenland, in Spanien oder eben auch hier zu Hausegeht, möchte ich einmal erleben, wenn es um sozialeAusgaben geht, und da geht es in der Regel um sehr vielkleinere Beträge.Mit den gut 700 Millionen Euro – in dieser Höhe wirdder Bundeshaushalt 2013 durch die aktuellen Beschlüsseunmittelbar belastet – könnten Sie in der Bundesrepublik
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Sahra Wagenknecht
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20 000 Kitaplätze zusätzlich schaffen. Um die Studien-gebühren in Niedersachsen zum Beispiel sofort abzu-schaffen, bräuchten Sie gerade einmal 100 MillionenEuro.
Aber Kitas und Universitäten sind in einer marktkonfor-men Demokratie natürlich viel unwichtiger als Bankenund Hedgefonds.Abschließend noch etwas zum Verfahren. Es hat imRahmen der angeblichen Euro-Rettung ja schon Tradi-tion, über Milliardensummen im Eilverfahren zu ent-scheiden. Mit der Entscheidung heute ist der geradeletzte Woche beschlossene Haushalt schon wieder Ma-kulatur, und die meisten von Ihnen ahnen, dass vielesvon dem, was hier heute erzählt wurde, in kürzester Zeitauch wieder Makulatur sein wird. Ich frage Sie: Warumspielen Sie alle dann als brave Marionetten in dieser Fas-sadendemokratie mit und lassen eine Koalition weiterherumstümpern, die offenbar glaubt, die soziale Realitätin Deutschland und Europa ließe sich genauso leicht fri-sieren wie der Armuts- und Reichtumsbericht?
Diese Frage geht natürlich vor allem an Sie, werteKolleginnen und Kollegen von SPD und Grünen. Ich er-innere mich noch gut, wie sich Herr Steinbrück hier voreiner guten Woche am Rednerpult aufgeblasen und dieEuropapolitik der Kanzlerin in der Luft zerrissen hat.Herr Steinmeier hat auch heute wieder den großen Kriti-ker gegeben. Aber was folgt daraus?
Frau Kollegin!
Ich komme zum Schluss. – Nach SPD-Logik folgt of-
fenbar daraus, sich erneut als brave Abnickerin des
Merkel-Kurses zu betätigen. Auch diese Steuermilliar-
den werden wieder mit Zustimmung von SPD und Grü-
nen versenkt.
Ich denke, das ist jämmerlich für Oppositionsparteien,
vermeintliche, und es ist ein Trauerspiel für die Demo-
kratie.
Die Linke jedenfalls wird auch diesmal gegen das
verantwortungslose Verbrennen von Steuergeldern und
gegen den bankenhörigen Europakurs der Kanzlerin
stimmen, der Europa kaputtmacht, die Menschen gegen-
einander aufbringt und auf jeden Fall verantwortungslos
gegenüber dem europäischen Projekt und den europäi-
schen Ideen ist.
Nächster Redner ist Volker Kauder für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Wir haben in der letzten Woche den Bundeshaushalt fürdas Jahr 2013 verabschiedet. Frau Kollegin Wagenknecht,offenbar ist Ihnen entgangen, was dort beschlossenwurde; denn so, wie Sie heute über unser Land geredethaben, kann man nur reden, wenn man wirklich keineAhnung hat von dem, was dieser Deutsche Bundestag inseiner Mehrheit für dieses Land beschlossen hat und tut.
Ich erinnere einmal daran, weil Sie das Beispiel gebrachthaben, dass es für zusätzliche Kitaplätze 580 MillionenEuro gibt. Allein der Zuschuss zur Rentenversicherungbeträgt 80 Milliarden Euro. Mehr als 50 Prozent desBundeshaushalts entfallen auf soziale Leistungen. Dabrauchen wir uns von Ihnen solche Reden nicht gefallenzu lassen.
Aber jetzt zum heutigen Tag. Die Finanzminister inEuropa haben in einer schwierigen Verhandlungsrundenach Wegen gesucht, wie man eine Antwort auf die He-rausforderung Griechenland finden kann. Das waren,wie gesagt, keine einfachen Verhandlungen. Ich mussauch heute noch einmal sagen: Ich bewundere WolfgangSchäuble. Er hat eine ganze Nacht beraten, war aber amnächsten Morgen da, um allen Fraktionen zu erläutern,was auf europäischer Ebene geschehen ist.
Es ist auch nicht so, dass Wolfgang Schäuble am Diens-tag überfallartig zu uns gekommen ist und uns zum ers-ten Mal mitgeteilt hat, was geschieht. Er hat regelmäßigauch Ihre Fraktion in Telefonschaltkonferenzen über denStand der Diskussion informiert.
Niemand kann sagen, er sei nicht informiert gewesen.
Am Dienstag gab es die letzte Information.Nur um die Dinge einmal auf den Punkt zu bringen,Herr Kollege Steinmeier: Wir haben von Anfang an an-geboten, in dieser Woche zu entscheiden; ich komme
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25980 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012
Volker Kauder
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gleich darauf zu sprechen, warum. Wir haben Sie ge-fragt, ob Sie bereit sind, am Donnerstag oder Freitageine Entscheidung zu treffen. Da haben Sie uns gesagt:in dieser Woche gar nicht mehr. – Daraufhin haben wirgesagt: Auch wenn Sie nicht mehr in dieser Woche, son-dern erst in der nächsten oder gar übernächsten Wocheentscheiden wollen, sind wir bereit, es am Donnerstag zutun. – Dann haben uns die Grünen gefragt, ob wir bereitsind, am Freitag zu entscheiden. Da habe ich gesagt:Okay, wenn ihr am Freitag mitmachen wollt, machen wires am Freitag. – Es ist also ein Märchen, wenn behauptetwird, wir hätten gesagt: Es muss unbedingt am Donners-tag entschieden werden.
Wir haben nur gesagt: Wenn Sie nicht wollen, dann ent-scheiden wir am Donnerstag. – So einfach war die Sa-che; nur um bei der Wahrheit zu bleiben. Die Grünen ha-ben gesagt, dass sie unabhängig von Ihnen am Freitagmitmachen würden. Darüber sollten Sie sich einmal Ge-danken machen, damit das klar ist.
Jetzt zum Thema. Wir haben in Griechenland durch-aus Erfolge zu verzeichnen. Allerdings sind wir nochnicht so weit, wie wir sein müssten. Ich kann nur sagen:Diejenigen, die davon reden, wir hätten Griechenland,wie Sie es formulieren, gleich am Anfang die Luft he-rauslassen und hätten Schuldenschnitte machen sollen,verkennen, dass nur auf dem Weg, den wir gegangensind, die notwendigen Reformen eingeleitet werdenkonnten. Ich will Sie etwas fragen: Glauben Sie, dass dieRegierung Samaras, die viel erreicht hat, dies erreichthätte, wenn die Opposition in Griechenland hätte sagenkönnen: „Ihr müsst euch gar nicht anstrengen; wir krie-gen das Geld auch ohne eigene Anstrengungen“? Dannwäre überhaupt nichts geschehen. Deswegen war unserWeg richtig.
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass Griechenlandetwas mehr Zeit braucht. Aber wir sagen auch: DieseZeit muss genutzt werden, um voranzukommen. Wirmüssen Schritt für Schritt vorgehen und die Entwicklungin Europa und in Griechenland begleiten. „Schritt fürSchritt“ heißt auch, zu akzeptieren, dass wir nicht überInstrumente reden, die vielleicht im Jahr 2020 zum Ein-satz kommen könnten, sondern dass wir über das reden,was jetzt geschieht.Manch eine Prognose, die jetzt mit Blick auf Grie-chenland abgegeben wird, muss man hinterfragen. Wieoft haben sich die Leute, die Prognosen zur wirtschaftli-chen Entwicklung in diesem Land abgegeben haben,schon geirrt? Ich kann darüber nur schmunzeln: Wir ha-ben die Prognose bekommen, dass wir im dritten undvierten Quartal 2012 mit einem Abschwung zu rechnenhaben. Jetzt sagen die Leute, die diese Prognose abgege-ben haben, dass im dritten Quartal nicht mit einem Ab-schwung zu rechnen ist. Das wissen wir aber alle selber;denn das dritte Quartal ist bereits vorbei.
Insofern kann ich nur sagen: Mit Prognosen sollte manvorsichtig sein. Wir sind auf der sicheren Seite, wennwir sagen: Wir sind solidarisch mit Griechenland. Schrittfür Schritt werden die weiteren Maßnahmen umgesetzt.Es wird nur dann eine Tranche freigegeben, wenn dieVoraussetzung, dass etwas Bestimmtes getan wurde, er-füllt ist. Das war in Griechenland jetzt der Fall.Im Übrigen muss klar sein: All diejenigen, die über ir-gendwelche Schuldenschnitte sprechen – völlig abwe-gig –, müssen wissen, dass sich in dem Fall auch andereLänder zu Wort melden würden. Was sollen denn Portu-gal und Irland dazu sagen? Frau Wagenknecht, Sie redeneinen solchen Unsinn daher und wissen gar nicht, wel-che Konsequenzen das hat.
Deswegen kann ich nur sagen: Der Weg, den wir ge-hen, ist richtig.
Wir müssen in Europa die Wettbewerbsfähigkeit allereuropäischen Länder voranbringen. Wir sehen doch, wieder Wettbewerb weltweit läuft. Allein in Shanghai wer-den jedes Jahr mehr Akademiker mit ihrem Studium fer-tig als in ganz Europa. Wir sehen doch, was dieser Wett-bewerb bedeutet. Wir werden diesen Wettbewerb nurbestehen, wenn wir alle in Europa vorankommen. DieserWeg wird jetzt gegangen, und zwar nicht nur in Grie-chenland. Alle müssen diesen Weg mitgehen, und jedermuss schauen, dass er bei der Wettbewerbsfähigkeit vor-ankommt. Das wird jetzt unterstützt.Dass wir heute darüber beraten, zeigt auch, dass wiruns im Deutschen Bundestag unserer Verantwortung be-wusst sind. Wir alle hier im Deutschen Bundestag habendamals, als es um die Parlamentsbeteiligung ging, ge-sagt: Wir wissen, dass uns dies im einen oder anderenFall viel abfordern wird, weil wir nicht Beratungszeitenvon mehreren Wochen in Anspruch nehmen können. –Das ist auch dieses Mal so. Wir haben aber auch gesagt,dass wir als Deutscher Bundestag bereit sind, uns in dieDinge hineinzuknien und die notwendigen schnellenEntscheidungen herbeizuführen. Niemand in Europa sollsagen können: Weil sich die Deutschen nicht ernsthaftum die Dinge bemühen, kommen wir nicht voran. – Dasist auch ein wichtiges Signal an die Märkte. Deshalb istes richtig, dass wir heute die Entscheidung treffen unddem Antrag des Bundesfinanzministeriums zustimmen.
Wir werden uns mit dem Thema Europa noch mehr-fach befassen müssen. Ich kann nur sagen: Es lohnt sichauch. Dieses Europa ist mehr als nur ein Europa vonEuro und Cent.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012 25981
Volker Kauder
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Dieses Europa ist eine Werte- und Schicksalsgemein-schaft. Eine Werte- und Schicksalsgemeinschaft hält vorallem dann zusammen, wenn es besonders schwierig ist,und rennt nicht auseinander. Heute ist ein Tag dafür, dieszu beweisen.Herzlichen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Jürgen Trittin, Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kollegin Wagenknecht, wenn Sie Seit‘ an Seit‘ mit
Hans-Werner Sinn leichtfertig den Konkurs Griechen-
lands in Kauf nehmen wollen,
dann ist das nicht links, sondern dann ist das Unsinn,
und es ist unsozial.
Deswegen müssten Sie heute eigentlich mit uns gemein-
sam zustimmen, wenn wir diese Koalition zwingen, ihre
falsche Politik in Europa zu korrigieren. Darum geht es.
Über Jahre hinweg haben Sie, Frau Bundeskanzlerin,
haben Sie, Herr Kauder, uns erzählt: Die Griechen kom-
men aus dem Mustopf, wenn sie nur ordentlich und rich-
tig sparen. – Ich erinnere mich noch an Äußerungen wie:
Die müssen sparen, bis es quietscht. – Das stammt aus
Ihren Reihen.
Was stellen wir heute fest, nachdem die Griechen
über drei Jahre hinweg jedes Jahr 4,5 Prozent – jedes
Jahr! – ihres Primärdefizits abgebaut haben? Die Grie-
chen haben mehr Schulden. Was heißt das? Eine aus-
schließlich auf Sparen setzende Konsolidierungspolitik
verschärft die Rezession.
Eine Rezession verschärft das Einnahmeproblem des
griechischen Staates.
Die Folgen dieses Einnahmeproblems sind nicht etwa sin-
kende, sondern wachsende Schulden. Das ist offenbar.
Deswegen ist es richtig,
den Griechen in dieser Situation mehr Zeit zu geben.
Mehr Zeit kostet Geld, 44 Milliarden Euro zusätzlich.
Heute sind Sie gezwungen, Ihre falsche Politik zu korri-
gieren. Wenn Sie den Mut hätten, sie in aufrechter Hal-
tung zu korrigieren, dann hätten Sie uns heute keine
Vertagungsfinanzierung vorgelegt. Sie haben von Flexi-
bilisierung gesprochen, man kann auch von kreativer
Buchführung sprechen, lieber Herr Brüderle. Hätten Sie
für diese 44 Milliarden Euro einfach ein drittes Paket
von Bürgschaften gemacht, wäre das solide gewesen.
Eine aufrechte Korrektur wäre auch gewesen, wenn
Sie gesagt hätten: Okay, wir schauen jetzt mal, wie sich
das vollzieht; wir wissen noch nicht alles genau; aber wir
wissen heute schon – auch zu diesem Eingeständnis
musste man Herrn Schäuble zwingen –, dass uns diese
Maßnahmen im Jahre 2013 im Haushalt 730 Millionen
Euro kosten werden.
Sie können sich nicht damit herausreden, zu sagen: Wir
geben nicht mehr aus, sondern das sind nur gesunkene
Einnahmen. – Das ist die Realität für 2013 nach Aus-
kunft des Bundesfinanzministeriums.
Lieber Herr Vorsitzender des Haushaltsausschusses – –
– Sind Sie nicht mehr, stimmt, ist die Kollegin Merkel.
Die zahlen das ja auch beide nicht privat.
Was hindert Sie eigentlich daran, diesen Fehlbetrag ineinem ordentlichen Nachtragshaushalt zu etatisieren?Sie haben Angst, dass Sie in den eigenen Reihen bei die-ser notwendigen Korrektur Ihrer Politik nicht die Mehr-heiten haben, die Sie brauchen, um handlungsfähig zusein. Das ist der Kern des Problems, das Sie haben.
Nun kann man angesichts der Situation, in der sichGriechenland befindet, sagen: Das kostet nun einmalGeld. – Das versuchen Sie in die Reihen der Oppositionzu transportieren; die Opposition fordere das. Nein, ichwill das deutlich sagen: Dass das Geld kostet, ist keinegute Nachricht, ist kein Grund zum Jubeln. Es ist dasProdukt einer zögerlichen Europapolitik, bei der die eu-ropapolitische Haltung, die hier am Schluss in Reden,zum Beispiel von Herrn Kauder, immer wieder hochge-
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25982 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012
Jürgen Trittin
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halten wird, tatsächlich nach Wahlterminen ausgerichtetwird.
Das erste Griechenland-Paket haben Sie wegen derLandtagswahl in Nordrhein-Westfalen versäumt, undjetzt machen Sie hier wieder einen Schleiertanz, damitdie Bürgerinnen und Bürger die Wahrheit nicht hörensollen.
Die Menschen kennen diese Wahrheit aber heute schon.Deswegen glaube ich, dass Sie endlich dazu stehen soll-ten, dass nur mit Austerität der Euro nicht zu retten ist.Es muss Konsolidierung geben, es muss Strukturrefor-men geben.
Den Euro und das gemeinsame Europa wird es aber nurgeben, wenn neben den Strukturreformen gleichzeitig inWachstum, in Innovation und in Entwicklung investiertwird.
Deswegen passt es nicht zu einer ernsthaften Anstren-gung dahin gehend, dieses Europa auf einen anderenKurs zu bringen, wenn Sie im Zusammenhang mit demmehrjährigen Finanzrahmen zusammen mit DavidCameron dafür sorgen, dass ausgerechnet in den Berei-chen Strukturveränderungen, Investitionen in Infrastruk-tur, Investitionen in Forschung gekürzt wird. Das ist dasFortsetzen der falschen Politik, die Sie über Jahre betrie-ben haben.
Wenn richtig ist, dass Griechenland das bloße Sparenund der Verzicht darauf, seine Investitionsfähigkeit zustärken, in die Krise und zu mehr Schulden geführt hat,dann müssen Sie sich auch der Tatsache stellen, dassGriechenland schon lange kein Ausgabeproblem, son-dern ein Einnahmeproblem hat. Deswegen ist es übri-gens richtig, zu sagen: Wir machen das schrittweise. Icherwarte von der griechischen Regierung, dass sie dieneuen Steuergesetze tatsächlich auf den Weg bringt. Ichfinde auch, dass wir in Europa einen Anspruch daraufhaben, dass diese neuen Steuergesetze in Griechenlandtatsächlich vollzogen werden. Das ist so.
– Nein, ich rede an dieser Stelle von Unternehmensteu-ern, lieber Kollege.Aber wenn man diese klare Haltung an den Tag legt,dann muss man auch zu den eigenen Zusagen stehen.Deswegen ist es nicht zu früh, sondern in meinen Augeneine peinliche Verzögerung, dass wir erst heute überdiese Sache entscheiden; denn seit Anfang Novemberliegt der Bericht der Troika vor. Er besagt: Griechenlandhat das umgesetzt, was wir vereinbart haben. – WennGriechenland das Vereinbarte umgesetzt hat, dann müs-sen wir an dieser Stelle auch liefern. Das ist der Tag, umden es heute geht.
Hören Sie auf, so zu tun, als gäbe es schon wiedereine neue rote Linie! Sie, Herr Brüderle, haben erklärt– das Wort „derzeit“ hat mir gut gefallen –, derzeit solleman nicht über einen Schuldenschnitt reden.
Ja, derzeit muss man nicht über einen Schuldenschnittreden; denn da gibt es rechtliche Hürden. Aber es wirdeinmal so sein, und Sie haben es selber angekündigt. Sieselber haben mit dem Hinweis auf den Pariser Club an-gekündigt, dass am Ende des Tages die Wiederherstel-lung der Schuldentragfähigkeit Griechenlands nurdarüber gehen wird, dass die Schuldenbelastung Grie-chenlands durch einen Schuldenschnitt gemindert wird.Ich finde, Sie hätten den Mut haben sollen, das in dieserForm und nicht so verklausuliert über den Pariser Clubund Ähnlichem auszusprechen. Sie hätten den Mut ha-ben müssen, zu sagen: Ja, es ist so. Es kostet uns amEnde in einem schrittweisen Prozess Geld. – Das wäreeine glaubwürdige Korrektur der Haltung gewesen, dieSie hier an den Tag gelegt haben.
Letzte Bemerkung: Wegen der Prognosen und nichtum Recht zu behalten, sondern um Ihnen einen Rat zugeben: Sie sollten gelegentlich doch auf die Grünen hö-ren. Die Grünen haben sich im Juni auf einem viel be-achteten kleinen Parteitag mit der Frage Europa undHilfe für Griechenland auseinandergesetzt. Lesen Siediesen Beschluss einmal nach! Darin wird wörtlich aus-geführt: Griechenland muss mehr Zeit haben. Das Pro-gramm muss gestreckt werden. – Ich freue mich darüber,dass CDU, CSU und FDP mit einem halben Jahr Verspä-tung der Umsetzung eines grünen Parteitagsbeschlussesnachkommen. Das ist ein guter Tag.
Das Wort erhält nun die Kollegin Gerda Hasselfeldt
für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Heute waren vonseiten der Opposition wieder einmal dieBesserwisser hier.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012 25983
Gerda Hasselfeldt
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Es wäre nur gut, wenn das auch immer mit der ganzenWahrheit verbunden wäre. Zur ganzen Wahrheit gehört,dass wir heute und auch in den vergangenen Monatennicht über Griechenland und dessen Probleme diskutiertund nicht so schwierige Entscheidungen vor uns hätten,wenn es Ihre Fehlentscheidungen zu Zeiten der rot-grü-nen Regierung nicht gegeben hätte. Auch das gehört zurganzen Wahrheit.
Wenn wir schon bei der Wahrheit sind: Hierzu gehörtauch, dass man den Leuten in einer Rede keine Unwahr-heiten erzählt, wie das der Kollege Trittin gerade getanhat. Herr Kollege Trittin, es geht nicht um ein neues Pro-gramm im Umfang von 44 Milliarden Euro, wie Sieheute gesagt haben. Diese 44 Milliarden Euro sind Teildes Programms, das wir schon beschlossen haben. Die-ser Betrag wird jetzt nach Vorlage des Troika-Berichtsim Rahmen des bereits beschlossenen Programms ausge-zahlt und ist Teil der Tranchen, die erst ausgezahlt wer-den sollten, nachdem der Troika-Bericht und die Bewer-tung dieses Berichts vorliegen. Es geht also nicht um einneues Programm, sondern um die Realisierung dessen,was schon vor einem halben Jahr hier im Hause und aufeuropäischer Ebene beschlossen wurde.
Heute geht es um die Anpassung des Programms,weil die Ziele, nämlich Primärüberschuss ab dem Jahr2014 und Schuldentragfähigkeit ab dem Jahr 2020, zeit-lich nicht so erreicht werden, wie das zunächst einmalvorgesehen war. Und es geht hier auch darum, Entschei-dungen auf der Grundlage des Troika-Berichts und derFortschritte in Griechenland zu treffen. Hier ist schonfeststellbar – das muss man bei einer solchen Debatteauch deutlich sagen –: Die Griechen haben enorme An-strengungen an den Tag gelegt. Sie haben deutlicheMaßnahmen in den Bereichen Steuern, Soziales, Ar-beitsmarkt und Verwaltung getroffen. Dies geschah zu-gegebenermaßen zunächst einmal etwas verzögert, dannaber doch in einer sehr kurzen Zeit mit enormen Belas-tungen für die Menschen.Das Ergebnis ist ja auch schon zum Teil – nicht über-all – spürbar: Das Haushaltsdefizit ist deutlich zurückge-gangen – der Finanzminister hat darauf hingewiesen –,das Leistungsbilanzdefizit ist zurückgegangen, und dieLohnstückkosten sind gesunken. Das heißt, die Wettbe-werbsfähigkeit hat sich spürbar ein Stück weit verbes-sert. Dass dies nicht von heute auf morgen geht, das wis-sen wir alle. In diesem Land ist eben nicht nur einkleiner Umstrukturierungsprozess, sondern ein Transfor-mationsprozess notwendig.
Dieser braucht seine Zeit und ist nicht innerhalb vonwenigen Monaten erreichbar. Vor allem ist er aber nichtprozentgenau prognostizierbar.
Deshalb sind diese Anpassungsmaßnahmen des Pro-gramms notwendig und richtig. Das gilt auch für denKurs: „Solidarität ja, Hilfe ja, Unterstützung ja“, um Zeitzu gewinnen, aber nur unter der Bedingung, dass Refor-men durchgeführt und die Haushalte konsolidiert werden.Dieser Kurs wird jetzt fortgesetzt. Wir würden einen gro-ßen Fehler machen, wenn wir jetzt, da Griechenland aufdem Weg der Besserung ist, hier stehen bleiben und sagenwürden: Jetzt geht nichts mehr.
Wir alle diskutieren auch kontrovers in den eigenenReihen und in den Veranstaltungen mit den Menschen.Das jetzt Erreichte bestärkt mich darin, dass der Kursrichtig ist und dass das, was uns die Sozialdemokratenund Grünen in den vergangenen Monaten und Jahrenvorgeschlagen haben, nämlich eine Vergemeinschaftungvon Schulden, Euro-Bonds usw., der falsche Weg gewe-sen wäre,
weil dadurch der Druck, Reformen durchzuführen, vonden Griechen genommen worden wäre.
Es geht nun darum, dass die Anpassungsmaßnahmen,die vorgenommen werden – Zinssenkung, Verlängerungder Laufzeit von Krediten, Verwendung der Gewinneaus den Sekundärmarktaufkäufen der Europäischen Zen-tralbank –, schon auch Geld kosten. Das ist auch keinGeheimnis, und daraus haben wir nie ein Geheimnis ge-macht.
Das sind Mindereinnahmen im Bundeshaushalt.
Ich wundere mich schon, dass manchmal gerade die-jenigen, die dies jetzt beklagen, die Gleichen sind, dieuns früher vorgeworfen haben, an den Zinseinnahmen,beispielsweise aus den Hilfen an Griechenland, auchnoch zu verdienen.
So ein Verhalten ist schon ein bisschen pharisäerhaft.Das muss man einmal deutlich zum Ausdruck bringen.
Das alles entbindet uns nicht davon, den Druck aufGriechenland und auch auf die anderen Krisenländeraufrechtzuerhalten. Deshalb ist jede Diskussion über ei-nen Schuldenerlass alles andere als hilfreich. Ein Schul-denerlass ist rechtlich nicht möglich; das ist hier auchschon mehrfach gesagt worden. Er ist bzw. wäre das fal-sche Signal an Griechenland, aber auch das falsche Si-gnal an jedes andere Krisenland in Europa; denn in dem
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25984 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012
Gerda Hasselfeldt
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Moment, in dem ein Erlass von Schulden öffentlich inAussicht gestellt wird, entweicht doch jeder Druck.
Dann ist kein Druck mehr da, die Haushalte zu konsoli-dieren und Reformen voranzubringen, um die Wettbe-werbsfähigkeit zu verbessern.Deshalb bleibt gar nichts anderes übrig, als diesenKurs, den wir eingeschlagen haben,
in dem Sinne fortzuführen: Wir zeigen Solidarität inEuropa. Wir sind solidarisch.
Wir helfen den betroffenen Ländern, um Zeit zu gewin-nen, aber nicht Zeit dafür, um den Schlendrian frühererJahre fortzusetzen, sondern dafür, die notwendigen Re-formen auf den Weg zu bringen, ihre Haushalte zu kon-solidieren, mit dem Ziel, dass jedes einzelne europäischeLand wettbewerbsfähig wird. Das wird zum Wohle nichtnur dieses einzelnen europäischen Landes sein, sondernganz Europas.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Michael Roth für
die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Es iststets ein besonderes Vergnügen, nach Ihnen, liebe FrauKollegin Hasselfeldt, sprechen zu dürfen. Aber es istkein Vergnügen, Ihnen immer wieder dabei zuschauenzu müssen, wie Sie hier die Unschuld vom Lande mi-men, wie Sie tricksen, tarnen und täuschen.
Herr Schäuble wirft nur Nebelkerzen. Er erklärt denBürgerinnen und Bürgern überhaupt nichts. Herr Kauderund die anderen Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP formulieren neue Dogmen darüber, wasgarantiert nicht passiert.
Und wir wissen doch: Es passiert immer genau das, wasSie vorher striktamente ablehnen, liebe Kolleginnen undKollegen.
Das wäre alles nicht so schlimm, wenn es nicht maß-geblich der Grund dafür wäre, dass viele Bürgerinnenund Bürger in unserem Land unseren Entscheidungenmit Skepsis und mit Ablehnung begegnen.
Damit müssen wir umgehen. Es ist immer wieder wich-tig, den Bürgerinnen und Bürgern Folgendes zu erklären:Wir stimmen heute Morgen hier im Bundestag nicht überLohn- und Rentenkürzungen ab, die Hunderttausendevon Griechen in die Armut getrieben haben. Wir stim-men heute Morgen im Bundestag auch nicht darüber ab,dass Arbeitnehmerrechte und Gesundheitsleistungen inGriechenland massiv beschnitten worden sind. Wir stim-men heute Morgen auch nicht darüber ab, dass eine Poli-tik der Rezession vor allem junge Menschen in die Mas-senarbeitslosigkeit getrieben hat. Darüber entscheidenwir heute Morgen nicht.Aber wir stimmen heute darüber ab, ob die immerwieder gestellte Forderung der Sozialdemokratie und derGrünen eine Chance erhält, nämlich dass GriechenlandLuft zum Atmen bekommt, dass Griechenland mehr Zeiterhält: Zeit für die notwendigen Strukturreformen, Zeit,um das Land zu reformieren. Dass das, worauf sich dieEU-Finanzminister geeinigt haben, unseren Erwartun-gen nicht vollumfänglich entspricht, ist klar. Da gibt esvieles zu kritisieren. Da ist auch manches überhauptnicht schlüssig. Es paart sich, wie gesagt, immer mit Ih-rem kläglichen Versuch, die Dinge schöner zu machen,als sie tatsächlich sind, oder Dinge strikt abzulehnen, diedann doch irgendwann einmal kommen werden. Aberdiese Entscheidung heute ist die Voraussetzung dafür,dass die Demokratie und auch der Staat Griechenlandnicht weiter gefährdet wird. Diejenigen von uns, die ein-mal in Griechenland waren, wissen, wie dramatisch dieVerhältnisse dort und wie hoffnungslos viele Menschensind. Davor dürfen wir auch hier im Deutschen Bundes-tag nicht die Augen verschließen.
Ich fände es gut, wenn wir immer wieder daran erin-nern, dass die Krise viele Gesichter und viele Schicksalehat. Da ist nicht allein der milliardenschwere Reeder, dersein Geld in die Schweiz transferiert oder hier in Berlinam Immobilienmarkt investiert. Es sind gerade die jun-gen Menschen, die von schmerzhaften Einschnitten amallerhärtesten betroffen sind. Ich höre immer wieder,Griechenland sei ein Fass ohne Boden. Dieser Satzstrotzt nur so vor Verachtung vor den Einzelschicksalen.Insofern wäre es wichtig, dass wir ein deutliches Zei-chen der Hoffnung setzen, dass die Menschen spüren,am Ende eines langen Tunnels gibt es auch wieder Licht.Wir in Deutschland haben vor vielen Jahrzehnten ein-mal einen großen Vertrauensvorschuss geschenkt be-kommen. Es wäre gut, wenn wir diesen Vertrauensvor-schuss auch den Griechinnen und Griechen gewähren.Für die Sozialdemokratie in Deutschland und in Eu-ropa ist Europa – das haben wir immer wieder deutlichgemacht – keine Frage der Taktik, es ist eine Frage derHaltung. Deswegen werden wir trotz Ihrer Politik heutedie Zustimmung zur Griechenland-Hilfe erteilen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012 25985
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Otto Fricke ist der nächste Redner für die FDP-Frak-
tion.
Geschätzter Herr Präsident! Meine Damen und Her-
ren! Ich möchte meine Rede mit einer grundlegenden
Frage beginnen. Die Frage ist, warum es – übrigens uns
allen, allen Fraktionen und auch der Mehrheit der Bürger
in unserem Land – so schwerfällt, mit dem Thema der
Staatsverschuldung in Europa und mit der Frage umzu-
gehen, was wir da machen müssen und was der eigentli-
che Grund dafür ist. Seien wir doch ehrlich, es trifft doch
alle. Es begegnet uns in allen unseren Gesprächen. Alle
sagen: „Ja, Europa, das weiß ich, ist unsere Zukunft, das
brauchen wir, das müssen wir machen.“ Aber alle sagen
auch: „Warum muss ich es jetzt sein, warum muss das so
oder so laufen?“
Der Ursprungsfehler liegt nach meiner Meinung in
der Tatsache, dass wir immer gesagt haben, dass Europa
uns – bildlich gesprochen – den Himmel bringen wird.
Wenn wir Europa hätten, wäre alles schön.
Was wir vergessen haben, ist, dass Europa eine ganz
andere Aufgabe hat, nämlich die Aufgabe, dass wir es
über Europa schaffen, uns Europäer vor all den schlim-
men Dingen zu schützen, die uns ökonomisch, in unserer
soziokulturellen Existenz, in unserem wahren Leben ge-
genübergetreten sind, und davor zu schützen, dass es
Einschnitte gibt. Zu dieser Tatsache gehört das Doppel-
spiel, dass Europa uns wahnsinnig viel Freiheit gegeben
hat: nicht nur die berühmte Reisefreiheit, nicht nur die
Möglichkeiten der Bildung und des freien Warenver-
kehrs, sondern auch die Freiheit, uns unsere Selbstver-
wirklichung so zu gestalten, wie wir es uns als Europäer
vorstellen. Es hat uns aber auch Verantwortung gebracht,
dieses immer wieder zu schützen, die Werte Europas zu
schützen, die europäische Familie in ihrer Existenz zu
schützen.
Wie man das nun macht, darüber streiten wir. Was da-
bei der richtige Weg ist, darüber diskutieren wir. Ich will
ganz klar und deutlich sagen: Dabei machen alle Seiten
hier Lernprozesse durch. Diese Lernprozesse werden wir
immer wieder machen. Das muss man den Bürgern klar
sagen, und dessen muss man sich auch bewusst sein: Die
europäische Schuldenkrise und Europa selbst sind nicht
etwas, wo ich einen Hebel umlegen kann und alles ist
gut. Es ist zum Glück auch nicht mehr etwas, wo ich ei-
nen Hebel umlege und alles ist schlecht. Europa wird für
uns ständige Diskussionen, ständige Arbeit und ständi-
ges Abwägen bedeuten. Dabei tun wir uns alle nicht
leicht, und wir werden heute einen weiteren Schritt ma-
chen, der vielen nicht leichtfällt, den aber viele nach Ab-
wägung und Vorlegung der Daten und Fakten so be-
schließen – nicht mit großer Freude, sondern mit großer
Verantwortung.
Meine Damen und Herren, wir müssen auch die Feh-
ler sehen, die wir in der Diskussion machen. Bleiben wir
bei dem Bild der europäischen Familie. Wenn ein Fami-
lienmitglied zu demjenigen, der finanziell etwas besser
dasteht, kommt und sagt: „Ich habe Schulden und will
davon wegkommen“, dann sagt man doch – so kennen
wir das auch im Privatleben, wenn wir jemandem aus
der Familie helfen –: Ich bin bereit, dir zu helfen. – Wir
sagen aber auf gar keinen Fall: Es ist schlimm, dass du
Schulden hast. Wir werden sie dir erlassen; dann ist alles
wunderbar. – Nein, wir erwarten Veränderungen, und
diese Veränderungen sind Teil aller Schritte, die wir ma-
chen. Deswegen sage ich ganz bewusst: Nichts zu geben
ist genauso falsch wie alles zu geben. Zu diesem Schluss
komme ich, wenn ich von einem europäischen Familien-
mitglied erwarte, dass es sich ändert und wieder auf den
Pfad der Tugend zurückkehrt. Es reicht nicht, seitens der
Opposition als einzigen Vorwurf vorzubringen: Sie sa-
gen ja gar nicht, was passiert. Sie verheimlichen, dass es
einen Schaden geben wird. Sie müssen uns sagen, wie
der Schaden aussehen wird.
In Richtung Rot und Grün sage ich deutlich: Der
Schaden ist in dem Moment aufgetreten, als Griechen-
land in die Euro-Zone aufgenommen worden ist, ohne
die Bedingungen wirklich zu erfüllen. Mit dieser Ent-
scheidung ist der Schaden in den Bilanzen Europas exis-
tent.
Es nützt jetzt aber nichts, von Schuld und Sühne zu spre-
chen, und es nützt auch nichts, darauf hinzuweisen, dass
es sich noch dadurch verschärft hat, dass selbst Deutsch-
land unter Rot-Grün die Maastricht-Kriterien nicht er-
füllt hat. Vielmehr ist jetzt die Aufgabe, diesen Schaden
zu minimieren: für unsere Rentner, für unsere Lebens-
versicherten und für unseren Mittelstand. Das ist die
Aufgabe, die wir im Moment haben.
Das werden wir auch schaffen, in Freiheit für Europa
und in Verantwortung des starken Deutschlands für das
gegenwärtig schwache Griechenland, aber auch in Er-
wartung einer Eigenverantwortung Griechenlands. Des-
wegen wird die weit überwiegende Mehrheit meiner
Fraktion dieser Vorlage zustimmen.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Norbert Barthle für dieCDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wir stimmen heute über die Anpassung desGriechenland-II-Programms unter dem EFSF ab. Ichhalte noch einmal fest: Das Programmvolumen bleibtbestehen. Die wesentlichen Eckdaten bleiben bestehen.Das Garantievolumen für Deutschland erhöht sich da-durch nicht. Es geht um die Auszahlung von drei für2012 vorgesehenen und zusammengefassten Tranchenmit einem Volumen von 43,7 Milliarden Euro, die Be-standteil des Programms sind. Das Programm umfasst164 Milliarden Euro. Gut die Hälfte davon, 78 Milliar-den Euro, ist schon ausgezahlt worden. Jetzt kommendrei weitere Tranchen, die dann freigegeben werden,wenn es uns in vier Wochen erneut vorgelegt wird. – Soviel noch einmal für die Herren Trittin und Steinbrückzum Mitschreiben.Zweitens. Wir haben innerhalb dieses ProgrammsVeränderungen vorgenommen. Die Prognosen derTroika reichen bis 2022. Dass man daran Zweifel habenkann, ist unbestritten. Auch die Troika verfügt nicht überhellseherische Fähigkeiten, um exakt vorauszusagen,was bis 2022 passiert. Viele von uns haben Zweifel da-ran, gar keine Frage. Das ist auch in Ordnung. Man kannkritisch nachfragen. Nicht ganz in Ordnung ist es aberaus meiner Sicht, wenn man all die Unterlagen, die wirbekommen, die dicken Berichte der Troika, die man le-sen kann und in denen man viele Daten, Fakten und Zah-len findet, ignoriert und dann hier sagt: Das ist ohnehinalles umsonst. Da ist Hopfen und Malz verloren. Das istein Fass ohne Boden. Das hilft alles nicht.
Das geht nicht, meine Damen und Herren.
Denn das ist eine Missachtung dessen, was bisher geleis-tet worden ist, auch von Griechenland.Lassen Sie mich noch einmal kurz die wesentlichenFakten erläutern. Griechenland hat sein Haushaltsdefizitin den letzten zweieinhalb Jahren um zwei Drittel abge-baut. Dafür wurden die Löhne im öffentlichen Sektor ge-kürzt. Es wurde bei Sozialausgaben und Renten einge-spart. Es gab deutliche Steuererhöhungen. In der Rente,im Gesundheitssystem und auf dem Arbeitsmarkt wurdenStrukturreformen vorgenommen, die die Verkrustungenzumindest langsam aufzulösen beginnen. Die Personal-ausgaben wurden um 23 Prozent und die Sozialausgabenum 26 Prozent reduziert. Die Rente wurde um 7 Prozentreduziert. Meine Damen und Herren, ab dem 1. Januar2013 – das ist nicht mehr weit weg – gilt in Griechen-land ein Renteneintrittsalter von 67 Jahren. Stellen Siesich einmal vor, was in Deutschland passieren würde,wenn wir das Renteneintrittsalter innerhalb eines Jahresin diesem Maße erhöhen würden. Man muss zur Kennt-nis nehmen, dass einiges geschieht. Das gebietet derRespekt vor dem griechischen Volk.
Die Wettbewerbsfähigkeit wurde verbessert. Die Lohn-stückkosten gingen um 10 Prozent zurück. Das Leis-tungsbilanzdefizit Griechenlands wurde deutlich abge-senkt. Also, wir tun gut daran, das anzuerkennen.Würden wir dieselben Sparanstrengungen, die Griechen-land bereits bis 2016 beschlossen hat – eine Reduzierungder Ausgaben um 20 Prozent –, auf Deutschland übertra-gen, dann müssten wir unsere Ausgaben um 60 Milliar-den Euro reduzieren. Man kann sich vorstellen, was dasbedeuten würde. Deshalb Respekt und Anerkennung vordem, was dort geleistet wird.
Dass es für den Bundeshaushalt Belastungen gibt, istunbestritten.
Erstmals machen sich die Auswirkungen der Kredite fürGriechenland im Bundeshaushalt bemerkbar.
Nur, meine Damen und Herren, wir reduzieren die Ge-winne, die die KfW mit den Krediten für Griechenlanderzielt. Ich muss nicht unbedingt die moralische Keuleschwingen, um sagen zu dürfen: Ich halte es für ange-messen, wenn man in dieser Situation die Gewinne, diewir erzielen, um 130 Millionen Euro reduziert. Dann ste-hen noch die 599 Millionen Euro zur Debatte, die ausdem SMP resultieren sollen. Darüber, meine Damen undHerren, können wir nicht befinden. Darüber entscheidetganz allein die unabhängige Europäische Zentralbankbzw. die unabhängige Deutsche Bundesbank.
Wie hoch der an uns abgeführte Bundesbankgewinn imMärz des kommenden Jahres letztlich sein wird, wissenwir noch nicht. Es könnte durchaus sein, dass sich dieserBetrag wieder amortisiert. Da müssen wir abwarten.Ich stelle fest: Das, was wir bisher auf europäischerEbene gemacht haben – das war die Politik und die klareLinie von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundes-finanzminister Wolfgang Schäuble –, nämlich denFiskalvertrag durchzusetzen, die Schuldenbremse durch-zusetzen, Finanzmarktreformen durchzusetzen, eine in-stitutionelle Vertiefung der EU durchzusetzen, ist derrichtige Weg in die Zukunft unserer EuropäischenUnion.Was hören wir von der Opposition? Herr Trittin redetwieder von einer Art Schuldentilgung. Er will die Schul-den einfach beschneiden. Von der SPD hören wir, esgebe Uneinigkeit innerhalb der Regierung. Der eine re-det von Schleiertanz, der andere von Eiertanz. Vielleichtkönnen Sie sich einigen, um welchen Tanz es sich tat-sächlich handelt. Ich habe eher den Eindruck, dass in denReihen der SPD ein großer Eiertanz vollführt wird: Ein-mal enthalten Sie sich, dann stimmen Sie wieder zu,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012 25987
Norbert Barthle
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dann wissen Sie nicht, ob Sie zustimmen sollen. Jetztstimmen Sie zu. Gott sei Dank haben Sie sich berappelt.Auch dafür meine Anerkennung. Wenn ich die Redender Opposition höre, kann ich aber keinen Hinweis er-kennen, dass es sowohl für Griechenland als auch fürEuropa als auch für Deutschland besser wäre, wenn Sieregieren würden. Hier habe ich keine Hinweise erkannt.Wir machen den Weg frei für die weitere Konsolidie-rung, für die Zukunft Griechenlands, für eine gute Zu-kunft Europas. Zeigen Sie Herz und Verstand! StimmenSie diesem Antrag zu! Dann tun Sie etwas Gutes fürEuropa, für Griechenland und für Deutschland!Danke.
Das Wort hat jetzt der Kollege Frank Schäffler von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Bei der Frage, die wir heute diskutie-
ren, geht es auch um die Situation Griechenlands; das ist
ganz klar. Es ist sehr einschneidend, was in Griechen-
land passiert. Es geht aber aus meiner Sicht um viel
mehr. Es geht um die Frage: Welches Europa wollen
wir?
Der heutige Finanzminister hat 1996 ein Buch geschrie-
ben mit dem Titel „Und der Zukunft zugewandt“. Zur
Rolle Deutschlands in Europa hat er formuliert: „Wir
müssen uns davor hüten, als Besserwisser und Moraler-
zieher aufzutreten.“ Ich glaube, genau um dieses Span-
nungsfeld geht es. Es stellt sich jetzt die Frage in
Europa: Welches Europa wollen wir? Wollen wir ein
Europa der 17? Wollen wir ein Europa der 27? Oder
wollen wir ein Europa der 50? Das ist die Frage, um die
es jetzt geht.
Das Europa der 17 führt am Ende, wie die aktuelle
Entwicklung zeigt, dazu, dass es sich abschottet, dass es
einen eigenen Weg geht, dass es die anderen am Katzen-
tisch sitzen lässt. Das ist ein anderes Europa als das
Europa, das die Gründungsväter nach dem Krieg aufge-
baut haben.
Wir erleben in Europa, dass einige Länder schon nicht
mehr dabei sind oder an den Katzentisch gedrängt wer-
den. Schauen Sie sich England an. England zieht sich
sukzessive aus dem Integrationsprozess in Europa zu-
rück. Die Schweiz liegt mitten in Europa und ist ein Bei-
spiel für ein föderales Europa. Tschechien und Polen ge-
hören ebenfalls zu Europa. Sie sind Teil unserer langen
Geschichte. Es sind viele Länder in Europa, die nicht am
Euro partizipieren und beim Euro nicht mitmachen. Dies
alles belegt, um welche Kernfrage es geht, nämlich um
die Frage: Welches Europa wollen wir?
An dieser Stelle möchte ich noch einmal den Finanz-
minister zitieren. Der Finanzminister hat in seinem Buch
Lord Ralf Dahrendorf zitiert:
Kein zentralistisches, sondern ein föderal aufgebau-
tes Europa, organisiert nach dem Prinzip der Viel-
falt, wird das Europa der Zukunft sein.
Genau um diese Frage geht es. Ich glaube, Europa hat
nur dann eine Zukunft, wenn es föderal und vielfältig
aufgebaut wird und wenn es sich nicht auf wenige Staa-
ten konzentriert, die ein anderes Europa wollen als der
Rest.
Vielen Dank.
Jetzt hat das Wort Klaus-Peter Willsch von der CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich danke meiner Fraktion dafür, dass ich alsVertreter einer Mindermeinung in der Fraktion gleich-wohl heute im Rahmen ihres Zeitkontingents vortragenkann.Ich will beginnen mit einem Zitat:Ich hätte mir nie träumen lassen, dass ausgerechnetdie erfolgreichste europäische Zentralbank nachdem Zweiten Weltkrieg – die Bundesbank – inEuropa einmal in eine absolute Minderheitenposi-tion geraten würde. Lange galt die Bundesbank alsLeitbild für erfolgreiche Geldpolitik. Und daraufbaut die heutige Währungsunion auf! Eine solcheInstitution nun so ins Abseits zu stellen und Positio-nen, die ihr jetziger Präsident vertritt, in Europabeinahe lächerlich zu machen – dass all das mög-lich ist, bedrückt mich sehr und ist kein gutes Zei-chen für die Zukunft. Wir erleben einen Paradig-menwechsel.Das hat am 11. Oktober Professor Jürgen Stark gesagt.Das ist einer der Gründerväter des Euro, einer der Kon-strukteure des Euro, Sherpa und Staatssekretär imFinanzministerium und später Chefvolkswirt der EZB.Warum sage ich das? Weil ich in der Tat Sorge habeum unsere Konstruktion einer unabhängigen Zentral-bank sowohl auf der europäischen als auch auf der deut-schen Ebene. Wenn ich sehe, dass umstandslos entspre-chendes Handeln dieser unabhängigen Institutionen aufden Tagungen der Finanzminister in der Euro-Gruppevorausgesetzt wird, dass einfach vorausgesetzt wird,dass Restgrößen durch die EZB durch Anleihekäufe oderELA-Geschäfte mit Griechenland gedeckt werden, dasseinfach vorausgesetzt wird, dass die Bundesbank Ge-winne – vermeintliche oder tatsächliche – aus Sekundär-marktprogrammen weiterreichen wird, damit sie anGriechenland gezahlt werden können, dann muss ich sa-gen: Das ist nicht das, was ich unter Unabhängigkeit derNotenbanken verstehe.
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Klaus-Peter Willsch
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Es wird häufig – so auch heute wieder – denen, dieder Rettungsschirmpolitik kritisch gegenüberstehen,vorgeworfen, sie würden mit zu hohem Einsatz spielen,und es sei unabsehbar, was danach folge. Natürlich ist esmöglich, dass Länder aus einer Währungsunion aus-scheiden. Dass ein Land aus der Währungsunion aus-scheidet, führt nicht automatisch zu Armageddon. Wirhaben das zuletzt praktisch erlebt bei der Auflösung derWährungsunion von der Tschechei und der Slowakei.Nachdem sich das Land nach einer Volksabstimmung inzwei Länder geteilt hatte, hatte man zunächst versucht,an der gemeinsamen Krone festzuhalten. Aber relativschnell nach der staatlichen Unabhängigkeit ist man zuseparaten Währungen übergegangen, weil es Wettbe-werbsfähigkeitsdisparitäten gab.Im Übrigen ist für eine Vielzahl von Staatsinsolven-zen in der Nachkriegszeit genau aufgezeichnet worden,wie es funktioniert; denken Sie nur an die Arbeiten vonRogoff und Reinhart. Der Pariser Club und der Londo-ner Club sind angesprochen worden; der IWF kommthinzu. Programme werden verhandelt, ein Moratoriumwird erklärt, Quoten werden ausgehandelt. Das hat denVorteil, dass alle Gläubiger am Tisch sitzen und dieSchulden nicht auf staatliche Institutionen übertragenwerden. Das hat in vielen Fällen funktioniert: Türkei,Polen, Russland. Ich könnte noch mehr Fälle aufzählen;das will ich Ihnen aber ersparen. Jedenfalls funktioniertes. Es ist keinesfalls so, dass der Weltuntergang droht,wenn man diesen Weg beschreitet.Der Euro-Raum ist nicht gleich Europa. Keiner stelltdas kolossale Friedensprojekt, das Einigungsprojekt desgemeinsamen Europas infrage. Keiner stellt die positi-ven wirtschaftlichen Auswirkungen dieses großen ge-meinsamen Europas mit den vier Freiheiten infrage.Auch Solidarität gehört dazu. Aber der Euro-Währungs-raum war nie als solidarisches, sondern als währungs-technisches Projekt gedacht. Wenn es dann nicht funk-tioniert, muss man auch offen sein für Änderungendieses Währungsraumes; sonst führt der Weg zwangs-läufig in eine Transferunion, die wir alle nie wollten.
Nur wer für die Folgen des eigenen Tuns haftet, wirdauf Dauer verantwortungsvoll handeln. Übergroße Soli-darität – und zwar in Bereichen, für die sie nie gedachtwar – macht träge und generiert Mitnahmeeffekte. Daskennen wir aus der Sozialpolitik, aber leider auch – ichkomme aus Hessen – aus dem Länderfinanzausgleich.Deshalb lautet mein Appell ganz klar: Lassen Sie unsdiese Politik beenden!Ich will zum Schluss kommen. Heute Morgen habeich in der Financial Times Deutschland gelesen, dassHerr Juncker Helmut Kohl aus der Erinnerung zitiert:Von Helmut Kohl habe ich den Satz behalten: Wasim Privatleben richtig ist, ist im zwischenstaatli-chen Leben nicht falsch.Das kann ich nur nachhaltig unterstreichen. Wir alle wis-sen aus dem Privatleben, dass man zu hohe Schuldennicht mit immer neuen Schulden bekämpfen kann. Wirwissen aus dem Privatleben, dass man schlechtem Geldkein gutes hinterherwirft. Lassen Sie uns diesen Wegheute hier beenden!Vielen Dank.
Als letzter Redner in dieser Aussprache hat jetzt das
Wort der Kollege Gunther Krichbaum von der CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichpersönlich respektiere absolut die Meinung anderer undinsbesondere derer, die heute diesem Antrag vielleichtnicht zustimmen können. Ich habe den Kollegen, die un-mittelbar vor mir gesprochen haben, sorgfältig zugehört.Ich muss Ihnen sagen: Heute steht sehr viel auf demSpiel, und zwar viel mehr, als manchem möglicherweisebewusst ist. In Wahrheit entscheiden wir darüber, wie esbei uns in der Euro-Zone und in Europa weitergeht. Ris-kieren wir ein Auseinanderbrechen, oder gehen wir denWeg weiter, den wir bereits entschlossen eingeschlagenhaben? Mein ausdrücklicher Dank gilt Ihnen, Herr Fi-nanzminister Schäuble, und der Bundesregierung für dieguten Verhandlungen.Wir sollten eines nicht in Abrede stellen: Wir hattenGriechenland zuvor bereits Bedingungen – Prior Actions,wie es technisch heißt – gestellt, 71 an der Zahl, bevor esjetzt zu diesem Abschluss kam. Sämtliche Bedingungenwurden erfüllt. Es wäre geradezu abwegig und unred-lich, wenn man sich jetzt nicht auch in Verantwortungüben wollte und dem heutigen Antrag zustimmte.
Griechenland hat die Bedingungen erfüllt. Die Erfolge,die sich zwischenzeitlich bereits eingestellt haben, soll-ten wir nicht in Abrede stellen. Gestern habe ich imDeutschlandfunk ein Interview des heute bereits erwähn-ten Herrn Professor Sinn verfolgt, das an Arroganz nichtmehr zu überbieten ist.
Denn es geht einfach nicht, dass alles und jedes in denBoden gestampft wird und man überhaupt nicht mehrdavon Notiz nimmt, was sich in dem Land getan hat undweiterhin tun wird.Der Euro ist eine stabile Währung; er bleibt eine sta-bile Währung. An nichts anderem können wir das besserablesen als am Außenwert dieser Währung im Verhältniszum Dollar; dieser Wert ist nach wie vor stabil. Wir müs-sen auch unterstreichen, dass wir, vor allem unsere deut-sche Wirtschaft, stark vom Euro profitieren. Es gehört aneinem solchen Tag auch dazu, festzuhalten: Wenn wir inDeutschland das Zinsniveau der letzten Jahre beibehal-ten hätten und wir uns weiterhin zu diesem Zins hätten
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Gunther Krichbaum
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rekapitalisieren müssen, dann hätten wir Jahr für Jahr15 Milliarden bis 17 Milliarden Euro mehr zahlen müs-sen.
Das heißt, die Turbulenzen sind im Augenblick dafürverantwortlich, dass unsere Haushalte an dieser Stelleentlastet werden. Deswegen halte ich es für nicht ganzdaneben, etwas zurückzugeben.Wir schaffen mehr Stabilität für die Euro-Zone, abergerade auch für uns. Ich möchte noch einmal kurz diedeutsche Wirtschaft beleuchten. Ich glaube, es reichtnicht, wenn allein die Bundesregierung oder wir Parla-mentarier davon reden, was uns der Euro gebracht hat. Infrüheren Zeiten, bevor wir den Euro hatten, war es so,dass Abwertungen ständig unsere deutsche Wirtschaft,die exportorientiert aufgestellt ist, unter Druck gesetzthaben. Das bedeutet, über Nacht wurden unsere Pro-dukte um den Faktor der Abwertung teurer; damit wur-den unsere Chancen und unsere Wettbewerbsfähigkeitbeschränkt. Das ist nicht mehr der Fall. Deswegen wün-sche ich mir, dass gerade in den Unternehmen deutlicherkommuniziert wird, wie sehr jeder einzelne Arbeitsplatzdavon abhängt.Die Situation in Europa und in der Euro-Zone ist na-türlich nach wie vor schwierig. Ja, es ist auch wahr, dassder Weg, der vor uns liegt, steinig ist. Aber wir werdenihn gemeinsam gehen, weil wir nur gemeinsam von ei-nem geeinten Europa profitieren können.
Die jetzigen Entwicklungen können uns allesamt nichtegal sein. Es geht darum, Vertrauen herzustellen und zu-rückzugewinnen, Vertrauen zwischen uns in Europa,aber auch in Europa; denn genau daran wird aktuell starkgezweifelt.Herr Bundesminister Schäuble, es ist ein Erfolg derVerhandlungen, dass die Troika bestehen bleibt; denn somancher in der Welt fragt sich, was denn der IWF in Eu-ropa verloren hat, der normalerweise in ganz anderenTeilen dieser Welt agiert. Auch das ist ein Erfolg. Wirsollten ihn dadurch honorieren, dass wir dem heutigenAntrag zustimmen und damit ein gutes, vertrauensbil-dendes Signal nach Europa senden.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion Die Linke zu der Regie-
rungserklärung. Wer stimmt für den Entschließungsan-
trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/11706?
Ich bitte um Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthal-
tungen? – Der Entschließungsantrag ist gegen die Stim-
men der Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller übri-
gen Fraktionen abgelehnt.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag
des Bundesministeriums der Finanzen einschließlich der
Anlagen auf Drucksachen 17/11647, 17/11648, 17/11649
und 17/11669 mit dem Titel „Änderungen im bestehen-
den Anpassungsprogramm für Griechenland – Änderung
der Garantieschlüssel; Einholung eines zustimmenden
Beschlusses des Deutschen Bundestages“. Es ist na-
mentliche Abstimmung verlangt. Zu der Abstimmung
liegen zahlreiche Erklärungen nach § 31 unserer Ge-
schäftsordnung vor.1)
Haben die Schriftführerinnen und Schriftführer die
Plätze eingenommen? – Das ist der Fall. Ich eröffne die
Abstimmung und bitte, die Karten einzuwerfen.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgegeben hat? – Dann schließe ich
den Wahlgang. Ich bitte die Schriftführerinnen und
Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Er-
gebnis wird Ihnen nach der Auszählung bekannt gege-
ben.2)
Wir setzen die Abstimmung fort und kommen zu dem
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen zu dem Antrag des Bundesministeriums der Finan-
zen. Wer stimmt für den Entschließungsantrag auf
Drucksache 17/11731? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Damit ist der Entschließungsantrag abgelehnt mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion
Die Linke bei Enthaltung der SPD und Zustimmung der
Grünen.
Ich rufe Zusatzpunkt 11 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Dr. Edgar Franke, Christine Lambrecht, Bärbel
Bas, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
Korruption im Gesundheitswesen wirksam be-
kämpfen
– Drucksachen 17/3685, 17/9587 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Edgar Franke
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. Gibt es
Widerspruch dagegen? – Das scheint nicht der Fall zu
sein. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner das Wort dem Kollegen Heinz Lanfermann von der
FDP-Fraktion.
Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Meine Damenund Herren! Mit Ihrem Antrag zeichnen Sie uns hier einganz finsteres Bild eines Korruptionssumpfes, in dem1) Anlagen 2 bis 82) Ergebnis Seite 25591 C
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25990 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012
Heinz Lanfermann
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sich die gesamte Ärzteschaft die Taschen füllt, Abrech-nungsbetrug auf der Tagesordnung steht, Fangprämienund Schmiergeldzahlungen gang und gäbe sein sollenund damit lebensgefährliche Beeinträchtigungen der Pa-tienten wohlwissend in Kauf genommen werden.
Damit verunglimpfen Sie einen in der Bevölkerung äu-ßerst angesehenen Berufsstand, und das – das wird deut-lich, wenn man es sich genau anschaut – eigentlich alleinaufgrund von Vermutungen, unbewiesenen Schlussfol-gerungen und Pauschalierungen.
Was fehlt, ist, was man bei solch schwerem Geschütz er-warten sollte, eine konkrete Darstellung von Fakten,Entwicklungen, Zahlen, Statistiken etc. Im Grunde ge-nommen ist das alles absolut unseriös, was im Übrigengar nicht so schlecht zu Ihrer Gesamthaltung in der Ge-sundheitspolitik passt.
Darüber hinaus vermischen Sie völlig undifferenzierttatsächlich korrupte Handlungsweisen mit Streitfragenzwischen Krankenhäusern und Kassen, zum Beispielüber die richtige Abrechnungsmethode.
Sie scheinen kein Interesse daran zu haben, zu fragen, obein Tatbestand kompliziert ist, ob eine Berechnungssys-tematik vielleicht anfällig für Fehler ist oder ob es zu-mindest unterschiedliche Interpretationen gibt, über dieman einmal in Ruhe nachdenken und diskutieren sollte.Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD,dass eine seriöse gesundheitspolitische Debatte IhresAntrags wirklich nicht bedarf.
Zumindest ein Gefühl des Unbehagens, wenn nichtmehr, haben wir bei den Fraktionen der Grünen und derLinken bemerkt, die sich im Ausschuss bei der Abstim-mung über diesen Antrag enthalten haben.Gott sei Dank sieht die Realität in unserem Gesund-heitswesen völlig anders aus als von Ihnen beschrieben.Wir haben in Deutschland eines der besten Gesundheits-systeme in der ganzen Welt. Natürlich gibt es auch Kri-tikwürdiges. Aber das ist nicht die Regel, sondern dieAusnahme.
Um es Ihnen noch einmal zu erklären: Die Ausnahmenbestätigen die Regel, gerade weil es so wenige sind.
Trotz der begrenzten Mittel zur Finanzierung sind dieLeistungsfähigkeit, der Versorgungsumfang und dieQualität des Gesundheitssystems unverändert Spitzen-klasse. Das liegt vor allem daran, dass sich die Ärzte imbesten hippokratischen Sinne um das Wohl ihrer Patien-ten kümmern. Trotz mancher als Unbill empfundenerMaßnahmen oder schlecht organisierter Abläufe – sei esdie Honorardeckelung, seien es die Pauschalvergütungenoder entsprechende Arbeits- und Bürokratieaufwände inden Praxen oder in Krankenhäusern oder Probleme beiden Hausbesuchen – tun sie ihre Arbeit. Natürlich be-schweren sie sich auch einmal und sagen: Das könnteman alles besser machen. – Trotzdem tun sie ihre Arbeitauch in den Fällen, bei denen sie genau wissen, dass siefür diese konkrete Behandlung bei dem herrschendenSystem gar kein Honorar bekommen, sondern quasi um-sonst arbeiten.
Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Es gibt keineBerufsgruppe ohne schwarze Schafe.
Es geht auch nicht darum, irgendwelche Menschen oderGruppen pauschal zu verteidigen. Wir sind uns alle ei-nig: Missbrauch, Betrug und Korruption müssen in allenBereichen bekämpft werden; sie können nicht geduldetwerden.
Wir müssen aber auch sehen, dass es entgegen mancherBehauptung von Ihnen Instrumente gibt. Im Sozialrecht,im § 128 SGB V, gibt es Regelungen, die
empfindliche Maßnahmen bei Fehlverhalten vorsehen,es gibt das Berufsrecht der Ärzte, das natürlich Bestech-lichkeit verbietet. Bei Verstößen drohen – das wissen Sieganz genau – berufsrechtliche Konsequenzen bis hinzum Verlust der Approbation.
Natürlich gibt es menschliche Unzulänglichkeiten –überall. Natürlich gibt es auch Vollzugsdefizite. Das hatnoch nie irgendjemand bestritten. Es sind allerdingsauch Instrumente geschaffen worden. Zum Beispiel ha-ben – darüber haben wir im Gesundheitsausschuss vorkurzem im Rahmen eines Expertengesprächs diskutiert –die Kassen, ihr Spitzenverband und die Verbände derÄrzteschaft schon vor Jahren die Antikorruptionsstelleneingerichtet. Wenn Sie konkrete Vorschläge dazu haben,wie sie besser arbeiten könnten oder was man am Sys-tem verbessern kann, dann legen Sie diese bitte vor, statt– wie hier – wieder pauschale Verdächtigungen auszu-sprechen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012 25991
Heinz Lanfermann
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Die zweite große Forderung betrifft die behauptetenFalschabrechnungen in Krankenhäusern – ein beliebtesThema. Das fängt schon damit an, dass immer alle Zah-len nach dem Motto durcheinandergeworfen werden:Jede dritte Abrechnung ist falsch. – Ja, von den geprüf-ten Abrechnungen. Wenn man dann aber schaut, wieviele Abrechnungen überhaupt geprüft werden, dannwerden aus dem einen Drittel rund 4 bis 5 Prozent. Dasist schon etwas anderes, das sollten Sie auch so sagen.
Was heißt im Übrigen falsch? Was meinen Sie damit?Heißt falsch, dass das inkorrekt ist? Heißt falsch, dassdas Betrug ist? Oder ist es nicht so, dass es unterschiedli-che Auffassungen darüber geben kann, wie zum BeispielVorschriften auszulegen sind? Ist es nicht so, dass esauch sogenannte falsche Zahlen gibt, die auch deswegenangeblich falsch sind, weil dahinter unterschiedliche In-dikationen stehen: die eine, die der Arzt im Krankenhaustatsächlich gestellt hat, und die andere, die der Prüfer derKasse rückblickend für richtig hält?Das kann ich nicht entscheiden. Wenn Sie aber einenVorschlag für eine bessere Systematik haben, dann legenSie ihn vor. Natürlich sind in diesem Fall beide Seitenaufgerufen, selbst im besten Sinne der von uns hochge-schätzten Selbstverwaltung Vorschläge dahin gehend zumachen, wie man diese unterschiedlichen Betrachtungs-weisen in Einklang bringen kann.Meine Damen und Herren, einer Berufsgruppe pau-schal solche Neigungen zu unterstellen, wie Sie das tun,ist – ich wiederhole es – einfach unseriös.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Bevor ich die nächste Rednerin aufrufe, gebe ich Ih-nen das von den Schriftführerinnen und Schriftführernermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung zudem Anpassungsprogramm für Griechenland bekannt:abgegebene Stimmen 584. Mit Ja haben gestimmt 473,mit Nein haben gestimmt 100, Enthaltungen 11. Der An-trag ist angenommen.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 584;davonja: 473nein: 100enthalten: 11JaCDU/CSUIlse AignerPeter AltmaierPeter AumerDorothee BärThomas BareißNorbert BarthleGünter BaumannErnst-Reinhard Beck
Manfred Behrens
Dr. Christoph BergnerPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserDr. Maria BöhmerWolfgang Börnsen
Norbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexander DobrindtMarie-Luise DöttDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachDirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachDr. Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserErich G. FritzDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelIngo GädechensDr. Thomas GebhartNorbert GeisAlois GerigEberhard GiengerMichael GlosJosef GöppelPeter GötzDr. Wolfgang GötzerReinhard GrindelHermann GröheMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundMonika GrüttersOlav GuttingFlorian HahnDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilFrank HeinrichRudolf HenkeMichael HennrichAnsgar HevelingErnst HinskenPeter HintzeRobert HochbaumKarl HolmeierFranz-Josef HolzenkampJoachim HörsterAnette HübingerHubert HüppeThomas JarzombekDieter JasperDr. Franz Josef JungAndreas Jung
Dr. Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterAlois KarlBernhard Kaster
Volker KauderDr. Stefan KaufmannRoderich KiesewetterEckart von KlaedenVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenDr. Rolf KoschorrekHartmut KoschykThomas KossendeyMichael KretschmerGunther KrichbaumDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Hermann KuesGünter LachDr. Karl A. Lamers
Andreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeDr. Max LehmerDr. Ursula von der LeyenIngbert LiebingMatthias LietzPatricia LipsDr. Jan-Marco LuczakDaniela LudwigDr. Michael LutherKarin MaagDr. Thomas de MaizièreHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Dr. Michael MeisterDr. Angela MerkelMaria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergPhilipp MißfelderDietrich Monstadt
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25992 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Marlene MortlerDr. Gerd MüllerStefan Müller
Dr. Philipp MurmannBernd Neumann
Michaela NollDr. Georg NüßleinFranz ObermeierEduard OswaldHenning OtteDr. Michael PaulRita PawelskiUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferBeatrix PhilippRonald PofallaChristoph PolandRuprecht PolenzEckhard PolsThomas RachelDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergKatherina Reiche
Lothar RiebsamenJosef RiefKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckErwin RüddelAlbert Rupprecht
Anita Schäfer
Dr. Wolfgang SchäubleDr. Annette SchavanDr. Andreas ScheuerKarl SchiewerlingNorbert SchindlerTankred SchipanskiGeorg SchirmbeckChristian Schmidt
Patrick SchniederDr. Andreas SchockenhoffNadine Schön
Dr. Kristina Schröder
Dr. Ole SchröderBernhard Schulte-DrüggelteUwe Schummer
Detlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertJohannes SinghammerJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelErika SteinbachDieter StierGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerKarin StrenzThomas Strobl
Lena StrothmannMichael StübgenDr. Peter TauberAntje TillmannDr. Hans-Peter UhlVolkmar Vogel
Stefanie VogelsangAndrea Astrid VoßhoffMarco WanderwitzKai WegnerMarcus Weinberg
Peter Weiß
Sabine Weiss
Karl-Georg WellmannPeter WichtelAnnette Widmann-MauzElisabeth Winkelmeier-BeckerDagmar G. WöhrlDr. Matthias ZimmerWolfgang ZöllerWilli ZylajewSPDIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeinz-Joachim BarchmannDr. Hans-Peter BartelsSören BartolBärbel BasSabine Bätzing-LichtenthälerDirk BeckerUwe BeckmeyerLothar Binding
Gerd BollmannKlaus BrandnerWilli BraseUlla BurchardtMartin BurkertPetra CroneMartin DörmannElvira Drobinski-WeißIngo EgloffSiegmund EhrmannDr. h. c. Gernot ErlerPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerElke FernerGabriele FograscherDr. Edgar FrankeDagmar FreitagSigmar GabrielMichael GerdesMartin GersterIris GleickeGünter GloserUlrike GottschalckAngelika Graf
Kerstin GrieseGabriele GronebergMichael GroßHans-Joachim HackerBettina HagedornKlaus HagemannMichael Hartmann
Hubertus Heil
Wolfgang HellmichRolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogPetra Hinz
Frank Hofmann
Dr. Eva HöglJosip JuratovicOliver KaczmarekJohannes KahrsDr. h. c. Susanne KastnerUlrich KelberLars KlingbeilHans-Ulrich KloseDr. Bärbel KoflerDaniela Kolbe
Fritz Rudolf KörperAnette KrammeAngelika Krüger-LeißnerUte KumpfChristine LambrechtChristian Lange
Burkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerKirsten LühmannCaren MarksPetra Merkel
Ullrich MeßmerFranz MünteferingDr. Rolf MützenichAndrea NahlesDietmar NietanThomas OppermannAydan ÖzoğuzHeinz PaulaJohannes PflugJoachim PoßFlorian PronoldDr. Sascha RaabeMechthild RawertDr. Carola ReimannSönke RixRené RöspelKarin Roth
Michael Roth
Annette SawadeAxel Schäfer
Bernd ScheelenUlla Schmidt
Carsten Schneider
Swen Schulz
Frank SchwabeStefan SchwartzeRita Schwarzelühr-SutterDr. Carsten SielingSonja SteffenPeer SteinbrückDr. Frank-Walter SteinmeierChristoph SträsserKerstin TackFranz ThönnesWolfgang TiefenseeUte VogtAndrea WickleinHeidemarie Wieczorek-ZeulDr. Dieter WiefelspützUta ZapfDagmar ZieglerManfred ZöllmerFDPChristian AhrendtChristine Aschenberg-DugnusDaniel Bahr
Florian BernschneiderSebastian BlumenthalClaudia BögelKlaus BreilRainer BrüderleAngelika BrunkhorstErnst BurgbacherMarco BuschmannHelga DaubReiner DeutschmannBijan Djir-SaraiPatrick DöringMechthild DyckmansHans-Werner EhrenbergRainer ErdelJörg van EssenUlrike FlachOtto FrickeDr. Edmund Peter GeisenDr. Wolfgang GerhardtHans-Michael GoldmannHeinz GolombeckMiriam GrußDr. Christel Happach-KasanManuel HöferlinElke HoffBirgit HomburgerHeiner KampMichael KauchPascal KoberDr. Heinrich L. KolbGudrun KoppDr. h. c. Jürgen KoppelinSebastian KörberPatrick Kurth
Heinz LanfermannSibylle LaurischkSabine Leutheusser-SchnarrenbergerDr. Martin Lindner
Michael Link
Dr. Erwin LotterOliver LuksicHorst MeierhoferPatrick MeinhardtGabriele MolitorJan MückePetra Müller
Burkhardt Müller-SönksenDr. Martin Neumann
Dirk NiebelHans-Joachim Otto
Cornelia PieperGisela PiltzJörg von PolheimDr. Birgit ReinemundDr. Peter RöhlingerDr. Stefan RuppertBjörn SängerChristoph SchnurrJimmy Schulz
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012 25993
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(C)
(B)
Marina SchusterDr. Erik SchweickertJudith SkudelnyDr. Hermann Otto SolmsJoachim SpatzDr. Max StadlerDr. Rainer StinnerStephan ThomaeManfred TodtenhausenDr. Florian ToncarSerkan TörenJohannes Vogel
Dr. Daniel VolkDr. Guido WesterwelleDr. Claudia WintersteinDr. Volker WissingHartfrid Wolff
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKerstin AndreaeMarieluise Beck
Volker Beck
Cornelia BehmBirgitt BenderAgnes BruggerViola von Cramon-TaubadelEkin DeligözKatja DörnerHarald EbnerHans-Josef FellDr. Thomas GambkeKai GehringKatrin Göring-EckardtBritta HaßelmannBettina HerlitziusPriska Hinz
Dr. Anton HofreiterBärbel HöhnIngrid HönlingerThilo HoppeUwe KekeritzKatja KeulMemet KilicSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkUte KoczyTom KoenigsSylvia Kotting-UhlOliver KrischerAgnes KrumwiedeStephan KühnRenate KünastMarkus KurthUndine Kurth
Monika LazarDr. Tobias LindnerNicole MaischJerzy MontagKerstin Müller
Dr. Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffDr. Hermann E. OttLisa PausBrigitte PothmerTabea RößnerClaudia Roth
Krista SagerManuel SarrazinElisabeth ScharfenbergDr. Gerhard SchickDr. Frithjof SchmidtUlrich SchneiderDorothea SteinerDr. Wolfgang Strengmann-KuhnDr. Harald TerpeMarkus TresselJürgen TrittinDaniela WagnerBeate Walter-RosenheimerArfst Wagner
Wolfgang WielandDr. Valerie WilmsJosef Philip WinklerNeinCDU/CSUVeronika BellmannWolfgang BosbachThomas DörflingerAlexander FunkDr. Peter GauweilerManfred KolbePaul LehriederDr. Carsten LinnemannThomas SilberhornChristian Freiherr von StettenArnold VaatzKlaus-Peter WillschSPDKlaus BarthelMarco BülowWolfgang GunkelHilde MattheisDr. Wilhelm PriesmeierGerold ReichenbachDr. Ernst Dieter RossmannWerner Schieder
Ottmar SchreinerRüdiger VeitWaltraud Wolff
FDPJens AckermannNicole Bracht-BendtSylvia CanelJoachim Günther
Heinz-Peter HausteinDr. Lutz KnopekHolger KrestelLars LindemannFrank SchäfflerTorsten StaffeldtDIE LINKEJan van AkenAgnes AlpersDr. Dietmar BartschHerbert BehrensKarin BinderMatthias W. BirkwaldHeidrun BluhmSteffen BockhahnChristine BuchholzEva Bulling-SchröterDr. Martina BungeRoland ClausSevim DağdelenDr. Diether DehmHeidrun DittrichWerner DreibusDr. Dagmar EnkelmannNicole GohlkeDiana GolzeDr. Gregor GysiHeike HänselDr. Rosemarie HeinInge HögerDr. Barbara HöllAndrej HunkoUlla JelpkeDr. Lukrezia JochimsenKatja KippingHarald KochJan KorteJutta KrellmannKatrin KunertCaren LaySabine LeidigRalph LenkertUlla LötzerDr. Gesine LötzschThomas LutzeUlrich MaurerCornelia MöhringKornelia MöllerNiema MovassatWolfgang NeškovićThomas NordPetra PauJens PetermannRichard PitterleIngrid RemmersPaul Schäfer
Dr. Ilja SeifertKathrin Senger-SchäferRaju SharmaDr. Petra SitteKersten SteinkeSabine StüberAlexander SüßmairDr. Kirsten TackmannFrank TempelDr. Axel TroostKathrin VoglerJohanna VoßSahra WagenknechtHalina WawzyniakHarald WeinbergKatrin WernerJörn WunderlichSabine ZimmermannEnthaltenCDU/CSUChristian HirteSPDDoris BarnettDr. Peter DanckertGabriele Hiller-OhmSteffen-Claudio LemmeHolger OrtelStefan RebmannEwald SchurerRolf SchwanitzDr. Marlies VolkmerBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENHans-Christian StröbeleWir fahren in der Debatte fort. Als nächste Rednerinrufe ich Elke Ferner für die SPD-Fraktion ans Redner-pult.
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen!Herr Lanfermann, ich hätte wetten können, dass IhreRede so ausfällt, wie sie ausgefallen ist. Das entsprichtIhrer Klientelpolitik, die Sie in dieser Wahlperiode ge-macht haben.
Die Bekämpfung der Korruption im Gesundheitswe-sen ist längst überfällig. Die gesetzlichen Krankenkassenverlieren durch Korruption, Abrechnungsbetrug und fal-sche Abrechnungen Jahr für Jahr bis zu 18 Milliarden
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25994 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012
Elke Ferner
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Euro. Herr Lanfermann, diese Summe als Peanuts abzu-tun, ist mehr als fahrlässig.
Was tun Sie von Schwarz-Gelb dagegen? Nichts. Be-reits in der letzten Wahlperiode wollten wir etwas gegendie Korruption im Gesundheitswesen tun. Das ist leideran unserem Koalitionspartner CDU/CSU gescheitert.Dennoch finden wir, dass dies auch in dieser Wahl-periode ein Thema sein muss. 18 Milliarden Euro jähr-lich entsprechen 1,8 Beitragssatzpunkten oder – herun-tergerechnet auf den Krankenkassenbeitrag einesDurchschnittsverdieners oder einer Durchschnittsverdie-nerin – 24 Euro im Monat, die die Versicherten mehr be-zahlen als sie müssten, wenn man der Korruption im Ge-sundheitswesen wirklich den Kampf ansagen würde.Die Korruption im Gesundheitswesen führt also zueinem Schaden der Versichertengemeinschaft. DasSchlimmste aber ist, dass sie manchmal auch zu erhebli-chen Nachteilen für die betroffenen Patientinnen und Pa-tienten führt. Herr Lanfermann, es ist eine Form der Kör-perverletzung, wenn ein kranker Mensch nicht die nachmedizinischen Kriterien beste Therapie, sondern dieTherapie erhält, für die der behandelnde Arzt vom Phar-mahersteller das meiste Geld bekommt.
Die Korruptionsskandale im Gesundheitswesen sindleider keine Seltenheit, sondern sie gehören mittlerweilefast zur alltäglichen Berichterstattung in der Presse:Fangprämien für Krankenhauseinweisungen, Herzklap-penskandal und Ratiopharm-Affäre sind nur drei Bei-spiele von vielen. Sie wissen genauso gut wie wir, dassder BGH in seinem Urteil vom März dieses Jahres fest-gestellt hat, dass ein freiberuflicher Arzt wegen Bestech-lichkeit nicht strafrechtlich belangt werden kann, weil erweder ein Amtsträger noch ein Beauftragter der Kran-kenkassen ist. Das ist eine Gesetzeslücke, die wir als Ge-setzgeber schließen müssen. Wer das nicht will, der lässteben auch dauerhaft Korruption im Gesundheitswesenzu.
Sie sagen, dass es keine Beispiele gibt. Ich möchte Ih-nen daher ein paar Beispiele nennen.Erstes Beispiel. In Hamburg mussten aufgrund desBGH-Urteils zur Bestechlichkeit von Ärzten die Ermitt-lungen gegen ein Pharmaunternehmen eingestellt wer-den. Die Ermittlungsgruppe von acht Polizisten und ei-nem Steuerfahnder wurde aufgelöst. Die Ankläger hattendem Unternehmen vorgeworfen, Ärzte für die Verschrei-bung eines Krebsmedikaments bestochen zu haben. Ins-gesamt soll das Pharmaunternehmen seit 2006 rund120 Ärzte und 60 Apotheker mit einer monatlichenSumme zwischen 1 000 und 5 000 Euro bedacht haben,um so den Verkauf des eigenen Medikaments anzukur-beln. Der Marktvorteil, den sich das Unternehmen da-durch verschafft hat, soll im siebenstelligen Bereich lie-gen. Die Staatsanwaltschaft hätte diesen Betrag gerneeingezogen. Durch das BGH-Urteil war dies leider nichtmöglich – und Sie weigern sich, etwas an den Gesetzenzu ändern.
In Dresden – das ist das zweite Beispiel – musste einVerfahren wegen Bestechlichkeit eingestellt werden. Indiesem Verfahren ist bundesweit gegen mehr als 50 Krebs-ärzte ermittelt worden. Das Unternehmen soll Krebsärz-ten mehrere Hundert Euro pro Patient für die Bevorzu-gung seiner Produkte gezahlt haben. Laut Staatsanwaltlagen viele Beweismittel, viele Erkenntnisse über Zu-wendungen vor. In einem Fall gab es Zahlungen von biszu 500 000 Euro an einen einzigen Arzt. Wenn das keinSkandal ist, dann weiß ich nicht, was ein Skandal seinsoll.
– Wegen des BGH-Urteils, Herr Lanfermann, nicht weilsie keine Beweise hatten.
– Wegen der unvollständigen Rechtslage, die Sie durchIhre Untätigkeit zu verantworten haben.
Drittes Beispiel. Zwischen Januar und Oktober 2009hat eine Ärztin mehrere Tausend Rezepte auf Namen ih-rer Patienten ausgestellt, eine dritte Person ging damit zueiner Frankfurter Apotheke und ließ sich andere Medika-mente im Wert von rund zwei Drittel des Rezeptwertesaushändigen. Der Apotheker hat die Rezepte dann beider Krankenkasse vollumfänglich abgerechnet. Der Ge-winn wurde zwischen Ärztin und Apotheker geteilt. DerSchaden der Krankenkassen belief sich auf 2 MillionenEuro. All das wird nicht geahndet.
Wenn aber zum Beispiel ein Medikamentenabhängi-ger drei Rezepte fälscht, wird er wegen dieser drei Re-zeptfälschungen – ein Schaden von unter 200 Euro – zueiner Geldstrafe von 2 000 Euro verurteilt; denn das istBetrug. Niemand käme auf die Idee, Rezeptfälschungendurch Medikamentenabhängige zu legalisieren. Aber,liebe Kollegen und Kolleginnen von der FDP und derUnion, eine Rezeptfälschung bleibt eine Rezeptfäl-schung, egal ob sie ein Medikamentenabhängiger oderein Arzt begangen hat.
Das ist eine Zweiklassenjustiz. Deshalb müssen wir daetwas verändern.
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Elke Ferner
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In unserem Antrag steht, was genau wir wollen. Ers-tens. Wir brauchen eine ergänzende Regelung im Straf-gesetzbuch, um sicherzustellen, dass Korruptionshand-lungen Straftatbestände darstellen. Es kann nicht sein,dass sich ein angestellter Arzt, der sich von Pharma-unternehmen für die Verordnung bestimmter Arzneimit-tel schmieren lässt, strafbar macht, sein freiberuflich ar-beitender Kollege aber nicht.Zweitens. Wir brauchen gesetzliche Regelungen, umsystematischen Falschabrechnungen von Krankenhäu-sern ein Ende zu bereiten. Hierzu gehören wirkungsvolleSanktionen.Ich sage Ihnen eines: Wenn die maximale Strafe fürzu hohe Abrechnungen ist, nur das Honorar zu bekom-men, das man sowieso bekommen hätte, dann könnteman genauso gut sagen, dass jemand, der beim Schwarz-fahren erwischt wird, maximal den Fahrpreis nachzahlenmuss, oder dass jemand für das Vorzeigen der Fahrkarte1 Euro für den Aufwand bekommen sollte. Diese Rege-lungen gehen so nicht.
Frau Kollegin Ferner, der Kollege Henke würde Ih-
nen gerne eine Zwischenfrage stellen.
Gerne.
Bitte.
Frau Kollegin Ferner, ich würde gerne wissen, ob Ih-
nen bewusst ist, dass jemand, auf dessen Fehlverhalten
die zuständige kassenärztliche Vereinigung aufmerksam
gemacht wird und dem dieses nachgewiesen wird, durch
die Gesetzgebung der Koalition davon bedroht ist, seine
Zulassung und damit seine Existenzgrundlage zu verlie-
ren. Die Auswirkung besteht eben nicht nur darin, dass
er nur noch das Honorar bekommt, das ihm zustünde,
wenn er ehrlich agiert hätte, sondern darin, die komplette
Tätigkeit als Kassenarzt einstellen zu müssen. Ich will
nur wissen, ob Ihnen das bewusst ist. Sie haben ja den
Gesetzgebungsprozess im Zusammenhang mit dem Ver-
sorgungsstrukturgesetz genau verfolgt.
Herr Kollege Henke, erstens habe ich eben von Kran-
kenhäusern und nicht von niedergelassenen Ärzten ge-
sprochen.
– Herr Lanfermann,
dass maximal das vergütet wird, was sowieso hätte ver-
gütet werden müssen, war im Zusammenhang mit Kran-
kenhäusern. Das können Sie, wenn Sie es akustisch nicht
verstanden haben, im Protokoll nachlesen, wenn es dann
vorliegt.
Zweitens. Herr Henke, natürlich ist mir bekannt, dass
das Standesrecht Regelungen dazu vorsieht. Aber es ist
mir nicht bekannt, dass alle diejenigen, die Abrech-
nungsbetrug begangen haben, am Ende auch ihre Appro-
bation verloren haben. Wie viele haben denn ihre Appro-
bation für solche Vorgänge, über die wir hier diskutieren,
abgeben müssen?
Dazu können Sie in Ihrem Redebeitrag ja noch etwas sa-
gen. Auf alle Fälle ist mir persönlich davon nichts be-
kannt; im Gegenteil. Man sieht dann immer nur: Das
Verfahren wird eingestellt, es wird ein kleines Bußgeld
bezahlt, und dann läuft alles weiter wie bisher. Das ist
die Realität, Herr Kollege Henke.
Drittens. Wir brauchen qualifizierte Schwerpunkt-
staatsanwaltschaften und Ermittlungsgruppen bei der
Kriminalpolizei, damit solchen Korruptionsfällen ver-
nünftig begegnet werden kann.
Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn Sie nichts tun, ma-
chen Sie sich zum Handlanger derer, die im Gesund-
heitswesen mit sehr viel krimineller Energie agieren. Ich
kann Sie nur auffordern, liebe Kollegen und Kollegin-
nen, im Interesse der Versicherten, im Interesse der
Patientinnen und Patienten und vor allen Dingen im
Interesse derjenigen Leistungserbringer und Leistungs-
erbringerinnen, die sich korrekt verhalten – das ist die
überwiegende Mehrzahl; sie werden bei Abrechnungs-
betrug selber um ihren wohlverdienten Lohn gebracht –,
also im Interesse all derer jetzt endlich tätig zu werden.
Wenn Ihnen unser Antrag nicht gefällt, dann legen Sie
doch selber einen vor! Aber tun Sie endlich etwas, an-
statt hier nichts zu tun!
Für die CDU/CSU hat jetzt das Wort der Kollege Max
Straubinger.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! DieSPD malt wieder ein Zerrbild von den tatsächlichen Zu-ständen in unserem Gesundheitswesen.
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25996 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012
Max Straubinger
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– Nein, das liefern Sie mit Ihrem Antrag, indem Sienämlich all diejenigen, die Gesundheitsleistungen in un-serem Land erbringen – seien es Ärzte, Apotheker oderandere Beteiligte –, grundsätzlich als korrupt hinstellenwollen.
– Ja, natürlich.
Das ist ein völlig falscher Eindruck, den Sie bewusst mitder Schätzung einer Organisation erzeugen wollen, diemir persönlich nicht bekannt ist.
Meines Erachtens sollte man mit Schätzungen immersehr vorsichtig sein, zumal dann, wenn hier in keinsterWeise Differenzierungen vorgenommen werden.Sie werfen Korruption und mögliche Falschabrech-nungen in einen Topf. Vor allen Dingen Falschabrech-nungen muss man sehr differenziert betrachten. Ich warselbst einmal Mitglied im Verwaltungsrat unseres örtli-chen Krankenhauses. Natürlich gibt es immer wieder un-terschiedliche Sichtweisen in der Frage, ob die eine Ab-rechnung oder Codierung richtig oder falsch war. Daskann unter den einzelnen Ärzten bzw. Beteiligten auchstrittig sein. Das ist aber in keinster Weise gleichzuset-zen mit Korruption oder mit bewusstem Abkassieren inunserem Gesundheitswesen.
Das insinuieren Sie mit Ihrem Antrag, und dagegen weh-ren wir uns, werte Kolleginnen und Kollegen der SPD.
Es ist richtig, dass festgestellt worden ist, dass Ärztenicht Amtsträger sind und auch nicht der Bestechlichkeitgeziehen werden können. In all den Fällen, die Sie ge-nannt haben, gab es Ermittlungen von Staatsanwalt-schaften, die nicht zu Ende geführt worden sind,
aber nicht wegen der Rechtslage, sondern weil wahr-scheinlich die Vorwürfe so substanzlos waren.
Dies zeigt sehr deutlich, dass Sie hier mit Kanonen aufSpatzen schießen.Gleichwohl ist natürlich entscheidend und wichtig,dass ordentlich abgerechnet und korruptem Verhaltenentgegengewirkt wird. Ich bin überzeugt, dass wir einsolches Verhalten bereits nach der bestehenden Geset-zeslage ausreichend bekämpfen können
und auch bekämpft haben. Der Kollege Henke hat vor-hin dargestellt, dass, wenn strafbares, betrügerischesoder bewusst manipulatives Verhalten an den Tag gelegtwird, über das Standesrecht letztendlich sogar die Ap-probation entzogen werden kann, und das geschiehtauch.
Mir ist ein Fall bekannt, in dem einer Ärztin bei uns inNiederbayern die Approbation entzogen worden ist. Daszeigt sehr deutlich: Es gibt bereits gesetzliche Regelun-gen, die gewährleisten, dass man korruptem Verhalten,so es feststellbar ist, entgegenwirken kann.Was den Streit über die Abrechnungsmethoden be-trifft, gilt es in unserem Gesundheitswesen die richtigenGrundlagen zu schaffen. Die Regelungen, die man trifft,haben angesichts der Materie letztendlich natürlich im-mer auch mit subjektiven Eindrücken zu tun, etwa miteigenen medizinischen Kenntnissen oder der eigenenCodierfähigkeit. Es kann immer Streit darüber geben, oballes richtig dargelegt worden ist. Ein Beispiel für einensolchen Streit ist die Frage, ob ein stationärer Aufenthaltnotwendig war oder man eine Behandlung auch ambu-lant hätte durchführen können. Darüber kann man imNachhinein natürlich immer streiten, und die Situationkann man unterschiedlich bewerten. Aber das hat mitkorrupten oder strafbaren Handlungen nichts zu tun.
Wir lehnen Ihren Antrag, in dem Sie fordern, neueStraftatbestände zu schaffen, ab, weil es unserer Mei-nung nach derzeit ausreichende Regelungen gibt, imStrafrecht genauso wie im Standesrecht. Für uns ist nichtnachvollziehbar, warum neue Straftatbestände geschaf-fen werden sollten. Ich bin davon überzeugt, dadurchwürde man eher für noch größere Verunsicherung sorgen– das könnte unter Umständen sogar die medizinischeVersorgung der Bürgerinnen und Bürger beeinträchtigen –,als dass man etwas Positives bewirken würde.Was die Falschabrechnungen von Krankenhäusernangeht, gelten die bereits bestehenden Sanktionsmecha-nismen. Die Sanktionen sind massiv. Uns steht also einwirksames Instrumentarium zur Verfügung.In der Vergangenheit haben wir vorgeschlagen,Schwerpunktstaatsanwaltschaften zur Bekämpfung vonVermögensstraftaten und Korruption im Gesundheitswe-sen einzurichten. Im Bereich der Wirtschaftskriminalitätund der Korruptionsbekämpfung haben zahlreiche Län-der bereits solche Schwerpunktstaatsanwaltschaften ge-bildet. Auch in diesem Zusammenhang bin ich der Mei-nung, dass Sie manchen Dingen, die es bereits gibt,„hinterhereilen“.Sie schlagen die Umstrukturierung der Stellen zurFehlverhaltensbekämpfung in Profit-Center vor, um ne-gative Auswirkungen der Verwaltungskostenbudgetie-rung zu vermeiden. Dazu muss ich sagen: Trotz der
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012 25997
Max Straubinger
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Budgetierung der Verwaltungsausgaben konnten dieKrankenkassen in den Jahren 2011 und 2012 ihre Aktivi-täten zur Fehlverhaltensbekämpfung in unvermindertemUmfang fortsetzen; auch das muss festgestellt werden.Sie insinuieren in Ihrem Antrag, diese Aktivitäten seienob der Begrenzung der Verwaltungskosten nicht fortge-setzt worden. Das ist nicht der Fall.Ich glaube, dass die rechtlichen Regelungen, die wirgetroffen haben, ausreichend sind, um der Korruptionwirksam entgegenzutreten. Besteht der Verdacht aufFalschabrechnung, muss ihm immer nachgegangen wer-den. Man muss die Situation allerdings differenziertbetrachten; auch hierfür haben wir ausreichende Mög-lichkeiten geschaffen. Ihr Antrag ist eher ein Schaufens-terantrag; deshalb werden wir ihn ablehnen.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort die Kol-
legin Kathrin Vogler.
Vielen Dank, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Im Frühjahr hat der Bundesgerichtshof ent-schieden, dass die „Bestechung“ von niedergelassenenVertragsärztinnen und -ärzten durch die Pharmaindustrienach der jetzigen Gesetzeslage nicht strafbar sei.
Wohlgemerkt: nach der jetzigen Rechtslage. Aber dasbedeutet auf keinen Fall, dass das so bleiben muss.
Die Folge war, dass die Staatsanwaltschaften reihen-weise Ermittlungsverfahren gegen Ärzte und Pharma-vertreter einstellen mussten, und das zeigt ein bisschendie Dimension des Problems. Dieses Problem scheint beidieser Bundesregierung und der schwarz-gelben Koali-tion noch gar nicht angekommen zu sein.Ich habe hier eine Kleine Anfrage, die die KolleginUlrike Flach, die Parlamentarische Staatssekretärin beimBundesminister für Gesundheit, beantwortet hat. Daheißt es in der Vorbemerkung zum Beispiel, das BMG,also das Bundesministerium für Gesundheit, prüfe dieWirksamkeit der dargestellten berufs- und sozialrechtli-chen Vorschriften.
An weiterer Stelle heißt es, das BMG habe keine konkre-ten Erkenntnisse zur Anzahl von Zulassungsentziehun-gen, und auch das wolle es über eine Anfrage bei denLändern usw. prüfen.Seit dem Urteil sind inzwischen acht Monate undnach der Antwort auf diese Kleine Anfrage immerhin einVierteljahr ins Land gegangen. Ich frage mich: Wannkommen denn Ihre Prüfungen, wann kommen Ihre Ab-fragen endlich zu Erkenntnissen, die Sie auch zum Han-deln leiten könnten?
Aber Sie wollen an das Thema nicht heran. Sie mei-nen, die Regelungen im Sozial- und Standesrecht wür-den reichen. Sie reichen eben nicht. Wenn wir noch nichteinmal wissen, wie viele Ärzte und Ärztinnen ihre Ap-probation verlieren, dann zeigt das doch, dass wir hierganz dringend handeln müssen.
Denn wenn wir das nicht tun, kann dieser Zustandvon Ärzten und Pharmaindustrie geradezu als Freibrieffür diese unzulässige Zusammenarbeit gedeutet werden.Vor kurzem hat es eine Studie gegeben, in der vieleÄrzte und Ärztinnen und auch Pharmareferenten undHeilmittelerbringer befragt worden sind. Uns muss zudenken geben, was dabei herausgekommen ist. VieleÄrztinnen und Ärzte denken: Wenn das nicht strafbar ist,
dann ist es ja nur ein Kavaliersdelikt. Wenn wir damitSchluss machen wollen, dann brauchen wir dringendeindeutig schärfere Gesetze.
Deswegen danke ich den Kolleginnen und Kollegenvon der SPD auch ausdrücklich dafür, dass sie ihren An-trag „Korruption im Gesundheitswesen wirksam be-kämpfen“ heute hier zur Abstimmung stellen. Zu Rechtführen Sie aus, dass es eben nicht um Kleinkram geht,sondern dass der mögliche Schaden allein für die gesetz-liche Krankenversicherung zwischen 5 Milliarden und18 Milliarden Euro im Jahr liegt. Ihre Vorschläge gehenin die richtige Richtung, aber sie reichen uns leider nichtaus. Deswegen werden wir uns heute enthalten.Sinnvoll finde ich die Forderung, Korruption von nie-dergelassenen Ärzten als Straftatbestand aufzunehmen.Allerdings frage ich mich und frage auch Sie, warum Sieentsprechende Regelungen auf die Kassenärzte begren-zen wollen und warum Sie zum Beispiel die Zahnärzteaußen vor lassen.
Sie schreiben in Ihrem Antrag ganz richtig, dass esnicht nur um finanziellen Schaden geht, sondern dass esauch um das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Pa-tient geht und darum, dass ein Arzt, der sich in seinemVerordnungsverhalten durch finanzielle Vorteile steuernlässt, möglicherweise seinen Patienten nicht immer diebeste Therapie zur Verfügung stellt. Ich frage mich na-türlich: Sollen nicht auch Privatversicherte das gleicheRecht auf optimale Versorgung nach medizinischen Ge-sichtspunkten und nicht nach Profitkriterien erhalten?
Darum sollte die Forderung umfassender sein undsich nicht nur auf Kassenärzte beschränken; denn alle
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25998 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012
Kathrin Vogler
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Menschen haben ein Recht auf gute medizinische Ver-sorgung.
– Ja, das ist doch schön. Vielleicht können wir den ja zu-sammen einbringen.
Vergeblich habe ich auch danach gesucht, wie Sie diehauptsächlichen Nutznießer von Bestechung und Vor-teilsgewährung zur Rechenschaft ziehen wollen. Was istmit Klinikleitungen, die Ärzte für die Einweisung vonPatienten vergüten, also die sogenannten Fangprämienzahlen, oder was ist mit der Pharmaindustrie? Was sonstals Bestechung ist es, wenn Ärzte für die Verordnung be-stimmter Mittel – wie die Kollegin Ferner beschriebenhat – mit Geschenken, schönen Reisen, Fortbildungenoder gleich mit Cash entlohnt werden? Auch die soge-nannten Anwendungsbeobachtungen, bei denen es in derRegel nicht um wissenschaftliche Erkenntnisse, sondernum die Steuerung des Verschreibungsverhaltens geht,gehören meines Erachtens verboten.Es ist doch so: Tag für Tag stürmen 15 000 Pharma-referentinnen und Pharmareferenten die Praxen,
halten die Ärztinnen und Ärzte von ihren eigentlichenAufgaben ab und gaukeln ihnen vor, dass der 17. Lipid-senker viel besser sei als die anderen 16, obwohl die In-haltsstoffe eigentlich gleich sind. Da werden viele Mil-liarden Euro für Marketing ausgegeben, damit nochmehr Milliarden zulasten der gesetzlichen Krankenkas-sen ausgegeben werden. Und die Kranken, was habendie davon? Nichts. Deswegen müssen wir dagegen etwasunternehmen.
Ich finde es auch ein bisschen schade, dass Sie vonder SPD vergessen haben, die Ursachen für die zuneh-mende Korruption im Gesundheitswesen etwas näher zuanalysieren.
An etlichen Stellschrauben hat nicht zuletzt auch IhreFraktion gedreht. Denn Sie haben aktiv daran mitge-wirkt, das Gesundheitswesen von einem sozialen Siche-rungssystem zu einem Gesundheitsmarkt umzubauen.
Sie haben dazu beigetragen, dass manche Arztpraxis undmanches Krankenhaus heute eher ein medizinisches Wa-renhaus ist
und dass privates Profitstreben mehr und mehr Vorrangvor der Sorge um die Patienten erhält.
– Sie haben doch die Privatisierung der Krankenhäuserund die Konzentration in den großen Krankenhauskettenvorangetrieben.
– Davon wollen Sie heute nichts mehr wissen; glückli-cherweise haben Sie dazugelernt. – Sie haben auch dieindividuellen Gesundheitsleistungen zugelassen, die Sieheute scharf kritisieren.Sie preisen den ökonomischen Wettbewerb zwischenden Krankenkassen und zwischen den Leistungserbrin-gern. Jetzt haben Sie das, was Sie wollten: Sie haben ei-nen Markt, Sie haben Marktteilnehmer, die miteinanderkonkurrieren und ihre Geschäftsgeheimnisse gewahrt se-hen wollen, etwa wenn es etwa um Rabattverträge oderVersorgungsverträge geht. Im Interesse der Korruptions-bekämpfung wäre es doch sinnvoll, alle diese Verträgeauch offenzulegen, um alle finanziellen Abhängigkeitenerkennen und Korruption einfach den Boden entziehenzu können.
Mehr Transparenz und Sauberkeit brauchen wir auchin den Gremien, in denen wichtige Entscheidungen fürdas Gesundheitswesen getroffen werden. Diese Ent-scheidungen müssen unabhängig von Industrieinteressengetroffen werden, sie sollten nur nach fachlichen Ge-sichtspunkten getroffen werden. Ich erinnere da nur andie Interessenkonflikte in der Ständigen Impfkommis-sion, STIKO, und in der Weltgesundheitsorganisation.Es ist doch sehr anrüchig, wenn solche Gremien Be-schlüsse fassen, bestimmte Impfstoffe in gigantischemAusmaß anzuschaffen, während einige Mitglieder dieserGremien gleichzeitig oder wenig später auf der Gehalts-liste der Pharmaindustrie auftauchen. Wir brauchen mei-nes Erachtens auch hier Transparenz auf Euro und Centsowie eine Karenzzeit, bevor Entscheider in die Indus-trie wechseln dürfen.
Apropos Gehaltslisten: Die SPD hat diesen Antragwahrscheinlich nicht zufällig heute auf die Tagesord-nung gesetzt; eigentlich wollten Sie ja heute etwas ande-res diskutieren lassen. Wir haben am Montag im Focusgelesen, dass einige Kolleginnen und Kollegen aus demGesundheitsausschuss doch eine ganze Menge Nebentä-tigkeiten ausüben. Wenn wir uns hier einig sind, dass dietherapeutischen Entscheidungen von Ärztinnen und Ärz-ten nicht von finanziellen Zuwendungen der Industrieabhängig sein sollen, dann frage ich Sie jetzt – insbeson-dere in Richtung der Union –: Stimmen Sie mir dannauch zu, dass Gleiches für die Entscheidungen von Ge-sundheitspolitikerinnen und Gesundheitspolitikern gel-ten sollte, also dass Abgeordnetenverhalten nicht durchLobbygruppen und Geldflüsse beeinflusst werden darf?
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012 25999
Kathrin Vogler
(C)
(B)
Da möchte ich Sie jetzt fragen: Wie soll das gehen, wennjemand aus Nebenjobs fünf- oder gar sechsstellige Be-träge erhält,
wenn bei jemandem, wie zum Beispiel beim KollegenHenke, die Abgeordnetentätigkeit vom Einkommen hereher der Nebenjob ist?
Wenn man sich einmal die Vortragsliste des KollegenKoschorrek anschaut, stellt man fest: Sie liest sich wiedas Who is Who der Gesundheitswirtschaft.
Sie haben das alles veröffentlicht, wie es sich gehört,auch wenn wir nicht genau wissen, was sie denn für wel-chen Vortrag von wem bekommen haben.Jens Spahn hat mir in einem persönlichen Gesprächversichert, er habe durch seine frühere Teilhaberschaft ineiner Beratungsfirma keinen Interessenkonflikt gehabt.Ich glaube Ihnen, Herr Kollege, dass Sie davon selberüberzeugt sind; den anderen Kollegen glaube ich esauch.
Aber wenn, wie wir wissen, auch die allermeisten Ärzteglauben, Zuwendungen der Pharmaindustrie würden ihrVerhalten gegenüber dem Patienten nicht beeinflussen,dann müssen wir doch auch vor der eigenen Tür kehren.
– Ja, ja. Wenn das Verschreibungsverhalten nicht beein-flusst würde, würde sich die Industrie den Aufwanddoch sparen. Ich denke, sie würde sich auch den Auf-wand sparen, vierstellige Honorare für Vorträge zu zah-len, wenn sie sich nichts davon versprechen würden.
Wenn im Stadtrat meiner Heimatstadt Emsdetten überdie Schließung einer Grundschule entschieden wird, hatdie Ehefrau des Schulhausmeisters als Ratsfrau denRatssaal zu verlassen und darf sich nicht an der Abstim-mung beteiligen. Aber im Gesundheitsausschuss desBundestages stimmen der Ärzteverbandspräsident, derKlinikaufsichtsrat oder der Berater der Medizintechnik-branche über Gesetze ab, die Milliarden von Einnahmenoder Ausgaben für ihre Klientel, für ihre Mitglieder, fürihre Kunden bedeuten.
Das können Sie doch nicht wirklich ausblenden.
Vielleicht ist diese lange Reihe von Nebentätigkeitenfür Unternehmen und Lobbyverbände ein Grund dafür,warum sich Ihre Fraktionen so hartnäckig gegen stren-gere Transparenzregeln im Bundestag gewendet habenund warum Sie auch seit Jahren verhindern, dassDeutschland endlich die UN-Konvention gegen Korrup-tion ratifiziert.
Ich finde, dieses Haus sollte mit gutem Beispiel voran-gehen. Was wir von Ärzten erwarten, sollten auch wirAbgeordnete leisten. Lassen Sie uns gemeinsam die Be-stechlichkeit von Ärzten und Abgeordneten unterbindenund die UN-Konvention gegen Korruption endlich ratifi-zieren!Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Maria Klein-Schmeink von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-nen und Kollegen! Ich bin über den Verlauf der Diskus-sion ein bisschen ernüchtert, gerade vonseiten der Regie-rungskoalition. Denn Sie blenden den eigentlichenAufhänger aus dem SPD-Antrag, den wir heute hier hät-ten aufnehmen müssen, völlig aus, nämlich die Frage:Was machen wir, nachdem der BGH entschieden hat,Korruption und Bestechlichkeit bei niedergelassenenÄrzten sind mit Mitteln des Strafrechts nicht zu ahnden,mit dieser Regelungslücke?
Dazu haben Sie keinen einzigen Satz verloren, und dasnach der Diskussion, die wir gestern über Patienten-rechte geführt haben und in der wir über den Schutz desArzt- und Patientenverhältnisse sowie über das notwen-dige Vertrauen geredet haben. Vor diesem Hintergrundfinde ich das mehr als dürftig. Das sei an dieser Stelleganz klar gesagt.
Sie arbeiten sich an einem alten SPD-Antrag ab, derzugegebenermaßen nicht besonders gut ist.
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26000 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012
Maria Klein-Schmeink
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In ihm wird ein richtiges Thema angesprochen, abernicht zwischen Bestechlichkeit auf der einen Seite undAbrechnungsproblemen und Differenzen zwischenKrankenkassen und Krankenhäusern auf der anderenSeite unterschieden.
Das finde ich bedauerlich, weil das die notwendige Klar-heit, die wir hier brauchen, verunmöglicht.
Das ist der große Fehler an diesem Antrag. Trotzdem be-zeichnet er doch ein richtiges Problem, das jetzt in derWelt ist.
Das Problem ist in der Welt; seit Juni dieses Jahreswissen wir das. Aber Sie gehen auf diesen Tatbestandnicht ein. Das finde ich wirklich bedauerlich; denn esgeht doch darum: Wie können wir in der Öffentlichkeitden wichtigen Aspekt klarstellen – und wir als Gesetzge-ber müssen dafür Sorge tragen –, dass das Arzt-Patien-ten-Verhältnis eben nicht durch wirtschaftliche Interes-sen überformt werden darf? Das ist die große Aufgabe,die wir als Gesetzgeber haben.
Da reicht die Berufsordnung alleine nicht aus. Die Be-rufsordnung braucht im Hintergrund ein scharfesSchwert. Wenn Korruptionsregeln nicht als schärfstesSchwert im Hintergrund notwendig wären, gäbe es über-haupt keine in unserem Strafgesetzbuch.Ich finde es sehr bedauerlich, dass Sie nicht in derLage sind, auch nur ansatzweise darauf einzugehen, wasSie in Bezug auf diese Regelungslücke überhaupt tunwollen. Nichts sagen Sie dazu, und das finde ich dürftig.
Die Richter haben sehr eindeutig klargemacht, dass eseine Regelungslücke gibt
und dass sie mit den vorhandenen Mitteln des Strafrechtsnicht auf einen solchen Fall reagieren können, wie er davorgelegen hat.
Es ging immerhin um eine Zuwendung in Höhe von10 000 Euro. Das war ja nun nicht eine Petitesse, son-dern eine richtig große Summe. Dies war aber strafrecht-lich nicht zu ahnden.Jetzt kommen wir einmal zur Berufsordnung, dem In-strument, das dann gerne ins Feld geführt wird. Was fin-den wir sowohl in den Berufsordnungen der Ärztekam-mern in den Ländern als auch in der Berufsordnung derBundesärztekammer? Natürlich gibt es dort eine Rege-lung, die davon spricht, dass es nicht erlaubt ist, Zuwen-dungen anzunehmen. Das ist das eine. Aber wie ahndeich das, und wie setze ich die Berufsordnung um?Gucken Sie sich doch einmal die Berichte der ver-schiedenen Ärztekammern darüber an, wie sie mit demBerufsrecht umgegangen sind.
Dort wird gesagt: Wir können nur dann wirklich tätigwerden, wenn wir auch strafrechtliche Möglichkeiten imHintergrund haben. – Wenn man nicht ganz eindeutigeBelege hat, ist es nämlich nicht so einfach, eine Zulas-sung zu entziehen, weil man damit der betreffenden Per-son natürlich auch ihre wirtschaftliche Grundlage, ihreErwerbsmöglichkeit, entzieht. Eine solche Eindeutigkeitwird in der Regel durch das Strafrecht und die staats-anwaltschaftliche Ermittlung erreicht. Diese Regelungs-lücke haben Sie offengelassen. Hier tun Sie derzeitnichts, wie man jetzt ja sehen kann. – Das ist der einePunkt.Nächster Punkt. Welche Gemengelage entsteht jetztinsgesamt? Niedergelassene Ärzte können nicht belangtwerden, Ärzte, die im gleichen MVZ arbeiten, aber dortangestellt sind, können sehr wohl belangt werden. Kön-nen wir das als gerecht empfinden? Kann die Bevölke-rung so etwas als gerecht empfinden? Kann sie es alsgerecht empfinden, dass es im SGB V rechtliche Rege-lungen gibt, wonach andere Heilmittelerbringer in Re-gress genommen und mit einem Zulassungsentzug be-droht werden können? Ein Zulassungsentzug von zweiJahren und das Verbot, in dieser Zeit für die GKV tätigzu werden, ist dort für die „anderen Leistungserbringer“,aber nicht für die Ärzteschaft vorgesehen. Ist das ge-recht? Können Sie mir darstellen, inwiefern das Gerech-tigkeit herstellt? Ich meine, nein.
Nach all dem, was ich Ihnen hier jetzt aufgezeigthabe, sagen Sie: Wir werden nicht tätig. Das finde ich er-staunlich.
Wie müssten doch eigentlich in einem gestuften Verfah-ren vorgehen und auf der ersten Stufe zunächst schauen,was unsere Stellen gegen Fehlverhalten im Gesundheits-wesen besser als bisher machen können und welcheInstrumente sie im Hintergrund brauchen, um ihre Er-mittlungsmöglichkeiten auch tatsächlich umzusetzen.Jedoch Fehlanzeige bei Ihnen!Zweite Stufe: Wir müssen schauen, was wir in Bezugauf die Berufsordnungen machen können. Können wirhier nachschärfen? Ich höre nichts.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012 26001
Maria Klein-Schmeink
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Dritte Stufe. Wir müssen schauen, was wir im SGB Vmachen können. Warum stellen wir die Leistungserbrin-ger und die Ärzteschaft dort nicht gleich?Vierte Stufe. Wir müssen schauen, was wir beimStrafrecht machen können. Folgen wir vielleicht demVorschlag, den uns auch der GKV-Spitzenverband vor-gelegt hat, wonach für alle Leistungserbringer im Ge-sundheitswesen eine strafrechtliche Norm im SGB V alsbesondere Gesetzgebung vorgesehen werden sollte?Dieses Vorgehen könnte man verantworten und würdedem Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung und ins-besondere auch dem Schutz des Vertrauensverhältnisseszwischen Arzt und Patient gerecht werden. Insofernwürde ein wirklicher Patientenschutz erreicht werden.
Ich meine, das ist das Mindeste, das wir nach der Dis-kussion, die wir gestern über Patientenrechte geführt ha-ben, auf den Weg bringen müssen.Danke schön.
Das Wort hat die Kollegin Karin Maag von der CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja,es gibt ein BGH-Urteil, und erfreulicherweise wurde da-rin festgestellt, dass die niedergelassenen Ärzte wederAmtsträger noch Beauftragte der Krankenkassen sind.Das ist eine wichtige und zentrale Aussage, und das istgut und richtig so.
– Frau Klein-Schmeink, ich komme zu Ihnen.Wir wollen, dass sich die Leistungserbringer und dieKostenträger in diesem System auf Augenhöhe begeg-nen. Wir wollen vor allem, dass sie sich mit gegenseiti-gem Respekt begegnen. Deswegen brauchen wir dieniedergelassenen Ärzte als Freiberufler und als selbst-ständige Partner auch der Patienten und Versicherten indiesem System – als Partner mit Expertise. Vor allem– das ist mir ganz wichtig – brauchen wir sie als Vertrau-enspersonen. So werden sie nämlich von den Versicher-ten empfunden. Ich bin mir ganz sicher, liebe FrauFerner, dass sich die meisten Ärzte und auch alle ande-ren Leistungserbringer in diesem System als solche Ver-treter der Versicherten verstehen und dass sie ihre Pa-tienten gut durch dieses System begleiten wollen.
Ich bin mir genauso sicher, dass auch die Patientendas so sehen und sehen wollen. Für die Patienten istdoch ihr Arzt derjenige, der ihnen bei der Beantragungvon Rehamaßnahmen hilft oder mit dem sie ganz intimeGespräche führen.Ich glaube, wir alle tun uns keinen Gefallen – jetztwende ich mich an Sie, Frau Ferner –, wenn wir diesesSystem kaputtreden wollen und quasi einen Kreuzzug
gegen einen Berufsstand anfangen. So wird das Ganzeim Moment ja darstellt.
Ich bin mir sehr sicher, dass unser Gesundheitssystemnur dann funktioniert, wenn es von gegenseitigem Re-spekt und Vertrauen getragen wird:
gegenüber den Partnern und gegenüber den Patienten.Gestatten sie mir noch eine Anmerkung zu den Aus-einandersetzungen in der letzten Zeit zwischen Leis-tungserbringern und Kostenträgern. Wenn wir diesesVertrauen der Patienten und Versicherten erhalten wol-len, dann sollten sich auch die entsprechenden Selbstver-waltungspartner entsprechend verhalten.
Weil wir das Vertrauen brauchen und erhalten wollen,werden wir mit Augenmaß und einem sehr breiten An-satz auch schwarze Schafe kenntlich machen müssen. Ja,es gibt diese schwarzen Schafe. Das bestreitet keinMensch.
– Danke, Frau Ferner. – Diese schwarzen Schafe müssenwir aufspüren. Wir müssen einen Rahmen dafür vorge-ben, dass diese schwarzen Schafe der Gemeinschaft derVersicherten nicht weiter schaden können.Ich sage das, weil uns heute Gegenteiliges wiedervorgeworfen wurde, aber vor allem, weil uns das Ver-trauen der Patienten so wichtig ist: Wir haben in dieserLegislaturperiode schon einiges dafür getan, dass die Pa-tienten sicher sein können, dass dann, wenn es um ihreGesundheit geht, das Richtige und das Notwendige ver-ordnet wird.
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Karin Maag
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Dazu gehört selbstverständlich, dass die Zuweisunggegen Entgelt verboten ist. Das wird nicht nur in den Be-rufsordnungen geregelt. Mit dem GKV-Versorgungs-strukturgesetz haben wir das Verbot der Zuweisung ge-gen Entgelt für Vertragsärzte seit diesem Jahr im SGB Vsozialrechtlich verankert.
Wir haben im Bereich der Hilfsmittel die entspre-chenden Regeln
in § 128 SGB V verschärft. Vertragsärzte dürfen sichdeshalb nicht mehr an Gesellschaften von Gesundheits-handwerkern beteiligen.Die Anwendungsbeobachtungen, die kritisiert wur-den, müssen die pharmazeutischen Unternehmen schonheute nach § 67 AMG anmelden. Sicher kann man hierüber mehr Transparenz reden.
Reden wir von dem, liebe Frau Klein-Schmeink, wasim System noch möglich ist. Vor gut drei Wochen fanddazu ein Expertengespräch statt. Es ist nicht so, dass wiruns nicht kümmern. Hier wird immer der Eindruck er-weckt: Es gibt eine gute und eine schlechte Seite.
Ich glaube nicht, dass wir das, was im Expertengesprächherausgekommen ist, heute schon erörtert haben. Dabeiist herausgekommen, dass die Schwarz-Weiß-Sicht nichtweiterhilft.Einer der Experten war der Oberstaatsanwalt der Zen-tralstelle zur Bekämpfung von Vermögensstraftaten undKorruption im Gesundheitswesen bei der Generalstaats-anwaltschaft Frankfurt. Dieser Oberstaatsanwalt merkteausdrücklich an, dass ergebnisoffen zu prüfen sei, dassein Strukturwandel, wenn er denn notwendig ist, nur mitder Wirtschaft, mit den Unternehmen selbst erreicht wer-den könne, und zwar mit effizienten Lösungsansätzenaußerhalb des Strafrechts. Ich empfehle die Lektüre.Uns geht es, wie gesagt, um diesen breiten Ansatz.Ich habe die berufs- und sozialversicherungsrechtlichenVorschriften genannt. Natürlich müssen auch die KassenVerdachtsfälle melden, diesen konkret nachgehen unddann Konsequenzen ziehen. Ihnen stehen dazu seit 2004die Einheiten zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Ge-sundheitswesen zur Verfügung.Es wurde in dem genannten Expertengespräch daraufhingewiesen, dass Compliance ein wichtiges Thema ist.Rechtliche Schulung von Pharmareferenten und Verhal-tenskodizes, die sicher früherer falscher Vermarktungentgegensteuern, wurden im Expertengespräch aus-drücklich als probate Mittel benannt. Die an der NewYorker Börse gelisteten Pharmaunternehmen – nicht nurdie Pharmaunternehmen, aber auch sie – sind ohnehinden strengen US-Verhaltensregeln unterworfen. Dortmüssen wir uns den Input holen.
Ich bin durchaus auch für weitere Neuregelungen of-fen. Ich nehme diese Anregung auch aus der Experten-anhörung mit. Frau Pfeiffer hat zu Recht auf etwas hin-gewiesen, was uns zu denken geben muss, nämlich denfalschen Zungenschlag in der Berichterstattung in denMedien im dem Sinne, dass Korruption im Gesundheits-wesen nach dem BGH-Urteil erlaubt sei. Das ist ein ver-heerender Eindruck, der durch diese Berichterstattungentstand.
Das sind natürlich Dinge, die geeignet sind, das Ver-trauen der Patienten in dieses System zu erschüttern.Aber wenn wir jetzt bei den Experten bleiben, und da-ran halte ich mich, dann geht es um Maßnahmen wieOrdnungswidrigkeiten nach dem Heilmittelgesetz, dievorgeschlagen wurden, liebe Frau Klein-Schmeink, odernach dem GWB. Das seien die Dinge, die angemessenund sinnvoll seien. Das wird nicht von mir vorgeschla-gen, sondern vom genannten Oberstaatsanwalt. Ich binauch davon überzeugt, dass man die Kontrollen im Be-reich der Ordnungswidrigkeiten in Zusammenarbeit mitden Kammern effizient und effektiv ausgestalten muss.
– Frau Klein-Schmeink hat eine Frage. Ich würde sieauch zulassen.
Bitte schön, Frau Klein-Schmeink.
Frau Maag, Sie haben dankenswerterweise die Pro-
bleme durchaus wenigstens angesprochen. Ich möchte
Sie fragen, ob es nicht richtig wäre, dass man auf der ei-
nen Seite im SGB V entsprechend dem Umgang mit den
anderen Leistungserbringern Regelungen gegen uner-
laubte Zuwendungen schafft – das ist das eine – und auf
der anderen Seite für die Verfolgung und Ahndung solch
unerlaubter Zuwendung eine strafrechtliche Hürde ein-
führt, damit man sagen kann: „Das ist nicht erlaubt und
wird letztendlich auch geahndet“?
Frau Kollegin Klein-Schmeink, da will ich Ihnenauch aus der Expertenanhörung mit den Worten der FrauPfeiffer antworten.
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Karin Maag
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Die sagt tatsächlich – ich finde das auch differenziertund richtig –, dass es als Ultima Ratio durchaus möglichsein kann, wenn wir es anders nicht in den Griff bekom-men, dass wir uns strafrechtliche Sanktionen überlegenmüssen – Ultima Ratio! Ich hoffe, ich habe damit IhreFrage ausreichend beantwortet.
Ich will nun zum Ende kommen und wiederholen,dass wir mit diesem ruhigen und breiten Ansatz auf demrichtigen Weg sind. Für mich ist zentral wichtig, dass wirdarauf achten, dass dieses gute System weiterhin dasVertrauen der Patienten verdient. Wir setzen uns dafürein, dass sich die Leistungserbringer und die Kostenträ-ger mit Achtung und gegenseitigem Respekt begegnenund so die Basis für vertrauensvolle Zusammenarbeitschaffen, ohne die es gar nicht möglich ist, schwarzeSchafe zu definieren und dann auch zu bestrafen. Wirwerden dieses Expertengespräch in Ruhe auswerten unddann auch möglichen Handlungsbedarf definieren.Vielen Dank.
Für die SPD-Fraktion hat jetzt der Kollege Dr. Edgar
Franke das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Unser Antrag „Korruption im Gesundheitswe-sen wirksam bekämpfen“ ist jetzt genau zwei Jahre alt.Der Antrag ist aktueller denn je. Als wir den Antrag ein-gebracht haben, sagten einige, er sei überflüssig. HerrLanfermann hat es eben noch einmal bestätigt. Er hat ge-sagt, es gebe keine nennenswerte Korruption im Ge-sundheitswesen. Später wurde gesagt, der Antrag seiüberflüssig, da bald alle Rechtsfragen in einer höchst-richterlichen Entscheidung beschieden würden. FrauKlein-Schmeink hat jedenfalls ein bisschen in dieseRichtung argumentiert.Nun hat der BGH im März dieses Jahres entschieden,dass Schmiergeldzahlungen an niedergelassene Ärztestraflos sind. Der BGH hat in diesem Fall selbst nacheinjährigem Suchen keinen Paragrafen gegen die Kor-ruption im Gesundheitswesen gefunden. Der BGH sagtausdrücklich – man kann es nicht oft genug wiederho-len –, es sei Aufgabe des Gesetzgebers, „zu befinden, obdie Korruption im Gesundheitswesen strafwürdig ist unddurch Schaffung entsprechender Straftatbestände eineeffektive strafrechtliche Ahndung ermöglicht werdensoll …“.
Das heißt im Klartext – ich fasse es noch einmal zu-sammen –: Der BGH ist offenbar der Meinung, HerrLanfermann: Erstens. Es gibt Korruption im Gesund-heitswesen. Zweitens. Korruption im Gesundheitswesenist derzeit nicht strafwürdig. Drittens. Eine effektivestrafrechtliche Behandlung der Korruption im Gesund-heitswesen ist derzeit nicht möglich.Die BGH-Entscheidung, Herr Lanfermann, wird übri-gens von allen Fachleuten als Aufforderung an den Ge-setzgeber verstanden,
eine Gesetzeslücke zu schließen. Genau das fordert dieSPD in ihrem Antrag, meine sehr verehrten Damen undHerren.
Deswegen ist dieser Antrag alles andere als überflüssig.Es gibt für diese Regierung überhaupt keinen Grund, indem Fall nicht tätig zu werden.
Es ist niemandem zu erklären – das hat Frau Fernerschön dargelegt –, dass ein angestellter Arzt, wenn er ge-schmiert wird, strafrechtlich zur Verantwortung gezogenwerden kann, dass dagegen dem niedergelassenen Kolle-gen – vielleicht arbeitet er sogar im selben MVZ – garnichts passiert. Das versteht kein Mensch bei uns inDeutschland.
Ein freiberuflicher Arzt kann selbst dann nicht be-straft werden, wenn er beispielsweise im Bereich Onko-logie, also im Bereich der Krebsbehandlung, bei der esum Leben und Tod geht, Schmiergeld nimmt. Er kannselbst dann nicht bestraft werden, wenn er aufgrund vonSchmiergeldzahlungen Medikamente verschreibt, dievielleicht schlechter wirken und vielleicht sogar nochteurer sind. Auch das versteht kein Mensch in Deutsch-land.
Ich hatte Gelegenheit, mit dem stellvertretenden Ge-neralstaatsanwalt der USA, James Cole, ein persönlichesGespräch zu führen.
Er sagte, in den USA wäre auch ein solches Verhalten„absolutely illegal“. Ich glaube, was in den USA illegalist, muss auch in Deutschland illegal sein, meine sehrverehrten Damen und Herren!
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26004 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012
Dr. Edgar Franke
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Ich glaube, die Straflosigkeit eines solchen Verhaltenskann man wirklich niemandem erklären. Im Übrigenmuss man auch die volkswirtschaftlichen Schäden nen-nen, ganz zu schweigen von den Schäden für die Kran-kenkassen und damit für die Beitragszahler. Wir wissen:Ein Kassenarzt löst durch sein Tun vom Rezept bis zurKrankenhauseinweisung im Schnitt fünfmal so hoheKosten aus, wie er an Honoraren bekommt. Und: DieListe der Abhängigen ist lang. Dazu gehören der ortho-pädische Schuhmachermeister, der Augenoptiker, dasSanitätshaus und der Hörgeräteakustiker. Da fließt Geld,es werden Verordnungspauschalen gezahlt, und, was vielschlimmer ist, es fehlt vor allen Dingen bei den handeln-den Akteuren an Unrechtsbewusstsein.Zuweisungen gegen Entgelt hat auch die Bussmann-Studie der Uni Halle-Wittenberg ausdrücklich belegt.20 Prozent der Ärzte haben gesagt, Zuweisungen gegenEntgelt seien gängige Praxis. Auch das hat Frau ElkeFerner genannt.
Nun wird verschiedentlich angemerkt – auch heutewieder –, es gebe zwei Gründe, die dagegen sprächen:zum einen die standesrechtliche Berufsordnung derÄrzte und zum anderen die Regelungen im SGB V, diees in der Praxis angeblich verbieten, finanzielle Zuwen-dungen anzunehmen. Aber wie ist die Praxis? Im Ge-sundheitsausschuss haben wir erfahren: Es gibt ganz we-nige Verfahren im Rahmen der Berufsordnung. Zudemfolgen auf die Vorschriften des SGB V keine Sanktio-nen. Auch Verfahren gemäß der Berufsordnung folgenkeine Sanktionen,
jedenfalls gibt es in der alltäglichen Praxis keine Sank-tionen. Es gibt deswegen keine Sanktionen, weil zumBeispiel der Entzug der Approbation ein Grundrechts-eingriff ist. Wenn es keine staatsanwaltschaftlichen Ver-fahren gibt, dann gibt es auch keine Verfahren der Ärzte-kammer. Hier beißt sich nämlich die Katze in denSchwanz.
Auch deswegen brauchen wir eine rechtliche Grundlage,um hier Klarheit zu schaffen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, alle Patienten inDeutschland müssen sicher sein, dass bei Entscheidun-gen der Ärzte, etwa bei Verordnungsentscheidungen,keine monetären Gründe, sondern allein medizinischeGründe eine Rolle spielen. Auch deshalb muss die Poli-tik handeln.Es war hier schon davon die Rede, dass ein falscherZungenschlag aufkomme, und es wurde gesagt, FrauMaag, wir würden einen Kreuzzug gegen die Ärzte füh-ren. Ich glaube, das ist dummes Zeug. Wir brauchen undwollen keine Lex Ärzte. Wir wollen auch keine LexPharmaindustrie. Wir wollen unser Gesundheitswesenschützen. Das ist unser Ziel.
Wir wollen speziell die Effizienz unseres Gesundheits-wesens schützen. Deshalb brauchen wir eine Abschre-ckung gerade für diejenigen, die bewusst das Systemausnutzen. Wir brauchen eine Strafrechtsnorm für dasGesundheitswesen, die die Patienten, den fairen Wettbe-werb – er ist die Grundlage für die Effizienz –, die Leis-tungsträger und die Ärzte schützt.In der Debatte wurde sowohl von Herrn Lanfermannals auch von Frau Maag das Bild vom schwarzen Schafbenutzt. Man muss ganz klar sagen: Ein Arzt, der be-trügt, schädigt seine Kollegen.
Warum schädigt er seine Kollegen? Es gibt nämlich eineGesamtvergütung. Derjenige, der schummelt, schädigtdie ordentlich abrechnenden Ärzte. Deswegen ist einesolche Vorschrift im Interesse der Ärztinnen und Ärzte.
Wenn man jetzt nicht handelt, ist das kein Etappen-sieg der Freiberuflichkeit, wie es der eine oder andereVerband nennt, sondern vielmehr eine Legitimierung derKorruption im Gesundheitswesen. Deshalb fordern wirdie Bundesregierung auf, zu handeln. Unsere Vorschlägesind die richtige Antwort. Es ist kein Schaufensterantrag.Es ist ein Antrag, der dafür sorgt, dass wir unser gutes,effizientes Gesundheitswesen in Deutschland behalten.So wird ein Schuh daraus.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Erwin Lotter von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Franke,Ihr Antrag ist zwar schon zwei Jahre alt, aber er ist in derZwischenzeit auch nicht besser geworden. Der BGH hatdem Gesetzgeber nur aufgetragen, zu prüfen, ob erHandlungsbedarf sieht. Er hat nicht das Ergebnis vorge-geben.
Wir sind im Gegensatz zu Ihnen der Meinung, dass diebisherigen Rechtsgrundlagen einschließlich Berufsrechtdurchaus ausreichen. Ich will das, was Sie zuletzt sagten,aufgreifen: Wenn ein Arzt schummelt, also Abrech-nungsbetrug begeht,
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Dr. Erwin Lotter
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dann ist es jetzt schon möglich, das strafrechtlich zuwürdigen.Es ist erstaunlich, wie die Opposition, namentlich dieSPD, immer wieder versucht, bereits erledigte Themenzu exhumieren und in aller Ausführlichkeit noch einmaldurchzuprügeln. Langsam macht sich nicht nur bei mirÄrger darüber breit, dass sich die Sozialdemokratennicht den wirklich wichtigen Anliegen der Gesundheits-politik widmen. Stattdessen werden alte Kriegsbeilewieder aus dem Archiv geholt und Zank angezettelt,ohne dass hierfür ein erkennbarer Anlass besteht.Vor noch nicht einmal einem halben Jahr haben wirhier im Plenum im Rahmen einer Aktuellen Stunde aufAntrag der SPD diskutiert. In dieser Debatte wurde derÄrzteschaft im Wege des Generalverdachts durchaus un-terstellt, an allen Ecken und Enden der Korruption ver-fallen zu sein. Ein entsprechender Antrag wurde nichtnur im Gesundheitsausschuss abgelehnt. Am gleichenTag, dem 25. April, hat auch der Rechtsausschuss mehr-heitlich entschieden, diesen Antrag abzulehnen.
Seither gibt es keinen neuen Sachstand. Weder wur-den neue Zahlen vorgelegt, die die Unterstellungen derOpposition untermauern könnten, noch hat es ein neuesGerichtsurteil gegeben, auf das sich die SPD berufenkönnte.
Nichts dergleichen. Wieder sitzen wir hier und reiten eintotes Pferd.
Ich kann mir das nur dadurch erklären, dass sich dieSozialdemokraten die Ärzteschaft als Lieblingsgegnerauserkoren haben
und alles versuchen, um dieser ungeliebten Berufs-gruppe endlich etwas auf die Mütze zu geben. Allein,Ihre Behauptungen, meine Damen und Herren von derSPD, haben keine belastbare Basis.
– Frau Ferner, wenn Sie schon Zwischenrufe machen,dann machen Sie doch wenigstens intelligente. Daswürde die Debatte voranbringen.
Im Rechtsausschuss haben die Liberalen klargestellt,dass selbstverständlich korruptes Verhalten von Medizi-nern nicht geduldet werden kann. Erneut muss ich daraufverweisen, dass die ärztliche Berufsordnung dies auchkodifiziert hat. In § 31 der bundesweit gültigen Bestim-mungen ist geregelt:Ärztinnen und Ärzten ist es nicht gestattet, … fürdie Verordnung oder den Bezug von Arznei- oderHilfsmitteln … ein Entgelt oder andere Vorteile zufordern, sich … gewähren zu lassen.Auch wenn die Ärzte, wie der BGH eindeutig festge-stellt hat, keine Adressaten der Strafvorschriften wegenBestechlichkeit sind, ist die Berufsordnung hier eindeu-tig: Korruptes Verhalten bei Ärzten wird nach wie vorkonsequent verfolgt.
Dessen ungeachtet wirft die SPD zwei Sachen undif-ferenziert in einen Topf: Korruption und Falschabrech-nungen. Dass es gerade im Bereich der Krankenhäuserzuweilen zu falschen Abrechnungen kommt, ist unbe-stritten. Aber die Rechtsexperten der Opposition solltensich schon darüber klar sein, dass eine Strafverfolgungnur bei einer Vorsatztat in Betracht kommt, es sei denn,die Fahrlässigkeit ist schon eindeutig strafbewehrt, wassich aus § 15 StGB ergibt.Bei falschen Krankenhausabrechnungen muss diffe-renziert werden, ob diese systematisch fehlerhaft erfolg-ten und eine betrügerische Absicht dahinter steht. Ande-renfalls kann es sich auch um ein Versehen handeln. Ichräume gerne ein, dass es in diesem Bereich hier und daauch einmal zur Schlamperei kommen kann. Das liegtaber auch daran, dass es bei Abrechnungen häufig an ei-ner eindeutigen Systematik fehlt. Manchmal handelt essich um unterschiedliche Abrechnungsmöglichkeiten imRahmen der diagnosebezogenen Fallgruppen; da ist dasFehlerspektrum sehr breit.Möchten Sie, meine Damen und Herren von der SPD,bei Ihrem Ruf nach neuen Vorschriften vorschlagen,dass auch fahrlässige Falschabrechnungen zu sanktionie-ren seien? Fahrlässig handelt, wer objektiv seine Pflich-ten verletzt und dies nach seinen eigenen Kenntnissenvorhersehen und vermeiden konnte. Wer eine unkorrekteAbrechnung einreicht, muss dabei erkannt haben, dass ergegen seine Pflicht gegenüber der Krankenkasse ver-stößt. Versuchen Sie bitte einmal, sich in den Kranken-hausbetrieb mit seiner Unzahl von Vorgängen und Ab-rechnungen hineinzuversetzen. Die Ärzte leiden ohnehindank der Gesundheitspolitik der SPD unter der Last derBürokratie.
Es passt ins Ärztebild der SPD, wenn sie meint, dieMediziner für mögliche Fehler bei der Ausführung derBürokratie auch noch mit der Keule des Strafrechts be-drohen zu müssen. Aber wundern müssen wir Liberaleuns über diese Auffassung schon lange nicht mehr.
Auch wenn ich selber kein Jurist bin, so ist mir dochaus Gesprächen mit zahlreichen Kolleginnen und Kolle-gen der Grundsatz vertraut, dass bereits geregelte Sach-verhalte nicht nochmals geregelt werden müssen. Dieser
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Dr. Erwin Lotter
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Grundsatz hebelt die Forderung der SPD, neue Straf-rechtsvorschriften einzuführen, eindeutig aus. Das warvor einem halben Jahr so, und das ist heute nicht anders.Lassen Sie mich zum Abschluss eines deutlich sagen:Ich verwehre mich dagegen, dass die Liberalen aus-schließlich als Lobbyisten der Ärzteschaft dargestelltwerden,
die vor Problemen in ihren eigenen Reihen die Augenverschließen. Ich bin selber Arzt und kann Ihnen versi-chern, dass wir um ein faires und positives Bild unseresBerufsstandes bemüht sich. Das Wichtigste für uns sindeine gute, innovative Patientenversorgung und das nach-haltige Bemühungen um die Gesundheit der Bevölke-rung. Entscheidend hierfür ist ein Vertrauensverhältniszwischen dem Arzt und den Patienten.
Keineswegs fehlt es den Ärzten, wie die SPD unter-stellt, an einem Unrechtsbewusstsein gegenüber„schwarzen Schafen“ in ihren eigenen Reihen. Die gibtes, aber es gibt auch ein moralisches Selbstverständnisbei der übergroßen Mehrzahl der Ärzte, dass Fehlverhal-ten geahndet werden muss. Die Ärzte sind sicher keine„Halbgötter in Weiß“. Sie sind aber auch keine „Halb-teufel in Weiß“. Wenn die Opposition dies endlich zurKenntnis nehmen würde, wäre schon ein großer Schrittgetan, und die heutige Debatte hätte gar nicht erst statt-finden müssen.Vielen Dank.
Jetzt hat das Wort die Kollegin Dr. Carola Reimann
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Die Redebeiträge der Koalitionsfraktionen, die wirhier bislang zu hören bekamen, lassen eine klare Bot-schaft erkennen. Sie lautet: Von dieser Bundesregierungist in Sachen Korruptionsbekämpfung nichts zu erwar-ten.
Wir alle kennen die Fakten; sie wurden in unseremAntrag schon umfassend genannt. Bis zu 18 MilliardenEuro gehen den Versicherten jährlich durch Korruption,Abrechnungsbetrug und Falschabrechnungen verloren.Noch gravierender sind die gesundheitlichen Gefahrenfür die Patientinnen und Patienten, wenn nicht allein me-dizinische Gründe den Ausschlag für eine Behandlungs-entscheidung geben.Das ist für Sie ebenso wenig Anlass, gesetzgeberischaktiv zu werden, wie das Urteil und die bemerkenswer-ten, geradezu auffordernden Worte des BGH im Juni die-ses Jahres. Einige von Ihnen haben die Worte offensicht-lich nicht mehr so ganz im Ohr, deswegen zitiere ich:Es ist Aufgabe des Gesetzgebers,so das Gericht,… durch die Schaffung entsprechender Straftatbe-stände eine effektive strafrechtliche Ahndung zu er-möglichen.
Ich frage mich: Wie viele Alarmglocken müssen dennnoch läuten, damit Sie endlich aufwachen?Es ist nicht so – das ist ja auch angeklungen –, dasswir uns jetzt das erste Mal mit diesem Thema beschäfti-gen. Als Braunschweigerin kann ich mich noch gut andas Urteil des dortigen Oberlandesgerichts Anfang 2010erinnern. Schon damals ging es um Zuwendungen vonApothekern, Pharmaunternehmen und anderen Partnerndes Gesundheitswesens an niedergelassene Ärzte. Dieswar letztlich Auslöser für die Rechtsprechung des BGH.Das Urteil des BGH liegt seit mehr als einem halbenJahr vor. Es hat weitreichende Folgen, unter anderemdie, dass korruptes Verhalten von Kassenärzten nach gel-tendem Recht nicht strafbar ist. Dabei muss man sich dieRahmenbedingungen in unserem Gesundheitssystem vorAugen führen. Ärztinnen und Ärzte handeln in einemkomplexen Umfeld, mit teilweise schwer durchschauba-ren und intransparenten Abrechnungssystemen, einemUmfeld, in dem Milliarden Euro umgesetzt werden, indem aber auch Kostendruck herrscht. Der gesunde Men-schenverstand sagt uns doch, dass solche Rahmenbedin-gungen leider auch geeignet sind, einen Nährboden fürKorruption zu bieten.
Dabei sind Ärzte nicht anfälliger als andere Berufs-gruppen, aber eben auch nicht automatisch resistent.Deshalb ist der Dauervorwurf, hier würde ein ganzer Be-rufsstand unter Generalverdacht gestellt, genauso absurdwie das Gerede von einer Kultur des Misstrauens, daswir uns immer anhören müssen. Das sind alles Ablen-kungsmanöver.
Wer zu solchen Vorwürfen greift, dem sind in der Regeldie Argumente ausgegangen.
Wenig überzeugend ist auch Ihr Verweis auf berufs-rechtliche Regelungen. Ich würde es ja gut finden, wennes anders wäre, aber Sie wissen genau, dass diese Rege-lungen nicht wirksam sind und dass sie, Kollege Lotter,leider nicht zu einer konsequenten Strafverfolgung füh-ren. Es fehlen einfach die strafrechtlichen Sanktions-möglichkeiten.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012 26007
Dr. Carola Reimann
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Mir ist bis heute nicht bekannt, ob der Fall, der zumUrteil des Oberlandesgerichts Braunschweig und letzt-lich zur Rechtsprechung des BGH geführt hat, berufs-rechtliche Konsequenzen nach sich gezogen hat. Bei derAusschusssitzung im September haben wir im Rahmeneines Expertengesprächs danach gefragt. Der Vizepräsi-dent der Bundesärztekammer konnte die Frage zum da-maligen Zeitpunkt nicht beantworten. Auf eine schriftli-che Darstellung warten wir noch heute.
Wir brauchen eine strafrechtliche Sanktionsmöglich-keit, denn letztendlich sind Kassen und Ärztekammernimmer auch auf die Zusammenarbeit mit den Staatsan-waltschaften angewiesen; das sagen alle. Nur, wenn sichniedergelassene Ärzte bei korruptem Verhalten und Be-stechung gar nicht erst strafbar machen – also Korrup-tion gar nicht strafbar ist –, dann wird auch keine Staats-anwaltschaft tätig werden können.
Ohne Straftatbestand werden Sie diese Probleme nicht inden Griff bekommen.
Der Kollege Franke und die Kollegin Klein-Schmeink haben es auch schon angesprochen: Was fürangestellte Ärzte gilt, muss auch für niedergelasseneÄrzte gelten.
Tun Sie doch bitte nicht so, als ob die Freiberuflichkeitoder gar die Freiheit in Gefahr wäre, wenn korruptesVerhalten wirklich konsequent verfolgt wird. Das ist ge-nauso absurd wie die anderen Vorwürfe, die wir hier ge-hört haben.Wir hatten eine Aktuelle Stunde, das ist richtig, abernicht zu unserem Antrag, sondern zum BGH-Urteil.Minister Bahr hat in dieser Aktuellen Stunde vor gut ei-nem halben Jahr angekündigt, das Urteil des Bundesge-richtshofs auszuwerten, zu prüfen, welche Konsequen-zen aus diesem Urteil zu ziehen seien, und ebenfalls zuprüfen, wie die weiteren Anregungen des Bundesge-richtshofs umgesetzt werden könnten.
Der Minister hatte seinerzeit gesagt, dass die Konse-quenzen nicht schon ein paar Tage nach Erlass des Ur-teils gezogen werden könnten. Aber nun – der Ministerist leider nicht da – sind schon etliche Tage ins Land ge-zogen. Der Ausschuss hat sich mehrmals mit diesemThema befasst, im Zusammenhang mit unserem Antragnatürlich, aber auch in Expertengesprächen zum Urteildes BGH. Alle Fachleute waren sich da einig, dassHandlungsbedarf besteht. Und was hören wir aus demMinisterium? Nichts. Mit jedem Tag, der verstreicht,rückt die Bundestagswahl näher. Damit blüht der Kor-ruptionsbekämpfung das gleiche Schicksal wie der Ein-führung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs oderdem Härtefallfonds, nämlich: keine Lösung in dieser Le-gislaturperiode.
Kolleginnen und Kollegen, wer unseren Antrag „Kor-ruption im Gesundheitswesen wirksam bekämpfen“ ge-nau gelesen hat, der weiß, dass es eben nicht um einenGeneralverdacht geht. Es geht auch nicht um die Freibe-ruflichkeit der Ärzte, die Union, FDP und auch einigeÄrztefunktionäre sehr hoch halten
und vielleicht mehr lieben als mancher Arzt oder man-che Ärztin, die ich vor Ort treffe.Wir haben ein Ziel, und das ist der Schutz der Patien-tinnen und Patienten. Deshalb brauchen wir eine wirk-same Bekämpfung von Korruption und Fehlverhalten imGesundheitswesen, sodass die Patientinnen und Patien-ten sicher sein können, dass sie wirklich das bekommen,was medizinisch begründet ist. Deshalb bitte keine Aus-reden mehr, bitte keine Ablenkungsmanöver mehr!
Gehen Sie das Problem endlich an! Unser Antrag ist derrichtige Weg dahin.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dietrich Monstadt von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Meine Damen und Herren! Zum wiederholten Maldiskutieren wir heute den Antrag der SPD zur Korrup-tionsbekämpfung im Gesundheitswesen. Aber auch Wie-derholungen über zwei Jahre hinweg, meine Damen undHerren von der SPD, sind nicht geeignet, uns hier zuüberzeugen. Frau Kollegin Klein-Schmeink, ich bingerne bei Ihnen, wenn Sie den Antrag für nicht beson-ders gut halten.
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26008 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012
Dietrich Monstadt
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Meine Damen und Herren, ich bin nach wie vor derfesten Überzeugung: Weder der niedergelassene Arztnoch der Apotheker oder der Krankenhausdirektor inDeutschland steht morgens mit dem Vorsatz auf, sich wi-der besseres Wissen korrupt zu verhalten, Patienten unddem Gesundheitssystem bewusst zu schaden oder sichpersönliche Vorteile zu verschaffen.
Diese meine Überzeugung kann von Ihnen auch heute,in dieser Debatte, nicht erschüttert werden.Mit Ihrem Antrag, meine Damen und Herren von derSPD, stellen Sie die Ärzteschaft und das Gesundheits-system in Deutschland unter Generalverdacht.
Sie, Frau Kollegin Ferner und Frau Dr. Reimann, bildendie Spitze dieser Bewegung mit Ihren unqualifiziertenund undifferenzierten Behauptungen in Bezug auf Kor-ruptionstatbestände
und die angebliche Höhe der Fallzahlen. Sie zeichnendas nicht zutreffende Bild des gierigen Arztes. Damittreiben Sie einen Keil zwischen Arzt und Patient und ge-fährden das hier zu Recht bestehende Vertrauensverhält-nis.
Sie tragen die Verantwortung dafür, wenn durch derar-tige Forderungen die Beziehung zwischen Arzt und Pa-tient gefährdet wird.Meine Damen und Herren, Ärzte in Deutschland sindkeine raffgierigen Scharlatane, die den ganzen Tag damitbeschäftigt sind, sich die Taschen vollzumachen
und das Wohl ihrer Patienten aufs Spiel zu setzen.
Die Wirklichkeit sieht anders aus: Ärztinnen und Ärztesetzen sich umfassend, sieben Tage die Woche, bis zu24 Stunden am Tag, teilweise unter großer körperlicherund seelischer Belastung für ihre Patienten ein.
Meine Damen und Herren, wir haben uns bereits mitdem Antrag der SPD wie auch mit der BGH-Entschei-dung vom 22. Juni 2012 beschäftigt. Der BGH hat ent-schieden, dass niedergelassene Vertragsärzte in derWahrnehmung ihrer Aufgaben weder Amtsträger nochBeauftragte der Krankenkassen sind. Insoweit betrifftdieser Beschluss ausschließlich den strafrechtlichen Be-reich. Aber nach wie vor macht sich der Arzt, der demPatienten einen Gesundheitsschaden zufügt, der Körper-verletzung strafbar. Nach wie vor ist ein Verhalten desArztes, das zu einem Vermögensschaden etwa der Kran-kenkasse führt, als Untreue gemäß § 266 StGB strafbar.Der BGH-Beschluss hat daran nichts geändert. Bedeu-tung entfaltet der BGH-Beschluss nur dort, wo weder einGesundheitsschaden noch ein Vermögensschaden ein-tritt.Der BGH-Beschluss bedeutet aber nicht, dass rechts-freie Räume entstehen und etwa ein Pharmahersteller ei-nem Kassenarzt für die Verschreibung seiner ProdukteVorteile gewähren darf. Vielmehr ist die Faktenlage auchund gerade durch die BGH-Entscheidung gleich geblie-ben. Fehlverhalten kann und wird geahndet. So bestimmtetwa die ärztliche Berufsordnung in § 31 Abs. 1, dass esÄrztinnen und Ärzten nicht gestattet ist, für Patientenzu-weisungen oder Verordnungen… ein Entgelt oder andere Vorteile zu fordern, sichoder Dritten versprechen oder gewähren zu lassenoder selbst zu versprechen oder zu gewähren.Die Überwachung dieser Vorschrift der Berufsord-nung obliegt den Landesärztekammern. Bei Verstößenals Folge berufsunwürdigen Verhaltens kommen Maß-nahmen wie Geldbußen bis 50 000 Euro oder Entzug derApprobation in Betracht.Sozialrechtlich sind die Kassenärztlichen Vereinigun-gen durch § 81 a SGB V verpflichtet, Stellen zur Be-kämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen ein-zurichten. Sie haben dabei mit den Krankenkassen undihren Verbänden zusammenzuarbeiten. Diese Stellen in-formieren die Staatsanwaltschaft, wenn es einen An-fangsverdacht auf strafbare Handlungen gibt. Weiter gibtes die Regelung im Arzneimittelgesetz, die in § 67Abs. 6 die Anzeige jedweder Anwendungsbeobachtungvorschreibt. Sozialrechtliche Sanktionen ergeben sichaus § 128 SGB V; die Kollegin Maag hat auf diese Rege-lung bereits hingewiesen.Kassenärztliche Vereinigungen, Ärztekammern undKassen können auf wirksame und sinnvolle berufs- undsozialrechtliche Regelungen zurückgreifen. Anstatt nachneuen Straftatbeständen zu rufen, sollten wir alle zusam-men die konsequente Umsetzung der bereits existieren-den Regelungen fordern. Herr Kollege Dr. Franke, wennes keine Verfahren gibt, war die Beweislage offensicht-lich nicht ausreichend und konnten entsprechende Ver-fahren nicht durchgeführt werden. Auch das müssen Sieakzeptieren.Erlauben Sie mir, mich in der gebotenen Kürze mitdem SPD-Antrag im Einzelnen auseinanderzusetzen.Die SPD fordert, im StGB einen Sonderstraftatbestandzu schaffen. Dieser Punkt des Antrags ist – ich hatte dasbereits ausgeführt – überflüssig. Schon heute wird jedeKorruptionshandlung, auch durch Ärzte, strafrechtlichsanktioniert. Schon heute kann jedes Fehlverhalten ge-ahndet werden.
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Dietrich Monstadt
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Der SPD-Antrag fordert weiter, dass „systematischeFalschabrechnungen“ von Krankenhäusern mit spürba-ren Sanktionen geahndet werden. Falschabrechnungenim Krankenhaus kommen vor, und das ist nicht korrekt.Die Systematik, die von der SPD hier unterstellt wird, istallerdings nicht belegbar. Ich habe vor diesem HohenHaus schon einmal darauf hingewiesen: Es gibt keineamtliche Statistik über zu hohe Krankenhausabrechnun-gen. Prüfungen des MDK deuten aber darauf hin, dasscirca 4 Prozent aller Krankenhausabrechnungen Auffäl-ligkeiten aufweisen oder falsch sind. Die Prüfungen zei-gen auch, dass bei einigen Häusern Auffälligkeiten be-sonders gehäuft vorkamen. Es kann aber doch nicht sein,meine Damen und Herren von der SPD, dass Sie auf-grund des Handelns einiger schwarzer Schafe den Rufder Krankenhäuser ruinieren, indem Sie sie als systema-tische Falschabrechner bezeichnen. Im Übrigen kommenFalschabrechnungen sowohl zuungunsten der Kranken-kassen als auch zuungunsten der Krankenhäuser vor.
Die SPD fordert weiter die Einrichtung von Schwer-punktstaatsanwaltschaften bzw. Verwaltungseinheitenmit sozialrechtlichem Spezialwissen. Bemerkenswert istzuallererst, dass Sie damit allen Staatsanwälten der zu-ständigen Behörden unterstellen, sie würden die ständigeRechtsprechung des Bundessozialgerichts und des BGHin Strafsachen nicht kennen. Ich habe bereits in der letz-ten Debatte darauf hingewiesen, dass Sie zuerst vor Ihrereigenen Tür kehren sollten. Niemand wird Sie hindern,in den von Ihnen geführten Bundesländern schnell undumfassend tätig zu werden und entsprechende Behördeneinzurichten.
Justizverwaltung ist Ländersache. Der Bund kann unddarf hier nicht tätig werden.Weiterhin verlangt die SPD in ihrem Antrag die Ein-führung eines besonderen, auf sozialversicherungsrecht-liche Sachverhalte abzielenden Straftatbestands. Dies istebenfalls überflüssig, das StGB ist auch in diesen Fällenausreichend.Als letzten Punkt schlägt die SPD die Errichtung vonStellen zur Fehlverhaltensbekämpfung bei den Kranken-kassen ergänzend zu den Verpflichtungen der Kassen-ärztlichen Vereinigungen vor. Dieser Ansatz, Fehlverhal-ten gebündelt zu bekämpfen, ist sicher sinnvoll unddamit das einzig Gehaltvolle des gesamten Antrags. Dieweitere Ausgestaltung dieser Stellen sowie ihre genauefinanzielle Ausstattung sollten wir gemeinsam weiter imBlick behalten.Zusammenfassend bleibt festzuhalten: Das Urteil desGroßen Senats des BGH vom 22. Juni 2012 hat bestätigt:Niedergelassene Ärzte in Deutschland sind Freiberufler,und deshalb ist die Beeinflussung des Verordnungsver-haltens von niedergelassenen Vertragsärzten durch dieIndustrie nach StGB nicht strafbar. Als Freiberufler ver-bietet ihnen ihre Berufsordnung solches Verhalten je-doch ausdrücklich. Ärzte sollen nach medizinischen Kri-terien entscheiden, nicht nach finanziellen Interessen derKrankenkassen oder anderer Beteiligter im Gesundheits-wesen. Deshalb ist es richtig und wichtig, dass der Arztin diesem Land Freiberufler ist. Er ist nicht Angestellteroder Beauftragter einer Krankenkasse.Bei den Ärzten eine Spezialregelung einzuführen undeinen Sonderstraftatbestand im StGB zu schaffen, istnicht nur überflüssig, sondern stellt Ärzte in Deutsch-land unter Generalverdacht. Das ist nicht die Politik die-ser christlich-liberalen Koalition. Ich halte es da gernemit Herrn Lanfermann: Wo keine Lücke ist, werden wirauch nicht tätig.
Ich bitte Sie, der Beschlussempfehlung des Gesund-heitsausschusses zu folgen und den Antrag der SPD ab-zulehnen.Herzlichen Dank.
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat jetzt das Wort die Kollegin Maria Michalk für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lassen Sie mich am Ende dieser Debatte und zu Beginnmeiner Rede etwas Grundsätzliches sagen: Es geht beidieser Debatte um Vertrauen.
Darüber sind wir uns doch einig. Das Vertrauen ist einganz wichtiger Kapitalstock. Das gilt grundsätzlich, abererst recht im Gesundheitswesen und vor allem im soge-nannten Arzt-Patienten-Verhältnis.
Wer kein Vertrauen in Menschen, in Organisationenoder in Systeme hat, das heißt, sich überhaupt nicht mehrauf das Verhalten anderer verlässt oder verlassen will,der muss in unserer komplexen Welt eigentlich verrücktwerden. In jeder Sekunde unseres Lebens verlassen wiruns darauf, dass ein anderer etwas richtig macht. Sonstwäre die Gestaltung unseres Lebens noch viel schwieri-ger. Und selbstverständlich sind wir Menschen ent-täuscht, wenn man unser Vertrauen nicht rechtfertigt undwir auf das falsche Pferd gesetzt haben. Diese grundsätz-liche Feststellung möchte ich einfach einmal an den An-fang meiner Rede stellen.In dieser Debatte über den Antrag der SPD ist mehr-fach gesagt worden, wie falsch es ist, Korruption, Ab-rechnungsbetrug und Falschabrechnungen in einen Topf
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26010 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012
Maria Michalk
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zu werfen. Vertrauen hat etwas mit Erwartungen zu tun.Erwartungen kann man in zwei Kategorien einteilen: Esgibt Erwartungen, die zwar erfüllbar sind, die aber durchFehlverhalten enttäuscht werden. Dazu zähle ich zumBeispiel den bewussten Abrechnungsbetrug, den es inunserem Land tatsächlich gibt. Es gibt aber auch Erwar-tungen, die gar nicht erfüllt werden können. Dazu zähleich die Erwartung, dass Menschen keine Fehler machen.Ich denke hier zum Beispiel an die Falschabrechnung.Oder will hier jemand behaupten, dass wir Menschengrundsätzlich fehlerfrei sind und immer alles richtig ma-chen? Der Unterschied ist, dass bei einem Abrechnungs-betrug von Anfang an nicht die Bereitschaft besteht, dieErwartung zu erfüllen und Fehler zu vermeiden. Dasmuss man natürlich als verwerflich empfinden.Der Begriff der Korruption wurde hier mehrfach defi-niert. Korruption ist aufs Schärfste zu verurteilen; auchdarüber sind wir uns einig.
Leider müssen wir immer wieder feststellen, dass esauch in unserem Land diese kriminelle Energie gibt. DieFrage ist, wie viel von diesem Gift unser Land ertragenkann. Wie lange will man warten? So lange, bis diesesGift dem Allgemeinwohl so schadet, dass der Schadennicht mehr zu verkraften ist? An diesem Punkt sind wirnun angelangt.Wir haben viele Maßnahmen eingeleitet; sie wurdenschon genannt. Ich will sie zum Schluss kurz zusammen-fassend nennen: Mit den §§ 197 a SGB V und 47 aSGB XI ist eine Rechtsgrundlage geschaffen worden,um die verschiedenen Formen von Fehlverhalten im Ge-sundheitswesen effektiver ahnden bzw. vermeiden zukönnen. Ob bei den gesetzlichen Krankenkassen, denPflegekassen, ihren Verbänden oder dem GKV-Spitzen-verband – überall wurden Stellen zur Bekämpfung vonFehlverhalten im Gesundheitswesen eingerichtet.
Frau Kollegin Michalk, die Frau Kollegin Klein-
Schmeink würde Ihnen gerne eine Frage stellen.
Bitte schön.
Bitte schön.
Da Sie so deutlich darauf hinweisen, dass Sie Maß-
nahmen ergriffen haben: Können Sie mir vielleicht sa-
gen, ob auch die Ärzteschaft in den Geltungsbereich des
entsprechenden Paragrafen im SGB V, der Zuwendun-
gen untersagt, einbezogen ist?
Liebe Kollegin, Sie wissen, dass wir unterschiedlicheArbeitsverhältnisse und unterschiedliche Anstellungs-verhältnisse haben. Darauf sind meine Kollegen, vorallen Dingen Herr Monstadt, eingegangen. Deshalb müs-sen wir in diesem Bereich mit unterschiedlichen Instru-menten arbeiten. Fakt ist aber, dass es in unserem Landgenügend Möglichkeiten gibt, Fehlverhalten zu ahndenund kriminelle Energie abzustrafen. Ich werde dazugleich noch zwei Punkte nennen.
Ich komme noch einmal auf die Prüfstellen zurück.Sie wissen, wir haben uns im Gesundheitsausschussmehrfach mit ihrer Arbeitsweise auseinandergesetzt. DieListe der Fehlverhalten liest sich tatsächlich wie einKrimi. Als normal denkender Mensch stellt man sich im-mer wieder die Frage, wie einfältig oder wie raffiniertder eine oder andere gewissenlose Zeitgenosse in unse-rer Gesellschaft ist, um seine eigenen Interessen durch-zusetzen. Darin sind wir uns doch einig.Ein Unrechtsbewusstsein zu haben, hat etwas mit Ge-wissen zu tun. Bei dem einen schlägt das Gewissen wieeine große, in sich ruhende Uhr; da funktioniert das Ge-wissen. Leider gibt es in unserer Mitte Zeitgenossen, beidenen das Gewissen nur leise tickt. Bei ihnen meintman: Die Uhr steht still. Diese Menschen haben kein Ge-wissen. Auch darum geht es.Ich will ein Beispiel nennen: Es ist sicherlich ein ris-kantes Geltungsbedürfnis, wenn ein junger Mann seinenDoktortitel erschwindelt. Er wurde dann, unbemerkt vonallen Beteiligten im System, als Falschdoktor eingestelltund hat längere Zeit in der Psychiatrie gearbeitet. Das isttatsächlich geschehen. Aber am Ende wurde er bestraft.Ein zweites Beispiel: Es steckt sicherlich unfassbareHabgier dahinter, wenn die Ehefrau eines niedergelasse-nen Arztes bereits unterzeichnete Rezepte von ihrem ei-genen Ehemann aus der Praxis stiehlt und jahrelang mitihrer Apothekerfreundin Medikamente abrechnet, dienie verordnet und verkauft wurden. Sie wurden aber ab-gerechnet; anschließend wurde der Gewinn geteilt. Auchdas ist geschehen; es ist ein Schaden entstanden. Aberunsere Instrumente haben bewirkt, dass beide bestraftwurden.Betrug ist in unserem Land strafbar, und auch wenndie Mühlen unseres Rechtsstaats gelegentlich sehr, sehrlangsam mahlen – das will ich durchaus eingestehen –,so steht am Ende doch die Gerechtigkeit. In beiden Fäl-len gab es eine Verurteilung.Abgesehen von dem konkreten Schaden für unser Ge-meinwesen ist nicht zu ermessen, wie groß die menschli-che Enttäuschung und Verletzungen sind, die – so glaubeich – bei den Betroffenen und bei den Mitbetroffenen nieheilen.Jede Bürgerin und jeder Bürger unseres Landes kannsich mit einem konkreten Verdacht oder einem glaubhaf-ten Hinweis auf Fehlverhalten im Gesundheitswesen andie zuständigen Kranken- und Pflegekassen, an die Ver-bände oder an den GKV-Spitzenverband wenden. Es
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Maria Michalk
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sind sogar Hinweisgeberformulare entwickelt worden,um einerseits effizient den Hinweisen nachgehen zukönnen und andererseits Vertraulichkeit zu wahren; dennnicht jeder Verdacht hat sich bestätigt.Fassen wir zusammen: Wenn Leistungserbringer trotzAufklärung öffentlich und weniger öffentlich bekanntge-wordener Fehlverhalten und trotz des dazu ausgespro-chenen Strafmaßes immer wieder versuchen, sich per-sönliche oder institutionelle Vorteile zu verschaffen,dann gehört das an den Pranger. Noch einmal: Hier sindwir uns einig.Wir dürfen aber um Gottes willen nicht alle und allesin einen Topf werfen. Es ist auch unsere politische Auf-gabe, immer wieder für die Anerkennung der Leistungs-erbringer zu werben, die in unserem GesundheitswesenTag und Nacht fachliche Hochleistungen erbringen undeinen uneingeschränkten Einsatz leisten. Neben ihremGehalt verdienen sie unsere Anerkennung
Die Anhörung zu diesem Antrag hat deutlich ge-macht, dass die bestehenden sozialrechtlichen Regelun-gen zu Fehlverhalten wie etwa die Möglichkeit zum Ent-zug der Zulassung mindestens so wirksam sind wie dieDebatte über neue Straftatbestände. Wettbewerbsrechtli-che, sozialrechtliche oder berufsrechtliche Abmahnver-fahren und die damit verbundenen Strafen wirken. Siewerden von wirklich Kriminellen aber leider manchmalals bedeutungslos erachtet. Sie tun es trotzdem nach demMotto: Man wird mich schon nicht erwischen.Daher erinnere ich an die differenzierte Betrachtung,die in einer alten Volksweisheit sehr gut ausgedrücktwird und die uns mahnt, nicht alles in einen Topf zu wer-fen und die Dinge differenziert zu betrachten. Sie lautet:Nicht sehr groß ist meist die Kluft zwischen Teufelskerlund Schuft.
Wir haben in unserem Gesundheitswesen Teufelskerle,die ihr ganzes Können dafür einsetzen, dass das Lebenvon Menschen gerettet wird und dass Menschen geheiltwerden.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich denke,die Debatte hat gezeigt: Die Regelungen sind vorhanden.Sie müssen angewendet werden. Deshalb ist es richtig,dass der Gesundheitsausschuss empfohlen hat, den An-trag der SPD abzulehnen. Wir als Union werden es tun.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Maria Michalk.
Wir haben keine weiteren Wortmeldungen zu diesem
Tagesordnungspunkt, sodass ich die Aussprache schlie-
ßen darf.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zu
dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Kor-
ruption im Gesundheitswesen wirksam bekämpfen“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/9587, den Antrag der Fraktion der So-
zialdemokraten auf Drucksache 17/3685 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind
die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! – Das ist die
Fraktion der Sozialdemokraten. Enthaltungen? – Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Die Be-
schlussempfehlung ist angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind beim Ta-
gesordnungspunkt 45:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vermei-
dung von Gefahren und Missbräuchen im
– Drucksache 17/11631 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Die Geschäftsfüh-
rer haben diese Zeit vereinbart. Sie sind damit auch alle
einverstanden? – Dann ist das so beschlossen.
Ich kann die Aussprache eröffnen. Als Erster in unse-
rer einstündigen Aussprache hat das Wort unser Kollege
und Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministe-
rium der Finanzen Hartmut Koschyk. Bitte schön, Kol-
lege Hartmut Koschyk für die Bundesregierung.
H
Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Meine Kollegin-nen und Kollegen! Unser Parlament hat heute mit derZustimmung zur Freigabe der nächsten Tranchen fürGriechenland ein ganz wichtiges Signal für die Stabili-sierung der Euro-Zone gesetzt. Mit dieser Plenardebattemarkieren wir einen wichtigen Meilenstein des Master-plans der Bundesregierung, von CDU/CSU und FDP beider Regulierung der Finanzmärkte.
Ich möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich beiden Finanzpolitikern von CDU/CSU und FDP dafür be-danken, dass sie bei vielen dieser Gesetzesvorhaben einewirkliche Schrittmacherfunktion haben, dass sie in ei-nem guten Ringen mit unserem Haus auf zusätzliche undschnellere Initiativen drängen. Das ist gut und wichtig.Für diese Zusammenarbeit möchte ich mich zu Beginnder Beratung dieses wichtigen Gesetzentwurfes aus-drücklich bei den Kollegen bedanken.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf schreitet dieBundesregierung abermals in Europa voran und leisteteinen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung der Finanz-
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Parl. Staatssekretär Hartmut Koschyk
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märkte. Wir haben dies beim Verbot von Leerverkäufenbereits getan. Wir haben dies bei unserem Gesetzentwurffür die Bankenrestrukturierung inklusive Bankenabgabegetan. Wir tun dies bei der Finanztransaktionsteuer, woes der Bundesregierung gelungen ist, nach einer anfäng-lichen Unterstützung von nur wenigen Staaten jetzt dieerforderlichen zehn Staaten zu gewinnen, um über ver-stärkte Zusammenarbeit bei diesem Thema endlich vo-ranzukommen. Schließlich tun wir dies jetzt auch beiMaßnahmen zur Einschränkung des Hochfrequenzhan-dels.Wir alle wissen, dass sich in den letzten Jahren auf-grund technologischer Entwicklungen der elektronischeHandel von Finanzprodukten zunehmend ausgeweitetund an Bedeutung gewonnen hat. Bestimmte Handels-teilnehmer setzen bei diesem elektronischen Handel al-gorithmische Handelsprogramme, also Computerpro-gramme, ein. Die Kauf- und Verkaufssignale erfolgen insehr kurzen Abständen von teilweise nur einigen Sekun-denbruchteilen, und die Titel werden nur für extremkurze Zeiträume gehalten. Das versteht man unter Hoch-frequenzhandel. Der Einsatz dieser computergestütztenHochfrequenzhandelsstrategien hat die Geschwindig-keit und die Komplexität des Handels massiv erhöht.Das birgt natürlich eine Vielzahl von Risiken und Gefah-ren für die Stabilität der Märkte.Extreme Börsenszenarien, bei denen in der Vergan-genheit innerhalb weniger Minuten gravierende Markt-ausschläge vorkamen, dokumentieren diese Risiken ein-drucksvoll. Wir haben wiederholt, insbesondere beimsogenannten Flash Crash im Mai 2010, erleben müssen,dass der computergesteuerte Hochfrequenzhandelextreme Kursbewegungen ohne jeglichen Bezug zu real-wirtschaftlichen Entwicklungen hervorrufen kann. Zu-gleich eröffnet der Hochfrequenzhandel auch erheblicheMöglichkeiten zum Marktmissbrauch. Mit dem vorlie-genden Gesetzentwurf wollen wir diesen Risiken undGefahren entgegenwirken.Natürlich wurde dieses Problem auch auf europäi-scher Ebene erkannt, und das ist gut so. Es werden ent-sprechende Regelungen im Rahmen der Überarbeitungder europäischen Finanzmarktrichtlinie MiFID erörtert,aber es schadet nichts, wenn auch bei dieser wichtigenFinanzmarktregulierung Deutschland wieder – ich habedie Beispiele genannt – voranschreitet, Tempo machtund die Richtung bestimmt.
Das Gesetz, das wir heute dem Bundestag zur Bera-tung vorlegen, ergänzt wichtige nationale und internatio-nale Regulierungsvorhaben, die bereits auf den Weg ge-bracht wurden oder sich auf der Zielgeraden befinden.Ich denke nur an die neuen Vorschriften für außerbörsli-che Derivategeschäfte, also Geschäfte mit sogenanntenOTC-Derivaten. Ich denke an die Umsetzung von BaselIII. Und ich denke an die Einführung zusätzlicher Kapi-talzuschläge für systemrelevante Banken. Wir werden alldiese Projekte zügig vorantreiben, um unser Finanzsys-tem national, europäisch und international robuster undstabiler zu machen. Das ist ein zentrales Anliegen dieserBundesregierung und der sie tragenden Fraktionen vonCDU/CSU und FDP.Lassen Sie mich den Gesetzentwurf kurz vorstellen:Er sieht eine Zulassungspflicht für bislang nicht regu-lierte Hochfrequenzhändler vor. Damit wird eine derzeitbestehende Aufsichtslücke geschlossen. Erfasst werdennicht nur unmittelbare Handelsteilnehmer, sondern auchmittelbare, die über sogenannte Order-Routing-Systemean der Börse handeln.Zudem werden strengere Anforderungen an denHochfrequenzhandel gestellt. Die in diesem Markt-segment tätigen Wertpapierdienstleister und Fondsge-sellschaften müssen ihre Handelssysteme künftig so um-gestalten, dass Störungen des Markts unterbleiben.Darüber hinaus werden die Dokumentationspflichtenerweitert. Künftig müssen alle Änderungen der Handels-algorithmen dokumentiert werden, um die Arbeit derAufsicht, aber auch – das ist für uns genauso wichtig –die Ahndung von marktmanipulierendem Verhalten zuerleichtern.Die Auskunfts- und Eingriffsrechte der Börsenauf-sicht und der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungenwerden in dem Gesetz konkretisiert, und bestimmteHandelsstrategien von Hochfrequenzhändlern werdenals Marktmanipulation eingestuft.Ferner wird eine Pflicht zur Kennzeichnung der Algo-rithmen eingeführt. Damit wird die Abschaltung der Al-gorithmen, die fehlerhaft sind oder zur Manipulation derMärkte eingesetzt werden können, durch Börsenaufsichtund BaFin erleichtert. So werden die Aufsicht und Steu-erung noch einmal gestärkt.Ebenfalls ist in dem Gesetzentwurf eine Verpflich-tung für Börsenbetreiber vorgesehen, ihren Handelsteil-nehmern für die exzessive Nutzung der Handelssystemeeine Gebühr aufzuerlegen.Eingeführt werden schließlich auch eine Begrenzungdes Verhältnisses von aufgegebenen Orders und tatsäch-lich ausgeführten Geschäften sowie einheitliche Min-destgrenzen für die kleinstmöglichen Kursänderungen.Mit den Mindestpreisänderungsgrößen soll demTrend im Wertpapiergeschäft zu immer kleineren Preis-anpassungen und damit zu immer mehr Geschäftsab-schlüssen entgegengewirkt werden.Um Ausweichreaktionen der Marktteilnehmer auf al-ternative Plattformen, wie zum Beispiel multilateraleHandelssysteme, zu verhindern, sollen die Regelungendes Hochfrequenzhandelsgesetzes auch auf diese Sys-teme erstreckt werden.Wir begrüßen, dass der Bundesrat diesem Gesetzent-wurf grundsätzlich positiv gegenübersteht. Er schlägt je-doch vor, die im Gesetzentwurf vorgesehene Erlaubnis-pflicht für Hochfrequenzhändler zu streichen. DiesemAnsinnen können wir nicht entsprechen. Denn die Ein-führung einer Erlaubnispflicht ist ein wesentlicher Be-standteil unseres Gesetzentwurfes und dient dazu, beste-hende Aufsichtslücken zu schließen. Ein Verzicht auf dieErlaubnispflicht würde zu einer Verminderung der ge-
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Parl. Staatssekretär Hartmut Koschyk
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planten Aufsichtsintensität führen. Deshalb lehnen wirvonseiten der Bundesregierung das ab.
Ich darf zusammenfassen: Die neue gesetzliche Rege-lung, die wir Ihnen heute vorlegen, beseitigt entschei-dende Schwachstellen, die sich im Zuge der Finanzkriseaufgetan haben. Es ist gut und richtig, dass die Bundes-regierung gemeinsam mit den Koalitionsfraktionen vonCDU/CSU und FDP bei diesem Thema, einem wichti-gen Meilenstein der Finanzmarktregulierung in Europa,erneut voranschreitet.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär Hartmut Koschyk. –
Nächster Redner für die Fraktion der Sozialdemokraten
ist unser Kollege Dr. Carsten Sieling. Bitte schön, Kol-
lege Dr. Sieling.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Verehrter Herr Staatssekretär, Sie können uns hier in je-der Rede die Geschichte – man ist ja geneigt, zu sagen:das Märchen – davon erzählen, was die Koalition schonalles angefasst und in Gang gebracht hat.
Sie können aber nicht vergessen machen, dass Sie schonmehr als drei Jahre regieren. Es stellt sich die Frage, wa-rum Sie bei einem so wichtigen Thema wie diesem erstjetzt etwas tun.
Also: Warum erst jetzt?
Der Staatssekretär hat auf ein Ereignis hingewiesen,das in Ihrer Regierungszeit stattgefunden und in der Tatdie ganze Branche, die ganze Welt aufgeschreckt hat.Herr Kollege, es handelt sich um den Flash Crash vomMai 2010.
Jetzt schreiben wir November 2012.
Zweieinhalb Jahre brauchten Sie – dieses Ereignis ist jain Ihre Regierungszeit gefallen –, um uns Vorschlägevorzulegen. Das reicht nicht. Das ist armselig. Das istkeine durchgreifende Finanzmarktregulierung, liebeKolleginnen und Kollegen.
Sie sagen jetzt, Sie treiben nun die Finanztransaktion-steuer voran. Das ist wirklich eine Märchengeschichte.Wir haben Sie hier zum Jagen tragen müssen.
Übrigens ist das erst seit Sommer letzten Jahres IhreAuffassung. Auch hier gilt: Wenn es nicht eine aktiveOpposition gegeben hätte – da muss man alle drei Oppo-sitionsfraktionen einbeziehen –, dann hätten wir dasnicht erreicht. Sie können sich das wirklich nicht ans Re-vers heften.
Es bleibt dabei: Sie kommen zu spät – auch in diesemFalle –, und Ihre Vorschläge sind unzureichend. Es istsogar so, dass Sie uns in Wirklichkeit Sand in die Augenstreuen. Sie sagen, Sie würden den Hochfrequenzhandeleinschränken. Wenn Sie ihn wirklich einschränken wür-den, was notwendig ist, dann müssten Sie anders vorge-hen. Sie machen nichts anderes, als die Computer, dieGefahren für die Stabilität der Märkte hervorrufen, neuanzustreichen; bestenfalls wechseln Sie einen Monitoraus. Sie müssten aber auch den Mut haben, Geschäfte,die schädlich sind, abzuschalten. Man kann nicht mit ei-nem Bummelzug gegen eine Entwicklung in Lichtge-schwindigkeit anfahren.
– Es handelt sich nicht um eine Metapher, sondern umein ernstes Problem, Kollege,
und zwar um das ernste Problem, dass in Europa mittler-weile 40 Prozent des Börsenhandels in Form des Hoch-frequenzhandels abgewickelt werden; in den USA sindes sogar 70 Prozent.
Im Kern geht es darum, dass die Computeralgorith-men, die es gibt – der Staatssekretär hat dies angespro-chen –, vorher betrachtet und untersucht werden müssen.Sie schlagen in Ihrem Gesetzentwurf nichts anderes vor,als hinterher auf Fehlentwicklungen zu reagieren. Dasreicht unseres Erachtens nicht aus. Man muss vorher tä-tig werden, um Schlechtes und Schlimmes zu verhin-dern, liebe Kolleginnen und Kollegen.
– Natürlich. Ich komme gleich darauf zu sprechen, wennich die Vorschläge unserer Fraktion benenne.
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Dr. Carsten Sieling
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Immer wieder werden Gegenargumente angeführt.Das beliebteste Gegenargument, das von den Börsen-händlern angeführt wird, ist die Liquidität: Durch dendynamischen Handel würde Liquidität erzeugt, die manso dringend braucht. – Jeder Börsenhändler bekommtbei diesem Wort in der Tat feuchte Augen. Man darf abernicht vergessen, dass 90 Prozent der Orders in diesemBereich storniert werden. Es sind Scheinaktivitäten, de-nen entgegengetreten werden muss. Erste Maßnahmengibt es an den Börsen selber. Sie aber tun mit Ihrem Ge-setz nichts dafür,
durchzugreifen; Sie tun nichts dafür, das mit Ihren Vor-schlägen hinreichend einzudämmen.
Ich bin ziemlich sicher, Herr Kollege: Wenn wir eineAnhörung durchführen, wird sehr sauber herausgearbei-tet werden,
dass Ihre Vorschläge an dieser Stelle nicht zureichendsind.Wir plädieren in der Tat dafür, Maßnahmen zu ergrei-fen, diesen Hochfrequenzhandel einzuschränken. Dennes ist nicht ersichtlich, dass diese explodierenden Märkte– dieser Bereich hat ja durchaus auch zu der Entwick-lung von Blasen beigetragen – einen volkswirtschaftli-chen Nutzen haben. Sie haben wenig Bezug zur Real-wirtschaft und müssen vor diesem Hintergrund auf denPrüfstand gestellt werden. Was Sie vorlegen, ist keineAntwort. Ich will an dieser Stelle noch einmal sagen: Esverursacht Gefahren, wenn der Handel in Millisekundengemacht wird und niemand eine Möglichkeit hat, daraufzu reagieren.Sie sehen in Ihrem Gesetz ein paar Maßnahmen vor,die unseres Erachtens nicht hinreichend sein werden.Zunächst will ich die Volatilitätsunterbrecher anspre-chen, die Sie an den Börsen einbauen wollen, um diePreisschwankungen einzuschränken. Solche Dinge wer-den an den Börsen schon angegangen. Es käme zu Un-terbrechungen, die unseres Erachtens nicht hinreichendsind. Wir meinen, dass zwei wesentliche Maßnahmen er-griffen werden müssten, wenn man vorher in diesenFinanzmarkt eingreifen will.Die Erste. Sie haben gesagt: Wir wollen genehmi-gen. – Ja, genehmigen ist wichtig. Man braucht ein Zu-lassungsverfahren für die Algorithmen. Man darf nichterst hinterher reagieren, nachdem es Verwerfungen ge-geben hat. Man braucht einen Stresstest für die gefährli-chen und komplizierten Computerprogramme. Deshalbist es notwendig, systematisch das zu untersuchen, wassich in den letzten Jahren entwickelt hat. Unser Anliegenist: Bevor es zu neuen Flash Crashs kommen kann – dieAufsicht in den USA hat hundert Fälle von Preisaus-schlägen oder Preisabstürzen benannt, die dem Marktschaden –, muss man die notwendigen Informationenund den Mut haben, gegebenenfalls schädliche Handels-strategien zu verbieten.Der zweite Punkt bezieht sich auf die Mindesthalte-fristen. In dieser Frage ist der Gesetzentwurf leider ganzdünn; anders kann man es nicht sagen. Schauen Sie dochnach Australien! Warum ist es möglich, in AustralienMindesthaltefristen einzuführen,
die bei 2 bis 5 Sekunden liegen? Warum folgen Sie nichtdem Votum des Europäischen Parlaments? Das Europäi-sche Parlament votiert dafür, eine Mindesthaltefrist voneiner halben Sekunde einzuführen. Dem haben übrigensunter anderem die Europaparlamentskollegen von CDUund CSU zugestimmt. Warum, Kollege Michelbach, ma-chen Sie das nicht auch hier? Wir brauchen eine Begren-zung und deshalb Mindesthaltefristen. Das ist aus unse-rer Sicht ein wichtiger Punkt; denn wir wollen einewirkliche Regulierung dieses Bereichs. Wir wollen aucheine Reduzierung dieses Bereichs auf das wirtschaftlichNotwendige. Das muss ein Ziel sein. Eine solche Maß-nahme ist allerdings nur ein Baustein. Sie muss sich indie anderen Maßnahmen einfügen.Das Wirkungsvollste – das will ich an dieser Stelleauch sagen – sind Preissignale, ist die Verteuerung vonAktivitäten, die keinen wirtschaftlichen Nutzen haben.Auch wenn es gerade in den Reihen der Koalition hierund da zu empörtem Aufstöhnen führt:
Das wirksamste Mittel ist das – Kollege Brinkhaus, Siewerden uns das nachher wieder erzählen –, was auch Siein Ihrer Fraktion lange blockiert haben: eine Finanz-transaktionsteuer, die die Vorteile, die diese Millisekun-den bieten, nicht mehr wirksam werden lässt, sondernmit zusätzlicher Bepreisung marktnahe Signale aussen-det, die solche Aktivitäten dann unterbinden. Das wirdzur Stabilität der Finanzaktivitäten beitragen.Da müssen Sie mehr bringen als dieses Gesetz.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Kollege Dr. Carsten Sieling. – Nächster
Redner für die Fraktion der FDP: unser Kollege Björn
Sänger. Bitte schön, Kollege Björn Sänger.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Der 28. Juli 1866 war ein Meilenstein in der Ge-schichte der Kommunikationstechnik. Was geschah andiesem 28. Juli 1866?
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012 26015
Björn Sänger
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– Genau, ich werde es gleich ausführen; Sie brauchennicht zu lange gespannt zu sein. – An diesem Tag wurdedas erste Transatlantikkabel zwischen den USA undEuropa in Betrieb genommen. Es ist – es liegt ja nochda – 9 000 Tonnen schwer –, und es erreichte – mankann sich das kaum vorstellen – die sagenhafte Daten-übertragungsrate von 36 Bit pro Sekunde – wir Parla-kom-Nutzer wissen, wie schnell das ist.
Zu der damaligen Zeit war das eine gigantische Investi-tion. Diese Investition brachte große Veränderungen imWirtschaftsleben: Die Märkte wuchsen zusammen,Preisunterschiede zwischen auf beiden Seiten gehandel-ten Rohstoffen und Wertpapieren schrumpften, und derwirtschaftliche Austausch wuchs. Die Kommentatorender damaligen Zeit waren sich einmütig einig: DiesesKabel ist ein Segen für die Menschheit.Heute, 146 Jahre später, sticht erneut ein Schiff inSee, um ein Kabel zu verlegen: ein Glasfaserkabel zwi-schen London und Halifax. Es wird etwa 570 Kilometerkürzer sein, insgesamt nur noch eine Strecke von6 000 Kilometern überbrücken. Durch dieses Glasfaser-kabel sollen ab 2013 ausschließlich Finanzdaten undKursinformationen übermittelt werden. Einmal hin und zu-rück wird 59 Millisekunden dauern – das ist eine Ge-schwindigkeit von 200 Kilometern pro Millisekunde – unddamit – jetzt kommen wir zu dem Vorteil dieses Glas-faserkabels – 6 Millisekunden weniger als bislang. Für ei-nen Vorteil von 6 Millisekunden werden also 6 000 Kilo-meter Glasfaserkabel verlegt. Daran kann man sehen,welche wirtschaftliche Bedeutung der Hochfrequenz-handel hat. Die Investorengruppe, die hinter dieser In-vestition steht, besteht ausschließlich aus Hochfrequenz-händlern; sie befördern an dieser Stelle den technischenFortschritt.Heutzutage werden bereits circa 50 Prozent der anden wichtigsten Börsen durchgeführten Transaktionendurch Algorithmen abgewickelt, von Maschine zu Ma-schine. Die Software kann innerhalb von Bruchteilenvon Sekunden Daten nicht nur erfassen, sondern auchanalysieren und dann entscheiden und Transaktionenausführen. Entscheidend für diese Systeme sind dieTechnik, das Limit und die Geschwindigkeit.Das macht den Menschen verständlicherweise Angst.Man fragt sich: Ist das sinnvoll? Braucht man das über-haupt? Es kommen Gedanken auf, wie das denn ist miteinem Zug ohne Zugführer oder mit einem Flugzeugohne Pilot. Das alles ist technisch möglich; aber ein rich-tig gutes Gefühl dabei hat man als Nutzer nicht. DieseFragen sind berechtigt; das zeigen nicht zuletzt die FlashCrashs der Vergangenheit.Im traditionellen Verhältnis Mensch/Maschine brauchtman etwa 1 000 Millisekunden, um manuell in einenProzess einzugreifen. Ich sagte anfangs: Für einen Vor-teil von 6 Millisekunden wird eine gigantische Investi-tion angeschoben. – Das zeigt eindeutig: 1 000 Milli-sekunden sind eine unendlich lange Zeit.Wir brauchen ganz klar Regulierung, wenngleich wirmit den bestehenden Circuit Breakern oder auch den Ex-post-Mechanismen zur Stornierung von Orders schon ei-nen gewissen Schutz haben. Alle die Probleme sind janicht in Deutschland aufgetreten; vielmehr fand – derKollege Flosbach hat vorhin sehr richtig dazwischenge-rufen – der Flash Crash im Mai 2010 in New York statt.Das zeigt eigentlich, dass wir in Deutschland am Marktschon sehr gute Schutzmechanismen haben,
wenngleich wir natürlich noch nachrüsten müssen, waswir mit dem vorliegenden Gesetz tun.Auch hier gilt: Wir müssen uns das Ganze ziemlichgenau anschauen, damit wir die guten Seiten, die vom al-gorithmischen Handel durchaus auch ausgehen,
von den Problemen trennscharf unterscheiden können.Finanzprodukte sind Dual-Use-Güter, vergleichbar ei-nem Unimog, der im Winter ein sehr sinnvolles Fahr-zeug zum Räumen der Straßen ist, aber eben auch inKriegseinsätzen einsetzbar ist.
Jetzt komme ich zu den, wohlgemerkt, guten Eigen-schaften des algorithmischen Handels. Der Hochfre-quenzhandel ist eine Teilmenge – Sie als Sozialdemokra-ten haben mit Sicherheit Mengenlehre in der Schulegehabt – des algorithmischen Handels.
Er wird unter anderem von großen Kapitalsammelstelleneingesetzt, von Fonds, die zum Beispiel Mittel für dieAltersvorsorge verwalten. Wenn sie größere Aktienpa-kete in den Markt hineingeben, dann machen sie dasnicht auf einmal, sondern da wird ein entsprechender Al-gorithmus eingesetzt, der das Aktienpaket sozusagenkurspflegend abstößt, genauso wie man natürlich auchkurspflegend ankauft. Das ist zumindest aus meinerSicht ein sehr sinnvoller Einsatz des algorithmischenHandels.
– Das ist kein Hochfrequenzhandel; das ist richtig. Aberder Hochfrequenzhandel ist eine Teilmenge des algorith-mischen Handels.Die Strategien des Hochfrequenzhandels werden im-mer komplexer und lasten die Systeme immer mehr aus.Es kommt zu einer Überlastung. Es kommt möglicher-weise auch zu einer stärkeren Volatilität. Es kommt zueiner Missinformation zwischen vermuteter Liquiditätund tatsächlich am Markt vorhandener Liquidität, weil
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Björn Sänger
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über bestimmte Strategien sehr schnell Orders gestelltwerden, die dann gar nicht zur Ausführung kommen.Der faire Handel wird beeinträchtigt. Es kommt zu einerArt technischem Insiderhandel, weil die Informationenzwar zur Verfügung stehen, aber eigentlich nur derje-nige, der über die entsprechenden Systeme verfügt, dieseauch nutzen kann.Wir als Koalitionsfraktionen haben gesagt – Staatsse-kretär Koschyk hat das gerade sehr richtig ausgeführt –:Wir wollen im Vorgriff auf das, was auf europäischerEbene mit der MiFID kommt, voranschreiten und schoneinmal ein paar Punkte festlegen. Das sind im Wesentli-chen vier Punkte:Wir schaffen zum einen die Zulassungspflicht fürHochfrequenzhändler. Wir werden die Definition des Ei-genhandels erweitern. Es wird eine Erlaubnispflicht ge-ben, und die entsprechenden Herrschaften werden zu-künftig von der BaFin beaufsichtigt werden.Wir schaffen, zweitens, Sorgfaltspflichten. Die Sys-teme dürfen den normalen Handel nicht stören. Es wirdGebühren für eine exzessive Systemnutzung geben. DesWeiteren wird es eine Verpflichtung geben, dass es zu ei-nem angemessenen Verhältnis zwischen eingestelltenAufträgen und tatsächlich ausgeführten Aufträgen kommt.Es wird eine Veränderung der Mindestpreisänderungs-größe geben, um die hohe Frequenz zu reduzieren.Wir werden drittens Transparenz schaffen. Es wirdeine Trader ID geben, damit man nicht mit geschlosse-nem Visier agieren kann. Wer am Markt handelt, mussklar sagen, wer er ist. Die Software und der Algorithmuswerden dokumentiert werden müssen, damit man, wennes Probleme gibt, darauf zurückgreifen und auch eingrei-fen kann. Dafür werden wir die Börsenaufsicht und dieBaFin mit entsprechenden Auskunftsrechten ausstatten.
Weiterhin werden marktmissbräuchliche Handelsstra-tegien – damit kommen wir zum vierten Punkt – zukünf-tig verboten werden können. Wenn sich herausstellt,dass eine Strategie marktmissbräuchlich eingesetzt wer-den kann, dann kann sie verboten werden.So viel zu dem, was Sie vorhin gesagt haben, KollegeSieling, offensichtlich ohne den Gesetzentwurf vorhergelesen zu haben.Klar ist: Wir müssen an der einen oder anderen Stellenoch das eine oder andere nachjustieren. Dazu wird eseine Anhörung geben, meines Erachtens insbesondere zuder Frage: Was genau ist denn der – in Anführungszei-chen – „unschädliche“ algorithmische Handel, und wofängt der Hochfrequenzhandel an? Da wird man sicher-lich noch ein bisschen genauer hinschauen.Klar ist auch: Wir wollen diesen Bereich regulieren.Wir wollen Abwanderung verhindern; denn jeder Hoch-frequenzhändler, der nicht mehr in Deutschland handelt,handelt auch nicht mehr unter Aufsicht der BaFin.Dieses Gesetz ist ein weiterer Beitrag dieser Bundes-regierung zur Systemstabilität in den Finanzmärkten. Esist ein gutes Gesetz. Ich freue mich auf die weiteren Be-ratungen.Herzlichen Dank.
Herr Kollege Björn Sänger, vielen Dank. – Nächster
Redner ist unser Kollege Richard Pitterle für die Frak-
tion Die Linke. Bitte schön, Kollege Richard Pitterle.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kollegin-nen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurfsoll der Hochfrequenzhandel an den Börsen und anderenHandelssystemen reguliert werden. Beim Hochfrequenz-handel geht es um Schnelligkeit, eine Schnelligkeit, dieich beim Regierungshandeln jedoch vermisse.Herr Flosbach, Sie sagten im Mai in einem Interviewmit der Börsen-Zeitung, dass wir mit der Regulierungdes Hochfrequenzhandels nicht warten sollten, bis ent-sprechende Regelungen auf europäischer Ebene verhan-delt sind, und dass das noch lange dauern kann.
Erst heute, also am 30. November 2012, findet dieerste Lesung des Gesetzentwurfs statt. Für den 16. Ja-nuar 2013 ist eine Anhörung im Bundestag vorgesehen,und am 1. März 2013 soll der Gesetzentwurf verabschie-det werden. Insgesamt werden dann also rund zehn Mo-nate vergangen sein. So eilig ist das also offenbar dochnicht; aber für den Wahlkampf kommt das gerade nochrechtzeitig.
Die Regierung kann dann nämlich behaupten, dass siegehandelt hat und angeblich die Finanzmärkte reguliert.
Herr Brinkhaus wird uns nachher in seiner Rede sa-gen, hier gehe Gründlichkeit vor Schnelligkeit. Ich fragemich aber wirklich, warum Sie sich auf die vorgeblicheGründlichkeit immer nur dann berufen, wenn es darumgeht, gegen die Spekulation vorzugehen. Als es darumging, den Fiskalpakt zu beschließen, der tatsächlichgründlich zu hinterfragen ist, galt Ihr Motto „Gründlich-keit vor Schnelligkeit“ nicht.
Ich meine, die schwarz-gelbe Koalition ist auch bei die-sem Gesetzentwurf nicht gründlich; aber dazu kommeich noch.Was zeichnet den Hochfrequenzhandel aus?Das erste Merkmal sind extrem kurze Haltefristenvon teilweise Nanosekunden. Das heißt, kaum hat manein Wertpapier gekauft, wird es wieder verkauft.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012 26017
Richard Pitterle
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Das zweite Merkmal ist eine sehr hohe Anzahl vonKauf- und Verkaufsaufträgen.Beides lässt sich nur mit mathematischen Handels-programmen und mit superschnellen Computern umset-zen, mit Computern, die so programmiert sind, dass siein Sekundenbruchteilen automatisch Wertpapiere kaufenund gleich wieder verkaufen. Menschen werden nichtmehr eingeschaltet, alles läuft automatisch ab. DiesesGeschäft ist sehr lukrativ. Zwar sind die Kursgewinnenur minimal, aber die Menge macht’s.Dass damit große Risiken für den Markt, aber auchfür die Wertpapierhändler verbunden sind, ist offensicht-lich. Das hat sich in der Praxis auch öfter gezeigt, zumBeispiel beim Einbruch des US-amerikanischen Aktien-marktes an der New Yorker Börse am 6. Mai 2010, beidem die Börsenkurse innerhalb von Minuten kräftig fie-len und sich genauso schnell wieder erholten, bekanntgeworden unter dem Namen „Flash Crash“. Dieses Bei-spiel ist hier schon von mehreren Rednern aufgeführtworden. Darüber hinaus können Börsencomputerpro-gramme auf Marktereignisse überreagieren, sodass sichdie Schwankungen der Kurse gegenseitig verstärken.Bei dem Hochfrequenzhandel geht es aber nicht nurum die Risiken aus Computerfehlern, um automatischausgelöste Reaktionen auf Marktbewegungen und umdie Ausnutzung minimaler Kursdifferenzen, sondernauch um Manipulationen der Wertpapierkurse und damitum betrügerisches Handeln.Ich frage Sie: Was ist das für ein Geschäftsmodell?Das hat mit Realwirtschaft doch überhaupt nichts mehrzu tun. Einen volkswirtschaftlichen Nutzen sehe ich hiernicht. Stattdessen sehe ich vielerlei schädliche Praktiken.
Hochfrequenzhändler spähen Gebote beispielsweisevon Versicherungen aus, decken sich mit den entspre-chenden Wertpapieren ein, treiben damit die Preise in dieHöhe und stoßen die gekauften Papiere zu höheren Prei-sen wieder ab. Viele Aufträge von Hochfrequenzhänd-lern werden nur mit der Absicht gesetzt, die Preise zumanipulieren. Vor ihrer Ausführung werden sie storniert.Mit diesen Praktiken destabilisieren Hochfrequenzhänd-ler die Märkte. Sie manipulieren die Preise und erwirt-schaften daraus ihre Gewinne zulasten anderer, zum Bei-spiel zulasten von Versicherungsgesellschaften, die ihreEinnahmen am Kapitalmarkt anlegen müssen. Das istdoch eine Fehlentwicklung! Diese extrem kurzfristigenZockereien verteuern realwirtschaftliche Transaktionenund dienen als Spielball von Spekulanten. Das mussdoch beendet werden!
Der vorliegende Gesetzentwurf wurde bereits im Maieingebracht. Nicht nur wir, sondern auch die Fachwelthatte sich darüber gewundert; denn auf europäischerEbene werden die Richtlinien ebenfalls überarbeitet, umden Hochfrequenzhandel zu regulieren.Jetzt komme ich zu Ihrer Gründlichkeit. Der Gesetz-entwurf enthält doch nichts Neues oder gar Überraschen-des. Es soll in Deutschland im Wesentlichen das gesetz-lich festgeschrieben werden, was bereits an den Börsendurch viele Börsenordnungen geregelt und praktiziertwird.Warum dann überhaupt noch ein Gesetzentwurf fürDeutschland und im Vorgriff auf eine schon in der Dis-kussion befindliche Regelung auf EU-Ebene? Sie stehenunter dem Druck der Öffentlichkeit, die Maßnahmen ge-gen die Spekulation verlangt; aber Sie schrecken vor ei-ner echten Regulierung zurück. Von wegen Richtungvorgeben! Herr Staatssekretär Koschyk sprach davon,die Richtung vorzubestimmen. Da lachen ja die Hühner.Was meine ich mit meiner Kritik? Uns fehlt beispiels-weise eine Mindesthaltedauer. Das heißt, wenn einHändler ein Angebot abgibt, soll er für eine bestimmteZeit daran gebunden sein. Wir denken hier an mindes-tens eine halbe Minute.
Es darf nicht sein, dass Angebote unterbreitet werden,die die Kurse beeinflussen und Marktreaktionen auslö-sen, die Angebote dann aber sofort storniert werden,noch bevor ein Kunde eine realistische Möglichkeit hat,das Angebot anzunehmen. Das hat sogar der CSU-Fi-nanzexperte und Berichterstatter für dieses Thema imEuropäischen Parlament, Markus Ferber, gemerkt, dergenau diese Mindesthaltedauer fordert. Wenn Sie schonunsere Meinung nicht ernst nehmen wollen, dann hörenSie doch auf Ihren CSU-Kollegen im Europaparlament.
– Ausnahmsweise, ja.Die Risiken aus dem Hochfrequenzhandel würdensich schließlich reduzieren, sobald die Finanztransak-tionsteuer eingeführt würde.
Mit dieser und der eben genannten Mindesthaltedauerwürde der Hochfrequenzhandel schlicht nicht mehr at-traktiv sein. Damit würden die Spekulanten ausge-bremst, und wir hätten endlich ein Tempolimit beimHochfrequenzhandel, wie Sie es in Ihrem Gesetzentwurffordern.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Kollege Richard Pitterle für die Frak-
tion Die Linke. – Nächster Redner in unserer Ausspra-
che ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser
Kollege Dr. Gerhard Schick. Bitte schön, Kollege
Dr. Gerhard Schick.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! AlsErstes kann man vielleicht einmal festhalten, dass beiden Abgeordneten der allgemeine Wunsch besteht, dasssich die Geschwindigkeit der Datenübertragung bei den
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26018 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012
Dr. Gerhard Schick
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Parlamentsrechnern nach und nach der an der Börse an-passen möge.
Ich bin Herrn Sänger sehr dankbar für dieses konkreteBeispiel aus der Praxis mit dem Kabel. An diesem Bei-spiel wird sehr gut deutlich, worum es geht und wo eineunterschiedliche Einschätzung besteht. Das alte Transat-lantikkabel aus dem 19. Jahrhundert hat es in einer Zeit,in der es ganz schwierig war, über den Atlantik mit Schif-fen Daten zu schicken, ermöglicht, auf Kaufaufträge undEntwicklungen verschiedenster Art viel schneller zu re-agieren, und es hat damit wirklich realwirtschaftlichenNutzen geschaffen.Was passiert heute? Das neue Transatlantikkabel er-möglicht es, innerhalb von 60 Millisekunden Daten hin-und herzuschicken. Zum Vergleich: Ein Wimpernschlagdauert 100 Millisekunden. Das heißt, wir erreichen hiereine Geschwindigkeit, in der der Mensch gar nicht den-ken kann, in der gar keine realwirtschaftlichen Disposi-tionen möglich sind.Die zusätzliche Geschwindigkeitserhöhung von 5 bis6 Millisekunden kann deswegen überhaupt keinen real-wirtschaftlichen Nutzen entfalten. Hier geht es um Inge-nieurskunst. Es ist spannend, dass so etwas gemachtwerden kann. Aber der realwirtschaftliche Nutzen ist ge-ring; denn dieses Kabel wird, wie Sie richtig sagen, aus-schließlich für den Hochfrequenzhandel, also für das Er-zeugen von Finanzdaten, genutzt. Das heißt, da wirdGeld mit Geld verdient.Das führt nicht dazu, dass ein einziger Unternehmerbesser an Kredite kommt. Das heißt, der realwirtschaftli-che Nutzen einer solchen Investition ist nicht gegeben.Das ist gerade ein Symbol dafür, dass die Finanzmärkteimmer mehr um sich selbst kreisen und ihre eigentlicheDienstleistungsfunktion für unsere Wirtschaft, für unsereGesellschaft nicht mehr erbringen.
Dann eben ist ein solches Projekt Verschwendung vonEnergie und Geld. Es wäre doch sinnvoll, dass sich Inge-nieure an die Lösung von Problemen machen, die uns alsGesellschaft beschäftigen, anstatt die Möglichkeit zu er-leichtern, dass Geld mit Geld verdient wird.
Das ist kein Seitenaspekt: In Europa werden etwa40 Prozent und in den USA 70 Prozent des Handels vonHochfrequenzhändlern betrieben. Das heißt, es wird miteinem nur minimalen Informationsvorsprung Geld ver-dient, ohne dass die Marktinfrastruktur wirklich verbes-sert wird. Die langsameren Händler müssen schlechterePreise akzeptieren, nachdem die Gewinne schon einge-fahren sind. Damit wird viel in unregulierte Märkte ver-drängt.Die Befürworter des Hochfrequenzhandels argumen-tieren mit einer besseren Liquidität oder mit geringerenSpreads, also mit Preisunterschieden zwischen den Han-delsplätzen, die die Transaktionskosten für alle Investorenverringern. Aber genau das ist nicht der Fall. Vielmehrentsteht eine Pseudoliquidität, die für realwirtschaftlicheInvestitionen keinen Mehrwert schafft. Liquidität schaf-fen Market Maker, also Händler, die ständig An- undVerkaufspreise festsetzen. Aber Market Maker gab eslange vor dem Hochfrequenzhandel. Das ist kein Vorteil,sondern es ist eher so, dass der Hochfrequenzhandel dieMarket Maker zur Seite drängt.Dann kommt es genau zu den Problemen, die öffent-lich diskutiert worden sind. Es gibt den englischen Be-griff „fat finger“; das könnte man ungefähr mit „Wurst-finger“ übersetzen. Dies besagt, dass allein durchfehlerhafte Algorithmen oder Tippfehler plötzlich un-glaubliche Kursentwicklungen entstehen. An dieserStelle sieht man, dass Hochfrequenzhandel dieser Artnicht nur keinen Nutzen bringt, sondern tatsächlich auchfür die Realwirtschaft Schaden verursachen kann, weilfür diejenigen, die sich an diesen Preisen orientierenmüssen, eine sinnvolle Orientierung nicht möglich ist,weil plötzlich irrationale Ausschläge stattfinden können.Jetzt ist die Frage, wie man vorgeht; das ist schon an-gesprochen worden. Es gibt eine europäische Entwick-lung. Am 26. Oktober 2012 sind die beiden Entwürfe derKommission im Europäischen Parlament in erster Le-sung debattiert und an den Rat mit Veränderungen über-wiesen worden. Warum machen wir das jetzt hier? Ichfinde es durchaus richtig, dass man an manchen Stellenversucht, Impulsgeber zu sein. Aber hier sind wir garnicht Impulsgeber.
Der Impuls ist längst da. Was soll das an dieser Stelle?Ich habe da Zweifel. Ich glaube, es würde mehr Sinn er-geben, wenn wir als Deutscher Bundestag uns mit Ener-gie in die europäische Debatte einschalten und schauenwürden, dass das Ganze in Europa zügiger vorankommt.Vor allem sollten die Regelungen stimmen. Aber selbstwenn man unterstellt, dass es sinnvoll ist, hier mit einemeigenen Gesetzentwurf in die Debatte zu gehen, müsstein der Substanz das Richtige auf den Weg gebracht wer-den. Es fehlt aber schon die klare Definition, was eigent-lich Hochfrequenzhandel ist. Das Wort steht zwar in derÜberschrift des Gesetzentwurfs, es wird danach abernicht klar definiert. Ich glaube, so wird es schwierig, dassauber zu regeln.Sie bleiben nach wie vor dem Prinzip treu, dass dieSelbstkontrolle der Märkte am besten funktioniert. Sonstkann man sich nicht erklären, warum die konkrete Aus-gestaltung der Regeln den Handelsplattformen selbstüberlassen wird. Sie tun so, als ob es da keine Interes-senkonflikte gäbe.
Wenn Handelsplattformen einen großen Teil ihresUmsatzes im Hochfrequenzhandel machen und daranauch noch durch die Bereitstellung der IT-Infrastrukturan Hochfrequenzhändler verdienen, warum sollten sie
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012 26019
Dr. Gerhard Schick
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dem dann klare Grenzen setzen? An dieser Stelle wirdman staatliche Regeln und auch die Kontrolle der Ein-haltung dieser Regeln durch staatliche Aufsicht brau-chen.
Ich will ein Zitat von jemandem bringen, den ich sel-ten zitiere: „Wir brauchen ein Tempolimit für den High-Speed-Handel.“ Das stammt von Markus Söder.
Das hat er beim Besuch der Börse gesagt. Es klingt gut.Ich würde diesen Satz unterschreiben. Aber das Problemist: Genau dieses Tempolimit fehlt in dem hier vorlie-genden Gesetzentwurf. Darin steht zwar alles Mögliche,aber keine Regelung eines Tempolimits.Wir Grünen haben ein Tempolimit auf europäischerEbene klar eingefordert. Ich will unsere Vorschläge kurznennen:Der Anteil des Hochfrequenzhandels sollte auf20 Prozent der Orders begrenzt werden.Jede Order sollte für mindestens 1 Sekunde aufrecht-erhalten werden müssen. – Das war unser Vorschlag.Das Europäische Parlament hat sich jetzt auf eine halbeSekunde geeinigt. Das ist genau die Regelung einesTempolimits, die bei Ihnen fehlt.Die Orders sollten mit einer Latenz, einer Verzöge-rung, von 100 Millisekunden ausgeführt werden. DasAtlantikkabel wäre dann in der Tat überflüssig, und mankönnte das Geld für sinnvollere Investitionen einsetzen.Wertpapiere sollten für mindestens 30 Sekunden ge-halten werden. Die Order-Transaktions-Verhältnissesollten auf 50 zu 1 begrenzt werden.Mit solchen klaren Regeln würden wir ein Tempo-limit einsetzen. Genau das wäre unsere Aufgabe. Nichthilfreich ist ein Gesetzentwurf, der in dieser Form wahr-scheinlich nichts bringen wird.
Vielen Dank, Kollege Dr. Gerhard Schick. – Nächste
Rednerin für die Fraktion der CDU/CSU ist unsere Kol-
legin Frau Bettina Kudla. Bitte schön, Frau Kollegin
Bettina Kudla.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Wir haben jetzt mehrfach gehört, was Hoch-frequenzhandel ist: In Bruchteilen von Sekunden werdenan den Börsen extrem hohe Volumina bewegt.Ich denke, das Problem ist – die Welt hat sich nun ein-mal so entwickelt –, dass an den deutschen Börsen schon40 Prozent der Umsätze über den Hochfrequenzhandelabgewickelt werden. In Amerika ist der Anteil deutlichhöher; dort sind es 70 Prozent. Warum sind diese Zahlenso wichtig? Sie zeigen uns: In der Realität hat der Hoch-frequenzhandel eine hohe Bedeutung, weil er schon ei-nen hohen Anteil am Börsenhandel ausmacht.Die Befassung mit dem Thema hat mich ein bisschenan das Internet erinnert. Mit dem Internet kann man zwarviel Gutes machen, aber das Internet kann auch zu hohenVerwerfungen führen. Trotzdem ist das Internet heutzu-tage nicht mehr aus dem Leben wegzudenken. Insofernmuss man das Problem von vielen Seiten betrachten.Die Geschwindigkeit ist dabei mit das größte Pro-blem. Sie führt zu vielen Verwerfungen; das wurde be-reits mehrfach angesprochen. Insbesondere hat sie zueinem Preisverfall an den Börsen geführt. Aber ein gene-relles Verbot, wie es von einigen Personen in diesemHause gefordert wird, lehne ich ab.
Es gibt nämlich nicht den einen Hochfrequenzhandel,sondern es gibt verschiedene Handelsstrategien. Diemeisten davon tragen positiv zum Marktgeschehen amFinanzmarkt bei, zum Beispiel durch Liquiditätsbereit-stellung und -verbesserung.
Das zeigt im Grunde die Komplexität des Problems. Einpauschales Verbot ist daher weder angemessen, nochbringt es eine Verbesserung des regulatorischen Rah-mens mit sich.Mit dem heute in erster Lesung zu beratenden Gesetz-entwurf zur Vermeidung sowohl von Gefahren als auchvon Missbräuchen im Hochfrequenzhandel will die Bun-desregierung den aufgezeigten Risiken entgegentreten.Insgesamt schaffen wir dadurch mehr Transparenz undmehr Sicherheit im Markt.Was bedeutet das im Detail? Wir wollen mit einer Zu-lassungspflicht für Hochfrequenzhändler eine Übersichtüber die Marktteilnehmer in diesem Bereich schaffen.Darüber hinaus stellen wir deutlich strengere Anforde-rungen an die Branche. Die Handelssysteme müssen soausgestaltet sein, dass Störungen des Marktes unterblei-ben, damit eben nicht mehr solche binnen Sekunden aus-gelösten Verwerfungen auf dem Finanzmarkt möglichsind.Außerdem stärken wir mit dem Gesetzentwurf dieAuskunfts- und Eingriffsrechte für die Börsenaufsichtund für die BaFin, und wir schreiben Gebühren für dieexzessive Nutzung von Handelssystemen vor. Ganzwichtig ist, dass bestimmte Handelsstrategien von Hoch-frequenzhändlern als Marktmanipulation eingestuft wer-den können. Es soll eine Begrenzung des Verhältnisseszwischen aufgegebenen Orders und tatsächlich ausge-führten Geschäften eingeführt werden. Damit geht manganz gezielt das kursmanipulative Problem der soge-
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26020 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012
Bettina Kudla
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nannten Quote-Stuffing-Taktik an, bei der Händler aushandelstaktischen Gründen pro Sekunde eine große An-zahl an Orders senden, nur um sie sofort wieder unaus-geführt zu löschen.Den Finanzmarkt in Deutschland kann man nicht iso-liert betrachten, sondern man muss ihn in den weltweitenFinanzmarkt einordnen. Um Ausweichreaktionen zuvermeiden, werden die Regelungen des vorliegendenGesetzentwurfes daher auch auf multilaterale Handels-systeme ausgeweitet. Das Hochfrequenzhandelsgesetzist somit ein wichtiger Baustein im Ordnungsrahmen fürdie Finanzmärkte. Mit diesem haben wir gleichzeitig denpositiven Nutzen erkannt und die Risiken deutlich be-grenzt. Wir erreichen damit eine höhere Stabilität undKrisenfestigkeit.Abschließend möchte ich festhalten: Die Bundes-regierung ist tatsächlich Vorreiter. Die Bundesregierungzieht im Gegensatz zu anderen europäischen Staaten dieVorschriften aus der sogenannten MiFID-Richtlinie, alsoder EU-Richtlinie zur Regulierung der Finanzmärkte,deutlich vor und schafft daher mehr Vertrauen imFinanzmarkt.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Frau Kollegin Bettina Kudla für die
Unionsfraktion. – Jetzt als nächster Redner für die Frak-
tion der Sozialdemokraten unser Kollege Manfred
Zöllmer. Bitte schön, Kollege Manfred Zöllmer.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!„Knightmare on Wall Street“ – das war in diesem Fallkeine Erfindung eines Hollywood-Regisseurs, sonderndas Ergebnis des Handelns einzelner Computer an derNew Yorker Börse, die eine neue Software hatten. ImErgebnis hatte dann die Aktienhandelsfirma KnightCapital in 45 Minuten 440 Millionen US-Dollar verlo-ren. Das war schade für die Firma.Es wäre nicht so schlimm gewesen, wenn es nur eineeinzelne Firma betroffen hätte. Die Auswirkungen einessolchen Fehlverhaltens sind gesamtwirtschaftlicher Art,und das ist das Problem. Der Hochfrequenzhandel birgt– das haben wir vorhin schon gehört – eine ganze Reihevon Risiken. Dabei steht die Geschwindigkeit im Vor-dergrund. Es geht eigentlich gar nicht mehr um Mikro-sekunden. Inzwischen sind wir bei Nanosekunden. Dasheißt, es geht um ein milliardstel Teil einer Sekunde. Esgeht um Algorithmen, das heißt, der Mensch ist weitge-hend außen vor. Die Computer haben die Möglichkeit,Märkte zu manipulieren. Sie können Aufträge geben, diesie sofort wieder zurückziehen. Das ist eine Lizenz zumGelddrucken für diejenigen, die dort tätig sind; sonstwürden sie nicht solche aberwitzigen Investitionen ma-chen, wie sie Herr Sänger hier beschrieben hat.Liebe Frau Kudla, mit Liquiditätsverbesserung undder Verbesserung der Märkte hat dies überhaupt nichtszu tun. Wir haben eben gehört, dass die Realwirtschaftüberhaupt keinen Nutzen von dieser Art der Tätigkeithat. Die Konsequenzen muss die Allgemeinheit tragen.Wir sind nicht gegen Veränderungen an der Börse. DerParketthandel ist Geschichte. Seit 1987 ist eigentlichklar, dass es Probleme geben kann. In diesem Jahr brachder Markt an einem Tag um 22 Prozent ein. Simple auto-matisierte Systeme hatten das verursacht. Natürlich kön-nen auch die „Wurstfinger“ irgendeines Menschen, deretwas in die Tastatur eingibt und sich um ein paar Stellenvertut, die Ursache für einen Crash sein.Die entscheidende Frage, die wir uns stellen müssen,ist: Kann der vorgelegte Gesetzentwurf der Bundesregie-rung die Bedrohung der Funktionsfähigkeit der Finanz-märkte verhindern?
Erste Vorbemerkung: Sie müssen verdammt vielAngst vor Peer Steinbrück haben,
wenn Sie einen solchen Gesetzentwurf vorlegen, wo Siedoch ganz genau wissen, dass Brüssel daran arbeitet,dass wir eine entsprechende Richtlinie bekommen. Esgeht bei Ihnen zunächst wie immer nach dem Motto:Schnell noch ein bisschen virtuelle Regulierung.
Sie wollen Vorreiter sein. Das geht dann nach demMotto: Wo wir sind, ist vorne, und wenn wir hinten sind,ist hinten vorne. Ich frage mich: Warum handeln Sie erstjetzt? Die Probleme sind doch seit geraumer Zeit be-kannt. Sie haben bisher aber nichts gemacht, obwohl dieAlgorithmen teilweise wirklich außer Rand und Bandsind.Die entscheidende Frage ist: Was würde dieses Gesetzeigentlich bewirken? Nicht nur Herr Söder hat das Stich-wort „Tempolimit“ aufgebracht. Auch auf der Home-page des Finanzministeriums heißt es: „Tempolimit fürden Hochfrequenzhandel“. Schauen wir uns den Gesetz-entwurf doch einmal an. Ein Punkt ist die Zulassungs-pflicht für Hochfrequenzhändler. Sehr schön, das kannman machen; aber das hat mit Tempolimit überhauptnichts zu tun. Dann wollen Sie die Systeme so ausgestal-ten, dass Störungen des Marktes unterbleiben. Sehrschön – getreu dem Motto: Wir verbieten den Diebstahl;damit verhindern wir in Zukunft Diebstähle –; aber auchdas bedeutet kein Tempolimit für den Hochfrequenzhan-del. Sie sprechen von zusätzlichen Informationspflich-ten. Ja, nur mit Tempolimit ist es nicht weit her. Die Ver-antwortung für die Umsetzung laden Sie dann bei derBörse bzw. der Geschäftsführung der Börse ab. Manmuss einmal die Frage stellen – der Kollege hat das ebenschon deutlich gemacht –: Hat die Geschäftsführung derBörse eigentlich ein Interesse daran, ein Tempolimit fürden Hochfrequenzhandel umzusetzen?
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012 26021
Manfred Zöllmer
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Die Antwort ist klar; sie lautet: Nein. Sie hat kein Inte-resse daran, weil sie daran verdient, und wenn man an et-was verdient, hat man kein Interesse daran, es einzudäm-men. Sie machen in diesem Fall sozusagen den Bockzum Gärtner.
Zusammenfassend können wir also feststellen: ImGesetzentwurf wird darauf verzichtet, eine wirklichwirksame Tempobremse einzuziehen. Sie haben keineMindesthaltedauer vorgesehen, was eine Tempobremsewäre. Das Europäische Parlament wird darauf aber nichtverzichten. Sie werden dies letztendlich umsetzen müs-sen. Eine Finanzmarkttransaktionsteuer in Verbindungmit einer Mindesthaltefrist wäre eine echte Tem-pobremse.Ich glaube, wir müssen hier noch ordentlich nachar-beiten. Das Europäische Parlament und wir werden Sieweiter drängen, hier richtig zu regulieren, damit das Ziel„Tempolimit“ auch tatsächlich erreicht wird. Der unsvorliegende Gesetzentwurf leistet das nicht.Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Manfred Zöllmer. – Nächster
Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege
Ralph Brinkhaus. Bitte schön, Kollege Ralph Brinkhaus.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es han-deln nicht mehr Menschen, sondern Computer in Bruch-teilen von Millisekunden über Glasfaserkabel jenseitsund diesseits des Atlantiks. Wir betreten scheinbar dasReich der Finsternis. Wir blicken in das Auge des Bösen,und irgendwo riecht es auch ein bisschen nach Schwefel,sagen die einen. Die anderen sagen: Hochfrequenzhan-del ist doch gut; das verschafft den Märkten Liquiditätund hilft bei der Preisstellung.Nun ist es an uns, diesen Widerspruch in irgendeinerArt und Weise aufzulösen. Das kennen wir; denn bei al-len Projekten, die wir bei der Finanzmarktregulierung inden vergangenen zwei Jahren angegangen sind, habenwir mit diesem Widerspruch leben müssen. Die einensagen: Komplett verbieten! Alles ist böse, und die ande-ren sagen: Wir haben mit der Krise nichts zu tun gehabt.Das ist doch alles gar nicht so schlimm. Das ist funktio-nal; das ist unter anderem für die Versorgung der Real-wirtschaft mit Liquidität wichtig. – Wir haben dies er-lebt, als wir die Vergütungsstrukturen reguliert haben.Wir haben dies erlebt, als wir die Leerverkäufe regulierthaben. Wir haben dies erlebt, als wir die Ratingagentu-ren reguliert haben. Wir haben dies erlebt, als wir dieFonds reguliert haben.
Wir haben dies auch erlebt, als wir das Bankenrestruk-turierungswesen reguliert haben.
Wir haben dies erlebt, als wir die Wertpapierberatung re-guliert haben, und wir werden dies noch erleben und er-leben es gerade bei der Regulierung von Eigenkapitalund Liquidität bei Banken und Versicherungen. Wir erle-ben dies auch ganz aktuell in den letzen Wochen und Ta-gen, wenn es darum geht, die OTC-Derivate zu regulie-ren. Mit diesem Widerspruch müssen wir leben.Wie gehen wir damit um, meine Damen und Herren?Schauen wir doch zunächst einmal auf die Opposition.Die Opposition sagt: Das ist alles ganz fürchterlichschlimm. – Ich glaube, die Bilder von Schwefel, die icheben gezeichnet habe, reichen Ihnen noch nicht. Sie sa-gen: Verbieten! Mehr einschränken! Das ist alles viel zuwenig, alles viel zu spät. – Ehrlich gesagt, kann ich dasüberhaupt nicht kritisieren; denn das ist die Aufgabe derOpposition. Die Aufgabe von Regierungshandeln isteine andere. Die Aufgabe von Regierungshandeln ist es,abzuwägen, auszugleichen und Kompromisse zu finden.Für Ihre Kritik müssen Sie keine Verantwortung über-nehmen. Wir aber müssen für das, was wir umsetzen,Verantwortung übernehmen. Das Leben ist also nichtganz so leicht, wie Sie sich das an der einen oder ande-ren Stelle vorstellen.Zur Philosophie dieses Gesetzentwurfs gehört es, dasswir die Vor- und Nachteile abgewogen haben. Dadurchsind wir zu einem Ergebnis gekommen, das aus Sicht derOpposition sicherlich mehr beinhalten könnte – das zusagen, ist auch Ihre Aufgabe –, wozu wir aber sagen:Wir müssen uns auch der Kritik der Märkte stellen.Jetzt komme ich auf den „Flash Crash“, der heuteschon eine große Rolle gespielt hat. Ich denke einmal,Herr Zöllmer und Herr Sieling, das war ein bisschenkomplizierter, als Sie es hier dargestellt haben. Ich geheaber davon aus, dass Sie alle den 100-Seiten-Bericht deramerikanischen Börsenaufsicht im Detail studiert habenund uns im Rahmen der Anhörung an der einen oder an-deren Stelle sagen können, was da genau passiert ist. Esist jedenfalls komplizierter, als Sie es hier ausgeführt ha-ben. Deshalb sind wir in diesem Zusammenhang gegeneinfache Lösungen.Ich komme jetzt zu den Kritikpunkten, die Sie ange-führt haben. Sie sagen: zu spät. Dieses Argument kommtimmer; was wir machen, machen wir immer zu spät.
Dabei sind wir oft die Ersten in Europa. Man kann sichaber auch fragen, liebe Kollegen von der SPD – es sindnur wenige da, und ich sehe nur Kollegen –, ob es denHochfrequenzhandel nicht schon in den Jahren 2007,2008, 2009 gegeben hat und was zu jener Zeit dagegengemacht worden ist.
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26022 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012
Ralph Brinkhaus
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Dieses Argument der SPD ist also nicht überzeugend.Vorschläge zum Hochfrequenzhandel habe ich in denletzten Jahren weder von Ihnen noch von Ihrem gut be-schäftigten Kanzlerkandidaten gehört. Deshalb sollteman das Argument „zu spät“ nicht gelten lassen.Die Linken sagen: Ganz verbieten.
– Das ging ein bisschen in diese Richtung. – Ein kom-plettes Verbot wäre natürlich ein radikaler Schnitt. Manmüsste einmal sehen, welche Auswirkungen das auf dieFinanzmärkte hätte. Vielleicht ist dieser Schritt sogarrichtig; aber den Nachweis sind Sie uns bisher schuldiggeblieben. Ich glaube, das Schwert „Komplettverbot“,das allzu oft von der linken Seite dieses Hauses ge-schwungen wird, hilft uns am Ende des Tages nicht wei-ter.Jetzt komme ich zu einem Thema, das Sie alle an ir-gendeiner Stelle vereint, nämlich die Mindesthaltefris-ten. Auch wir haben uns mit diesem Thema beschäftigt.Haben Sie sich eigentlich auch einmal mit der Frage be-schäftigt, was Mindesthaltefristen verursachten, wennsie denn eingeführt würden? Ich rede jetzt nicht davon,dass irgendwelche Geschäfte abwandern, dass die Ge-schäfte von Computern in Frankfurt auf Computer in derSchweiz übertragen werden, sondern ich rede davon,was es bedeutet, wenn ich mein Angebote über eine ge-wisse Zeit stellen muss, während andere in kürzeren Ab-ständen hineingehen können. Was bedeutet das für diePreisstellung? Was bedeutet das für die Liquidität derMärkte? Was bedeutet das für die Stornoraten?
Im Grunde genommen werden doch bei einer Mindest-haltedauer Frequenz und Geschwindigkeit bei den Ange-boten durch Frequenz und Geschwindigkeit bei denStornierungen ersetzt. Das muss man doch beachten.Deswegen sage ich Ihnen: So einfach, wie Sie es darge-stellt haben, ist es nicht. Ich glaube, es lohnt sich, dasswir uns im Rahmen der Anhörung noch einmal intensivmit diesem Thema beschäftigen
und prüfen, ob eine Mindesthaltefrist tatsächlich gut istoder weniger gut. Ich denke, wir werden dort zu einemErgebnis kommen.Ich könnte auf weitere Kritikpunkte eingehen. Das istaber nicht Aufgabe in erster Lesung; denn darüber wer-den wir uns noch zur Genüge austauschen.Ich möchte noch etwas Grundsätzliches sagen, weildas bereits angesprochen wurde. Die einen haben gesagt,wir würden zu spät handeln. Herr Schick von den Grü-nen hat gesagt: Wartet doch ab, was auf europäischerEbene unternommen wird! Das steht doch bald an. –Wieso machen wir das jetzt eigentlich, wo doch auf eu-ropäischer Ebene im Rahmen der MiFID-Überarbeitungauch sehr viel über den Hochfrequenzhandel gesprochenwird? Diese Frage kann ich Ihnen beantworten.Erstens. Die MiFID ist hier in Deutschland wahr-scheinlich nicht vor 2014 oder 2015 umsetzbar. Wir ha-ben mit unseren europäischen Freunden die Erfahrunggemacht, dass die Bereitschaft, eine Sache fertigzube-kommen, in der letzten Zeit arg abgenommen hat – es seidenn, man ist motiviert wie bei der Bankenunion, wennes darum geht, an irgendwelche Geldtöpfe heranzukom-men. Wir warten auf europäischer Ebene immer nochauf die Umsetzung von Basel III. Wir warten immernoch auf die Umsetzung von Solvency. Bei Solvency istüberhaupt kein Ende absehbar; bei Basel III werden wirvielleicht ein bisschen Verspätung haben. Wir wollenuns also nicht darauf verlassen, wann die Kollegen inEuropa fertigwerden. Wir wollen unsere Finanzmärktejetzt regulieren.
Das ist die Aufgabe dieser Regierung. Dieser Aufgabehaben sich diese Regierung und diese Koalitionsfraktio-nen gestellt mit wahrscheinlich schon über 20 Gesetzenund Initiativen. Es würde sich einmal lohnen, sie nach-zuzählen.Zweitens. Regulierungspolitik setzt immer auch Zei-chen. Wir setzen auf nationaler Ebene das Zeichen ge-genüber der Branche, dass wir nicht alles dulden. Ichdenke, dieses Zeichen ist dringend notwendig, weil wiralle – da sind wir uns sicherlich einig – wissen, dass wirhöllisch aufpassen müssen, dass die Exzesse der Finanz-märkte nicht fortgeführt werden. Dementsprechend set-zen wir an dieser Stelle ganz bewusst das Zeichen: Esgibt Grenzen. Ich glaube, es ist richtig und auch wichtig,dass wir da nicht auf europäische Initiativen warten, son-dern es selber machen. Wir senden aber auch ein Zei-chen an die Opposition: Wir können mehr, als nur kri-tisieren, problematisieren und Vorschläge machen; wirsind auch in der Lage, etwas umzusetzen. Wir habengezeigt, dass wir Dinge umsetzen. Wir versuchen, mög-lichst viel von dem umzusetzen, was in unserem Koali-tionsvertrag steht: Kein Finanzmarktprodukt, kein Ver-triebskanal, kein Akteur soll unreguliert bleiben. Ichglaube, meine Damen und Herren, wir sind da in denletzten drei Jahren schon verdammt weit gekommen.Wenn ich vergleiche, was diese Regierung geleistet hatund was Vorgängerregierungen mit einem SPD-Finanz-minister geleistet haben, komme ich zu dem Ergebnis:Es ist bravourös, was wir gemacht haben.
Vor diesem Hintergrund denke ich, dass es sich lohnt,noch in dieser Legislaturperiode den Hochfrequenzhan-del zu regulieren, genauso wie wir noch die Honorarbe-ratung regeln und Ihnen Vorschläge zu einem Banken-testament und zum Umgang mit dem Problem „too bigto fail“ vorlegen werden, genauso wie wir die OTC-De-rivate in den nächsten Wochen regulieren werden und imBereich der Versicherungsaufsicht, wenn die Umsetzungvon Solvency II zu lange dauert, darauf drängen werden,das eine oder andere vorzuziehen. So werden wir esbeim Hochfrequenzhandel machen: Wir werden diesenGesetzentwurf überweisen und ihn in den Ausschüssen
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Ralph Brinkhaus
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beraten. Wir werden die Stellungnahmen erhalten unduns jeder Kritik stellen. Ich denke, wir werden zu einemguten Ergebnis kommen und auch diesen Punkt, die Re-gulierung des Hochfrequenzhandels, mit der Koalitionbeschließen. Wir machen einen Haken dran. Das zeigt,wie gut wir sind.Danke schön.
Vielen Dank, Kollege Ralph Brinkhaus.
Wir haben auf unserer Rednerliste keine weitere
Wortmeldung, sodass ich die Aussprache schließe.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/11631 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann haben wir gemeinsam die Überweisung so be-
schlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tages-
ordnungspunkt 15 sowie Zusatzpunkt 12 auf:
15 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung zu dem Antrag
der Abgeordneten Heidrun Bluhm, Steffen
Bockhahn, Halina Wawzyniak, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion DIE LINKE
Ausverkauf staatlichen Eigentums stoppen –
Keine Privatisierung der TLG-Wohnungen
– Drucksachen 17/9150, 17/10361 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Sebastian Körber
ZP 12 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung zu dem Antrag
der Abgeordneten Hans-Joachim Hacker, Sören
Bartol, Uwe Beckmeyer, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Wohnungspolitische Verantwortung bei Über-
tragung der bundeseigenen TLG-Wohnungen
sichern
– Drucksachen 17/9737, 17/10717 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Götz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann haben wir das gemeinsam so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als Erster hat unser Kol-
lege Gero Storjohann für die Fraktion der CDU/CSU das
Wort. Bitte schön, Kollege Gero Storjohann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die aus derTreuhandanstalt entstandenen Nachfolgegesellschaften,die Treuhandliegenschaftsgesellschaften TLG Immobi-lien GmbH und die TLG Wohnen GmbH, sollten bereits2008 vom Bund verkauft werden. Die damalige Finanz-krise stand einer Veräußerung der Immobilien im Wege.Inzwischen hat sich der Markt verändert, und so ist jetztseitens der Bundesregierung eine Veräußerung eingelei-tet worden. An beiden Gesellschaften – das möchte ichfeststellen – besteht kein wichtiges Bundesinteresse imSinne der Bundeshaushaltsordnung.
Die Bundesrepublik ist deshalb verpflichtet, sich vonden Beteiligungen an den Treuhandliegenschaftsgesell-schaften zu trennen.Das Verkaufsverfahren wurde vom Bundesfinanz-ministerium europaweit bekannt gemacht. Investorenkonnten bis zum 16. April ihr Kaufinteresse bekunden.Die Anträge der Fraktion Die Linke und der SPD zielendarauf ab, die Privatisierung der TLG ImmobilienGmbH bzw. ihres Wohnungsbestandes zu stoppen.
In der Begründung des Antrags der Linken heißt es, dassder Ausverkauf öffentlichen Eigentums die wirtschaftli-che und politische Handlungsfähigkeit des Sozialstaatesschwäche und daher verhindert werden müsse.
Diese Auffassung teilen wir
von der CDU/CSU nicht.Ich erinnere an den Verkauf von 114 000 bundeseige-nen Eisenbahnerwohnungen im Jahre 2000, der damalsvon der rot-grünen Bundesregierung vorgenommen wor-den ist.
Jetzt geht es um einen Bestand von 11 350 Wohnungenim Osten Deutschlands. In den damaligen Verhandlun-gen wurde der denkbar weitestgehende Mieterschutz er-reicht.
So bewertete es jedenfalls der von mir geschätzte Kol-lege Kurt Bodewig, damals Verkehrsminister von derSPD,
auf dem Gewerkschaftstag der Eisenbahner in Magde-burg am 26. November 2000.
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26024 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012
Gero Storjohann
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Warum sollte dies also beim Verkauf der TLG-Immobi-lien nicht zutreffen?
Ich möchte hervorheben, dass in Deutschland ange-messenes und bedarfsgerechtes Wohnen im Rahmen desgeltenden Rechts sehr wohl gewährleistet ist. Im födera-len System der Bundesrepublik ist es übrigens nicht Auf-gabe des Bundes, unmittelbar oder mittelbar über Bun-desunternehmen wie die TLG Wohnen Wohnraum zurVerfügung zu stellen.
Ihre Schwarzmalerei über die zukünftige Situationder Mieter ist verantwortungslos, und Sie schürenÄngste bei den betroffenen Menschen. Das soziale Miet-recht stellt einen angemessenen Ausgleich zwischenMietern und Vermietern her.
Ein gegebenenfalls vereinbarter Mieterschutz in Formeiner Sozialcharta erreicht in aller Regel ein höheresSchutzniveau als gesetzlich ohnehin vorgesehene Rege-lungen.
Herr Kollege Storjohann, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage des Herrn Kollegen Bockhahn von der Frak-
tion Die Linke?
Aber gern.
Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Kollege Storjohann. Es war ja ein
schwerer Vorwurf, als Sie sagten, dass wir Ängste schü-
ren würden und unsere Befürchtungen unbegründet
seien. Haben Sie gestern Abend zufällig Zeit gehabt,
eine Sendung im Zweiten Deutschen Fernsehen zu
schauen? Ein gewisser Rolf Elgeti – wenn ich richtig in-
formiert bin, ist er der Vorstand der kaufenden TAG –
hat in einer Sendung darüber gesprochen, dass die Miet-
preise in Deutschland viel zu niedrig seien, dass Wohnen
deutlich teurer werden müsse und dass das Investment in
Wohnungen noch lange nicht ausgeschöpft sei. Er hat
darüber hinaus in der letzten Woche erklärt, dass er der
Auffassung ist, dass eine Mietpreiserhöhung in Höhe
von 5 Prozent per annum auch in den gerade gekauften
Wohnungsbeständen absolut in Ordnung sei.
Ich frage Sie, ob Sie sich in die Lage einer Mieterin
oder eines Mieters einer der gerade verkauften Wohnun-
gen hineinversetzen können. Die haben schon Befürch-
tungen, dass die bisherige solide und die Mietpreise
dämpfende Wohnungspolitik nicht mehr fortgeführt
wird.
Erstens. Ich hatte gestern Abend keine Gelegenheit,eine Sendung im ZDF zu schauen, weil ich hier im Ple-num war.
Zweitens ist eine Erhöhung von 5 Prozent im Rahmendes Mietspiegels in Berlin etwas ganz Normales. Inso-fern ist das keine besondere Situation, die Sie hier be-schreiben. Ich bin hier in Berlin auch Mieter und be-komme ähnliche Mieterhöhungen präsentiert. Ich habedie Gewissheit, dass mein Vermieter die Finanzkraft hat,dafür zu sorgen, dass der gesamte Wohnungsbestandenergetisch top ist und dass alles für mich als Mieterprima hergerichtet ist. Insofern kann ich Ihre Befürch-tung nicht nachvollziehen.
Herr Präsident, ich fahre fort. – Wir haben bei denWohnungsverkäufen in einzelnen Fällen selbstverständ-lich auch negative Erfahrungen gemacht. Aber mit derTAG haben wir einen Käufer gefunden, der in Deutsch-land sehr wohl ein gutes Renommee hat. Es handelt sichum eine Firma, die schon lange auf dem Markt ist, undnicht um einen Finanzinvestor aus Übersee, der sich umdie Wohnungsbestände beworben hat. Eine Sozialchartawird dafür sorgen, dass Kündigungen für ältere und be-hinderte Menschen ausgeschlossen werden. Auch einVerbot von Luxussanierungen wird enthalten sein. Wirsind sehr zuversichtlich, dass wir eine gute Entscheidunggetroffen haben.Aus Gründen des EU-Beihilferechts ist es übrigensnicht zulässig, die Bieter zum Verbot von Mieterhöhun-gen zu verpflichten, wie Sie das hier anregen. Es ist auchnicht erlaubt, mit den Kommunen im Rahmen einer sol-chen Ausschreibung in Einzelverhandlungen einzutre-ten. Alles das, was Sie vorschlagen, ist im Ergebnis un-redlich.Ich kann nur hoffen, dass Sie im Laufe der Zeit erken-nen, dass wir hier eine gute Entscheidung vorbereitet ha-ben und die Immobiliengesellschaft TAG aus Hamburgetwas Gutes entwickelt. Sie hat letzten Endes auch einegute Entscheidung für sich selbst getroffen. Wir werdenuns dafür einsetzen, dass die vorgesehene Sozialchartaeingehalten wird.
Wir sind zuversichtlich, dass die Veräußerung eine guteEntscheidung für die Bundesrepublik Deutschland undauch für die Mieter gewesen ist.
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Gero Storjohann
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Vielen Dank, Kollege Gero Storjohann. – Der nächste
Redner ist schon da: für die Fraktion der Sozialdemokra-
ten unser Kollege Hans-Joachim Hacker. Bitte schön,
Kollege Hans-Joachim Hacker.
Danke, Herr Präsident. – Das Wochenende steht vorder Tür; deswegen wollen wir zügig über die beiden vor-liegenden Beschlussempfehlungen diskutieren.Herr Kollege Storjohann, das, was Sie hier vorgetra-gen haben, ist reine Ideologie.
Schauen Sie sich doch einmal den Wohnungsmarkt an!Der Wohnungsmarkt ist im Moment durch steigendeMieten gekennzeichnet – das ist der Trend –, insbeson-dere bei Neuvermietungen in Ballungsräumen und inUniversitätsstädten. Es gibt entsprechende Statistiken.Danach betrug die Mietsteigerung in Hamburg allein imJahr 2011 7,5 Prozent.
– Ursache dafür ist doch die Situation auf dem Woh-nungsmarkt in Hamburg und nicht die Wohnungswirt-schaft des Senats. –
In Berlin gab es eine Mietsteigerung von 7,4 Prozent.Der eine oder andere von uns wird etwas davon gemerkthaben. In Freiburg im Breisgau betrug die Mietsteige-rung 8,1 Prozent. Das lässt sich grafisch darstellen alsLinie der Mietpreissteigerungen in den letzten Jahren,Herr Storjohann.Die SPD-Bundestagsfraktion meint: Wir dürfen nichtnur zuschauen, sondern müssen das Mietrecht gestalten,und zwar im Großen wie im Kleinen. Mit „im Kleinen“meine ich die TLG Wohnen. Hier hätten wir handelnmüssen. Es gibt zwei TLG-Teilbestände: TLG Wohnenund TLG Immobilien. Der SPD-Bundestagsfraktion gehtes bei der Frage, wie mit dem Bestand der TLG Wohnenumgegangen werden soll, der vor allem an der Ostsee-küste, im Großraum Berlin und in Sachsen zu finden ist,um soziale Aspekte und den Mieterschutz. Deswegenhaben wir diesen Antrag gestellt.Wir fordern in unserem Antrag, die Bestände derTLG Wohnen nicht weiter zu veräußern. Bei derTLG Immobilien sieht das anders aus, Herr Storjohann;auch wir sind der Meinung, dass der Bund bei Bürohäu-sern und ähnlichen Immobilien nicht ewig und drei Tagedie Eigentümerfunktion ausüben muss. Im Bereich Woh-nen ist das aber etwas anderes. Wohnen ist ein sozialesGut.
Warum haben Sie etwas dagegen, dass die Länderdurch den Bund angesprochen werden. Bei den Liegen-schaften, die durch die Konversion, die Reform der Bun-deswehr frei werden, machen wir doch Ähnliches. Dawird sogar mit den Kommunen gesprochen, allerdingsnicht konkret genug; doch das ist ein anderes Thema.Die Botschaft, dass mit den Ländern gesprochen werdensoll, war richtig.Zu Beginn dieser Legislaturperiode haben wir hierüber ein ähnliches Thema diskutiert, über den Seenver-kauf vor allem in Brandenburg und Mecklenburg-Vor-pommern. Damals haben wir gesagt: Stopp der Verkäufeund Aufnahme von Verhandlungen mit den Ländern!Dann soll entschieden werden, wie die Seen an die Kom-munen oder Länder übergeben werden können. – DiesesVorhaben haben Sie von FDP und CDU/CSU damalsblockiert.
Was haben Sie später tatsächlich gemacht? Sie habenVerhandlungen mit den Ländern aufgenommen; auf die-sem Wege wurden Lösungen gefunden. Warum habenSie unseren Antrag damals eigentlich abgelehnt? Dafürgab es keinen sachlichen Grund.
Auch bei diesem Thema gibt es keinen sachlichenGrund, unserem Antrag nicht zuzustimmen, HerrStorjohann. Sie haben aber nicht reagiert.Wir haben uns auch mit anderen Vorschlägen be-schäftigt. Wer den Antrag gelesen hat, stellt fest, dasswir ein Festpreisverfahren wollten. Wir wollten, dass dieSanierungsmaßnahmen weitergeführt werden. Vor allenDingen wollten wir aber, dass dieser Prozess mit denMieterinnen und Mietern organisiert wird und die Miete-rinnen und Mieter nicht einfach durch ein Rundschrei-ben informiert werden.
Das alles haben Sie abgelehnt. Das kritisieren wir scharf.Wir kritisieren, dass Sie sich den Erfordernissen desWohnungsmarktes verweigern und in keiner Weise aufdie Notwendigkeiten eingehen.Sie haben hier eine Sozialcharta angekündigt, KollegeStorjohann. Ich glaube nicht, dass eine Sozialcharta Si-cherheit und Ruhe bringen wird. Wir haben das Projektin Dresden noch vor Augen, bei dem auch eine Sozial-charta existierte. Am Ende mussten wir aber feststellen,dass sie viele Lücken hatte.
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26026 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012
Hans-Joachim Hacker
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Dass die Sozialcharta keine Sicherheit bringen wird,beweist die Antwort der Bundesregierung auf die KleineAnfrage, die wir zu diesem Thema gestellt haben. Daswar keine schlüssige Antwort. Sie haben nur auf dasPhänomen Sozialcharta verwiesen. Wir wissen alle, dassdieses keine Sicherheit gibt. Wir werden das alles erle-ben.Sie hätten auf unsere Vorschläge eingehen können.Sie hätten sie nicht alle übernehmen müssen; aber Siehätten die Verhandlungen mit den Ländern aufnehmenkönnen und den Kommunen, den kommunalen Woh-nungsgesellschaften und den Genossenschaften Ange-bote machen können.Herr Staatssekretär
– Herr Abgeordneter; aber Sie haben hier eine Doppel-funktion, lieber Kollege –, im Informationsblatt desGdW lese ich, mit welchen Lobgesängen die Bundesre-gierung das Genossenschaftswesen preist, das in diesemJahr übrigens ein Jubiläum hat. Die Frau Bundeskanzle-rin preist das Genossenschaftswesen über alle Maßen.Jetzt bieten wir an, die Fähigkeiten und Qualitäten vonWohnungsgenossenschaften in den neuen Ländern zunutzen, und Sie gehen nicht darauf ein. Das ist doppel-züngig. Dazu kann ich nichts anderes sagen.
– Herr Mücke, Sie haben noch Gelegenheit, zu diesenVorwürfen Stellung zu nehmen.Herr Minister Ramsauer kündigt, gerade was Woh-nungen angeht, ständig etwas Neues an. Im Zusammen-hang mit den Immobilienliegenschaften, die von derBImA verwaltet werden, und den Konversionsflächendurch die Bundeswehrreform kommt er mit der Idee, ei-nen geschlossenen Konversionsfonds vorzulegen. Ichhatte Sie neulich schon gefragt, wann das kommen wird.Das kann nicht kommen, weil Ihr Kollege Ihnen das ausder Hand genommen hat. Der Bundesfinanzminister hatIhnen das untersagt.Jetzt kommt der Bundesbauminister mit einer neuenIdee, nämlich aus den Liegenschaften der BundeswehrStudentenwohnungen zu machen. Herr Mücke, ich stelleIhnen die Frage: Wird Herr Dr. Ramsauer auch den Nah-verkehr zwischen dem Campus und der Liegenschaft imWald organisieren?
Das sind doch fixe Ideen, die Sie am Wochenende inTraunstein ausbrüten. Das, was Sie hier an Wohnungs-politik vorlegen, hat doch keine Substanz.
Es gibt einen zweiten Antrag, und zwar von den Lin-ken. Sie wollen den Gesamtverkauf stoppen. Ich glaube,wir haben uns im Ausschuss schon darüber unterhalten.Das war eine kleine Fehlformulierung. Sie meinen wohleigentlich den Wohnungsbestand und nicht die Gewer-beimmobilien. Das nehmen wir jetzt einfach so hin. – Fürmich ist es nicht ganz einfach, nachzuvollziehen, dass Siesich selbst – entgegen der Intention Ihres Antrags – amBieterverfahren beteiligen. Das ist für mich nicht logisch.Ich kann das nur damit in Verbindung bringen, dass Sievielleicht doch die Absicht hatten, die ExpertenLafontaine und Dr. Gysi in den Vorstand dieser Gesell-schaft aufzunehmen. Oder was stand dahinter? Ich warmir darüber nicht so ganz im Klaren.
Ich warne davor. Mir ist in diesem Moment eigentlichdas Interesse der Mieterinnen und Mieter höherwertigals die Funktion dieser beiden Experten, die sich be-kanntermaßen schon als Minister und Senator betätigthaben.
Meine Damen und Herren, der Vorschlag, dass einePartei eine Genossenschaft gründet, ist wirklich ein Dingaus der Mottenkiste. Das nehmen wir Ihnen nicht ab.Den zweiten Punkt Ihres Antrags unterstützen wirnachdrücklich,
nämlich dass die soziale Kompetenz bei diesen Entschei-dungen beachtet werden muss, was durch Schwarz-Gelbleider nicht beachtet worden ist. Deshalb enthalten wiruns bei Ihrem Antrag.
Ich komme zum Ende. Was ist das Fazit dieser beidenAnträge? Der Antrag der SPD-Bundestagsfraktion istgut. Er ist gut für die Mieterinnen und Mieter, und er istauch gut für den regionalen Wohnungsmarkt in den Ge-bieten, in denen die TLG-Wohnungen liegen.
Die Koalitionsfraktionen – Herr Storjohann, ichschreibe Ihnen das ins Stammbuch – haben aus ideologi-schen Gründen blockiert. Es gibt viele andere Beispieledafür, dass Bundesvermögen auf andere, sozialverträgli-che Weise privatisiert worden ist.Mein letzter Satz: Kolleginnen und Kollegen von derKoalition, Sie fahren heute mit einem „Mangelhaft“nach Hause in Ihre Wahlkreise. Ich wünsche Ihnen trotz-dem eine gute Fahrt.
Das war unser Kollege Hans-Joachim Hacker. –Nächster Redner ist der Parlamentarische Staatssekretär,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012 26027
Vizepräsident Eduard Oswald
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Kollege Jan Mücke. Bitte schön, Herr ParlamentarischerStaatssekretär Jan Mücke.
J
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Lieber Herr Kollege Hacker, wennich Ihre Rede so höre und Ihre Anträge lese, und zwarsowohl den von der SPD-Fraktion als auch den von denLinken, dann könnte man meinen, dass der von denMaya prophezeite Weltuntergang auf heute vorverlegtwurde; denn Sie tun so, als stünde die gesamtdeutscheWohnungsversorgung auf dem Spiel.
Ich darf Sie bitten, auf dem Teppich zu bleiben.Worüber reden wir? Wir reden über die Privatisierungder TLG-Wohnungen. Dabei geht es um 11 500 Woh-nungen; dies sind 0,03 Prozent des deutschen Gesamt-wohnbestandes bzw. 0,14 Prozent des ostdeutschen Be-standes. Die Objekte verteilen sich weiträumig aufinsgesamt 53 Standorte in ganz Ostdeutschland. Es gibtdemzufolge auch keine Konzentration. Der größte Stand-ort ist meine Heimatstadt Dresden mit 2 173 Wohneinhei-ten. Selbst das ist nicht einmal 1 Prozent des DresdenerGesamtwohnungsbestandes. Zudem liegen diese Domi-zile nicht in angespannten, sondern in entspannten Woh-nungsmärkten, meist dort, wo Leerstand und Bevölke-rungsschwund herrschen. Angesichts dieser Fakten istes, meine Damen und Herren von den Linken, geradezuabsurd, Grundfragen der Wohnungspolitik an der Priva-tisierung der TLG-Wohnungen festzumachen. Aber dieRealität hat Sie ja noch nie gestört, liebe Kollegen vonden Linken.
In Teil eins Ihres Antrags haben Sie entweder Allge-meinplätze oder sogar Falschbehauptungen formuliert.Die Forderungen in Teil zwei Ihres Antrags sind ange-sichts der tatsächlichen Lage auf dem ostdeutschenWohnungsmarkt schlicht und ergreifend überflüssig.Keine Kommune und keine Landesregierung – auchnicht die rot-rote in Brandenburg – hat Interesse am Er-werb der TGL-Wohnungen bekundet. Das finde ich sehrspannend.
Offenbar sehen die Länder und Kommunen selbst dort,wo SPD und Linke gemeinsam regieren, die Lage längstnicht so kritisch, wie Sie hier der Öffentlichkeit weisma-chen wollen.Zurück zur Realität und damit zu Ihnen, verehrte Kol-legen von der SPD. Auch Sie haben in Ihrem Antrag ge-fordert, die Privatisierung der TLG-Wohnungen nichtfortzuführen. Nebenbei betrachtet: Sie haben Ihren An-trag einige wenige Tage nach den Linken eingebracht.Ich war versucht, an ein linkes Wettrennen zu denken.Wenn ich beide Anträge nebeneinanderlege, habe ichden Eindruck, dass die Aussagen inhaltlich fast identischsind.
Insofern wäre es ehrlicher gewesen, Sie hätten gemein-sam einen Antrag eingebracht. Aber dass die SPD über-haupt die Unverfrorenheit besitzt,
einen solchen Antrag einzubringen, geschätzte Kollegenvon der SPD, das finde ich ein sehr starkes Stück. Dennals Sie noch im Bund regierten, sind Sie nicht halb sozimperlich gewesen, wenn es um Wohnungsprivatisie-rungen ging.
Erstes Beispiel. In Ihrer Regierungszeit, im Jahr 2000,gingen – das ist schon angesprochen worden – rund113 000 Eisenbahnerwohnungen über den Verkaufstisch,davon rund 64 000 an einen durch die japanische Groß-bank Nomura finanzierten Investor.
In Münteferings Diktion ist dies eine klassische Heu-schrecke.
Die ehemalige Arbeiterpartei SPD verkaufte damit nichtnur einfach Wohnungen an eine Heuschrecke, sondernauch eine ganze betriebliche Sozialeinrichtung.
Ihr damaliger SPD-Bauminister Reinhard Klimmtwischte die Kritik daran rigoros beiseite und erklärtemannhaft, die Bundesregierung halte an der Absicht fest,notwendige Beiträge zur Haushaltsentlastung durch Pri-vatisierung der Eisenbahnerwohnungen zu realisieren.
Das ist sehr interessant.Zweites Beispiel. Unter Ihrer Regierungsverantwor-tung, Kolleginnen und Kollegen von der SPD und vonden Grünen, wurden 2004 weitere 82 000 öffentlicheWohnungen der Bundesversicherungsanstalt für Ange-stellte, BfA, privatisiert. Das sind die sogenanntenGAGFAH-Wohnungen.
Beide Großverkäufe sind schon allein zahlenmäßigganz andere Kaliber als die TLG-Wohnungen, ganz ab-
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Parl. Staatssekretär Jan Mücke
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gesehen von den sozialen Rahmenbedingungen. Erst mitdem GAGFAH-Verkauf wurde überhaupt erstmals eineSozialcharta eingeführt,
wobei diese Sozialcharta gegenüber der Dresdner So-zialcharta inhaltlich deutlich abfällt.Ein Blick auf die Details lohnt sich. Ihre damaligeGAGFAH-Sozialcharta beinhaltete sieben Punkte. Diesebezogen sich hauptsächlich auf den Mieterschutz. DieDresdner Sozialcharta beinhaltete hingegen 20 Punkte
zum Mieterschutz, zum Arbeitnehmerschutz, zur Stadt-entwicklung, zu Vertragsstrafen und zu Kontrollen. Dasist die Wahrheit, und bitte bleiben Sie bei der Wahrheit.
Ich weiß, es tut Ihnen jetzt weh, aber es kommt nochein drittes Beispiel. Auch im rot-roten Berliner Senat– man höre und staune! – ging es forsch zur Sache.
2004 wurde die landeseigene GSW mit fast 70 000 Woh-nungen verkauft, und weitere Tausende Wohnungen ver-äußerten die kommunalen Berliner Wohnungsgesell-schaften seither allein.
– Hochinteressante Bemerkung.Aber auch die Berliner Grünen zierten sich nicht.2003 schlugen sie angesichts des „katastrophalen Schul-denbergs“ bei den Berliner Wohnungsgesellschaften vor,mehr als die Hälfte des gesamten Berliner Wohnungsbe-standes – man höre und staune! – zu verkaufen.
Meine Damen und Herren, da liegt es wohl auf der Li-nie, wenn erst Anfang dieses Jahres die grün-rote Lan-desregierung von Baden-Württemberg mit dem grünenMinisterpräsidenten Winfried Kretschmann an derSpitze die 21 000 Wohnungen ihrer Landesbank an einenprivaten Investor verkaufte.
Man kann es sehr einfach zusammenfassen: Niemandhat in Deutschland mehr öffentliche Wohnungen an so-genannte Heuschrecken verkauft als Linkspartei, SPDund Grüne zusammen.
Deshalb: Verschonen Sie bitte die Öffentlichkeit mit Ih-ren Täuschungsmanövern! Sie handeln zutiefst unauf-richtig, und Ihre Anträge sind unredlich.
Meine Damen und Herren, es ist doch sehr seltsam,dass Ihnen derartige Großtransaktionen im Gegensatzzur Mini-TLG-Transaktion offenbar keine Bauch-schmerzen bereitet haben. Klar, es waren ja Ihre eigenenVeräußerungen, es waren sozusagen gute Verkäufe, dievon den Richtigen durchgeführt wurden.
Sie denken an die Redezeit, Herr Staatssekretär?
J
Ich bin gleich am Ende meines Manuskripts. – Auch
hierzu ein Beispiel: Das SPD-Mitglied Franz-Georg
Rips, Direktor des Deutschen Mieterbundes, lobte nach
dem Verkauf der 82 000 GAGFAH-Wohnungen durch
die rot-grüne Landesregierung die Sozialcharta: „Dieses
Mieterschutz-Paket kann sich sehen lassen“.
Als ein Jahr später Dresden die WOBA verkaufte,
sprach er von einem Albtraum für die Mieterinnen und
Mieter – trotz weitaus besserer Sozialcharta. – Klar, hier
hatten die Falschen verkauft.
Bitte hören Sie auf mit dieser Doppelmoral! Das, was
Sie hier tun, ist eine Verhohnepipelung der Öffentlich-
keit. Das hat nichts mit Wahrheit und Klarheit zu tun.
Herr Staatssekretär.
J
Ich glaube, dass die Veräußerung der TLG Wohneneine gute Entscheidung ist. Wir gucken uns die Märktean. Sie können weiter versuchen, die Öffentlichkeit zubelügen.
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Jeder ist für das verantwortlich, was er sagt. Aber das
Wort „Lüge“ sollte in diesem Haus nicht vorkommen.
Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke un-
sere Kollegin Heidrun Bluhm. Bitte schön, Frau Kolle-
gin Heidrun Bluhm.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Vor allem meine Damen und Herren der Bundesre-gierung und auch sehr geehrter Herr Kampeter vomBundesfinanzministerium – wo ist er jetzt? Er sitzt jetzthier als Abgeordneter –, glauben Sie vielleicht im Ernst,dass Sie uns durch Ihren hektischen Aktionismus, denSie beim Verkauf der TLG Wohnen GmbH an den Taggelegt haben, austricksen können?
Der vorgestern eilig vollzogene und geheimnisvolle Ab-schluss des Kaufvertrages wird Sie nicht davor schützen,dass Ihre Machenschaften nicht doch ans Tageslichtkommen; denn dafür werden wir sorgen.
Abgesehen davon, dass Sie in vollem Wissen darumgehandelt haben, dass die Parlamentarier in dieser Wo-che Anträge auf einen Verkaufsstopp öffentlich abschlie-ßend beraten werden, haben Sie damit vor allem dieMieterinnen und Mieter vor vollendete Tatsachen ge-stellt, ohne sie davon in Kenntnis zu setzen.
Das soll der neue Eigentümer nicht morgen, nichtnächste Woche oder nächsten Monat tun; nein, das soller im nächsten Jahr machen; so ist die Verlautbarung.Aber das Jahr ist lang! Das ist ein Skandal, meine Da-men und Herren,
so wie Ihre gesamte Informationspolitik gegenüber denbetroffenen Mieterinnen und Mietern in den letzten Mo-naten ein Skandal war.
Offensichtlich haben Sie sehr viel zu verheimlichen,wenn Sie sowohl Ihr Parlament als auch die Mieterinnenund Mieter, vor allem aber die Öffentlichkeit völlig he-raushalten wollen.
Eigentlich wollten Sie ein offenes, transparentes und be-dingungsfreies Bieterverfahren durchführen. Ihre Vorge-hensweise ist weder transparent noch offen und schongar nicht bedingungsfrei.
Sie haben vorgestern für knapp eine halbe MilliardeEuro das letzte Wohnungsvermögen der Bürgerinnenund Bürger der ehemaligen DDR an den internationalenImmobilienmarkt verscherbelt,
obwohl Sie auch die Chance gehabt hätten, diese Woh-nungen denjenigen zu verkaufen, denen sie eigentlichgehören.
Wenn die Mieterinnen und Mieter auch ein zweites Maldafür bezahlt hätten, wären sie doch nach 22 Jahren end-lich rechtmäßige Eigentümer der Wohnungen geworden.Sie wollten Tatsachen schaffen, obwohl im ParlamentAnträge eingebracht wurden, den Verkauf zu stoppenoder eine Übertragung an die Kommunen, wie es der Ei-nigungsvertrag vorsieht, vorzunehmen.
Ich zitiere aus § 1 Abs. 1 des Treuhandgesetzes:Volkseigenes Vermögen, das kommunalen Aufga-ben und kommunalen Dienstleistungen dient, istdurch Gesetz den Gemeinden und Städten zu über-tragen.
Aber für Sie ist das, wie der aktuelle Verkaufsfall be-weist, keine kommunale Aufgabe der Daseinsvorsorge.Das ist ein Irrtum. Das ist ein sozialer Skandal.
Meine Damen und Herren, Sie begünstigen schamlosprivate Finanzinvestoren. Schon vor der Verkaufsent-scheidung haben Sie diese Haushaltseinnahme in dasJahr 2013 verschoben. Warum? Ich sage es Ihnen: Weildie TAG das Kapital erst an der Börse besorgen muss.30 Millionen Aktien müssen erst verkauft werden, damitder Kaufpreis aufgebracht werden kann. Das braucht na-türlich Zeit; deshalb die Verschiebung. Diese Aktienwerden vornehmlich angelsächsische Kapitalanleger mithohen Renditeerwartungen, die die Mieterinnen undMieter hinterher zu erwirtschaften haben, erwerben.
Mit diesem Deal tragen Sie dazu bei, dass sich die Ge-samtbilanz des Käufers allein durch die hohe Werthaltig-keit der TLG Wohnen GmbH wesentlich verbessernwird. Das ist Begünstigung der Privatwirtschaft auf Kos-ten des Allgemeinwohls. Auch das ist ein Skandal.
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Heidrun Bluhm
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Die viel gepriesene Sozialcharta, die Sie verhandelthaben wollen, geht völlig am Leben vorbei. Vereinbartwurde hauptsächlich das, was sowieso nicht eintretenwird oder ohnehin geltendes Recht ist, zum Beispiel Lu-xussanierungen im Plattenbau. Ich bitte Sie: Wo wollenSie da eine Luxussanierung durchführen? Das fällt über-haupt nicht an. Ein anderes Beispiel sind Eigenbedarfs-kündigungen. Eine Aktiengesellschaft kann überhauptkeine Eigenbedarfe anmelden, es sei denn, der Vor-standsvorsitzende hat keine Wohnung.
Aber ich denke nicht, dass er in Kitzscher, in Dresdenoder vielleicht in Strausberg wohnen möchte. Deshalbkommt für ihn auch keine Eigenbedarfskündigung in-frage.Wirklich geholfen hätte den Mieterinnen und Mie-tern, wenn in dieser Sozialcharta die jetzige Miethöhefestgeschrieben worden wäre.
Davon steht in Ihrer Sozialcharta allerdings überhauptnichts. Ihre Sozialcharta ist scheinheilig, gewissenlosund wird keinen Mieter vor maximaler Verwertung sei-ner Wohnung schützen.
Der Vorstandsvorsitzende der TAG Immobilien AG hatsich erst gestern bei Frau Illner zu dem Thema geäußert,das Herr Bockhahn eben angesprochen hat.
Zum Schluss noch eine Bemerkung zur Rolle der Bar-clays Bank, meine Damen und Herren.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Arnold Vaatz?
Wenn das meine Redezeit verlängert, bitte.
Frau Kollegin, Sie haben sich doch selber an dem
Bieterverfahren beteiligt, und zwar mit der extra neu ge-
gründeten Wohnungsgesellschaft FAIRWOHNEN.
Können Sie erläutern, wie die Bedingungen für die Er-
werber dieser Wohnungen, also für die Mitglieder der
Genossenschaft, gewesen wären, wenn Sie den Zuschlag
erhalten hätten, und können Sie erläutern, wie Sie das
Ganze finanziert hätten?
Herr Kollege Vaatz, vieles darf ich Ihnen nicht sagen,weil wir in diesem Zusammenhang eine Verschwiegen-heitserklärung unterschrieben haben.
Aber ich glaube, das, was Sie wissen wollen, darf ich andieser Stelle sagen. Die TLG FAIRWOHNEN hätte sichfür die Mieterinnen und Mieter als Eigentümer zur Ver-fügung gestellt, um ihnen diese Genossenschaft hinter-her zu übergeben. Die Vermutung, Gysi und Lafontaineseien vielleicht für den Vorstand vorgesehen gewesen– Herr Hacker hat das in seiner Rede gesagt –, ist falsch.
Wäre uns der Zuschlag erteilt worden, hätten wir denMieterinnen und Mietern diese Genossenschaft selbst-verständlich für die Eigenverwaltung zur Verfügung ge-stellt. Wenn Sie die Satzung der TLG FAIRWOHNENgelesen hätten, dann würden Sie wissen, was eine wirkli-che Sozialcharta ausmacht: das Festschreiben undSelbstbestimmen, wie sich eine solche Genossenschaftentwickelt, das Festschreiben und Selbstbestimmen,wann wo investiert wird, und das Festschreiben undSelbstbestimmen, wie hoch die Miete sein soll.
Das wäre eine Sozialcharta gewesen, die wirklich hätteverhandelt werden können.
Im Übrigen, Herr Vaatz, rede ich hier und heute nicht alsAufsichtsratsvorsitzende der TLG FAIRWOHNEN, son-dern als Mitglied und wohnungspolitische Sprecherinder Fraktion Die Linke.
Ein letztes Wort zur Rolle der Barclays Bank. Geradehat der Bundesfinanzminister für die Einfädelung des
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Heidrun Bluhm
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Deals jemanden als Transaktionsbeauftragten bestellt,der in England wegen Manipulation des Libor vor Ge-richt steht. Der Vorstandsvorsitzende der Bank ist bereitszurückgetreten, sicherlich nicht, weil diese Vorwürfe vorGericht haltlos sind. Die Auswahl dieses Transakteursdurch den Bundesfinanzminister ist zumindest instinkt-los, wenn nicht auch schon ein Skandal.
Was der wirkliche Skandal ist, sage ich Ihnen jetzt.Drei Mal dürfen Sie raten, wen die TAG Immobilien mitder Börsenemission für die 30 Millionen Aktien beauf-tragt hat, die für das Eigenkapital notwendig sind. Natür-lich die Barclays Bank. Da kommt übrigens auch der jet-zige TAG-Vorstandsvorsitzende her, wie in seiner Vitazu lesen ist. So schließt sich der Kreis und – so sollte ichvielleicht besser sagen – der Filz.
Jetzt muss ich Sie trotzdem auf die Redezeit aufmerk-
sam machen.
Ja, sofort. Ich komme zum Schluss. – Egal, was auf
dem Immobilienpaket der TLG draufsteht – immer ist
Barclays drin.
Nehmen wir einmal an, die Barclays Bank wird dafür
auch noch bezahlt. Das hat Herr Kampeter mir auf meine
Anfrage aus Geheimniskrämerei nicht beantwortet. Aber
1 Prozent wird schon drin sein. 1 Prozent für diesen Deal
heißt für die Barclays Bank fast 5 Millionen Euro.
Meine Damen und Herren in der Regierung und aus
der Koalition, fragen Sie sich gelegentlich auch einmal,
für wen Sie Politik machen oder wer Sie gewählt hat?
Sicher nicht. Sonst würden Sie sich nicht als Trittbrett
für die internationale Finanzindustrie betätigen. Aber
eins haben Sie ja jetzt erreicht.
Sie haben mir versprochen, zum Schluss zu kommen.
Das leidige und von vielen Skandalen begleitete
Thema der Treuhand ist nach 22 Jahren endlich Ge-
schichte.
Danke schön.
Das war unsere Kollegin Heidrun Bluhm für die Frak-
tion Die Linke. – Jetzt gebe ich dem Kollegen Steffen
Kampeter das Wort zu einer Kurzintervention.
Frau Kollegin Bluhm, Sie haben mich persönlich an-
gesprochen und insinuiert, dass der Verkauf dieser Woh-
nungen ein unsozialer Akt sei. Sie sind leider über die
wesentlichen Inhalte der Sozialcharta hinweggegangen.
Da ich sie den Linken in der letzten Fragestunde eigent-
lich erläutert haben sollte, möchte ich sie hier heute nicht
vortragen. Ich möchte Sie aber im Wesentlichen daran
erinnern.
Es gibt eine umfassende erweiterte Kündigungs-
schutzregelung für fünf Jahre, ein lebenslanges Wohn-
recht für ältere Bewohnerinnen und Bewohner, das auch
von Angehörigen weiter genutzt werden kann, einen Sa-
nierungsschutz, den Vorrang der Mieterprivatisierung.
Darüber hinaus hat sich die TAG verpflichtet, die Bera-
tung beim örtlichen Mieterverein zur Sozialcharta zu un-
terstützen. Sie hat – das halte ich für viel besser als die
Festschreibung der derzeitigen Mieten, wie von Ihnen
gefordert – die Beibehaltung des bisherigen Investitions-
niveaus akzeptiert. Denn es geht hier doch nicht um
Miethöhe, sondern es geht um anständiges Wohnen, das
wir den Mieterinnen und Mietern garantieren können.
Selbst für den möglichen Weiterverkauf dieser Wohnun-
gen hat sich der Erwerber verpflichtet, die Rechte aus
der Sozialcharta weiter zu gewähren. Es gibt Vertrags-
strafen für Nichteinhaltung. Von der TAG aus Hamburg
ist eine sehr individuelle Mieterinformation vorgesehen.
Dies ist ein sehr umfassendes soziales Absicherungspa-
ket für diese Privatisierung.
Wir haben zum einen für den Bundeshaushalt einen
auskömmlichen Ertrag erzielt, und wir haben zum ande-
ren mit der Sozialcharta für die Mieterinnen und Mieter
bei dieser Privatisierung eine lebendige soziale Markt-
wirtschaft aufleben lassen. Ihre Hetze, Ihre Unterschla-
gung der Sozialcharta
ist unangemessen, führt zur Verängstigung der Mieter.
Sie sollten das einstellen. Dies ist ein faires Angebot an
alle Beteiligten. Die christlich-liberale Koalition steht zu
den Verpflichtungen der sozialen Marktwirtschaft auch
im Wohnungsbereich.
Das war die Kurzintervention des Abgeordneten
Steffen Kampeter. – Wollen Sie, Frau Kollegin Heidrun
Bluhm?
Herr Kollege Kampeter, Sie rufen hier so laut undmüssen natürlich das verteidigen, was die Bundesregie-rung an dieser Stelle verhandelt hat. Legen Sie die So-zialcharta doch offen. Legen Sie sie auf die Startseite desInternetauftritts des Bundesfinanzministeriums. Dann le-gen wir andere Sozialchartas dagegen. Dann können wirvergleichen, was das wert ist, was Sie hier eben so emo-tional vorgetragen haben. Man könnte ja glauben, Siestünden wirklich dahinter.
Wir sind gemeinsam mit den Mieterinnen und Mie-tern, mit denen wir sehr intensiv im Gespräch waren,und gemeinsam mit dem Deutschen Mieterbund zutiefst
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Heidrun Bluhm
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der Auffassung, dass das, was Sie hier vorgelegt haben,sowieso geltendes Recht ist. Was Sie zusätzlich geregelthaben, ist nur das, was bei diesen Wohnungen sowiesonicht zu befürchten ist – mit einer Ausnahme: Im Hin-blick auf behinderte und ältere Menschen haben Sie et-was geregelt, was den Investor immerhin für fünf Jahrebindet, danach aber nicht mehr.Insofern ist das, was Sie eben veranstaltet haben, eineschöne Show gewesen. Aber im Sinne der Mieterinnenund Mieter, die von dieser Privatisierung betroffen sind,haben Sie nichts geregelt.
Wir fahren fort in der Rednerliste. Frau Kollegin
Daniela Wagner, Sie waren schon einmal fast vorne am
Rednerpult, jetzt erneut, bitte schön. Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen Daniela Wagner.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Verehrte Damen undHerren! Liebe Kolleginnen! Kollegen! Es befinden sichnoch knapp 10 Prozent des Wohnungsbestands in derBundesrepublik in der Hand von öffentlichen Woh-nungsunternehmen; diese sind vor allen Dingen im Be-sitz von Ländern und Kommunen. Nach zahlreichenPrivatisierungen ist der öffentliche Wohnungsbestandbereits deutlich geschrumpft, obwohl er bei der Vermei-dung von Verdrängungsprozessen eine wesentliche Rollespielen kann und sollte. So kann zum Beispiel einkom-mensschwachen Mietern bezahlbarer Wohnraum bereit-gestellt werden. Die öffentlichen Wohnungsunterneh-men können aber auch beispielgebend sein bei derökologischen und energetischen Gebäudesanierung oderbei dem altersgerechten Umbau des Wohnungsbestands.Überall dort ist die öffentliche Hand, sind die öffentli-chen Wohnungsunternehmen ein bisschen Vorbild.Die öffentliche Wohnungswirtschaft muss daher aufallen Ebenen – Länder und Kommunen – gestärkt wer-den. Einen weiteren Verkauf öffentlicher Wohnungen annicht nachhaltig wirtschaftende Finanzinvestoren darf esaus unserer Sicht nicht mehr geben.
Müssen öffentliche Wohnungen dennoch aufgrundfinanzieller Zwänge verkauft werden, dann sind nach-haltig wirtschaftende Wohnungsgesellschaften, Genos-senschaften oder kommunale Konsortien oder eine Mie-terprivatisierung zu bevorzugen.Wir sagen aber auch: Eine Privatisierung öffentlichenWohnungsbestandes ist nicht per se abzulehnen. Siemuss allerdings im Einzelfall geprüft werden. Das Er-gebnis kann in dem einen Fall so, in dem anderen Fallanders ausfallen. Wir sehen vor allen Dingen darin einProblem, dass der Wohnungsbestand der TLG en blocverkauft werden soll. Damit entzieht er sich einer Mie-terprivatisierung.Auf den uns vorliegenden Antrag möchten wir nur inaller Kürze eingehen; wir hatten die Debatte ja schon ein-mal. Die TLG in eine bundeseigene Wohnungsgesell-schaft umzuwandeln, macht angesichts der Größe und derStruktur des Unternehmens – 1 151 Objekte, 11 917 Miet-wohneinheiten, verteilt über 212 Kommunen und eine lo-kale Konzentration in den neuen Bundesländern – kei-nen Sinn. Die Rahmendaten machen deutlich, dass dieTLG als wohnungspolitisches Steuerungsinstrument desBundes schlicht nicht geeignet ist. Selbst wenn man dieWohnungen der TLG mit denen der BImA fusionierte,hätte das entstehende Unternehmen nicht einmal dieGröße der Nassauischen Heimstätte mit 60 000 Wohnun-gen in Hessen.Wir halten es durchaus für richtig, die TLG zu privati-sieren. Allerdings glauben wir, dass es besser gewesenwäre, sie in kleine Pakete aufzuteilen und diese an lokaleWohnungsgesellschaften zu verkaufen, auf gar keinenFall aber an einen einzelnen Finanzinvestor.
Ich habe den Eindruck, dass der politische Druck, derangesichts der Erfahrungen aus der Vergangenheit mitden Machenschaften der GAGFAH respektive Fortress,Annington und anderer entstanden ist, Wirkung zeigt. Esgibt in diesem Fall eine Sozialcharta, die sich verglichenmit früheren Sozialchartas sehen lassen kann. Wenn iches richtig verstanden habe, finden die einzelnen Regel-werke sogar Eingang in die individuellen Mietverträge.Wenn dem so ist, dann ist das ein riesiger Fortschritt;denn eine Sozialcharta, die nicht in den individuellenMietvertrag aufgenommen wird, ist das Papier nichtwert, auf dem sie geschrieben steht.
Herr Mücke, es geht nicht darum, ob der Richtigeoder der Falsche verkauft. Es ist nicht so, dass man dasbeurteilen muss entlang der Frage: Sind das Liberaleoder Schwarze oder Grüne oder Rote, die die Privatisie-rung beschlossen haben? Entscheidend ist, dass die Pri-vatisierung funktioniert, das heißt, dass am Ende nichtdie Mieterinnen und Mieter die Angelegenheit ausbadenmüssen. Ihre Interessen müssen geschützt sein: Sie müs-sen die Chance haben, sich an jemanden zu wenden. Siemüssen ein Vorkaufsrecht bekommen, wenn ihre Woh-nung verkauft werden soll. Sie müssen einen Ansprech-partner im Haus haben. Es muss sich jemand kümmern –anders als man das bei großen Wohnungsverkäufen inder Vergangenheit erleben musste.
Wenn Sie das bewerkstelligt haben sollten, dann wäredas gut. Allerdings haben Sie sich nur für fünf respektivezehn Jahre festgelegt. Wir wissen nicht, was dann dieTAG mit den Beständen vorhat. Das ist genau der Punkt,an dem ich große Sorge habe.Wenn man zum Beispiel die Äußerungen des TAG-Vorstands von gestern Abend in der Sendung von
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012 26033
Daniela Wagner
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Maybrit Illner verfolgt hat, die ich mir natürlich ange-schaut habe, dann kann man durchaus auch böse Ahnun-gen haben, was in fünf oder zehn Jahren mit diesenWohnungsbeständen geschieht. Dann gnade den MieternGott.Deswegen sage ich: Es ist sehr wichtig, dass man denrichtigen Vertragspartner hat, dass die richtigen Rege-lungen Eingang in die Mietverträge finden und dass beieiner solchen Sozialcharta am besten noch eine dinglicheAbsicherung im Grundbuch passiert, damit die Mieterin-nen und Mieter nachher nicht das Nachsehen haben.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Frau Kollegin Daniela Wagner. –
Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist Kol-
lege Karl Holmeier. Bitte schön, Kollege Karl Holmeier.
Sehr verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Nichts ist so alt wie der Antrag der Linken von gestern.
Der heute zur Debatte stehende Antrag ist sogar von vor-
gestern. Ich will Ihnen auch sagen, warum: Erstens hat
der Bund die TLG-Wohnungen inzwischen verkauft. Da-
mit hat sich der Antrag zu einem Großteil erledigt. Zwei-
tens offenbart dieser Antrag, dass die Kolleginnen und
Kollegen von der Linken auch über 20 Jahre nach dem
Ende des SED-Staates noch immer nicht in der Wirklich-
keit angekommen sind.
Ich will daher gleich zu Beginn zum Zwecke der
Staatsbürgerkunde der Linken eines darstellen: VEB-
Wohnen gibt es in der Bundesrepublik Deutschland
nicht; denn nach unserem Staatsverständnis ist es nicht
Aufgabe des Bundes, den Menschen mit eigenen Unter-
nehmen Wohnraum zur Verfügung zu stellen.
Genauso wenig ist es Aufgabe des Staates, mit eigenen
Supermärkten Lebensmittel anzubieten.
Das ist sogar gesetzlich geregelt. Sie müssten es nur
nachlesen. Nach der Bundeshaushaltsordnung soll sich
der Bund nur dann an privaten Unternehmen beteiligen,
wenn ein wichtiges Interesse dafür besteht.
Mit dem Wegfall des Treuhandauftrages der TLG be-
steht aber gerade kein wichtiges Interesse des Bundes
mehr, sodass er zur Privatisierung verpflichtet ist.
Herr Kollege Karl Holmeier, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage unserer Kollegin Heidrun Bluhm?
Gerne.
Bitte schön.
Herr Kollege Holmeier, ich möchte Sie fragen, wenn
das stimmt, was Sie gerade zu den Eigentumsmöglich-
keiten des Bundes gesagt haben, wie sich die Bundes-
regierung und die Koalition vorstellen, mit den Gott sei
Dank noch vorhandenen Wohnungen in der Bundes-
anstalt für Immobilienaufgaben umzugehen.
Es ist zurzeit nichts in der Planung. Wir werden se-hen, was kommt.
Mit Ihrer Forderung operieren die Linken insofernnahe an der Rechtswidrigkeit.Das wichtige Bundesinteresse lässt sich auch nichtaus der unbestrittenen Verantwortung des Staates herlei-ten, für bedarfsgerechten und bezahlbaren Wohnraum inDeutschland zu sorgen. Mit Blick auf die TLG Immobi-lien, die in ihrem Portfolio Büros, Einzelhandelsge-schäfte und Gewerbeflächen hält, ist dies so klar, dassdies eigentlich auch der Linken auffallen müsste.Aber auch bei einem Blick auf das Portfolio der TLGWohnen ist kein wichtiges Interesse des Bundes zu er-kennen; denn diese Wohnungen befinden sich im We-sentlichen überhaupt nicht an den Orten, wo Wohnungs-engpässe bestehen – es ist bereits gesagt worden, dassdiese Wohnungen sich auf über 50 Orte in Deutschlandverteilen – und wo eventuell der Staat zur Stabilisierungdes Mietwohnungsmarktes gefragt wäre. Die Wohnun-gen befinden sich vielmehr im Wesentlichen dort, wo einausgewogener Wohnungsmarkt vorhanden ist und wozum Teil sogar Leerstand herrscht.Vor diesem Hintergrund kann ich nicht erkennen, wa-rum der Staat in den Wettbewerb mit privaten Unterneh-men treten und in das Immobiliengeschäft einsteigensollte.Im Übrigen möchte ich betonen, dass die christlich-li-berale Koalition und die von ihr getragene Bundesregie-rung die Unterstützung sozial schwacher Haushalte beider Wohnraumversorgung durchaus ernst nimmt; dennletztlich ist dies Aufgabe eines Sozialstaates. Dazu,meine Damen und Herren, stehen wir uneingeschränkt.Wesentliche Anhaltspunkte hierfür sind die Gewährungvon Wohngeld zur Stärkung der Mietzahlungsfähigkeitund die soziale Wohnraumförderung der Länder. In die-sem Rahmen kümmert sich der Staat um die Bereitstel-lung preiswerter Mietwohnungen für sozial schwache
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26034 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012
Karl Holmeier
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Haushalte und die Unterstützung bei der Bildung selbstgenutzten Wohneigentums vor allem für Haushalte mitKindern.Auch die Schaffung von behindertengerechtemWohnraum wird von zahlreichen Ländern und Kommu-nen gefördert. Darüber hinaus hat sich der Bund auch di-rekt im Zusammenhang mit der Privatisierung der TLGWohnen erfolgreich dafür eingesetzt, dass sozial schwa-che Mieter und Menschen mit Behinderung geschütztwerden.Im Rahmen einer dem Käufer auferlegten Sozial-charta werden die Mieter umfassend und weit über diegesetzlichen Vorschriften hinaus geschützt. Herr Staats-sekretär Kampeter hat es ja bereits gesagt, aber ichmöchte es trotzdem erwähnen: Alle bestehenden Miet-verträge werden unverändert übernommen. Bestands-mieter erhalten fünf Jahre Schutz vor Kündigungen we-gen Eigenbedarfs und wegen Hinderung an einerangemessenen wirtschaftlichen Verwertung sowie zehnJahre Schutz vor Mieterhöhungen wegen Luxussanie-rung. Ältere und schwerbehinderte Bestandsmieter er-halten ein lebenslanges Wohnrecht. Zusätzlich hat sichdie TAG Immobilien AG gegenüber dem Bund vertrag-lich verpflichtet, Instandhaltungen und Investitionen imbisherigen Umfang fortzusetzen. Um die Einhaltung derSozialcharta zu überwachen, wird der Bund sogar eineOmbudsstelle einrichten. Die Mieter der TLG Wohnenkönnen sich jederzeit dorthin wenden. Die Ombudsstelleunterstützt die Mieter bei der Durchsetzung ihrer Rechteaus der Sozialcharta.Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieser An-trag zeigt nicht die besondere soziale Einstellung derLinken. Dieser Antrag zeigt vielmehr, dass diese Frak-tion leider noch immer nicht in der Wirklichkeit ange-kommen ist und hierzu offensichtlich auch nicht willensist. Sie blendet die Realität schlichtweg aus und bleibtdamit die Fraktion von gestern. Deshalb werden wir denAntrag ablehnen.Danke.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu dem An-
trag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Ausverkauf
staatlichen Eigentums stoppen – Keine Privatisierung
der TLG-Wohnungen“. Der Ausschuss empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10361, den
Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/9150
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unions-
fraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke bei Enthaltung der SPD-Fraktion und
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Zusatzpunkt 12. Wir kommen zur Abstimmung über
die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung zu dem Antrag der Fraktion
der SPD mit dem Titel „Wohnungspolitische Verantwor-
tung bei Übertragung der bundeseigenen TLG-Wohnungen
sichern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/10717, den Antrag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/9737 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen ange-
nommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich den
nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, teile ich Ihnen
mit, dass sich die Fraktionen darauf verständigt haben,
den Tagesordnungspunkt 47 – es handelt sich hier um
Vorlagen zur Verbraucherpolitik – von der Tagesordnung
abzusetzen. Außerdem sollen die Tagesordnungs-
punkte 49 und 50 getauscht werden, sodass wir zunächst
über den Tagesordnungspunkt 49 beraten. Sind Sie mit
dieser Vereinbarung einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 49 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Weiter-
entwicklung der Krebsfrüherkennung und zur
Qualitätssicherung durch klinische Krebsre-
– Drucksache 17/11267 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Innenausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Heinz Lanfermann für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Wir kennen die Fallzahlen: Jährlich verzeichnenwir in etwa 500 000 Neuerkrankungen. Gut 220 000 Pa-tienten mit Krebsdiagnose sterben in Deutschland proJahr an ihrer Erkrankung. Jeder vierte Todesfall istkrebsinduziert. Auch wenn in Europa die Sterbensratenzum Beispiel bei Darm-, Magen-, Prostata- oder auchBrustkrebs erfreulicherweise und nicht zuletzt aufgrundverbesserter Behandlungsmethoden rückläufig sind, soist schon allein wegen der höheren Lebenserwartung miteiner generellen Zunahme von Krebserkrankungen zu
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012 26035
Heinz Lanfermann
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rechnen. Diese Tatsache allein ist Anlass genug, um dieBemühungen im Kampf gegen diese Krankheit zu ver-stärken. Die Entwicklung neuartiger Medikamente dau-ert Jahre, erfordert einen sehr hohen Finanzaufwand undmuss hohe Zulassungshürden überwinden. Ohnehin istauf lange Sicht keine Standardtherapie zu erwarten, diezu einer garantierten Heilung führen würde. Aber jederSchritt, den wir heute unternehmen, um das Bewusstseinfür Krebs und die damit zusammenhängenden Problemezu stärken, wird der Gesellschaft helfen, die Krankheitzu vermeiden und zu bekämpfen, und den Betroffenenund Angehörigen helfen, mit ihr besser umgehen zu kön-nen.Vor diesem Hintergrund ist es richtig, dass die Bun-desregierung mit der Präventionsstrategie das Bewusst-sein der Bevölkerung für eine gesunde Lebensweisefrühzeitig schärfen will – darüber werden wir hier dem-nächst diskutieren –, um bereits an der Wurzel anzuset-zen und Auslöser bzw. Entwicklungsverlauf bei vielenKrankheiten zu verhindern.
Ein weiterer wichtiger Ansatz sind die im NationalenKrebsplan identifizierten und mit dem Krebsfrüherken-nungs- und Krebsregistergesetz benannten Lösungsmaß-nahmen, mit denen wir wichtige strukturelle Fortschrittebei der onkologischen Versorgung initiieren werden.Der erste Schwerpunkt unseres Gesetzes ist auf dieVerbesserung der Früherkennungsmöglichkeiten gerich-tet. Schon heute gibt es zahlreiche Früherkennungsme-chanismen, die allen Menschen offenstehen. Leider wirddas bestehende Angebot bisher nur unzureichend ge-nutzt. Außerdem erfüllen die Vorsorge für Gebärmutter-hals- und Darmkrebs nicht die Empfehlungen der EU-Leitlinie zur Qualitätssicherung von Krebsfrüherken-nungsprogrammen, ein Umstand, dem wir mit dem Ge-setz Rechnung tragen. Wir wollen und werden mit unse-ren Maßnahmen dafür sorgen, dass die Qualität derKrebsfrüherkennung verbessert wird und damit dieGrundlage dafür schaffen, dass insgesamt mehr Men-schen an Vorsorgeuntersuchungen teilnehmen.
Wir werden deshalb ein Einladungswesen institutio-nalisieren. Die Bürger werden künftig in regelmäßigenAbständen ein Schreiben erhalten, in dem die Kranken-kassen auf die Möglichkeiten zur Teilnahme an entspre-chenden Vorsorgeprogrammen hinweisen. Heute gibt esein solches Verfahren bereits für das Mammografie-Screening. Wir werden das auch auf den Bereich vonGebärmutterhals- und Darmkrebsvorsorge ausweiten.Außerdem sorgen wir dafür, dass die Altersgrenzen unddie Häufigkeit für einzelne Voruntersuchungen an denStand des aktuellen medizinischen Forschungswissensangepasst werden. Die Wirksamkeit der organisiertenKrebsfrüherkennung werden wir dann alle zwei Jahreauf den Prüfstand stellen.Wie im Nationalen Krebsplan vorgeschlagen, legenwir den zweiten Schwerpunkt unseres Gesetzes auf denflächendeckenden Ausbau klinischer Krebsregister. Daserlaubt uns in Zukunft eine bundesweite Datenerhebungund -auswertung, bezogen auf die verschiedenen Ein-richtungen. Diese Erkenntnis ist sehr wichtig, da die un-terschiedlichen Kliniken nach unterschiedlichen Metho-den und Ansätzen verfahren. Damit lassen sich wichtigeSchlüsse auf die Wirksamkeit von Therapien ziehen. Dasfördert und beschleunigt die Forschung und animiert dieKliniken, nach wirksameren Behandlungsmethoden zustreben. Aber auch die Patienten profitieren beispiels-weise bei der Krankenhauswahl von den gewonnenenErkenntnissen. Um den Wettstreit um die beste Behand-lungsmethode zu befeuern, wollen wir eine möglichsttransparente Datenbasis schaffen. Deshalb verpflichtenwir die Länder zu einer jährlichen landesweiten und denGKV-Spitzenverband zu einer bundesweiten Auswer-tung alle fünf Jahre.Sicherlich gibt es den einen oder anderen sachlichenAspekt, den man im Zusammenhang mit diesem Gesetzdiskutieren kann, sei es die Höhe der Krebsregisterpau-schale, seien es die Finanzierungsanteile, die Kassenoder Länder aufzubringen haben, seien es die Fragennach der genauen Auswertbarkeit der Datensätze durchPolitik, Wissenschaft und Bevölkerung. Darüber könnenund werden wir im Ausschuss konstruktiv beraten.Die Stoßrichtung – da bin ich mir sicher – stimmt.Wir sind uns einig, dass die identifizierten Maßnahmender richtige Schritt sind, um die Volkskrankheit Krebsweiter einzudämmen, besser behandeln zu können undempirisch belegt wirksame Behandlungsmethoden zuentwickeln.Auch mit Blick auf die Finanzierbarkeit unseres Ge-sundheitssystems sind Früherkennung und die frühe Be-kämpfung von Krebs wichtig. Sie vermeiden auch hoheBehandlungskosten in Millionenhöhe; diese Mittel kön-nen wir sehr gut an anderer Stelle verwenden.Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen für IhreAufmerksamkeit.
Die Kollegin Dr. Marlies Volkmer hat nun für die
SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Im Gegensatz zur gestrigen Debatte wird die heutigenicht so kontrovers verlaufen. Das ist in Anbetracht derspäten Stunde auch ganz gut so.Die Überlebenschancen und die Lebensqualität krebs-kranker Menschen haben sich in den letzten Jahren deut-lich verbessert. Das liegt an der verbesserten Früherken-nung sowie an verbesserter Diagnostik und Therapie.Aber die demografische Entwicklung, die eine höhereLebenserwartung zur Folge hat, wird die Zahl krebs-kranker Menschen wieder ansteigen lassen. Es bleibt
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Dr. Marlies Volkmer
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eine große Herausforderung. Mein Vorredner hat schondarauf hingewiesen, dass jährlich über 470 000 Men-schen an Krebs erkranken und fast 220 000 Menschenpro Jahr daran versterben. Damit ist in DeutschlandKrebs die zweithäufigste Todesursache nach Herz-Kreis-lauf-Erkrankungen.Wir haben in unserer Regierungszeit bereits wichtigeund erfolgreiche Initiativen im Bereich der Früherken-nung gestartet. Die bekannteste Initiative ist das Mam-mografie-Screening, das 2004 eingeführt worden ist.Mammografie-Screening-Zentren arbeiten inzwischenflächendeckend in Deutschland. Sie arbeiten nach einemEinladungssystem und qualitätsgesichert. Diese gelun-gene Initiative dient als Vorbild für weitere Früherken-nungsmaßnahmen, wie sie der vorliegende Gesetzent-wurf vorsieht.Wir haben im Jahr 2008 in der Großen Koalition imSPD-geführten Gesundheitsministerium einen Nationa-len Krebsplan erarbeitet. Daran haben wir 20 Organisa-tionen mit weit über 100 Fachleuten beteiligt. Mit demKrebsplan, den wir 2008 vorgelegt haben, haben wireinen wichtigen Meilenstein gesetzt und den Ausgangs-punkt für weitere gesetzgeberische Maßnahmen geschaf-fen, die jetzt erfolgen sollen. Das Krebsplan-Umsetzungs-gesetz soll erste Ziele dieses jüngst aktualisiertenPlanes umsetzen. Dazu wird die Krebsfrüherkennungweiterentwickelt und werden weiter reichende Rege-lungskompetenzen in die Hände des Gemeinsamen Bun-desausschusses gelegt. So soll die Inanspruchnahme vonKrebsfrüherkennungen verbessert werden. Wir wollendie Altersgrenze, die jetzt sehr starr festgelegt ist, verän-dern; wir wollen sie flexibilisieren. In stärkerem Maßesollen organisierte, qualitätsgesicherte Krebsfrüherken-nungsprogramme etabliert werden.Als weitere Maßnahmen werden die Bundesländerzur Einrichtung klinischer Krebsregister verpflichtet.Klinische Krebsregister erfassen die Qualität der Be-handlung eines jeden Krebspatienten, also idealerweisevom Beginn der Diagnose über die Nachsorge bis zumVersterben eines Patienten in einer Einrichtung, idealer-weise aufgeschlüsselt nach Region und Bundesland unddann zusammengefasst für Deutschland.Der vorliegende Gesetzentwurf hebt sich positiv vonall den anderen Gesetzentwürfen oder Initiativen ab, dieSie bisher vorgelegt haben.
Er kann helfen, sowohl die Forschung zu Krebserkran-kungen als auch die Qualität der gesundheitlichen Ver-sorgung Krebskranker zu verbessern. Die bundesweiteEinführung klinischer Krebsregister ist überfällig. Dennes ist an der Zeit, dass wir auch in Deutschland Aussa-gen darüber machen können, welche Art der Therapie inwelchem Stadium bei welcher Krebserkrankung am er-folgversprechendsten ist. Das können wir nämlich bishernoch nicht. Hier waren die neuen Bundesländer mit ih-rem Gemeinsamen Krebsregister Vorreiter. Ich denke,die Erfahrungen, die wir in den neuen Bundesländernmit dem Gemeinsamen Krebsregister gemacht haben,können für uns Vorbildcharakter haben.
Dieser Gesetzentwurf hat aber auch verschiedenehandwerkliche Mängel, und verschiedene Aspekte blei-ben unberücksichtigt. Ich will einige Beispiele nennen.Was die Frage der Finanzierung angeht, ist es richtig, ne-ben den gesetzlichen Krankenkassen die Länder zu betei-ligen. Auch die Länder müssen ein Interesse an klinischenKrebsregistern haben, weil auch sie daran interessiert seinmüssen, dass sich die Versorgung in ihrer Region verbes-sert.Aber aus welchem Grund werden die privaten Kran-kenkassen bei der Finanzierung außen vor gelassen?Auch privatversicherte Patientinnen und Patienten profi-tieren von den Forschungsergebnissen, und Screening-Untersuchungen sollten auch für privatversicherte Patien-tinnen und Patienten möglich sein. Wenn Sie jetzt sagen,das sei bei der privaten Krankenversicherung nicht mög-lich, dann müssten Sie auch einmal erklären, warum Siesich immer für das offensichtlich unfaire zweigeteilte Ge-sundheitssystem einsetzen.
Etwas erstaunlich finde ich auch, dass Sie zwar derFrüherkennung als Präventionsmaßnahme einen hohenStellenwert beimessen, dabei aber auf halber Strecke ste-hen bleiben. Denn noch wichtiger als Screenings in derVorbeugung sind doch gesundheitsbewusstes Verhaltenund eine gesundheitsfördernde Umwelt.Sie vernachlässigen zudem wichtige Ursachen derKrebsentstehung. Ich möchte ein Beispiel nennen. Wiralle wissen, dass Rauchen unumstritten Krebs, insbeson-dere Lungenkrebs, verursacht. Der Zigarettenkonsumstellt heute das bedeutendste einzelne Gesundheitsrisikoin den Industrieländern dar und ist die Hauptursache fürfrühzeitige Sterblichkeit. Warum also sollte nicht einTeil der Einnahmen aus der Tabaksteuer für die Finan-zierung klinischer Krebsregister herangezogen werden?Lungenkrebs ist schließlich die dritthäufigste Krebser-krankung in Deutschland. Nach Schätzungen desRobert-Koch-Instituts ist eine Lungenkrebserkrankungbei neun von zehn Männern und bei mindestens sechsvon zehn Frauen auf das Rauchen zurückzuführen. Wa-rum – das muss ich dann auch fragen – verbieten Sienicht endlich konsequent die Tabakwerbung?
Von einem Gesetz, das als Krebsplan-Umsetzungsge-setz betitelt ist, hätten wir uns weitergehende Verbesse-rungen vor allem im Präventionsbereich gewünscht, ins-besondere da Ihr groß angekündigtes und übrigens imBundeshaushalt nicht vorgesehenes Präventionsgesetz inIhrer Regierungszeit wohl nicht mehr kommen wird. Wirwerden uns aber einem konstruktiven Dialog nicht ver-weigern, und wir hoffen sehr, dass die Mängel, die sichnoch in dem Gesetzentwurf finden, im Laufe des parla-mentarischen Verfahrens ausgeräumt werden können.
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Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin
Annette Widmann-Mauz.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrtenKolleginnen und Kollegen! Die Vorrednerinnen undVorredner haben bereits auf die Bedeutung von Krebs alsErkrankung für die Patientinnen und Patienten selbst inihrer gesundheitlichen Lage und auf die Bedeutung unddie Auswirkungen auf die Familien und das beruflicheund soziale Umfeld hingewiesen. Ich möchte das unter-streichen: Krebs ist eine Diagnose, die nicht nur denMenschen persönlich in eine ganz neue Überlegensphasebringt, sondern auch das gesamte Umfeld vor viele Fra-gen stellt. Deshalb ist es sehr wichtig, dass wir das nichtnur im Hinblick auf das Gesundheitswesen mit dem Fo-kus auf Versicherungen und Leistungserbringern disku-tieren, sondern dabei auch den Blick auf die Menschennicht vergessen.Genau das war das Ziel des Nationalen Krebsplans,der, wie die Kollegin Volkmer ausgeführt hat, im Jahr2008 vom Bundesministerium für Gesundheit gemein-sam mit der Deutschen Krebsgesellschaft, der DeutschenKrebshilfe und der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Tu-morzentren ins Leben gerufen wurde. Mehr als 20 Orga-nisationen und weit über 100 Fachexperten und Fach-expertinnen haben seit dieser Zeit konkrete Empfehlungenerarbeitet. Weit über 100 Empfehlungen sind es gewor-den. In diesem Frühjahr wurden sie der Öffentlichkeitvorgestellt.Mit dem Entwurf eines Krebsfrüherkennungs- und -re-gistergesetzes, den wir heute im Deutschen Bundestag inerster Lesung einbringen, gehen wir den nächstenSchritt. Denn wir setzen zwei zentrale Bereiche des Na-tionalen Krebsplans um: zum einen die Verbesserungund Weiterentwicklung der Krebsfrüherkennung undzum anderen den Aufbau und Ausbau flächendeckenderklinischer Krebsregister.Krebs ist eine schwerwiegende und zunehmende Er-krankung. Daher müssen wir die Chancen der Früher-kennung gerade in diesem Bereich besser nutzen. Im Be-reich des Darmkrebses könnten wir durch einerechtzeitige Früherkennung deutlich mehr Krebs vermei-den oder in einem heilbaren Stadium entdecken. Mit die-sem Gesetz bieten wir den Versicherten ein weiteres An-gebot an. In Deutschland gibt es schon ein breitesAngebot an Leistungen zur Krebsfrüherkennung. Den-noch ist in Deutschland Darmkrebs bei Frauen und Män-nern die zweithäufigste Krebserkrankung und Todesur-sache. Ganz offensichtlich erreicht das bestehendeFrüherkennungsangebot unsere Bürgerinnen und Bürgernur unzureichend. Deshalb sollen anspruchsberechtigteFrauen und Männer künftig persönlich zur Krebsfrüh-erkennung eingeladen werden. Hiermit folgen wir denguten Erfahrungen bei der Umsetzung des Modells desorganisierten Mammografie-Screenings und den ent-sprechenden Empfehlungen der europäischen Leitlinien.
Wir wollen niemanden zu einer Krebsfrüherkennungüberreden oder ihn dazu drängen. Die Bürgerinnen undBürger sollen vielmehr zu einer selbstbestimmten undvor allen Dingen zu einer informierten Entscheidung be-fähigt werden; das ist wichtig. Genauso wie jede anderemedizinische Maßnahme ist kein Krebsfrüherkennungs-test perfekt. Auch er beinhaltet Risiken und Belastungen.Auch falsche positive Diagnosen können vorkommen,die dann wiederum zu unnötiger Diagnostik oder Thera-pie führen können. Daher muss gleichzeitig mit derEinladung verständlich und neutral über Vor- und Nach-teile solcher Krebsfrüherkennungsuntersuchungen infor-miert werden. Belastungen für die Versicherten, zumBeispiel durch fehlerhafte Diagnosen, müssen wir aufein Minimum reduzieren. Die Qualität und der Erfolgder Krebsfrüherkennung, insbesondere die Senkung derSterblichkeit bei Krebserkrankung, sollen mithilfe epide-miologischer Krebsregister erfasst und überwacht wer-den.Der zweite Schwerpunkt des Gesetzes liegt im flä-chendeckenden Ausbau klinischer Krebsregister; dennhier kommt die Qualität der Krebsbehandlung in den Fo-kus. Patientinnen und Patienten haben ein Recht auf einequalitativ hochwertige Versorgung auf dem aktuellenStand der medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse.Leider aber weist die Qualität der Versorgung vonKrebspatienten in unserem Land immer noch erheblicheUnterschiede auf. Die Arbeit klinischer Krebsregistermacht diese Unterschiede sichtbar. Dies wird dadurcherreicht, dass die Qualität der onkologischen Versorgungfür jede Patientin und jeden Patienten in allen Behand-lungsphasen und allen Behandlungsschritten erfasst, be-wertet und rückgemeldet wird. Krebspatientinnen undKrebspatienten profitieren von diesen klinischen Krebs-registern; denn durch deren Arbeit können sie sichersein, dass die Behandlung von unabhängigen Fachleutengeprüft wird und dadurch Maßnahmen ergriffen werden,um die Therapie so optimal wie möglich zu gestalten.Es wird auch ein Qualitätsvergleich zwischen denEinrichtungen gezielt gefördert; denn das Ziel ist, dasssich die Versorgung und die Einrichtungen an den Bes-ten orientieren und sich auch qualitativ weiterentwi-ckeln. In einem zweiten Schritt erhalten wir dadurch na-türlich auch wichtige Erkenntnisse für die Forschung,die dann wiederum die Voraussetzungen liefert, dass dieKrebsbehandlung auch in Zukunft gemäß aktuellem wis-senschaftlichen Stand durchgeführt werden kann.Klinische Krebsregister sind nicht neu. Wir habenschon heute 50 Register dieser Art, die auch bereits er-folgreich arbeiten. Uns fehlen aber einheitliche Struktu-ren; denn die existierenden klinischen Krebsregister sindzu unterschiedlich strukturiert und organisiert. Sie unter-scheiden sich auch hinsichtlich ihrer Aufgaben, die siewahrnehmen. Deshalb schaffen wir mit diesem Gesetzden rechtlichen und finanziellen Rahmen für eine ein-heitliche und flächendeckende klinische Krebsregistrie-rung in ganz Deutschland.
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26038 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012
Parl. Staatssekretärin Annette Widmann-Mauz
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Wir können mit diesem Gesetz Gutes für die Men-schen in unserem Land bewirken, und wir werden genü-gend Zeit haben, in den Beratungen im Ausschuss diewesentlichen Details zu vertiefen, um im Interesse derMenschen in unserem Land einen wichtigen Schritt vo-ranzukommen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Kathrin Vogler für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Wie Sie wissen, hatte ich in dieser Woche noch
nicht so oft Gelegenheit, die Arbeit dieser Bundesregie-
rung zu loben. Das möchte ich zum Wochenende hin
noch nachholen.
– Danke schön. – Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
zur Krebsfrüherkennung korrigieren Sie nämlich einen
ausgemachten Unsinn aus den Zeiten der Großen Koali-
tion. Diese wollte nämlich Krebskranke, die vor ihrer Er-
krankung nicht an Vorsorgeuntersuchungen teilgenom-
men hatten, dadurch bestrafen, dass sie die sogenannte
Chronikerregelung verlieren und dadurch doppelt so
hohe Zuzahlungen leisten müssen wie andere chronisch
Kranke. Was für ein Unsinn!
Menschen durch finanzielle Anreize und Strafen zu ge-
sundheitsbewusstem Verhalten quasi nötigen zu wollen,
ist der falsche Ansatz, und es widerspricht auch dem
Bild vom mündigen, selbstbestimmten Bürger.
Das Einladungsmodell, das Sie jetzt einführen wol-
len, wird der Freiheit und Selbstbestimmung sehr viel
besser gerecht. Aber diese Verbesserung ist aus unserer
Sicht nur die halbe Miete. Wie Sie wissen, lehnt die
Linke Zuzahlungen, also die Beteiligung Kranker an den
Krankheitskosten, generell als unsozial und unsolida-
risch ab.
Sie abzuschaffen, würde auch verhindern, dass künftige
Regierungskoalitionen wieder derartigen Unsinn damit
anstellen können.
Gut ist auch, dass Sie endlich die Qualität der Versor-
gung, aber auch der Vorsorge bei Krebs durch Krebsre-
gister voranbringen wollen. Das sagen auch die Fachver-
bände, die die Bedeutung von Krebsregistern betonen.
Kritisch bewerten sie aber Ihre Umsetzungsstrategie.
Das Ziel, alle Daten flächendeckend zu erfassen und
auszuwerten, um sie für eine bessere Versorgung der
Krebskranken zu nutzen, kann mit diesem Gesetz nur
bedingt erreicht werden. Hier können wir noch gemein-
sam für Verbesserungen sorgen. Ich hoffe auf konstruk-
tive Anregungen in der Sachverständigenanhörung, die
wir im Dezember im Gesundheitsausschuss durchführen
werden. Anregungen können wir uns auch aus der Ge-
schichte holen. Die DDR zum Beispiel hatte ein zentra-
les Krebsregister. Die ostdeutschen Bundesländer haben
das gemeinsam weitergeführt, und das könnten wir viel-
leicht als Muster für eine bundesweite Lösung verwen-
den.
Der vorliegende Gesetzentwurf klebt jedenfalls zu
sehr an den bestehenden Strukturen. Bei aller Wertschät-
zung für den Föderalismus, man bekommt einfach ver-
lässlichere Daten für die Qualität von Krebsvorsorge und
Krebsversorgung, wenn man sie zusammenführt und die
Kräfte bündelt.
Auch mit Ihrem Vorschlag zur Finanzierung sind wir
noch nicht ganz einverstanden. Vom Krebsregister und
von der verbesserten Forschung sollen ja alle Menschen
in Deutschland profitieren. Aber bei den Kosten wird al-
lein die gesetzliche Krankenversicherung verpflichtet.
Die privaten Krankenversicherer können, wenn sie es
denn mögen, auch etwas dazugeben. Das hat bei Ihnen ja
schon System. Bei der Patientenberatung haben Sie das
ganz genauso gemacht: Die gesetzlichen Kassen müssen
zahlen; die privaten Versicherungskonzerne werden
freundlich um einen Obolus gebeten. Die privaten Kran-
kenversicherer einmal zu irgendetwas zu verpflichten,
das ist wohl mit der FDP nicht drin.
– Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie das wäre, Herr
Lanfermann, wenn die FDP ihre Pläne zur Privatisierung
der gesamten Krankenversicherung durchsetzen könnte.
Dann gäbe es Fortschritte wohl nur noch durch freiwil-
lige Selbstverpflichtung, und wir hätten anstelle eines
Gesundheitsministers einen Chefbittsteller. Das ist mit
uns auf jeden Fall nicht zu machen.
Deswegen wird die Linke auch in diesem Gesetzge-
bungsverfahren wieder darauf drängen, dass die Zwei-
klassenmedizin beendet wird. Wir kämpfen weiterhin für
eine solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung,
in der alle versichert sind und in der alle eine Top-Ge-
sundheitsversorgung erhalten.
Das Wort hat der Kollege Dr. Harald Terpe für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Eine Regierung kann sich glücklich schätzen, wenn sie
die Chance bekommt, ein solches Gesetz auf den Weg zu
bringen, insbesondere was die Frage der Einführung
oder der Stärkung der Krebsregister betrifft. Es ist schon
darauf hingewiesen worden, dass es in der deutschen
Geschichte auch gute Vorläuferbeispiele gibt. Insbeson-
dere die epidemiologischen Krebsregister, die in den ost-
deutschen Bundesländern, aber auch in einigen west-
deutschen Bundesländern geführt werden, kann man als
Basis für die Weiterführung dieses Krebsregisters neh-
men.
Ein Meilenstein an dieser Stelle ist für meine Begriffe
jedoch die Stärkung der klinischen Krebsregister. Ich
selbst habe während meiner beruflichen Tätigkeit die
Möglichkeit gehabt, in Mecklenburg-Vorpommern so-
wohl ein epidemiologisches als auch ein klinisches
Krebsregister für Forschungsarbeiten und für die Patien-
tenbetreuung zu nutzen. Ich kann nur sagen, dass wir an
dieser Stelle wirklich – auch wenn es schon Freitagnach-
mittag ist und kaum noch einer zuhört – einen Meilen-
stein setzen.
Ich will auf der anderen Seite noch einige Punkte auf-
greifen, bei denen wir in der Ausschussberatung an die-
ser oder jener Stelle vielleicht noch etwas nachbessern
können. Wir wissen ja, dass die Weltgesundheitsorgani-
sation davon ausgeht, dass man 30 Prozent der Krebs-
erkrankungen durch Prävention verhindern kann. Im Ge-
setz ist zugegebenermaßen zwar etwas zur Prävention
ausgeführt, aber da geht es im Wesentlichen um die Se-
kundärprävention, zu der ich nachher noch etwas sagen
werde. Die Primärprävention wird jedoch an keiner
Stelle erwähnt. Es gilt aber auch die Primärprävention zu
stärken. Wir finden, sie muss, gerade was die Krebs-
erkrankungen betrifft, auch finanziell unterlegt sein.
Sie gehen in Ihrem Gesetzentwurf auf die Auswei-
tung der Früherkennungsuntersuchungen ein und wollen
die Sekundärprävention stärken. Dabei gilt es zu berück-
sichtigen, dass Nutzen und Qualität von Früherken-
nungsmaßnahmen nachgewiesen sein bzw. von Zeit zu
Zeit überprüft werden müssen.
Auch hierzu wird im Gesetzentwurf an einigen Stel-
len etwas ausgeführt, beispielsweise dass alle zwei Jahre
evaluiert werden muss. Wir wissen, dass Brust-, Darm-
und Gebärmutterhalskrebsvorsorgeuntersuchungen im
Rahmen der Krebsfrüherkennung bereits einen festen
Platz im deutschen Gesundheitssystem haben. Aber
mangelnde Sensitivität oder Spezifität, auch falsche Be-
funde, Überdiagnosen und Übertherapien können den
Nutzen für die Patientinnen und Patienten reduzieren
oder schlimmstenfalls den Patienten sogar schaden. Das
ist allen in der Fachwelt bekannt. Deswegen hat die EU-
Kommission zu Recht empfohlen, neue Krebsfrüherken-
nungsuntersuchungen erst dann einzuführen, wenn sie
randomisiert in kontrollierten Studien evaluiert worden
sind.
Insofern haben wir als Gesetzgeber natürlich Sorge zu
tragen, dass Krebsfrüherkennung durch entsprechende
Studienbelege und Begleitforschung gerechtfertigt wird,
beispielsweise für Darmkrebsfrüherkennung, Darmspie-
gelungen und Stuhluntersuchungen. Ein Einladewesen
wird erst dann sinnvoll, wenn man es auf eine solche Ba-
sis stellt.
Lassen Sie mich zum Abschluss noch auf etwas hin-
weisen – auch das wurde schon angesprochen –, das wir
kritisieren und wo wir noch eine Änderung herbeiführen
wollen: Das Prognos-Institut hat empfohlen, bei der
Finanzierung dieses Vorhabens nicht nur die gesetzli-
chen Krankenkassen, sondern auch die privaten Kran-
kenkassen einzubeziehen. Nun wird formuliert, diese
könnten sich ja auf freiwilliger Basis beteiligen. Ich
glaube, das ist zu wenig. Wir müssen uns immer wieder
fragen: Welche Interessen vertreten wir denn eigentlich
als Gesetzgeber, als Abgeordnete?
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein schönes Wo-
chenende.
Das Wort hat der Kollege Rudolf Henke für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! In diesen Minuten treffensich im Rathaus meiner Heimatstadt Aachen auf Einla-dung des Oberbürgermeisters Marcel Philipp Vertreteraus Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft, ummit dem Betriebsrat der Firma Talbot über die Zukunftdieses fast 175 Jahre alten Werks für Waggonbau und Ei-senbahntechnik zu sprechen. Der Eigentümer Bombar-dier hat angekündigt, das Unternehmen im nächsten Jahrzu schließen. Bleibt es dabei, dann werden rund 600 Be-schäftigte in Aachen ihren Arbeitsplatz verlieren, ob-wohl der Konzern früher versprochen hatte, dass dasWerk Aachen gesetzt ist.Mit der heutigen Konferenz soll ein Plan entwickeltwerden, die Arbeitsplätze in der Aachener Bahnindustriezu erhalten und die Zerstörung der dortigen betrieblichenKompetenz abzuwenden.
Dem Betriebsrat, der Belegschaft und der Stadt Aachenwünsche ich von hier aus viel Erfolg bei dem Bemühen,die Pläne von Bombardier zu durchkreuzen. Dass einesolche Konferenz überhaupt möglich ist, hängt damit zu-sammen, dass die Information über die beabsichtigte
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26040 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012
Rudolf Henke
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Werkschließung fast ein Jahr vor deren geplantem Ter-min zur Verfügung steht.
So ähnlich muss man sich auch die Verbesserung derBehandlungschancen vorstellen, die dann erzielt wird,wenn eine Krebskrankheit bei Vorsorgeuntersuchungenentdeckt wird, lange bevor sie beim Patienten zu konkre-ten Beschwerden führt. Je kleiner der Tumor, so die An-nahme, desto größer die Chance, die Krankheit durchfrühzeitige Intervention zu heilen und damit Leben zuretten. Vor diesem Hintergrund ist der Gedanke der Stär-kung der Früherkennungsuntersuchungen auf Krebs nurzu begrüßen.Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht für denBereich der Früherkennung vor, die informierte Ent-scheidung über eine Teilnahme an Krebsfrüherken-nungsuntersuchungen zu verbessern, Altersgrenzen undZielgruppen bei der Krebsfrüherkennung zu flexibilisie-ren sowie in stärkerem Maße organisierte und qualitäts-gesicherte Krebsfrüherkennungsprogramme zu etablie-ren.Es ist in früheren Zeiten anders beurteilt worden, aberich persönlich finde in diesem Zusammenhang die Strei-chung der gesetzlichen Regelung aus § 62 Abs. 1SGB V, welche die Gewährung einer reduzierten Belas-tungsgrenze für chronisch Kranke an die regelmäßigeInanspruchnahme an einer Krebsfrüherkennungsuntersu-chung gekoppelt hatte, sehr begrüßenswert, nicht deswe-gen, weil ich glaube, dass Eigenbeteiligung von vornher-ein Schimpf und Schande verdient hätte, sonderndeswegen, weil eine Freiwilligkeit der Teilnahme an ei-ner Krebsfrüherkennungsmaßnahme notwendig ist; dennes handelt sich um eine Intervention bei Gesunden. Weiles dabei natürlich sowohl zu unterbleibenden Diagnosenals auch zu Diagnosen kommen kann, die falsch positivsind und eine Abklärungsdiagnostik auslösen, macht eswenig Sinn, einen materiellen Anreiz zu setzen; es istviel vernünftiger, dafür zu sorgen, dass der aufgeklärteAdressat eine informierte Entscheidung trifft.Frau Klein-Schmeink hat eben in einem Zwischenrufan das Epidemiologische Krebsregister Nordrhein-West-falen erinnert. Wir wissen aus seinem aktuellen „Report2012 mit Datenbericht 2010“, dass infolge der Mammo-grafie-Screenings im Zeitraum von 2005 bis 2008 insge-samt 7 176 positive Diagnosen gestellt wurden, es aberauch 2 036 Intervallkarzinome gab, bei denen die Dia-gnose nicht infolge des Screenings gestellt wurde, son-dern in den nachfolgenden 24 Monaten. Das offenbartein bisschen die Problematik und die Notwendigkeit derAbwägung.Zweiter Schwerpunkt des Gesetzentwurfs ist der flä-chendeckende Aufbau klinischer Krebsregister, welcheden stationären Bereich unseres Gesundheitswesens stär-ker betreffen. Die Idee: Durch aussagekräftige Qualitäts-berichterstattung in Form klinischer Krebsregister kanndie Behandlung von Krebspatienten in Deutschlandtransparenter gestaltet werden. Durch die Berücksichti-gung der erhobenen Erkenntnisse können wir die Be-handlung von Krebskranken im Alltag verbessern.Zwei Beispiele. Erstes Beispiel. Bei Darmkrebs zei-gen Untersuchungen, dass zusätzlich zur Operation eineChemotherapie das Überleben der Patienten deutlichverbessert; sie haben eine 15 Prozent höhere Überle-benswahrscheinlichkeit. Aufgrund der klinischen Krebs-register weiß man, dass diese Therapieempfehlung je-doch bisher noch unzureichend umgesetzt wird; so kannman gezielt auf Verbesserungen hinarbeiten.Zweites Beispiel. Bei manchen Patientinnen mitBrustkrebs soll eine zusätzliche Hormontherapie überfünf Jahre durchgeführt werden. Aus Daten klinischerKrebsregister erfährt man, dass diese Hormontherapiemitunter vor Ablauf der fünf Jahre beendet wird. Ist diesder Fall – das zeigen die Daten –, geht das mit einerverminderten Überlebenswahrscheinlichkeit der Patien-tinnen einher. Diese Erkenntnisse bekräftigen die Not-wendigkeit einer konsequenten Orientierung an der leit-liniengerechten Therapie und erlauben entsprechendeInterventionen.Wir machen die Therapie also dadurch wirksamer undeffektiver für die Patienten, dass aus den KrebsregisternErkenntnisse resultieren, die dann zur Korrektur vonfestgestelltem leitlinienabweichendem Verhalten führen.Ich warne ein bisschen vor der Illusion, zu glauben,dass man damit auch gleich neue Therapieschemata ent-wickelt. Ich glaube, die Krebsregister werden eher zurEntwicklung von Hypothesen führen, und aus diesenHypothesen werden dann wissenschaftliche Studien ent-wickelt, die prospektiv und, wenn nötig, randomisiert sodurchgeführt werden, dass man echte Wirksamkeitsver-gleiche anstellen kann.Darüber werden wir sicher im Ausschuss in allen Ein-zelheiten debattieren. Das gilt auch für den Hinweis,dass es klug wäre, die neu zu schaffenden Krebsregisterso zu konzipieren, dass den beteiligten Kliniken die ei-genen Daten für Maßnahmen innerhalb ihres internenQualitätsmanagements einfach und zeitnah zur Verfü-gung stehen, ohne dass eine doppelte Erfassung an meh-reren Stellen notwendig wird. Man muss das so einfachwie möglich gestalten.Gestatten Sie mir – nachdem ich den Gesetzentwurfder Bundesregierung derart begrüßt habe – zum Schlussnoch eine persönliche Bemerkung. Die Leiterin meineseigenen Büros hier in Berlin, Frau Inken Benthien,scheidet mit dem heutigen Tag aus der Arbeit im Deut-schen Bundestag aus. Sie hat sechs Jahre lang bei dreiAbgeordneten, den Kollegen Hubert Hüppe undVolkmar Klein und bei mir, gearbeitet. Sie ist in dieserZeit zu einer Expertin der Gesundheits- und Behinder-tenpolitik geworden. Ich nehme das zum Anlass, ummich bei all den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern derAbgeordneten in diesem Bundestag zu bedanken, die un-endlich viel dazu beitragen, dass die Qualität unserer Ar-beit auch von außen wahrgenommen wird.
Mit ihrer engagierten Arbeit begleiten sie das Parlamentund unterstützen damit die Menschen und die Demokra-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012 26041
Rudolf Henke
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tie in Deutschland und in Europa und erweisen ihnen ei-nen großen Dienst. Dafür herzlichen Dank.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/11267 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 50 a bis 50 c auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Katja
Dörner, Ekin Deligöz, Ingrid Hönlinger, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
– Drucksache 17/11650 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Innenausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Diana
Golze, Matthias W. Birkwald, Dr. Martina
Bunge, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Geset-
– Drucksache 17/10118 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Innenausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Federführung strittig
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Dörner, Jerzy Montag, Ekin Deligöz, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Rechte der Kinder von Strafgefangenen und
Inhaftierten wahren
– Drucksache 17/11578 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Katja Dörner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen,liebe Kollegen! Es ist längst überfällig, die Kinderrechteexplizit ins Grundgesetz aufzunehmen und damit dieRechte der Kinder zu stärken. Die Zeit ist einfach reifdafür.
20 Jahre nach der Ratifizierung der UN-Kinderrechts-konvention in Deutschland, nach der mehrfachen Auf-forderung des UN-Ausschusses für die Rechte des Kin-des, nach langen, intensiven Diskussionen auch in derKinderkommission des Deutschen Bundestages und nachjahrelangen, intensiven Vorarbeiten des Aktionsbündnis-ses Kinderrechte, das vor zwei Wochen einen interessan-ten Formulierungsvorschlag vorgelegt hat, sollten sichjetzt auch die Regierungsfraktionen einer Diskussion aufder Grundlage konkreter Formulierungen, so wie sieheute vorliegen, nicht länger verweigern.
Die Kinderrechte im Grundgesetz zu stärken, ist mit-nichten Symbolpolitik. Ich sage das, weil ich weiß, dassdiese Argumentation gleich vonseiten der Regierungs-fraktionen kommen wird. Ich will die Symbolfunktiongar nicht geringschätzen. Auch das Zeichen – uns gehtes um die Kinder, die Kinder stehen im Mittelpunkt, undihre Rechte haben Verfassungsrang – ist nämlich sehrwohl viel wert, insbesondere in einer Gesellschaft wieder unseren, die sich nicht gerade durch Kinderfreund-lichkeit auszeichnet.
Unser Vorschlag macht klar, dass es bei der explizitenAufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz um vielmehr geht. Es geht darum, klarzustellen, dass Kindernmit Blick auf Förderung, auf Schutz und auf Beteiligungbei allen sie betreffenden Entscheidungen Rechte zuste-hen, die sich von denen der Erwachsenen durchaus un-terscheiden. Kinder sind eben keine kleinen Erwachse-nen. Naturgemäß bzw. entwicklungsbedingt habenFörderung, Schutz und Partizipation für sie eine ganz be-sondere Bedeutung. Hier sind Eltern, aber eben auch derStaat ganz besonders in der Pflicht.Es geht darum, zu verankern, dass das Wohl desKindes bei allem staatlichen Handeln besonders zu be-rücksichtigen ist. Das ist sehr wichtig. Dies zu berück-sichtigen, ist von zentraler Bedeutung für die Kinder-freundlichkeit eines Landes.
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26042 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012
Katja Dörner
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Das Grundgesetz ist das Fundament unserer gesamtenGesetzgebung. Durch die Aufnahme dieser Anforderun-gen, der besonderen Berücksichtigung des Kindeswohls,überwinden wir das derzeitige Stückwerk. Ich kann mirdenken, dass die Kolleginnen und Kollegen von den Re-gierungsfraktionen gleich aufzählen werden, was sie indieser Legislaturperiode angeblich alles zugunsten derKinder getan haben. Ich verzichte ausdrücklich darauf,
hier darzulegen, was Sie nicht getan haben; denn ichfinde, das gehört heute nicht hier her. Heute geht es da-rum, dass mit der Aufnahme der Kinderrechte in dasGrundgesetz in jedem Gesetzgebungsprozess, ob in derEnergiepolitik, beim Planungsrecht oder im Bereich dersozialen Sicherung, das Kindeswohl besonders berück-sichtigt werden muss. Ich frage mich, was daran Sym-bolpolitik sein soll. Ich finde, das ist ein Paradigmen-wechsel im Sinne der Kinder.
Ich finde es auch sehr schade, dass sich MinisterinSchröder zum Formulierungsvorschlag des Aktions-bündnisses so skeptisch geäußert hat, und das sogar, be-vor der Formulierungsvorschlag überhaupt öffentlichkommuniziert worden ist. Auch die Haltung der Bundes-justizministerin finde ich sehr enttäuschend. In ihrerStellungnahme zur Initiative des Bundesrates hat sie imGrunde nur gesagt: Schon jetzt sind die Kinderrechte imGrundgesetz angemessen verankert, weil auch KinderMenschen sind. Dazu muss man sagen: In der Debatteüber Kinderrechte sind wir eigentlich schon weiter. Ichappelliere an die beiden Ministerinnen: Lassen Sie docheine offene Debatte über dieses Thema in diesem Hausezu.
Wir möchten auf der Grundlage eines konkreten For-mulierungsvorschlags mit allen Kolleginnen und Kolle-gen hier im Hause, auch mit Ihnen von den Regierungs-fraktionen, ins Gespräch kommen. Ich weiß, dass es inallen Fraktionen Unterstützerinnen und Unterstützer die-ses Anliegens gibt. Warum sollte uns im Bund nichtgelingen, was in einigen Bundesländern mit breiterMehrheit interfraktionell – ich erwähne Bayern undNordrhein-Westfalen – gelungen ist?Um die Rechte der Kinder zu stärken, müssen wirviele kleine Schritte unternehmen. Wir müssen aber auchim Sinne der Kinder gemeinsam große Sprünge machen.In diesem Sinne hoffe ich, dass wir eine ernsthafte Dis-kussion führen werden. Ich würde mich über eine kon-struktive Begleitung des Gesetzgebungsverfahrens sehrfreuen.Vielen Dank.
Der Kollege Dr. Patrick Sensburg hat für die Unions-
fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Der Schutz der Kinder und der Kinderrechte istein besonderes Anliegen, nicht nur der Opposition, FrauDörner, sondern auch der Koalition. Kinder genießenunsere besondere Aufmerksamkeit,
weil sie ihrer bedürfen – als schwächere Menschen, dieihre Rechte nicht so leicht durchsetzen können wie Er-wachsene. Die christlich-liberale Koalition hat sie imBlick.Ich danke ganz besonders denjenigen, die sich seitJahren für die Aufnahme von Kinderrechten ins Grund-gesetz einsetzen, aber aus einem anderen Grund als dem,den Sie, Frau Kollegin, schwerpunktmäßig genannt ha-ben. Wichtiger ist meines Erachtens der Punkt, den Sienur am Rande erwähnt haben. Ich glaube wie Sie, dassdas wiederholte Aufzeigen von Kinderrechten in unsererGesellschaft etwas verändert. Dieser Dialog hilft, denFokus auf die Rechte zu legen, die Kinder erhalten müs-sen. Von daher danke ich ganz explizit den am Aktions-bündnis Beteiligten, UNICEF, dem Deutschen Kinder-hilfswerk und vielen anderen, auch den Lehrerinnen undLehrern, die sich an Schulen immer wieder mit demThema beschäftigen.Ich selbst habe erst letzte Woche zugesagt, einen Ter-min wahrzunehmen, bei dem wir über das Thema Kin-derrechte im Grundgesetz diskutieren werden. Die Frageist aber: Was haben Sie mit Ihrem Antrag eigentlich ge-macht? Ich habe ihn mir angeschaut und gesehen, dassSie den Vorschlag des Aktionsbündnisses Kinderrechtefast wortgleich kopiert haben.
Sie haben ein bisschen am Satzbau gedreht, aber an-sonsten ist das keine eigene Leistung, außer dass Sie dieVerortung in Art. 6 gewählt haben statt in einem neuenArt. 2 a. Das ist auch unter dem Gesichtspunkt der Sys-tematik des Grundgesetzes nicht besonders klug.
Zu fragen ist erst einmal: Wo ist eigentlich die Lückeim Grundgesetz? Wo brauchen wir im Grundgesetz ei-gene Regelungen für die Kinderrechte? Ein Beispiel istder geforderte Schutz der Kinder, wenn es um Fürsorgeund um einen angemessenen Lebensunterhalt geht. Auchder Anspruch auf Meinungsfreiheit wird geäußert sowiedas Recht auf Anhörung in Gerichts- und Verwaltungs-verfahren. Man findet auch Rechte in Form eines Ver-bots, zum Beispiel Kinder als Soldaten zu rekrutieren.Wo gibt es im Grundgesetz Lücken, die wir schließenmüssen? Wenn Sie so einen Antrag stellen, dann hätteich mir von Ihnen gewünscht, dass Sie die Lücken auf-
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Dr. Patrick Sensburg
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zeigen. Wir haben im Grundgesetz genügend Artikel.Sie hätten doch wenigstens einen finden können.
Wo diskutieren Sie zum Beispiel über das ThemaKindersoldaten? Würden Sie in diesem Zusammenhangim Grundgesetz nichts ändern wollen? Das ist bezeich-nend. Denken Sie einmal über Art. 4 Abs. 3 nach. Mankönnte viel weiter gehen, als Sie es in Ihrem Antrag tun.Da scheint nicht viel mehr zu kommen als das reine Ko-pieren eines Antrags, den eine gute Vereinigung gestellthat, wie ich es eingangs bereits sagte. Ich würde mirwünschen, dass Sie eigene inhaltliche Arbeit leisten. Dakommt nicht viel.
– Ich habe noch ein paar Minuten, in denen ich noch einpaar Dinge sagen werde. Ich möchte mich aber erst ein-mal mit dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen be-schäftigen.Frau Kollegin Dörner, Sie haben Politikwissenschaf-ten und im Nebenfach öffentliches Recht studiert.
Sehen wir uns das Grundgesetz an: Ihnen müsste dochbekannt sein, dass alle Menschen von Geburt an Grund-rechtsträger sind.
Die herrschende Meinung sagt sogar, dass die Grund-rechte auch für diejenigen gelten, die noch nicht geborensind. Sie gelten also sogar vor der Geburt. Ich würde mirwünschen, dass Sie diese Breite der Grundrechtsträger-schaft wahrnehmen. Das tun Sie vom Bündnis 90/DieGrünen gerade nicht.Wenn wir uns die einzelnen Artikel des Grundgeset-zes anschauen, dann werden wir feststellen, dass alle vonIhnen geforderten Rechte – seien es die Meinungsfrei-heit, die Handlungsfreiheit oder die Koalitionsfreiheitbei Kindern – im Grundgesetz bereits verankert sind;denn Kinder sind Grundrechtsträger, und zwar nicht, wieSie fälschlich meinen, als Objekte, sondern als Subjekte,die einen Anspruch haben. Ich glaube, das ist Ihnen beider gesamten Diskussion bisher noch nicht aufgefallen.Wir sehen das. Wir wünschen uns eine stärkere Fokus-sierung auf die Kinderrechte.
Ich frage mich: Wo ist in Ihrem Vorschlag der Bereichsexueller Missbrauch von Kindern enthalten? Müssenwir hierzu das Grundgesetz ändern? Sie glauben das an-scheinend nicht. Sie sind ja der Meinung, man müssenoch nicht einmal einfachgesetzliche Regelungen tref-fen.Wenn wir zum Beispiel im Kampf gegen Kinderpor-nografie im Internet Kinderrechte durchsetzen wollen,dann verabschieden sich die Grünen. Sie sagen ganzschnell: Da müssen wir nichts machen.
Es ist also eine reine Schaufensterpolitik, wenn Sieangeblich neue Grundrechte fordern, die sich nicht be-nennen lassen, sich bei den einfachgesetzlichen Maß-nahmen aber verabschieden.Ich habe mir die Parteiprogramme der Grünen ange-sehen und gefragt: Wie halten es denn die Grünen tat-sächlich mit dem Kinderschutz?
Gehen sie über die Forderung hinaus, Grundrechte zuverändern? Wird etwas Neues geschaffen? Ist etwas da-ran? 1985 forderten Sie in Lüdenscheid im Sauerland,dass gewaltfreie Sexualität zwischen Kindern und Er-wachsenen niemals Gegenstand strafrechtlicher Verfol-gung sein dürfe. Das ist ein Zitat. Im Gegenteil, sie seivon allen Restriktionen zu befreien, die ihr in dieser Ge-sellschaft auferlegt sind. Das verstehen Sie also unterWahrnehmung von Kinderrechten.
Wenn Sie jetzt sagen, das sei von 1985 und davon hät-ten Sie sich ja verabschiedet, dann frage ich: Was wardenn 2008, als es um die Veränderung von § 182 StGBging und Sie nicht gegen den sexuellen Missbrauchdurch Lehrer vorgehen wollten? Sie sind immer noch derMeinung, dass wir – ich betone, dass wir von Lehrern re-den, die sexuellen Kontakt mit Kindern haben – keineneuen Gesetze und keine Gesetzesänderung brauchen.So sieht die Realität aus, wenn Sie von Kinderschutz re-den.
Das ist das Schlimme. Deswegen haben Sie für michjede Glaubwürdigkeit verloren, für Grundrechte vonKindern zu kämpfen. Sie benennen kein einziges, daswir ändern müssten. Sie sträuben sich, Kinderschutz ein-fachgesetzlich durchzusetzen.Ich bin froh, dass wir eine Ministerin haben, die dasThema anpackt, die mit dem Bundeskinderschutzgesetzund mit vielen anderen Gesetzen
die richtigen Maßnahmen zum Kinderschutz ergreift. Ichglaube, Sie haben sich mit Ihrem Antrag, mit Ihrem Ge-setzentwurf und in der Praxis selbst disqualifiziert.Danke schön.
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Die Kollegin Dörner hat das Wort zu einer Kurzinter-
vention.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Ich fühle mich
äußerst angegriffen durch die Äußerungen unseres Kol-
legen Herrn Dr. Sensburg. Er hat hier in den Raum ge-
stellt, dass Mitglieder meiner Fraktion oder meiner Par-
tei den sexuellen Missbrauch von Kindern in irgendeiner
Weise relativieren, für gutheißen oder für nicht absolut
abscheulich halten. Ich möchte Sie wirklich bitten, diese
Aussage, die Sie hier zumindest indirekt in den Raum
gestellt haben, zurückzunehmen. Ich muss sagen: Das ist
wirklich eine Unverschämtheit meiner Partei und meiner
Fraktion gegenüber.
Sie haben das Wort zu einer Erwiderung.
Liebe Frau Kollegin Dörner, ich kann natürlich relativ
wenig zu Ihrem Parteiprogramm sagen. Sie selbst sind
dafür verantwortlich, alte Zöpfe abzuschneiden und viel-
leicht auch neue Wege zu beschreiten. Ich lade Sie ein,
Frau Dörner, die Strafbarkeit von sexuellem Kontakt von
Lehrern mit Minderjährigen zu regeln und dabei gemein-
sam mit uns zusammenzuarbeiten. Ich lade Sie ein, in Ih-
rer Partei eine Diskussion zum Thema Pädophilie zu
führen
und sich damit auseinanderzusetzen, um in Ihren eige-
nen Reihen mit diesen alten Dingen aufzuräumen, die
Sie anscheinend seit Jahren immer noch mitschleppen.
Nun hat die Kollegin Marlene Rupprecht für die SPD-
Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Die meisten hier kennen mich und wissen, dass icheher zusammenbinde und nicht trenne. Aber jetzt mussich erst einmal ein paar Watschen verteilen.
Herr Dr. Sensburg, wenn man neu ist und noch nichtsvom Thema versteht, sollte man den Mund halten.
Sie haben keine Ahnung von dem, was hier gemachtworden ist und wer was gemacht hat.
Ich habe lange genug an einer Förderschule gearbeitet.Ich erkläre Ihnen jetzt, warum wir Kinderrechte insGrundgesetz schreiben wollen, und zwar so, dass auchSie es verstehen.
Alles, was einer Gesellschaft wichtig ist, legt sie inihrer Verfassung nieder; in unserem Fall ist dies dasGrundgesetz. In einem ersten Entwurf des Grundgeset-zes stand, dass Ehe, Familie und Kinder unter besonde-rem Schutz stehen. Das Wort „Kinder“ hat man dann ge-strichen, weil man Kinder unter Familie subsumierte.Das Verfassungsgericht hat bis 1968 gebraucht, um fest-zustellen, dass Kinder Grundrechtsträger sind. Daher er-klären Sie uns hier jetzt nicht, dass das alles selbstver-ständlich ist.
Wir leben im 21. Jahrhundert. Wir sind hoffentlicheine Gesellschaft, die lernt. Wenn man lernt, verändertman auch seine Sichtweise auf Kinder. Früher hat manKinder ohne Bestrafung verkauft. In der Bibel ist vonden Sklaven, den gekauften Kindern und den eigenen,den leiblichen die Rede. Das steht übrigens im Zusam-menhang mit dem, worüber wir zurzeit heftig diskutie-ren. Wir haben heute eine andere Sichtweise auf Kinder.Kinder werden zum Subjekt und sind nicht mehr Objektvon Eltern, von Gesellschaft etc. Dies ist aber bisher inder Verfassung so nicht nachlesbar.
Ich habe viel mit Kindern gearbeitet und zum Beispielauch versucht, ihnen klarzumachen, dass in unserer Ver-fassung unsere gesellschaftlichen Werte niedergelegtsind. Die erste Frage, die Kinder dann stellen, ist: Wosind wir? Sind wir nur Objekte, nur Gegenstand elterli-cher Erziehung? – Die Kinder drücken dies natürlich an-ders aus. Deshalb wollen wir, dass die Kinderrechte inunserer Verfassung verankert werden. Es geht um dieNiederlegung unserer gemeinsamen Werte; darüber stehtnichts. Die Menschenrechte in unserer Verfassung sinddie Basis, auf der wir stehen, und unser Wertekanon. Dasist hier manchmal ein bisschen unbekannt. Aber deshalbwiederhole ich es ja.
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Marlene Rupprecht
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– Wissen Sie, ich habe eines gelernt in meinem Leben,nämlich dass ich bei bestimmten Dingen ruhig bin underst einmal lerne.
Aber es scheint bei Ihnen nicht modern zu sein, dassman erst einmal zuhört und schaut: Was haben die ande-ren schon gemacht? Warum haben sie es gemacht?Wir wollen die Kinderrechte deshalb in der Verfas-sung haben, damit das, was sich an gesellschaftlicherVeränderung vollzogen hat, nämlich dass Kinder bei unseinen anderen Stellenwert als früher haben, auch in derVerfassung erkennbar wird. Wir wollen die Kinderrechtedort haben, wo es um individuelle Rechte geht, wo esdarum geht, was Familie bedeutet.Wir wollen sie in Art. 2 haben – unser Gesetzentwurfkommt noch –; dort, wo es um die individuellen Rechtegeht, nämlich um die Rechte auf Schutz und Förderung,
soll das Recht auf Schutz der Kinder verankert werden.Wir wollen die Kinderrechte auch in Art. 6 haben.Zur Stärkung der Familien und der Kinder soll bestimmtwerden, dass der Staat dafür sorgt, dass die für Kinderund Familien notwendigen Rahmenbedingungen ge-schaffen werden; das darf nicht nur eine Wohltat sein.Wir wollen auch, dass es einen Lautsprecher für Kin-der gibt, wo dies nötig ist, damit man sie hört.
Ich habe es schon einmal gesagt: Hier im Saal gibt es ei-nen einzelnen Stuhl; der gehört dem Wehrbeauftragten.Der Wehrbeauftragte ist für 180 000 Menschen da. FürMillionen von Kindern haben wir hier keinen Fürspre-cher,
es sei denn, wir Kinderbeauftragte machen den Mundauf und sind laut genug. Wir debattieren die Kinder-rechte heute als letzten Tagesordnungspunkt am Freitag-nachmittag!
– Ja, ich weiß. Ich kann das hier auch im nächsten Jahrtun. Ich hoffe, dass es dann genug Lautsprecher gibt.
Ich wünsche mir, dass dann da hinten jemand sitzt unddie Kinderrechte hier verteidigt, für die Kinder sprichtund sich nicht abmeiert mit parteipolitischem Gezänk.
Wir sind uns einig: Es kommen unterschiedliche Ge-setzentwürfe in den Bundestag. Was wir machen müs-sen, ist, darüber zu debattieren, wie wir die Kinderrechteverankern wollen. In der Sache ist Bewegung. Ich ladeSie dazu ein, mitzumachen. Machen Sie mit! BegebenSie sich auf den Weg dahin, dass unsere Kinder merken,dass wir sie wertschätzen!
Denn Demokratie braucht Menschen, die wertgeschätztwerden, die aufrecht gehen und die verstanden werden.Den Eindruck, dass das bei Ihnen so ist, habe ich im Mo-ment nicht.Danke.
Das Wort hat der Kollege Marco Buschmann für die
FDP-Fraktion.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Frau Kollegin Rupprecht, bei allem Respektvor Ihrem Engagement und Ihrer Leidenschaft: Manch-mal ist es besser, die Dinge sine ira et studio, mit einergewissen Nüchternheit anzugehen,
insbesondere dann, wenn es um zwei Themen geht, dieso viel Besonnenheit erfordern wie diese. Wir diskutie-ren ja einerseits über die Stellung der Kinder in unseremRechtssystem. Andererseits diskutieren wir über dieFrage, ob es angemessen, richtig und geboten ist, unsereVerfassung zu ändern; denn die Bindungswirkung, dieOrientierungskraft unserer Verfassung resultiert daraus,dass wir nur Hand an sie anlegen, nur dann wirklich et-was ändern, wenn wir auch aufzeigen können, dass da-mit echter Fortschritt verbunden ist, und nicht lediglichSymbolpolitik betrieben wird.
Ich habe mir Ihre Argumentation sehr aufmerksamangehört. Gehen wir einmal einzeln die Argumente, dieSie vortragen, ganz nüchtern, sine ira et studio durch:Sie sagen erstens, die Subjektstellung der Kinder seiim Grundgesetz nicht ausreichend dokumentiert. Sie ha-ben aber gerade doch selber die Verfassungsrechtspre-chung angeführt, die noch einmal ausdrücklich klarge-stellt hat, dass selbstverständlich Kinder auch Menschensind, dass sie Menschenwürde haben, dass sie natürlichTräger der Grundrechte aus Art. 1, Art. 2 usw. sind. Pro-fessor Sensburg hat uns gerade weitere Beispiele ge-nannt. Die Subjektstellung der Kinder stellt niemand inunserem Rechtssystem – niemand! – infrage.
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Marco Buschmann
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Deshalb gibt es hier auch kein Defizit in der Rechtsord-nung. Niemand stellt das infrage!
Ihr zweites Argument ist sicherlich das gewichtigste.Sie sprechen über den Schutz vor Gewalt, vor Vernach-lässigung, vor Ausbeutung. Das ist sicherlich ein zentra-les Argument. Wer könnte dagegen sein, dass Kinder da-vor zu schützen sind? Nur, die Frage ist: Was kann dieVerfassung hier leisten? Ist das nicht genau eine Fragedes einfachen Rechts? Dazu möchte ich gerade für Sieauszugsweise aus einem Beitrag der Berliner Republikzitieren; die Berliner Republik ist ja nicht gerade dasVerkündungsorgan der Koalition. Diese Bemerkung inder Berliner Republik ist gemacht worden vor dem Hin-tergrund des schrecklichen Versagens der Jugendämterin Bremen und Mecklenburg-Vorpommern, durch dasder kleine Kevin und die kleine Lea-Sophie zu Tode ka-men. In der Berliner Republik ist zu lesen:Die Jugendämter dürfen und müssen daher im Not-fall eingreifen. Weil sie dies in Bremen und Schwe-rin versäumt haben, wurden sie mitschuldig am Toddes kleinen Kevin und von Lea-Sophie. Wenn sichjetzt gerade die Länder Bremen und Mecklenburg-Vorpommern für Kinderrechte im Grundgesetzstark machen, ist dies bestenfalls Ausdruck politi-scher Hilflosigkeit, schlimmstenfalls der Versuch,die Verantwortung für eigenes Versagen der Bun-desverfassung zuzuschreiben.
Die Landesverfassungen von Bremen und Meck-lenburg-Vorpommern kennen schon heute aus-drückliche Kinderrechte, gerettet hat dies Kevinund Lea-Sophie nicht. Hier zeigt sich: Problemebeim Gesetzesvollzug löst man nicht mit Verfas-sungsänderungen.Ende des Zitats aus der Berliner Republik, die, wie ge-sagt, nicht das Verkündungsorgan unserer politischenRichtung ist, sondern Ihrer Fraktionskollegen.
Kollege Buschmann, gestatten Sie eine Frage oder
Bemerkung des Kollegen Lenkert?
Selbstverständlich.
Vielen Dank, Herr Kollege Buschmann. – Ich habe
neulich im Internet nach Urlaubsangeboten gesucht. Da
habe ich ein Hotel gefunden, das geschrieben hat: „ga-
rantiert kein Kinderlärm“, und: „Kinder ausdrücklich
nicht erwünscht“ – und das in unserer Republik!
Jetzt sage ich Ihnen: Wenn wir wollen, dass so etwas
nicht vorkommt, dann müssen wir die Kinderrechte im
Grundgesetz verankern,
weil dann diese Werbung eindeutig gegen die Verfas-
sung verstoßen würde.
Bis jetzt berufen sich solche Hotels darauf, dass die Kin-
derrechte nicht in der Verfassung stehen, und ignorieren
sie.
Durch die Toleranz, die Sie gegenüber solchen Äuße-
rungen zeigen, und durch Ihre Weigerung, Kinderrechte
ins Grundgesetz aufzunehmen, befördern Sie Kinder-
feindlichkeit in unserem Lande. Das müssen Sie sich an-
heften lassen. Ich würde gern von Ihnen wissen, was Sie
unternehmen wollen, damit ich solche Werbeangebote
zukünftig nicht mehr finden muss.
Lieber Herr Kollege, beide Dinge haben nichts mitei-nander zu tun.
Man tut nämlich etwas für Kinder, wenn man, so wie wires getan haben, das Bürgerliche Gesetzbuch ändert,wenn man das Baurecht ändert, um zu verhindern, dassmit Verweis auf Kinderlärm gegen die Schaffung neuerKindergartenplätze vorgegangen werden kann,
wenn man in den Bundesländern dafür sorgt, dass die Ju-gendämter ordentlich ausgestattet sind, und wenn mandas materielle Recht so ändert, dass die Rechte der Kin-
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Marco Buschmann
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der in concreto verwirklicht und verteidigt werden kön-nen. Mir, weil ich einen anderen Maßstab anlege und aufdie Frage: „Was bringt diese vorgeschlagene Verfas-sungsänderung?“,
antworte, dass sie nichts bringt, Kinderfeindlichkeit vor-zuwerfen, ist ein rhetorischer Taschenspielertrick, dernäherer Erläuterung nicht bedarf.
Ich möchte noch einmal auf die Bemerkung aus derBerliner Republik zurückkommen und wiederhole denletzten Satz:Probleme beim Gesetzesvollzug löst man nicht mitVerfassungsänderungen.Man muss das einfache Recht und vor allen Dingen dieAusstattung der Behörden, die es durchsetzen müssen,so anpassen, dass wirklich etwas für Kinder getan wird.Eigentlich wissen das die Kollegen von den Grünen, unddas wissen auch die Kollegen von der SPD. Denn wennman danach schaut, was Sie in der Endphase Ihrer Re-gierungsverantwortung vorgeschlagen haben, findet maneinen Antrag von Ihnen mit dem Titel „Die Zukunft un-seres Landes sichern – Ein kindergerechtes Deutschlandschaffen“. Ihr Anspruch war in diesem Antrag, den Sieauf den Weg gebracht haben, ein kindergerechtesDeutschland zu schaffen. Sie diagnostizierten aber nichtan einer einzigen Stelle ein Defizit in unserer Verfas-sungsordnung, sondern schlugen ausschließlich Maß-nahmen auf der Ebene des einfachen Rechts vor. Das istauch richtig so. Warum sich daran in den letzten Jahrenetwas geändert haben soll, darauf gehen Sie mit keinemWort ein.Ich möchte zu einem weiteren Argument kommen.Frau Dörner hat sehr intensiv mit der UN-Kinderrechts-konvention argumentiert. Nur: Sie müssen sehen, dassselbst die Rechtsexperten, die Ihrem Anliegen sehr auf-geschlossen gegenüberstehen, beispielsweise der DAV-Verfassungsrechtsausschuss, die also sagen: „Das ist einsympathisches Anliegen; lasst uns darüber sprechen“,darauf hinweisen, dass selbstverständlich aus der UN-Kinderrechtskonvention keinerlei Notwendigkeit abge-leitet werden kann, unsere Verfassung zu ändern.Zum Schluss möchte ich Sie auffordern: Um den Kin-dern konkret zu helfen und ihre Lage zu verbessern,müssen wir auf der Ebene des einfachen Rechts und desGesetzesvollzugs in den Ländern ansetzen. Hier müssenwir etwas tun!
Selbst in solchen Bundesländern, die die Kinderrechte inihre Landesverfassungen aufgenommen haben, kommtes zu schlimmen Skandalen, weil das einfache Recht undder Gesetzesvollzug dort nicht klappen. Daran müssenwir vorrangig etwas ändern. Das ist die vorrangige Bau-stelle, mit der wir Kindern wirklich helfen. Das mit unszu tun, dazu lade ich Sie ein und ermutige ich Sie.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Diana Golze für die Frak-
tion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Herr Buschmann, man kann auch das eine tun,ohne das andere zu lassen.
Natürlich können wir einfache Gesetze machen, die gutsind und den Kindern helfen, und uns trotzdem für dieAufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz aus-sprechen.
Wir – Sie mit Ihrer Mehrheit, die Opposition hat sichenthalten – haben in diesem Hause ein Bundeskinder-schutzgesetz beschlossen, das sicherlich gute Ansätzebeinhaltet, das aber ganz konkret – Sie haben von derpersonellen, der ordentlichen Ausstattung der Jugend-ämter gesprochen – vor Ort für Probleme sorgt. MeinLandkreis, in dem leider die Linke nicht die Mehrheithat – Entschuldigung! –,
wird jetzt gegen dieses Gesetz klagen. Andere Land-kreise im Land Brandenburg werden ebenfalls klagen.Sie haben zwar nette Dinge beschlossen, sagen abernicht, wie die Jugendämter das umsetzen sollen. Einfa-che Gesetze helfen nämlich nicht, wenn sie vor Ort nichtumsetzbar sind.
Herr Sensburg, dieselben Argumente, die Sie ge-bracht haben, wurden gebracht – es war weit vor meinerZeit, aber ich habe sie nachgelesen –, als es um dieGleichberechtigung von Mann und Frau ging. ZumGlück gab es dann irgendwann andere Mehrheiten. Des-wegen werden Sie es jetzt ertragen müssen, dass Ihneneine Frau noch einmal sagt, warum wir für Kinderrechteim Grundgesetz sind.
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Diana Golze
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Vor wenigen Tagen haben wir den Weltkinderrechts-tag begangen. Am 20. November 1989 ist die UN-Kin-derrechtskonvention beschlossen worden. 1992 ist sie inDeutschland ratifiziert worden. Das Problem ist aber,dass die Kinderrechtskonvention – im Gegensatz zu an-deren Staaten – mit einfacher Gesetzgebung gleichzuset-zen ist,
zum Beispiel mit einem Sozialgesetzbuch oder einemBaugesetzbuch. In anderen Staaten, zum Beispiel Nor-wegen – die Kinderkommission war letztes Jahr dort –,steht die UN-Konvention über der Verfassung. Norwe-gen hat diese Konvention erst dann ratifiziert, als festge-stellt wurde: Wir können es rechtfertigen, wir haben un-sere einfache Gesetzgebung und unsere Verfassung soangepasst, dass wir die Konvention tatsächlich umsetzenkönnen. – Deutschland geht leider bei allen Menschen-rechtskonventionen einen anderen Weg. Wir ratifizierenerst, schmücken uns damit und sehen dann, dass wir Pro-bleme bei der Umsetzung im Alltag bekommen. DieKinderrechte in die Verfassung aufzunehmen, wäre einweiterer Schritt für die Umsetzung der Kinderrechtskon-vention auch in Deutschland.
Das Aktionsbündnis Kinderrechte begrüßt die heutigeDebatte hier sehr. Die Mitglieder sind schon genanntworden: Kinderhilfswerk, Kinderschutzbund, UNICEF,Deutsche Liga für das Kind haben sich zusammenge-schlossen und einen eigenen Vorschlag gemacht. DerGesetzentwurf, den die Linke einbringt, liegt schon et-was länger vor. Im Endeffekt kommt es mir nicht auf je-des einzelne Wort an, nicht darauf, dass alles so geregeltwird, wie wir es in unserem Gesetzentwurf – meineFraktion möge es mir verzeihen – formuliert haben. ImEndeffekt geht es doch darum, endlich eine parlamenta-rische Mehrheit für die Aufnahme von Kinderrechten indas Grundgesetz zu gewinnen.
Eine gesellschaftliche gibt es bereits. Das zeigen allemöglichen Umfragen.Ich finde es einfach schade, dass die Vertreter der Ko-alitionsfraktionen diese Debatte dafür benutzen, die Un-terstützerinnen und Unterstützer dieser Gesetzentwürfezu diskreditieren und ihnen in einer Art und Weise, dieich einfach ablehne, unmögliche Dinge zu unterstellen.Es geht uns schlicht und ergreifend darum, den Kindernund ihren Rechten einen höheren Stellenwert zu verlei-hen. Kinder sind nämlich keine kleinen Erwachsenen.Sie sind zum Beispiel auch keine kleinen Erwerbslosen.Deshalb glaube ich auch, dass eine Aufnahme von Kin-derrechten in das Grundgesetz eine Besserstellung auchim einfachen Gesetz für die Kinder nach sich ziehenwürde. Das würde ich mir an vielen Stellen sehr wün-schen.
Eine Anmerkung möchte ich noch zu der Frage, wasdie Bundesländer dazu sagen, machen. Vor genau einemJahr, im November 2011, hat der Bundesrat eine Ent-schließung verabschiedet, in der der Bundestag aufge-fordert wird, ein Gesetzesvorhaben zur Aufnahme vonKinderrechten in das Grundgesetz auf den Weg zu brin-gen. Der Vorbehalt der Länder ist demzufolge keineAusrede, diese grundgesetzliche Änderung nicht vorzu-nehmen.Ich freue mich übrigens sehr, dass MinisterinSchröder an dieser Debatte heute teilnimmt. FrauSchröder, ich wünsche mir auch von Ihnen, eine Offen-heit für dieses Thema zu zeigen. Sie haben zum Beispieldie Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Kinderrechte-kongresses sehr enttäuscht. Die jungen Delegierten wa-ren am Mittwoch in der Kinderkommission zu Gast. Siehaben vor zwei Wochen am 2. Kongress der Kinder-rechte teilgenommen. Als sie nach Hause kamen, muss-ten sie in den Zeitungen lesen: Die Ministerin hat sichgegen die Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetzausgesprochen. Das finde ich sehr schade.Ich bitte Sie alle von den Koalitionsfraktionen: Öff-nen Sie sich für die inhaltlichen Argumente! Seien Siebereit für Veränderungen! Das Rad der Geschichte hatsich weitergedreht.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Norbert Geis für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wenn man die Verfassung ändern will, brauchtman sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat eineZweidrittelmehrheit.
Wenn man eine Chance haben will, eine Zweidrittel-mehrheit zu erreichen, muss man sich zusammensetzen,bevor man überhaupt einen Gesetzentwurf einbringt.Das haben Sie nicht getan. Deswegen besteht natürlichschon ein bisschen der Verdacht, dass es hier mehr umdie Demonstration geht und weniger um die Frage, obKinderrechte ins Grundgesetz aufgenommen bzw. ein-fachgesetzlich geregelt werden sollen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012 26049
Norbert Geis
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Lassen Sie mich ein Weiteres nennen – wir reden janicht das erste Mal über die Aufnahme von Kinderrech-ten ins Grundgesetz –:
Es wird immer wieder behauptet, die Kinderrechtskon-vention sei erst dann richtig umgesetzt, wenn sie – inForm von Kinderrechten – im Grundgesetz steht.
Liebe Frau Rupprecht, ich respektiere Sie sehr und ichschätze auch Ihr Engagement; aber ich glaube, über dieAufnahme von Rechten ins Grundgesetz muss manwirklich in aller Ruhe nachdenken.
Dann muss man auch einmal feststellen, dass das, wasSie fordern, schon im Grundgesetz enthalten ist. Das istnun einmal so, und das hat auch das Bundesverfassungs-gericht so festgestellt.Lassen Sie mich Art. 1 Grundgesetz nennen: „DieWürde des Menschen ist unantastbar.“ Das ist der tra-gende Satz in unserem Grundgesetz, er gilt für jeden inDeutschland, ob er Ausländer ist, ob er im Gefängnissitzt, ob er alt ist, ob er jung ist. Er gilt natürlich auch fürKinder.Oder Art. 2 Grundgesetz: Wie für jeden Erwachsenengilt dieser auch für Kinder. Das Kind hat ein Recht da-rauf, sich entfalten zu können, sich entwickeln zu kön-nen. Es hat einen Anspruch auf körperliche Unversehrt-heit, natürlich auch auf die Freiheit der Person und dasRecht auf Leben. Das steht den Kindern genauso zu wiejedem anderen. Jeder, der in Deutschland wohnt odersich in Deutschland bewegt, hat diese Rechte.
Kollege Geis, gestatten Sie eine Frage oder Bemer-
kung der Kollegin Rupprecht?
Bitte.
Herr Geis, ich stimme Ihnen natürlich zu, dass die
Grundrechte für alle Menschen in Deutschland gelten.
Aber unser Grundgesetz ist von Erwachsenen für Er-
wachsene geschrieben. Haben Sie die genaue Formulie-
rung, die in Art. 2 steht, wirklich so gut in Erinnerung?
Da steht:
Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner
Persönlichkeit …
Das heißt, es wird davon ausgegangen, dass es sich um
eine fertige Persönlichkeit handelt, die diese nun entfal-
tet. Im Hinblick auf Kinder müsste formuliert werden:
Jeder hat das Recht auf die Entwicklung und freie Ent-
faltung seiner Persönlichkeit. – Dann wäre niedergelegt,
dass wir dem Kind alles geben, damit es sich zu einer
Persönlichkeit entwickeln kann und diese dann entfalten
kann. Da ist der ganze Fördergedanke drin.
So gibt es viele Stellen, wo wir nur Erwachsene im
Blick haben und das nur in Erwachsenensprache festge-
halten wird. Deshalb wüsste ich gern, wie Sie es inter-
pretieren, wenn Nichtjuristen, aber auch Verfassungs-
rechtler hier ein Defizit feststellen und nicht sehen
können, dass hier Kinderrechte niedergelegt wären.
Ich darf Ihnen ganz kurz darauf antworten: Art. 2Grundgesetz gilt natürlich für jedes Kind genauso.
Entwicklung bedeutet natürlich auch Förderung der Ent-wicklung. Ich komme nachher noch darauf zu sprechen,wenn ich Art. 6 Grundgesetz behandle; da sind die ei-gentlichen Kinderrechte ja enthalten.Art. 2 Grundgesetz hat beispielsweise am Anfang der90er-Jahre eine ganz entscheidende Rolle gespielt. Eswurde festgestellt – vom Bundesverfassungsgericht ge-nauso wie auch von der Gesetzgebung –, dass jedesKind, auch das noch nicht geborene Kind, das Recht aufLeben hat. Das gilt also nicht nur für Erwachsene, son-dern auch für jedes Kind, ja sogar für das noch nicht ge-borene Kind; auch dieses Kind hat im Sinne von Art. 2und Art. 1 Grundgesetz bereits Rechte. Deswegen kannich das, was Sie sagen, so nicht annehmen.Ich komme jetzt aber darauf zu sprechen, wo es umArt. 6 Grundgesetz geht. Da sagt das Bundesverfas-sungsgericht in seinem Urteil vom 1. April 2008, dassdie Eltern die Verpflichtung haben, Kinder zu erziehen,dass die Eltern die Verpflichtung haben, für die Kinderzu sorgen, dass sie aber auch das Recht gegenüber demStaat haben, zunächst einmal allein für ihre Kinder zusorgen, und dass der Staat zunächst nur ein Wächteramthat. Erst dann, wenn die Eltern diesem Anspruch nichtgerecht werden, hat der Staat das Recht, einzugreifen.Das Bundesverfassungsgericht hat in dem von mir er-wähnten Urteil festgestellt, dass damit ein Grundrechtder Kinder gegenüber den Eltern auf Erziehung sowieauf Sorge und gegenüber dem Staat auf Schutz der Fami-lie, auf Schutz der Erziehung durch die Eltern korres-pondiert. Dies ist also in Art. 6 Grundgesetz niederge-legt. Ich halte diesen Artikel für einen elementarenGrundsatz unserer Verfassung, und zwar auch deswegen:In Art. 6 Abs. 2 bis 5 geht es nur um das Wohl des Kin-des. Was heißt „Wohl des Kindes“? Das heißt, wenn denEltern das Wohl des Kindes anvertraut ist, dann geht esdarum, dass die Eltern kein Gewaltverhältnis gegenüberdem Kind entfalten, sondern dass sie für das Kind sor-gen. „Wohl“ heißt, dass sie das Kind lieben. Das ist einnatürliches Recht der Eltern, aber auch ihre natürlichePflicht.
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26050 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 212. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. November 2012
Norbert Geis
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Art. 6 Grundgesetz ist hervorragend formuliert. Eshandelt sich um einen Grundsatz unseres ganzen gesell-schaftlichen Zusammenlebens, nämlich dass es in einerFamilie ohne Liebe nicht geht. Das Wohl des Kindes for-dert dies. Deswegen leite ich daraus ab, dass Kinder-rechte sogar im Grundgesetz festgelegt sind. Ich meine,das hat eine so fundamentale Bedeutung auch für dieRechte der Kinder, dass ich Ihnen nicht recht gebenkann, liebe Frau Rupprecht, dass die Kinderrechte nochnicht in unserer Verfassung sind. Sie sind bereits enthal-ten.
Kollege Geis, gestatten Sie eine Frage oder Bemer-
kung des Kollegen Buschmann?
Ich glaube, wir dürfen nur Fragen zulassen.
Nein, beides ist möglich.
Bemerkungen also auch. – Gerne, Herr Buschmann.
Herr Kollege Geis, würden Sie mir zustimmen, dass
sich das Argument der Kollegin Rupprecht, dass der
Wortlaut von Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes nur an die
fertige Persönlichkeit und damit an den Erwachsenen
adressiert ist, vor dem Hintergrund, dass das Bundesver-
fassungsgericht in ständiger Rechtsprechung ab dem
53. Band seiner Entscheidungen in Art. 2 Abs. 1 immer
auch die Entfaltung des Kindes und damit seine Ent-
wicklung geschützt sieht, beispielsweise in der Schule,
so wahrscheinlich nicht halten lässt?
Ich bedanke mich für den Hinweis und für die Klar-
stellung. Danke schön.
Die Privilegierung von Ehe und Familie, verehrte
Frau Rupprecht, meine sehr verehrten Damen und Her-
ren, hat ihren Grund in der Sorge der Eltern für die Kin-
der. Es gibt keinen anderen Grund für diese Privilegie-
rung. Wir haben hier schon oft genug über die
Privilegierung von Ehe und Familie gestritten, als es um
die Frage der Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen
Lebensgemeinschaften mit Ehe und Familie ging.
Gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften können
diese Privilegierung nicht haben. Die Privilegierung ha-
ben Ehe und Familie wegen der Generationenfolge, aber
auch um das Humankapital, wie es die Juristen nennen,
zu übertragen. Das heißt, all das, was wir an Entwick-
lung haben, und all das, was wir an Kulturwerten haben,
wird zunächst erst einmal dem Kind übertragen und ihm
gewissermaßen schon von ganz klein auf eingepflanzt.
Ich meine, aus dem Grundsatz der Verfassung bezüg-
lich der Privilegierung von Ehe und Familie selbst ergibt
sich – oder zumindest ist das ein Hinweis darauf –, dass
die Kinderrechte bereits in der Verfassung stehen.
Das, was Sie wollen, ist einfachgesetzlich, wie es
Herr Buschmann und auch Herr Sensburg gesagt haben,
viel besser zu lösen. Sie können einfachgesetzlich auf
die einzelnen Ansprüche eingehen und sie vernünftig re-
geln. Das haben wir auch getan. Im Übrigen ist im Ge-
setzentwurf der Grünen in wunderbarer Weise aufge-
zählt – Frau Dörner, Sie sollten zuhören; das ist nämlich
ein Lob für Ihren Gesetzentwurf –,
was alles geleistet worden ist, und zwar einfachgesetz-
lich. Meiner Meinung nach ist es entscheidend, dass Sie
das, was Sie wollen, einfachgesetzlich und nicht im
Grundgesetz regeln.
Frau Rupprecht, Sie haben es mit Recht gesagt: Im
Grundgesetz sollen die Grundlinien der Rechtsordnung
aufgezeigt werden. Und die Grundlinien werden in die-
sem Grundgesetz in einer wunderbaren Weise aufge-
zeigt.
Wir sollten und dürfen das Grundgesetz nicht über-
frachten; denn sonst kommen noch ganz viele andere,
die ihre Rechte auch im Grundgesetz verankert sehen
wollen. Wir haben aber alle Not, auf dem einfachgesetz-
lichen Weg für die Rechte der Kinder zu kämpfen. Hier
sehe ich in Ihnen eine gute und starke Bundesgenossin.
Ich danke Ihnen.
Der Kollege Dr. Edgar Franke hat nun für die SPD-
Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich hätte nicht gedacht, dass wir heute, am Frei-tagnachmittag, eine so emotionale Debatte führen, aberich glaube, bei diesem Thema ist das nicht verwunder-lich, und Marlene Rupprecht ist ja auch jemand, diegerne emotional diskutiert.„Das Grundgesetz hat keine Kinder“, hat HeribertPrantl in der Süddeutschen Zeitung vom 17. dieses Mo-nats formuliert. Ich denke, er hat recht; denn Kinder,Herr Geis, kommen als Inhaber eigener Rechte in unse-rer Verfassung in der Tat nicht vor. Das verwundert ei-gentlich. In letzter Zeit wird unser Grundgesetz ja in fastschon inflationärer Weise – da gebe ich Ihnen auch teil-
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Dr. Edgar Franke
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weise recht – mit immer mehr Forderungen bezüglichder Aufnahme von Staatszielen und verfassungsrechtli-chen Ergänzungen konfrontiert.
Es stimmt auch, dass bei solchen Forderungen immerdie Gefahr besteht, dass man die wirklich wichtigenGrundrechte und Staatsziele entwertet, indem man allesund jedes in die Verfassung aufnimmt. Auch hier gebeich Ihnen recht.Für mich als zweifacher Vater ist es aber schon er-staunlich, dass man den Kindern bis zum heutigen Tagekeine originären Verfassungsrechte gegeben hat – unddas vor dem Hintergrund der Diskussion über Kindes-misshandlungen, Kindestötungen und Kindesverwahrlo-sung.Es ist sicherlich auch so – das hat 1968 ja das Bundes-verfassungsgericht formuliert –, dass Kinder einen An-spruch auf Förderung ihrer Fähigkeiten und auf best-möglichen Schutz haben. Das ist aber, Herr Geis, einungeschriebenes Grundrecht. Marlene Rupprecht hatwirklich richtigerweise formuliert: Alles, was wichtigist, wird in der Verfassung niedergelegt. Deshalb solltenauch Kinderrechte in der Verfassung ausdrücklich nor-miert werden.
Natürlich ist das auch ein Programmsatz bzw. eine Sym-bolnorm, aber Kinder sollten in unserer Gesellschaft ei-nen anderen Stellenwert haben. Auch deshalb solltenihre Rechte ausdrücklich in unserer Verfassung normiertwerden.Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, vor20 Jahren – das ist auch schon angesprochen worden –ist die UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland inKraft getreten. Das war ein Meilenstein in der Entwick-lung der Kinderrechte. Gerade Sozialdemokratinnen undSozialdemokraten haben immer dafür gestanden. Jetztmüssen wir sie tatsächlich umsetzen. „Tatsächlich um-setzen“ bedeutet, dass wir Art. 6 Abs. 2 Grundgesetz än-dern. „Tatsächlich umsetzen“ bedeutet auch, dass wirnoch mehr machen.Ich glaube, unser Vorschlag, den Frau Rupprechtschon verschiedentlich vorgetragen hat, dass wir einenKinderbeauftragten ähnlich wie den Wehrbeauftragten inArt. 45 b Grundgesetz schaffen wollen, ist vernünftig,weil man dann auch gucken kann, was tatsächlich ge-macht wird. Dieser Kinderbeauftragte könnte sich dabeiauf eine verfassungsrechtliche Regelung stützen. Des-wegen erscheint das sinnvoll.
Das politische Problem ist immer – das war ja auchein Thema, das Sie angesprochen haben –: Wie setze ichetwas um? Ich glaube, ein Kinderbeauftragter könntehier das eine oder andere bei Diskussionen über dieFrage, wie sich die Verwaltung dazu verhält, ganz prag-matisch leisten. Vor allen Dingen muss man sagen:Wenn wir einen Kinderbeauftragten haben, dann brau-chen wir natürlich auch die notwendigen personellenund sachlichen Ressourcen. Sonst würde das nicht funk-tionieren. Insofern spricht doch einiges dafür, eine insti-tutionelle Absicherung zu schaffen.Meine Damen und Herren, ich glaube, eine Verfas-sungsänderung würde zu einer Bewusstseinsänderungführen und auch dazu, dass viele darüber diskutierenwürden, welche Bedeutung Kinder in unserer Gesell-schaft haben.Eine Grundgesetzänderung würde zweierlei bewir-ken:Erstens. Kinder sind eigene Subjekte – dieser Punktspielte auch bei der Diskussion um die Beschneidungeine Rolle – mit damit verbundenen Rechten. Zweitens– ich habe es vorhin schon angedeutet –: Die Verwaltungist angehalten, die Verfassung insofern zu respektieren,als die Rechte der Kinder bei der Umsetzung von Vorga-ben immer eine höhere Priorität haben.
Ich habe von Caren Marks etwas gelernt. Wenn sie infamilienpolitischen Diskussionen auftritt, dann sagt sieimmer: Jedes Kind kann es schaffen, vorausgesetzt, wirsind gut genug. – Wir, das ist die Gesellschaft. Vor die-sem Hintergrund sollten wir die gesellschaftliche Dis-kussion führen. Die heutige Diskussion, auch wenn sieteilweise sehr emotional war, ist eine gute Grundlage,um diese wichtige Verfassungsänderung zu erreichenund die Rechte von Kindern in unserem Land zu verbes-sern.Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 17/11650 und 17/11578 an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dannsind die Überweisungen so beschlossen.Tagesordnungspunkt 50 b. Der Gesetzentwurf aufDrucksache 17/10118 soll ebenfalls an die in der Tages-ordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden.Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen derCDU/CSU und FDP wünschen Federführung beimRechtsausschuss. Die Fraktion Die Linke wünscht Fe-derführung beim Ausschuss für Familie, Senioren,Frauen und Jugend.Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag derFraktion Die Linke abstimmen, also Federführung beimAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Überwei-sungsvorschlag ist mit den Stimmen der Unionsfraktion,
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Vizepräsidentin Petra Pau
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der FDP-Fraktion, der SPD-Fraktion, der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion DieLinke abgelehnt.Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag derFraktionen der CDU/CSU und FDP abstimmen, also Fe-derführung beim Rechtsausschuss. Wer stimmt für die-sen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich? – Der Überweisungsvorschlag ist an-genommen.Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-ordnung.Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-destages auf Mittwoch, den 12. Dezember 2012, 13 Uhr,ein.Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen etwasErholung, bevor wir wieder zusammenkommen.