Protokoll:
17205

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 17

  • date_rangeSitzungsnummer: 205

  • date_rangeDatum: 9. November 2012

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 17:07 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 17/205 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 205. Sitzung Berlin, Freitag, den 9. November 2012 I n h a l t : Zusatztagesordnungspunkt 9: a) – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung eines Betreuungsgel- des (Betreuungsgeldgesetz) (Drucksachen 17/9917, 17/11404) . . . . – Bericht des Haushaltsausschusses ge- mäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 17/11405) . . . . . . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – zu dem Antrag der Abgeordneten Caren Marks, Petra Crone, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Kita-Aus- bau statt Betreuungsgeld – zu dem Antrag der Abgeordneten Diana Golze, Agnes Alpers, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Betreu- ungsgeld nicht einführen – Öffentli- che Kinderbetreuung ausbauen – zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Dörner, Sven-Christian Kindler, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Kein Betreuungsgeld ein- führen – Kinder und Familien durch den Ausbau der Kindertagesbetreu- ung fördern (Drucksachen 17/9572, 17/9582, 17/9165, 17/11404) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Betreuungsgeldgesetzes (Betreuungs- geldergänzungsgesetz) (Drucksache 17/11315) . . . . . . . . . . . . . . Dorothee Bär (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Peer Steinbrück (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Patrick Meinhardt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . . . Patrick Meinhardt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Erika Steinbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Markus Grübel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Caren Marks (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Peter Tauber (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Uwe Schummer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 42: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Abgeordneten Silvia 24989 B 24989 C 24989 D 24990 A 24990 B 24992 D 24996 C 24998 A 24998 C 24999 A 25001 B 25001 D 25002 C 25003 B 25005 B 25007 A 25008 B 25009 A 25011 A 25012 C 25014 D Inhaltsverzeichnis II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012 Schmidt (Eisleben), Anette Kramme, Elke Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: UN-Konvention jetzt umsetzen – Chancen für eine inklusive Gesellschaft nutzen (Drucksachen 17/7942, 17/10010) . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für wirtschaftliche Zusam- menarbeit und Entwicklung – zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Riegert, Sibylle Pfeiffer, Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Helga Daub, Dr. Christiane Ratjen-Damerau, Joachim Günther (Plauen) und der Fraktion der FDP: Selbstbestimmtes Leben von Menschen mit Behinderung – Grundsatz der deutschen Entwick- lungspolitik – zu dem Antrag der Abgeordneten Karin Roth (Esslingen), Dr. Sascha Raabe, Lothar Binding (Heidelberg), weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der SPD: Behinderung und Ent- wicklungszusammenarbeit – Behin- dertenrechtskonvention umsetzen und Entwicklungszusammenarbeit inklusiv gestalten (Drucksachen 17/9730, 17/8926, 17/10330) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 10: Antrag der Abgeordneten Oliver Kaczmarek, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der SPD: Das Menschenrecht auf inklu- sive Bildung in Deutschland endlich ver- wirklichen (Drucksache 17/10117) . . . . . . . . . . . . . . . . . Maria Michalk (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Ulla Schmidt (Aachen) (SPD) . . . . . . . . . . . . Gabriele Molitor (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hubert Hüppe (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Oliver Kaczmarek (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Helga Daub (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Karin Roth (Esslingen) (SPD) . . . . . . . . . . . . Klaus Riegert (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Johannes Selle (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 11: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung des Assis- tenzpflegebedarfs in stationären Vor- sorge- oder Rehabilitationseinrichtungen (Drucksachen 17/10747, 17/10799, 17/11396) b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Assis- tenzpflege bedarfsgerecht sichern – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Karl Lauterbach, Elke Ferner, Bärbel Bas, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Praxisgebühr abschaffen – Hausärztinnen und Hausärzte stärken – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Karl Lauterbach, Elke Ferner, Bärbel Bas, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Praxisgebühr sofort abschaffen – zu dem Antrag der Abgeordneten Harald Weinberg, Dr. Martina Bunge, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Praxis- gebühr abschaffen – zu dem Antrag der Abgeordneten Harald Weinberg, Dr. Martina Bunge, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Praxis- gebühr jetzt abschaffen – zu dem Antrag der Abgeordneten Birgitt Bender, Maria Klein-Schmeink, Elisabeth Scharfenberg, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Zusatzbei- träge aufheben, Überschüsse für Abschaffung der Praxisgebühr nut- zen – zu dem Antrag der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Praxisge- bühr und Zusatzbeiträge jetzt ab- schaffen (Drucksachen 17/10784, 17/9189, 17/11192, 17/9031, 17/11141, 17/9408, 17/11179, 17/11396) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25013 A 25013 A 25013 B 25013 C 25017 A 25019 A 25019 D 25022 B 25023 C 25025 A 25026 A 25027 A 25027 D 25029 B 25030 D 25032 A 25033 C 25033 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012 III Daniel Bahr, Bundesminister BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hilde Mattheis (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Maria Michalk (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Harald Weinberg (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heinz Lanfermann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Edgar Franke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Jens Spahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 44: Antrag der Abgeordneten Diana Golze, Jörn Wunderlich, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Altersgrenze beim Unterhaltsvorschuss an- heben (Drucksache 17/11326) . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Caren Marks (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Judith Skudelny (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Norbert Geis (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 43: a) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2012 (Drucksache 17/10803) . . . . . . . . . . . . . . . b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bund-Länder-Bericht zum Programm Stadtumbau Ost (Drucksache 17/10942) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Iris Gleicke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) . . . . . . . . . Roland Claus (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Manfred Grund (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Volkmar Vogel (Kleinsaara) (CDU/CSU) . . . Hans-Joachim Hacker (SPD) . . . . . . . . . . . . . Dr. Thomas Feist (CDU/CSU) . . . . . . . . . Arnold Vaatz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 8: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Brigitte Pothmer, Markus Kurth, Katrin Göring-Eckardt, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einrichtung eines Sozialen Arbeitsmarktes (Drucksache 17/11076) . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Katja Mast, Anette Kramme, Petra Ernstberger, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Sozialen Arbeitsmarkt dauerhaft über Passiv-Aktiv-Transfer ermögli- chen – Teilhabe für alle durch sozialver- sicherungspflichtige Beschäftigung im allgemeinen Arbeitsmarkt (Drucksache 17/11199) . . . . . . . . . . . . . . . Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Katja Mast (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jutta Krellmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . Tagesordnungspunkt 45: a) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: Durch Zusammenarbeit Zivilge- sellschaft und Rechtsstaatlichkeit in Russland stärken (Drucksache 17/11327) . . . . . . . . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses – zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Gemeinsam die Modernisierung Russlands voranbringen – Rück- schläge überwinden – Neue Impulse für die Partnerschaft setzen – zu dem Antrag der Abgeordneten Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), Agnes Brugger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Keine Modernisierung Russlands ohne Rechtsstaatlichkeit (Drucksachen 17/11005, 17/11002, 17/11391) 25034 A 25035 D 25036 D 25038 B 25039 D 25040 D 25041 C 25042 C 25044 A 25044 C 25047 A 25047 B 25048 A 25049 C 25050 D 25051 D 25052 D 25053 D 25054 A 25054 B 25055 D 25057 B 25059 A 25059 D 25060 D 25061 D 25062 C 25063 C 25064 C 25065 D 25066 A 25066 B 25067 A 25068 C 25069 C 25071 C 25072 B 25073 C 25073 D IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012 Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) . . . . . . . . . Dr. h. c. Gernot Erler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU) . . . . . Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Peter Gauweiler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 48: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung des EuGH- Urteils vom 20. Oktober 2011 in der Rechtssache C-284/09 (Drucksache 17/11314) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU) . . . . . . Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) . . . . . . . . Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Ingrid Fischbach und Peter Weiß (Emmendin- gen) (beide CDU/CSU) zur namentlichen Ab- stimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Einführung eines Betreuungsgeldes (Betreu- ungsgeldgesetz) (Zusatztagesordnungspunkt 9) Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Sebastian Blumenthal, Claudia Bögel, Klaus Breil, Marco Buschmann, Helga Daub, Bijan Djir-Sarai, Otto Fricke, Heinz Golombeck, Heinz-Peter Haustein, Manuel Höferlin, Heiner Kamp, Dr. h. c. Jürgen Koppelin, Gabriele Molitor, Björn Sänger, Jimmy Schulz, Dr. Erik Schweickert, Judith Skudelny, Stephan Thomae, Manfred Todten- hausen, Serkan Tören, Hartfrid Wolff (Rems- Murr) und Johannes Vogel (Lüdenscheid) (alle FDP) zur namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Einfüh- rung eines Betreuungsgeldes (Betreuungs- geldgesetz) (Zusatztagesordnungspunkt 9) . . Anlage 4 Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Einführung eines Betreuungsgeldes (Betreu- ungsgeldgesetz) (Zusatztagesordnungspunkt 9) Florian Bernschneider (FDP) . . . . . . . . . . . . Heike Brehmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Sylvia Canel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU) . . . . . . . Reinhard Grindel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Miriam Gruß (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rudolf Henke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Sebastian Körber (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) . . . . . . . . . Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU) . . . . . . . . Beatrix Philipp (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Cornelia Pieper (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Gisela Piltz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU) Anlage 5 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): zur Abstim- mung über den Entwurf eines Gesetzes zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs in sta- tionären Vorsorge- oder Rehabilitationsein- richtungen (Zusatztagesordnungspunkt 11) . . Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung: Entwurf eines Gesetzes zur Einrichtung eines Sozialen Arbeitsmarktes; Antrag: Sozialen Arbeitsmarkt dauerhaft über Passiv-Aktiv- Transfer ermöglichen – Teilhabe für alle durch sozialversicherungspflichtige Beschäf- tigung im allgemeinen Arbeitsmarkt (Tages- ordnungspunkte 8 a und 8 b) Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung des EuGH-Urteils vom 20. Oktober 2011 in der Rechtssache C-284/09 (Tagesordnungspunkt 48) Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Anlage 8 Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25074 A 25075 A 25076 C 25077 C 25078 D 25079 D 25081 C 25081 C 25083 B 25085 A 25086 C 25087 D 25089 A 25089 D 25090 B 25090 D 25091 B 25091 D 25092 B 25092 C 25093 B 25094 A 25094 B 25094 D 25095 A 25095 C 25096 A 25096 C 25097 A 25097 B 25098 A 25098 C 25099 C 25100 B Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012 24989 (A) (C) (D)(B) 205. Sitzung Berlin, Freitag, den 9. November 2012 Beginn: 9.00 Uhr
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    Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012 25089 (A) (C) (D)(B) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- lung des Europarates ** für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- sammlung der NATO Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Ingrid Fischbach und Peter Weiß (Emmendingen) (beide CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Einführung eines Betreu- ungsgeldes (Betreuungsgeldgesetz) (Tagesord- nungspunkt 9) Mit dem Betreuungsgeldergänzungsgesetz – Drucksa- che 17/11315 – und dem Änderungsantrag – Drucksache 17/11404 – haben wir als christlich-liberale Koalition er- hebliche Verbesserungen des Betreuungsgeldgesetzent- wurfs erreicht. So sieht das Betreuungsgeldergänzungsgesetz drei Wahlmöglichkeiten vor: Barauszahlung des Betreuungs- geldes, Einzahlung einschließlich eines Bonus von 15 Euro monatlich entweder in eine zusätzliche private Altersvorsorge – Altersvorsorgevertrag oder Basisrenten- versicherung – oder auf ein Bildungskonto für das Kind. Auch der Änderungsantrag, der die Härtefallregelung bei schwerer Krankheit, Schwerbehinderung oder Tod Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Altmaier, Peter CDU/CSU 09.11.2012 Beck (Reutlingen), Ernst-Reinhard CDU/CSU 09.11.2012** Becker, Dirk SPD 09.11.2012 Beckmeyer, Uwe SPD 09.11.2012** Bockhahn, Steffen DIE LINKE 09.11.2012 Bülow, Marco SPD 09.11.2012 Dağdelen, Sevim DIE LINKE 09.11.2012 Dittrich, Heidrun DIE LINKE 09.11.2012 Dörflinger, Thomas CDU/CSU 09.11.2012 Fischer (Karlsruhe- Land), Axel E. CDU/CSU 09.11.2012* Funk, Alexander CDU/CSU 09.11.2012 Granold, Ute CDU/CSU 09.11.2012 Dr. Gysi, Gregor DIE LINKE 09.11.2012 Dr. Harbarth, Stephan CDU/CSU 09.11.2012 Hardt, Jürgen CDU/CSU 09.11.2012** Hochbaum, Robert CDU/CSU 09.11.2012** Dr. Jochimsen, Lukrezia DIE LINKE 09.11.2012 Jung (Konstanz), Andreas CDU/CSU 09.11.2012 Kampeter, Steffen CDU/CSU 09.11.2012 Koschyk, Hartmut CDU/CSU 09.11.2012 Dr. Lamers (Heidelberg), Karl CDU/CSU 09.11.2012** Laurischk, Sibylle FDP 09.11.2012 Leidig, Sabine DIE LINKE 09.11.2012 Nietan, Dietmar SPD 09.11.2012 Nink, Manfred SPD 09.11.2012 Nouripour, Omid BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 09.11.2012** Pawelski, Rita CDU/CSU 09.11.2012 Pflug, Johannes SPD 09.11.2012** Dr. Ratjen-Damerau, Christiane FDP 09.11.2012 Schäfer (Saalstadt), Anita CDU/CSU 09.11.2012** Schäfer (Köln), Paul DIE LINKE 09.11.2012** Schmidt (Eisleben), Silvia SPD 09.11.2012 Schulz, Jimmy FDP 09.11.2012 Dr. Stinner, Rainer FDP 09.11.2012** Strothmann, Lena CDU/CSU 09.11.2012 Zimmermann, Sabine DIE LINKE 09.11.2012 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Anlagen 25090 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012 (A) (C) (D)(B) der Eltern von bisher zehn auf 20 Wochenstunden Kita- besuch im Durchschnitt des Monats ausdehnt, ist eine wesentliche Verbesserung. Dennoch habe ich weiterhin Bedenken in Bezug auf den vorliegenden Entwurf des Betreuungsgeldgesetzes. Die Einführung eines Anspruchs auf Betreuungsgeld bei Nichtinanspruchnahme einer öffentlich geförderten Einrichtung ist für uns mit bisher gültigen Prinzipien nicht vereinbar. Eine solche „Ausgleichszahlung“ ist un- serem Recht bisher fremd und auch nicht vorgesehen bei der Nichtinanspruchnahme zum Beispiel öffentlich ge- förderter Studienplätze oder Schwimmbäder. Zudem haben alle Eltern die gleiche Möglichkeit, das staatlich geförderte Angebot an Kitaplätzen zu nutzen. Es in Anspruch zu nehmen oder aber bewusst darauf zu verzichten, ist Ausdruck des grundrechtlich geschützten negativen Freiheitsrechtes. Wer staatlich geförderte Be- treuungsangebote nicht nutzt, macht von diesem negati- ven Freiheitsgrundrecht Gebrauch und verzichtet damit bewusst auf ein ihm vom Staat gemachtes Angebot. Er erleidet aber keinen Nachteil, den der Staat mit der Zah- lung von 100 bzw. 150 Euro monatlich zu kompensieren hat. Wir befürchten daher eher, dass das Betreuungsgeld Fehlanreize setzen könnte, die zulasten der Kinder ge- hen: Um den Anspruch auf das Betreuungsgeld nicht zu verlieren, könnten beide Elternteile, denen es nach die- sem Gesetz gestattet ist, Vollzeit berufstätig zu sein, die Betreuung in nicht qualifizierte Hände geben und damit der Schwarzarbeit Vorschub leisten. Gerade im Bereich der Kindertagespflege haben unsere politischen Ent- scheidungen in den letzten Jahren dazu beigetragen, die Arbeit der Tagesmütter/-väter anzuerkennen und aus dem Bereich der Schwarzarbeit herauszuholen. Ein weiteres wichtiges Argument ist für uns, dass wir die Erziehungsleistungen aller Eltern honorieren. Die im Betreuungsgeldgesetzentwurf enthaltene Be- richtspflicht der Bundesregierung über die Auswirkun- gen des Betreuungsgeldes ist uns ein besonderes Anlie- gen. Wir werden mit großer Aufmerksamkeit diesen Bericht zur Kenntnis nehmen, der bis zum 31. Dezember 2015 vorzulegen ist, und erwarten, dass daraus sich erge- bende Konsequenzen auch gezogen werden. Trotz aller Bedenken sind wir uns aber unserer Verant- wortung als Mitglieder der CDU/CSU-Bundestagsfrak- tion bewusst und stimmen daher dem Gesetz zur Einfüh- rung eines Betreuungsgeldes – Drucksache 17/9917 – zu. Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Sebastian Blumenthal, Claudia Bögel, Klaus Breil, Marco Buschmann, Helga Daub, Bijan Djir-Sarai, Otto Fricke, Heinz Golombeck, Heinz-Peter Haustein, Manuel Höferlin, Heiner Kamp, Dr. h. c. Jürgen Koppelin, Gabriele Molitor, Björn Sänger, Jimmy Schulz, Dr. Erik Schweickert, Judith Skudelny, Stephan Thomae, Manfred Todtenhausen, Serkan Tören, Johannes Vogel (Lüdenscheid) und Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (alle FDP) zur namentlichen Ab- stimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Einführung eines Betreuungsgeldes (Betreuungs- geldgesetz) (Tagesordnungspunkt 9) Ich habe heute dem Gesetz zur Einführung eines Be- treuungsgeldes zugestimmt. Meine Zustimmung erfolgte vor dem Hintergrund, dass dieses Gesetz Teil eines poli- tischen Gesamtkompromisses ist, den ich im Ergebnis für gut halte und ihn daher auch unterstütze. Zu diesem Gesamtkompromiss gehört insbesondere das Bekenntnis der Koalitionsfraktionen zur verstärkten Haushaltskonsolidierung. Denn das Gesetz steht im poli- tischen Zusammenhang zum Beschluss des Koalitions- ausschusses vom 4. November 2012 unter dem Titel „Stetiges Wachstum und sichere Arbeitsplätze für ein starkes Deutschland“. Darin ist vereinbart, einen struktu- rell ausgeglichenen Haushalt 2014 zu beschließen. Einige mögen einen Widerspruch darin erkennen, dass man in diesem Zusammenhang ein Leistungsgesetz einführt, das jährlich Kosten in Höhe von circa 1,2 Mil- liarden Euro verursacht. Auch für mich wäre es völlig falsch, neue Sozialleistungen durch zusätzliche Ver- schuldung einzuführen. Die Vereinbarung eines struktu- rell ausgeglichenen Haushaltes führt jedoch zu einem Einsparvolumen von etwa 7 Milliarden Euro gegenüber den aktuellen Planungen für den Haushalt 2014. Wenn aber nun als Gegenleistung für eine Ausgabe an einer Stelle ein Vielfaches an Einsparung an anderer Stelle steht, dann ist das mit Blick auf finanzielle Solidität und Generationengerechtigkeit ein ordentlicher Kompro- miss. Denn er führt nicht zu höherer Verschuldung, son- dern im Gegenteil: Er führt zu einem Vielfachen an we- niger Schulden. Wenn dieser Kompromiss, der unter dem Strich zu solideren Finanzen und damit mehr Gene- rationengerechtigkeit führt, nur in dieser Weise zu erzie- len war, dann trage ich ihn mit. Anlage 4 Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichen Abstimmung über den Ent- wurf eines Gesetzes zur Einführung eines Be- treuungsgeldes (Betreuungsgeldgesetz) (Tages- ordnungspunkt 9) Florian Bernschneider (FDP): Ich habe heute dem Gesetz zur Einführung eines Betreuungsgeldes zuge- stimmt. Meine Zustimmung erfolgte vor dem Hinter- grund, dass dieses Gesetz Teil eines politischen Gesamt- kompromisses ist, den ich im Ergebnis für gut halte und ihn daher auch unterstütze. Zu diesem Gesamtkompromiss gehört insbesondere das Bekenntnis der Koalitionsfraktionen zur verstärkten Haushaltskonsolidierung. Denn das Gesetz steht im poli- tischen Zusammenhang zum Beschluss des Koalitions- ausschusses vom 4. November 2012 unter dem Titel „Stetiges Wachstum und sichere Arbeitsplätze für ein Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012 25091 (A) (C) (D)(B) starkes Deutschland“. Darin ist vereinbart, einen struktu- rell ausgeglichenen Haushalt 2014 zu beschließen. Einige mögen einen Widerspruch darin erkennen, dass man in diesem Zusammenhang ein Leistungsgesetz einführt, das jährlich Kosten in Höhe von circa 1,2 Mil- liarden Euro verursacht. Auch für mich wäre es völlig falsch, neue Sozialleistungen durch zusätzliche Ver- schuldung einzuführen. Die Vereinbarung eines struktu- rell ausgeglichenen Haushaltes führt jedoch zu einem Einsparvolumen von etwa 7 Milliarden Euro gegenüber dem aktuellen Regierungsentwurf für den Haushalt 2014. Wenn aber nun als Gegenleistung für eine Aus- gabe an einer Stelle ein Vielfaches an Einsparung an an- derer Stelle steht, dann ist das mit Blick auf finanzielle Solidität und Generationengerechtigkeit ein ordentlicher Kompromiss. Denn er führt nicht zu höherer Verschul- dung, sondern, im Gegenteil, er führt zu einem Vielfa- chen an weniger Schulden. Wenn dieser Kompromiss, der unter dem Strich zu solideren Finanzen und damit mehr Generationengerechtigkeit führt, nur in dieser Weise zu erzielen war, dann trage ich ihn mit. Die außerdem von den Koalitionsfraktionen verein- barte Bildungskomponente im Betreuungsgeld beseitigt zwar nicht meine inhaltliche Kritik am Betreuungsgeld, setzt aber einen wichtigen Akzent zur Förderung von Bildung und Ausbildung innerhalb dieses Gesetzes. Diese merkliche Verbesserung des Gesetzentwurfes – verbunden mit dem für mich übergeordneten Ziel eines strukturell ausgeglichenen Haushalts 2014 – ermöglicht mir heute die Zustimmung zum Betreuungsgeld als Teil eines politischen Gesamtkompromisses. Heike Brehmer (CDU/CSU): Mit dem Betreuungs- geldergänzungsgesetz – Drucksache 17/11315 – und dem Änderungsantrag – Drucksache 17/11404 – haben wir als christlich-liberale Koalition erhebliche Verbesse- rungen des Betreuungsgeldgesetzentwurfs erreicht. So sieht das Betreuungsgeldergänzungsgesetz drei Wahlmöglichkeiten vor: Barauszahlung des Betreuungsgel- des, Einzahlung einschließlich eines Bonus von 15 Euro monatlich entweder in eine zusätzliche private Alters- vorsorge – Altersvorsorgevertrag oder Basisrentenversi- cherung – oder auf ein Bildungskonto für das Kind. Auch der Änderungsantrag, der die Härtefallregelung bei schwerer Krankheit, Schwerbehinderung oder Tod der Eltern von bisher zehn auf 20 Wochenstunden Kita- besuch im Durchschnitt des Monats ausdehnt, ist eine wesentliche Verbesserung. Dennoch habe ich weiterhin Bedenken in Bezug auf den vorliegenden Entwurf des Betreuungsgeldgesetzes. Die Einführung eines Anspruchs auf Betreuungsgeld bei Nichtinanspruchnahme einer öffentlich geförderten Einrichtung ist für mich mit bisher gültigen Prinzipien nicht vereinbar. Eine solche Ausgleichszahlung ist unse- rem Recht bisher fremd und auch nicht vorgesehen bei der Nichtinanspruchnahme zum Beispiel öffentlich ge- förderter Studienplätze oder Schwimmbäder. Zudem haben alle Eltern die gleiche Möglichkeit, das staatlich geförderte Angebot an Kitaplätzen zu nutzen. Es in Anspruch zu nehmen oder aber bewusst darauf zu verzichten, ist Ausdruck des grundrechtlich geschützten negativen Freiheitsrechtes. Wer staatlich geförderte Be- treuungsangebote nicht nutzt, macht von diesem negati- ven Freiheitsgrundrecht Gebrauch und verzichtet damit bewusst auf ein ihm vom Staat gemachtes Angebot. Er erleidet aber keinen Nachteil, den der Staat mit der Zah- lung von 100 bzw. 150 Euro monatlich zu kompensieren hat. Ich befürchte daher eher, dass das Betreuungsgeld Fehlanreize setzen könnte, die zulasten der Kinder ge- hen: Um den Anspruch auf das Betreuungsgeld nicht zu verlieren, könnten beide Elternteile, denen es nach die- sem Gesetz gestattet ist, Vollzeit berufstätig zu sein, die Betreuung in nicht qualifizierte Hände geben und damit der Schwarzarbeit Vorschub leisten. Gerade im Bereich der Kindertagespflege haben unsere politischen Ent- scheidungen in den letzten Jahren dazu beigetragen, die Arbeit der Tagesmütter/-väter anzuerkennen und aus dem Bereich der Schwarzarbeit herauszuholen. Ein weiteres wichtiges Argument ist für mich, dass wir die Erziehungsleistungen aller Eltern honorieren. Die im Betreuungsgeldgesetzentwurf enthaltene Be- richtspflicht der Bundesregierung über die Auswirkun- gen des Betreuungsgeldes ist mir ein besonderes Anlie- gen. Ich werde mit großer Aufmerksamkeit diesen Bericht zur Kenntnis nehmen, der bis zum 31. Dezember 2015 vorzulegen ist, und erwarte, dass daraus sich erge- bende Konsequenzen auch gezogen werden. Trotz der Bedenken haben wir zu dem ursprünglichen Gesetzentwurf zur Einführung eines Betreuungsgeldes erhebliche Verbesserungen erreicht. Aus diesem Grund stimme ich dem Gesetz zur Einführung eines Betreu- ungsgeldes – Drucksache 17/9917 zu. Sylvia Canel (FDP): Das Betreuungsgeld soll Fami- lien zugutekommen, die ihr Kleinkind nicht in eine Kin- dertagesstätte bringen, sondern bis zum dritten Lebens- jahr zu Hause betreuen möchten. Junge Familien sollen demnach monatlich 100 Euro für das zweite Lebensjahr des Kindes bekommen, später monatlich dann 150 Euro für das zweite und dritte Lebensjahr. Das Betreuungs- geld soll unabhängig von Erwerbstätigkeit und Einkom- men garantiert werden. Als Berichterstatterin für frühkindliche Bildung der FDP Bundestagsfraktion, Mutter zweier Kinder und Lehrerin kann ich dem vorliegenden Antrag nicht zu- stimmen. Das Betreuungsgeld ist frauen- und familienpolitisch der falsche Weg, denn es schmälert die Erwerbs- und Bildungschancen der sozial Schwachen. Ein Betreu- ungsgeld würde vor allem für Mütter mit niedriger Bil- dung einen Anreiz darstellen, dem Arbeitsmarkt länger fernzubleiben. Bei ihren relativ niedrigen Gehältern fie- len die vorgesehenen 150 Euro für private Kinderbetreu- ung stärker ins Gewicht. Je länger aber der Ausstieg aus dem Arbeitsmarkt dauert, desto schwieriger ist es für die 25092 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012 (A) (C) (D)(B) Frauen – und die Nutzer des Betreuungsgeldes werden überwiegend Frauen sein –, wieder in den ersten Ar- beitsmarkt zu kommen. Aufstieg, Karriere und nicht zu- letzt eine eigenständige, vom Einkommen des Partners unabhängige Altersversorgung werden damit gefährdet. Bei gut verdienenden Familien führt das Betreuungsgeld zu Mitnahmeeffekten, die ebenso nicht zielführend sein können. Das Betreuungsgeld hält gerade die Kinder von früh- kindlicher Bildung ab, die sie am meisten brauchen, nämlich Kinder aus bildungsfernen Familien und sol- chen mit Migrationshintergrund. Das Diakonische Werk der EKD und die OECD haben darauf hingewiesen, dass das Betreuungsgeld Familien mit geringen Einkommen und Familien mit Migrationshintergrund vor die Wahl stelle, zwischen Geldleistungen und einem Angebot frühkindlicher Bildung zu entscheiden. Das sei unzu- mutbar und auch verfassungsrechtlich bedenklich. Er- heblich sinnvoller wäre es, das Geld in den weiteren Ausbau der frühkindlichen Betreuung zu investieren, in öffentliche und private Kitas und in die Unterstützung von Tagesmüttern. Zudem haben die Familienpolitiker vereinbart, dass alle Familienleistungen auf den Prüfstand kommen und auf ihre Wirksamkeit hin untersucht werden. Eine wei- tere Familienleistung ist zu Zeiten der Schuldenkrise nicht darstellbar. Die Diskussion um das Betreuungsgeld ist auch eine Diskussion um unser gesellschaftliches Leitbild. Studien zeigen, dass über 80 Prozent der Frauen Erwerbsarbeit und Familie kombinieren wollen, dass sie im Job aufstei- gen und Führungspositionen erobern wollen. Sie wollen eine eigenständige Altersversorgung, die nicht vom Ein- kommen des (Ehe-)Mannes abhängig ist. Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Art. 6 des Grundgesetzes berechtigt und verpflichtet vorrangig die Eltern, für ihre Kinder zu sorgen und sie zu erziehen. El- tern tragen vor allen anderen die Erziehungsverantwor- tung für ihre Kinder. Sie zu stärken, ist unser Ziel. Dem Staat wird dabei die Pflicht auferlegt, Ehe und Familie zu schützen und über die Ausübung von Elternrecht und -pflicht zu wachen. Als Bundestagsabgeordnete anerkenne ich ausdrück- lich das Ziel der Bundesregierung, durch das Betreu- ungsgeld die Erziehungsleistung von Eltern besonders zu würdigen. Alle, die Kinder erziehen, erbringen eine Leistung für die ganze Gesellschaft und verdienen daher deren besondere Anerkennung. Der Einführung des Be- treuungsgeldes als Form dieser Wertschätzung stehe ich dabei dennoch kritisch gegenüber. In bildungspolitischer Hinsicht besteht die Gefahr, dass vom Betreuungsgeld Fehlanreize ausgehen. Kinder, die von öffentlicher Betreuung besonders profitieren könnten, sollten nicht aus finanziellen Gründen der Krippe fernbleiben. Durch gute staatliche Rahmenbedin- gungen sollen Eltern vielmehr die Wahlfreiheit haben, Familienleben und Erwerbstätigkeit nach ihren Wün- schen vereinbaren und gestalten zu können. Auf eine gute Kinderbetreuung sind dabei insbesondere alleiner- ziehende Eltern angewiesen, die allein den Lebensunter- halt ihrer Familie verdienen müssen. Jedes fünfte Kind in Deutschland wächst bei nur einem Elternteil auf, und nahezu jede dritte Ehe mit Kindern wird geschieden. Deshalb sind im Hinblick auf den rechtlichen Anspruch auf einen Betreuungsplatz ab August 2013 weitere An- strengungen erforderlich, um die Kinderbetreuung nach- haltig auszubauen und qualitativ zu verbessern und dabei für eine langfristig bessere Situation im Betreuungsange- bot zu sorgen. Die vorgesehene Aufstockung für den Ausbau der Kinderbetreuung um 580 Millionen Euro, die zusätzli- che Beteiligung des Bundes an den Betriebskosten mit 75 Millionen Euro sowie die geplante Alternative zur privaten Altersvorsorge oder zum Bildungssparen für Familien, die die Leistung nicht ausgezahlt erhalten wol- len, sind für mich die ausschlaggebenden Kriterien, um der Einführung des Betreuungsgeldes zustimmen zu können, da sie deutliche Verbesserungen zum ursprüng- lichen Gesetzentwurf darstellen. Reinhard Grindel (CDU/CSU): Ich stimme dem Be- treuungsgeldgesetz nur mit Bedenken zu. Grundsätzlich unterstütze ich den Gedanken, dass neben der umfassen- den Betreuung von Kindern in öffentlichen Einrichtungen oder durch Tagesmütter, die vom Bund in erheblichen Umfang gefördert wird, auch die Erziehungsleistung von Eltern im eigenen Haushalt anzuerkennen ist. Politik be- ginnt aber mit der Betrachtung der Wirklichkeit. Zur Wirklichkeit in unserem Land gehört, dass es problem- beladene Elternhäuser gibt, in denen die Kinder nicht die optimale Förderung erhalten. Diesen Kindern würde es guttun, eine Krippe oder einen Kindergarten zu besu- chen, weil dort Erziehungskompetenz vorhanden ist, die leider so nicht in jeder Familie anzutreffen ist. Es würde darüber hinaus auch Kindern mit Migrationshintergrund guttun, wenn sie in einer Kindertagesstätte frühzeitig die deutsche Sprache erlernen, damit sie später den Lehrer an der Tafel genauso gut verstehen können wie ihre deut- schen Freunde, wenn sie in die Schule kommen. Ein Be- treuungsgeld als reine Bargeldleistung ist grundsätzlich dazu geeignet, Fehlanreize zu schaffen, die dazu führen, dass Kinder die für sie notwendige optimale Förderung nicht erhalten. Das ist deshalb besonders verhängnisvoll, weil, wie wir aus der Hirnforschung wissen, die Weichen für die Entwicklung eines Kindes, für Begabungen, Ta- lente, Fähigkeiten in den ersten fünf Jahren gestellt wer- den. Immer wieder versuchen uns vermeintliche Bildungsexperten einzureden, unser Schulwesen sei ver- krustet und deshalb schuld daran, dass aus vielen Hartz- IV-Kindern wieder Hartz-IV-Empfänger werden. Ich glaube nicht, dass man in der 7. oder 8. Klasse falsche Weichenstellungen korrigieren kann. Ich bin deshalb zu- tiefst davon überzeugt, dass wir in der Förderung der Kinder noch besser werden müssen, bevor sie überhaupt in die Schule kommen. Selbstverständlich findet diese Förderung auch in vielen Haushalten von Harz-IV-Emp- fängern sehr oft in hervorragender Weise statt. Es ist beeindruckend, wie viel Geduld und Kraft pro- blembeladene Eltern und auch deren Großeltern bei der Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012 25093 (A) (C) (D)(B) Erziehung ihrer Kinder aufbringen. Allerdings ist das eben leider nicht in jedem Elternhaus der Fall. Deshalb muss hier die Schutzpflicht des Staates greifen. Meinen Sorgen wird durch die gegenseitige Aufrechnung von Betreuungsgeld und Hartz-IV-Leistungen in einer Weise Rechnung getragen, die mir die Zustimmung zu diesem Gesetz ermöglicht. Diese gegenseitige Aufrechnung ist deshalb gerechtfertigt, weil der Staat durch die Hartz-IV- Leistungen den betroffenen Familien eine staatliche För- derung zukommen lässt, die den zukünftigen Nutzern des Betreuungsgeldes in dieser Weise bisher so nicht ge- währt wird. Ich will deutlich hervorheben, dass ich mir auch eine Verknüpfung der Gewährung des Betreuungs- geldes mit der verbindlichen Inanspruchnahme von Vor- sorgeuntersuchungen für Kinder gewünscht hätte. Ich akzeptiere die Argumentation, dass angesichts der politi- schen Lage im Bundesrat diese verpflichtenden Vorsor- geuntersuchungen nicht in das Gesetzgebungswerk mit aufgenommen werden konnten, weil dieses die Zustim- mungspflicht in der Länderkammer ausgelöst hätte. Ich begrüße, dass Familien, die die Leistung nach dem Be- treuungsgeldgesetz nicht ausgezahlt erhalten wollen, alternativ auch eine private Altersvorsorge aufbauen können. Ich halte auch die weitere Alternative des Bil- dungssparens für eine sinnvolle Maßnahme. Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, warum man nicht von vornherein das Betreuungsgeld auf diese Art von sachorientierten Leistungen konzentriert und auf eine Bargeldzahlung verzichtet hat. Ich hätte diese Form der Anerkennung der Erziehungsleistung im Privathaus- halt für vorzugswürdig gehalten. Ich unterstütze aus- drücklich die Forderung nach mehr Gerechtigkeit für Mütter, die ihre Kinder vor 1992 geboren haben. Hier sollte es noch in dieser Legislaturperiode zu einer Lö- sung kommen, die eine Anrechnung von drei Erzie- hungsjahren in der Rente zur Folge hat. Eine Ungleich- behandlung der Mütter, deren Kinder vor und nach 1992 geboren wurden, ist sachlich nicht vertretbar. Miriam Gruß (FDP): Der Koalitionsausschuss der schwarz-gelben Regierung hat am 4. November 2012 wichtige Projekte beschlossen. Nichtsdestotrotz spre- chen aus meiner Sicht weiterhin wesentliche Gründe ge- gen die Einführung eines Betreuungsgeldes. Aus bildungspolitischer Sicht ist es sehr begrüßens- wert, dass sich die FDP mit der Forderung eines Bildungs- sparens durchsetzen konnte. Bereits im Koalitionsvertrag heißt es, dass das Betreuungsgeld „gegebenenfalls als Gutschein“ kommen solle. Dem entspricht die jetzt ge- fundene Lösung: Das Betreuungsgeld kann auf ein Bil- dungskonto für das Kind oder in einen Riester- oder Rürup-Vertrag für die Altersvorsorge eines Elternteils in- vestiert werden. Das löst aber nicht das Problem, dass nur Anspruch auf Betreuungsgeld hat, wer auf einen öffentlich geför- derten Kitaplatz verzichtet. Der Staat sollte meines Er- achtens keine solchen Anreize setzen. Kinder profitieren nachweislich von frühkindlicher Bildung in guten Bil- dungs- und Betreuungseinrichtungen. Auch unter gleichstellungspolitischen Gesichtspunk- ten ist das Betreuungsgeld kritisch zu sehen. Es könnte ein tradiertes Rollenbild verfestigen, indem es einen An- reiz dafür bietet, den beruflichen Wiedereinstieg von Frauen nach der Geburt eines Kindes hinauszuzögern. Auch vor dem Hintergrund des wachsenden Fachkräfte- mangels und der wachsenden Altersarmut von Frauen wäre das ein Fehlanreiz, den ich als Familienpolitikerin nicht unterstützen kann. Zudem gibt es deutliche Bedenken aus verfassungs- rechtlicher Sicht, die bei der Anhörung zum Betreuungs- geldgesetz am 14. September 2012 zum Ausdruck kamen. Diese betrafen beispielsweise die Frage der Bundeszu- ständigkeit, aber auch die inhaltliche Ausarbeitung des Gesetzes. Einer der inhaltlichen Kritikpunkte konnte durch den Änderungsantrag von CDU/CSU und FDP aus der Welt geschafft werden: Die Verfassungsrechtler kriti- sieren, dass ein Doppelbezug von Eltern- und Betreu- ungsgeld verfassungswidrig sein könnte. Dank der Inter- vention der FDP ist dies mittlerweile geändert; der Doppelbezug wurde ausgeschlossen. Aber es gibt nach wie vor einen Widerspruch in der Zielsetzung des Gesetzes. Das Gesetz soll der „Anerken- nung der elterlichen Erziehungsleistung“ dienen. Gleich- zeitig wird das Betreuungsgeld aber unabhängig davon bezahlt, ob die Eltern tatsächlich zu Hause Erziehungs- arbeit leisten. Stattdessen wird mit dem Anspruch auf Betreuungsgeld eine bislang nie dagewesene Anspruchs- grundlage geschaffen. Einziger Grund für den Bezug des Betreuungsgeldes ist die „Nichtinanspruchnahme der öf- fentlich geförderten Kinderbetreuung“. Auch haushaltspolitisch ist das Betreuungsgeld kri- tisch zu bewerten. Allerdings konnte dadurch, dass man sich auf ein späteres Inkrafttreten geeinigt hat, eine Ent- lastung für die Jahre 2013 und 2014 erwirkt werden. Dank der FDP wird angestrebt, dass der Staat bereits 2014, also zwei Jahre früher als von der Verfassung ge- fordert, das Ziel eines strukturell ausgeglichenen Haus- halts erreicht und die Schuldenbremse einhält. Die FDP hat betont, dass das Betreuungsgeld nicht schuldenfinan- ziert werden darf. Nichtsdestotrotz belastet es den Staats- haushalt. Obendrein hat das BMFSFJ für 2013 das Ergebnis der Gesamtevaluation aller familienpolitischen Leistungen versprochen. Deutschland gibt gegenwärtig rund 195 Mil- liarden Euro jährlich für insgesamt 152 verschiedene ehe- und familienpolitische Leistungen aus, die sich in ihren Zielsetzungen teilweise widersprechen. Daher ist es drin- gend notwendig, ein familienpolitisches Gesamtkonzept zu entwickeln. Im Vorhinein eine neue milliardenschwere Leistung einzuführen, halte ich für fragwürdig. Dank des Verhandlungserfolgs der Liberalen konnte das Betreuungsgeldgesetz in einigen Punkten noch ver- bessert werden. Ich werde mich aber aus all den genann- ten Gründen bei der Abstimmung zum Betreuungsgeld- gesetz enthalten. Meine Enthaltung erfolgte vor dem Hintergrund, dass dieses Gesetz Teil eines politischen Gesamtkompromisses ist, den ich im Ergebnis für gut halte. 25094 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012 (A) (C) (D)(B) Rudolf Henke (CDU/CSU): Dem Gesetzentwurf zur Einführung eines Betreuungsgeldes stimme ich trotz be- trächtlicher Bedenken zu. Während meiner Mitgliedschaft im Deutschen Bun- destag seit 2009 und zuvor im Landtag Nordrhein-West- falen habe ich mich dafür eingesetzt, vor der Einführung eines Betreuungsgeldes zunächst die Bewertung der Bei- tragszeiten der Eltern, die Kinder erzogen haben, zu ver- bessern. Das gilt insbesondere auch für Mütter mit Kin- dern, die vor 1992 geboren sind. Außerdem habe ich für eine qualitative Aufwertung der Kindertagesstätten ge- worben. In meinen Augen vermindert es die Chancen für eine verbesserte Anerkennung der Kindererziehung in der Rente, wenn das Betreuungsgeld als zusätzliche Sozial- leistung unter Aufnahme neuer Schulden finanziert wird. Aus diesem Grund betrachte ich den dem Deutschen Bundestag vorliegenden Kompromiss zur Einführung ei- nes Betreuungsgeldes mit Skepsis, wenn auch anzuer- kennen ist, dass er die Möglichkeit der Umwandlung des Betreuungsgeldbetrages in einen Rentenanspruch ebenso bietet wie die Möglichkeit zur Berücksichtigung in ei- nem Bildungssparplan. Nachdem deutlich geworden ist, dass eine überwältigende Mehrheit meiner Fraktion dem gefundenen Kompromiss zustimmen wird, schließe ich mich in der namentlichen Abstimmung am heutigen Tag trotz meiner erheblichen inhaltlichen Bedenken dieser Mehrheitsauffassung der Fraktion an und stimme mit Ja. Den Oppositionsfraktionen im Deutschen Bundestag werfe ich vor, dass sie mit zum Teil ehrverletzenden und abwertenden Begriffen wie „Herdprämie“ oder „Kita- fernhalteprämie“ alles getan haben, um die sachlich zu führende Diskussion ideologisch aufzuheizen und die Sachdebatte in eine Machtfrage umzuformen. Stattdes- sen hätten sich die Oppositionsparteien in ihrem Zustän- digkeitsbereich in den Ländern viel stärker für die Schaf- fung der auch von ihnen für notwendig erklärten zusätzlichen Krippenplätze einsetzen sollen. Mit meiner Zustimmung zu dem verabredeten Kom- promiss will ich auch der notwendigen Verlässlichkeit zwischen CDU und CSU nach der Einführung eines Rechtsanspruches auf die Krippenbetreuung unter Drei- jähriger gerecht werden. Sebastian Körber (FDP): Mit großer Anerkennung nehme ich die Vereinbarungen des Koalitionsgipfels vom Sonntag, dem 4. November 2012, zur Kenntnis. Es ist eine deutliche liberale Handschrift erkennbar, mit der ich mich als Mitglied der FDP-Bundestagsfraktion iden- tifizieren kann. Dennoch kann ich dem Beschluss zur Einführung des sogenannten Betreuungsgelds nicht fol- gen, da ich ein solches Betreuungsgeld nicht mit meiner Überzeugung nach § 13 (1) der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages in Einklang bringen kann. Mir geht es dabei um meine persönliche Glaubwürdigkeit in erster Linie vor mir selbst. Wie ich bereits seit Monaten in den Ausgaben der Nürnberger Nachrichten vom 16. Juni 2012, vom 1. Ok- tober 2012 sowie vom 26. Oktober 2012 öffentlich ange- kündigt habe, werde ich dem Betreuungsgeld nicht meine Zustimmung erteilen. Zur Sache möchte ich insbesondere folgende Aspekte herausstellen: Erstens. Das Betreuungsgeld widerstrebt zutiefst mei- ner Überzeugung von einer chancengerechten Gesell- schaft. Die Zukunft eines jungen Menschen entscheidet sich im Vor- und Grundschulalter. Es ist deshalb fatal für die Aufstiegschancen von Millionen junger Menschen in Deutschland, eine Sozialleistung wie das Betreuungsgeld einzuführen. Denn das Betreuungsgeld setzt aktive staat- liche Anreize für Eltern, ihre Kinder nicht in Bildungs- und Fördereinrichtungen wie Kindertagesstätten zu ge- ben. Insbesondere förderbedürftigen Kindern würde so die Chance genommen, durch gleiche Bildungschancen auch die gleichen Startbedingungen für ihr Leben zu er- halten. Zweitens. Die Einführung des Betreuungsgelds ent- spricht nicht meiner Überzeugung von einer generatio- nengerechten Gesellschaft. In Deutschland wird heute ein Kind mit über 25 000 Euro Schulden geboren, legt man die Staatsverschuldung Deutschlands auf alle Ein- wohner um. Über 25 000 Euro Schulden, die wir verer- ben, weil wir über Jahrzehnte durch unnötige Subventio- nen, Vergünstigungen und Sozialleistungen über unsere Verhältnisse gelebt haben. Nun soll mit dem Betreuungs- geld eine weitere unnötige staatliche Leistung eingeführt werden, die unsere Staatsausgaben erhöht. Seit meinem politischen Engagement bei den Jungen Liberalen und der FDP kämpfe ich für einen Staat, der jungen Menschen Aufstiegschancen und Selbstverwirk- lichung ermöglicht und nicht auf Kosten nächster Gene- rationen lebt. Aus innerer persönlicher Überzeugung kann ich dem Gesetzentwurf zur Einführung eines Be- treuungsgelds deshalb nicht zustimmen und bitte, meine Entscheidung zu respektieren. Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Hiermit gebe ich fol- gende persönliche Erklärung gemäß § 31 der Geschäfts- ordnung zu Protokoll: Ich werde dem Gesetz zur Einführung eines Betreu- ungsgeldes zustimmen, auch wenn das Betreuungsgeld weder mein Wunschprojekt noch das der FDP ist. Das Betreuungsgeld wurde im Koalitionsvertrag ver- einbart, und wir Liberale sind vertragstreu. Vertragstreue bedeutet, dass man manchmal auch Dinge tun muss, die man nicht für uneingeschränkt richtig hält. Wir gestalten jetzt damit das aus, was SPD und CDU/ CSU 2008 mit dem Kinderförderungsgesetz bereits ins Gesetzblatt geschrieben haben. Für uns Liberale war in den Verhandlungen wichtig, dass das Betreuungsgeld aus dem laufenden Haushalt gegenfinanziert wird, also keine neuen Schulden verursacht. Das ist gelungen. Positiv herauszuheben ist auch, dass auf Drängen der FDP es Eltern künftig möglich sein wird, das Betreu- ungsgeld – plus eine monatliche Prämie von 15 Euro – zur Ausbildung der Kinder oder für die private Alters- vorsorge anzusparen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012 25095 (A) (C) (D)(B) Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): Meine Entschei- dung, dem Gesetz zur Einführung eines Betreuungsgel- des zuzustimmen, habe ich unter Berücksichtigung meh- rerer Aspekte und Bedenken sorgsam abgewogen. Ich halte das Betreuungsgeld für verzichtbar. Die Ein- führung einer solchen Sozialleistung hat keinen fami- lienpolitischen Positiveffekt und belastet den Haushalt. In Thüringen gibt es diese staatliche Leistung. Das Be- treuungsgeld hat sich meiner Auffassung nach im Frei- staat als familienpolitische Maßnahme ohne konkreten gesellschaftspolitischen Gewinn erwiesen. Auf der anderen Seite gibt es einen Nebeneffekt, der sich für mein Heimatland Thüringen positiv auswirkt. Es ist davon auszugehen, dass das Thüringer Betreuungs- geld nach Einführung der Leistung auf Bundesebene ab- geschafft wird und Thüringen so über 30 Millionen Euro pro Jahr sparen kann. Wenn man so möchte, leiste ich mit der Zustimmung zu der Bundesleistung dazu einen Beitrag. Ein bezeichnendes Beispiel politischer Maskerade und Rückgratlosigkeit geben die Oppositionsparteien in der Debatte ums Betreuungsgeld ab – insbesondere die SPD. In Thüringen sitzt die SPD seit drei Jahren in der Landesregierung und setzt das Betreuungsgeld bereitwil- lig mit um. Auf Bundesebene schuf die SPD in der letz- ten großen Koalition die gesetzliche Grundlage für das Betreuungsgeld mit. In seiner Funktion als Finanzminis- ter verteidigte der heutige SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück das Betreuungsgeld noch als „vernünftigen Kompromiss“. Die überhebliche Dauerkritik aus dem Oppositionslager ist daher in höchstem Maße unlauter. In Steinbrücks „Beraterteam“ ist sogar Matthias Machnig aufgenommen worden, der in Thüringen als Wirtschafts- minister ein tragender Teil der Landesregierung ist, die seit Jahren das Betreuungsgeld ausschüttet. Maßgeblich ausschlaggebend für meine Zustimmung zur Einführung des Betreuungsgeldes ist der gute politi- sche Gesamtkompromiss, in dessen Kontext die Einzel- maßnahme zu sehen ist. Das Gesetz steht im politischen Zusammenhang zum Beschluss des Koalitionsausschus- ses vom 4. November 2012. Dieser umfasst einerseits spürbare Entlastungen für die Bürger durch die Abschaf- fung der Praxisgebühr sowie Investitionen in Höhe von 750 Million Euro in die Verkehrsinfrastruktur. Davon wird auch Thüringen profitieren. Besonders wichtig ist mir aber das Bekenntnis der Koalitionsfraktionen zur verstärkten Haushaltskonsolidierung. Unser Ziel ist es, spätestens 2014 einen strukturell ausgeglichenen Haus- halt vorzulegen. Wir wollen die politische Generation sein, die den Weg zum schuldenfreien Staat begonnen hat. Gerade auch angesichts der EU-Schuldenkrise muss Deutschland mit gutem Beispiel vorangehen. Wer von anderen Ländern Sparanstrengungen fordert, sollte diese staatliche Enthaltsamkeit selbst vorleben. Außerdem ist es ein wichtiges Signal für mehr Generationengerechtig- keit, sich nicht weiter auf Kosten der künftigen Genera- tionen verschulden zu wollen. Wenn die Einführung des Betreuungsgeldes das nö- tige politische Zugeständnis für unsere übergeordneten Ziele ist – solidere Finanzen und mehr Generationenge- rechtigkeit –, dann trage ich diesen Kompromiss mit. Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU): Der Einfüh- rung eines Betreuungsgeldes habe ich von Anfang an kritisch gegenübergestanden und dies auch öffentlich kundgetan. Manche Kritik der Opposition halte ich indes für zum Teil falsch und überzogen. Ich glaube, dass die Erzie- hung eines Kindes im familiären Umfeld in den ersten drei Lebensjahren auch ohne professionelle Betreuung in aller Regel eine gute Entwicklung des Kindes gewähr- leistet. Wir dürfen den übergroßen Anteil der Eltern, die sich mit Liebe und Aufopferung um ihre Kinder küm- mern, nicht aus den Augen verlieren. Als Abgeordneter der CDU trete ich zudem für eine Wahlfreiheit ein – je- der soll nach seinen individuellen Vorstellungen und Rahmenbedingungen selbst entscheiden können, wel- ches Familienmodell er wählt. Dafür soll sich niemand rechtfertigen müssen. Ich bin der Auffassung, dass Familien für die Kinder- betreuung Anerkennung und Unterstützung verdienen. Angesichts der enormen Verschuldung Deutschlands müssen Steuergelder aber zielgenau eingesetzt werden und wirklich denen zugutekommen, denen sie zugute- kommen sollen: den Kindern. Die undifferenzierte Bar- auszahlung von 2 Milliarden Euro Betreuungsgeld ver- fehlte dieses Ziel aber und würde falsche Anreize setzen: Kinder aus bildungsfernen Familien würden die leider oftmals notwendige soziale und sprachliche Förderung nicht erhalten und gleichzeitig würden Frauen tenden- ziell vom Arbeitsmarkt ferngehalten. Ich habe mich da- her für eine Lösung eingesetzt, die der Lebenswirklich- keit einer Stadt wie Berlin ebenso gerecht wird wie den ländlichen Regionen Bayerns. Diese Kritik, die ich mit vielen Kollegen der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion geäußert habe, hat in den Bera- tungen des Gesetzes nunmehr zu spürbaren Verbesserun- gen geführt: Das Betreuungsgeld wird auf Leistungen der Grund- sicherung angerechnet. So werden Fehlanreize vermie- den, die bei bildungsfernen Familien hätten entstehen können. Das Betreuungsgeld wird nicht immer als Barleistung ausgezahlt. Familien, die die Leistung nicht ausgezahlt erhalten wollen, können das Betreuungsgeld alternativ auch zur privaten Altersvorsorge oder zum Bildungsspa- ren einsetzen. Sie erhalten einen zusätzlichen Bonus von 15 Euro im Monat. Gleichzeitig beteiligt sich der Bund mit weiteren 580 Millionen Euro am Kitaausbau, um die Vereinbar- keit von Familie und Beruf besser zu gewährleisten. Bei aller Kritik, die ich nach wie vor am Betreuungs- geld habe, anerkenne ich, dass unserer Kritik Rechnung getragen wurde. Ich bin mir zudem auch meiner Verant- wortung als Abgeordneter der christlich-liberalen Koali- tion bewusst. Ich will, dass wir eine starke und hand- lungsfähige Regierung haben, die sich auf eine stabile 25096 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012 (A) (C) (D)(B) Parlamentsmehrheit verlassen kann. Demokratie heißt auch, den Mehrheitswillen zu akzeptieren. Dieses Prin- zip erachte ich als wichtig. Ich werde daher mit meiner Fraktion für das Betreuungsgeld stimmen. Beatrix Philipp (CDU/CSU): Mit dem Betreuungs- geldergänzungsgesetz – Drucksache 17/11315 – und dem Änderungsantrag zum Betreuungsgeldgesetz – Druck- sache 17/11404 – haben wir als christlich-liberale Koali- tion erhebliche Verbesserungen gegenüber dem ur- sprünglichen Betreuungsgeldgesetzentwurf erreicht. So sieht das Betreuungsgeldergänzungsgesetz in der jetzigen Fassung drei Wahlmöglichkeiten vor: Baraus- zahlung des Betreuungsgeldes, Einzahlung einschließ- lich eines zusätzlichen Bonus von 15 Euro monatlich entweder in eine zusätzliche private Altersvorsorge – Al- tersvorsorgevertrag oder Basisrentenversicherung – oder Einzahlung auf ein Bildungskonto für das Kind. Auch der Änderungsantrag, der die Härtefallregelung bei schwerer Krankheit, Schwerbehinderung oder Tod der Eltern von bisher zehn auf 20 Wochenstunden Kita- besuch im Durchschnitt des Monats ausdehnt, ist eine wesentliche Verbesserung. Ungeachtet dieser Verbesserungen habe ich erhebli- che Bedenken in Bezug auf das Betreuungsgeldgesetz in der vorliegenden Form. Die Einführung eines Anspruchs auf Betreuungsgeld bei Nichtinanspruchnahme einer öffentlich geförderten Einrichtung bedeutet für mich eine Abkehr von bisher gültigen Prinzipien. Eine solche „Ausgleichszahlung“ ist in unserem Rechtssystem bisher nicht vorgesehen, auch nicht bei der Nichtinanspruchnahme anderer öffentlich geförderter Einrichtungen wie Opern, Studienplätzen, Schwimmbädern und dem ÖPNV. Zudem haben alle Eltern die gleiche Möglichkeit, das staatlich geförderte Angebot an Kitaplätzen zu nutzen. Es in Anspruch zu nehmen oder aber bewusst darauf zu verzichten, ist Ausdruck des grundrechtlich geschützten Freiheitsrechtes. Wer staatlich geförderte Betreuungsan- gebote nicht nutzt, macht von seinem quasi negativen Freiheitsgrundrecht Gebrauch und verzichtet damit be- wusst auf ein ihm vom Staat gemachtes Angebot der Freiheitsbetätigung. Er erleidet aber keinen Nachteil, den der Staat mit der Zahlung von 100 bzw. 150 Euro monatlich zu kompensieren hat. Ich befürchte dagegen eher, dass das Betreuungsgeld Fehlanreize bieten könnte, die zulasten der Kinder ge- hen: Um den Anspruch auf das Betreuungsgeld nicht zu verlieren, könnten beide Elternteile, denen es nach die- sem Gesetz gestattet ist, Vollzeit berufstätig zu sein, die Betreuung in nicht qualifizierte Hände geben und damit der Schwarzarbeit wieder Vorschub leisten. Eltern könn- ten die Betreuung durch geringfügig Beschäftigte und nicht qualifizierte Betreuungspersonen zum Beispiel ei- ner Betreuung durch öffentlich geförderte qualifizierte Tagesmütter und -väter vorziehen, um den Anspruch auf das Betreuungsgeld nicht zu verlieren. Mir ist es darüber hinaus wichtig und immer wichtig gewesen, dass wir die Erziehungsleistungen aller Eltern honorieren. Die im Betreuungsgeldgesetzentwurf enthal- tene Berichtspflicht der Bundesregierung über die Aus- wirkungen des Betreuungsgeldes ist mir ein besonderes Anliegen. Gerade im Bereich der Kindertagespflege ha- ben unsere politischen Entscheidungen in den letzten Jahren dazu beigetragen, die Arbeit der Tagesmütter und -väter anzuerkennen und aus dem Bereich der Schwarz- abreit herauszuholen. Ich werde mit großer Aufmerk- samkeit diesen Bericht zur Kenntnis nehmen, der bis zum 31. Dezember 2015 vorzulegen ist, und erwarte, dass sich daraus ergebende Konsequenzen auch gezogen werden. Trotz aller Bedenken bin ich mir aber meiner Verant- wortung als Mitglied der CDU/CSU-Bundestagsfraktion bewusst und stimme daher dem Gesetz zur Einführung eines Betreuungsgeldes – Drucksache 17/9917 –, dem Gesetz zur Ergänzung des Betreuungsgeldgesetzes – Druck- sache 17/11315 – und dem Änderungsantrag der CDU/CSU- und FDP-Bundestagsfraktion – Ducksache 17/11404 – zu. Cornelia Pieper (FDP): Meine Entscheidung, beim Betreuungsgeldgesetz mit Nein zu stimmen, treffe ich als Bundestagsabgeordnete, die zuallererst ihrem Gewis- sen verpflichtet ist. Es geht heute um den wichtigsten Schatz, den unser Land besitzt, unsere Kinder und um ihre Zukunft. Sie frühzeitig zu fördern, bedeutet, ihnen die besten Chan- cen für ihren Lebensweg zu eröffnen und Kinder mit Mi- grationshintergrund besser in unser Land zu integrieren. Die Gehirnforschung und die Bildungswissenschaft haben der Politik längst ins Stammbuch geschrieben, dass der Mensch nie wieder so schnell und intensiv lernt wie im frühkindlichen Alter. Deshalb ist es Aufgabe der Politik, für Eltern, die es wünschen, und das ist die große Mehrheit unserer Bevölkerung, ein ausreichendes Ange- bot an Kinderbetreuungsplätzen zu schaffen. Nur so ge- lingt es, Wahlfreiheit zu ermöglichen und ihnen die Ent- scheidung zu erleichtern, ob sie ihre Kinder zu Hause erziehen möchten oder den Kitaplatz nutzen. In Deutsch- land fehlen 220 000 Krippenplätze, und solange diese Lücke nicht geschlossen ist, kann man nicht von Wahl- freiheit sprechen. Am wichtigsten ist mir jedoch, zu betonen, dass das Geld, welches der Staat investiert, bei den Kindern selbst oder, besser gesagt, in deren Köpfen ankommt. Diese Regierungskoalition ist angetreten, die Bil- dungsrepublik Deutschland zu schaffen. Dazu haben sich Union und FDP neben der Konsolidierung des Haushalts vorgenommen, innerhalb von vier Jahren rund 12 Milliarden Euro in Bildung und Forschung zu inves- tieren. Noch nie gab es eine Bundesregierung, die so viel in Bildung und Forschung investiert hat. Es ist falsch, mit dem Betreuungsgeld davon abzuweichen. Seitdem ich Politik mache, beginnend 1990 als sozial- und familienpolitische Sprecherin der FDP-Landtags- fraktion in Sachsen-Anhalt, habe ich mich für einen Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012 25097 (A) (C) (D)(B) Rechtsanspruch auf Krippen-, Kindergarten- und Schul- hort-, also Ganztagsplätze, eingesetzt. Heute hat Sach- sen-Anhalt einen Rechtsanspruch für Kinder von 0 bis 14 Jahren, eine flächendeckende Kinderbetreuung und ist damit Vorbild für ganz Deutschland. Genau das gilt es, im Interesse der Kinder und ihrer bestmöglichen Ent- wicklung im ganzen Land zu erreichen. Für mich zieht sich das Credo für bessere, gleiche Bil- dungschancen wie ein roter Faden durch mein politi- sches Leben. Deshalb werde ich heute dem Betreuungs- geldgesetz nicht zustimmen. Es ist für mich eine Frage der Glaubwürdigkeit und der Zukunft unseres Landes. Gisala Piltz (FDP): Ich habe heute dem Gesetz zur Einführung eines Betreuungsgeldes zugestimmt. Meine Zustimmung erfolgte vor dem Hintergrund, dass dieses Gesetz Teil eines politischen Gesamtkompromisses ist, den ich im Ergebnis für gut halte und ihn daher auch un- terstütze. Zu diesem Gesamtkompromiss gehört insbesondere das Bekenntnis der Koalitionsfraktionen zur verstärkten Haushaltskonsolidierung. Denn das Gesetz steht im poli- tischen Zusammenhang zum Beschluss des Koalitions- ausschusses vom 4. November 2012 unter dem Titel „Stetiges Wachstum und sichere Arbeitsplätze für ein starkes Deutschland“. Darin ist vereinbart, einen struktu- rell ausgeglichenen Haushalt 2014 zu beschließen. Einige mögen einen Widerspruch darin erkennen, dass man in diesem Zusammenhang ein Leistungsgesetz ein- führt, das jährlich Kosten in Höhe von circa 1,2 Milliar- den Euro verursachen kann. Auch für mich wäre es völlig falsch, neue Sozialleistungen durch zusätzliche Verschul- dung einzuführen. Die Vereinbarung eines strukturell ausgeglichenen Haushaltes führt jedoch zu einem Ein- sparvolumen von etwa 7 Milliarden Euro gegenüber dem aktuellen Regierungsentwurf für den Haushalt 2014. Wenn aber nun als Gegenleistung für eine Ausgabe an ei- ner Stelle ein Vielfaches an Einsparung an anderer Stelle steht, dann ist das mit Blick auf finanzielle Solidität und Generationengerechtigkeit ein tragbarer Kompromiss. Insgesamt führt der Kompromiss zu weniger Schulden und einer strukturellen schwarzen Null. Nur aus diesem Grund stimme ich dem Betreuungsgeld zu. Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU): Der Einführung eines Betreuungsgeldes kann ich nicht zu- stimmen. Dabei halte ich die Kritik der Opposition zum Teil allerdings für falsch und unberechtigt. Ich gehe da- von aus, dass die Erziehung eines Kindes im familiären Umfeld in den ersten drei Lebensjahren auch ohne profes- sionelle Betreuung in aller Regel eine gute Entwicklung des Kindes gewährleistet und dieses Familienmodell im Rahmen der Wahlfreiheit auch keiner Rechtfertigung be- darf. Ich habe außerdem selbst als Mutter von drei Kin- dern erlebt, dass die frühere rot-grüne Regierung Nord- rhein-Westfalens über Jahrzehnte nichts dafür getan hat, die damalige Betreuungssituation zu verbessern: Nur für unter 4 Prozent der Kinder unter drei Jahren standen nach 40 Jahren Regierung von SPD bzw. SPD und Grünen 2005 Krippenplätze zur Verfügung. Dabei galten damals die gleichen Bildungs- und Gleichstellungsaspekte wie heute; diese waren der damaligen Landesregierung aber offenbar gleichgültig. Wer das zu verantworten hat, hat heute kein Recht, von einer bildungspolitischen Katastro- phe oder Herdprämie zu sprechen. Der Ansatz, dass der Verzicht auf einen öffentlich ge- förderten Betreuungsplatz einen Ausgleich erfordert, überzeugt aber nicht. Ein Ausgleich für die Nichtinan- spruchnahme einer öffentlich geförderten Infrastruktur- einrichtung ist unserem Recht bislang fremd; wer nicht studiert, wer nicht in die Oper geht, erhält keinen Aus- gleich dafür, dass andere ein kostenträchtiges öffentli- ches Angebot nutzen. Das gilt erst recht, wenn der Ver- zicht auf eine kommunale Sachleistung durch eine Barleistung des Bundes kompensiert werden soll. Es ist besonders ärgerlich, dass dieser Gedanke erstmals zum Tragen kommt bei einer Leistung, die in der Praxis vor allem berufsorientierten jungen Müttern zugutekommt. Ein Familienmodell, in dem ein Elternteil zugunsten von Kindererziehung auf eigenes Erwerbseinkommen verzichtet, wird bereits durch die beitragsfreie Mitversi- cherung in der Sozialversicherung und Ehegattensplitting unterstützt. Wer Betreuung in Anspruch nimmt, um be- rufstätig zu sein, erbringt erhebliche zusätzliche Steuer- und Beitragszahlungen und wird durch seine berufliche Selbstständigkeit auch im späteren Lebensverlauf weni- ger auf Transferleistungen angewiesen sein. Die Kosten des Betreuungsplatzes werden so meist an anderer Stelle gegenfinanziert. Ohnehin sieht die Rechnung aus der Perspektive der Eltern anders aus: Hohen Betreuungskosten auf der einen Seite stehen zusätzliche 150 Euro auf der anderen Seite gegenüber. Muss vom Verdienst neben zusätzlichen Steu- ern – oft in Steuerklasse V –, Beiträgen, Werbungskosten, Betreuungsgebühren auch noch der Verzicht auf das Be- treuungsgeld abgezogen werden, lohnt sich Berufstätig- keit von Müttern in den ersten drei Lebensjahren eines Kindes noch weniger; langfristige Folgen eines längeren Berufsausstiegs – gerade auch bei mehreren Kindern – werden dabei schnell übersehen, schmälern aber letztlich dauerhaft die beruflichen Optionen des betreuenden El- ternteils, zumeist der Mutter. Dazu sollten wir keinen weiteren Anreiz setzen. Aus meiner früheren Erfahrung als Familienrichterin kenne ich Familien, in denen Kinder nicht angemessen gefördert werden. Für diese bietet der neue Anspruch auf Krippenbetreuung ein Stück Chancengerechtigkeit; gra- vierendere familienrechtliche Maßnahmen und gesell- schaftliche Folgekosten können so vermieden werden. Es ist inkonsequent und in diesen Fällen sogar schädlich, wenn ein Anreiz zum Verzicht auf dieses neu geschaf- fene Angebot gesetzt wird. Ich begrüße immerhin, dass mit der Option Altersvor- sorge bzw. Bildungssparen Leistungsformen gefunden worden sind, die auch Empfängern von Grundsicherung einen Vorteil sichern. Angesichts der hohen gesellschaftlichen Bedeutung und leitbildprägenden Wirkung kann ich die Entschei- 25098 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012 (A) (C) (D)(B) dung meiner Fraktion nicht mittragen und enthalte mich deshalb bei der Abstimmung. Anlage 5 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): zur Abstimmung über den Entwurf eines Geset- zes zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs in stationären Vorsorge- oder Rehabilitationsein- richtungen (Zusatztagesordnungspunkt 11) Ich stimme dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs in stationären Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen zu, weil damit sechs Jahre (!) nach dem offiziellen Auftakt von ForseA zur Kampagne „Ich muss ins Krankenhaus ... und nun?“ einer – wenn auch nur kleinen – Gruppe von Menschen mit Behinderungen eine bessere Versorgung während ihres Aufenthaltes in einer Vorsorge- oder Re- habilitationseinrichtung ermöglicht wird. Ich stimme dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs in stationären Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen zu, weil diese Koalition nun endlich das tut, was die Linke seit drei Jahren im Bundestag fordert. Ich stimme dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs in stationären Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen zu, obwohl dieses Gesetzchen weiterhin mit einem gravierenden Mangel behaftet ist. Für eine große Gruppe der Betroffe- nen gilt das Gesetz weiterhin nicht, weil sie ihre Assis- tenz nicht über das „Arbeitgebermodell“ organisieren. Ich stimme dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs in stationären Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen zu, obwohl den Antrag der Linken „Assistenzpflege bedarfsgerecht sichern“ die Fraktionen der CDU/CSU und FDP heute ablehnen und sich die SPD der Stimme enthält. Ich stimme – im Unterschied zu CDU/CSU und FDP sowie der SPD – auch für den Antrag der Linken „Assis- tenzpflege bedarfsgerecht sichern“, weil mit diesem An- trag der Assistenzpflegebedarf auch dann sichergestellt wäre, wenn pflegebedürftige Menschen und/oder Men- schen mit Behinderungen während eines stationären Aufenthalts im Krankenhaus und in Vorsorge- oder Re- habilitationseinrichtungen die für sie in der Regel tätigen Pflegekräfte nicht nach dem sogenannten Arbeitgeber- modell beschäftigen. Ich stimme – im Unterschied zu CDU/CSU und FDP sowie der SPD – auch für den Antrag der Linken „Assis- tenzpflege bedarfsgerecht sichern“, weil es im Sinne der betroffenen Menschen und ihrer Angehörigen ist, weil die Begründungen von CDU/CSU, FDP und SPD für diese Ablehnung – nachlesbar in der Beschlussempfeh- lung 17/11396 – abstrus sind und weil ich die Hoffnung habe, dass es keine weiteren drei Jahre braucht, bis auch aus dieser Forderung eine gesetzliche Regelung wird. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung: Entwurf eines Gesetzes zur Ein- richtung eines Sozialen Arbeitsmarktes; An- trag: Sozialen Arbeitsmarkt dauerhaft über Passiv-Aktiv-Transfer ermöglichen – Teilhabe für alle durch sozialversicherungspflichtige Be- schäftigung im allgemeinen Arbeitsmarkt (Ta- gesordnungspunkt 8 a und b) Ulrich Lange (CDU/CSU): Die Grünen fordern die Schaffung eines Sozialen Arbeitsmarktes auf der Grund- lage des § 16 e SGB II – Förderung von Arbeitsverhält- nissen. Gesprochen wird von circa 200 000 Personen, die mindestens 24 Monate arbeitslos sind und multiple Vermittlungshemmnisse aufweisen. Höchstgrenze des Beschäftigungszuschusses soll auf bis zu 100 Prozent – derzeit 75 Prozent – ausgeweitet, die Förderdauer um jeweils bis zu 24 Monate verlängert werden. Zur Finan- zierung der Beschäftigungszuschüsse des § 16 e SGB II sollen passive Leistungen in Arbeitsentgelt umgewan- delt werden können. Der Antrag klingt ja recht schön, bei genauerem Hin- sehen wird jedoch deutlich, dass der Gesetzentwurf rechtlichen Bedenken begegnet und fachlich keinen Mehrwert bringt. Es gibt derzeit schon eine Vielzahl an Arbeitsmarktinstrumenten: Erstens. Mit der am 1. April 2012 in Kraft getretenen Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente wurden gerade Fördermöglichkeiten für Personen mit schwer- wiegenden Vermittlungshemmnissen deutlich erweitert. Insbesondere die Maßnahmen zur Aktivierung und be- ruflichen Eingliederung nach § 45 SGB III bieten viel- fältige Möglichkeiten wie Maßnahmen zur Orientierung und Aktivierung – O+A –, wo über einen Zeitraum von mehreren Monaten Zusatzhilfe geleistet wird, zum Bei- spiel durch Bewerbungscoaching. Zweitens. Langzeitarbeitslose können vom Jobcenter einen Vermittlungsgutschein – heute: Aktivierungs- und Vermittlungsgutschein – in der Höhe von bis zu 2 500 Euro für eine private Vermittlung in ein versiche- rungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis – § 45 SGB – erhalten. Drittens. Begleitet wird diese Unterstützung durch die Förderung der beruflichen Weiterbildung, FBW. Qualifi- zierung ist die Grundvoraussetzung für den Erhalt einer Arbeitsstelle, insbesondere bei dem derzeitigen Fach- kräftemangel bietet dies super Chancen. Viertens. Ein weiteres Instrument ist aber auch die Förderung von Selbstständigkeit. So können ein Ein- stiegsgeld – § 16 b SGB Il – zur Unterstützung und För- derung der Selbstständigkeit und/oder Leistungen zur Eingliederung von Selbstständigen zur Beschaffung von Sachgütern – § 6 c SGB II – bewilligt werden. Fünftens. Zudem wurde der Handlungsrahmen zu- sätzlich dadurch erweitert, dass in der Freien Förderung – § 16 f SGB II – das Aufstockungs- und Umgehungs- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012 25099 (A) (C) (D)(B) verbot für den Personenkreis der Langzeitarbeitslosen aufgehoben wurde. Sechstens. Häufig eingesetzt wird im Jobcenter der Eingliederungszuschuss – EGZ –, der 30 bis 50 Prozent der Lohnkosten beträgt, der aber den Arbeitgeber ver- pflichtet, den Arbeitnehmer nach der Förderung mindes- tens den Förderzeitraum weiter zu beschäftigen. Siebtens. Bei der Förderung von Arbeitsverhältnissen – FAV – nach § 16 e gibt es derzeit schon Lohnzu- schüsse von bis zu 75 Prozent. Für langzeitarbeitslose Menschen auch mit besonde- ren Vermittlungshemmnissen gibt es demnach zusätzlich zur öffentlich geförderten Beschäftigung eine breite Pa- lette an Fördermöglichkeiten. Kommen wir aber noch einmal auf den Antrag der Grünen zurück. Anstatt der bisherigen Förderung von 75 Prozent Beschäftigungszuschuss fordern die Grünen jetzt 100 Prozent. Der Beschäftigungszuschuss des § 16 e SGB II gleicht stets eine Minderleistung aus. Die Höhe des Beschäftigungszuschusses richtet sich nach der Leistungsfähigkeit des Leistungsberechtigten. Wäre der Leistungsberechtigte zu 100 Prozent nicht in der Lage, die Erwerbstätigkeit auszuüben, könnte er schwer- lich als erwerbsfähig im Sinne von § 8 Abs. 1 SGB II gelten, sodass die Leistungsberechtigung denklogisch verloren ginge. Denn um erwerbsfähig zu sein, müsste ein Leistungsberechtigter mindestens in der Lage sein, drei Stunden täglich eine Erwerbstätigkeit auszuüben. Zudem darf aus EU-beihilferechtlichen Gründen beim wettbewerblich ausgerichteten Arbeitgeber kein „Plus“ entstehen. Der Beschäftigungszuschuss darf nur das umfassen, was der Arbeitgeber aufgrund der vermin- derten Produktivität des Leistungsberechtigten verliert. Würden hier trotz vorhandener Produktivität des Arbeit- nehmers Lohnkosten bis zu 100 Prozent übernommen, wäre die Folge eine Überkompensation des Arbeitge- bers. Dies wäre eine Wettbewerbsverzerrung. Ja, meine lieben Grünen, allein diese Begründung müsste für Sie Grund genug sein, Ihren Antrag zurück- zuziehen. Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass es der christlich-liberalen Koalition gelungen ist, die Ar- beitslosigkeit massiv zu senken. Bundesweit ist die Zahl der Arbeitslosen auf 2,753 Millionen gesunken, ein Rückgang um 35 000 gegenüber September 2012. Die so- zialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse sind auf über 29,13 Millionen gestiegen, 472 000 mehr als noch vor einem Jahr. Die Schaffung von sozialversi- cherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen ist die Grundvoraussetzung für die Integrierung der Langzeitar- beitslosen in unseren Arbeitsmarkt. Ich fasse zusammen: Durch unsere Politik haben wir die Grundvoraussetzungen für einen günstigen Arbeits- markt geschaffen, und wir haben die geeigneten Instru- mente zur Integrierung auch der Langzeitarbeitslosen in den ersten Arbeitsmarkt. Die vorgelegten Anträge sind – sagen wir – missglückt und sind deshalb abzulehnen. Die Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit, vor al- lem der verfestigten Sockelarbeitslosigkeit, ist ein wich- tiges Anliegen der Koalition. Wir wollen jedoch zu- nächst die Reform der Instrumente wirken lassen und dann Bilanz ziehen. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung des EuGH-Urteils vom 20. Oktober 2011 in der Rechtssache C-284/09 (Tagesord- nungspunkt 48) Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Der vorliegende Ge- setzentwurf zur Umsetzung des Urteils des Europäischen Gerichtshofes – EuGH – vom 20. Oktober 2011 in der Rechtssache C-284/09 behandelt eine schwer verständli- che steuerrechtliche Thematik. Es geht um die steuerli- che Behandlung von Gewinnausschüttungen zwischen verbundenen Kapitalgesellschaften, bei denen die Mut- ter im Ausland und die Tochter im Inland liegt. Das Pro- blem schwelt bereits seit einigen Jahren, die EU-Kom- mission leitete ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland ein, dieses endete letztlich in dem erwähn- ten EuGH-Urteil. Der EuGH kritisiert die unterschiedli- che steuerliche Behandlung von inländischen und aus- ländischen Kapitalgesellschaften. Diese verstoße gegen die Kapitalverkehrsfreiheit, und deshalb verlangt der EuGH auch die rückwirkende Erstattung für alle noch nicht bestandskräftig veranlagten Fälle. Demnach muss jetzt dringend eine gesetzliche Rege- lung gefunden werden. Das Ganze ist sehr kompliziert, schwer erklärbar und trotzdem keine hinreichende Be- gründung für Ihren mit heißer Nadel gestrickten Lö- sungsvorschlag. Konkret geht es um die steuerliche Behandlung aus- geschütteter Dividenden. Generell gilt, dass Dividenden, die von einer Kapitalgesellschaft an eine andere ausge- schüttet werden, auf der Ebene des empfangenen Unter- nehmens zu 95 Prozent von der Körperschaftsteuer be- freit sind – § 8 b Abs. 1 und 5 KStG. Damit soll letztlich eine Mehrfachbesteuerung durch die Körperschaftsteuer vermieden werden. Jedoch unterliegen diese Dividen- denausschüttungen zwischen Kapitalgesellschaften nach § 43 Abs. 1 Satz 3 EStG der Kapitalertragsteuer, all- gemein nur bekannt als Abgeltungsteuer. Dies stellt für inländische Kapitalgesellschaften keine endgültige Be- lastung dar, auch nicht für ausländische Kapitalgesell- schaften, die im Inland über eine Betriebsstätte verfügen. Steuerbelastend wirkt es nur für im Ausland ansässige Kapitalgesellschaften, die über keine inländische Be- triebsstätte verfügen, beispielsweise wenn die empfan- gende Kapitalgesellschaft außerhalb des EU-/EWR- Raums ansässig ist oder wenn sie innerhalb der EU oder EWR ansässig ist und ihre Beteiligung an der die Divi- denden auszahlenden inländischen Tochter unter 10 Pro- zent liegt. 25100 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012 (A) (C) (D)(B) Nun gibt es verschiedene Möglichkeiten, das beste- hende Problem zu lösen: Die erste Möglichkeit ist die der Bundesregierung. In dem Falle wird für alle EU-/EWR-Kapitalgesellschaften die Anrechnung und Erstattung der Abgeltungsteuer auf inländische Dividenden gewährt. Das ist mit veran- schlagten mindestens 500 Millionen Euro pro Jahr die teuerste Variante und würde einen relativ kleinen Kreis von Unternehmen zusätzlich begünstigen. Das ist für uns die schlechteste aller Lösungen. Denn mit dieser Rege- lung wird ein bereits bestehendes Steuerprivileg ausge- baut. Die heute bereits bestehende körperschaftsteuerli- che Befreiung für Kapitalgesellschaften ist jetzt schon ein Einfallstor für Steuergestaltungen und gehört allge- mein auf den Prüfstand, statt hier kritiklos ausgebaut zu werden. Der zweite Vorschlag ist der des Bundesrates. Dieser will die Steuerbefreiung für Kapitalerträge aus Streube- sitz bis zu einer Beteiligungshöhe von 10 Prozent gene- rell aufheben. Dies entspräche der Regelung nahezu aller europäischen Staaten, wonach die Steuerfreiheit für Di- videnden und Veräußerungsgewinne nur bei Überschrei- ten einer Mindestbeteiligungsquote zu gewähren ist. Diese Lösung würde bei verschachtelten Beteiligungen zu einer Mehrfachbesteuerung führen. Das widerspricht der Steuergerechtigkeit. Die dritte Möglichkeit, die wir bevorzugen, ist die Rückkehr zum Vollanrechnungsverfahren, das heißt jede beteiligte Kapitalgesellschaft muss Steuern abführen. Eine Mehrfachbesteuerung wird durch Anrechnung der bereits gezahlten Steuern verhindert. Sie sehen, es gibt auch mehr als zwei Lösungen, und ich hoffe, dass wir in der Anhörung sowie in den Bera- tungen im Finanzausschuss die verschiedenen Möglich- keiten debattieren werden. Einige Bundesländer kündig- ten im Übrigen bereits ihren Widerstand gegen den Vorschlag der Bundesregierung an. Anlage 8 Amtliche Mitteilungen Der Bundesrat hat in seiner 902. Sitzung am 2. No- vember 2012 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzustimmen bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Ab- satz 2 des Grundgesetzes nicht zu stellen: – Gesetz zum Vorschlag für einen Beschluss des Ra- tes zur Festlegung eines Mehrjahresrahmens (2013-2017) für die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte – Gesetz zur Ausführung der Verordnung (EU) Nr. 236/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. März 2012 über Leerverkäufe und bestimmte Aspekte von Credit Default Swaps (EU-Leerverkaufs-Ausführungsgesetz) – Gesetz zur Neuordnung der Postbeamtenversor- gungskasse (PVKNeuG) – Gesetz zur Änderung personenbeförderungsrecht- licher Vorschriften – Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Statis- tik im Produzierenden Gewerbe – Gesetz zu dem Abkommen vom 29. Juni 2012 zwi- schen der Bundesrepublik Deutschland und dem Globalen Treuhandfonds für Nutzpflanzenvielfalt über den Sitz des Globalen Treuhandfonds für Nutzpflanzenvielfalt – Gesetz zu dem Abkommen vom 3. Juli 2009 zwi- schen der Regierung der Bundesrepublik Deutsch- land und der Regierung von Bermuda über den Auskunftsaustausch in Steuersachen – Gesetz zu dem Abkommen vom 28. Oktober 2011 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung von Montserrat über die Unterstützung in Steuer- und Steuerstraf- sachen durch Informationsaustausch Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat mit- geteilt, dass sie die nachstehenden Anträge zurückzieht: – Bürokratieabbau vorantreiben: Kleine Unternehmen von der Bilanzierungspflicht befreien auf Drucksache 17/3221, – Berichte zur NS-Vergangenheit des Bundesministe- riums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- cherschutz veröffentlichen auf Drucksache 17/4696 – Personelle und institutionelle Kontinuitäten und Brü- che in deutschen Ministerien und Behörden der frü- hen Nachkriegszeit hinsichtlich NS-Vorgängerinstitu- tionen systematisch untersuchen auf Drucksache 17/6318 und – Pakistan – Für eine aktive Einbindungsdiplomatie, Stärkung der demokratischen Kräfte und eine verläss- liche Entwicklungszusammenarbeit auf Drucksache 17/8492 Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen absieht: Innenausschuss – Bericht gem. § 56a GO-BT des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Technikfolgenabschätzung (TA) TA-Projekt: Gefährdung und Verletzbarkeit moderner Gesellschaften – am Beispiel eines großräumigen Aus- falls der Stromversorgung – Drucksache 17/5672 – Haushaltsausschuss – Unterrichtung durch die Bundesregierung Haushaltsfüh- rung 2012 Mitteilung gemäß § 37 Absatz 4 der Bundeshaushalts- ordnung über die Einwilligung in eine überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 11 13 Titel 636 85 – Zuschüsse zu Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012 25101 (A) (C) (D)(B) den Beiträgen zur Rentenversicherung der in Werkstät- ten und Integrationsprojekten beschäftigten behinder- ten Menschen – bis zur Höhe von 24 Mio. Euro – Drucksachen 17/10725, 17/10879 Nr. 1.5 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht nach § 99 der Bundeshaushaltsordnung über den Vollzugsaufwand bei der Gewährung von Unter- haltsvorschuss und Wohngeld an Kinder mit Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsu- chende – Drucksache 17/10322 – Ausschuss für Wirtschaft und Technologie – Unterrichtung durch die Bundesregierung Sondergutachten der Monopolkommission gemäß § 44 Absatz 1 Satz 4 des Gesetzes gegen Wettbewerbs- beschränkungen Die 8. GWB-Novelle aus wettbewerbsrechtlicher Sicht – Drucksache 17/8541 – Ausschuss für Gesundheit – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen zur Evaluierung der Ausnahmeregelungen von der Zu- zahlungspflicht – Drucksache 17/8722 – Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Unionsdokumente zur Kenntnis genommen oder von ei- ner Beratung abgesehen hat. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Drucksache 17/8515 Nr. A.35 Ratsdokument 18899/11 Drucksache 17/10208 Nr. A.12 Ratsdokument 10873/12 Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Drucksache 17/11108 Nr. A.14 Ratsdokument 13716/12 Drucksache 17/11108 Nr. A.15 Ratsdokument 13745/12 Drucksache 17/11108 Nr. A.16 Ratsdokument 13957/12 Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Drucksache 17/10710 Nr. A.59 Ratsdokument 12733/12 Drucksache 17/10710 Nr. A.60 Ratsdokument 12747/12 Drucksache 17/11108 Nr. A.22 Ratsdokument 14400/12 Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Drucksache 17/8515 Nr. A.46 Ratsdokument 18621/11 Drucksache 17/11108 Nr. A.24 Ratsdokument 14150/12 Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Drucksache 17/10710 Nr. A.68 Ratsdokument 12847/12 Drucksache 17/10710 Nr. A.70 Ratsdokument 13183/12 Drucksache 17/11108 Nr. A.26 Ratsdokument 12846/12 205. Sitzung Inhaltsverzeichnis ZP 9 Betreuungsgeld TOP 42, ZP 10 Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention ZP 11 Assistenzpflegebedarf und Praxisgebühr TOP 44 Altersgrenze beim Unterhaltsvorschuss TOP 43 Bericht zum Stand der deutschen Einheit 2012 TOP 8 Sozialer Arbeitsmarkt TOP 45 Zusammenarbeit mit Russland TOP 48 Umsetzung EuGH-Urteil – freier Kapitalverkehr – Anlagen
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720500000

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie herzlich zur 205. Sitzung des Deutschen
Bundestages.

Dass der 9. November, an dem diese Sitzung stattfin-
det, nicht irgendein Kalendertag ist, muss ich in diesem
Gremium nicht erläutern. Es ist der prominenteste Tag in
der deutschen Geschichte. Um kein anderes Datum
gruppieren sich Glanz und Elend der deutschen Ge-
schichte in einer auch nur vergleichbaren Weise. Dem
wurde und wird in verschiedenen Veranstaltungen ges-
tern und heute überall im Lande gedacht. Wir sollten vor
Eintritt in die Tagesordnung zumindest das Bewusstsein
dieser Bedeutung gemeinsam zu Protokoll nehmen.


(Beifall)


Ich möchte Sie gerne darauf hinweisen, dass sich der
Ältestenrat in seiner gestrigen Sitzung darauf verständigt
hat, während der Haushaltsberatungen, die in unserer
nächsten Sitzungswoche ab dem 20. November stattfin-
den, wie üblich keine Befragung der Bundesregierung,
keine Fragestunde und auch keine Aktuellen Stunden
durchzuführen. Als Präsenztage sind die Tage von
Montag, dem 19. November, bis Freitag, dem 23. No-
vember 2012, festgelegt worden. Dazu kann ich sicher
Ihr Einvernehmen feststellen. – Das ist offenkundig der
Fall. Dann können wir so verfahren.

Ich rufe nun die Zusatzpunkte 9 a bis 9 c unserer Ta-
gesordnung auf:

ZP 9 a) – Zweite und dritte Beratung des von den Frak-
tionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung eines
Betreuungsgeldes (Betreuungsgeldgesetz)


– Drucksache 17/9917 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Familie, Senioren, Frauen und Ju-
gend (13. Ausschuss)


– Drucksache 17/11404 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dorothee Bär
Caren Marks
Florian Bernschneider
Diana Golze
Ekin Deligöz


(8. Ausschuss)


– Drucksache 17/11405 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Mattfeldt
Rolf Schwanitz
Dr. Florian Toncar
Steffen Bockhahn
Sven-Christian Kindler

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend (13. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Caren
Marks, Petra Crone, Petra Ernstberger, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Kita-Ausbau statt Betreuungsgeld

– zu dem Antrag der Abgeordneten Diana
Golze, Agnes Alpers, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Betreuungsgeld nicht einführen – Öffentli-
che Kinderbetreuung ausbauen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Katja
Dörner, Sven-Christian Kindler, Ekin Deligöz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Kein Betreuungsgeld einführen – Kinder
und Familien durch den Ausbau der Kin-
dertagesbetreuung fördern

– Drucksachen 17/9572, 17/9582, 17/9165,
17/11404 –





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)


Berichterstattung:
Abgeordnete Dorothee Bär
Caren Marks
Florian Bernschneider
Diana Golze
Ekin Deligöz

c) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Ergänzung des Betreuungsgeldge-
setzes (Betreuungsgeldergänzungsgesetz)


– Drucksache 17/11315 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

Über den Entwurf eines Gesetzes zur Einführung ei-
nes Betreuungsgeldes werden wir später namentlich ab-
stimmen.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Auch hierzu
höre ich keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
die Kollegin Dorothee Bär für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dorothee Mantel (CSU):
Rede ID: ID1720500100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich freue mich
sehr, dass wir heute abschließend – da bin ich mir sicher –
über dieses Thema hier im Plenum des Deutschen Bun-
destages diskutieren.


(Zuruf von der SPD: Warten Sie einmal ab!)


Ich setze auf die Vernunft aller Anwesenden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wenn bei Ihnen nach Gewissen abgestimmt werden dürfte, wäre das vorbei!)


Es gibt ja kaum ein Thema, über das so intensiv und
leidenschaftlich diskutiert wurde, nicht nur über Wochen
und Monate, sondern sogar über Jahre. Für und Wider
wurden auf allen Seiten wirklich sehr abgewägt, nicht
nur zwischen den verschiedenen Parteien, sondern bei-
spielsweise auch sehr stark in unseren beiden Parteien.
Daher freue ich mich, dass am vergangenen Sonntag der
Weg für die Wahlfreiheit in unserem Land frei gemacht
wurde.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wahlfreiheit? Vor allen Dingen Wahlfreiheit!)


– Frau Roth, ich weiß nicht, was Sie gegen Wahlfreiheit
haben.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe nichts gegen Wahlfreiheit! In Bayern gibt es die nur nicht!)


Ich erkläre Ihnen noch einmal, wie wir uns das vor-
stellen; denn wir haben unseren ohnehin guten Gesetz-
entwurf im parlamentarischen Verfahren noch einmal
verbessert. Wir haben jetzt zum Beispiel klargestellt,
dass der Besuch von Eltern-Kind-Gruppen, von PEKiP-
Gruppen usw. nicht zum Ausschluss vom Bezug des Be-
treuungsgeldes führt. Wir haben unsere Härtefallklausel
noch etwas verbessert. Wenn es zum Beispiel bei Krank-
heit, bei Tod oder bei Schwerbehinderung der Eltern
nicht möglich ist, die Kinder selbst zu betreuen, führen
bis zu 20 Wochenstunden öffentlich geförderte Betreu-
ung im Durchschnitt des Monats nicht zum Ausschluss
vom Bezug des Betreuungsgeldes.

Wir sprechen in diesem Zusammenhang auch über
das Betreuungsgeldergänzungsgesetz. Dieses Gesetz
bringt Alternativen zu einer Barauszahlung. Das ist ein
wichtiger Schritt, der es Ihnen eigentlich leichter ma-
chen müsste, zuzustimmen. Das Betreuungsgeld sollte
eigentlich mit einer ganz breiten Mehrheit des ganzen
Hauses verabschiedet werden können.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Lachen bei Abgeordneten der SPD)


Wenn sich die Eltern dafür entscheiden, das Betreuungs-
geld in eine zusätzliche private Altersvorsorge zu ste-
cken oder es zum Bildungssparen zu verwenden, erhal-
ten sie einen zusätzlichen Bonus von 15 Euro. Nun kann
auch ein Bildungskonto eingerichtet werden. Das ist ein
Punkt, wo ich sage: Da müssten Sie springen können.


(Widerspruch bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht in den Abgrund! – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihnen an den Hals vielleicht!)


– Herr Trittin, Frau Roth, nicht diejenigen, die am lautes-
ten schreien, werden am Ende recht behalten.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das werden wir sehen, Frau Bär!)


Warum wird über dieses Thema eigentlich so wahn-
sinnig emotional diskutiert?


(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil die Einführung eines Betreuungsgeldes so falsch ist!)


Warum wird über Familienpolitik so emotional disku-
tiert? Weil – das habe ich im Vorgespräch mit meiner
Kollegin Deligöz leider Gottes wieder feststellen müssen –
oft gemeint wird, dass überhaupt nur auf der Grundlage
des eigenen Modells diskutiert werden könne. Das finde
ich nicht redlich. Wir müssen doch für die gesamte Be-
völkerung sprechen.





Dorothee Bär


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir können doch nicht nur diejenigen im Blick haben,
die berufstätig sind. Wir müssen auch an die denken, die
ihre Erwerbsbiografie zugunsten ihrer Kinder zeitweise
unterbrechen wollen. Wenn jemand ein anderes Lebens-
modell vorzieht, muss ihm das doch unbenommen sein.

Sagen Sie doch nicht immer, dass das Betreuungsgeld
den Müttern schade.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den Kindern auch!)


Warum wird gerade von Ihrer Seite aus so wenig über
die Väter in diesem Lande gesprochen? Mir ist es wich-
tig, dass es in dieser Diskussion auch um die Väter geht,
dass die Väter auch Verantwortung übernehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Man sieht an dem Streit über das Betreuungsgeld
ganz deutlich, dass es bei weitem nicht nur darum geht,
ob der Staat – neben den Mitteln, die er für den Ausbau
und den Betrieb von Kinderkrippen und Kindertages-
pflege bereitstellt – auch diejenigen, die eine andere Be-
treuungsmöglichkeit wählen, die ihre Kinder selbst be-
treuen oder die Betreuung privat organisieren, finanziell
unterstützen soll.

An dieser Stelle möchte ich auch einmal an die Groß-
eltern erinnern, die in diesem Land einen wertvollen
Beitrag zur Kinderbetreuung leisten. Ein herzliches Dan-
keschön dafür! Warum haben wir denn mit der letzten
Regierung Mehrgenerationenhäuser eingeführt? Doch
wohl nicht, weil Mehrgenerationenhäuser schlecht für
Kinder oder für Ältere wären.


(Thomas Oppermann [SPD]: Sehr defensiv!)


Ganz im Gegenteil: weil von Mehrgenerationenhäusern
alle Generationen profitieren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wenn es Ihnen nicht vorrangig um Geld geht,


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


worum dann? Wollen Sie wieder die Lufthoheit über die
Kinderbetten erringen?


(Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Ich weiß, dass die Wahrheit wehtut. – Warum wird so
erbittert über verschiedene Familienmodelle gestritten?
Ich finde es erschreckend, dass Sie wollen, dass sich der
Staat so wahnsinnig in die Familien einmischen kann.


(Sigmar Gabriel [SPD]: Sie mischen sich doch jetzt ein!)


Warum vertrauen Sie den Eltern in unserem Land so we-
nig?


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Mich stört massiv, dass alle Kinder über einen Kamm
geschoren werden sollen. Für das eine Kind ist es viel-
leicht kein Problem, wenn es mit zwölf oder 18 Monaten
für einige Stunden in eine Krippe kommt. Ein anderes
Kind, das schon drei Jahre alt ist, kann sich damit
schwertun. Kinder sind eben unterschiedlich. Es gibt
nicht die beste Betreuungsmöglichkeit an sich. Sie glau-
ben pauschal, eine institutionelle Förderung sei einer pri-
vaten Förderung der Kinder vorzuziehen. Das sehen wir
nicht so.

Sie verweisen auf die Meinung einiger Verfassungs-
rechtler. Wir können Ihnen Verfassungsrechtler nennen,
die anderer Meinung sind. Sie führen die Aussagen eini-
ger Verbandsvertreter an. Wir können andere anführen.
Sie kommen mit der Einschätzung von Psychologen.
Wir können auf andere Psychologen verweisen. Ob Be-
fürworter oder Gegner, jeder kann Experten aufbieten,
die seiner Meinung sind. Das ist ein Pattspiel.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben die Mehrheit in der Bevölkerung auf unserer Seite, Sie nicht!)


Ich bin der Meinung, dass andere Experten maßgeb-
lich sind: Das sind die Eltern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir bekommen Schreiben, in denen sich Eltern bei uns
dafür bedanken, dass wir uns für sie einsetzen. Ich darf,
Herr Präsident, aus der FAZ vom Mittwoch zitieren:

Die Mehrheit der Familien mit kleinen Kindern
profitiert von der Hartnäckigkeit der CSU.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das ist wahr, und wir können stolz darauf sein, dass wir
uns an dieser Stelle nicht haben beirren lassen.

Ich finde es ja positiv, dass so leidenschaftlich disku-
tiert wird. Ich finde es auch positiv, dass Herr Steinbrück
heute sagt: Mir ist das Thema so wichtig, da gehe ich als
Familienpolitiker der SPD in die Bütt. – Ganz hervorra-
gend, dass Sie sich auch dieser intensiven Diskussion
anschließen!


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich freue mich auch, Ihnen einmal bei einer Rede zuhö-
ren zu dürfen.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir haben hier einen ganz großen Erfolg, den wir heute
hoffentlich feiern können.

Damit Sie das klar wissen und weil ich auch nicht
möchte, dass die verschiedenen Modelle gegeneinander
ausgespielt werden, möchte ich deutlich sagen: Wir, die
wir für das Betreuungsgeld sind, sind selbstverständlich
auch für den Ausbau der Krippen in diesem Lande.





Dorothee Bär


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zurufe: Oh!)


– Ja, selbstverständlich, und da darf nicht nur ein kleines
„Oh“ zugerufen werden. Wir als Bund – unsere Regie-
rung – haben nämlich gesagt: Uns ist das Thema so
wichtig, dass wir uns bei den Ländern und Kommunen
einmischen. Wir stellen Geld zur Verfügung, obwohl wir
nicht zuständig sind.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und die Geschenke bringt der Weihnachtsmann! – Gegenruf des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]: Nein, der Schäuble!)


Es fällt einem Finanzminister ja auch nicht ganz leicht,
zu sagen: Ich gebe den Ländern und Kommunen das
Geld, weil uns diese Betreuung wichtig ist.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, er musste ja nach Mexiko fahren! Er ist ja nach Mexiko geschickt worden! Hossa! Hol das Geld raus!)


Wir sind also selbstverständlich dafür.

Wir haben auch den Rechtsanspruch auf einen Be-
treuungsplatz eingeführt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das ist doch ein ganz wunderbares Gesamtpaket! Auf
der einen Seite sagen wir: Wir bauen neue Krippen, und
wir bauen die vorhandenen aus. Außerdem geben wir
den Ländern ständig mehr Geld. – Das sind ja keine Pea-
nuts. Wir reden hier über knapp 5 Milliarden Euro, die
wir den Ländern zur Verfügung stellen. Auf der anderen
Seite tun wir natürlich auch etwas in Bezug auf die lau-
fenden Kosten und für den Rechtsanspruch. Hier bin ich
unserer Familienministerin dankbar, dass sie immer wie-
der gesagt hat: Am Rechtsanspruch wird nicht gerüttelt. –
Nein, das wird es natürlich nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Lachen des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


– Herr Trittin, ich weiß, warum Sie hysterisch lachen.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich kann gar nicht hysterisch lachen!)


Die Ersten, die gegen einen Rechtsanspruch geschrien
haben, waren Ihr Kollege Herr Palmer und der Herr Ude
von der SPD, weil sie als Kommunalpolitiker es eben
nicht als so wichtig ansehen bzw. sagen: Das können wir
den Kommunen nicht antun.


(Zurufe von Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist kein Geheimnis – auch für einen Herrn Ude in
Bayern nicht –, dass nach dem 31. Juli 2013 der 1. Au-
gust 2013 kommt. Also muss er auch wissen, dass er bis
dahin für München seine Hausaufgaben zu machen hat.
Im Rest Bayerns funktioniert das übrigens gut.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Claudia Roth [Augsburg] [BÜND NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja wohl die größte Fehlbehauptung!)


Schauen Sie sich die neueste DJI-Studie an. Es ist
doch spannend, zu sehen, dass es den geringsten Fehlbe-
darf an Betreuungsplätzen in Bayern gibt. Bis zum
1. August 2013 werden wir sogar 40 Prozent geschaffen
haben.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 40 Prozent, ja!)


Nordrhein-Westfalen steht sehr schlecht da; das ist
auch spannend. Noch spannender ist es aber bei Ihrer Fa-
milienpolitikerin aus Mecklenburg-Vorpommern, die sie
bis heute dauernd wie eine Monstranz vor sich hertra-
gen. Mecklenburg-Vorpommern steht von allen ostdeut-
schen Bundesländern am schlechtesten da. Auch hier
müssen Sie sich also einmal an die eigene Nase fassen.
Die Ministerin vor Ort bekommt das nicht auf den Weg.

Wir müssen jetzt nicht mit weiteren tausend Zahlen
um uns schmeißen. Die Argumente wurden sieben Jahre
lang ausgetauscht. Ich möchte Ihnen aber trotzdem noch
sagen, warum das heute für mich ein wichtiges Anliegen
ist:

Ich möchte nicht in einem Land leben, in dem wir als
Politiker sowie die Arbeitgeberverbände, die Wissen-
schaftler oder auch die Verfassungsrechtler alleine da-
rüber entscheiden dürfen, was gut für die Kinder in unse-
rem Land ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich will auch nicht in einem Land leben, in dem Eltern
Angst haben, Kinder in die Welt zu setzen, weil sie be-
fürchten, dass man ihnen nichts zutraut, weil Elternfüh-
rerscheine gemacht werden müssen und der Staat die Er-
ziehung übernehmen möchte.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wir wollen den Eltern Mut machen. Sie müssen sich
nicht dafür rechtfertigen, welches Modell für sie richtig
oder falsch ist. Das richtige Modell ist immer das – das
ist der Idealfall –, dass sich Vater und Mutter einig sind.
Das ist dann auch das Beste für die Kinder.

Stimmen Sie heute also bitte pro Mündigkeit und pro
Wahlfreiheit, also pro Betreuungsgeld.

Vielen Dank.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720500200

Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Peer

Steinbrück.


(Beifall bei der SPD)



Peer Steinbrück (SPD):
Rede ID: ID1720500300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heute soll mit





Peer Steinbrück


(A) (C)



(D)(B)


der Einführung des Betreuungsgeldgesetzes ein Gesetz
verabschiedet werden, für das groteskerweise gilt: We-
der will es ein nennenswerter Teil der Regierungskoali-
tion noch gibt es eine breite gesellschaftliche Mehrheit
in unserem Land für dieses Gesetz.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Auf Ersteres lässt die kuriose, um nicht zu sagen ab-
surde Geschichte des Betreuungsgeldgesetzes in Ihren
Reihen schließen; denn es ist in dieser Legislaturperiode
von Ihrer Koalition nicht weniger als viermal beschlos-
sen worden. Das Betreuungsgeldgesetz ist hier im Deut-
schen Bundestag am 15. Juni nicht zur Abstimmung ge-
bracht worden, weil Sie nicht wussten, wie viele
Mitglieder Ihrer eigenen Regierungskoalition zustimmen
würden.


(Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP)


Und Sie haben noch im Oktober dieses Jahres eine Neu-
ansetzung vermieden, weil sonst diese Konflikte öffent-
lich aufgebrochen wären. Nun soll es heute mit einem
Höchstmaß an Disziplinierung, auch an Selbstverleug-
nung, insbesondere in den Reihen der FDP, durchge-
drückt werden


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


mit einer Inkraftsetzung zum 1. August 2013, will sagen:
wenige Wochen vor einer Bundestagswahl, was durch-
aus als Ausdruck besonderer Selbstgefälligkeit und
Ignoranz bewertet werden darf.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Überall dort, wo ich hinkomme und wo ich die Mög-
lichkeit habe, Gespräche zu führen mit alleinerziehenden
Frauen, etwa gestern hier in Berlin, mit Erzieherinnen in
einer Kindertagesstätte in meinem Wahlkreis


(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Oh!)


– ja, führen Sie die nicht;


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


empfinden Sie das als etwas Besonderes? –, mit Arbeit-
gebern – übrigens, das Interview von Herrn Hundt in der
Welt spricht Bände zu diesem Thema –,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


mit Sozialarbeiterinnen, mit Lehrerinnen oder Lehrern,
auch mit jungen Eltern, insbesondere mit alleinerziehen-
den Frauen, gibt es ein übereinstimmendes Urteil über
dieses Betreuungsgeld: Dieses Betreuungsgeld ist eine
grundfalsche Weichenstellung. Um es deutlicher zu sa-
gen: Es ist schwachsinnig.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Diese Bewertung entspricht keineswegs einer Verall-
gemeinerung individueller Momentaufnahmen; denn wir
wissen aus Umfragen, dass mehr als 75 Prozent der deut-
schen Bevölkerung das genauso sehen. Wir wissen ins-
besondere, dass die Wählerinnen und Wähler ihrer eige-
nen Koalition dieses Betreuungsgeldgesetz zu mehr als
60 Prozent ebenfalls für absurd halten.

Der Fortschritt unserer Gesellschaft bemisst sich
maßgeblich daran, meine Damen und Herren, wie zu-
künftig Männer und Frauen miteinander leben und arbei-
ten, insbesondere auch daran, ob Frauen ein größeres
Selbstbestimmungsrecht darüber bekommen, eine ei-
gene Berufsbiografie zu schreiben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Deshalb ist das, was Sie mit diesem Betreuungsgeld
machen, eine Katastrophe dahin gehend, dass es eine ge-
sellschaftliche Rückwärtsgewandtheit ausdrückt, die mit
unseren Vorstellungen über eine moderne und aufge-
klärte Gesellschaft nichts zu tun hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie verfestigen überholte Rollenbilder. Wir sagen,
dieses Betreuungsgeld wird dazu führen, dass weniger
Frauen eine eigene berufliche Biografie schreiben und
dass weniger Kinder einen chancengerechten Zugang
auf Bildung bekommen. Das wird das Ergebnis dieses
Betreuungsgeldes sein.


(Beifall bei der SPD)


Dieses Betreuungsgeld wird Deutschland deshalb un-
gerechter machen und in ein überholtes Gesellschafts-
bild einsperren. Es stellt für unser Land einen fatalen
Rückschritt dar. Auf der ganzen Wegstrecke ist der Ko-
alition und der Bundesregierung nicht nur von der SPD
und von den Grünen deutlich gemacht worden, dass die-
ses Betreuungsgeld falsch ist. Die Protagonisten, die sich
dazu geäußert haben, sind beeindruckend: Gewerkschaf-
ten, Arbeitgeber, Migrantenverbände, die DIHK, jüngst
der Vorsitzende des Sachverständigenrates und, Herr
Kauder, auch die Europäische Kommission. Sie haben in
einer vergangenen Bundestagsdebatte versucht, uns das
Gegenteil einzureden.


(Lebhafter Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Alle diese Vertreter stimmen in dem Urteil überein, dass
dieses Betreuungsgeld eine sträflich falsche Weichen-
stellung ist.

Es ist absurd: Eltern sollen eine finanzielle Leistung
dafür bekommen, dass sie öffentliche Einrichtungen
nicht in Anspruch nehmen werden. Das einzige Argu-
ment, das Ihnen verbleibt, hat Frau Bär gerade genannt;
das ist der Vorwurf, es gehe darum, die Eltern zu diskre-
ditieren. Nein, es geht nicht darum, irgendwelche Eltern
zu diskreditieren, die ihre Kinder zu Hause erziehen
wollen, sondern es geht darum, denjenigen zu helfen,
insbesondere alleinerziehenden Frauen, die eine Berufs-
perspektive eröffnet haben wollen.





Peer Steinbrück


(A) (C)



(D)(B)



(Lebhafter Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es geht insbesondere darum, den Kindern aus eher
schwächeren sozialen Schichten einen Zugang zur Bil-
dung zu ermöglichen, sodass sie anschließend ein selbst-
verantwortliches Leben führen können.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Neue individuelle Transfers, verehrte Kolleginnen
und Kollegen von der FDP, sollen gezahlt werden, übri-
gens zulasten des Bundeshaushaltes, um ein überholtes
Gesellschaftsbild zu verfestigen, weil es eine Regional-
partei aus Bayern unbedingt als ihr Hobby ansieht, ein
solches Gesetz durchzudrücken.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Da muss sich doch eigentlich bei der FDP der politi-
sche Magen umdrehen. Welches Ausmaß an Selbstver-
leugnung müssen Sie erreicht haben, um dafür zwar
nicht die Hand zu reichen, aber die Hand zu heben? Nur
mühsam haben wir gemeinsam in diesem Haus den Er-
kenntnisfortschritt vollzogen, dass sich Frauen eben
nicht mehr zwischen Kind und Beruf, zwischen Kind
und Karriere entscheiden müssen. Hinter diesen Kon-
sens, der auch in der Großen Koalition schon verbreitet
war, fällt die Logik dieses Betreuungsgeldgesetzes um
Lichtjahre zurück.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Steuergeld soll auch in der aktuellen Lage des öffent-
lichen Haushalts unter Absingen der Lieder der Konso-
lidierung eingesetzt werden, damit Frauen eine Berufs-
tätigkeit zurückstellen und stattdessen in einer
familienpolitischen Idylle gefangen gehalten werden,


(Zurufe von Abgeordneten der CDU/CSU: Oh!)


die den gesellschaftlichen Realitäten, den vielfältigen
Biografien und die insbesondere auch der teilweise
nackten materiellen Not von Frauen, die einen Beruf be-
nötigen, nicht entspricht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Erstens. Das Betreuungsgeld ist aus fiskalischen
Gründen falsch. Es ist finanzpolitischer Unfug, und Sie
wissen das. Es kostet in einer Zeit, in der die Bundesre-
gierung mit erhobenem Zeigefinger durch Europa läuft
und andere zur Haushaltskonsolidierung anhält, bis zu
2 Milliarden Euro, und die Gegenfinanzierung von Ihnen
fehlt. Oder plündern Sie die KfW oder den Gesundheits-
fonds weiter aus? Wie soll das finanziert werden?

Mich würde Ihre Reaktion sehr interessieren, sollte
etwa ein mediterranes Land, zum Beispiel Griechenland,
eine Prämie dafür beschließen, dass Frauen besser da-
heimbleiben sollen, statt sich berufliche Chancen zu er-
öffnen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Die Stimmen aus Ihren Reihen, die dann kommen wür-
den, sind mir sehr präsent.

Zweitens. Das Betreuungsgeld ist aus bildungspoliti-
schen Gründen falsch. Ich zitiere: Das Betreuungsgeld
ist bildungspolitisch eine Katastrophe.


(Zuruf von der CDU/CSU)


– Das sagte Frau von der Leyen.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Sigmar Gabriel [SPD]: Wo sie recht hat, hat sie recht!)


Sie sind ja ein Weltmeister im Eigentorschießen.


(Zurufe von der SPD: Ja!)


Ich kann nur sagen: Wo Frau von der Leyen recht hat,
hat sie recht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Vor allem für Frauen oder Familien mit niedrigen und
mittleren Einkommen schafft das Betreuungsgeld einen
finanziellen Anreiz, den Kitaplatz gegen eine Geldleis-
tung einzutauschen. Dabei ist längst erwiesen, dass ge-
rade für Kinder aus sozial benachteiligten, aus eher bil-
dungsfernen Schichten, eine möglichst frühe Förderung
und soziale Integration besonders wichtig wären.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das sagt Ihnen nicht ein SPD-Politiker, sondern das
sagen Ihnen alle fachlich-pädagogisch versierten und
aufgeklärten Menschen in dieser Republik. Gerade Kin-
der aus sozial schwachen Familien verpassen damit eine
hochwertige Betreuung und Erziehung in Krippen, die
sie brauchen, um anschließend die Fähigkeiten zu entwi-
ckeln, die ihnen eine Teilhabe an unserem Leben ermög-
lichen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie schaffen damit auch Ausgaben, obwohl dieses
Geld besser in die Erstellung einer weiteren Betreuungs-
infrastruktur investiert wäre, und zwar vor dem Hinter-
grund, dass nach wie vor mehr als 220 000 Kitaplätze
fehlen. Ich meine mit diesem Geld nicht nur den mate-
riellen Ausbau dieser Betreuungsinfrastruktur, sondern
ich glaube, dass mit diesem Geld insbesondere auch die
Löhne und Gehälter und auch die Qualifizierung derjeni-
gen verbessert werden sollten, die sich um die Kinder,
den Nachwuchs dieser Republik kümmern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Drittens. Dieses Betreuungsgeld ist auch aus arbeits-
marktpolitischen Gründen falsch, was Sie wissen. Das
Betreuungsgeld hält Frauen vom Arbeitsmarkt fern. Es





Peer Steinbrück


(A) (C)



(D)(B)


schafft einen Anreiz für Frauen, länger aus dem Beruf
auszusteigen, mit der Folge, dass ihre Rückkehrmöglich-
keiten beschränkt werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Auch die Wiederkehr in Jobs oder Beschäftigungen, die
ihren ursprünglichen Qualifikationen entsprechen, wird
immer schwieriger.

Dabei wissen Sie, meine Damen und Herren von der
Koalition – nicht von mir, nicht von der SPD, nicht von
der Abteilung Agitation und Propaganda, sondern von
der Bundesagentur für Arbeit –, dass diese Republik bis
2025 ungefähr 5 Millionen bis 6 Millionen Beschäftigte
verliert. Das heißt, das Erwerbspersonenpotenzial geht
deutlich nach unten. Wir können uns gemeinsam die
Frage stellen: Was heißt das für die Wirtschaftskraft, die
Innovationsfähigkeit und die Neugier in Wirtschaft und
Gesellschaft? Es gibt zwei Möglichkeiten, diesem Trend
entgegenzuwirken. Das eine ist eine Einwanderungspoli-
tik. Das andere ist, die Erwerbstätigkeit von Frauen in
der Bundesrepublik Deutschland auf das Niveau skandi-
navischer Gesellschaften zu erhöhen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das gelingt wesentlich mit zwei Maßnahmen, nämlich
dem Ausbau von Betreuungsplätzen und der gleichen
Bezahlung von Frauen und Männern für die gleiche Tä-
tigkeit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das Betreuungsgeld wird einen sträflichen Trend fort-
setzen, der in Deutschland besonders skandalös ist, näm-
lich die weitere Spreizung der Löhne und Gehälter von
Männern und Frauen. Es ist erstaunlich, wie nachlässig
Sie mit diesem Problem umgehen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie wissen genauso gut wie ich, dass ausweislich der
OECD Frauen in Deutschland im Durchschnitt um bis zu
23 Prozent schlechter bezahlt werden als Männer. Das
sollte Sie genauso beschäftigen wie uns.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Viertens. Das Betreuungsgeld ist aus gesellschaftspo-
litischen Gründen falsch. „Das Betreuungsgeld passt
nicht in die Zeit“, sagt Herr Döring von der FDP.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Damit sind wir bei dem springenden Punkt, den er aus-
nahmsweise zu Recht erfasst hat. Dieses Betreuungs-
geld, diese Fernhalteprämie für Frauen im Hinblick auf
das Arbeitsleben und eine gesellschaftliche Teilhabe,
entspricht einer gesellschaftspolitischen Vorstellungs-
welt, die eher in die Biedermeieridylle passt als in das
21. Jahrhundert.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Vater am Arbeitsplatz, Mutter an Heim und Herd – das
ist die traditionelle Rollenverteilung, die sich mit dieser
Gesetzesinitiative verbindet.

Die Koalitionsfraktionen vergewissern sich gegensei-
tig, sich an den gültigen Koalitionsvertrag zu halten. Die
FDP sei vertragstreu, sagen Sie, Herr Brüderle. Sie ist
vertragstreu, Herr Brüderle, obwohl die stellvertretende
Parteivorsitzende der FDP, Justizministerin Frau
Leutheusser-Schnarrenberger, sogar erhebliche verfas-
sungsrechtliche Bedenken gegen das Betreuungsgeld ge-
äußert hat – ich zitiere –:

Die Frage wird sein, ob Grundsätze der Gleichbe-
handlung verletzt werden. Man muss damit rech-
nen, dass Gegner des Betreuungsgeldes vor das
Bundesverfassungsgericht ziehen. Die Bundesre-
gierung sollte nicht riskieren, in Karlsruhe zu schei-
tern.


(Beifall der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Welche Rolle hat diese Einschätzung in Ihren Beratun-
gen gespielt? Die Vorsitzende des Bundestagsausschus-
ses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Ihre Par-
teifreundin Frau Laurischk, sagte: Ich bezweifle die
Verfassungsmäßigkeit des Betreuungsgeldes. – Wir tun
das auch.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Unter einer SPD-geführten Bundesregierung und ei-
ner rot-grünen Koalition wird dieses Gesetz die kürzeste
Halbwertszeit in der Geschichte der Gesetzgebung der
Bundesrepublik Deutschland haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Eine der ersten Maßnahmen einer rot-grünen Regierung
wird die Abschaffung des Betreuungsgeldes sein und
auch, die dazu bisher zur Verfügung gestellte Summe in
den Ausbau der Kindertagesplätze in Deutschland zu in-
vestieren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Warum – so frage ich Sie, Frau Bundeskanzlerin –
stellen Sie das Betreuungsgeld zur Abstimmung im
Deutschen Bundestag, obwohl alle Argumente dagegen
sprechen und Sie selbst, wie ich glaube, in einem inneren
Dialog wissen dürften, dass dieses Gesetz unsinnig ist?
Sie tun es aus einem Pragmatismus, der nichts mit der
Zukunftsfähigkeit dieses Landes zu tun hat, wohl aber
mit der Gefälligkeit gegenüber einem Koalitionspartner,
also aus einem Kalkül der Machtbalance innerhalb Ihrer
Regierung. Das ist ein Pragmatismus, der keinerlei Vor-
stellungskraft und keinerlei Führungsqualität bei der
Frage zu erkennen gibt, wie mit der Benachteiligung von
Frauen, eine eigene berufliche Biografie zu schreiben,
aufgeräumt werden kann und wie die Chancen für Kin-





Peer Steinbrück


(A) (C)



(D)(B)


der, insbesondere aus bildungsferneren Schichten, in
Deutschland verbessert werden können.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Mit diesem Betreuungsgeld dokumentieren Sie, dass
Ihr politischer Kompass nicht einer klaren Vorstellung
folgt, wie diese Gesellschaft in der Perspektive des zwei-
ten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts zusammen leben und
arbeiten sollte; dieser politische Kompass – das doku-
mentiert dieses Betreuungsgeld – ist vielmehr alleine auf
die Überlebensfähigkeit Ihrer Koalition bis zur Bundes-
tagswahl in elf Monaten gerichtet. Das ist zu wenig. Zu-
sammen können wir sehr viel mehr.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720500400

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Patrick

Meinhardt das Wort.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt wird es spannend! – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Redet denn nicht die Kollegin Pieper? Wo ist Frau Pieper? Wir wollen Frau Pieper hören! – Sigmar Gabriel [SPD]: Herr Döring ginge doch auch noch, oder?)



Patrick Meinhardt (FDP):
Rede ID: ID1720500500

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Vor allem meine Kolleginnen und Kollegen
von der SPD-Fraktion, Sie alle leiden wohl an kollekti-
vem Gedächtnisverlust.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Erinnern Sie sich noch an den 26. September 2008? Da-
mals haben Sie sogar regiert. Und Sie haben das Kinder-
förderungsgesetz verabschiedet. Wenn Sie es auch nicht
mehr hören können, Sie werden es immer und immer
wieder zu hören bekommen, hier im Deutschen Bundes-
tag und auf jeder Podiumsdiskussion. Ich zitiere, was Sie
verabschiedet haben:

Ab 2013 soll für diejenigen Eltern, die ihre Kinder
von ein bis drei Jahren nicht in Einrichtungen be-
treuen lassen wollen oder können, eine monatliche
Zahlung

– eine monatliche Barzahlung –


(zum Beispiel Betreuungsgeld) eingeführt werden.


Was Sie hier im Deutschen Bundestag veranstalten, ist
an Doppelzüngigkeit und Heuchelei nicht zu überbieten.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Abg. Caren Marks [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720500600

Herr Kollege, möchten Sie schon Zwischenfragen zu-

lassen?


Patrick Meinhardt (FDP):
Rede ID: ID1720500700

Nein, ich glaube, Herr Steinbrück hatte genügend

Möglichkeiten gehabt,


(Zurufe von der SPD: Oh!)


die verfehlte SPD-Position hier darzustellen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Peer Steinbrück [SPD]: Das ist ein schönes parlamentarisches Verständnis!)


Der damalige SPD-Generalsekretär Hubertus Heil
– er kommt gerade – bezeichnete dieses Gesetz inklusive
der Barauszahlung als – ich zitiere – „Quantensprung,
der jungen Eltern endlich wirkliche Wahlfreiheit ermög-
licht“. Können Sie hier überhaupt noch stehen und in
den Spiegel schauen?


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen von der SPD, es ist
durch und durch unredlich, wenn Sie so tun, als hätten
Sie damit nichts zu tun; denn Sie waren es, die das Be-
treuungsgeld beschlossen haben, Sie haben die Hand da-
für gehoben – im Bundestag, im Kabinett.


(Peer Steinbrück [SPD]: Nein!)


Der damalige Finanzminister Steinbrück, der Außen-
minister Steinmeier, der Umweltminister Gabriel – Sie
sind die rote Betreuungstroika.


(Sigmar Gabriel [SPD]: Warum lassen Sie denn keine Frage zu?)


Auch wenn Sie sich heute dafür schämen sollten, aus
dieser Nummer kommen Sie nicht mehr raus.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Sigmar Gabriel [SPD]: Warum lassen Sie keine Frage zu?)


Aber Sie, Herr Steinbrück, toppen das Ganze noch,
nach dem Motto „Was interessiert mich mein Geschwätz
von gestern“.


(Thomas Oppermann [SPD]: Sie können nur noch einen Büttenredner aufbieten! – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da kennen Sie sich aus!)


Als Bundesfinanzminister sagten Sie noch über das be-
schlossene Gesetz: Es ist ein vernünftiger Kompromiss.


(Thomas Oppermann [SPD]: Sagen Sie mal, was für das Betreuungsgeld spricht!)


Heute das als Schwachsinn darzustellen, was Sie selbst
als „vernünftigen Kompromiss“ eingebracht haben, ist
an Unverfrorenheit nicht mehr zu überbieten.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wer als Bundesfinanzminister von einem „vernünftigen
Kompromiss“ redet und als Kanzlerkandidat der SPD in
diesem Hohen Haus eine solche Rede hält, wie Sie sie





Patrick Meinhardt


(A) (C)



(D)(B)


gehalten haben, der hat jeden ehrlichen Anspruch ver-
wirkt, auf der Regierungsbank Platz zu nehmen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Reden Sie doch mal zum Betreuungsgeld!)


Irgendwie erscheint es so, als ob Sie in Thüringen nicht
mitregierten.


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was sagt denn die FDP zu den Vorschlägen? – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sind Sie dafür oder dagegen? Nebelgranaten!)


In Thüringen gibt es eine Große Koalition von CDU und
SPD. In Thüringen gibt es einen Koalitionsvertrag der
Koalitionspartner. In Thüringen gibt es ein Betreuungs-
geld. Jetzt kommt die Unverfrorenheit hoch drei: Aus
sozialdemokratischer Sicht ist es also eine Leistung, die
Sie selbst durch Koalitionsvertrag zur eigenen Regie-
rungspolitik gemacht haben und in einem Land wie Thü-
ringen mittragen. Aber wenn wir es einführen wollen,
soll es eine Katastrophe sein. Gleichzeitig sagen Ihre
Landesminister vor Ort – sie sind auch in Ihrem Kompe-
tenzteam –, dass die Einführung des Betreuungsgelds
auf Bundesebene das Betreuungsgeld in Thüringen er-
setzen würde und Thüringen dann das Betreuungsgeld
aufgeben könnte. Meine Damen und Herren, in welcher
Welt leben Sie eigentlich? Hier muss mehr Glaubwür-
digkeit in die Debatte hinein.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Lachen der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wir haben sehr, sehr viel Kraft investiert, um in die-
sem Gesetzentwurf das Maximum an besseren Bildungs-
chancen für unsere Kinder zu erreichen.


(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt wird es wirklich unglaubwürdig!)


Wir haben als FDP und in dieser Regierungskoalition
dem Betreuungsgeld einen zusätzlichen Bildungsstem-
pel aufgedrückt. Das ist wichtig. Der Gesetzentwurf zum
Betreuungsgeld ist mit der heutigen Einbringung der
Türöffner für ein Bildungssparen in der Bundesrepublik
Deutschland.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Thomas Oppermann [SPD]: Unsinn! Das kommt doch gar nicht durch! – Karin Binder [DIE LINKE]: Bildungssparen: Sie sparen an der Bildung! Genau!)


– Sie sollten sich eher an die eigene Nase fassen. Denn
zahlreiche Studien haben gezeigt, dass Deutschland ge-
rade beim Bildungssparen mit großem Abstand die rote
Laterne in Europa trägt. Wir wollen aus diesem Zustand
heraus.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das Gegenteil wollt ihr!)


Wir wollen mehr für Bildungsgerechtigkeit, frühkindli-
che Bildung und lebenslanges Lernen erreichen, und das
wird der Einstieg dafür. Deswegen ist es auch richtig und
gut, dass das Bundeswirtschaftsministerium ein entspre-
chendes Gutachten in Auftrag gegeben hat, damit wir in
der Bundesrepublik Deutschland eine breite Diskussion
über die richtigen Wege eines klugen und intelligenten
Sparens ein Leben lang führen können.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


3 600 Euro können innerhalb von 22 Monaten auf ein
Bildungskonto eingezahlt werden. Ganz wichtig ist – das
sollten wir an dieser Stelle deutlich hervorheben –: Für
jedes Kind, das in Deutschland in einer Familie auf-
wächst, die von Hartz IV leben muss, kann diese Bil-
dungsinvestition auf dem Bildungskonto angelegt wer-
den. Sagen Sie den 250 000 Kindern unter drei Jahren,
die in solchen Gemeinschaften leben, dass Sie nicht wol-
len, dass für sie ein Bildungskonto mit einem Guthaben
in Höhe von 3 600 Euro eingerichtet werden kann! Sie
sind die Partei der sozialen Ungerechtigkeit.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben
innerhalb der letzten drei Jahre eine große Investitions-
leistung in der Bildungs- und Familienpolitik hingelegt.
Wir haben den größten Investitionsbereich mit über
13,7 Milliarden Euro im Bereich Bildung und For-
schung. Diese Bundesregierung lässt sich von einem
ganz klaren Bild leiten: Es gibt keine Einheitskinder;
deswegen gibt es auch keine Einheitsfamilie. Wir wollen
dafür kämpfen, dass Bildungsvielfalt, Gestaltungsviel-
falt, gesellschaftliche Vielfalt in dieser Bundesrepublik
Deutschland Realität ist. Dafür kämpft diese Regierung
aus CDU, CSU und FDP. In der Bildungsgerechtigkeit
und mit den Bildungsaufstiegschancen, die wir innerhalb
dieser Jahre gewährt haben, hat die Regierung in diesen
drei Jahren mehr zustande gebracht als jede andere Vor-
gängerregierung.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Thomas Oppermann [SPD]: Das glauben Sie doch selber nicht! Sie sind selbstgefällig! – Sigmar Gabriel [SPD]: Mal gut, dass Sie nicht mehr in den Deutschen Bundestag kommen!)


Deswegen, sehr geehrter Herr Steinbrück: Sie haben
recht. Wir sollten hier im Deutschen Bundestag eine ge-
meinsame Linie am heutigen Vormittag finden. Stimmen
Sie einfach zu! Springen Sie über Ihren Schatten!


(Anhaltender Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720500800

Bevor ich der Kollegin Diana Golze für die Fraktion

Die Linke das Wort erteile, erhält der Kollege Heil die
Gelegenheit zu einer Kurzintervention.


(Beifall bei der SPD – Peer Steinbrück [SPD]: Das war ein Feigling da vorne! – Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Oh! – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Aufstehen, Herr Heil!)







(A) (C)



(D)(B)



Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1720500900

Sehr geehrter Herr Kollege Meinhardt, da Sie mich

persönlich angesprochen haben, aber nicht den Mut hat-
ten, eine Zwischenfrage zuzulassen,


(Beifall bei der SPD – Zurufe von der CDU/ CSU und der FDP: Oh!)


und da ich dem Handbuch des Deutschen Bundestages
gerade entnommen habe, dass Sie zumindest eines mit
mir gemeinsam haben – wir beide geben an, evangeli-
sche Christen zu sein –, möchte ich Sie an einen Satz er-
innern, der in der Bibel steht, nämlich: Du sollst nicht
falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.


(Beifall bei der SPD)


Wer mich hier anspricht – das haben Sie getan – und
ein Zitat, in dem ich von einem Quantensprung für junge
Eltern gesprochen habe und das ich auf den Krippenaus-
bau gemünzt habe, aus dem Zusammenhang reißt und
damit versucht, zu kaschieren, was er selbst hier heute
veranstaltet, der muss damit rechnen, dass wir das auf-
klären. Das versuche ich jetzt.

Wir haben niemals und wir hätten niemals die Hand
für ein solches Gesetz gehoben. Ein unverbindlicher
Prüfauftrag in der Begründung eines Gesetzes ist ein Un-
terschied zu dem, was Sie heute machen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist doch auffällig, Herr Kollege, dass Sie in einer
Gesetzesberatung wie der heutigen keinen einzigen Satz
zur Sinnhaftigkeit dieses unsinnigen Betreuungsgeldes
gesagt haben, sondern mit Nebelgranaten schmeißen, um
die Rückgratlosigkeit der FDP zu kaschieren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das ist das, was Sie eben gemacht haben in selbstgefälli-
ger Art und Weise.

Deshalb habe ich nur eine Frage – die können Sie ja
beantworten –: Was sagt es über das Rückgrat einer ehe-
mals stolzen FDP aus, wenn Ihre Jugendorganisation
sagt: „Stimmt jetzt ruhig zu, und wir schaffen es dann
nach der Wahl wieder ab“? Was ist denn das für ein
Brummkreisel? Warum versuchen Sie, jemanden wie
Frau Pieper, die den Mut hat, diesen Unsinn nicht mitzu-
machen, per Interview Ihres Generalsekretärs Döring
von der Ausübung des freien Mandats abzuhalten?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Warum haben Sie eigentlich nicht den Mut, Ihrem Ge-
wissen zu folgen und diesen Unsinn abzulehnen, der
auch verfassungswidrig ist?


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das ist das, was ich Ihnen sage.

Deshalb, lieber Kollege: Wenn Sie mich zitieren,
dann bitte korrekt! Ich sage es noch einmal: Der Krip-
penausbau ist ein Quantensprung, den wir gemeinsam
schaffen müssen. Er ist noch nicht erreicht. Aber diese
Fernhalteprämie, die Frauen vom Arbeitsmarkt und Kin-
der von der frühkindlichen Förderung fernhält, ist ein
Rückschritt. Das müssen andere Mehrheiten hier im
Haus wieder abschaffen, weil Sie es verbockt haben und
kein Rückgrat haben. Das ist die Wahrheit, Herr Kol-
lege!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720501000

Zur Erwiderung Kollege Meinhardt.


Patrick Meinhardt (FDP):
Rede ID: ID1720501100

Es ist immer gut, wenn man einen Blick in den Geset-

zestext wirft. Ich formuliere: in den Gesetzestext, nicht
in irgendeine Entscheidung, nicht in irgendeinen Antrag.
Im Gesetzestext, ich sage es ein weiteres Mal, steht:

Ab 2013 soll für diejenigen Eltern, die ihre Kinder
von ein bis drei Jahren nicht in Einrichtungen be-
treuen lassen wollen oder können, eine monatliche
Zahlung (zum Beispiel Betreuungsgeld) eingeführt
werden.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Welcher Paragraf ist das?)


Ende des Gesetzestextes.

Diesem Gesetzestext hat die SPD-Fraktion hier im
Deutschen Bundestag zugestimmt. Diesem Gesetzestext
haben Sie zugestimmt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Diesem Gesetzestext haben alle drei Herrschaften von
der SPD-Troika zugestimmt.

Wenn Sie schon auf einer korrekten Zitierweise beste-
hen: Sie haben damals zum Gesetzestext gesagt,


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Zum Krippenausbau!)


dieser Gesetzestext inklusive aller Bestandteile – denn
nur so kann man eine derartige Rede, wenn man zum
Gesetzestext ohne irgendeine Einschränkung spricht, in-
terpretieren – sei ein Quantensprung, der jungen Eltern
endlich wirkliche Wahlfreiheit ermöglicht.

Wenn Sie schon in der Art und Weise hier aufstehen
und agieren, dann ist meine herzliche Bitte von jeman-
dem mit theologischer Bildung zu jemandem mit theolo-
gischer Bildung, dass Sie wirklich bei den Inhalten und
den Kernaussagen Ihrer Worte bleiben. Ich erwarte von
Ihnen – wenn Sie „Quantensprung“ gesagt haben und es
damals so zitiert haben –: Dann stehen Sie hier auch
dazu! Von mir aus können Sie sich auch hier hinstellen
und sagen, Sie haben sich geirrt. Das können Sie jeder-
zeit. Das wäre ein ehrlicher Ansatz. Aber interpretieren
Sie nicht das um, was Sie vor vier Jahren im Hohen





Patrick Meinhardt


(A) (C)



(D)(B)


Haus verabschiedet haben. Sie können sich nicht aus
dieser Verantwortung stehlen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720501200

Nun erhält die Kollegin Diana Golze für die Fraktion

Die Linke das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Diana Golze (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720501300

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und

Kollegen! Herr Meinhardt, Sie haben in Ihrer Rede ge-
sagt: Es muss mehr Glaubwürdigkeit in die Debatte. –
Ich hätte mir gewünscht, Sie hätten damit angefangen.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Swen Schulz [Spandau] [SPD])


Ich kann Ihnen die Anträge zum Thema Betreuungs-
geld, die Sie als FDP-Fraktion, als Sie noch in der Oppo-
sition waren – was Sie bald, wenn überhaupt, wieder
sein werden –, vorgelegt haben, sehr gerne in Erinnerung
rufen. Auch in diesen Anträgen haben Sie behauptet, Sie
seien gegen das Betreuungsgeld. Heute wollen Sie etwas
anderes beschließen, im Gegenzug zur Verabschiedung
eines Gesetzes, das mit dem Betreuungsgeld nichts, aber
auch gar nichts zu tun hat. Es ist das Ergebnis eines Kuh-
handels im Koalitionsausschuss, der nur dem Zweck
diente, diese Regierung am Leben zu erhalten auf Kos-
ten von Kindern, auf Kosten von Frauen, auf Kosten von
Familien. Das möchte ich Ihnen gerne deutlich machen.

Wir haben bereits in dieser Debatte darüber gespro-
chen, welchen Einfluss dieses Betreuungsgeld auf den
weiteren Ausbau der Kindertagesbetreuung höchstwahr-
scheinlich haben wird. Wir haben die Erfahrungen aus
anderen Ländern – unter anderem den skandinavischen
Staaten, in denen es so etwas Ähnliches wie das Betreu-
ungsgeld gab –, dass dieses Betreuungsgeld einen erheb-
lichen negativen Einfluss auf das Angebot und die Nach-
frage von Kindertagesbetreuungsplätzen hatte. Das
Gerede von Wahlfreiheit kann ich einfach nicht mehr er-
tragen.


(Beifall bei der LINKEN)


Frau Bär, wenn Sie für sich in Anspruch nehmen:
„Wir müssen für die Gesamtbevölkerung sprechen“,
dann sage ich Ihnen noch einmal: Mehr als zwei Drittel
der Gesamtbevölkerung lehnen das Betreuungsgeld ab.
Sie lehnen es deshalb ab, weil das Gerede von Wahlfrei-
heit nur Gerede ist, solange die Kindertagesbetreuungs-
plätze und die Plätze bei Tagespflegepersonen nicht da
sind. Und sie sind nicht da.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das Statistische Bundesamt hat in dieser Woche die
Zahlen noch einmal vorgelegt. Mehr als 220 000 Plätze
fehlen noch. Der Rechtsanspruch auf einen Platz steht
auf tönernen Füßen, obwohl er im nächsten Jahr greifen
soll. Solange keine öffentlichen und qualitativ hochwer-

tigen Kindertagesbetreuungsplätze da sind, kann doch
nicht von einer Wahlfreiheit gesprochen werden. Sie
werden mit diesem Betreuungsgeld den Druck, diese
Plätze zu schaffen, herausnehmen, weil Sie den Eltern
diesen Rechtsanspruch billig abkaufen. Dem werden und
können wir nicht zustimmen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dieses Betreuungsgeld ist ein gleichstellungspoliti-
sches Katastrophenprogramm. Alle Staaten, die ein sol-
ches Betreuungsgeld hatten und die es im Übrigen wie-
der abgeschafft haben, belegen: Das Betreuungsgeld
verhindert in erster Linie die Erwerbstätigkeit von
Frauen. Es verschärft die ungleiche Entlohnung; denn
alle Länder, die ein solches Betreuungsgeld hatten, zei-
gen, dass es von Frauen mit einem höheren Bildungs-
grad und einem höheren Einkommen, das sie vor der Ge-
burt ihres Kindes hatten, nicht in Anspruch genommen
wird. Anders herum gesagt: Es wird von denen in An-
spruch genommen, die entweder vorher keinen Job hat-
ten oder einen hatten, der sehr schlecht bezahlt war. Die
schlecht bezahlten Jobs sind auch in Deutschland leider
immer noch diejenigen, die vor allem von Frauen ausge-
übt werden. Das heißt, diese Frauen werden aus dem Er-
werbsleben herausgedrängt, die Lohnungleichheit wird
verschärft, Einkommensunterschiede werden sich ver-
größern.

Die Frauen werden das Problem haben, dass sie nach
einer längeren Erwerbspause nicht wieder in einen guten
Job zurückkommen können. Sie werden auf Minijobs
abgeschoben. Minijobs bedeuten Minilohn, bedeuten
Minirente. Das ist alles abzusehen. Und Sie gehen diesen
Weg. Diesem Weg aber können wir nicht zustimmen und
werden ihn nicht mitgehen.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Jetzt machen Sie zu diesem Betreuungsgeldgesetz ein
Begleitgesetz, ein Ergänzungsgesetz, das uns heute in
erster Lesung vorliegt, in dem Sie den betroffenen
Frauen die Möglichkeit einräumen wollen, eine private
Rentenvorsorge zu treffen. Das Geld, das als Betreu-
ungsgeld gezahlt wird, soll angelegt werden können, um
auf diese Weise für die Alterssicherung vorzusorgen.
Das ist doch widersinnig. Sie haben genau diesen Frauen
– den erwerbslosen Frauen – im Jahr 2010 die Rentenan-
teile im Arbeitslosengeld II gestrichen. Und jetzt wollen
Sie ihnen das Betreuungsgeld schmackhaft machen für
eine private Altersvorsorge, die noch nicht einmal den
Anspruch erreichen wird, den Frau von der Leyen mit
ihrer komischen Zuschussrente – oder wie Sie jetzt sa-
gen: Lebensleistungsrente – einlösen will.

Das ist doch widersinnig. Diese Frauen sind arm, und
sie bleiben arm, und sie werden auch im Alter arm sein.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)






Diana Golze


(A) (C)



(D)(B)


Auch deshalb können wir diesem Gesetzentwurf nicht
zustimmen.

Ich möchte jetzt die Ministerin für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ansprechen, die sich in dieser De-
batte leider nicht zu Wort meldet; zumindest geht das so
aus der Redeliste hervor.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das ist doch die Normalität!)


Frau Ministerin, Sie sind nicht die Ministerin für Wahl-
geschenke an Bayern, Sie sind unter anderem die Minis-
terin für Frauen, für Familien und für deren Kinder.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht an Bayern, sondern an die CSU! Das ist ein Unterschied!)


Wenn aber dieses Gesetz Ihr Konzept darstellen soll für
eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, für
die bessere Gleichstellung der Geschlechter, für die
Existenzsicherung der Frauen auch im Alter, dann haben
Sie etwas grundsätzlich falsch verstanden und sind
falsch auf diesem Posten.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das Betreuungsgeld ist zudem ein Bildungsverhinde-
rungsinstrument und ein integrationspolitisches Armuts-
zeugnis.


(Caren Marks [SPD]: Ja!)


Nicht erst seit gestern ist in diesem Hause bekannt, dass
Kindertagesstätten mehr sind als nur Einrichtungen für
die Betreuung von Kindern. Vielmehr soll hier auch
frühkindliche Bildung stattfinden. Sprechen, Lesen,
Rechnen, Bewegung, motorische Fähigkeiten, soziale
Kompetenzen – all das lernen Kinder nicht von allein.
Dazu brauchen sie ihre Eltern, ja richtig. Dazu brauchen
sie aber auch ganz dringend andere gleichaltrige Kinder.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich bin selbst Mutter von zwei Kindern, und ich sage
Ihnen: Ja, auch ich habe für mich den Anspruch, meine
Kinder zu erziehen und zu bilden. Aber ich bin ehrlich
genug, zuzugeben, dass ich meinen Kindern beim besten
Willen nicht das bieten kann, was ihnen das Zusammen-
sein mit gleichaltrigen Kindern bieten kann und was ih-
nen eine qualifizierte, gut ausgestattete Kita bieten kann.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb kann ich einem Gesetz nicht zustimmen, das
Kindern das Zusammensein mit Gleichaltrigen und die
Förderung durch gut qualifizierte und gut bezahlte Kita-
erzieherinnen und -erzieher verwehrt.

Ich bekomme die Tagesbetreuung für meine Kinder
im Übrigen nicht geschenkt, das will ich hier noch ein-
mal ganz deutlich sagen. Es wird ja immer der Eindruck
erweckt, wir dürften das Geld nicht nur in die Kitas ste-

cken, sondern wir müssten auch den Eltern Geld geben,
die ihre Kinder eben nicht in die Kitas schicken.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Mannomann!)


Diese Kitas gibt es für die Eltern nicht umsonst. Es
gibt viele Kommunen, die sich sozial gestaffelte Kitabe-
treuungsgebühren nicht mehr leisten können. Da werden
horrende Beträge fällig. Ich bin gerne bereit, für eine
gute Kitabetreuung meiner Kinder gutes Geld zu zahlen.
Das Argument jedoch, ich bekäme hier etwas geschenkt,
ist doch einfach falsch. Einen Gegensatz herzuleiten und
zu sagen: „Ich darf nicht nur den einen Eltern etwas ge-
ben, sondern ich muss auch den anderen etwas geben“,
das ist deshalb an den Haaren herbeigezogen.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sie verteilen ungerechtfertigte Geschenke, die sich als
vergiftete Geschenke erweisen werden.

Wir haben in diesem Hause – Frau Ministerin
Schröder hat öfter einmal mit bunten Broschüren gewe-
delt – häufiger darüber gesprochen, wie wir es schaffen
können, Menschen mit Migrationshintergrund und ihre
Kinder besser in unsere Gesellschaft zu integrieren. Es
werden Modellprogramme aufgelegt, um genau dies zu
schaffen. Es wird Geld dafür ausgegeben, um Sprachför-
derung in den Kitas zu organisieren. Und nun wird dau-
erhaft noch mehr Geld angelegt, um die Kinder genau
von dieser Förderung fernzuhalten.

Herr Meinhardt, ich möchte mich an Sie wenden. Ich
habe im Kürschner, also im Handbuch des Deutschen
Bundestages, gelesen, dass Sie der bildungspolitische
Sprecher Ihrer Fraktion sind. Wenn das stimmt, kann ich
nur sagen: Ich kann es nicht verstehen, wie ein Bildungs-
politiker einem Gesetz zustimmen kann, das Kinder von
Bildung fernhält.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich kann es auch dann nicht verstehen, wenn über das
Ergänzungsgesetz irgendwann einmal das sogenannte
Bildungssparen kommen soll. Denn es ist ja noch nicht
festgeschrieben; es wird das Gesetz zum Gesetz zum Ge-
setz geben, wenn Sie überhaupt noch die Zeit dazu ha-
ben.


(Patrick Meinhardt [FDP]: Haben wir!)


Ich kann es nicht verstehen, dass Sie davon ausgehen,
dass mit einem Betrag von 3 630 Euro – es ist schade,
dass Sie mir nicht zuhören – die Bildung aller Kinder ge-
sichert wird. Sie wissen sehr genau, dass sich das Bil-
dungssparen nur dann für die Kinder auszahlen wird,
wenn es nicht nur auf den Zeitraum von zwei Jahren be-
schränkt ist, sondern fortgeführt wird. Aber woher sollen
denn die Familien, zum Beispiel die im Hartz-IV-Bezug,
das Geld nehmen, um nach Bezug des Betreuungsgeldes
dieses Konto weiter aufzufüllen?


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)






Diana Golze


(A) (C)



(D)(B)


Woher denn? Aus Ihrem ominösen Bildungs- und Teil-
habepaket, oder woher? Sie stellen sich da ein Armuts-
zeugnis aus. Sie sollten Ihren Titel des bildungspoliti-
schen Sprechers aufgeben; denn Sie haben in dieser
Beziehung versagt.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das Betreuungsgeld ist verfassungsrechtlich sehr um-
stritten. Viele haben angekündigt – auch meine Fraktion –,
dass sie dieses Gesetz anfechten werden. Ich hoffe, Herr
Steinbrück, dass es ein gemeinsames Agieren der Oppo-
sition in diese Richtung gibt. Ich war sehr enttäuscht,
dass Sie in Ihrer Rede hier gerade bei so einem wichti-
gen Thema eine Differenz aufmachen. Ich sage es hier
noch einmal ganz klar: Die gesamte Opposition des Bun-
destages ist gegen dieses Betreuungsgeld. Wir werden es
in Karlsruhe prüfen lassen und werden all denen, die die-
ses Betreuungsgeld ablehnen, auch in der nächsten Le-
gislatur eine Stimme geben. Wir werden die SPD sehr
genau beobachten und schauen, ob sie dieses Gesetz tat-
sächlich zurücknimmt oder nicht.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Arfst Wagner [Schleswig] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720501400

Das Wort erhält nun der Kollege Jürgen Trittin für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Jetzt kommt der Obermacho! – Gegenruf der Abg. Caren Marks [SPD]: Das sagt ja der Richtige! Ehrlich! – Gegenruf des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]: An ihn komme ich leider nicht ran!)



Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720501500

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will

mit einem Zitat beginnen:

Das Betreuungsgeld lehnen wir ab.

Es stammt von Professor Dr. Wolfgang Franz, Vorsitzen-
der des Sachverständigenrats der Bundesregierung. Be-
rufen wurde Herr Professor Franz von der Bundeskanz-
lerin, Frau Merkel. Meine Damen und Herren, es reicht
nicht, Sachverständige zu berufen. Man muss auch mal
auf sie hören, verdammt noch mal!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Es herrscht in Deutschland Fachkräftemangel. Was
tun Sie? Sie schaffen einen ökonomischen Anreiz, gut
ausgebildete Frauen vom Arbeitsmarkt fernzuhalten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Mädchen sind besser in der Schule.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Frauen haben die besseren Abschlüsse.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Die Merkel-Koalition will, dass diese Frauen zu Hause
bleiben.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie, Frau Merkel, wollen doch den Skandal fortsetzen:
Sie wollen, dass das begabtere Geschlecht weiterhin ein
Viertel weniger verdient als wir Männer. Das ist fatal.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Frau Bär, erzählen Sie uns nichts von „Wahlfreiheit“.
Bei 220 000 fehlenden Krippenplätzen gibt es keine
Wahlfreiheit. Sie kämpfen nicht für Wahlfreiheit; Sie
machen Wahlkampf für Bayern. Das ist der Punkt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Es mag ja mit dem Weltbild aus Wolfratshausen überein-
stimmen, wenn Frauen wieder einen Anreiz erhalten, zu
Hause bei Heim und Herd zu sitzen und den Job aufzu-
geben. Aber ich sage Ihnen: Wolfratshausen ist nicht die
Zukunft; das ist Vergangenheit. Deswegen können wir
mit dieser Gesellschaftspolitik die Zukunft nicht gestal-
ten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Diese Fernhalteprämie ist kinderfeindlich, sie ist frau-
enfeindlich, sie ist familienfeindlich, und sie ist wirt-
schaftsfeindlich. Für diesen Irrweg sollen wir alle bezah-
len: Die Wirtschaft soll auf Fachkräfte verzichten.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720501600

Herr Kollege Trittin, lassen Sie eine Zwischenfrage

der Kollegin Vogler zu?


Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720501700

Bitte.


Kathrin Vogler (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720501800

Herr Trittin, Sie haben mich und meine Geschlechts-

genossinnen unumwunden als das begabtere Geschlecht
bezeichnet. Ich wüsste sehr gerne, welchen Begabungs-
begriff Sie zugrunde legen und ob Sie Männer tatsäch-
lich für weniger lern- und bildungsfähig halten als
Frauen und Mädchen.


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/ CSU]: Das ist eine interessante Frage! – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist doch ein Kathrin Vogler Macho, der Trittin! Der übertrifft sogar noch Peer Steinbrück!)





(A) (C)


(D)(B)



Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720501900

Liebe Kollegin, der Empirie, die ich hier zitiert habe,

muss man sich stellen. Die Wahrheit ist, dass im statisti-
schen Durchschnitt junge Mädchen besser in der Schule
sind als Jungen, dass sie die besseren Schulabschlüsse
und auch die besseren Universitätsabschlüsse haben. Wir
leben in einer Gesellschaft, in der als Konsens gilt
– nicht nur bei der FDP –, dass sich Leistung lohnen soll.
Das Prinzip, dass sich Leistung lohnt, sollte sich auch im
Einkommen widerspiegeln.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Ich habe lediglich eine einfache Feststellung getrof-
fen: Diejenigen, die in den Schulen und Universitäten
bessere Leistungen bringen, gehen mit einem Gehalt
nach Hause, das bis zu einem Viertel niedriger ist als das
Gehalt derer, die einen schlechteren Abschluss haben.
Das ist ein Skandal, und das muss man beenden. Man
darf das nicht befördern, wie es die rechte Seite dieses
Hauses will.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir alle sollen für diesen Irrweg bezahlen, nur damit
Bayern nicht zum Swing State wird wie Nordrhein-
Westfalen, Rheinland-Pfalz und demnächst auch Nieder-
sachsen.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP)


Er ist teuer. Liebe Frau Merkel, Ihre Klientelpolitik vom
vergangenen Wochenende kostet uns im nächsten Jahr
3,8 Milliarden Euro und 2014 5,4 Milliarden Euro. Al-
lein die Herdprämie schlägt im Haushalt mit mindestens
1,2 Milliarden Euro zu Buche. Für den Ausbau der Krip-
penplätze hingegen planen Sie lediglich 770 Millionen
Euro ein. Das sind Ihre Prioritäten. Von wegen Wahlfrei-
heit: Sie dementieren sich selber!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Es ist ein Stück aus dem Tollhaus, wenn Sie, Frau
Bundeskanzlerin, uns das auch noch als Sparpolitik ver-
kaufen wollen. Stellen Sie sich doch einmal vor, der
spanische Premierminister würde 5,4 Milliarden Euro
rauswerfen! Würden Sie sagen: „Schön gespart, Herr
Rajoy“? Sie predigen dem Rest Europas Sparsamkeit,
schmeißen hier aber das Geld aus dem Fenster


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


und bedienen locker Ihre eigene Klientel. Beim Be-
treuungsgeld ist noch ein Schnäppchen für die Ver-
sicherungswirtschaft enthalten. Nebenher wird Herr
Ramsauer für die Zubetonierung der bayerischen Land-
schaft einmal eben mit weiteren 750 Millionen Euro aus-

gestattet, entnommen aus den Gebäudesanierungsmitteln
der KfW. Sie sorgen dafür, dass Straßen gebaut werden
und kürzen gleichzeitig die Mittel für den Klimaschutz.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720502000

Herr Kollege Trittin, darf die Kollegin Steinbach auch

eine Frage stellen?


Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720502100

Gerne.


Erika Steinbach-Hermann (Plos):
Rede ID: ID1720502200

Herr Trittin, ich möchte noch einmal auf das begab-

tere Geschlecht zurückkommen.

(Zurufe von Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD: Oh! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Okay! Das gilt nicht für alle!)



Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720502300

Das muss ja tief gesessen haben.


Erika Steinbach-Hermann (Plos):
Rede ID: ID1720502400

Ja, ganz bestimmt; das werden Sie gleich merken. –

Wie kommt es, dass dieses begabtere Geschlecht zu rot-
grüner Regierungszeit nicht den Vizekanzler seitens der
Grünen gestellt hat?


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Ist das albern! Ist das schlecht!)



Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720502500

Liebe Frau Steinbach, weil der Vizekanzler damals

Joschka Fischer hieß und bekanntermaßen ein Mann
war.


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich weiß, dass Sie das persönlich besonders umgetrieben
hat. Ich glaube aber, das lag nicht daran, dass Joschka
ein Mann war, sondern daran, dass Sie mit der politi-
schen Haltung von Joschka Fischer nicht klarkommen.
Aber so hatte der Wähler, die Wählerin nun einmal ent-
schieden.

Sie sehen an meiner Fraktion, wie eine Frauenquote
funktionieren kann. Wir würden Ihnen für Ihre Fraktion
gerne Gleiches anraten; aber davon sind Sie noch weit
entfernt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720502600

Herr Kollege Trittin, vielleicht können wir uns darauf

verständigen, dass es einzelne Männer gibt, die das
durchschnittliche Begabungsprofil von Frauen errei-
chen?


(Heiterkeit und Beifall im ganzen Hause)







(A) (C)



(D)(B)



Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720502700

Herr Präsident, wenn Sie das sagen, dann will ich das

Ihnen ausdrücklich konzedieren.


(Heiterkeit)


Meine Damen und Herren, es ist interessant, wie Sie
das finanzieren. Die Sanierung des Haushaltes finanzie-
ren Sie nämlich aus den Kassen der Krankenversiche-
rungen. Ich sage Ihnen: Es ist schon ein eigentümliches
Verständnis von Solidarität, wenn künftig für den Sozial-
ausgleich nur noch die sozialversicherungspflichtig Be-
schäftigten herhalten müssen, weil Beamte und Selbst-
ständige in diesem Fall aus der Solidarität entlassen
werden. Das haben Sie einmal anders versprochen. Ich
sage Ihnen, was hier passiert: Sie lassen die Klientelge-
schenke, die Sie aus Steuermitteln verteilen, von den So-
zialversicherten bezahlen.


(Daniel Bahr, Bundesminister: Praxisgebühr!)


– Lieber Herr Kollege Bahr, Sie rufen „Praxisgebühr“
dazwischen. Wenn wir die Überschüsse aus den gesetzli-
chen Krankenversicherungen nehmen würden, dann
könnten wir nicht nur die Praxisgebühr senken, sondern
auch die Beiträge. Sie aber haben genau diese Über-
schüsse für den Sozialausgleich verwendet, der immer
aus Steuermitteln bezahlt werden sollte. Das ist Ihre
Form von Politik. Sie reduzieren Solidarität auf die Be-
schäftigten und beziehen sie nicht auf die Bürgerinnen
und Bürger in diesem Land.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, der Abgrund, der sich in
dieser Koalition auftut, zeigt sich an einer anderen
Stelle, nämlich an der sogenannten Lebensleistungs-
rente. Dieses Wort muss man sich auf der Zunge zerge-
hen lassen. Was ist Ihnen die Lebensleistung eines Men-
schen wert, der vierzig Jahre lang hart gearbeitet hat? –
In Beträgen ausgedrückt, ist diese Leistung Frau Merkel
und Frau von der Leyen 10 Euro wert. Wissen Sie, wo-
ran mich das erinnert? Das erinnert mich an das 19. Jahr-
hundert. Damals schenkte der Patriarch seinem Vorarbei-
ter in der Firma nach vierzig Jahren eine Uhr. Er war
aber nicht ganz so schlimm wie Sie. Sie haben noch ei-
nen Begriff erfunden; er lautet: Lebensleistungsrente.
Diese Form von Sozialzynismus geht in diesem Land
nicht mehr. Damit muss Schluss sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720502800

Nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion ist der

Kollege Markus Grübel.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Jetzt versaut einer wieder den männlichen Schnitt!)



Markus Grübel (CDU):
Rede ID: ID1720502900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

habe in meiner zehnjährigen Abgeordnetenzeit selten

eine so ideologische Debatte erlebt wie zum Betreuungs-
geld. Von der Opposition wird kräftig schwarz-weiß ge-
malt.


(Caren Marks [SPD]: Schwarz-gelb!)


Den Vorwurf der Opposition könnte man so zusammen-
fassen: Eltern schaden ihren Kindern. Und dieser Vor-
wurf ist Unsinn.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Caren Marks [SPD]: Das hat kein Mensch gesagt!)


Sie sagen: Nur wer mit einem Jahr in einer Kinder-
krippe ist, hat Chancen im Leben. Das ist falsch. Beim
Betreuungsgeld geht es um Ein- und Zweijährige, also
um ganz kleine Kinder. Es geht nicht um Kindergarten-
kinder. Vielfach unterstützen die Großeltern die Mütter
und Väter bei der Betreuung ihrer Kinder. Die Argu-
mente, die Sie gegen die Betreuung zu Hause bringen,
beleidigen nicht nur die Eltern, sondern auch die Großel-
tern.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der CDU/CSU: Das ist wahr! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Können Sie sich vorstellen, dass wir auch Eltern sind?)


Sie wollen entscheiden, was gut und was schlecht für
Familien ist. Das wissen die Familien aber selbst viel
besser. Darum wollen wir die Wahlfreiheit stärken. Wir
ermöglichen die Wahlfreiheit durch das Betreuungsgeld
und den massiven Ausbau der Kinderbetreuung. Beim
Betreuungsgeld geht es nicht um Leben und Tod, auch
wenn in dieser Debatte manche den Eindruck erwecken.

Sie von der SPD haben 2007/2008 dem Betreuungs-
geld zugestimmt.


(Thomas Oppermann [SPD]: Nein! – Peer Steinbrück [SPD]: Legende! – Caren Marks [SPD]: Das klären wir gleich!)


Sie haben dem in der Großen Koalition zugestimmt. Wir
haben damals in § 16 Abs. 5 SGB VIII – Kinder- und Ju-
gendhilfe – geschrieben – Sie haben ja alle moderne Ge-
räte; lesen Sie es einmal nach –,


(Thomas Oppermann [SPD]: Dann brauchten wir doch heute gar nicht mehr zu beschließen! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Dann müssten wir heute kein Gesetz machen!)


dass ab 2013 „für diejenigen Eltern, die ihre Kinder von
ein bis drei Jahren nicht in Einrichtungen betreuen lassen

(zum Beispiel Betreuungsgeld)



(Thomas Oppermann [SPD]: Das war eine salvatorische Klausel für die CSU!)


Auch wenn Sie das heute nicht mehr wahrhaben wollen:
Die meisten, die hier sitzen, haben dem damals zuge-
stimmt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Thomas Oppermann [SPD]: Nur für die CSU!)






Markus Grübel


(A) (C)



(D)(B)


Sie, Herr Steinbrück, haben das damals als vernünfti-
gen Kompromiss bezeichnet. Ein wörtliches Zitat – Herr
Steinbrück am 28. Februar 2008 –:

Ich freue mich, dass wir gemeinsam diesen ver-
nünftigen Kompromiss gefunden haben.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Zum Krippenausbau!)


Heute nennen Sie Kompromisse Kuhhandel und das Be-
treuungsgeld frauenfeindlich. Erinnern Sie sich an Ihre
frühere Meinung!


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Das ist unredlich! Unredlich ist das!)


Ich sage Ihnen: Sie sollten das Betreuungsgeld hier
nicht verteufeln. Sie haben diesen Kompromiss selbst
schon einmal geschlossen. Sie haben mit dafür gesorgt,
dass das ins Gesetz geschrieben wird, und das als guten
Kompromiss bezeichnet. Das war, zugegeben, nicht Ihr
Herzensanliegen; aber Sie haben es mitgetragen und als
guten Kompromiss bezeichnet.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Prüfauftrag! Kein Gesetz!)


Es gibt eine Parallele zwischen der sozialen Pflege-
versicherung und dem Betreuungsgeld. Auch in der Pfle-
geversicherung gibt es Geldleistungen und Sachleistun-
gen, die Pflege zu Hause und die Pflege im Pflegeheim.
Bei der Pflege zu Hause spricht überhaupt niemand da-
von, dass die Geldleistung eine Herdprämie oder Fern-
halteprämie sei.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Bei der Pflege zu Hause spricht auch niemand davon,
dass die Eltern schlecht gepflegt werden, weil sie zu
Hause gepflegt werden und nicht im Pflegeheim.


(Beifall bei der CDU/CSU – Thomas Oppermann [SPD]: Das ist doch völlig absurd! Der Vergleich ist total daneben!)


Dass wir die Pflege zu Hause fördern, zeigt, dass wir uns
das richtige Gefühl dafür bewahrt haben, wie wichtig
und gut die Betreuung durch die Familie ist. Die Wahl-
freiheit in Sachen Pflege ist gut und richtig, und die
Wahlfreiheit in Sachen Betreuung ist auch gut und rich-
tig. Darum werden wir sie ermöglichen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Pascal Kober [FDP])


Der Staat darf kein Betreuungsmodell bevorzugen. Er
darf nicht einseitig die U-3-Betreuung ausbauen; er muss
auch andere Lebensentwürfe der Eltern unterstützen.


(Diana Golze [DIE LINKE]: Deshalb rechnen Sie es auch auf Hartz IV an!)


Es darf nicht das Privileg reicher Eltern sein, ihre Kinder
selbst betreuen zu können. Das müssen sich auch Eltern
mit geringerem Einkommen leisten können.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Pascal Kober [FDP] – Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Sehr gut!)


Wir haben den vorliegenden Gesetzentwurf in wichti-
gen Punkten geändert. So haben wir klargestellt, dass El-
tern-Kind-Gruppen, Krabbelgruppen und Ähnliches
keine regulären Betreuungsplätze im Sinne des Gesetzes
sind und der Besuch solcher Gruppen daher für den Be-
zug des Betreuungsgeldes unschädlich ist.

Ferner haben wir die Härtefallklausel massiv erwei-
tert: Bei schwerer Krankheit oder schwerer Behinderung
sind Leistungen von 20 Wochenstunden im Durchschnitt
des Monats für den Bezug des Betreuungsgelds unschäd-
lich. Man kann in einer Woche also auch einmal 30 oder
40 Stunden Kinderbetreuung in Anspruch nehmen, wenn
sich das im Monatsdurchschnitt ausgleicht. Das ent-
spricht der Lebenswirklichkeit. In Sondersituationen
brauchen die Eltern Unterstützung, zum Beispiel durch
einen Betreuungsplatz.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP])


Wir schaffen ein Wahlrecht. Neben der Barleistung
sind die Vorsorge für das Alter – ein Bonus von 15 Euro
– und das Bildungssparen – Vorsorge für die Ausbildung
der Kinder – möglich. Da kommen 3 630 Euro zusam-
men. Dieses Geld können die Eltern gut gebrauchen,
wenn die Kinder in Sachen Bildung Förderung benöti-
gen. Die Rentenleistung und das Bildungssparen können
auch Hartz-IV-Empfänger anrechnungsfrei in Anspruch
nehmen und so Vorsorge für das Alter oder die Ausbil-
dung der Kinder treffen.


(Beifall der Abg. Ingrid Fischbach [CDU/ CSU])


Diesen Gesetzentwurf bringen wir heute ebenfalls ein.

Wir haben bereits viel getan, und wir tun noch mehr.
Wir haben gemeinsam mit Ihnen den Rechtsanspruch
zum 1. August 2013 eingeführt. Heute führen wir das
Betreuungsgeld zum 1. August 2013 ein. Wir haben die
Anzahl der U-3-Betreuungsplätze massiv erhöht. Noch
nie hat eine Regierung für die Betreuung der unter Drei-
jährigen so viel gemacht. Wir haben 4 Milliarden Euro
dafür gegeben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wir fördern 30 000 weitere Betreuungsplätze mit
580 Millionen Euro.

Schließlich beteiligen wir uns künftig an den Be-
triebskosten mit einem Bundeszuschuss von 845 Millio-
nen Euro.

Wir haben also viel getan. Erfreulich ist übrigens,
dass die Länder dem Kompromiss mittlerweile zuge-
stimmt haben und dass der Vermittlungsausschuss nicht
angerufen wird. Es ist eine wichtige Information für die
Gemeinden, dass es mit dem Ausbau der Kinderbetreu-
ung weitergeht.





Markus Grübel


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wir haben in der vergangenen Woche die entsprechen-
den Zahlen vom Statistischen Bundesamt bekommen.
Danach fehlen bundesweit noch 220 000 Betreuungs-
plätze; das besagen die Zahlen vom März dieses Jahres.
Seither hat sich viel verändert. Es gibt aber noch viel zu
tun.

Bemerkenswert ist, dass die von den Ländern gemel-
deten Zahlen mit den Zahlen vom Statistischen Bundes-
amt nicht in Einklang zu bringen sind. Das rot-grüne
Nordrhein-Westfalen, Herr Steinbrück, ist nicht nur
Schlusslicht aller Flächenländer, was die Deckung an-
geht,


(Peer Steinbrück [SPD]: Aus schwarz-gelber Zeit! Entschuldigen Sie bitte! Wir reden über die Betreuung von unter Dreijährigen!)


sondern hat falsche Zahlen in einer Größenordnung von
30 000 gemeldet. Da muss man wirklich politische Mo-
tive unterstellen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Herr Steinbrück, das rot-grüne NRW sollte sich einmal
an Bayern ein Beispiel nehmen.


(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, bitte nicht!)


Bayern hat nicht nur gute Zahlen; es meldet auch die
richtigen Zahlen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Herr Steinbrück, als Sie das Land Nordrhein-Westfa-
len als Ministerpräsident verlassen haben, da lag die
Zahl der Betreuungsplätze für unter Dreijährige bei
4 Prozent. Das zu ändern, war überhaupt kein Anliegen
von Ihnen. Ihre Neigung für Familienpolitik haben Sie
erst vor einigen Tagen entdeckt, und zwar erst, seitdem
Sie Bundeskanzlerkandidat sind.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich fasse zusammen, sehr geehrte Damen und Herren:
Wir ermöglichen die Wahlfreiheit durch den massiven
Ausbau der Kinderbetreuung und durch das Betreuungs-
geld.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720503000

Nächste Rednerin ist die Kollegin Caren Marks für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Caren Marks (SPD):
Rede ID: ID1720503100

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Vorab erst
einmal: Herr Grübel und auch andere haben immer wie-
der versucht, hier Legendenbildung zu betreiben. Damit

möchte ich aufräumen. Im KiföG, von der Großen Koali-
tion beschlossen, hat es nicht mehr als eine unverbindli-
che salvatorische Klausel gegeben, ein Zückerchen für
die CSU, die die Notwendigkeit des Krippenausbaus
nicht anerkennen wollte. Das hatte keinen Rechtsfolge-
charakter. Das ist damals deutlich geworden in den Äu-
ßerungen aller SPD-Abgeordneten, der gesamten SPD-
Bundestagsfraktion, aber zum Beispiel auch der damali-
gen Familienministerin Frau von der Leyen, die zum Be-
treuungsgeld klar Nein gesagt hat.


(Beifall bei der SPD)


Herr Grübel, wenn wir das Betreuungsgeld damals in
der Großen Koalition wirklich beschlossen hätten, wa-
rum streiten Sie sich dann seit drei Jahren in der
schwarz-gelben Koalition darüber?


(Peer Steinbrück [SPD]: Genau!)


Warum haben Sie es nötig gehabt, einen Gesetzentwurf
in erster Lesung zum unsinnigsten Projekt aller Zeiten,
zum Betreuungsgeld, einzubringen? Warum versuchen
Sie, bei der heutigen Abstimmung mit disziplinarischen
Maßnahmen eine schwarz-gelbe Mehrheit zustande zu
bringen? Wir werden noch sehen, ob das überhaupt
klappt. Aber, wie gesagt: Wenn das Betreuungsgeld zu
Zeiten der Großen Koalition beschlossen worden wäre,
müsste es heute keine Abstimmung mehr geben. Das ist
Fakt.


(Beifall bei der SPD)


Nach monatelangem Streit peitschen Sie diese Woche
– Sie, die schwarz-gelbe Koalition, die Bundesregie-
rung; Frau Schröder scheint es ja nicht mehr nötig zu ha-
ben, sich zu irgendwelchen Projekten zu äußern –


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist vielleicht auch besser!)


– ist auch besser; das stimmt – den Gesetzentwurf im
wahrsten Sinne des Wortes im Schweinsgalopp durch
die Gremien. Diese Eile, meine Damen und Herren von
Schwarz-Gelb, ist sachlich in wirklich keiner Weise be-
gründet. Das Gesetz soll ja erst in zehn Monaten in Kraft
treten.


(Markus Grübel [CDU/CSU]: Dieses Gesetz haben wir doch weiß Gott lange genug diskutiert!)


Geht es Ihnen nur darum, dieses für die Koalition hoch-
explosive Thema schnell vom Tisch zu bekommen? Ich
garantiere Ihnen – auch wenn Sie es sich anders wün-
schen –: Das Thema Betreuungsgeld wird mit der heuti-
gen Abstimmung definitiv nicht vom Tisch sein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Bis heute haben Sie die Befürchtungen und fachli-
chen Einwendungen nicht ausräumen können, die viele
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Fachver-
bände, Kommunen, auch vier ehemalige Familienminis-





Caren Marks


(A) (C)



(D)(B)


terinnen, davon zwei von der CDU, in Bezug auf das Be-
treuungsgeld äußern. Ich möchte aus dem Appell der
vier ehemaligen Bundesfamilienministerinnen Lehr,
Süssmuth – beide CDU –, Bergmann und Schmidt aus
diesem Sommer zitieren:

Das geplante Betreuungsgeld für Kleinkinder, die
nicht in öffentlichen Einrichtungen betreut werden,
würde die bisherige Strategie konterkarieren, statt-
dessen alte Fehler erneuern und Fehlanreize ver-
stärken, anstatt Defizite zu reduzieren. Das Betreu-
ungsgeld verbessert die soziale Lage der Frauen
nicht und schadet Kindern, die Betreuung und Bil-
dungsförderung besonders nötig hätten.

Ich sage Ihnen nur: Würden Sie doch auf Ihre ehemali-
gen Familienministerinnen hören!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Diana Golze [DIE LINKE])


Partei- und fachübergreifend wird dieser schwarz-gel-
ben Bundesregierung ins Stammbuch geschrieben, dass
das Betreuungsgeld einer modernen Familien-, Bil-
dungs- und Gleichstellungspolitik widerspricht. Nennen
Sie mir nur einen namhaften Wissenschaftler oder eine
namhafte Wissenschaftlerin, der oder die klar sagt: Das
Betreuungsgeld ist eine notwendige familienpolitische
Leistung. – Ich sage Ihnen: Sie werden keinen finden.


(Beifall bei der SPD – Volker Kauder [CDU/ CSU]: Doch, doch!)


Meine Damen und Herren von der Regierungskoali-
tion, bitte erklären Sie der Öffentlichkeit doch einmal,
wie es sein kann, dass am 1. August 2013 ein Rechts-
anspruch für Kinder unter drei Jahren auf einen Krip-
penplatz in Kraft tritt, gleichzeitig nun aber auch eine
Regelung, die genau dies konterkariert. Denn das Be-
treuungsgeld ist nichts anderes als ein Anreiz, von
diesem Rechtsanspruch nicht Gebrauch zu machen.
Fachorganisationen nennen diese Kuriosität eine „Fern-
halteprämie von Kitas, die das Betreuungssystem belei-
digt, das die Bundesregierung gleichzeitig ausbauen
will“. So sieht es aus.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: So ein Unsinn! So schlecht kann das alles doch gar nicht sein, wie Sie es jetzt hinstellen!)


Das Betreuungsgeld ist mit dem heutigen Tage auch
deshalb nicht vom Tisch, weil eine überwiegende Mehr-
heit der Menschen genau diese Absurdität durchschaut.
Alle Oppositionsfraktionen im Deutschen Bundestag
fordern in ihren Anträgen, auf die Einführung des Be-
treuungsgeldes zu verzichten und stattdessen den Krip-
penausbau voranzubringen. Familien erwarten zu Recht,
dass beim Ausbau der frühkindlichen Bildung Kurs ge-
halten wird. Sie erwarten zu Recht, dass die frühkindli-
che Bildung weiter ausgebaut wird, das Personal stärker
qualifiziert wird und zusätzliches Fachpersonal gewon-
nen wird. Doch von diesem Kurs sind Sie, Schwarz-
Gelb, meilenweit entfernt. Die von der Bundeskanzlerin

einst ausgerufene Bildungsrepublik ist nichts, aber auch
wirklich nichts mehr wert.


(Beifall bei der SPD)


Wie absurd die ganze Debatte ist, zeigt das von der
CSU immer wieder vorgetragene Argument, das Betreu-
ungsgeld diene der Anerkennung der Erziehungsleistung
der Eltern. Erstens erziehen auch Eltern, deren Kinder
eine Krippe besuchen, ihre Kinder.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zweitens – ich schaue zu Herrn Geis – trifft genau dieses
Argument auf diesen Gesetzentwurf nicht zu; denn die
Zahlung des Betreuungsgeldes soll an die Bedingung ge-
knüpft werden, dass ein Kind keine öffentlich geförderte
Kita besucht. Andere Betreuungsformen – nicht nur die
Betreuung zu Hause, sondern auch die durch ein Au-
pair-Mädchen, ein Kindermädchen oder in einer privat
finanzierten Krippe – sind mit Ihrem Betreuungsgeld
vereinbar.


(Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha! – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Qualitätskriterien und Kriterien des Kinderschutzes spie-
len in Ihrem Gesetzentwurf keine Rolle. Alles ausge-
räumt!


(Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eben, genau!)


Lassen Sie mich noch wenige Worte zum Betreuungs-
geldergänzungsgesetz sagen, das Sie heute in erster Le-
sung einbringen. Das, was Sie uns als Einstieg in das
Bildungssparen präsentieren, Herr Meinhardt, ist nichts
anderes als der Ausstieg aus einer gerechten Bildungs-
politik. Aber von der FDP kann man ja definitiv nichts
anderes erwarten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Diana Golze [DIE LINKE])


Dieses Argument ist genauso absurd, Herr Meinhardt,
wie das Betreuungsgeld an sich; denn anstatt durch gute
Kitas und Schulen eine bessere Bildung für alle zu er-
möglichen, greifen Sie nun denjenigen unter die Arme,
die viel Geld haben und es nicht wirklich brauchen.


(Patrick Meinhardt [FDP]: Aha! Die Hartz-IVBezieher brauchen das also nicht? Das ist ja unglaublich!)


– Die bekommen es doch gar nicht.


(Patrick Meinhardt [FDP]: Lesen Sie mal den Gesetzestext!)


Meine Damen und Herren, ich wünsche mir, dass die
Kritikerinnen und Kritiker in den Reihen der Regie-
rungskoalition bei der namentlichen Abstimmung bei ih-
rem Nein bleiben. Die Mehrheit der Bürgerinnen und
Bürger, der Familien wird es Ihnen danken.

Herzlichen Dank.





Caren Marks


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720503200

Pascal Kober ist der nächste Redner für die FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1720503300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, Sie
können sich ja hier in der Debatte gerne auf den Kopf
stellen, mit den Beinen wackeln und Hurra schreien;


(Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das machen doch Sie schon!)


aber, lieber Herr Trittin, eines muss sich diese Regie-
rungskoalition aus CDU/CSU und FDP von Ihnen nicht
vorwerfen lassen: Sozialzynismus. So haben Sie es ge-
nannt. Diese Regierungskoalition ist in allen Politikbe-
reichen besser, als Sie es sein könnten, und hat gerade im
Bereich der Kinder mehr getan als Sie in Ihren sieben
Jahren Regierungszeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir waren es – nicht Sie –, denen es gelungen ist,
dass das Risiko für Kleinkinder in Deutschland, in Ar-
mut aufzuwachsen, rückläufig ist.


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Klar! Das waren Sie?)


Wir waren es – nicht Sie –, die die Familien mit kleinen
und mittleren Einkommen um 4,2 Milliarden Euro ent-
lastet haben.


(Zuruf von der FDP: Richtig!)


Wir waren es – nicht Sie –, die das Kindergeld erhöht ha-
ben. Wir waren es – nicht Sie –, die die Vorbehaltserklä-
rung zur UN-Kinderrechtskonvention zurückgenommen
haben.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Das ist doch Quatsch!)


Wir waren es – nicht Sie –, die den Lebensraum für Kin-
der in unserer Gesellschaft faktisch vergrößert haben, in-
dem wir per Gesetz klargestellt haben, dass Kinderlärm
kein schädlicher Umwelteinfluss ist.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir waren es – nicht Sie –, die das Prinzip „Löschen
statt Sperren“ im Internet durchgesetzt haben und so er-
reicht haben, dass nicht nur der Zugang zu kinderporno-
grafischen Seiten erschwert ist, sondern dass diese men-
schenverachtenden Bilder im Internet gelöscht werden
und so die Persönlichkeitsrechte der Kinder gestärkt
werden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Sagen Sie doch einmal etwas zum Betreuungsgeld!)


Wir waren es – nicht Sie –, die die Meldepflichten für
Kinder ohne Aufenthaltsstatus so verändert und gelo-
ckert haben, dass ihnen in Zukunft auch ein Kindergar-
ten- und Schulbesuch möglich ist.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir waren es – nicht Sie –, die einen Straftatbestand
für Zwangsheirat eingeführt haben, um gerade auch
Minderjährige zu schützen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt reicht es aber!)


Wir waren es – nicht Sie –, die die Rechte der Opfer in
Ermittlungs- und Strafverfahren gestärkt haben, was ge-
rade Kindern zugute kommt, weil belastende Mehrfach-
vernehmungen in Zukunft nicht mehr nötig sind.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Tagesordnung! – Weitere Zurufe von der SPD: Betreuungsgeld!)


Wir waren es – nicht Sie –, die die Chancen auf ge-
sellschaftliche Teilhabe für Kinder durch das Bildungs-
und Teilhabepaket erhöht haben.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dagmar Ziegler [SPD]: Lüge!)


Wir waren es – nicht Sie –, die die finanziellen Mittel zur
Bildungsförderung für Kinder mit dem Bildungs- und
Teilhabepaket zur Verfügung gestellt haben und gleich-
zeitig den Weg der Haushaltskonsolidierung nicht ver-
lassen haben.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Was?)


Wir waren es – nicht Sie –, die eine kluge Arbeitsmarkt-,
Wirtschafts- und Finanzpolitik gemacht haben


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr gut!)


und so das wirtschaftliche Wachstum unterstützt haben,
sodass viele Menschen, so viele wie seit Jahrzehnten
nicht mehr, in diesem Land eine Arbeit haben, was be-
deutet, dass auch viele Eltern eine Arbeit haben.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Katja Mast [SPD]: Betreuungsgeld! – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir waren es, …!)


Wir waren es – nicht Sie –, denen es gelungen ist,


(Katja Mast [SPD]: Betreuungsgeld!)


dass so wenige Menschen wie noch nie seit Beginn der
statistischen Aufzeichnungen von Transferleistungen in
unserem Land leben müssen.





Pascal Kober


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Katja Mast [SPD]: Betreuungsgeld!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, das zeigt, dass diese
Regierungskoalition arbeitsfähig ist,


(Lachen bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Caren Marks [SPD]: Das zieht die Männer jetzt aber ganz weit runter!)


dass diese Regierungskoalition Verantwortung über-
nimmt, dass diese Regierungskoalition, gerade wenn es
um Kinder geht, eine verantwortliche Politik macht und
die Lebenssituation der Kinder in diesem Land wirklich
verbessert.


(Caren Marks [SPD]: In der FDP scheint nicht nur der Lindner zu kiffen!)


Diese Regierungskoalition steht zusammen und macht
eine gute Regierungspolitik. Wir werden dafür sorgen,
dass Sie noch mehrere Jahre von der Oppositionsbank
aus zusehen werden. So können Sie von uns etwas ler-
nen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720503400

Herr Kollege Kober, lassen Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Kekeritz zu?


Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1720503500

Nein. – Eine persönliche Anmerkung: Dies war in

dieser Legislaturperiode meine 100. Rede im Deutschen
Bundestag. Lieber Herr Steinbrück, es freut mich, dass
ausgerechnet Sie dabei anwesend waren.

Vielen Dank.


(Heiterkeit und Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720503600

Die Kollegin Deligöz hat nun das Wort für die Frak-

tion Bündnis 90/Die Grünen.


Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720503700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Kober, die Frage ist doch nicht, was Sie alles gelo-
ckert haben, sondern warum Sie das eigentlich haben lo-
ckern müssen: weil Sie die Restriktionen in diesem Land
erst eingeführt haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Vorgestern im Ausschuss hat ein Kollege von der
FDP gesagt: Wenn die FDP in der letzten Wahlperiode in
der Regierung gewesen wäre, hätte es diesen Gesetzent-
wurf nicht gegeben. – Ihre eigene Jugendorganisation,
die Julis, sagt: Wenn die FDP in der nächsten Wahlpe-
riode in der Regierung ist, wird sie dieses Gesetz wieder
abschaffen. – Falls Sie das noch nicht mitbekommen ha-
ben: Sie regieren jetzt, in der Gegenwart. Stimmen Sie

doch einfach dagegen! Übernehmen Sie Verantwortung!
Sie haben jetzt die Gelegenheit dazu.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das Betreuungsgeld ist bildungspolitisch und gleich-
stellungspolitisch wie frauenpolitisch total fatal. Sie wis-
sen das. Die Erfahrungen aus Norwegen zeigen das, die
Erfahrungen aus Finnland zeigen das, die Erfahrungen
aus Thüringen zeigen das. Nicht nur ein- oder zweijäh-
rige Kinder bleiben zu Hause, auch drei- oder vierjährige
Kinder werden zu Hause gehalten. Sie vernichten die
Chancengerechtigkeit. Sie nehmen den Kindern ihre
Teilhabechancen. Das müssen Sie doch einsehen!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wer nimmt das Betreuungsgeld denn in Anspruch?
Das sind vorwiegend Familien mit einem niedrigen Ein-
kommen, Familien mit einem geringen Bildungsniveau.
Die Kinder aus diesen Familien sind aber genau die Kin-
der, die Förderung brauchen, auch Sprachförderung. Sie
nehmen diesen Kindern ihre Chancen, Sie nehmen ihnen
damit ihre Zukunft in diesem Land. Wie können Sie da-
bei ein gutes Gewissen haben?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Armut in Deutschland, liebe Kolleginnen und
Kollegen, ist vor allem jung und weiblich: 40 Prozent
der Alleinerziehenden leben von ALG II. Sie würden
gerne arbeiten, wissen aber nicht, wie. Wenn der Kinder-
garten um 12.30 Uhr schließt, bekommt man nicht ein-
mal einen Halbtagsjob. Das ist das eigentliche Problem.

Mit dem Geld, das jetzt als Betreuungsgeld ausge-
zahlt werden soll, könnten in Deutschland 6 000 Voll-
zeitstellen für Erzieherinnen geschaffen werden, ein-
schließlich 13. Monatsgehalt. Erzieherinnen braucht
dieses Land, nicht irgendwelche komischen Geldge-
schenke.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Sie reden von Wahlfreiheit. In diesem Land werden
für Familienleistungen 180 Milliarden Euro ausgegeben,
vier Fünftel davon sind Geldleistungen. Weniger als ein
Fünftel wird in die Infrastruktur investiert. Wie kommen
Sie eigentlich darauf, dass dieses Geld keine Anerken-
nung der Elternleistungen ist? Wie kommen Sie über-
haupt darauf, dass bei dem bisschen Geld, das in die Inf-
rastruktur investiert wird, Wahlfreiheit in diesem Land
gewährleistet ist? Wie können Sie die Realität, dass El-
tern, die eine Betreuung für ihr Kind suchen, auf zig
Wartelisten stehen, ignorieren? Das ist nicht nur Igno-
ranz, das ist Vogel-Strauß-Politik: sich wegducken und
die Realität nicht anerkennen wollen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt ein anderes
Bayern: ein weltoffenes Bayern, ein tolerantes Bayern.





Ekin Deligöz


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall der Abg. Claudia Roth Ein bayerisches Mitglied dieses Hauses sagt Ihnen: Es gibt auch ein ideologiefreies Bayern. Die Zeit für Ideologie ist vorbei. Im Namen all derer, die ideologiefrei über dieses Thema sprechen wollen, sage ich Ihnen: Werden Sie endlich vernünftig! Nehmen Sie sich ein Beispiel an Frau Pieper, die ihrem Gewissen folgt. Frau von der Leyen hat vollkommen recht. Auch Sie, Frau Bär, haben vor einem Jahr noch anders gesprochen. (Widerspruch der Abg. Dorothee Bär [CDU/ CSU])


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Folgen Sie Ihren wahren Gedanken und stimmen Sie
diesem Gesetzentwurf nicht zu!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720503800

Peter Tauber erhält nun das Wort für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Peter Tauber (CDU):
Rede ID: ID1720503900

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beschlie-
ßen heute das Betreuungsgeld. Ich will mit einer Zahl
beginnen: mit der Zahl 35. Als wir die entsprechenden
Gesetze zum Ausbau der Zahl der Krippenplätze auf den
Weg gebracht haben, haben wir angenommen, dass
35 Prozent der Kinder in diesem Land einen Krippen-
platz brauchen.


(Edelgard Bulmahn [SPD]: Das ist aber nicht so!)


Inzwischen wissen wir, dass die Zahl der Kinder, die ei-
nen Krippenplatz brauchen, höher ist. Deswegen werden
wir unsere Anstrengungen verdoppeln. Die christlich-li-
berale Koalition hat ihren Beitrag dazu geleistet, die
Kommunen beim Ausbau der Kinderbetreuung zu unter-
stützen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Selbst wenn sich der Anteil der Kinder, die einen
Krippenplatz brauchen, 50 Prozent nähern sollte, bedeu-
tet das aber immer noch, dass 50 Prozent der Eltern ihre
Kleinkinder bis zum dritten Lebensjahr zu Hause be-
treuen. Frau Kollegin Deligöz, die Eltern „halten“ ihre
Kinder nicht zu Hause, sie betreuen sie zu Hause. Der
Begriff „halten“ entstammt der Zoologie, nicht der Päda-
gogik.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir wissen, dass die Hälfte der Eltern ihre Kinder bis
zum dritten Lebensjahr zu Hause betreut, um sie dann in
den Kindergarten zu bringen. Genau das wollen wir. Es
ist ein berechtigtes Anliegen dieser Eltern, zu fragen:
Was tut die Politik, um uns das zu ermöglichen? Dafür

ist das Betreuungsgeld da. Das ist ganz einfach zu ver-
stehen. Dazu braucht man keine Ideologie.

Wenn Sie sich den letzten ARD-Deutschlandtrend vor
Augen führen, dann sehen Sie, dass all Ihre Zahlen nicht
stimmen; denn dort haben 39 Prozent der Menschen ge-
sagt, sie freuen sich über die Entscheidung des Koali-
tionsausschusses, sie seien für das Betreuungsgeld.


(Diana Golze [DIE LINKE]: Das ist weniger als die Hälfte!)


Wer sind diese 39 Prozent? Okay, es mögen keine Ge-
werkschaftsfunktionäre sein, die uns sagen, wir müssen
die Kinder möglichst vom ersten Tag an in die Krippe
bringen. Es werden auch keine Wirtschaftsfunktionäre
des BDI sein, die in den Menschen an dieser Stelle viel-
leicht nur eine ökonomische Verfügungsmasse sehen.
Das ist auch nicht unser Anspruch an Familienpolitik.
Wir wollen die notwendigen Rahmenbedingungen set-
zen, damit Familie gelebt werden kann. Das geht sowohl
in der Krippe als auch zu Hause.

Wir verwahren uns gegen das einseitige Aufrechnen:
Dort funktioniert es, und dort ist es schlecht. – Das funk-
tioniert nicht, und dagegen verwahren wir uns. Das will
ich hier an dieser Stelle noch einmal sehr deutlich sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


In der letzten Debatte habe ich an die Adresse der Op-
position gesagt, es wäre ganz klug, wenn Sie Ihre Fach-
politiker und nicht die erste Reihe hier reden lassen wür-
den.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Ist heute wieder nicht gelungen!)


Gerade bei der Rede von Herrn Steinbrück ist das noch
einmal sehr deutlich geworden.

Herr Steinbrück, Sie haben ja nicht einmal den Na-
men der Vorsitzenden des Ausschusses für Familie, Se-
nioren, Frauen und Jugend richtig ausgesprochen, ge-
schweige denn hier in der Sache sauber zum Thema
geredet.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Die Kollegin Deligöz hat getwittert – das kann ich
aber nicht bestätigen; das muss Ihre Fraktion beantwor-
ten –, sie hätte gehört, dass in der SPD schon der Hut he-
rumgeht, weil Herr Steinbrück heute redet.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich glaube, Ihre Rede heute war kostenlos. Sie war aber
nicht nur kostenlos, sondern auch umsonst,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


und zwar nicht nur, weil Sie in der Sache falsch argu-
mentiert haben.


(Abg. Peer Steinbrück [SPD] unterhält sich)






Dr. Peter Tauber


(A) (C)



(D)(B)


Ihr Problem ist ein ganz anderes, auch wenn Sie nicht
zuhören: Ihr Problem ist, dass Sie nicht glaubwürdig
sind. Sie haben damals, als das Gesetz beschlossen
wurde, gesagt, das sei ein guter Kompromiss. Heute stel-
len Sie sich hier hin und sagen, das sei Schwachsinn.
Was gilt denn nun, Herr Steinbrück?

Das ist ja auch nicht nur bei diesem Thema so.


(Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/ CSU]: Überall!)


Sie haben damals bei der Pleite von Lehman Brothers
gesagt, das hätte keine Auswirkungen auf Europa. Wenn
diese Bundeskanzlerin Sie nicht an die Hand genommen
und gesagt hätte,


(Lachen bei der SPD)


die Sparguthaben der Deutschen sind sicher, dann wären
Sie vielleicht bei dieser Meinung geblieben. Was galt
denn damals, Herr Steinbrück?


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dann haben Sie gesagt, Griechenland muss gerettet wer-
den. Kurze Zeit später waren Sie gegen die Griechen-
land-Rettung. Was gilt denn nun, Herr Steinbrück? Sie
haben auch gesagt: Nein, eine Insolvenz von Griechen-
land ist nicht in Ordnung. – Danach haben Sie gesagt,
man müsse einmal über eine Insolvenz Griechenlands
reden. Was gilt denn, Herr Steinbrück?

Die Menschen wissen nicht, woran sie bei Ihnen sind.
Das ist das eigentliche Problem, das Sie an dieser Stelle
haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Zur Sache selbst.


(Dagmar Ziegler [SPD]: Ja, das wäre schön!)


Wir haben damals im großen Konsens nicht nur die
4 Milliarden Euro auf den Weg gebracht, um den Aus-
bau der Krippenplätze voranzutreiben. Wir haben mit
580 Millionen Euro auch noch einmal draufgesattelt. Da
haben Sie sich mit den Ländern im Bundesrat ewig ge-
ziert. Das war aber ein ganz entscheidender wichtiger
Schritt nach vorne. Daneben haben wir das KfW-Pro-
gramm auf den Weg gebracht. Hier muss man auch der
Ministerin noch einmal danken, die sich dort engagiert
hat.

Es nützt auch nichts, dass Sie hier ständig persönliche
Kämpfe gegen einzelne Mitglieder der Bundesregierung
führen. Sie müssen sich auch ganz konkret fragen lassen:
Was leisten Sie vor Ort, dort, wo Sie Verantwortung ha-
ben, wo Sozialdemokraten Bürgermeister und Landräte
sind, für einen Beitrag, damit es genug Betreuungsplätze
vor Ort gibt? Das ist die entscheidende Frage, die Sie
sich stellen lassen müssen.

Mir fallen viele Beispiele von sozialdemokratisch re-
gierten Kommunen ein, in denen noch irgendwelche
Wunschträume erfüllt und entsprechende Personalkosten
finanziert werden und es deswegen, weil Sie vor Ort die

falschen Prioritäten setzen, nicht genug Krippenplätze
gibt. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe,


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


und es ist falsch, zu suggerieren, dass allein eine Bun-
desregierung, egal welcher Couleur, für genug Krippen-
plätze vor Ort sorgen kann. Hier müssen die Kommunen
und die Länder mitmachen. Anhand der Zahlen sehen
wir genau, wo es noch hapert. Dieser Aufgabe sollten
Sie sich mit Vehemenz zuwenden. Dann wäre sehr viel
gewonnen.

Es bleibt dabei: Wir machen das nicht mit. Wir wollen
nicht die gute Arbeit, die Erzieherinnen und Erzieher in
den Krippen leisten, gegen das aufrechnen, was Eltern
ihren Kindern an Liebe und Fürsorge auf den Weg ge-
ben, weil die Wahrheit am Ende des Tages ist: Kinder
brauchen immer beides. Sie brauchen eine gute Betreu-
ung, spätestens im Kindergarten, und sie brauchen die
Liebe und Fürsorge ihrer Eltern, ihrer Verwandten, ihrer
Brüder und Schwestern, ihrer Großeltern. Darum geht
es. Das ist die Botschaft, die wir von hier aussenden
müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie einmal von Ihrem
ideologischen Ross heruntersteigen und das hier ein
bisschen deutlicher sagen.

Ich glaube deswegen, dass wir den 39 Prozent derer,
die sich über die Entscheidung dieser Koalition freuen
– das sind vor allem die jungen Eltern, die sagen: „Ich
will mein fünfzehn Monate altes Kleinkind eben nicht in
eine Krippe bringen“ –, damit Rechnung tragen. Denn es
ist auch Aufgabe der Politik, nicht immer nur vermeintli-
chen Mehrheiten hinterherzurennen, sondern an alle
Gruppen in dieser Gesellschaft zu denken. Dazu gehört,
dass wir für die, die die Krippenplätze brauchen, diese
Krippenplätze auch bereitstellen. Da beißt die Maus kei-
nen Faden ab; der Rechtsanspruch gilt. Wenn sozialde-
mokratische Kommunalpolitiker den jetzt aushebeln
wollen, dann werden wir ihnen klar sagen: Mit uns wird
das nicht gehen. – Der Rechtsanspruch ist wichtig, der
gilt, der steht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wer es sich erlauben kann oder wer darauf Wert legt
oder wer diese Entscheidung ganz bewusst getroffen hat,
dass er in der Familie während der ersten drei Lebens-
jahre seiner Kinder deren Betreuung anders organisiert,
der soll das tun, und der kriegt von uns die entspre-
chende Unterstützung. Sie werden es nicht erleben, dass
ein Christdemokrat, selbst wenn er dem Betreuungsgeld
als Instrument kritisch gegenübersteht, den Stab über
solche Eltern bricht. Es geht hier um den Elternwillen,
das ist die freie Entscheidung von Familien. Das respek-
tieren wir.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)






Dr. Peter Tauber


(A) (C)



(D)(B)


Wir wollen eben nicht die Lufthoheit über den Kinder-
betten, von denen Sie heimlich noch träumen. Dies
scheint in manchen Wortmeldungen durch. Sagen Sie es
wenigstens so ehrlich, dass es Ihr Gesellschaftsbild ist,
die Kinder möglichst früh in staatliche Obhut zu neh-
men. Aber tun Sie nicht immer so, als ginge es um etwas
anderes. Verstecken Sie das nicht hinter anderen Wort-
hülsen. Das wird der Sache nicht gerecht.

Deswegen ist es gut, wenn wir die Debatte heute be-
enden, das Gesetz auf den Weg bringen. Ich glaube, viele
Eltern werden es uns danken.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720504000

Uwe Schummer ist der letzte Redner zu diesem Ta-

gesordnungspunkt für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Uwe Schummer (CDU):
Rede ID: ID1720504100

Verehrtes Präsidium! Meine Damen und Herren! Es

stimmt, wir haben uns beim Thema Betreuungsgeld über
Monate, auch über Jahre hinweg gestritten; wir haben
unterschiedliche Positionen gehabt. Am Ende haben wir
aber auch miteinander einen Weg gefunden, der für uns
alle akzeptabel ist. Wir haben uns deshalb darüber ge-
stritten und haben dann einen Kompromiss und gemein-
samen Weg in der Koalition gefunden, weil uns das
Thema wichtig ist, weil uns die Kinder wichtig sind, um
die es letztendlich in diesem unserem Lande geht.

Sie von der SPD haben einen anderen Weg gewählt:
Diffamierung, Herdprämie, taktische Spielchen. Ich
werde als Abgeordneter nicht vergessen, dass Sie vor der
parlamentarischen Sommerpause auf Anweisung Ihrer
Fraktionsführungen den Plenarsaal verlassen haben, um
sich einer Diskussion zu verweigern.


(Beifall bei der CDU/CSU – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie hatten doch keine Mehrheit! – Caren Marks [SPD]: Ihre eigenen Leute waren nicht da!)


– Das ist Verweigerung! – Sie standen hämisch vor den
Türen und haben noch darauf gewartet, dass die Koali-
tion alleine die Beschlussfähigkeit hier feststellen und
durchsetzen sollte. Sie haben sich einer Plenardebatte
verweigert, haben künstlich die Beschlussunfähigkeit
hergestellt.


(Diana Golze [DIE LINKE]: Ich hatte eine Besuchergruppe mit 50 Personen!)


Das sind taktische Spielchen. Es gibt doch einen Grund,
weshalb Sie zu solchen Spielchen greifen.


(Diana Golze [DIE LINKE]: Sie haben Ihre Leute nicht zusammenbekommen!)


Herr Steinbrück, wer von Daniel Goffart Ihre Biogra-
fie liest, der kennt den Grund:

Für die SPD ist das Betreuungsgeld ein politischer
Glücksfall. Da kaum ein politisches Feld in

Deutschland so ideologisch besetzt ist wie Erzie-
hungsfragen und Familienpolitik, scheint sich die-
ses Thema bestens für eine Wahlkampfauseinander-
setzung zu eignen.

Das ist Ihre Motivation. Es geht nicht um Kinder und Fa-
milien, sondern es geht um Ihre Wahlkampftaktik.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Der haben Sie das Parlament unterworfen, Ihre Abge-
ordneten und offensichtlich auch dieses Thema.

Stichwort Fernhalteprämie: Herr Steinbrück, wer bei
17 namentlichen Abstimmungen nicht im Parlament
war, um stattdessen Prämien in Bochum und anderswo
zu kassieren, der sollte sich entschuldigen. Das ist die
einzige Fernhalteprämie, die hier ausgezahlt worden ist,
und zwar an Sie, Herr Steinbrück.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Bei den 17 namentlichen Abstimmungen ging es in neun
Fällen um die Entsendung von Menschen nach Afgha-
nistan, ins Kosovo und in andere Länder der Welt, um
sich dort für Frieden einzusetzen. Ihr Verhalten ist auch
eine Missachtung der Menschen, für die wir hier im Par-
lament zuständig sind.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wir wollen die Kombination des Betreuungsgeldes
mit dem Bildungssparen. Sie haben gemeinsam mit Ihrer
Fraktion in der Großen Koalition 2008 ein Element des
Bildungssparens eingebracht. Wir haben das Vermö-
gensbildungsgesetz für 12 Millionen Arbeitnehmer ne-
ben dem Bausparen und dem Produktivsparen für die Al-
terssicherung für das Bildungssparen geöffnet. Wir
wollen jetzt in der christlich-liberalen Koalition die Lü-
cke mit einem Bildungssparbuch von der Geburt bis hin
zur Erwerbstätigkeit schließen.


(Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/ CSU])


Damit setzen wir einen wichtigen Punkt, damit ein le-
bensbegleitendes Bildungskonto aufgebaut werden
kann. Das ist eine der wichtigen Maßnahmen, die wir in
dieser Koalition durchsetzen werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Natürlich lässt sich mit einem solchen Bildungssparbuch
von Geburt an auch das Bildungspaket verbinden, wo-
durch vieles einfacher wird.


(Diana Golze [DIE LINKE]: Das ist doch auch schon gescheitert!)


Ich komme zu der Unterstellung, dass Familien mit
einem geringeren Einkommen ihre Kinder schlechter er-
ziehen würden. Sie waren doch einmal die Partei der Ar-
beitnehmer und der kleinen Leute. Trauen Sie denen
nichts mehr zu? Sie meinen offenbar, ein Kind aus einer
solchen Familie müsse frühzeitig in eine Betreuung ge-





Uwe Schummer


(A) (C)



(D)(B)


geben werden. Ich denke, man muss die professionelle
Arbeit mit der ehrenamtlichen Arbeit und der Familien-
arbeit kombinieren. Unser Weg ist, Brücken zu bauen,
anstatt zu polarisieren und Gräben aufzureißen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Es gibt Programme der Agentur für Arbeit, mit deren
Hilfe es möglich ist, die Familienarbeit mit der Erwerbs-
arbeit zu kombinieren. Ich nenne hier das Stichwort
Wiedereinstieg nach der Elternschaft. Es gibt aber auch
viele andere berufliche Weiterbildungsmaßnahmen der
Agentur für Arbeit. Diese können auch in Verbindung
mit einer Kinderbetreuung in Anspruch genommen wer-
den. Das heißt, Weiterbildung, Familienarbeit und Er-
werbsarbeit sind möglich, wenn man alle Instrumente,
die die Bundesregierung geschaffen hat, nützt.

Alle familienpolitischen Leistungen in Deutschland
sind von unionsgeführten Regierungen, von Unions-
kanzlern grundgelegt worden. Das waren bei Konrad
Adenauer die Einführung des Mutterschutzes und des
Kindergeldes, bei Helmut Kohl das Erziehungsgeld und
die Rentenansprüche für Erziehungszeiten sowie die
Pflegeversicherung. Familie ist überall dort, wo Kinder
Verantwortung für ihre Eltern und Eltern Verantwortung
für ihre Kinder übernehmen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das ist die Grundaussage unserer Politik. Unter Angela
Merkel sind der Rechtsanspruch auf einen Kinderkrip-
penplatz für unter Dreijährige, das Betreuungsgeld und
das Bildungssparen grundgelegt worden.

Wie immer in einer christlich-demokratisch geführten
Bundesregierung geht es mit den Familien vorwärts.
Heute ist ein guter Tag für die Familien, ein guter Tag
für die Bildung. Ich denke, wir sollten jetzt versuchen,
miteinander um bessere Wege zu ringen, und die Linke
sollte ihre Diffamierungen einstellen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720504200

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent-
wurf eines Gesetzes zur Einführung eines Betreuungs-
geldes. Hierzu liegen mir zahlreiche persönliche Erklä-
rungen zur Abstimmung vor, die wir dem Protokoll
beifügen.1)


(Zurufe von der SPD: Oh!)


– Ich verkneife mir jeden Hinweis, wie häufig das vor-
kommt, zu welchen Anlässen und von welcher Seite.

Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Ju-
gend empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/11404, den Gesetzentwurf
der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf der Drucksa-

che 17/9917 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen.
– Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Ge-
setzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.

Wir kommen nun zur

dritten Beratung

und Schlussabstimmung. Über den Gesetzentwurf stim-
men wir auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU
und FDP namentlich ab. Darf ich um ein Signal der
Schriftführerinnen und Schriftführer bitten, ob alle Ab-
stimmungsurnen besetzt sind? – Jawohl.

Dann eröffne ich hiermit die Abstimmung über diesen
Gesetzentwurf.

Ist ein Mitglied im Saal anwesend, das seine Stimme
noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Dann
schließe ich hiermit die Abstimmung und bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-
lung zu beginnen. Ich teile Ihnen dann das Ergebnis der
namentlichen Abstimmung mit, sobald es vorliegt.2)

Darf ich Sie bitten, die Plätze wieder einzunehmen
oder anderenfalls den Saal zu verlassen?

Unter Zusatzpunkt 9 b setzen wir die Abstimmungen
zu den Beschlussempfehlungen des Ausschusses für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf Drucksache
17/11404 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buch-
stabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der SPD-Fraktion auf Drucksache 17/9572 mit
dem Titel „Kita-Ausbau statt Betreuungsgeld“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-
lung ist angenommen.

Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/9582 mit dem Titel „Betreuungsgeld nicht ein-
führen – Öffentliche Kinderbetreuung ausbauen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Auch diese Beschluss-
empfehlung ist angenommen.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11404
die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/9165 mit dem Titel „Kein
Betreuungsgeld einführen – Kinder und Familie durch
den Ausbau der Kindertagesbetreuung fördern“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Auch diese Beschluss-
empfehlung ist angenommen.

Interfraktionell wird unter dem Tagesordnungs-
punkt 9 c die Überweisung des Gesetzentwurfs auf der
Drucksache 17/11315 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige
Vorschläge? – Die sind nicht erkennbar. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

1) Anlagen 2 bis 4 2) Ergebnis Seite 25014 D





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)


Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 42 a und 42 b
sowie den Zusatzpunkt 10 auf:

42 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales

(11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-

ten Silvia Schmidt (Eisleben), Anette Kramme,
Elke Ferner, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD

UN-Konvention jetzt umsetzen – Chancen für
eine inklusive Gesellschaft nutzen

– Drucksachen 17/7942, 17/10010 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Maria Michalk

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus
Riegert, Sibylle Pfeiffer, Dr. Christian Ruck,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Helga
Daub, Dr. Christiane Ratjen-Damerau,
Joachim Günther (Plauen) und der Fraktion
der FDP

Selbstbestimmtes Leben von Menschen mit
Behinderung – Grundsatz der deutschen
Entwicklungspolitik

– zu dem Antrag der Abgeordneten Karin Roth

(Esslingen), Dr. Sascha Raabe, Lothar Binding


(Heidelberg), weiterer Abgeordneter und der

Fraktion der SPD

Behinderung und Entwicklungszusammen-
arbeit – Behindertenrechtskonvention um-
setzen und Entwicklungszusammenarbeit
inklusiv gestalten

– Drucksachen 17/9730, 17/8926, 17/10330 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus Riegert
Karin Roth (Esslingen)

Helga Daub
Niema Movassat
Uwe Kekeritz

ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver
Kaczmarek, Dr. Ernst Dieter Rossmann,
Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD

Das Menschenrecht auf inklusive Bildung in
Deutschland endlich verwirklichen

– Drucksache 17/10117 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss

Auch diese Aussprache soll nach einer interfraktio-
nellen Vereinbarung 90 Minuten dauern. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Also können wir so verfahren.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
die Kollegin Maria Michalk für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Maria Michalk (CDU):
Rede ID: ID1720504300

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach
dieser hochemotionalen Debatte über das Betreuungs-
geld, für die sich alle interessiert und an der sich alle be-
teiligt haben – alle haben sich eine Meinung dazu gebil-
det –, wünschte ich mir, dass das Thema, das jetzt auf
der Tagesordnung steht, eine genauso breite Aufmerk-
samkeit sowohl in der Gesellschaft als auch hier im Haus
findet und zu genauso viel Engagement führt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Es liegen mehrere Anträge zu dem Thema auf dem
Tisch, und zwar zum wiederholten Mal, wie wir die Teil-
habe von Menschen mit Behinderung in unserem Land
besser organisieren können. Es geht darum, mit ihnen in
den Dialog zu treten, Verbesserungen zu diskutieren und
diese umzusetzen. Vor allen Dingen sollten wir aufneh-
men, was nicht so gut läuft, und die Gesetze korrigieren,
die wir in guter Absicht verabschiedet haben, die sich
aber in der Praxis vor Ort als mangelhaft erwiesen ha-
ben. Manches kann man mit einem großen Fragezeichen
versehen, und manches erregt große Verärgerung,
manchmal auch Verwunderung.

Es tut not, dieses Thema, das ein Querschnittsthema
ist, immer wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Wir
haben das erlebt, als wir vor 14 Tagen hier im Deutschen
Bundestag zum ersten Mal diese große fraktionsüber-
greifende Initiative gestartet haben. Ich rede von der Be-
gegnung des Parlaments mit Menschen mit Behinde-
rung. Es gab eine ausführliche Debatte mit Menschen
mit Behinderung aus allen Teilen Deutschlands, die auf
Einladung von Abgeordneten hierhergekommen sind.
Dies hat zu einer weiteren Vernetzung dieser Menschen
geführt.

Ich danke vor allen Dingen den Kolleginnen und Kol-
legen, die sich engagiert haben, obwohl das verdiente
Wochenende bevorstand und noch viele Verpflichtungen
in den Wahlkreisen wahrzunehmen waren. Sie haben
sich die Zeit genommen, mit den Menschen hier vor Ort
zu diskutieren. Gleichwohl haben die Menschen mit Be-
hinderung auf der Abschlussveranstaltung dezidiert ge-
sagt, dass sie sich gewünscht hätten, dass noch mehr Ab-
geordnete teilgenommen hätten. Ich komme somit
meiner Verpflichtung nach, dies hier öffentlich noch ein-
mal zu betonen. Wir als behindertenpolitische Sprecher
wollen nicht, dass diese Veranstaltung eine Eintagsfliege
war.

Die Forderungen und die Erkenntnisse, die in den
zwölf Arbeitskreisen erhoben bzw. gewonnen wurden,





Maria Michalk


(A) (C)



(D)(B)


werden eine gute Grundlage für unsere weitere Arbeit
sein. Viele Diskussionen, die auch Sie sicherlich in Ihren
Wahlkreisen führen, zeigen, dass es nottut, mit dem Den-
ken in Schubladen aufzuhören. Manchen ist das Wort
„Inklusion“, das wir seit der Unterzeichnung der UN-
Behindertenrechtskonvention im Munde führen, zu pla-
kativ. Vielleicht finden sie es auch nicht geeignet, das
auszudrücken, was gemeint ist. Ich will auch an Vorur-
teile erinnern, die sich gebildet haben. Das finde ich sehr
schade.

Wir sollten uns vergegenwärtigen, was das Wort „In-
klusion“ eigentlich bedeutet. Ich möchte eine Analogie
herstellen. Wir wissen beim Bezahlen einer Ware, die
wir in einem Geschäft kaufen, dass der Preis inklusive
Mehrwertsteuer ist, obwohl die Mehrwertsteuer nicht
extra ausgewiesen ist. Wir haben sozusagen mit der Mut-
termilch aufgesogen, dass es bei der Mehrwertsteuer
eine Inklusion gibt. Aber in unserem Bereich tun wir uns
mit dem Wort „Inklusion“ schwer.

Wir brauchen also kein Schubladendenken, sondern
eine fächerübergreifende Denkweise. Das merken wir
heute auch an den Anträgen. Was haben wir im Deut-
schen Bundestag nicht schon alles zu diesem Thema dis-
kutiert: Wir wollen eine bessere Einbindung der Men-
schen mit Behinderung in den ersten Arbeitsmarkt und
für diejenigen, bei denen die Voraussetzungen für eine
Beschäftigung am ersten Arbeitsmarkt nicht gegeben
sind, optimale Arbeitsmöglichkeiten in den Werkstätten
mit einer viel größeren Durchlässigkeit und Außen-
arbeitsplätzen. Wir haben hierzu das Gesetz zur Einfüh-
rung Unterstützter Beschäftigung beschlossen.

Es geht also um das große Thema der Teilhabe am
Arbeitsleben. Denn es kann uns nicht zufriedenstellen,
dass es bei sinkenden Arbeitslosenzahlen in unserem
Land – Gott sei Dank ist die Arbeitslosenquote so nied-
rig wie schon lange nicht mehr; seit der Wiedervereini-
gung Deutschlands, auch daran muss man an diesem Tag
erinnern, hat es noch nie eine so niedrige Arbeitslosen-
quote gegeben – bei der Zahl behinderter Arbeitsloser
Stagnation gibt. Das ist geradezu eine Aufforderung an
uns alle, sich darüber Gedanken zu machen.

Wir haben das Modellprojekt aus dem Nationalen Ak-
tionsplan zur Inklusion, bei dem wir mithilfe von vier
Säulen, durch Berufsorientierung, Berufsausbildung, In-
tegrationsmaßnahmen und Unterstützung der Industrie-
und Handelskammern, versuchen, auch Menschen mit
Behinderung, die über 50 Jahre sind und scheinbar zum
alten Eisen zählen, in den ersten Arbeitsmarkt zu inte-
grieren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Die Initiative läuft über die Länder, die für die Umset-
zung zuständig sind. Es ist interessant, wie unterschied-
lich die Ergebnisse nach fast einjähriger Laufzeit sind.
Auch das sollte uns im Parlament beschäftigen.

Ich erinnere daran, dass wir erst neulich gemeinsam
eine Initiative beschlossen haben, die darauf abzielt, dass
bei öffentlichen Ausschreibungen – das ist für diesen
Arbeitsmarktbereich einfach notwendig – die Vergabe-
ordnung so ausgelegt wird, dass viel stärker Qualität,
Kompetenz und Eingliederungserfolge Berücksichti-
gung finden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wir haben im Bereich des Personennahverkehrs Ini-
tiativen gestartet, in deren Folge die 50-Kilometer-
Grenze aufgehoben worden ist. Wir haben mit den Ver-
kehrspolitikern darüber gesprochen und letztlich einen
gemeinsamen Appell verabschiedet, dass im Zuge der
Umsetzung der Fernbusrichtlinie in Zukunft viel stärker
als bisher barrierefreie Mitfahrmöglichkeiten berück-
sichtigt werden sollen. Auch da haben wir sehr viel auf
den Weg gebracht.

Bei diesem Thema geht es also um eine Querschnitts-
aufgabe, die unter dem Stichwort „Inklusion“ gebündelt
ist. Inklusion ist kein Gesetz, wie ich schon mehrfach an
dieser Stelle gesagt habe, sondern es ist eine Herzenssa-
che; es ist ein Programm. Ich hoffe sehr, dass wir weiter
gut vorankommen und mit den Betroffenen die Punkte
diskutieren und Schritt für Schritt abstellen, bei denen
der Grundgedanke der Inklusion noch nicht zu 100 Pro-
zent erfüllt wird.

Auf diesem Weg bitte ich darum, dass wir gemeinsam
daran arbeiten, und danke Ihnen, dass Sie mir zugehört
haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720504400

Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, möchte ich

Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern
ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung
zur Einführung eines Betreuungsgeldes bekannt geben:
abgegebene Stimmen 594. Mit Ja haben gestimmt 310,
mit Nein haben gestimmt 282, Enthaltungen 2. Der Ge-
setzentwurf ist angenommen.

Endgültiges Ergebnis

Abgegebene Stimmen: 594;

davon

ja: 310

nein: 282

enthalten: 2

Ja

CDU/CSU

Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Dorothee Bär

Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck


(Reutlingen)

Manfred Behrens (Börde)

Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner

Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen


(Bönstrup)

Wolfgang Bosbach





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)


Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer (Göttingen)

Dirk Fischer (Hamburg)


(Karlsruhe Land)

Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Peter Friedrich


(Hof)

Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Ingo Gädechens
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper

Dr. Franz Josef Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Alois Karl
Bernhard Kaster

(Villingen Schwenningen)

Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer (Altötting)

Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller (Erlangen)

Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann (Bremen)

Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla

Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche (Potsdam)

Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht (Weiden)

Anita Schäfer (Saalstadt)

Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt (Fürth)

Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön (St. Wendel)

Dr. Kristina Schröder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer

(Weil am Rhein)

Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl (Heilbronn)

Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel (Kleinsaara)

Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg (Hamburg)

Peter Weiß (Emmendingen)

Sabine Weiss (Wesel I)

Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann

Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Dagmar G. Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew

FDP

Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine Aschenberg-

Dugnus
Daniel Bahr (Münster)

Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Hans-Werner Ehrenberg
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Joachim Günther (Plauen)

Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Holger Krestel
Patrick Kurth (Kyffhäuser)

Heinz Lanfermann
Harald Leibrecht
Sabine Leutheusser-

Schnarrenberger
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner (Berlin)

Michael Link (Heilbronn)

Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller (Aachen)

Dr. Martin Neumann


(Lausitz)

Dirk Niebel





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)


Hans-Joachim Otto

(Frankfurt)


Gisela Piltz
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Manfred Todtenhausen
Dr. Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel


(Lüdenscheid)

Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)


Nein

CDU/CSU

Jürgen Klimke
Katharina Landgraf

SPD

Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding (Heidelberg)

Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann


(Hildesheim)

Edelgard Bulmahn
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler

Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf (Rosenheim)

Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann


(Wackernheim)

Hubertus Heil (Peine)

Wolfgang Hellmich
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz (Essen)

Frank Hofmann (Volkach)

Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe (Leipzig)

Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)

Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel (Berlin)

Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold

Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth (Esslingen)

Michael Roth (Heringen)

Marlene Rupprecht


(Tuchenbach)

Annette Sawade
Anton Schaaf
Axel Schäfer (Bochum)

Bernd Scheelen
Marianne Schieder


(Schwandorf)

Werner Schieder (Weiden)

Ulla Schmidt (Aachen)

Carsten Schneider (Erfurt)

Ottmar Schreiner
Swen Schulz (Spandau)

Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff


(Wolmirstedt)

Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries

FDP

Sylvia Canel
Sebastian Körber
Burkhardt Müller-Sönksen
Cornelia Pieper

DIE LINKE

Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz

Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Katja Kipping
Harald Koch
Jan Korte
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Ralph Lenkert
Stefan Liebich
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Petra Pau
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer (Köln)

Michael Schlecht
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Jörn Wunderlich

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Kerstin Andreae
Marieluise Beck (Bremen)

Volker Beck (Köln)

Cornelia Behm
Birgitt Bender
Agnes Brugger
Viola von Cramon-Taubadel





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)


Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz (Herborn)

Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler

Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Stephan Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth (Quedlinburg)

Monika Lazar
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller (Köln)

Beate Müller-Gemmeke
Dr. Konstantin von Notz

Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann E. Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth (Augsburg)

Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Ulrich Schneider
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang Strengmann-

Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe

Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Arfst Wagner (Schleswig)

Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler

Enthalten

CDU/CSU

Elisabeth Winkelmeier-
Becker

FDP

Miriam Gruß


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Zurufe von der SPD: Knapp! – Weiterer Zuruf von der SPD: Peinlich!)


Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulla Schmidt von der
SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1720504500

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Heute ist ein Datum, das in der deutschen
Geschichte immer wieder eine Rolle gespielt hat: der
9. November. Es gab schöne Tage – Fall der Mauer –,
und es gab an diesem Tag die Reichspogromnacht, mit
der der Vernichtungsfeldzug gegen die jüdische Bevöl-
kerung in unserem Lande gestartet wurde, infolgedessen
aber auch Menschen mit Behinderungen von den Natio-
nalsozialisten jedes Lebensrecht abgesprochen wurde.
Sie wurden verfolgt und zu Menschenversuchen miss-
braucht. Ich finde es gut, dass der Deutsche Bundestag
an diesem Datum darüber redet, dass wir mit der Behin-
dertenrechtskonvention ganz klar gesagt haben: Men-
schenrechte sind nicht teilbar. Die Menschenrechte der
behinderten Menschen in unserem Land werden festge-
schrieben. – Wir bemühen uns nun darum, dass und wie
das geschieht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist auch gut, an den glücklichen Umstand zu erin-
nern, dass dank unserer parlamentarischen Demokratie
und unseres Grundgesetzes heute die erste Generation
geistig behinderter Frauen und Männer das Rentenalter
erreichen kann. Aber das muss für uns auch eine Ver-
pflichtung sein, alles dafür zu tun, dass die immer noch
bestehenden Barrieren, in der medizinischen und pflege-
rischen Versorgung und auch bei der Umsetzung beste-
hender Gesetze, beseitigt werden; denn wir stellen heute
fest: Geistig behinderte Menschen, behinderte Menschen
im Rentenalter haben die gleichen gesundheitlichen und
pflegerischen Probleme wie alle anderen Menschen dann

auch. Wir müssen dafür sorgen, dass die Pflege endlich
auf Grundlage eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs
erbracht wird, der Teilhabe für das ganze Leben bis zum
letzten Atemzug zugrunde legt, damit die vorgesehenen
Leistungen den Menschen mit geistiger Behinderung,
mit mehrfacher Behinderung oder mit erhöhtem Hilfebe-
darf endlich so zugutekommen, wie sie es für Teilhabe
brauchen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


In der Behindertenrechtskonvention, über die wir
heute reden, sehe ich eine große Chance für die gesamte
Gesellschaft, nicht nur deshalb, weil mit der Behinder-
tenrechtskonvention die Menschenrechte aus der Per-
spektive der behinderten Menschen festgeschrieben
werden, sondern auch deshalb, weil deutlich wird:
„Menschenrechte sind nicht teilbar“, weil das Signal
ausgesendet wird: „Du bist uns willkommen“. Ich wäre
froh, wenn das die Botschaft des heutigen Tages ist: Uns
ist jeder willkommen.

Wir werden darauf achten, dass mit Verwirklichung
von Inklusion nicht nur das Modell der Teilhabe umge-
setzt wird, sondern dass auch ganz deutlich wird, dass
Inklusion und Teilhabe einen Rechtsanspruch begrün-
den. Wir sind dazu da, die gesetzlichen Voraussetzungen
zu schaffen, damit diese Gesellschaft endlich so verän-
dert wird – die Infrastruktur, die Rahmenbedingungen –,
dass diese Proklamation und Deklaration in der Behin-
dertenrechtskonvention nicht nur ein Wort bleibt, son-
dern gelebtes Leben hier bei uns in Deutschland wird. Es
ist die Aufgabe des heutigen Tages, auch dafür zu sor-
gen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Inklusion, liebe Kolleginnen und Kollegen, das be-
deutet Wertschätzung, das bedeutet gleiche Augenhöhe,
das bedeutet für uns alle, uns so zu verändern, dass wir
lernen, das scheinbar Unnormale als das Normale anzu-
sehen. Inklusion ist keine Deklaration. Wir als Sozialde-
mokraten haben in dieser Legislaturperiode eine Reihe





Ulla Schmidt (Aachen)



(A) (C)



(D)(B)


von Anträgen eingebracht, weil wir wollen, dass dieser
Rechtsanspruch auch im Gesetz verankert wird.

Im Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung fin-
den sich viele schöne Worte; wir erleben aber, dass viele
dieser Worte nur Worte bleiben. Heute ist aber der Tag,
an dem wir sagen: Wir brauchen auch gesetzliche Rah-
menbedingungen. Wer, wenn nicht der Deutsche Bun-
destag oder die Parlamente in den Ländern, soll denn da-
für sorgen, dass dieser Rechtsanspruch der behinderten
Menschen in diesem Land auch in Gesetzesform umge-
setzt wird? Kein anderer wird das für uns tun, wenn wir
nur Absichtserklärungen abgeben. Das muss eine Ver-
pflichtung für uns sein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben schon
wichtige Schritte getan in unserem Land. Mit dem Re-
formkanzler Gerhard Schröder haben wir den Paradig-
menwechsel in der Behindertenpolitik eingeleitet, indem
wir den Weg „weg von der Fürsorge, hin zur Teilhabe“
gegangen sind, indem das SGB IX entwickelt wurde, mit
dem die Rechtsansprüche behinderter Menschen festge-
schrieben wurden, indem wir mit dem Behinderten-
gleichstellungsgesetz von 2002 den Anspruch auf barrie-
refreie Zugänge festgeschrieben haben und indem wir als
SPD mit den Grünen auch das Allgemeine Gleichbehand-
lungsgesetz, das Antidiskriminierungsgesetz, durchge-
setzt haben – und das gegen den Widerstand der damali-
gen Opposition, der CDU/CSU und der FDP.

Meine Damen und Herren, wir haben aber noch einen
langen Weg vor uns, ehe wir Inklusion auch wirklich
umgesetzt haben.

Ich glaube, dass ein wichtiger Lackmustest hierfür
sein wird, ob es uns gelingt, die Barrierefreiheit durch
gesetzliche Vorgaben nicht nur für öffentliche Einrich-
tungen, sondern auch für die Privatwirtschaft umzuset-
zen; denn die Privatwirtschaft ist das entscheidende. Ich
bin nicht mehr bereit, hinzunehmen, dass immer dann,
wenn die Privatwirtschaft gefragt ist, gesagt wird, das
können wir nicht tun. Wir haben keine Probleme, ihr
Gesetze zu verordnen über Umweltstandards, über Ar-
beitsschutzbedingungen, über Gesundheitsschutzbedin-
gungen, über Arbeitszeit, Steuerrecht und vieles andere
mehr. Ich finde, heute muss der Tag sein, von dem das
Signal ausgeht: Behinderte Menschen gehören mitten-
rein. Sie gehören zu uns. Wir werden auch die Privat-
wirtschaft dazu verpflichten, Barrierefreiheit in ihrem
Bereich umzusetzen. Das muss man gesetzlich auf den
Weg bringen, wenn man wirklich etwas erreichen will.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Den zweiten Lackmustest, ob wir es ernst meinen mit
der Behindertenrechtskonvention, wird die Reform der
Eingliederungshilfe darstellen. Wir müssen davon weg-
kommen, dass wir über die Eingliederungshilfe unter
dem Aspekt der Bedürftigkeit diskutieren. Bei ihr geht
es um einen Teilhabeanspruch, der verwirklicht werden

soll und der für jeden Menschen gilt. Dazu gehört, dass
klar wird, dass es nicht darum geht, einen bestimmten
Geldbetrag zur Verfügung zu stellen und dann zu überle-
gen, wie wir ihn verteilen können. Die Eingliederungs-
hilfe wird ihrem Namen nur dann gerecht, wenn mit ihr
Teilhabe für den Einzelnen tatsächlich möglich wird.
Damit das umgesetzt wird, muss alles getan werden. Ich
sage hier ganz deutlich, liebe Kolleginnen und Kollegen:
Der Maßstab müssen die Menschen mit besonderem Hil-
febedarf sein, sonst haben wir in Zukunft eine Zweiklas-
sengesellschaft von Behinderten: die, die die Inklusion
leicht schaffen, und die anderen, die außen vor stehen.
Das muss der Anspruch an zukünftiges Vorgehen sein.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wir wollen deswegen, dass die Eingliederungshilfe
im Sozialgesetzbuch IX verankert wird, damit Partizipa-
tion, Nachteilsausgleich, Selbstbestimmung und das
Recht auf stetige Verbesserung der Lebensbedingungen
verwirklicht werden; denn für uns endet die Menschen-
würde nicht mit dem Verlust von körperlichen und kog-
nitiven Fähigkeiten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Menschen, die be-
hindert sind, brauchen unsere Unterstützung. Aber auch
Menschen mit geistiger Behinderung können Hilfe ge-
ben. Sie können Unterstützung leisten. Sie bringen sich
ein. Sie engagieren sich. Sie sind aktiv. Sie sind kompe-
tent. Sie leisten zum Beispiel tolle Arbeit im Bereich der
Kindertagesstätten. Sie leisten tolle Arbeit im Bereich
der Altenpflege. Die Lebenshilfe hat in diesem Jahr ein
Projekt zum Einsatz von geistig behinderten Menschen
als Alltagsbegleiter in der Pflege vorgestellt. Hubert
Hüppe war dabei. Ich muss sagen: Das ist Wertschätzung
für Menschen mit Behinderungen, wie wir sie meinen.
Sie erfüllen bei pflegebedürftigen Menschen ihre Aufga-
ben, können sich dort einbringen und daran wachsen, ha-
ben Zeit für die pflegebedürftigen Menschen.

Das zeigt aber auch, wo Chancen und Perspektiven
für unsere Gesellschaft liegen. Wir reden darüber, dass
wir in einer Gesellschaft leben, in der wir immer mehr
Ältere und immer weniger Jüngere haben.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720504600

Frau Kollegin.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1720504700

Das ist der Punkt, zu zeigen, dass wir auf die Fähig-

keit von keinem einzigen Menschen verzichten können,
sondern dass wir Inklusion, die Teilhabe aller, als Ge-
winn für die ganze Gesellschaft betrachten.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720504800

Das Wort hat jetzt die Kollegin Gabriele Molitor von

der FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)



Gabriele Molitor (FDP):
Rede ID: ID1720504900

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Vor zwei Wochen stand an diesem
Rednerpult ein Mann mit Downsyndrom. Er war Teil-
nehmer der ersten Veranstaltung „Menschen mit Behin-
derung im Deutschen Bundestag“, wo sich knapp
300 Menschen mit Behinderungen versammelt haben,
um mit uns gemeinsam zu diskutieren, wie ein besseres
Miteinander funktionieren kann. Menschen mit Behin-
derungen wissen am besten, was passieren muss, damit
dieses selbstverständliche Miteinander realisiert werden
kann.

Ich freue mich, dass wir heute mehrere behinderten-
politische Anträge zu beraten haben, weil dadurch deut-
lich wird, dass Behindertenpolitik eine Querschnittsauf-
gabe ist, dass es aber auch eine Aufgabe ist, die nicht nur
unser Land betrifft, sondern auch für die Zusammen-
arbeit mit anderen Ländern wichtig ist. Denn wir reden
hier von einem Menschenrecht. Wir sollten alles daran-
setzen, die Ausgrenzung von Menschen mit Behinderun-
gen dort, wo sie noch immer besteht, zu beenden.


(Beifall im ganzen Hause)


Gerade an einem Tag wie heute ist es wichtig, noch
einmal daran zu erinnern, wie in früheren Zeiten mit
Menschen mit Behinderungen umgegangen wurde. Im
Dritten Reich ist mit der Euthanasie schlimmstes Un-
recht begangen worden. Daran muss man bei einer sol-
chen Debatte auch erinnern.


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Nach dem Krieg war man der Meinung, man müsste
Menschen mit Behinderung in Sonderwelten unterbrin-
gen und ihnen mit besonders intensiver Betreuung
begegnen. Bis in die 70er-Jahre hinein hat man Behinde-
rung und Beeinträchtigung als persönliches und funktio-
nales Defizit verstanden. Erst die UN-Behinderten-
rechtskonvention hat hier ein neues Denken eröffnet;
seitdem wird Behinderung als Form menschlichen Le-
bens verstanden.

Der in der Konvention verwendete Begriff „Inklu-
sion“ – ich merke immer wieder, dass man diesen Be-
griff erklären muss; er ist nicht ohne Weiteres verständ-
lich – kennzeichnet dieses Umdenken. Das bedeutet,
dass die Gesellschaft Bedingungen herstellen muss, un-
ter denen Behinderung nicht zur Benachteiligung wird.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


In diesem Zusammenhang ist zu sagen, dass der Natio-
nale Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung
der UN-Behindertenrechtskonvention eine vorbildliche
Gesamtstrategie enthält.

Auch wenn wir hier viele Gemeinsamkeiten sogar
über die Fraktionsgrenzen hinweg feststellen, muss ich
an dieser Stelle doch sagen, dass es mich wundert, wenn
in dem Antrag von der SPD der richtige Weg darin gese-
hen wird, Gleichstellung und ein vorurteilsfreies Mit-
einander mit Gesetzesverschärfungen und Sanktionen
auf den Weg bringen zu wollen. Inklusion lässt sich

nicht erzwingen. Sie muss noch weit über das hinausge-
hen, was der Gesetzgeber bewerkstelligen kann.


(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Man muss aber den Rahmen schaffen!)


Ich freue mich über unseren gemeinsamen Antrag,
der die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinde-
rung zum Grundsatz der deutschen Entwicklungspolitik
macht. Inklusion ist hier längst kein Fremdwort mehr.
Wir werden die Ziele der UN-Behindertenrechtskonven-
tion so auch nach und nach umsetzen.

Was ist wichtig? Wir wollen Vorurteile von Anfang an
vermeiden. Wir wissen: Es ist ein großes Plus, wenn
Kinder in Kindertagesstätten erfahren, dass es normal
ist, verschieden zu sein. Integrative Kindertagesstätten
erfreuen sich großer Beliebtheit. Mit dem Eintritt in die
Schule hört dieses Miteinander häufig auf. Ich glaube,
hier besteht Handlungsbedarf. Gemeinsames Lernen
muss auch hier einen wichtigen Platz haben. Ich sage
aber auch, dass das Kindeswohl zu berücksichtigen ist.
Es gibt durchaus eine Berechtigung für den Fortbestand
der Förderschulen, wo sie zum Wohle der Kinder not-
wendig sind.


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Kein Applaus!)


Warum ist gemeinsames Lernen so wichtig? Es ist
wichtig, weil es Auswirkungen auf späteres gemeinsa-
mes Arbeiten hat. Mir geht es sehr darum, dass Men-
schen mit Behinderungen nicht nur in den Werkstätten
einen Arbeitsplatz finden, sondern auch auf dem ersten
Arbeitsmarkt. Viele stellen fest, dass mit der richtigen
Assistenz, mit dem richtigen Coaching und mit entspre-
chender Unterstützung wertvolle Mitarbeiter zur Verfü-
gung stehen, die ihrer Tätigkeit mit Begeisterung nach-
gehen. Gerade, wenn wir vom Fachkräftemangel reden,
sollten wir auch Menschen mit Behinderung im Blick
haben. Wir senden ein gutes Signal aus, wenn wir sagen:
Wir brauchen euch. In diese Richtung müssen wir gehen,
um mehr Teilhabe zu verwirklichen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Der gesetzliche Rahmen ist das eine. Das andere ist:
Die Gesellschaft insgesamt muss sowohl die Inklusion
als auch die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskon-
vention zu ihrem Anliegen machen. Denn eine inklusive
Gesellschaft geht alle an. Gerade beim Stichwort „Barrie-
refreiheit“ erkennt man: Alle profitieren davon, wenn
die inklusive Gesellschaft Wirklichkeit wird.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720505000

Jetzt hat der Kollege Dr. Ilja Seifert von der Fraktion

Die Linke das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720505100

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Meine Damen und Herren draußen und hier auf den
Tribünen! Heute vor zwei Wochen trafen sich 299 Men-





Dr. Ilja Seifert


(A) (C)



(D)(B)


schen mit den unterschiedlichsten Beeinträchtigungen
und Bundestagsabgeordnete zum Erfahrungsaustausch.
Wer von Ihnen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen,
nicht dabei war, verpasste etwas. Diese Begegnung war
inhaltlich und emotional ein großer Erfolg.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Darauf können wir stolz sein. Der Bundestag zeigte, wie
es aussieht, wenn ein Verfassungsorgan seine Verpflich-
tungen aus der UN-Behindertenrechtskonvention ernst
nimmt. Schade ist allerdings – so viel Selbstkritik muss
sein –, dass die Anzahl der Gäste die der Gastgeber um
ein Vielfaches überstieg.

Anhand sehr praktischer Beispiele aus dem Alltag
schilderten die Gäste, was ihr Leben so ausmacht. Der
wichtigste Eindruck war: große Lebensfreude, enorme
Lebenskraft. Da wurde nicht gejammert, da wurde nicht
gebarmt. Aber wir erfuhren von alltäglicher Mühsal:
bauliche und kommunikative Barrieren, schikanös klein-
mütige Verwaltungs- bzw. Verhinderungs- und Verwei-
gerungspraktiken, haarsträubende Gesetzesauslegung,
offene oder versteckte, in jedem Fall aber kränkende und
herabwürdigende Missachtung, fehlende Assistenz, sei
es bei der Pflege, sei es bei der Arbeit, sei es in der Frei-
zeit, sei es Gebärdenkommunikation, und vieles andere
mehr.

Diese Praxisschilderungen waren mit klaren Ansagen
verbunden, mit klugen Forderungen und wohldurch-
dachten Vorschlägen. Zu den inhaltlichen Kernbotschaf-
ten gehörten unter anderem folgende Forderungen: Ver-
bot jedweder Diskriminierung, Schaffung umfassender
Barrierefreiheit sowie voller und gleichberechtigter Teil-
habe.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Eine der Forderungen, die in vielen Arbeitsgruppen und
unter unterschiedlichsten Blickwinkeln immer wieder
erhoben wurde, war: Assistenzleistungen in allen Le-
benslagen und in jedem Alter, und zwar als Nachteils-
ausgleich, also unabhängig von Einkommen und Vermö-
gen; Frau Schmidt wies ja auch schon darauf hin.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das, meine Damen und Herren, sind wahrlich keine
neuen Erkenntnisse; sie wurden dieses Mal nur so kom-
pakt, so authentisch und so schnörkellos vorgetragen,
dass man sich ihrer Überzeugungskraft weder intellek-
tuell noch emotional entziehen konnte. Ich will Ihnen
anhand einiger Beispiele aufzeigen, was konkret ge-
meint ist.

Aber eine erste Schlussfolgerung darf ich schon ein-
mal nennen: Wir haben kein Erkenntnis-, sondern ein
Umsetzungsproblem. Allerdings ist die Erkenntnis of-
fenbar noch sehr ungleich verteilt.

Die Begegnung im Paul-Löbe-Haus zeigte, dass die
Menschenrechtsdimension der UN-Behindertenrechts-
konvention bei vielen der Entscheiderinnen und Ent-
scheider offenbar längst noch nicht angekommen ist.
Vielmehr denkt man diesseits der Barriere offenbar noch
in Kategorien medizinischer Defizite, bestenfalls im
Geiste der Wohltätigkeit. Es geht aber um Rechte, die
den Menschen mit und ohne Behinderungen zustehen.
Es geht weder um Gnade noch um Großherzigkeit; es
geht um Ansprüche.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Behin-
dertenrechtskonvention wurde vor sechs Jahren von der
UNO-Vollversammlung angenommen. An ihrer Aus-
arbeitung – das war für die Diplomaten in New York
sehr ungewohnt – beteiligten sich Betroffene aus aller
Welt. Sie gaben der Losung „Nichts über uns ohne uns!“
praktische Gestalt. Was also brachte uns dieses Doku-
ment?

In Deutschland brauchten wir immerhin zwei Jahre,
um die Konvention zu innerstaatlichem Recht zu ma-
chen. Vonseiten der Betroffenen stand von vornherein
die teilweise fehlerhafte und irreführende Übersetzung
in der Kritik. Aber die Regierung erwies sich als hartlei-
big: keine Änderung.

Dem Ratifikationsgesetzentwurf beigefügt war eine
Denkschrift. Ihr Inhalt lässt sich in zwei kurzen Sätzen
zusammenfassen: Alles ist gut. Nichts müssen wir än-
dern. – Zwar kritisierten in der Bundestagsdebatte viele
Rednerinnen und Redner diese Denkschrift, dennoch
wird sie heute noch gelegentlich als Argument für
Nichts-tun-Wollen aus der Mottenkiste geholt und gilt
dann als Wille des Gesetzgebers. Das war er wirklich
nicht.

Nach der Bundestagswahl 2009 färbte sich die Regie-
rung von schwarz-rosa in schwarz-gelblich um. Sie er-
kannte immerhin, dass ein Umsetzungsplan nötig sei.
Um diesen zu erstellen, ließ sie sich gut anderthalb Jahre
Zeit. Derweil veranstaltete die Regierung mit großem
Brimborium und viel Geld etliche Einbeziehungsfesti-
vals, bei denen Menschen mit Behinderungen ihre Er-
wartungen an diesen Plan benennen sollten. Dort, im fe-
derführenden Ministerium, müsste die Erkenntnis also
längst vorhanden sein. Aber es gelang dem Ministerium,
diese standhaft zu ignorieren. Der Nationale Aktionsplan
atmet den Geist muffiger Verzögerungstaktik.


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Das ist wirklich unredlich! Die Betroffenen werden immer einbezogen!)


Es konnte immerhin nicht verhindert werden, dass
sich das Wissen um die große Bedeutung der Konven-
tion verbreitet. Wir kommen also mit der Bewusstseins-
bildung ein bisschen voran, nunmehr sogar bis in den
Bundestag. Das ist erfreulich.

Bedauerlicherweise lässt sich Bewusstsein jedoch
nicht völlig ohne Inhalt bilden. Also drang auch der Slo-





Dr. Ilja Seifert


(A) (C)



(D)(B)


gan „Nicht über uns ohne uns!“ etwas weiter vor. Das
heißt, Menschen mit Behinderungen und ihre Selbsthil-
feorganisationen sind an politischen Entscheidungen zu
beteiligen.


(Beifall bei der LINKEN)


Noch etwas lässt sich immer schwerer verheimlichen:
Ein Screening aller Gesetze auf Kompatibilität mit der
Behindertenrechtskonvention muss her. Auf Grundlage
dieser muss dann geändert und modernisiert werden. Ich
nenne hier einmal zwei aktuelle Beispiele.

Da ist erstens das Wahlrecht. § 13 entzieht momentan
Menschen, die in allen Lebenslagen betreut werden, pau-
schal das Wahlrecht – als wenn sie keine politische Mei-
nung haben könnten! Als wenn sie ihren Wählerwillen
nicht eindeutig ausdrücken könnten! Diese diskriminie-
rende Regelung gehört abgeschafft. Es geht hier um ein
menschenrechtlich gestütztes Bürgerrecht. Das darf nie-
mandem pauschal vorenthalten werden.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Da ist zweitens die zwangsweise medizinische Be-
handlung. Sie ist menschenrechtswidrig. Niemandem
darf man Medikamente aufzwingen. Auch eine Betreue-
rin oder ein Betreuer hat nicht das Recht, den erkennba-
ren Willen zu ignorieren. Allerdings muss ich befürch-
ten, dass gegenwärtig in manchen Bundesländern eher
daran gearbeitet wird, diese vom Bundesverfassungsge-
richt außer Kraft gesetzten Zwangsregelungen juristisch
zu legitimieren, anstatt sie dem modernen Menschenbild
anzupassen. Das ist sehr bedenklich.

Oder nehmen wir das Beispiel Bildung. Die amtliche
Übersetzung kennt den Begriff „Inklusion“ überhaupt
nicht, Frau Molitor, dennoch – immerhin! – spricht heute
jeder und jede davon, allerdings durchaus mit sehr unter-
schiedlichem Verständnis dessen, was gemeint sein
könnte. Ich verweise diesbezüglich einmal auf Italien.
Dort gibt es keine Sonderschulen. Keine! Also gibt es
auch keine Sonderschülerinnen und Sonderschüler –
vom Kindergarten bis zum Abitur und, wenn gewünscht,
bis zum Studium. Lassen Sie uns einfach mal in Südtirol
nachschauen. Dort spricht man auch Deutsch. Vielleicht
verstehen wir es dann sogar einmal.

Der Arbeitsmarkt zeigt keine wirklichen Verbesserun-
gen. Noch immer ist die offiziell registrierte Arbeitslo-
sigkeit unter Menschen mit Behinderungen doppelt so
hoch wie unter Nichtbehinderten. Von Gleichheit also
keine Spur. Dafür blühen jede Menge Aussonderungs-
werkstätten. Dass sich dort etliche Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter wohler fühlen, als wenn sie völlig untätig
umhersäßen, ändert nichts daran, dass hier erheblicher
Handlungsbedarf besteht.

Oder schauen wir auf die Mobilität. In der Tat sehen
wir vielerorts barrierefreie Busse und Bahnen. Hier wir-
ken sich Entscheidungen aus, die vor 20 oder 30 Jahren
von Leuten, die seinerzeit Spinner genannt wurden, von
klugen und tapferen Visionärinnen und Visionären, er-
kämpft wurden. Im Flugverkehr sieht es schon weniger
erfreulich aus, jedenfalls, wenn eine Rollstuhlfahrerin

einmal auf die Toilette muss. Auch gibt es auf unseren
Flüssen nur wenige barrierefreie Schiffe.

Eine besondere Ambivalenz zeigt die Zulassung von
Linienfernbussen. Hier wird mehr als drei Jahre nach In-
krafttreten der Behindertenrechtskonvention etwas
Neues eingeführt. Aber Barrierefreiheit soll nach dem
Willen der Bundesregierung weiterhin keine bindende
Vorschrift sein. Wieso? Mit welchem Recht ignoriert die
Bundesregierung die eigenen Gesetze? Nunmehr fand
sich, da der Rechtfertigungsdruck zu groß wurde, ein
halbherziger Kompromiss, der aber immer noch besagt:
Vorläufig bleibst du draußen.

Nehmen wir das Thema Wohnen: Es sind praktisch
kaum barrierefreie Wohnungen zu finden. Die freie Wahl
des Wohnorts wird so zur Farce. Es gibt weder ein nen-
nenswertes Programm zur Förderung des Neubaus be-
zahlbarer barrierefreier Wohnungen noch eines zum
Umbau vorhandener Wohnungen. Der Bedarf ist groß,
aber Aktivitäten der Regierung sind nicht erkennbar.

Wie sieht es überhaupt mit dem Ausgleich behinde-
rungsbedingter Nachteile aus? Die Konvention spricht
von angemessenen Vorkehrungen, die zu treffen seien,
um volle Teilhabe zu ermöglichen. Es besteht Anspruch
auf Persönliches Budget, das sogar trägerübergreifend
sein soll. Wenn aber der Sozialhilfeträger gebraucht wird
– und das ist bei hohem Assistenzbedarf immer der Fall –,
wird zuerst nach Bedürftigkeit gefragt. Du musst arm
sein, wenn du etwas willst. Das ist kein Ausgleich behin-
derungsbedingter Nachteile, das ist die Verhinderung
von Teilhabe. Wir brauchen ein einkommens- und ver-
mögensunabhängiges Leistungsgesetz.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dass die Linke im Bundestag einen entsprechenden
Antrag zur Abstimmung stellte, soll hier nicht nur am
Rande erwähnt sein. Gleiches gilt für den Kostenvorbe-
halt in § 13 SGB XII.

Aber die Regierung war auch kreativ, beispielsweise
indem sie die Regelbedarfsstufe 3 erfand. Diese sorgt
dafür, dass erwachsene Menschen mit Behinderungen,
die noch bei ihren Eltern wohnen müssen, 20 Prozent
weniger Geld haben. Das ist enorm.

Nun rang sich die Koalition zu einem Gesetzentwurf
durch, der zukünftig die Mitnahme von Assistentinnen
und Assistenten zu medizinischen Vor- und Nachsorge-
maßnahmen ermöglichen wird. Toll! Allerdings hat sie
einen gleichlautenden Gesetzentwurf der Linken, der
fast zwei Jahre lang im Parlament schmorte, gerade erst
abgelehnt.

Im Pflegebereich ist es nicht besser. Seit Jahren weiß
man, dass es nicht mehr um satt, sauber und still geht,
sondern um Teilhabeermöglichung. Alle Aktivitäten, die
in diese Richtung gehen, werden aber verhindert. Es gibt
kein bisschen Fortschritt, geschweige denn eine solidari-
sche Bürgerinnen- und Bürgerversicherung.

Es gäbe noch viele Punkte zu nennen, bei denen sich
nichts oder nichts zum Guten änderte. Ich nenne nur
wahl- und wertungslos einige Stichworte: Kindergeldab-





Dr. Ilja Seifert


(A) (C)



(D)(B)


zweigung, Rundfunkgebühren, Wertmarke für Freifahrt-
berechtigung im ÖPNV, institutionelle Förderung der
Selbsthilfe, Medaillenprämien bei Paralympics und Op-
fer von Contergan.

Heute nun stimmen wir unter anderem über einen An-
trag ab, mit dem die Koalitionsfraktionen ihrer eigenen
Regierung sagen, dass sie auch in der Entwicklungszu-
sammenarbeit die UN-Behindertenrechtskonvention zu
beachten habe. Das ist peinlich, aber wir stimmen zu,
wenn auch mit einem Schmunzeln.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720505200

Herr Kollege Seifert, bitte denken Sie an die Zeit.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720505300

Entschuldigen Sie, Herr Präsident. Ich komme zum

letzten Satz.

Vor allem sollten wir zu einem Menschenbild finden,
das die und den anderen nicht nur irgendwie toleriert,
sondern das Anderssein will, sich darüber freut. Es sind
die Unterschiede, die uns einander interessant machen.
Sie sind es auch, die uns zu gegenseitig ergänzendem,
solidarischem Handeln bringen können.

Danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720505400

Der Kollege Markus Kurth spricht jetzt für Bündnis 90/

Die Grünen.


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720505500

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Ich glaube, man muss einmal anhand von Beispielen
plastisch deutlich machen: Was bedeutet eigentlich die
UN-Behindertenrechtskonvention? Was beinhaltet sie?
Was bedeuten die konkreten Rechte?

Ich möchte mit dem Naheliegendsten anfangen, mit
einer Frage, die alle hier, alle Zuhörerinnen und Zuhörer,
alle Bürgerinnen und Bürger betrifft, nämlich mit der
Frage des Wohnens und des normalen Lebens. Im
Grunde genommen – das muss man sich klarmachen –
beinhaltet die UN-Konvention über die Rechte von Men-
schen mit Behinderungen Dinge, die alle Menschen
ohne Beeinträchtigung als Selbstverständlichkeiten an-
sehen.

So heißt es zum Beispiel in Art. 19, dass die Vertrags-
staaten gewährleisten – ich zitiere –, dass „Menschen
mit Behinderungen gleichberechtigt die Möglichkeit ha-
ben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden,
wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in
besonderen Wohnformen zu leben“. Ich sehe junge Men-
schen oben rechts auf der Tribüne, die sich wahrschein-
lich achselzuckend sagen: Na und? Ich nehme für mich
selbstverständlich in Anspruch, selbst zu entscheiden,
wo und mit wem ich zusammenlebe. – Aber für Men-
schen mit besonderem Unterstützungsbedarf und Beein-
trächtigung in Deutschland sieht die Sache anders aus.

Da haben wir zum Beispiel seit vielen Jahren den Fall
des Herrn Geier. Herr Geier ist Ende 30 und lebt in ei-
nem Heim. Er möchte gerne ausziehen. Er benötigt per-
sönliche Assistenz. Im Heim gibt es aber nicht genügend
Personal. Er muss also morgens warten, bis jemand Zeit
hat, ihm aus dem Bett zu helfen, ihn zu waschen, zu ra-
sieren usw. Herr Geier hat auch eine Freundin. Sie muss
mit ihm im Heim im 90 Zentimeter breiten Bett liegen.
Morgens kommt das Pflegepersonal und holt die beiden
manchmal, je nachdem, mit einem etwas scheelen Grin-
sen aus dem Bett. Würden Sie sich das gefallen lassen?
Können Sie sich eine solche Beziehung, eine solche Le-
bensform vorstellen? Herr Geier möchte mehr Kontrolle
über sein Leben haben und in einer eigenen Wohnung le-
ben. Seit sechs Jahren kämpft er um die Übernahme der
Kosten mit dem Sozialhilfeträger, der sich mit Verweis
auf die zu hohen Kosten für Assistenz und Pflege
weigert, ein Leben in der eigenen Häuslichkeit zu er-
möglichen. Das ist nach dieser UN-Behindertenrechts-
konvention, insbesondere nach Art. 19, den ich gerade
vorgetragen habe, jetzt und auch zukünftig eine klare
Menschenrechtsverletzung. Es ist die Verpflichtung von
uns allen, diesen Zustand zu ändern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Ich möchte ein weiteres Beispiel geben, und zwar aus
dem Bereich Arbeit, der ebenfalls sehr zentral ist. In
Art. 27 der Behindertenrechtskonvention heißt es, dass
die Vertragsstaaten anerkennen, dass die Menschen die
Möglichkeit haben, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu
verdienen – auch das ist etwas, was wir als selbstver-
ständlich ansehen –, und zwar in einem offenen, frei ge-
wählten Arbeitsumfeld. Die Aufgabe von staatlichen In-
stitutionen, aber insbesondere von Sozialversicherungen
ist es, wäre es, dies zu ermöglichen und offensiv zu be-
treiben.

Aber was passiert unter anderem in Deutschland? Ein
anderes Beispiel: Wir haben den Fall eines jungen Men-
schen, der eine Berufsausbildung macht. Er hat Assis-
tenzbedarf. Er hat Unterstützungsbedarf: Gebärden-
sprachdolmetschung in der Berufsschule. Was passiert?
Über Monate bzw. Jahre hinweg streiten sich Integra-
tionsamt und Schulträger darüber, wer das zu bezahlen
hat. Das Integrationsamt lehnt ab und sagt: Es geht um
die Berufsschule. Das ist also Schule. Damit haben wir
nichts zu tun. – Der Schulträger wiederum sagt: Das ist
Berufsausbildung. Das ist berufliche Eingliederung. Da-
mit haben wir nichts zu tun. – Dadurch, dass sich diese
beiden Seiten jeweils für unzuständig erklären und nicht
leisten, werden die Ausbildung eines jungen Menschen
und seine Möglichkeiten, im Arbeitsmarkt Fuß zu fas-
sen, gefährdet, und das ist ein Skandal.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das Besondere an der Behindertenrechtskonvention
ist, dass sie unterstützende Strukturen fordert und als
Recht feststellt. Die klassischen Menschenrechte sind
Abwehrrechte. Das Recht auf Meinungsfreiheit und das
Recht auf körperliche Unversehrtheit sind Abwehrrechte





Markus Kurth


(A) (C)



(D)(B)


gegenüber einem übermächtigen Kollektiv und gegen-
über staatlichen Zumutungen. Die Menschenrechtskon-
vention ändert das Bild. Das ist die erste Menschen-
rechtskonvention, in der Unterstützung und Befähigung
zum Wahrnehmen von Menschenrechten ganz klar auf-
geschrieben wurden. Ich denke, das ist eine Unterstüt-
zung für alle mit ihren Beeinträchtigungen und Beson-
derheiten.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)


Diesem Anspruch werden wir unzulänglich gerecht –
leider.

Ich hätte mir gewünscht, dass die SPD mit ihrem An-
trag etwas mehr Mut bewiesen hätte; das muss ich schon
sagen. Ich habe an einem Beispiel die Wohnsituation
dargestellt und geschildert. Die nordrhein-westfälische
Landesregierung hat in ihrem Aktionsplan eine sehr kon-
sequente Formulierung in diesem Zusammenhang ge-
funden. Sie hat gesagt, dass der entsprechende Paragraf
im Sozialrecht, der bereits von Herrn Seifert erwähnte
§ 13 SGB XII, ersatzlos gestrichen werden soll. Fertig!
Der Mehrkostenvorbehalt sei zu streichen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Man kann sich wirtschaftliche Leistungsformen überle-
gen. Ich bezweifle, dass es automatisch zu überborden-
den Mehrkosten kommt. Man schaue sich einmal ernst-
haft an, was für Leistungserbringungen wir wollen.

Die SPD-Bundestagsfraktion hat leider nicht die
Klarheit und Konsequenz, die die rot-grüne nordrhein-
westfälische Landesregierung hierbei an den Tag gelegt
hat.


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Weil es Landesrecht ist!)


Die SPD-Bundestagsfraktion hat an ebendieser Stelle in
ihrem Antrag nur einen Prüfauftrag festgeschrieben.
Man muss sagen, dass das etwas zu kurz gesprungen ist.

Der nordrhein-westfälische Aktionsplan kann und
sollte auch der Bundesregierung als Beispiel dafür die-
nen – das muss man ihr an dieser Stelle ganz klar mittei-
len –, wie ein Aktionsplan auszusehen hat: Alle Res-
sorts, alle landesrechtlichen Regelungen sollen auf die
UN-Behindertenrechtskonvention hin überprüft werden.
Es ist so, dass ganz klare Zielsetzungen, Fristen und Zu-
ständigkeiten in den Ressorts genannt sind. Diese Klar-
heit und Konsequenz bei der Umsetzung der UN-Behin-
dertenrechtskonvention, die dort zu erkennen sind, hätte
ich mir auch von der Bundesregierung gewünscht.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720505600

Jetzt hat das Wort der Kollege Hubert Hüppe für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Hubert Hüppe (CDU):
Rede ID: ID1720505700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue

mich, heute erstmals hier im Hohen Haus in dieser
Wahlperiode reden zu dürfen, nachdem ich in den Bun-
destag aufgrund des tragischen Todes eines Kollegen
nachrücken durfte. Ich möchte als Beauftragter der Bun-
desregierung für die Belange behinderter Menschen erst
einmal allen Beauftragten der Fraktionen an dieser Stelle
für die gute Zusammenarbeit danken.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Ich glaube, dass vieles erreicht worden ist, weil man
es gemeinsam über alle Partei- und Fraktionsgrenzen
hinweg vorangebracht hat. Eben wurde schon die Veran-
staltung „Menschen mit Behinderung im Deutschen
Bundestag“ angesprochen. Ich möchte an dieser Stelle
noch einmal dem THW danken, das im wahrsten Sinne
des Wortes Brücken gebaut hat. Das Schöne war: Mit-
arbeiter des THW haben geholfen, und auch unter diesen
Mitarbeitern waren zwei Menschen im Rollstuhl. Sie ha-
ben gezeigt, dass sie etwas leisten können. Dem THW
sei an dieser Stelle noch einmal herzlich gedankt.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Meine Damen und Herren, wenn über Inklusion ge-
sprochen wird – dieser Begriff ist ja auch nicht ganz bar-
rierefrei –, dann sagen erst einmal alle, sie seien dafür.
Dann sagen sie, man müsse aber jeden mitnehmen. Dann
sagen sie, man dürfe bewährte Strukturen aber nicht ein-
fach so infrage stellen; man dürfe das Kind nicht mit
dem Bade ausschütten. Letztendlich sei es eine Jahrhun-
dertaufgabe.

Eins will ich einmal sagen: Die UN-Behinderten-
rechtskonvention stellt klar: Teilhabe ist Menschenrecht.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Daher kann man nicht noch einmal ein paar Jahre war-
ten. Vergleichbar ist das Ganze mit der Situation eines
Busfahrers, der alle Wartenden an allen Haltestellen mit-
nehmen will. Wenn man nun wartet, bis auch der Letzte
die Einsicht hat, dass Teilhabe Menschenrecht ist, dann
wird, um im Bild zu bleiben, dieser Bus nicht ankom-
men. Deswegen sage ich als Behindertenbeauftragter
– und das gilt ja auch für die Menschen, die in Behinder-
teneinrichtungen arbeiten –: Wir sind, wenn wir diese
Aufgabe wahrnehmen, nicht für die Einrichtungen, son-
dern für die Menschen mit Behinderung da, nichts ande-
res.

Wenn man gegenüber Kommunalpolitikern das Wort
„Inklusion“ nennt, dann zucken erst einmal alle zusam-
men und sagen: Das kostet viel Geld. – Es wird wahr-
scheinlich auch Geld kosten. Aber das geschieht in ei-
nem System, das in den letzten Jahrzehnten darauf





Hubert Hüppe


(A) (C)



(D)(B)


ausgerichtet war, Menschen mit Behinderung von den
anderen zu trennen, nur weil sie Unterstützung brauchen.
Auch das ist teuer. Manchmal kommt es gar nicht darauf
an, ob man Geld ausgibt, sondern darauf, wie wichtig
uns Teilhabe ist. Ich nenne zwei Beispiele:

Im historischen Rathaus meiner Heimatstadt sollte ein
Aufzug gebaut werden. Das wäre fast daran gescheitert,
dass der Denkmalschutz dabei nicht mitmachen wollte.


(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Ja, genau! Bei uns auch!)


Ich bin für Denkmalschutz. Aber wenn es nicht anders
geht, dann muss die Teilhabe von Menschen mit Behin-
derung, gerade wenn es um die Teilhabe an politischen
Entscheidungen geht, höher als der Schutz von Denkmä-
lern stehen.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Ein zweites Beispiel. In meiner Nachbarstadt gab es
eine Bergmannssiedlung, und diese Bergmannssiedlung
hatte eine Gestaltungssatzung. Dort wohnte eine Fami-
lie, die ein neunjähriges schwerstbehindertes Kind hatte.
Sie wollte einen Anbau nach hinten, weil es anders nicht
möglich war, das Kind zu pflegen. Die Familie brauchte
einen Kran im Gebäude. Das war in dem Haus, in dem
sie wohnte, nicht möglich. Ein Jahr hat es gedauert, bis
die Familie die Erlaubnis bekommen hat. Die Konse-
quenz, wenn sie diese Erlaubnis nicht bekommen hätte,
wäre gewesen, dass diese Familie hätte wegziehen müs-
sen, weil sie ein schwerstmehrfachbehindertes Kind hat.
Das ist nicht vereinbar mit der UN-Behindertenrechts-
konvention.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Meine Damen und Herren, noch immer ist unser Sys-
tem auf Trennung ausgerichtet. Inklusion fängt klein an.
Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Es gibt immer noch heilpä-
dagogische Kindergarteneinrichtungen, Sonderkinder-
gärten. Dort sind blinde Kinder, gehörlose Kinder, kör-
perbehinderte Kinder, sogenannte geistig behinderte
Kinder und autistische Kinder untergebracht. Nur eine
Gruppe findet man dort nicht: nicht behinderte Kinder.

Ich komme aus dem Kreis Unna. Wenn man dort sein
behindertes Kind in einem Sonderkindergarten unter-
bringt, dann wird das Kind morgens abgeholt, abends
nach Hause gebracht – in dieser Jahreszeit wird das Kind
um diese Uhrzeit keine Nachbarkinder mehr antreffen –,
und das Ganze ist kostenlos, sowohl die Betreuung als
auch die Fahrt; denn das ist Eingliederungshilfe. Schafft
man es aber, sein Kind in einem Regelkindergarten unter-
zubringen – wenn sich denn einer dazu bereit erklärt –,
dann muss man sein Kind selbst dorthin bringen und
einen Kindergartenbeitrag bezahlen; denn das ist Ju-
gendhilfe. Das heißt, es können nur solche Eltern Ein-
gliederungshilfe bekommen, die bereit sind, ihr Kind
auszugliedern. Das ist genau das, was diese UN-Kon-
vention für die Zukunft nicht mehr will. Es gibt dafür
auch keine pädagogische Begründung.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Im Übrigen ist das auch der Grund dafür, dass wir
zwar einen Fonds für ehemalige Heimkinder haben, die-
ser aber immer noch nur für Kinder in Jugendeinrichtun-
gen gilt, aber nicht für Kinder, die in den 50er- und 60er-
Jahren in Behinderteneinrichtungen oder Kinderpsychia-
trien missbraucht worden sind. Ich denke, wir als Bun-
destag müssen dafür sorgen – das war ja damals eine ge-
meinsame Initiative –, dass diese Menschen nicht länger
auf Unterstützung warten müssen als Menschen ohne
Behinderung. Auch das gehört dazu, meine Damen und
Herren.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Weiter geht es mit der Schule. Es wurde schon gesagt:
Kein Land hat mehr Förderschüler als Deutschland. Ih-
nen, lieber Kollege Kurth – wir kommen ja gut miteinan-
der aus –, darf ich sagen: Allein in den letzten 14 Jahren
hat die Zahl der Schüler mit dem Förderschwerpunkt
geistige Entwicklung, die Zahl sogenannter geistig be-
hinderter Kinder, um 50 Prozent zugenommen. Eines ist
klar: Wenn man erst einmal in einer Sondereinrichtung
ist, kommt man so gut wie nie wieder heraus, zumindest
nicht aus diesen Schulen. Die Zahlen steigen übrigens
immer noch, trotz unserer Debatte über Inklusion. Ich
denke, das muss sich ändern.

Dabei müssen die Betroffenen mitreden dürfen. Es
kann nicht sein, dass der Elterninitiative „Gemeinsam le-
ben – gemeinsam lernen“ in Baden-Württemberg, die
sich an dem Prozess zur inklusiven Schule im Rahmen
einer Anhörung beteiligen wollte, von der Ministerin
schriftlich mitgeteilt wurde, die Initiative könne daran
nicht teilnehmen. Ich zitiere:

Daher müssen wir die offizielle Anhörung auf die
Anhörungsberechtigten und auf die für die Schulen
besonders wichtigen gesellschaftlichen Gruppie-
rungen beschränken.

Meine Damen und Herren, Eltern mit behinderten
Kindern sind zu beteiligen, wenn es um Inklusion geht.


(Beifall im ganzen Hause)


Denn sie sind die Betroffenen, nicht die Förderschulleh-
rer, nicht die Sonderpädagogen und auch nicht die Re-
gelpädagogen. Sie brauchen wir auch. Aber ohne die Be-
teiligung der Menschen mit Behinderung wird Inklusion
nicht gelingen. Deswegen müssen wir auch im Bereich
der Arbeit ermöglichen, dass es Persönliche Budgets
gibt, die Menschen Hilfe bekommen und die behinderten
Menschen von nicht behinderten Menschen nicht deswe-
gen getrennt werden, weil sie Unterstützung brauchen.

Ein Letztes. In all den Debatten um Schule, Kinder-
garten und vieles mehr dürfen wir die vielen alten Men-
schen mit Behinderung nicht vergessen. Auch sie brau-
chen Barrierefreiheit; denn sie wollen dort wohnen
bleiben, wo sie jetzt wohnen. Auch sie wollen nur im äu-
ßersten Fall in eine Einrichtung. Deswegen sind Investi-
tionen in Barrierefreiheit aus meiner Sicht Investitionen
in die Zukunft.





Hubert Hüppe


(A) (C)



(D)(B)


Wer Inklusion will, der sucht Wege, wer sie nicht
will, sucht Begründungen. Lassen Sie uns nach Wegen
suchen.

Vielen Dank.


(Beifall im ganzen Hause)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720505800

Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der Kollege Oliver

Kaczmarek.


(Beifall bei der SPD)



Oliver Kaczmarek (SPD):
Rede ID: ID1720505900

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir die Inklusionsdis-
kussion vor Ort betrachten, dann sehen wir, dass der Be-
reich Bildung oft eine herausgehobene Bedeutung hat.
Dabei werden viele Sorgen, Hoffnungen, aber eben auch
Ängste deutlich: Welche Kita ist die richtige? Welche
Schule ist die richtige? Was passiert nach der Schule?
Wie finde ich einen Studienplatz? Aber es geht auch um
die Fragen: Reicht meine Ausbildung als Lehrer, um der
inklusiven Bildung gerecht zu werden? Wer hilft mei-
nem Kind? Was passiert mit meinem Arbeitsplatz?

Das alles zeigt aus meiner Sicht die Dimension und
Herausforderung für unser Bildungswesen. Inklusion be-
tont Individualität. Inklusion meint: Verschiedenheit ist
der Normalfall. Genau das bricht mit der leider auch
heute noch zu oft im deutschen Bildungswesen vorhan-
denen Logik des Sortierens und Aussiebens. Inklusion
weist weit über die isolierte Betrachtung von Handicaps
einzelner Menschen hinaus. Inklusion ist ein Entwurf für
ein Zusammenleben in unserer Gesellschaft. Wir sollten
es auch in dieser Komplexität begreifen.


(Beifall bei der SPD)


Ich glaube, dass die Umsetzung der UN-Behinderten-
rechtskonvention tatsächlich eine der größten Herausfor-
derungen ist, die das deutsche Bildungswesen derzeit zu
bewältigen hat. Sie ist eine Aufgabe, die aus meiner
Sicht nur im nationalen Maßstab bewältigt werden kann.
Wir müssen Verantwortung vor allem dort stärken, wo
inklusive Bildung umgesetzt wird, also in den Städten
und Gemeinden. Die SPD hat deshalb in ihrem Antrag
zur Umsetzung des Menschenrechts auf inklusive Bil-
dung einen „Pakt für Inklusive Bildung“ vorgeschlagen,
der zwischen Bund, Ländern und Kommunen geschmie-
det werden soll. Der Bund darf sich eben nicht darauf
beschränken, die Konvention zu ratifizieren; er muss mit
anpacken, wenn es um die Umsetzung und die Qualität
geht. Wer die Länder und die Kommunen bei der Umset-
zung nicht alleine lassen will, der darf auch vor dem Ko-
operationsverbot in der Bildung nicht kapitulieren.
Bund, Länder und Kommunen müssen das zusammen
angehen. Deswegen muss das Kooperationsverbot fal-
len.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Inklusive Bildung ist eine Aufgabe für alle Etappen
einer Bildungsbiografie und alle Institutionen des Bil-

dungswesens. Der Grund liegt auf der Hand: Überall im
Bildungswesen gibt es talentierte Menschen auch mit
Behinderung. Es ist unsere Aufgabe, das System so gut
wie möglich darauf einzurichten, dass es ihnen gerecht
wird. Ich möchte angesichts der Kürze der Zeit hier nur
zwei Beispiele nennen.

Erstens. Inklusive Bildung und individuelle Förde-
rung brauchen mehr Zeit. Deshalb schlagen wir vor, ein
neues Bundesprogramm aufzulegen, durch das die An-
zahl der Ganztagsschulen wieder deutlich ansteigt. Es
macht ja keinen Sinn, nur die Gemeinsamkeiten zu beto-
nen. Hier gibt es eben auch einen Unterschied. Gut aus-
gestattete Ganztagsschulen und Ganztagsbetreuung sind
elementare Bedingungen für inklusive Bildung. Das
Geld wäre dort sicher besser angelegt als bei dem Be-
treuungsgeld, dem einige hier nur widerwillig zuge-
stimmt haben.


(Beifall bei der SPD)


Zweitens. Gleichberechtigte Teilhabe von Menschen
mit Behinderung am Arbeitsmarkt kann einen Beitrag
zur Behebung des Fachkräftemangels leisten. Wir brau-
chen deshalb gute Übergänge von der Schule in das Ar-
beitsleben. Wir brauchen spezielle Maßnahmen zur Be-
rufsorientierung und zur Ersteingliederung. Ich habe es
hier schon einmal gesagt: Die „Initiative Inklusion“ der
Bundesregierung ist sicherlich ein erster richtiger, aber
leider nicht hinreichender Schritt. Wir müssen grund-
sätzlich auch arbeitslosen Menschen mit Behinderung
Zugang zu allen Instrumenten der Sozialgesetzbücher II
und III, und zwar zielgruppenspezifisch und in ausrei-
chender Anzahl, zur Verfügung stellen. Deshalb darf
man nicht dort kürzen, wo es um die Schwächsten geht.
Die Kürzungen der Bundesregierung bei den Mitteln für
die aktive Arbeitsmarktpolitik treffen direkt und indirekt
Menschen mit Behinderung. Deswegen treffen sie auch
indirekt den Prozess der Inklusion.

Wir reden oft über Strukturen und institutionelle
Übergänge, wenn wir über inklusive Bildung sprechen.
Dabei dürfen wir eines nicht außer Acht lassen: Das
Herzstück gelungener inklusiver Bildung sind aus mei-
ner Sicht motivierte und engagierte Erzieher, Lehrer, So-
zialarbeiter, Heilpädagogen, Ausbilder, Sonderpädago-
gen usw. Wir müssen sie besser qualifizieren, und wir
müssen sie begleiten. Wir brauchen sie alle als Profis für
inklusive Bildung.

Wir dürfen auch nicht vergessen, Betroffene zu Betei-
ligten zu machen. Herr Seifert hat gerade schon darauf
hingewiesen. Menschen mit Behinderung müssen den
Prozess hin zur inklusiven Bildung auf Augenhöhe mit-
gestalten können, damit nichts über sie ohne sie ent-
schieden wird. Zur gleichberechtigten Teilhabe gehört
gleichberechtigte Mitbestimmung im Bildungswesen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Meine Damen und Herren, ich bin überzeugt: Wenn
es uns gelingt, die Philosophie der inklusiven Bildung
als Idee des Zusammenlebens der Gesellschaft zu ver-
wirklichen, wenn es uns gelingt, dass alle mitmachen
und motiviert sind, dann wird die inklusive Bildung un-





Oliver Kaczmarek


(A) (C)



(D)(B)


serem gesamten Bildungswesen einen entscheidenden
Entwicklungsschub geben können. Davon haben alle et-
was. Also lassen Sie es uns angehen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720506000

Für die FDP-Fraktion hat jetzt die Kollegin Helga

Daub das Wort.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Helga Daub (FDP):
Rede ID: ID1720506100

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen und

Kolleginnen! Ich komme jetzt zu dem Bereich „Inklu-
sion in der Entwicklungspolitik“. Das Wort „Inklusion“
ist zugegebenermaßen auch für mich immer noch ein
bisschen sperrig; aber das ist nun einmal der Begriff, und
wir werden uns im Laufe der Zeit daran gewöhnen.

Weltweit sind 15 Prozent der Menschen behindert.
80 Prozent dieser Menschen leben in Entwicklungslän-
dern. Behinderte gehören gerade in Entwicklungslän-
dern zu den am stärksten benachteiligten Gruppen – sei
es beim Zugang zu medizinischer Versorgung, sei es bei
den Chancen in Schul- und Berufsbildung, sei es gene-
rell hinsichtlich der Möglichkeiten der gesellschaftlichen
und wirtschaftlichen Teilhabe. Behinderte werden häufig
diskriminiert, gelten als Belastung für ihre Familien, ja,
man schämt sich ihrer.

Der wertvolle gesellschaftliche Beitrag, den behin-
derte Menschen leisten können, geht somit verloren. Das
Recht auf Gleichbehandlung und Selbstbestimmung ist
bei uns mittlerweile selbstverständlich – oder sollte es
sein. Auch bei uns gibt es da noch Defizite; aber das ist
ein himmelweiter Unterschied dazu, dass Behinderten in
Entwicklungsländern diese Rechte häufig verwehrt wer-
den. Das ist ein unhaltbarer, entwürdigender Zustand
und ein eklatanter Verstoß gegen die Menschenrechte.

Wir dürfen nicht vergessen, dass die Behinderung vie-
ler Menschen eine Folge von Bürgerkriegen ist, gerade
in Entwicklungsländern. Die Regierungen dieser Länder
sind infolge der Bürgerkriege viel zu schwach, um sich
dieser Menschen annehmen zu können. Da müssen wir
einschreiten und helfen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deutschland hat die Behindertenrechtskonvention
2009 als einer der ersten Staaten unterschrieben und rati-
fiziert. Mit dem Nationalen Aktionsplan der Bundes-
regierung zur Umsetzung der Konvention gehört
Deutschland zu den ersten europäischen Staaten, die sich
dieses Themas auch im Rahmen ihrer Entwicklungspoli-
tik ganz konkret annehmen. Dass Menschen mit Behin-
derung die universellen Rechte gewährt werden, wird
hiermit ausdrücklich thematisiert und zu einer verbindli-
chen Vorgabe gemacht.

Liebe Kollegen und Kolleginnen von der SPD, Sie
fordern in Ihrem Antrag, die Zivilgesellschaft müsse in
die Erarbeitung der Strategie sehr viel stärker eingebun-
den werden, und stellen einen umfassenden Maßnah-
menkatalog auf. So weit, so gut. Mit einem starren Rah-
men werden Sie einer komplexen Herausforderung wie
der inklusiven Gestaltung der Entwicklungszusammen-
arbeit allerdings nicht gerecht.

Im Übrigen ist die Zivilgesellschaft – auch dank Ihrer
Regierungsarbeit – selbstverständlich bereits eingebun-
den: Seit dem Jahr 2000 hat das BMZ über 200 spezifi-
sche Projekte mit einem Gesamtvolumen von 60 Millio-
nen Euro gefördert und sie größtenteils mithilfe privater
und kirchlicher Träger – also der Zivilgesellschaft –
durchgeführt. Daran waren Sie in Ihrer Regierungszeit
aktiv beteiligt. Sie wollen das alles immer anhand des
Geldes bewerten. Das mag gut gemeint sein, ist aber
deutlich zu kurz gegriffen. Das ist hier nicht der alleinige
Ansatz.

Was wollen wir mit dem Wort „Inklusion“ letztlich
aussagen? Das heißt doch, dass Menschen mit Behinde-
rung in allen Lebensbereichen ganz normal eingebunden
sind bzw. werden. Wir verfolgen dazu einen zweigleisi-
gen Ansatz: Erstens werden Maßnahmen gefördert, die
spezifisch auf Menschen mit Behinderungen ausgerich-
tet sind. Zweitens sollen deren Belange darüber hinaus
auch in allen relevanten entwicklungspolitischen Vorha-
ben ausreichend Berücksichtigung finden.

Das Problem Ihres Ansatzes sehe ich darin, dass Sie
infrastrukturelle Maßnahmen, die natürlich auch den Be-
hinderten zugutekommen, in ihre Kalkulation nicht mit
aufnehmen, weil es nicht unter dem entsprechenden
Haushaltstitel steht.

Im Rahmen des 3. Runden Tisches zur Inklusion vom
Februar dieses Jahres hat sich der rege und produktive
Austausch mit der Zivilgesellschaft weiter etabliert. Ge-
meinsam mit Vertretern aus ebendieser Zivilgesellschaft,
die ja auch die entsprechende Expertise mitbringen, und
aus der Politik wurden Ideen und Vorschläge diskutiert.
All dies ist in ein Strategiepapier eingeflossen, das noch
in diesem Jahr verabschiedet werden soll. Konkret wer-
den über 40 Maßnahmen aus zehn unterschiedlichen Be-
reichen gefördert, wie zum Beispiel Gesundheit, berufli-
che Bildung, soziale Sicherung und andere Dinge.

Bei meinen Besuchen in Entwicklungsländern habe
ich selbst gesehen, wie Behinderten die Chancen auf ein
selbstbestimmtes und würdevolles Leben verwehrt blei-
ben. Die Lebensumstände dieser Kinder, Frauen und
Männer zu verbessern, ist für uns alle eine fortwährende
Aufgabe.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Diesen Dienstag wurde hier in Berlin das unabhän-
gige Deutsche Evaluierungsinstitut der Entwicklungszu-
sammenarbeit eröffnet. Dieses unabhängige Institut – ich
betone: unabhängige – untersucht alle Projekte und Pro-
gramme auf Erfolg und Effizienz. Dazu gehört auch un-
sere Arbeit, die wir für die Inklusion von behinderten





Helga Daub


(A) (C)



(D)(B)


Menschen leisten. Liebe Kolleginnen und Kollegen von
der SPD, das ist sicherlich auch in Ihrem Sinne. Übri-
gens: Der Chef dieses Instituts, Professor Helmut Asche,
ist kein Mitglied einer der Regierungsparteien.

Unser Ansatz ist der umfassendere. Deshalb bitte ich
Sie um Zustimmung zu unserem Antrag.

Danke.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720506200

Für Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege

Uwe Kekeritz.


Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720506300

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und

Kollegen! Frau Daub hat schon darauf hingewiesen: In
Entwicklungs- und Schwellenländern ist die Anzahl der
Menschen mit Behinderung überproportional hoch. Das
hat viele Ursachen, auch strukturelle. Es fehlen medizi-
nische Einrichtungen, und es fehlen therapeutische Ein-
richtungen. Das zeigt uns, dass Behinderung und Armut
in einem engen Zusammenhang stehen. Umgekehrt gilt
aber auch: Behinderung vergrößert die Armut enorm –
und in vielen Fällen extrem.

Kulturelle Faktoren – Frau Daub hat auch das schon
angesprochen – sind sehr zentral in Entwicklungslän-
dern. Die Menschen werden oftmals ausgeschlossen und
nicht entsprechend ihrem Potenzial gefördert. Man muss
auch erwähnen: Frauen sind davon wieder einmal über-
proportional betroffen.

Besonders nachdenklich sollte es uns machen, dass
Behinderung auch Folge von Krieg ist – Frau Daub hat
„Bürgerkrieg“ gesagt – und dass mit dem Ende des Krie-
ges die Gefahr der Verstümmelung längst nicht vorbei
ist. Über 100 Millionen Minen lauern als tödliche Gefahr
in der Erde und werden in den nächsten Jahrzehnten
noch 20 000 Menschen jährlich verkrüppeln. Meistens
sind es Kinder. Hier könnte wirklich Präventionsarbeit
geleistet werden. Deutschland und die internationale Ge-
meinschaft müssten hier sehr viel mehr leisten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Das BMZ gibt ein Bekenntnis zu einer zweigleisigen
Behindertenpolitik ab. Neben spezifischen Maßnahmen
für Behinderte – Gleis 1 – sollen bei allen entwicklungs-
politischen Maßnahmen – Gleis 2 – Menschen mit Be-
hinderung besonders berücksichtigt werden. Bekennt-
nisse sind wichtig und notwendig, aber Bekenntnisse
sind nur die Grundlage zur Ausarbeitung konkreter Stra-
tegien und Umsetzungspläne, und hier gibt es noch enor-
men Nachholbedarf.

In den letzten drei Jahren habe ich in den Entwick-
lungsländern viele deutsche Projekte besucht. Mein sub-
jektiver Eindruck ist, dass der zweigleisige Ansatz so gut
wie nicht existent ist. Objektiv kann ich von meinen Rei-
sen berichten, dass ich in keinem der vielen deutschen
Projekte Behinderte überhaupt wahrgenommen hätte.

Nie wurde uns erklärt, dass Behinderte am Projekt betei-
ligt sind oder im Projekt integriert sind, obwohl es in
vielen Projekten sicher gute Einsatzmöglichkeiten für
Menschen mit Behinderung gibt. Da klafft also eine er-
hebliche Lücke zwischen theoretischem Anspruch und
der konkreten Politik.

Damit komme ich zum „Nichtantrag“ der Koalition.
Soviel ich weiß, ist es Aufgabe des Parlaments, Anträge
an die Regierung zu stellen. Aber der Koalitionsantrag
richtet sich nicht an die Regierung, sondern an das Parla-
ment. Unter Punkt II, in dem normalerweise die Forde-
rungen aufgeführt werden, heißt es:

Der Deutsche Bundestag unterstützt die Anliegen
der Bundesregierung …

Dann listen Sie sechs Anliegen auf.

Ich wusste gar nicht, dass es das Instrument des An-
trags an das Parlament gibt. Ihr Antrag ist aber insofern
auch konsequent, als Sie im Ausschuss den Antrag der
SPD-Fraktion mit dem Argument abgelehnt haben, er sei
zwar inhaltlich korrekt, es stehe nichts Falsches darin, er
sei sogar sehr gut, aber er sei überflüssig, weil diese
Bundesregierung ohnehin alles richtig mache.


(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ihr Antrag, den Sie jetzt vorlegen, ist deshalb auch ein
Lobgesang ohne Forderungen. Es ist wirklich schade
– nein, eigentlich ist es traurig –, meine Kolleginnen und
Kollegen von den Koalitionsfraktionen, dass sich die
Entwicklungspolitikerinnen und Entwicklungspolitiker
zu einer PR-Agentur des Ministeriums umfunktionieren
lassen. Insofern ist Herr Minister Niebel sehr erfolg-
reich. Frau Staatssekretärin, ich gratuliere ihm dazu. Ich
bin sicher, Sie werden ihm meinen Glückwunsch über-
mitteln.

Art. 32 der Behindertenrechtskonvention wird er da-
mit aber nicht gerecht. Dieser Artikel verpflichtet uns
nicht zu Bekenntnissen und toll klingenden Papieren,
sondern zu konkreten Maßnahmen. Genau das leistet
diese Regierung viel zu wenig.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720506400

Das Wort hat jetzt der Kollege Paul Lehrieder von der

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1720506500

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Herzlichen Dank zunächst für Ihre An-
träge. Die zahlreichen Anträge zum Thema Inklusion
zeigen, dass hier fraktionsübergreifend Einigkeit besteht
und der zentrale Leitgedanke der UN-Behindertenrechts-
konvention, nämlich die Idee der Inklusion, unser ge-
meinsames Ziel ist.





Paul Lehrieder


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich möchte mich an dieser Stelle ausdrücklich auch
bei den behindertenpolitischen Sprechern aller Fraktio-
nen bedanken für die Hinweise, für die regelmäßige
Aufarbeitung der Themen für die Kolleginnen und Kol-
legen, die nicht jeden Tag so tief in der behindertenpoli-
tischen Arbeit stecken wie die behindertenpolitischen
Sprecher. Ich bedanke mich auch für die Sensibilisierung
der Kolleginnen und Kollegen, die nicht täglich mit die-
sem Thema zu tun haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Je öfter wir über das wichtige Thema Inklusion spre-
chen und über Fraktionsgrenzen hinweg nach gemeinsa-
men Lösungen suchen, desto besser ist dies für die Men-
schen mit Behinderung in unserem Land. In Deutschland
leben immerhin 11,7 Prozent der Bürgerinnen und Bür-
ger mit einer Behinderung; das sind 9,6 Millionen Men-
schen. Nur 5 Prozent sind von Geburt an behindert,
95 Prozent erlangen erst im Laufe ihres Lebens eine Be-
hinderung.

Ich kann es gar nicht oft genug betonen, dass mir das
selbstverständliche miteinander Leben und die gleichbe-
rechtigte und selbstbestimmte Teilhabe für diese fast
10 Millionen Menschen mit Behinderung besonders am
Herzen liegen. Wir sind bereits auf einem sehr guten
Weg, aber natürlich – das haben die Vorredner bereits
ausgeführt – noch längst nicht am Ziel angelangt. Unser
gemeinsames Ziel muss es sein, alle – ich meine damit
alle Parteien: Bundesregierung, Länder und Kommunen,
Verbände, Arbeitgeber und Bürger – dazu zu bewegen,
ihren Beitrag für eine inklusive Gesellschaft zu leisten.

Für mich zählen, lieber Herr Kollege Seifert, bei der
inklusiven Gesellschaft auch die Einrichtungen für Men-
schen mit besonderem Förderbedarf dazu. Ich spreche
bewusst nicht von Sonderschulen. Letztendlich sind es
Förderschulen, die bereits eine sehr segensreiche Arbeit
geleistet haben. Wir sollten uns, ähnlich wie es im Fami-
lienrecht üblich ist, immer am Wohl des betreffenden
Menschen, am Wohl des betreffenden Kindes orientie-
ren.


(Zuruf der Abg. Mechthild Rawert [SPD])


Sehr viele dieser Kinder, Frau Kollegin Rawert, werden
im Rahmen der Inklusion an einer Regelschule beschult
werden können. Aber es wird auch Kinder geben, die
von einer sie behütenden Einrichtung mehr profitieren
als eben von einer Regelschule.

Kürzlich hat mir eine Mutter in meinem Wahlkreis
gesagt: Ich bin heilfroh, dass mein Kind an dieser spe-
ziellen Schule ist. Da weiß ich, dass die Lehrer mit gro-
ßem Engagement und mit großer Fachkompetenz auf ge-
nau diese Art von Behinderung eingehen können. – In
vielen Fällen wird eine Einschulung in der Regelschule
möglich sein. Aber wir sollten hier nicht das Kind mit
dem Bade ausschütten. Ich bedanke mich ausdrücklich
bei allen Pädagogen, die in Fördereinrichtungen tätig
sind.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Mechthild Rawert [SPD]: Bei den anderen bitte auch!)


– Bei den anderen natürlich auch, Frau Kollegin. Danke
für den Hinweis. Ich bedanke mich auch bei den Pädago-
gen, die in allgemeinbildenden Schulen tätig sind.

Mit dem Nationalen Aktionsplan sorgt die unionsge-
führte Bundesregierung für eine umfassende Umsetzung
der UN-Behindertenrechtskonvention und kommt auf
diesem Weg in eine inklusive Gesellschaft einen großen
Schritt voran. Der Nationale Aktionsplan hat bereits
– das wird auch weiterhin so sein – das Leben der rund
9,6 Millionen Menschen mit Behinderung in Deutsch-
land maßgeblich verbessert und positiv beeinflusst.


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Überhaupt nicht!)


Mit den etwa 200 verschiedenen Maßnahmen aus allen
Lebensbereichen wollen wir nicht nur die physischen
Barrieren beseitigen, sondern auch die psychischen, die
eine Integration und Berührung von Menschen mit Be-
hinderung bislang erschweren.

Auch die vom Ausschuss für Arbeit und Soziales am
19. März dieses Jahres durchgeführte Sachverständigen-
anhörung hat gezeigt, dass die unionsgeführte Bundes-
regierung mit dem Nationalen Aktionsplan zur Umset-
zung der UN-Behindertenrechtskonvention auf einem
sehr guten Weg ist. Bei der Entwicklung des Nationalen
Aktionsplanes wurden ganz bewusst Menschen mit Be-
hinderung sowie deren Verbände mit einbezogen, um
eine nachhaltige Wirkung und Qualität der Maßnahmen
zu gewährleisten.

Von Frau Kollegin Michalk wurde bereits darauf hin-
gewiesen: Wir haben mittlerweile im Nahverkehr die
Beförderungsgrenze von 50 Kilometern überwinden
können, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Wir
haben bei Ausschreibungen von Integrationsfachdiens-
ten die Zuverlässigkeit und die Passgenauigkeit der Ein-
richtungen stärker zu berücksichtigen. Auch da sind wir
auf einem guten Weg und können das Problem gut lösen.

Gerade auf dem Arbeitsmarkt hat sich, wie die Sach-
verständigen bestätigen konnten, die Situation von Men-
schen mit Behinderung bereits erheblich verbessert. Ge-
rade vor dem Hintergrund des demografischen Wandels
und des Fachkräftemangels gilt es, die hervorragenden
Potenziale und die Qualifikationen, die in vielen behin-
derten Menschen schlummern, zu nutzen. Gerade auch
in puncto Motivation und Engagement können wir uns
bei den Menschen mit Behinderung eine große Scheibe
abschneiden.

Dass zahlreiche Unternehmen hier bereits vorbildli-
che Arbeit leisten, möchte ich nicht unerwähnt lassen.
Mehr als 1 Million schwerbehinderte Menschen befin-
den sich bereits in Beschäftigung. Aber unser Ziel muss
weiterhin sein, durch Überzeugungsarbeit jene Rahmen-
bedingungen zu schaffen, damit sich diese Zahl noch
weiter erhöht.

Hierzu möchte ich die „Initiative Inklusion“ der Bun-
desregierung anführen, mit deren Hilfe die Bundesregie-





Paul Lehrieder


(A) (C)



(D)(B)


rung gemeinsam mit Ländern, Bundesagentur für Arbeit,
Kammern sowie Integrationsämtern und Hauptfürsorge-
stellen schwerbehinderte Menschen gezielt in Arbeit
bringen möchte; denn gerade die Teilhabe am Arbeitsle-
ben ist der Grundstein für eine erfolgreiche Inklusion in-
nerhalb der Gesellschaft.

Das Bewusstsein, gebraucht zu werden, mitzuwirken,
einen Beitrag für die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt
zu leisten, ist für die Menschen mit Behinderung sehr
wichtig, genauso wie die Wertschätzung der anderen, die
die Menschen mit Behinderung hier verdienen. Arbeit zu
haben, bedeutet, gebraucht zu werden, und bringt soziale
Kontakte und Anerkennung.

Hier ist sicher noch einiges zu tun. In vielen Berei-
chen werden wir auch in Zukunft noch große Ziele vor
uns haben. Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg. Es
ist ein Etappensieg. Aber wir haben in den nächsten Jah-
ren noch vieles zu tun. Wir werden über dieses Thema
hier im Plenum sicherlich in Zukunft noch sehr oft de-
battieren.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720506600

Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort die Kollegin

Karin Roth.


(Beifall bei der SPD)



Karin Roth (SPD):
Rede ID: ID1720506700

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Wie notwendig die UN-Behindertenrechtskonven-
tion ist, hat, glaube ich, die Debatte gezeigt. Wie wichtig
es ist, fraktionsübergreifend Gemeinsamkeiten festzu-
stellen, ist auch unbestritten. Allerdings würden wir
unseren internationalen Verpflichtungen nicht gerecht
werden, wenn wir uns nur innenpolitisch auf die Not-
wendigkeit der Veränderungen in diesem Bereich be-
schränken würden.

Wir können froh sein, dass sich die Situation der
Menschen mit Behinderung bei uns Schritt für Schritt
verbessert hat. Das wurde hier deutlich. Es ist auch noch
viel zu tun. Immerhin leben fast 10 Millionen Menschen
mit unterschiedlichen Behinderungen in unserem Land.
Deren Lebenssituation in allen politischen Bereichen zu
berücksichtigen, sie gesellschaftlich nicht auszuschlie-
ßen und überall politische und gesellschaftliche Teil-
habe, aber auch Barrierefreiheit zu gewährleisten, das ist
unser Anspruch und auch unsere Verpflichtung.

Wir wären allerdings auf einem Auge blind, wenn wir
nicht zur gleichen Zeit die Situation der über 800 Millio-
nen Menschen mit Behinderung in den Entwicklungslän-
dern sehen würden, die meistens ausgegrenzt sind – ver-
bunden mit einem großen Stigma – und nicht die
Möglichkeiten der Integration und der Inklusion nutzen
können. Sie leben am Rand der Gesellschaft. Wir müs-
sen die Belange dieser Menschen in unserer Politik
wahrnehmen und sie insbesondere in den Mittelpunkt
unserer Entwicklungspolitik stellen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Umso beschämender war es, dass die Bundesregie-
rung im Entwurf zum Nationalen Aktionsplan zur
Umsetzung der Behindertenrechtskonvention die inter-
nationale Verpflichtung betreffend die Menschen mit
Behinderung in Entwicklungsländern schlichtweg ver-
gessen hatte. Umso merkwürdiger ist der Antrag der Ko-
alitionsfraktionen, der vorsieht, sich auf bereits Vorhan-
denes zu beschränken. Mein Kollege Kekeritz hat dazu
bereits alles gesagt, was notwendig ist. Mehr Engage-
ment und mehr Empathie haben die Menschen mit Be-
hinderung in den Entwicklungsländern wahrlich ver-
dient. Auch wenn wir schon einiges auf den Weg
gebracht haben, Frau Kollegin Daub: Das reicht aller-
dings noch nicht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Erst auf Intervention der SPD-Bundestagsfraktion
und auf Druck engagierter Organisationen, die die Situa-
tion der Menschen mit Behinderung gemeinsam mit den
Betroffenen verbessern wollen, gibt es nun ein zusätzli-
ches Kapitel im Nationalen Aktionsplan. Man kann sa-
gen: Prima! Die Opposition hat etwas geleistet, und die
Regierung ist ihr gefolgt. – So muss es sein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ab sofort gilt auch in der Entwicklungszusammen-
arbeit, die Belange der Menschen mit Behinderung in al-
len Bereichen zu verankern und alle beteiligten Akteure
in inklusiven Projekten und Strukturen zu verpflichten.
Das ist wahrlich ein wichtiger Schritt, um die bisher ver-
gessenen Menschen mit Behinderung in den Entwick-
lungsländern zu beachten und sie zu unterstützen.

Zukünftig sollen nach dem Willen der SPD alle Neu-
vorhaben – ich betone: alle – auch zur Verbesserung der
Lebenssituation dieser Menschen beitragen. Damals gab
es im sozialdemokratisch geführten Entwicklungsressort
bereits Sektorenkonzepte, die Menschen mit Behinde-
rung berücksichtigten. So konnten zahlreiche Organisa-
tionen wie die Christoffel-Blindenmission, der Verein
„Behinderung und Entwicklungszusammenarbeit“ oder
die Deutsche Lepra- und Tuberkulosehilfe wichtige Pro-
jekte in den betreffenden Ländern durchführen. Die Er-
fahrung dieser Organisationen zu nutzen und gemeinsam
mit ihnen eine entwicklungspolitische Strategie zu erar-
beiten, wurde zunächst von Ihrem Ministerium unterlas-
sen. Erst durch die Initiative der SPD wurden die Orga-
nisationen mit ihrer Kompetenz einbezogen; das ist
richtig. Endlich wird zudem der selbstverständliche An-
spruch der Menschen mit Behinderung auf Teilhabe
– „Nichts über uns ohne uns“ – erfüllt. Auch das ist ein
Fortschritt, den wir als Opposition verbuchen können.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Allerdings hat Minister Niebel im Haushalt keine
finanzielle Zielgröße verankert und damit die Chance
vertan, Programme und Projekte nachvollziehbar zu fi-





Karin Roth (Esslingen)



(A) (C)



(D)(B)


nanzieren. Es bleibt beim Versprechen ohne Geld. Aber
das kennen wir ja schon.

Im Übrigen hat das Außenministerium – es war bis
gerade eben hier noch vertreten –, das für die humanitäre
Not- und Übergangshilfe zuständig ist, bei seinen Leitli-
nien zu Maßnahmen für Menschen mit Behinderung vie-
les vergessen. Hier besteht dringender Handlungsbedarf
seitens des Außenministers Westerwelle; denn diese
Leitlinien sollen im Rahmen der Not- und Übergangs-
hilfe besonders Menschen mit Behinderung helfen. Hier
muss nachgebessert werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Die SPD-Bundestagsfraktion setzt auf eine kohärente
Politik, in der alle Maßnahmen ineinandergreifen und
keine Maßnahme isoliert betrachtet wird. Dazu gehören
auch die international abgestimmte und intensivierte
Politik der Friedenssicherung und Konfliktprävention,
um den Ursachen von Behinderung, wie zum Beispiel
Landminen – ein großes Thema –, entgegenzuwirken,
aber auch eine Verstärkung der entwicklungspolitischen
Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheits-
versorgung. Das sind wichtige Punkte, die dazu führen,
dass Menschen mit Behinderung mehr Lebenschancen
bekommen. Das ist nicht selbstverständlich, aber not-
wendig.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wer Menschen mit Behinderung helfen will, der muss
auch die Forschung zur Vermeidung von Behinderung
intensivieren; denn oft entsteht Behinderung durch ar-
mutsbedingte und vernachlässigte Krankheiten. Das wis-
sen wir. Deshalb müssen wir in diesem Bereich die For-
schung verstärken, nicht nur deutschlandweit, sondern
auch europaweit und international.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Die spezielle Situation von Menschen mit Behinde-
rung muss auch in den jetzt stattfindenden MDG-Prozess
Eingang finden. Das finde ich deshalb so wichtig, weil
darüber zurzeit debattiert wird. Beim letzten Mal waren
bei den Millenniumszielen die Menschen mit Behinde-
rung vergessen worden. Beim nächsten Mal müssen wir
alle gemeinsam dafür sorgen, dass sie nicht vergessen
werden. Das ist unsere internationale Verpflichtung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dem kann auch die FDP zustimmen.

Kohärente Politik bedeutet, dass auch in Regierungs-
verhandlungen mit den Partnerländern die Umsetzung
der Behindertenrechtskonvention sowohl rechtlich als
auch im Regierungshandeln nicht nur thematisiert wird,
sondern gleichzeitig auch Unterstützung angeboten wird
und die Zivilgesellschaft einbezogen wird; denn auch
dort gibt es diese Kompetenzen, so wie in Deutschland
auch. Nur wenn es uns gelingt, in diesen Ländern Men-
schen mit Behinderung zu integrieren, anstatt sie zu dis-

kriminieren, haben wir den Auftrag der UN-Konvention
erfüllt. Deshalb muss auch bei uns und in diesen Län-
dern die Inklusion in den Köpfen beginnen. Dass Aus-
grenzung eine nicht akzeptable Diskriminierung ist,
muss im Bewusstsein der gesamten Gesellschaft veran-
kert sein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir in Deutschland haben einen langen Weg zurück-
gelegt – auch haben wir eine schwierige Geschichte; da-
rauf ist schon von meiner Kollegin Schmidt hingewiesen
worden –, um die Diskriminierung von Menschen mit
Behinderung aufzubrechen und allmählich eine gleich-
berechtigte Teilhabe in allen Bereichen zu ermöglichen.
Auch bei uns gibt es noch viel zu tun, um das Denken zu
ändern und um diskriminierungsfreie Bedingungen zu
schaffen. Dabei dürfen wir uns nicht nur auf unsere na-
tionale Verantwortung beschränken, sondern wir müssen
alles tun, um Menschen mit Behinderungen weltweit zu
helfen.

Lassen Sie mich mit einem Zitat des Direktors der
Christoffel-Blindenmission schließen. Er sagte:

Ein Leben in Armut führt oft zu Behinderungen und
ein Leben mit Behinderungen zu Armut. Diesen
Teufelskreis müssen wir durchbrechen, und die in-
ternationale Entwicklungszusammenarbeit muss
Menschen mit Behinderungen stärker berücksichti-
gen.

Genau dies will die SPD mit ihrem Antrag erreichen.
Da es so viele Gemeinsamkeiten am heutigen Tage gibt,
schlage ich vor, auch unserem Antrag zuzustimmen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720506800

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt der Kollege

Klaus Riegert.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Klaus Riegert (CDU):
Rede ID: ID1720506900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Weltweit leben etwa 15 Prozent der Menschen mit einer
Behinderung. Das sind über 1 Milliarde Menschen.
80 Prozent aller Menschen mit Behinderungen leben in
Entwicklungsländern. Der Weltbehindertenbericht be-
legt: Die meisten Menschen mit Behinderungen haben
schlechtere Chancen auf Gesundheitsversorgung, Schul-
und Berufsausbildung und wirtschaftliche Teilhabe. Sie
werden in den Entwicklungsländern häufig diskriminiert
und ausgegrenzt. Viele leben in Armut.

Menschen mit Behinderungen werden weder in der
Millenniumserklärung noch in den Millenniumsentwick-
lungszielen ausdrücklich erwähnt. Deshalb ist es not-
wendig und richtig, die Einhaltung der Menschenrechte
von Menschen mit Behinderungen in der Entwicklungs-
zusammenarbeit immer wieder zu thematisieren.


(Beifall bei der CDU/CSU)






Klaus Riegert


(A) (C)



(D)(B)


Wir verstehen Entwicklungspolitik als praktische
Menschenrechtspolitik. Das zeigt auch unser Menschen-
rechtskonzept. Wer Entwicklung fördern will, muss
Menschenrechte stärken. Wer Menschenrechte stärkt,
der fördert Entwicklung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir betrachten
Menschen mit Behinderungen als aktive Partner bei der
Umsetzung ihrer Rechte. Daher fördern wir nicht nur
Programme für Menschen mit Behinderungen; wir stre-
ben auch an, dass alle Entwicklungsvorhaben auch Men-
schen mit Behinderungen zugänglich sein müssen. Die
Aufforderung im SPD-Antrag, den Twin-track-Ansatz
weiter auszubauen und messbar zu machen, haben wir
längst verinnerlicht. Unsere Botschaft lautet: Entwick-
lung inklusiv gestalten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Das BMZ unterstützt in vielen Partnerländern die
Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in Entwick-
lungsprojekten. So werden in Sierra Leone und Äthio-
pien beispielsweise Menschen mit Behinderungen in Be-
schäftigungsfördermaßnahmen einbezogen. In Chile hat
die deutsche Entwicklungszusammenarbeit die Behör-
den dabei unterstützt, das nationale System zur Früh-
erziehung inklusiv für Kinder mit Behinderungen zu ge-
stalten. Durch das Projekt wurden über 2 200 behinderte
Kinder im ganzen Land in Regelkindergärten aufgenom-
men.

Nach dem Erdbeben in Haiti hat die deutsche Ent-
wicklungszusammenarbeit für Tausende Familien Über-
gangsunterkünfte gebaut. Dabei wurde besonders auf die
Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen geachtet.
In allen deutschen Maßnahmen des Wiederaufbaus in
Haiti werden die Rechte von Menschen mit Behinderun-
gen berücksichtigt. Wir haben uns im Dezember letzten
Jahres bei unserem Delegationsbesuch ein Projekt der
Christoffel-Blindenmission angesehen. Wir sind davon
überzeugt: Da wird schon einiges geleistet. Aber es war
auch zu sehen, dass es noch eine Menge zu tun gibt.

Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit arbeitet
eng mit zivilgesellschaftlichen Organisationen zusam-
men. Eine besondere Rolle kommt dabei der Förderung
von Selbstvertretungsorganisationen von Menschen mit
Behinderungen zu. In Tansania, Kambodscha und Viet-
nam hat das BMZ die Einbeziehung von Behinderten-
verbänden in nationale Armutsreduzierungsprozesse un-
terstützt. In Haiti werden Organisationen behinderter
Menschen mit Training und Workshops zu einer besse-
ren politischen Teilhabe befähigt. In Bangladesch wer-
den solche Gruppen bei der Erstellung lokaler Aktions-
pläne zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention
beteiligt.

2013 werden zwei größere angewandte Forschungs-
vorhaben aufgelegt, die sich mit der Frage der Inklusion
im Kontext von Entwicklungsländern befassen: eines zur
Inklusion von Menschen mit Behinderungen in sozialen
Sicherungssystemen, ein weiteres zu inklusiver Bildung.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir fördern die In-
klusion von Menschen mit Behinderungen in unseren
Partnerländern. Infolge der Ratifikation der Konvention
hat die Bundesregierung am 15. Juni 2011 den Nationa-
len Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der
UN-Behindertenrechtskonvention beschlossen. Als eine
Maßnahme im Aktionsplan ist die Entwicklung einer
BMZ-Strategie zur Inklusion von Menschen mit Behin-
derungen in der Entwicklungszusammenarbeit ange-
kündigt. Damit gehört Deutschland – Frau Daub hat es
schon gesagt – zu den ersten europäischen Ländern, die
sich einen eigenen Aktionsplan zur Stärkung der Rechte
von Menschen mit Behinderungen im Rahmen der Ent-
wicklungspolitik geben.

Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung ist
nur für Menschen innerhalb Deutschlands zuständig.
Deshalb habe ich den Wunsch, dass der Behindertenbe-
auftragte auch sozusagen den Rest der Welt im Blick ha-
ben sollte.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Die BMZ-Strategie wird das Format eines Aktions-
plans mit 10 Handlungsfeldern und über 40 Maßnahmen
haben. Unsere Parlamentarische Staatssekretärin im
BMZ, Gudrun Kopp, hat am 2. Februar 2012 im Rahmen
des 3. Runden Tisches zur Inklusion von Menschen mit
Behinderungen in der Entwicklungszusammenarbeit die
Eckpunkte für den Aktionsplan vorgelegt.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Der SPD-Antrag ist vom 7. März dieses Jahres. Der
3. Runde Tisch war am 2. Februar. Es war also, liebe
Frau Roth, kein Weckruf der SPD notwendig, damit wir
hier vorangehen.


(Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Doch, doch!)


Das hat das BMZ schon viel früher gemacht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wir reden auch mit den Vertretern der Zivilgesell-
schaft, mit Vertretungsorganisationen von behinderten
Menschen und mit anderen wichtigen Stakeholdern. Zu
diesem Beteiligungsprozess müssen wir nicht von Ihnen
aufgefordert werden. Wir tun das bereits. Wir kooperie-
ren selbstverständlich mit anderen Akteuren.

Im Rahmen des BMZ-Aktionsplans zur Inklusion von
Menschen mit Behinderungen werden in den kommen-
den drei Jahren pilothaft in fünf verschiedenen Themen-
bereichen in mindestens zehn Ländern Entwicklungs-
maßnahmen inklusiv konzipiert: Kambodscha und
Tansania mit Schwerpunkt „Gesundheit“; Guatemala
und Malawi im Bereich „Grundbildung“; Bangladesch
und Kambodscha mit Schwerpunkt „Demokratie, Zivil-
gesellschaft und öffentliche Verwaltung“; Vietnam,
Indonesien und Malawi im Themenbereich „soziale Si-
cherung“; Afghanistan, Laos und Namibia im Themen-
bereich „berufliche Bildung“.

Sie sehen: Wir sind schon längst da angekommen, wo
Sie mit Ihrem Antrag hin wollen.





Klaus Riegert


(A) (C)



(D)(B)



(Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/ CSU]: So ist es!)


Was Sie fordern, machen wir schon. Sie können ganz ge-
trost unserem Antrag zustimmen.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/ CSU]: Und den Antrag zurückziehen, genau!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720507000

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat

jetzt das Wort der Kollege Johannes Selle von der CDU/
CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Johannes Selle (CDU):
Rede ID: ID1720507100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrte Damen und Herren! Die Aufgaben in der
Welt sind groß, um allen Menschen Frieden, Freiheit und
Demokratie zu geben und Ihnen eine würdige Versor-
gung mit Arbeitsplätzen, Nahrung, Gesundheit, Bildung
und vielem mehr zu gewährleisten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die notwendigen Aufwendungen für den Aufbau von
guten Verwaltungen und Infrastruktur, für die Rohstoff-
erschließung, das Bildungs- und Gesundheitswesen und
für Maßnahmen im Bereich „Wasser und Abwasser“ las-
sen sich gar nicht beziffern. Die Millenniumsziele wer-
den wohl nicht in allen Punkten zu erfüllen sein – trotz
erheblicher Fortschritte.

Warum jetzt auch noch in einem Antrag einen
Schwerpunkt auf Menschen mit Behinderungen in der
Entwicklungszusammenarbeit legen? Diese Fragestel-
lung zeigt das Problem. Dass Menschen mit und ohne
Behinderung zusammenleben können, weitestgehend
selbstbestimmt, ist kein Sonderrecht mit neuen Belastun-
gen; es ist im Idealfall der Normalfall.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Es ist ein Menschenrecht, wie es in unserem Grundge-
setz heißt:

Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. …
Niemand darf wegen seiner Behinderung benach-
teiligt werden.

Dem wollen wir zu mehr Normalität verhelfen.

Nach unserem Menschenbild ist die Würde des Men-
schen nicht von seiner körperlichen Verfassung abhän-
gig. Während wir in Deutschland damit beginnen, Film-
und Fernsehbeiträge barrierefrei zu machen, stehen wir
in der Entwicklungspolitik vor ganz anderen Dimensio-
nen. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation
sind weltweit 15 Prozent der Menschen von Behinderun-
gen betroffen, in den Entwicklungs- und Schwellenlän-
dern etwa 18 Prozent, in den Industrieländern etwa
12 Prozent.

In den Entwicklungsländern sind die Risikofaktoren
für Behinderungen zahlreicher: Bewaffnete Konflikte,
zu wenig Schutz vor Naturkatastrophen, Mangelernäh-
rung, fehlender Arbeitsschutz und unzureichende medi-
zinische Sofortbehandlung treiben die Zahlen in der Sta-
tistik nach oben.

Behinderung und Armut sind eng miteinander ver-
bunden. Da Menschen mit Behinderung meist ohne Ein-
kommen leben müssen, zählen sie zu den Ärmsten. Ohne
Einkommen sinkt die Chance auf geeignete medizini-
sche Versorgung; von der richtigen Ernährung ganz zu
schweigen. Behinderung und Armut bilden einen Teu-
felskreis, aus dem kaum auszubrechen ist. Hinzu kom-
men leider ganz oft Vorurteile, Diskriminierung, Aus-
grenzung, Gewalt und Verbergen des Schicksals.

Es ist deshalb kein Wunder, dass Menschen mit Be-
hinderungen in unteren Einkommensgruppen und in
oberen Altersklassen deutlich höher vertreten sind. Die
gesellschaftliche und soziale Nichtbeachtung dieses
Themas machen körperliche und geistige Handicaps
noch einmal richtig beschwerlich. Mit knapp einem
Fünftel der Bevölkerung in Entwicklungsländern betrifft
dieses Thema relevante Bevölkerungsgruppen.

In der deutschen Entwicklungszusammenarbeit hat
das Thema bereits durchaus eine nennenswerte Rolle ge-
spielt. 188 spezifische Projekte für Behinderte mit einem
Gesamtvolumen von 54 Millionen Euro wurden seit
2000 gefördert. Zurzeit fördert das BMZ 14 inklusiv ge-
staltete Entwicklungsmaßnahmen.

Weil wir diesem Thema in der Welt begegnen, weil es
in unserem eigenen Land wichtig ist, wollen wir auch in
der Entwicklungszusammenarbeit darauf achten. Durch
die UN-Behindertenrechtskonvention kommt zusätzlich
Schwung in die Erfüllung dieses Menschenrechtes. Uns
ist es ein Anliegen, mit dem Antrag „Selbstbestimmtes
Leben von Menschen mit Behinderung – Grundsatz der
deutschen Entwicklungspolitik“ nicht nur auch spezifi-
sche Projekte durchzuführen, sondern systematisch jedes
Projekt für Inklusion zu öffnen und zusätzliche Chancen
zu schaffen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das gilt für die Einbeziehung Behinderter in Deutsch-
land in entwicklungspolitische Vorhaben. Das BMZ hat
den Freiwilligendienst „weltwärts“ darauf ausgerichtet;
das darf hier durchaus einmal anerkannt werden. Das gilt
ebenso für die Berücksichtigung der Anliegen Behinder-
ter in den Zielgebieten der Zusammenarbeit. Häufig
erleichtert die Beachtung von Barrierefreiheit bei Pro-
jekten den physischen Zugang zu Verwaltungs-, Gesund-
heits- und Bildungseinrichtungen. Die konsequente
Einbeziehung von Interessenvertretern in den Partner-
ländern wird uns auf diesem Weg voranbringen.

Wir wollen mit diesem Antrag unsere Durchführungs-
organisationen – KfW und GIZ – konsequent und syste-
matisch auf diese Querschnittsaufgabe ausrichten. Wir
wollen das in einem Monitoringsystem beobachten und
dokumentieren. Das, was für uns in Deutschland selbst-
verständlich ist, wollen wir vorleben und zur Selbstver-
ständlichkeit in den Partnerländern werden lassen. Das





Johannes Selle


(A) (C)



(D)(B)


gehört zu einer modernen, menschenrechtsorientierten
Gesellschaft.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Frau Kollegin Roth und Herr Kollege Kekeritz, wir
haben oft genug fraktionsübergreifende Anträge ver-
fasst. Aber wer in seinem Antrag schreibt, dass die Bun-
desregierung „erst auf Druck von Zivilgesellschaft und
Opposition“ reagiert hat, der will gar keinen gemeinsa-
men Antrag. Deshalb: Stimmen Sie unserem zu!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720507200

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu
dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „UN-
Konvention jetzt umsetzen – Chancen für eine inklusive
Gesellschaft nutzen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10010, den
Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/7942
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD bei
Enthaltung der Linken und der Grünen.

Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
und FDP mit dem Titel „Selbstbestimmtes Leben von
Menschen mit Behinderung – Grundsatz der deutschen
Entwicklungspolitik“. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/10330, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
und der FDP auf Drucksache 17/9730 anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Was machen die Linken? –


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Zugestimmt!)


– Zugestimmt, gut.


(Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Wir machen Sachpolitik!)


– Ist ja in Ordnung. Wenn Sie sich den Stimmen der Ko-
alition anschließen, ist das Ihre Verantwortung.


(Heiterkeit)


Die Beschlussempfehlung ist also angenommen mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion
Die Linke bei Gegenstimmen der SPD und Enthaltung
der Grünen.

Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksa-
che 17/8926 mit dem Titel „Behinderung und Entwick-
lungszusammenarbeit – Behindertenrechtskonvention
umsetzen und Entwicklungszusammenarbeit inklusiv
gestalten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung?
– Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-

fehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfrak-
tionen.

Zusatzpunkt 10. Interfraktionell wird Überweisung
der Vorlage auf Drucksache 17/10117 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.

Jetzt rufe ich die Zusatzpunkte 11 a und 11 b auf:

a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs in
stationären Vorsorge- oder Rehabilitationsein-
richtungen

– Drucksachen 17/10747, 17/10799 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Gesundheit (14. Ausschuss)


– Drucksache 17/11396 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Maria Michalk

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(14. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja
Seifert, Diana Golze, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Assistenzpflege bedarfsgerecht sichern

– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Karl
Lauterbach, Elke Ferner, Bärbel Bas, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Praxisgebühr abschaffen – Hausärztinnen
und Hausärzte stärken

– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Karl
Lauterbach, Elke Ferner, Bärbel Bas, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Praxisgebühr sofort abschaffen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Harald
Weinberg, Dr. Martina Bunge, Diana Golze,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Praxisgebühr abschaffen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Harald
Weinberg, Dr. Martina Bunge, Diana Golze,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Praxisgebühr jetzt abschaffen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Birgitt
Bender, Maria Klein-Schmeink, Elisabeth





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Zusatzbeiträge aufheben, Überschüsse für
Abschaffung der Praxisgebühr nutzen

– zu dem Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Praxisgebühr und Zusatzbeiträge jetzt ab-
schaffen

– Drucksachen 17/10784, 17/9189, 17/11192,
17/9031, 17/11141, 17/9408, 17/11179, 17/11396


Berichterstattung:
Abgeordnete Maria Michalk

Bei dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Re-
gelung des Assistenzpflegebedarfs werden wir später
über den Teil, der die Abschaffung der Praxisgebühr be-
trifft, namentlich abstimmen.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es
Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner das Wort dem Bundesgesundheitsminister Daniel
Bahr.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Daniel Bahr (FDP):
Rede ID: ID1720507300

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren Abgeordneten! Heute ist ein guter Tag für die Patien-
tinnen und Patienten in Deutschland. Nach Umfragen
sind 80 Prozent der Menschen in Deutschland der Über-
zeugung, dass das größte Ärgernis für ihre Alltagssorgen
die Praxisgebühr ist. Die bürgerlich-liberale Koalition
beweist heute, dass sie die Alltagssorgen der Menschen
ernst nimmt und das größte Ärgernis der Deutschen end-
lich abschafft. Das ist eine gute Entscheidung.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist daran bürgerlich, und was ist liberal?)


SPD und Grüne haben die Praxisgebühr seinerzeit mit
viel Hoffnung eingeführt. Sie haben erwartet, dass da-
durch die hohe Zahl der Arztbesuche reduziert würde,
dass Ärzte wieder mehr Zeit für ihre Patienten haben und
Patienten nur für wirklich notwendige Untersuchungen
die Arztpraxis aufsuchen würden. Heute, nach einigen
Jahren der Erfahrung, stellen wir fest, dass der seinerzeit
formulierte Zweck und die damit verbundenen Hoffnun-
gen nicht erfüllt worden sind.

Das zeigt den Unterschied zu anderen Eigenbeteili-
gungen, die es im Gesundheitswesen natürlich braucht.
Die bürgerlich-liberale Koalition stellt ja nicht die Ei-
genbeteiligung im Gesundheitswesen als solche infrage.
Wir sind der Überzeugung, dass es im Gesundheitswe-
sen sinnvolle Eigenbeteiligungen auch weiterhin

braucht. Die Patienten sollen erkennen, dass Kosten ver-
ursacht werden.

Allein die Umfragen beweisen, dass die Bürgerinnen
und Bürger einen großen Unterschied machen zwischen
den Eigenbeteiligungen beim Zahnersatz, den Arznei-
mittelzuzahlungen und der Eigenbeteiligung im Kran-
kenhausbereich einerseits und der Eigenbeteiligung in
Form der Praxisgebühr andererseits. Keine Eigenbeteili-
gung trifft auf eine so große Ablehnung in der Bevölke-
rung wie die Praxisgebühr.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das beweist: Die Praxisgebühr ist keine sinnvolle Eigen-
beteiligung. Sie hat keine steuernde Funktion, sie findet
in der Bevölkerung keine Akzeptanz und führt nicht zu
Transparenz über die in Anspruch genommenen Leistun-
gen.

Die Politik der christlich-liberalen Bundesregierung
hat bei den Krankenversicherungen zu einer finanziellen
Situation geführt, von der Sie in Ihrer Regierungszeit nur
hätten träumen können.


(Steffen-Claudio Lemme [SPD]: Das rettet die FDP nicht!)


Das hätten Sie durch Ihre Politik nie erreicht. Deswegen
ist es heute an der Zeit, dass wir angesichts der Über-
schüsse bei den Krankenkassen etwas davon an die Ver-
sicherten zurückgeben.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es ist und bleibt das Geld der Versicherten und der
Patienten. Es sind ihre Beiträge, die sie eingezahlt ha-
ben. Im Gesundheitsfonds werden im nächsten Jahr etwa
14 Milliarden Euro liegen und noch einmal die gleiche
Summe bei den gesetzlichen Krankenkassen selbst. Des-
wegen ist es richtig, dass wir dieses Geld nicht weiter
horten. Wir werden von dieser Summe ein finanzielles
Polster, eine solide Finanzierung stehen lassen, aber wir
werden den Patienten und Versicherten auch einen Teil
davon zurückgeben.

Es gibt viele Optionen, was man mit den Überschüs-
sen machen könnte.


(Zuruf der Abg. Mechthild Rawert [SPD])


Der Verzicht auf die Praxisgebühr bleibt jedoch die spür-
barste Entlastung der Patienten in Deutschland. Zugleich
tragen wir damit zum Bürokratieabbau bei, damit Patien-
ten und Ärzte wieder mehr Zeit für ein Gespräch in den
Arztpraxen haben.


(Beifall bei der FDP)


Deswegen hat sich die Koalition nach ausführlichen
Beratungen entschlossen, dass die Praxisgebühr ab 1. Ja-
nuar 2013 entfallen soll, damit Arzt und Patient in der
Arztpraxis wieder mehr Zeit füreinander haben, damit
die ungeheure Bürokratie, die dadurch entstanden ist, ab-
gebaut wird. Es gibt Schätzungen, die besagen, dass ein
Arzt allein für die Verwaltung der Gebühr etwa
120 Stunden pro Jahr aufwenden muss, dass sie Büro-





Bundesminister Daniel Bahr


(A) (C)



(D)(B)


kratiekosten von insgesamt ungefähr 360 Millionen
Euro pro Jahr verursacht. Bei einem Aufkommen von
1,9 Milliarden Euro ist das wirklich ein stattlicher Anteil
an Bürokratiekosten. Wenn all das in der Realität nicht
dazu geführt hat, den eigentlichen Zweck der Praxisge-
bühr zu erfüllen, dann ist es an der Zeit, dass wir jetzt
auf die Praxisgebühr verzichten.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Insofern hat die Koalition hier eine Entscheidung getrof-
fen, die den Menschen unmittelbar zugutekommt und ih-
nen in den nächsten Jahren Verlässlichkeit bringt.

Es gibt einen Witz,


(Steffen-Claudio Lemme [SPD]: Das ist die FDP!)


und der Witz geht wie folgt: Kommt ein Mann zum Arzt.
Fragt der Arzt: Was fehlt Ihnen? Sagt der Mann: Zu-
nächst einmal 10 Euro, Herr Doktor.


(Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Ha, ha, ha!)


Dieser Witz wird ab 1. Januar Geschichte sein,


(Beifall bei der FDP)


weil die Menschen sich darauf verlassen können, dass
diese unsinnige Gebühr, eine Autobahnvignette in der
Arztpraxis, nicht mehr erhoben wird.


(Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


– Ihr Genöle zeigt doch nur eines, meine Damen und
Herren von SPD und Grünen: Sie sind neidisch, dass es
eine bürgerlich-liberale Koalition ist, die die Sorgen der
Menschen ernst nimmt,


(Zurufe von der LINKEN: Oh!)


die mit ihrer Politik – durch Einsparungen bei Arznei-
mitteln, durch kluges und solides Wirtschaften, durch
die Schaffung von Arbeitsplätzen für die Menschen –
erst die Voraussetzungen dafür geschaffen hat, dass Ihr
Fehler von seinerzeit, der Fehler von Rot-Grün, die Pra-
xisgebühr einzuführen,


(Mechthild Rawert [SPD]: Seehofer!)


jetzt korrigiert werden kann. Das trifft Sie; anders kann
ich Ihr Verhalten hier heute nicht verstehen, meine Da-
men und Herren von Rot-Grün.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das Gesetz beweist zusätzlich, dass wir die Alltags-
sorgen betroffener Menschen ernst nehmen. Mit dem
Gesetz zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs wird
ein Beitrag dazu geleistet, dass Menschen, deren Behin-
derung so stark ist, dass sie auf einen Pflegeassistenten
angewiesen sind, den Pflegeassistenten künftig nicht nur
bei einem Krankenhausaufenthalt mitnehmen können;
diese Regelung wird jetzt auf Vorsorge- und Rehabilita-
tionseinrichtungen ausgeweitet. Das heißt, die Betreu-
ung durch eine vertraute Pflegeperson muss nicht unter-

brochen werden. Damit kann die Behandlung optimal
unterstützt werden. Wir sorgen für eine bessere Rege-
lung hinsichtlich der Investitionskosten in Pflegeheimen.
Wir sorgen mit den Regelungen dafür, dass Fehlverhal-
ten im Bereich der Pflegeversicherung nun bekämpft
werden kann.

Meine Damen und Herren, all das beweist einmal
mehr, dass in dieser Legislaturperiode, bei der christlich-
liberalen Koalition, die Patienten im Mittelpunkt stehen.
Wir machen eine Politik, deren Ergebnisse unmittelbar
bei den Patientinnen und Patienten ankommen.


(Steffen-Claudio Lemme [SPD]: Minipflege!)


Wir sorgen mit Blick auf ihre Alltagssorgen vor und lö-
sen Probleme.

Das zeichnet Christlich-Liberal aus. Das ist eine so-
lide, verlässliche Gesundheitspolitik, die für eine gute
Finanzlage sorgt, aber auch dafür, dass es dort, wo es
nötig ist, zu einer Entlastung kommt und der Bürokratie-
abbau vorangebracht wird. Deswegen ist das heute ein
guter Tag für die Patientinnen und Patienten in Deutsch-
land.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720507400

Das Wort hat die Kollegin Hilde Mattheis von der

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Hilde Mattheis (SPD):
Rede ID: ID1720507500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrter Herr Minister, nicht immer ist eine freche
Behauptung besser als ein Beweis. Das haben Sie gerade
hier selbst bewiesen. Bei Ihrem Versuch, die Abschaf-
fung der Praxisgebühr in diesem Haus allein Ihrer Koali-
tion zuzuschreiben, haben Sie jeden – leider jämmerlich
gescheiterten – Versuch unterschlagen, den wir, alle Op-
positionsfraktionen gemeinsam, unternommen haben,
um die Praxisgebühr viel früher zu thematisieren und ab-
zuschaffen.


(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Wer hat sie denn eingeführt?)


Es ist schlicht und ergreifend Ihrem Koalitionsge-
schacher zu verdanken, dass Sie sich jetzt hier hinstellen
und so tun, als seien Sie diejenigen, die auf irgendeine
Weise für die Versicherten eine Bresche schlagen wür-
den. Ihnen geht es doch ausschließlich darum, eine
Klientel wieder an sich zu binden, die Sie bei Ihrer Ge-
sundheitspolitik mittlerweile auf der Strecke gelassen
haben, nämlich die Ärzte; an diese Klientel wollen Sie
heran.


(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Unglaublich!)


Es geht Ihnen nicht um die Versicherten, wie man auch
beim Thema Assistenzpflege sieht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Jens Spahn [CDU/CSU]: Sind Hilde Mattheis Sie jetzt dafür oder dagegen? – Zuruf von der FDP: Wer hat sie eingeführt, und wer hat sie abgeschafft?)





(A) (C)


(D)(B)


– Vielleicht wird der Kollege Franke gleich genauer auf
das Thema Praxisgebühr eingehen und auf die legendäre
Nacht zu sprechen kommen, in der Herr Seehofer alles
getan hat, um die Praxisgebühr durchzusetzen. Das wis-
sen wir alle. Es stand nicht nur in sämtlichen Zeitungen;
es ist mittlerweile regelrecht Geschichte geworden.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wo ist Ulla? – Volker Kauder [CDU/CSU]: Wo ist Ulla Schmidt? Die war auch beteiligt! – Heinz Lanfermann [FDP]: Sie war dabei! Freiwillig!)


– Regen Sie sich doch nicht auf! Eine schöne Nacht ist
eine schöne Nacht, Herr Zöller. Ich bitte Sie!


(Weitere Zurufe von der CDU/CSU und der FDP)


– Sie scheinen sich aber mächtig darüber aufzuregen. Sie
waren es doch, Herr Lanfermann, der zu Beginn jeder
Ausschusssitzung gesagt hat: Absetzung von der Tages-
ordnung. Oder haben Sie das vergessen?


(Heinz Lanfermann [FDP]: Nein, nein, nein, nicht Absetzung! Diskussion! Keine Abstimmung ist etwas anderes als Absetzung!)


– Ach, Herr Lanfermann, es ist schön, dass Sie das so
genau darstellen. Das ist gut. Herr Franke wird später da-
rauf eingehen.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Erzählen Sie nichts Falsches! Es ging nie um Absetzung!)


– Sie waren es doch, der eine Entscheidung immer wie-
der hinausgezögert hat, weil sich die Koalition schlicht
und ergreifend nicht einig werden konnte.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Ja, weil Sie diskutieren sollten! Das haben Sie ja nicht getan!)


Jetzt haben Sie das Geschacher Betreuungsgeld gegen
Praxisgebühr. Der eine bedient die eine Klientel, der an-
dere die andere Klientel.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Nur Sie haben keine!)


So kann man keine Politik machen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Im Folgenden gehe ich auf die Assistenzpflege ein.
Sie haben vorhin blumig zum Thema UN-Behinderten-
rechtskonvention gesprochen. Wir wollen die Rechte der
Menschen mit Behinderungen umsetzen, um sie zu un-
terstützen. Die Grundlage des von Ihnen vorgelegten As-
sistenzpflegegesetzes wurde 2009 von unserer damali-
gen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt auf den Weg
gebracht. Ihr Ansatz jetzt springt viel zu kurz, er ist we-
nig durchsetzungsstark, weil viele Bevölkerungsgruppen
wie Menschen mit geistiger Behinderung ausgeschlos-
sen sind.

2009 haben wir etwas Gutes auf den Weg gebracht.
Wir haben dafür gesorgt, dass Menschen mit Behinde-

rung während eines Krankenhausaufenthalts eine Assis-
tenzpflege finanziert bekommen. Das ist der richtige An-
satz. Wir haben die Assistenzpflege damals auf den
Bereich Krankenhaus begrenzt. Aber die Erfahrung seit
dieser Zeit hat uns zwei Dinge gelehrt:

Erstens. Wir dürfen die Leistungen nicht an das Ar-
beitgebermodell koppeln, weil sonst viele Menschen mit
anderen Behinderungen und anderen Assistenzbedarfen
von Unterstützungen ausgeschlossen sind. Das ist unsere
Erfahrung. Die bisherige Regelung betrifft nur einen
ganz speziellen und kleinen Kreis von Menschen mit Be-
hinderung.

Zweitens. Seit 2009 haben wir auch gelernt, dass wir
bei der Assistenzpflege andere Versorgungsstrukturen
schlicht und ergreifend nicht ausklammern dürfen.

Wir begrüßen Ihren ersten Schritt, aber Sie gehen
nicht weit genug. Wir wollen ab 2013 wirklich sicher-
stellen – fragen Sie Herrn Hüppe; er hat vorhin heftig da-
für plädiert –, dass die UN-Behindertenrechtskonvention
durch konkrete Maßnahmen umgesetzt wird.


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Das ist doch eine konkrete Maßnahme! Alles mit Ulla Schmidt auf den Weg gebracht!)


Diese Verpflichtung sind wir alle eingegangen. Lassen
Sie uns dafür sorgen, dass Menschen von der Assistenz-
pflege nicht ausgeschlossen, sondern einbezogen wer-
den.

Wir als SPD werden den Gesetzentwurf nicht ableh-
nen, aber wir werden uns enthalten.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Oh! Dafür der lange Anlauf?)


Herr Bahr, wir erwarten, dass Sie Menschen mit Behin-
derungen mit der gleichen Leidenschaft unterstützen wie
die Ärzte.


(Zurufe von der FDP: Oh!)


Vielen Dank fürs Zuhören.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720507600

Das Wort hat jetzt die Kollegin Maria Michalk von

der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Maria Michalk (CDU):
Rede ID: ID1720507700

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kollegin
Mattheis, Sie sagen, das von Ulla Schmidt auf den Weg
gebrachte Gesetz sei gut. Wir haben es damals in der
Großen Koalition gemeinsam beschlossen. Nun haben
wir das Gesetz fortentwickelt. Jetzt sagen Sie, das sei
nicht weitgehend genug, und wollen sich der Stimme
enthalten. Das ist inkonsequent.





Maria Michalk


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hilde Mattheis [SPD]: Sie wissen doch, was eine Enthaltung ist! – Zuruf von der CDU/ CSU: Armutszeugnis!)


Lassen Sie mich die Sache auf den Punkt bringen.
Das große Thema ist heute natürlich die Praxisgebühr.
Schon seit Wochen ist es in aller Munde. Aber hätten wir
dieses kleine, feine Gesetz zur Fortentwicklung des As-
sistenzpflegebedarfs im stationären Bereich sowohl in
der Vorsorge als auch in der Rehabilitation nicht auf den
Weg gebracht – die Koalition hat dies in Abstimmung
mit den Ländern getan –, dann hätten Sie die Debatte
heute so nicht führen können. Das will ich an dieser
Stelle noch einmal sagen; denn es ist wichtig, dass wir
die Dinge, die notwendig sind, im Rahmen unserer regu-
lären Arbeit vervollkommnen und verbessern.

Das Gesetz existiert seit dem 30. Juli 2009. Es ist aus-
schließlich auf das sogenannte Arbeitgebermodell aus-
gerichtet. Es ist richtig und gut, dass sich Menschen mit
einer Behinderung ihre Assistenz selbst aussuchen und
sie auch selbst einstellen können und dass sie so ihr Le-
ben mit der Assistenz ganz konkret individuell gestalten
können. Es ist in der Sache auch richtig und gut, dass
diese Menschen bei einem stationären Krankenhausauf-
enthalt den sogenannten Mehrpflegebedarf von ihrer
vertrauten Assistenz, in der vertrauten persönlichen
Konstellation, erhalten.

Die Praxis hat in den letzten Jahren gezeigt, dass es
schlecht bzw. menschlich nicht vertretbar ist, wenn diese
Assistenz nicht in den sogenannten Vorsorgebereich
oder Rehabilitationsbereich mitgenommen werden kann.
Diesen Fakt haben wir im Gesundheitsausschuss aufge-
griffen und dazu ein Expertengespräch durchgeführt. So-
wohl die Länder als auch die Leistungserbringer, also die
Kommunen, haben gesagt: Ja, diese in sich logische Er-
weiterung auf den Rehabilitationsbereich bzw. die statio-
näre Vorsorge ist gut und richtig und auch bezahlbar. Das
ist ein Schritt in die richtige Richtung.

Es sind ungefähr 700 Menschen in unserem Land von
dieser Regelung betroffen. Das ist eine relativ kleine und
überschaubare Zahl. Wir regeln jetzt diese Erweiterung,
weil wir möchten, dass die Pflege aus einer Hand erfolgt
und dass der Mehraufwand im Rahmen dieses speziellen
Vertrauensverhältnisses gewährleistet wird.

Uns liegt ein Antrag der Linken vor. Ursprünglich
wollte die Linke den Antrag, den wir heute zur Abstim-
mung stellen, auch eingebracht haben. Wir standen mit-
einander im Dialog, und zwar fraktionsübergreifend;
auch das muss ich noch einmal sagen. Dummerweise hat
sich die Linke von ihrem ersten Ansinnen verabschiedet.
Sie fordert jetzt eine Ausweitung auf alle Bereiche.

Nun kann man immer alles fordern. Fakt ist aber:
Politik ist auch ein Instrument des Machbaren und des
schrittweise Vervollkommnens. Deshalb sagen wir: Das
ist ein logischer, konsequenter, gerechtfertigter und fol-
gerichtiger Schritt, der an dieser Stelle in unserem Ge-
setz geregelt wird. Wir wissen, dass es in der konkreten
Lebenssituation durchaus Konstellationen geben kann

und wird, in denen dieser Mehraufwand notwendig ist,
weil kein Arbeitgebermodell zum Tragen kommt.

Ich möchte noch einmal auf die bestehende Regelung
in § 11 SGB V verweisen. Ich zitiere ausdrücklich, was
in § 11 Abs. 3 für die Menschen geregelt ist, die ihre As-
sistenz nicht im Rahmen des Arbeitgebermodells be-
schäftigen:

Bei stationärer Behandlung umfassen die Leistun-
gen auch die aus medizinischen Gründen notwen-
dige Mitaufnahme einer Begleitperson des Versi-
cherten oder bei stationärer Behandlung in einem
Krankenhaus nach § 108 die Mitaufnahme einer
Pflegekraft …

Das heißt, dass in ganz konkreten schwierigen Kon-
stellationen eine qualitative Pflege möglich ist. Diese
muss nur gelebt werden. Dass sie gelebt wird, haben uns
die Experten in der Anhörung zu dem Gesetz gesagt.
Deshalb bleiben wir bei unserem Gesetzentwurf.

Wir haben neben dem Änderungsantrag zur Abschaf-
fung der Praxisgebühr einen anderen kleinen, aber wich-
tigen Änderungsantrag eingebracht, den ich noch erwäh-
nen möchte, weil er Bestandteil unserer heutigen
Gesetzesbeschlussfassung sein wird. Wir regeln näm-
lich, dass bei der Bearbeitung von Anträgen auf Pflege-
leistungen im Fall des Verdachtes auf Missbrauch ein
Auskunftsanspruch besteht. Dies gilt für den Fall, dass
sich abzeichnet, dass bei der Einstufung nicht alles auf
den Tisch gelegt wurde. Für diesen Fall wird ein Aus-
kunftsrecht eingeführt; denn wir möchten in unserem
Land weiterhin eine gesetzeskonforme Mittelverwen-
dung gewährleisten.

Dieser Änderungsantrag enthält einen zweiten As-
pekt: die Umsetzung von Entscheidungen des Bundes-
sozialgerichtes vom letzten Jahr. Es gibt nämlich große
Unsicherheiten, was die finanzielle Absicherung von In-
vestitionen bei den Pflegeeinrichtungen angeht. Die
Länder erhalten nun das Recht auf Pauschalierung der
Aufwendungen im Zusammenhang mit der Instandhal-
tung und Instandsetzung, und zwar mit Blick auf die Be-
legungsquote. Das ist sehr wichtig. Auch an dieser Stelle
sorgen wir für Rechtssicherheit.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dadurch sorgen wir dafür, dass unsere Pflegeeinrichtun-
gen auch weiterhin modernisiert und veränderten Be-
dürfnissen angepasst werden können.

Diese Regelung bewirkt auch, dass die finanzielle Be-
lastung auf die Menschen, die in Pflegeeinrichtungen le-
ben, gleichmäßig verteilt wird, das heißt, dass diejeni-
gen, die heute in Pflegeeinrichtungen leben, nicht die
kompletten Investitionskosten zu tragen haben, während
diejenigen, die künftig in diesen Einrichtungen leben
werden, nichts zu tragen haben. Dieser Änderungsantrag
ist ein wichtiger Baustein zur Vervollkommnung unserer
Sozialgesetzgebung.

Mir ist wichtig, zu betonen, dass wir mit diesem Ent-
wurf eines Assistenzpflegegesetzes zeigen – damit knüp-
fen wir auch an die Debatte an, die wir kurz zuvor ge-
führt haben –, dass es uns ernst ist mit der besseren
Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in unserer





Maria Michalk


(A) (C)



(D)(B)


Gesellschaft. Ganz konkret nehmen wir im Gesundheits-
bereich die hierfür notwendigen gesetzlichen Schritte
vor.

Ich will in diesem Zusammenhang darauf hinweisen,
dass wir unseren Krankenkassen die Möglichkeit zur
Satzungsregelung eingeräumt haben. Es gibt durchaus
Krankenkassen, die über Leistungsverträge in diesem
Bereich für Verbesserungen sorgen. Ich will in diesem
Zusammenhang auf eine Vereinbarung hinweisen
– Ehre, wem Ehre gebührt –, die der Taubblinden-Assis-
tenten-Verband mit den gesetzlichen Krankenkassen in
Nordrhein-Westfalen geschlossen hat, in der geregelt ist,
dass die Krankenkassen, sofern sie diesen Vertrag unter-
zeichnet haben, in Zukunft für alle betroffenen Men-
schen eine Assistenz finanzieren, sodass bei diesen
konkreten Beeinträchtigungen eine Assistenz bei jedem
Arztbesuch möglich ist. Ich frage mich allerdings, wa-
rum bundeseinheitlich agierende Krankenkassen diesbe-
züglich keine bundeseinheitliche Regelung finden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich will damit sagen: Der Gesetzgeber lässt sich in die
Pflicht nehmen, wenn er in der Pflicht ist. Ich appelliere
aber auch: Was man außergesetzlich regeln kann, sollte
man außergesetzlich regeln und vor allen Dingen auch
leben.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720507800

Das Wort hat nun Harald Weinberg für die Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Harald Weinberg (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720507900

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine Damen und Herren! Es begann in einer
langen Nachtsitzung 2003. Rot-Grün wollte das Fach-
arzthopping bekämpfen und für jeden Facharztbesuch
ohne Überweisung eine Gebühr von 15 Euro nehmen.
Die Union wollte für jeden Arztkontakt eine Gebühr er-
heben. Seehofer und Schmidt feilschten und feilschten.
Heraus kam die bekannte Praxisgebühr von 10 Euro im
Quartal. Das endete in einer langen Nachtsitzung am
4. November 2012,


(Hilde Mattheis [SPD]: Die war nicht so schön!)


in der die Abschaffung der Praxisgebühr der einzige
Lichtblick in der ansonsten tiefen Dunkelheit der ande-
ren Beschlüsse war.


(Beifall bei der LINKEN)


Damals Geschachere, heute wieder Geschachere.
Beide Male war der König der Basarhändler, Horst
Seehofer, beteiligt. Das ist eine bemerkenswerte Tatsa-
che.


(Zuruf von der FDP: Nur mit euch schachert keiner!)


Diesmal hat er die Praxisgebühr gegen die von ihm so
sehr gewünschte Herdprämie namens Betreuungsgeld
eingetauscht. Es wurde ein großer Murks beseitigt und
ein noch größerer Murks geschaffen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das ist das Ende eines langen Prozesses. Zwischen
den beiden Basarnächten gab es viele Diskussionen und
Abstimmungen über dieses Ärgernis. Ich will sie noch
einmal Revue passieren lassen, auch wenn es Ihnen viel-
leicht wehtut – das müssen Sie jetzt aushalten –: 2004
wurde das GKV-Modernisierungsgesetz beschlossen.
Nur die PDS-Abgeordneten waren gegen die Praxisge-
bühr. Die FDP, um das noch einmal in aller Deutlichkeit
zu sagen, wollte eine prozentuale Selbstbeteiligung. Sie
hat damals einen eigenen Antrag vorgelegt. Dieser An-
trag enthielt eine lange Giftliste, in der genau das stand.
Ich kann Ihnen sogar die Drucksachennummer sagen.


(Zuruf des Bundesministers Daniel Bahr)


– Ja, Sie standen mit auf dem Antrag; Sie haben völlig
recht, Herr Bahr.


(Beifall bei der LINKEN)


2006 legte die Linke einen Gesetzentwurf vor, in dem
die Abschaffung der Praxisgebühr geregelt war. Alle an-
deren Fraktionen waren dagegen. 2009 stellte die Linke
einen Antrag auf Abschaffung der Praxisgebühr. Die
Grünen enthielten sich. Alle anderen waren dagegen.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Aha!)


2012 stellte die Linke einen Antrag auf Sofortabstim-
mung über die Abschaffung der Praxisgebühr. Die
Grünen stimmten mit uns, alle anderen dagegen. In der
letzten Sitzungswoche – wir haben es erlebt – gab es An-
träge der Oppositionsfraktionen auf Sofortabstimmung
über die Abschaffung der Praxisgebühr. Die Koalitions-
fraktionen sorgten dafür, dass diese Anträge in die Aus-
schüsse überwiesen wurden.

Ja, die FDP, die angebliche Vorkämpferin gegen die
Praxisgebühr!


(Heinz Lanfermann [FDP]: Völlig richtig!)


Einen unserer Anträge auf Abschaffung der Praxisge-
bühr hat sie monatelang im Ausschuss nicht abschlie-
ßend behandeln wollen. Noch letzte Woche hat sie ihn
im Ausschuss blockiert, und das, um nicht vorzeitig
Farbe bekennen zu müssen. Das Problem ist nämlich:
Die Positionsänderung der FDP erfolgte in erster Linie
nicht aus sachlichen Gründen. Erst als sie etwas für das
Geschachere in der Hand hatte, hat sie sich aus der De-
ckung gewagt, und dann wurde der Murks abgeschafft –
oder besser: gegen anderen Murks eingetauscht.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Welcher Murks wurde denn abgeschafft?)






Harald Weinberg


(A) (C)



(D)(B)


Hätte die FDP jemals Glaubwürdigkeit besessen, dann
wäre sie spätestens jetzt dahin.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bundestag ist
die Vertretung des Souveräns.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Besser Murks als Marx!)


– Herr Spahn, seien Sie doch einmal still. –


(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Uns sollte es im Kern darum gehen, keine obskuren
Tauschgeschäfte zu machen, sondern um die Frage, wel-
che Vor- und Nachteile beispielsweise solche Zuzahlun-
gen haben.

Es ist einer der populären Irrtümer der Gesundheits-
politik, zu glauben, dass Menschen zu viele Gesund-
heitsleistungen in Anspruch nehmen, wenn sie nichts
kosten. Ich zitiere Norbert Häring, Ökonomiekorrespon-
dent des sicher eher unverdächtigen Handelsblattes. Er
sagte diese Woche:

Es ist vielleicht erstaunlich, aber nachgewiesen,
dass Zuzahlungen die Nutzungsrate von sehr wirk-
samen und wichtigen Medikamenten ebenso stark
senken wie von Mitteln für Akne oder Erkältungen.
… Kostendämpfung nach dem Motto „Die Leute
nehmen zu viel Gesundheitsleistungen in An-
spruch, wenn sie nichts kosten, also machen wir sie
teurer“, scheren alles über einen Kamm und können
dadurch

– durch Folgeerkrankungen –

Zusatzkosten verursachen, statt Kosten zu senken –
abgesehen von dem unnötigen Leid der Patienten,
das dadurch eventuell verursacht wird.


(Beifall bei der LINKEN)


Und weiter – noch ein kurzes Zitat von ihm –:

Die Praxisgebühr gehört zu den undifferenzierten
Maßnahmen, die diesem Motto folgen.

Wie recht er hat.

Wir begrüßen ausdrücklich das Ende der Praxisge-
bühr. Wir haben lange genug dafür gekämpft. Immerhin
zeigt das auch: Die Linke wirkt.


(Beifall bei der LINKEN – Lachen des Abg. Jens Spahn [CDU/CSU])


Aber wir werden insbesondere bei Geringverdienern und
Kranken die paradoxe Wirkung haben, dass die Zuzah-
lungen an anderer Stelle steigen: bei Arzneimitteln, bei
Heilmitteln, bei Krankenhäusern.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Schlau gemanagt!)


Deshalb erinnern wir noch einmal an unseren anderen
Antrag im parlamentarischen Verfahren, der darauf zielt,
alle Zuzahlungen abzuschaffen.


(Beifall bei der LINKEN – Jens Spahn [CDU/ CSU]: Wer bezahlt’s?)


Das, was für die Praxisgebühr gilt, gilt genauso für
die anderen Zuzahlungen: Sie haben keine positiven
steuernden Wirkungen. Sie bestrafen diejenigen, die
krank und auf Hilfe und auf Medikamente angewiesen
sind und führen im Zweifel zu den von Norbert Häring
beschriebenen negativen Folgekosten.

Und was ist mit dem Finanzierungsbeitrag? Schon
seit Monaten liegt das Konzept einer solidarischen Bür-
gerinnen- und Bürgerversicherung von uns auf dem
Tisch, das in der Tat durchgerechnet ist. Danach kommt
man auch ohne Zuzahlungen zu einer vernünftigen
Finanzierung.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Genau!)


Heute vollziehen wir mit der Abschaffung der Praxis-
gebühr einen ersten wichtigen Schritt – ein schöner Er-
folg für die Beharrlichkeit der Linken.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Noch einen letzten Satz – das ist nämlich wichtig; das
will ich gerade der FDP hinter die Ohren schreiben –:


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Oh, Herr Oberlehrer!)


Wir taktieren nicht, wie Sie es gerne tun und getan ha-
ben; wir werden der Abschaffung der Praxisgebühr zu-
stimmen, auch wenn der Gesetzentwurf von Ihnen
kommt.


(Beifall bei der LINKEN – Lachen des Abg. Heinz Lanfermann [FDP] – Jens Spahn [CDU/ CSU]: Genosse Oberlehrer!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720508000

Das Wort hat nun Birgitt Bender für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720508100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum As-

sistenzpflegegesetz hat die Kollegin Mattheis das Rich-
tige gesagt: Es ist ein richtiger, aber unzureichender
Schritt. – Dieser Einschätzung schließen wir uns an.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Lachen bei Abgeordneten der FDP)


Jetzt reden wir über die Praxisgebühr. Die FDP spielt
sich auf einmal als Streiterin für die Patienten auf und
sagt, dass sie sie entlasten will.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das stört euch wohl, was?)


Ja, was erleben wir denn hier? Die Partei, die immer für
mehr Selbstbeteiligung ist, die immer in den Geldbeutel
der Versicherten greifen will, schafft plötzlich eine Be-
lastung ab. Was ist passiert? Ist die FDP sozial gewor-
den? Erleben wir hier einen Ausbruch von mitfühlendem
Liberalismus?


(Michael Kauch [FDP]: Ja, genau!)


Nein, meine Damen und Herren, genau das ist nicht der
Fall. Wenn von dieser Koalition jetzt die Praxisgebühr





Birgitt Bender


(A) (C)



(D)(B)


abgeschafft wird, dann heißt das: Die Rechnung kommt
später.


(Sebastian Blumenthal [FDP]: Ja! Sie wollen sie ja wieder einführen!)


Es ist doch so: Schwarz-Gelb hat dafür gesorgt, dass
der einheitliche Beitragssatz eingefroren worden ist und
alle weiteren Kostensteigerungen allein zulasten der
Versicherten gehen, und zwar in Form eines einkom-
mensunabhängigen Zusatzbeitrages, der kleinen Kopf-
pauschale.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Mit Sozialausgleich!)


Noch im Februar dieses Jahres hat der Gesundheitsmi-
nister diese neue Finanzarchitektur als einen historischen
Schritt gelobt. Da muss ich Ihnen sagen: Er hat leider
recht. Ja, es ist ein historischer Schritt, der das Aus für
die soziale Krankenversicherung einläutet.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Oh, oh, oh!)


Das, was die FDP betreibt, ist Entsolidarisierung. Des-
wegen hat das gar nichts mit mitfühlendem Liberalismus
zu tun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Mechthild Rawert [SPD] – Heinz Lanfermann [FDP]: Aha! Jetzt kommt also der Weltuntergang! Stimmen Sie deswegen gleich zu?)


Meine Damen und Herren, auch wenn diese Zusatz-
beiträge zurzeit nicht spürbar sind: Es würde auf genau
diesem Weg weitergehen, wenn sich an der Rechtslage
nichts ändert.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Sie stimmen doch gleich zu! Sagen Sie doch dazu auch mal etwas!)


Dass jetzt Geld da ist, liegt daran, dass die Koalition den
Einheitsbeitrag heraufgesetzt hat, und daran, dass die
Kassen Geld gehamstert haben, um bloß die Erhebung
eines Zusatzbeitrages zu vermeiden, damit ihnen die
Versicherten nicht davonlaufen.

Aber wir wissen doch: Jedes Jahr steigen die Einnah-
men, wenn es gut läuft, um 2 Prozent; wir reden ja von
Löhnen und Gehältern als Finanzierungsbasis. Das Aus-
gabenwachstum liegt aber immer bei ungefähr 4 Pro-
zent. Also: Spätestens im Jahre 2015 ist von diesen Re-
serven nichts mehr da. Aber die Koalition greift jetzt in
die Kasse. Sie entzieht dem Gesundheitsfonds für das
Jahr 2013 2,5 Milliarden Euro und für das Jahr 2014
2 Milliarden Euro. Das heißt, der Gesundheitsfonds wird
zum Sparkässle für das Betreuungsgeld. Was ist denn
das für eine Politik?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Gabriele Molitor [FDP]: Ach was! So ein Schwachsinn!)


Dass durch die Praxisgebühr 2 Milliarden Euro hinzu-
kommen, bedeutet natürlich nichts anderes, als dass der
Abbau der Reserven und damit der Weg in den Zusatz-
beitrag schneller vonstattengeht.


(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Genau!)


Meine Damen und Herren, trotzdem stimmen wir der
Abschaffung der Praxisgebühr zu,


(Heinz Lanfermann [FDP]: Aha! Da ist es ja! Na endlich!)


weil wir festgestellt haben, dass sie nichts bewirkt hat.
Durch sie hat sich die Zahl der Arztbesuche nicht redu-
ziert. Im Gegenteil: Wir haben sogar Anlass zur Sorge,
dass sozial Schwache notwendige Arztbesuche aufschie-
ben oder gar unterlassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir stimmen auch deswegen zu, weil wir wissen, dass
das Geld im Jahr 2013 gerade noch ausreicht, ohne dass
es zur Erhebung von Zusatzbeiträgen kommt, und weil
wir davon ausgehen, dass uns das Ergebnis der Bundes-
tagswahl die Gelegenheit geben wird, die Zusatzbeiträge


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wieder einzuführen!)


abzuschaffen und den Weg in die Bürgerversicherung zu
gehen. Dafür werden wir kämpfen, meine Damen und
Herren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Heinz Lanfermann [FDP]: Na, dann mal los! Ihr wollt doch nur mehr Geld von allen einnehmen!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720508200

Das Wort hat nun Heinz Lanfermann für die FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Heinz Lanfermann (FDP):
Rede ID: ID1720508300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Zuhö-

rer müssen jetzt ganz verwirrt sein. Hier wird zuerst ein
Riesenaufstand gemacht und so getan, als würde gleich
die Welt untergehen, und dann erklären alle drei Opposi-
tionsredner in dieser Trittbrettfahrerrallye, die wir erlebt
haben, dass sie dem vorliegenden Gesetzentwurf zustim-
men werden.


(Heiterkeit und Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das tun sie natürlich deshalb, weil die Abschaffung der
Praxisgebühr in der Tat überall in Deutschland auf un-
heimlich viel Zustimmung trifft. Für Herrn Hundt gilt
das zwar nicht, weil die Arbeitgeber in diesem Fall nicht
entlastet werden; das ist okay. Aber lassen wir das ein-
mal beiseite.

Wir haben eine Regelung getroffen, die die Men-
schen auch deswegen gut finden, weil sie nicht nach-
vollziehen können, warum sie 40 Jahre nach Einfüh-
rung des bargeldlosen Zahlungsverkehrs jedes Mal mit
einem 10-Euro-Schein in einer Arztpraxis auftauchen
sollen





Heinz Lanfermann


(A) (C)



(D)(B)



(Alexander Süßmair [DIE LINKE]: So ein Quatsch! Als wenn es darum gegangen wäre!)


und dieser dort eingesammelt wird, um nachher mühsam
mit dem Honorar verrechnet zu werden.


(Beifall bei der FDP)


Meine Damen und Herren, es geht um Bürokratieab-
bau. Das war eines unserer wesentlichen Ziele. Die erste
Meldung zur Beschlusslage der Gesundheitspolitiker der
FDP gab es übrigens am 1. März dieses Jahres. Das sei
der SPD gesagt. Ihr Antrag kam am 28. März. Dann
folgten weitere Anträge, und es wurden Legenden aufge-
baut. Hier im Plenum ist nichts abgelehnt worden, wie
Herr Steinmeier in einem Interview mit der Rheinischen
Post am 8. November behauptet hat. Wir haben Ihre An-
träge in der Tat in den Ausschuss überwiesen.

Im Ausschuss hatten wir schon vorher gesagt, dass
wir Beratungsbedarf haben. Bei uns überfährt kein Ko-
alitionspartner den anderen, sondern wir beraten so
lange, bis wir eine Lösung gefunden haben.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


In dem Falle war es eine Lösung, die mehr den Vorschlä-
gen der FDP entsprach, so wie natürlich bei anderen
Themen auch die Vorschläge der Union zur Geltung
kommen, manchmal ganz, manchmal zum Teil. So geht
Koalition. Sie von den Grünen haben das schon verges-
sen, weil es bei Ihnen etliche Jahre zurückliegt.


(Beifall bei der FDP)


Während sich die Menschen freuen, werden Sie zum
Trittbrettfahrer. Sie erklären uns hier, wie schlimm das
alles ist. Dann schließen Sie Ihre Rede damit ab, dass Sie
zustimmen werden. Gut, es sei Ihnen gegönnt, dass Sie
bei dieser Maßnahme mitmachen.

Im Übrigen müssen Sie verstehen, dass eine Diskus-
sion ernsthaft geführt werden muss. Wir nehmen auch
die Bedenken ernst. Wenn zum Beispiel Kollege Spahn
öffentlich erklärt, es habe hier und da Bedenken, dann
finde ich das in Ordnung.


(Hilde Mattheis [SPD]: Zwei Minuten!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720508400

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.


Heinz Lanfermann (FDP):
Rede ID: ID1720508500

Das ist sein Abschiedsschmerz. Dieser sei ihm ge-

gönnt. Hauptsache, am Ende steht die richtige Entschei-
dung.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720508600

Das Wort hat nun Edgar Franke für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Edgar Franke (SPD):
Rede ID: ID1720508700

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Sie kennen ja bereits die Geschichte von Horst und
Ulla.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)


Herr Minister, nach Ihrer Rede war ich mir nicht so si-
cher, ob Sie die Geschichte von Horst und Ulla kennen
bzw. ob Sie sie richtig in Erinnerung haben.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Doch!)


Es ist die Geschichte von der angeblich schönsten Nacht,
die Horst Seehofer je erlebt hat,


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Ich möchte wissen, wer alles dabei war!)


die Geschichte einer Nacht, in der ein uneheliches Kind
geboren wurde. Das Kind hieß Praxisgebühr. Dieses
Kind ist unehelich, weil nicht Rot-Grün die Eltern sind,
weil nicht Ulla Schmidt die Mutter ist.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Aber Seehofer ist auch nicht die Mutter!)


Hilde Mattheis hat schon darauf hingewiesen – ich
muss es hier wiederholen –: Rot-Grün wollte eine Pra-
xisgebühr, durch die teure Facharztbesuche und teure
Apparatemedizin verhindert werden sollten. Das war der
Wille von Rot-Grün. Wir wollten, dass der Hausarzt der
Ansprechpartner ist, Herr Zöller, und dass man nicht bei
jeder noch so leichten Krankheit zum Facharzt rennt.
Das war die besagte Steuerungswirkung. Wir wollten
solch eine Praxisgebühr, und wir wollten keine Praxisge-
bühr à la Seehofer. Deshalb ist es richtig, sie abzuschaf-
fen.


(Beifall bei der SPD – Michael Kauch [FDP]: Sie haben doch regiert!)


– Wir hatten, wie Sie wissen, aber nicht die Mehrheit.


(Michael Kauch [FDP]: Sie hatten die Mehrheit!)


– Wir hatten nicht die Mehrheit im Bundesrat.

Nun hat Horst wieder eine schöne Nacht erleben dür-
fen, diesmal nicht mit Ulla, sondern mit Philipp, mit
Philipp Rösler.


(Heiterkeit der Abg. Hilde Mattheis [SPD])


In dieser Nacht wurde ein Lieblingskind der CSU gebo-
ren. Dieses Lieblingskind heißt Betreuungsgeld. Am An-
fang haben sich aber Philipp und Horst gar nicht so gut
verstanden. Ich zitiere einmal die Onlineausgabe der
Süddeutschen Zeitung: „Seehofer verärgert über Rösler“.
Horst Seehofer hat gesagt: „Mein Vertrauensverhältnis
zu Philipp Rösler hat einen Kratzer bekommen.“ Die Li-
beralen bezeichneten das Betreuungsgeld sogar als „gro-
ben Unfug“. Nun ist bei der Koalition aber wieder große
Harmonie angesagt. Horst und Philipp haben sich wieder
lieb.


(Heiterkeit der Abg. Hilde Mattheis [SPD])


Das uneheliche Kind, die Praxisgebühr, ist auf der Stre-
cke geblieben.





Dr. Edgar Franke


(A) (C)



(D)(B)



(Heinz Lanfermann [FDP]: Sie haben eine einseitige Fantasie, muss ich feststellen!)


Nachdem sich die jetzige Praxisgebühr à la Seehofer
als Fehlschlag erwiesen hat, wird sie durch den nächsten
groben Unfug ersetzt. Die Presse nennt dies zu Recht ei-
nen politischen Kuhhandel. Wissen Sie, was man unter
Kuhhandel versteht? Darunter versteht man das Feil-
schen und Betrügen beim Viehhandel. Listige Händler
schummelten früher beim Verkauf ihrer Kühe und Pferde
bezüglich des Alters und der Leistungsfähigkeit der
Tiere, um sie zu einem höheren Preis zu verkaufen. Ich
finde, besser kann man die Politik von Schwarz-Gelb
nicht beschreiben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Heinz Lanfermann [FDP]: Da ist aber nur eine Kuh beim Kuhhandel! Sie behaupten hier, da seien zwei Kühe!)


Was Sie am letzten Sonntag in den Verhandlungen der
Koalition gemacht haben, bestätigt aus meiner Sicht
viele der Vorurteile, die die Menschen gegenüber der
Politik haben. Sie betreiben nämlich nicht aus sachlicher
Überzeugung Politik. Die Praxisgebühr wird nur deshalb
abgeschafft, damit die CSU ihr Betreuungsgeld be-
kommt. Das ist die Wahrheit, meine sehr verehrten Da-
men und Herren.


(Sebastian Blumenthal [FDP]: Stimmen Sie der Abschaffung zu? Ja oder Nein?)


Das Betreuungsgeld kostet – Biggi Bender hat es gesagt –
2 Milliarden Euro. Die Abschaffung der Praxisgebühr
kostet noch mal 2 Milliarden Euro. Das sind klassische
Wahlgeschenke.


(Sebastian Blumenthal [FDP]: Das Geld der Versicherten zurückzugeben, kann kein Wahlgeschenk sein!)


Um das bezahlen zu können, greifen Sie zu Taschenspie-
lertricks: Sie nehmen Mittel aus dem Gesundheitsfonds.
Alles zusammengerechnet nehmen Sie aus dem Gesund-
heitsfonds 2013 und 2014 4,5 Milliarden Euro. Sie ver-
geuden das Geld der Beitragszahler, meine sehr verehr-
ten Damen und Herren. Seriöse Politik sieht anders aus.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Heinz Lanfermann [FDP]: Wir geben es den Beitragszahlern zurück!)


Sie entziehen dem Gesundheitsfonds 4,5 Milliarden
Euro. Dabei nehmen Sie bewusst in Kauf, dass die unse-
ligen Zusatzbeiträge wiederkommen.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Was denn jetzt?)


Vor der letzten Bundestagswahl versprachen Union
und FDP den Wählern solides Durchregieren. Die FDP
versprach eine deutliche Entlastung im Geldbeutel. Was
haben Sie gemacht? Sie haben die Krankenversiche-
rungsbeiträge erhöht. Das ist das Gegenteil von „Mehr
Netto vom Brutto“. Rechnen können Sie also auch nicht.

Sie versuchen, sich bis zur Bundestagswahl durchzu-
wursteln. Auf dem Weg dahin verteilen Sie Wahlge-
schenke. Ihre Haushaltspolitik erinnert an einen Men-

schen, der abnehmen will und sich trotzdem jeden Tag
eine Tafel Schokolade gönnt. Das ist vollkommen unse-
riös.


(Sebastian Blumenthal [FDP]: Und deshalb stimmen Sie zu! – Heinz Lanfermann [FDP]: Aber Sie stimmen zu!)


Zu einer zukunftsorientierten Politik ist diese Koalition
jedenfalls längst nicht mehr in der Lage. Wir hoffen, das
wird nächstes Jahr anders werden.

Recht herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD – Heinz Lanfermann [FDP]: Wollen Sie das Gesetz jetzt doch ablehnen?)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720508800

Das Wort hat nun Jens Spahn für die CDU/CSU-Frak-

tion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Jens Spahn (CDU):
Rede ID: ID1720508900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

will noch einmal daran erinnern, was die Grundlage da-
für ist, dass wir heute die Entscheidung zur Abschaffung
der Praxisgebühr treffen können: Das ist die gute finan-
zielle Situation der sozialen Sicherungssysteme, insbe-
sondere der gesetzlichen Krankenversicherung. Die
Lage ist vor allem deswegen so gut, weil die Koalition
aus Union und FDP angesichts der Defizite, die für 2011
und 2012 drohten, bereit war, ein Sparpaket zu schnüren,
das alle mit einbezogen hat. Zum Zweiten hat die wirt-
schaftliche Entwicklung – eine Entwicklung, die wir
durch gesetzgeberische Maßnahmen befördert haben –
dazu beigetragen, dass die sozialen Sicherungssysteme
heute so gut dastehen wie seit über zwanzig Jahren nicht.
Es gibt Rücklagen. Das ist ein gutes Zeichen für Patien-
ten, Ärzte, Pflegekräfte und alle anderen, die im Gesund-
heitswesen tätig sind.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Angesichts der Forderungen, die über die Abschaf-
fung der Praxisgebühr hinaus erhoben worden sind, ge-
winnt man manchmal den Eindruck, als habe die Oppo-
sition nicht mitbekommen, wie sich die finanzielle
Situation der gesetzlichen Krankenversicherung in den
letzten zehn Jahren entwickelt hat. Deshalb will ich aus-
drücklich daran erinnern: Im Jahr 2000 hat die gesetzli-
che Krankenversicherung 134 Milliarden Euro ausgege-
ben. 2013 wird die gesetzliche Krankenversicherung
190 Milliarden Euro ausgeben. Das heißt, in den letzten
dreizehn Jahren sind die Ausgaben der gesetzlichen
Krankenversicherung – aufgrund der Alterung der
Gesellschaft, aufgrund des technisch-medizinischen
Fortschritts und aufgrund des Umstands, dass wir eine
flächendeckende Versorgung aufrechterhalten wollen –
deutlich gestiegen. Diese Steigerung macht überdeutlich,
dass es Sinn macht, die Rücklagen der sozialen Siche-
rungssysteme grundsätzlich zu erhalten. Genau das tut
diese Koalition, selbst wenn wir die Praxisgebühr ab-





Jens Spahn


(A) (C)



(D)(B)


schaffen. Wir halten Rücklagen vor, weil wir wissen,
dass die sozialen Sicherungssysteme sie in den nächsten
Jahren brauchen werden. Deshalb ist es falsch, wenn Sie
dieses Geld den Menschen versprechen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Linken wollen, dass alle Zuzahlungen abge-
schafft werden. Hinsichtlich der Sinnhaftigkeit von Zu-
zahlungen haben wir offenkundig eine unterschiedliche
Einschätzung. Ich will ausdrücklich sagen: Wer in
Deutschland krank wird – egal, ob er Krebs, MS,
Parkinson hat oder Bluter ist –, der kann sich darauf ver-
lassen, dass ihm, egal wie teuer die Behandlung wird, ei-
nes der besten Gesundheitssysteme der Welt flächende-
ckend zur Verfügung steht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Es ist auch eine Form von Solidarität, wenn derjenige,
der auf dieses gute Gesundheitswesen vertrauen kann,
im Rahmen seiner Möglichkeiten – darum die Einkom-
mensgrenzen von maximal 1 Prozent des Bruttolohns für
chronisch Kranke und maximal 2 Prozent des Brutto-
lohns für alle anderen – durch Eigenbeteiligungen und
Zuzahlungen einen Beitrag dazu leistet, dass dieses Sys-
tem so gut sein kann. Das mag Ihnen nicht gefallen, und
das ist sicherlich nicht populär. Aber ich bin sehr sicher,
dass die meisten Menschen ein gesundes Verständnis da-
für haben, dass das richtig ist. Deswegen halten wir an
Zuzahlungen grundsätzlich fest.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Sie machen in dieser Woche bei den Haushaltsberatun-
gen zum Gesundheitsetat ja sowieso wieder Politik nach
dem Motto: Im Himmel ist Jahrmarkt. Sie stellen Anträge
im Gesundheitsausschuss. Wir sollen 1 bis 2 Milliarden
Euro mehr für Krankenhäuser ausgeben, wir sollen mehr
für Prävention ausgeben, wir sollen für die Versorgung
in der Fläche mehr ausgeben, und wir sollen die Praxis-
gebühr und die Zuzahlungen abschaffen.

Ich bin der festen Überzeugung, dass Ihnen die Men-
schen nicht auf den Leim gehen werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie wissen ganz genau, dass eine gute medizinische Ver-
sorgung Geld kostet, dass man nicht alles versprechen
kann und dass das, was Sie hier machen, tatsächlich bil-
liges Trittbrettfahren ist, wie der Kollege das gerade dar-
gestellt hat, mehr aber auch nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Es ist schon drollig, wie sich die Kollegen von der
SPD hier winden. Ich will einmal daran erinnern, dass es
Ulla Schmidt als Gesundheitsministerin war, die die Pra-
xisgebühr mit unserer Zustimmung eingeführt hat,


(Ulrich Kelber [SPD]: „Mit unserer Zustimmung“!)


weil wir sie in der Sache für richtig gehalten haben und
noch immer für richtig halten. Was ihr hier acht Jahre
später, nachdem ihr sie eingeführt habt, gerade versucht,

ist eine Form von unbefleckter Empfängnis. Ihr tut so,
als hättet ihr nichts damit zu tun gehabt. Das lassen wir
euch in der Debatte aber nicht durchgehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich muss hier fragen: Wo ist denn der große Kollege
Lauterbach? Er steht vor jeder Kamera und bei jedem
Fernsehteam und erzählt etwas zur Praxisgebühr und zu
anderen Themen, aber im Ausschuss, am Mittwoch, war
er nicht zu sehen, und heute bei der Debatte ist er auch
nicht zu sehen. Es gibt Menschen, die darüber diskutie-
ren, wie oft Herr Steinbrück in den Ausschüssen sitzt,
aber es gab in den letzten 30 Jahren im ganzen Parla-
ment keinen gesundheitspolitischen Sprecher, der sich
weniger im Ausschuss oder im Plenum hat sehen lassen.
Weniger große Klappe im TV und etwas mehr Anwesen-
heit im Parlament wäre auch einmal angemessen.

Wir als Union werden diesen gemeinsam gefundenen
Kompromiss am Ende mittragen, obgleich wir es in der
Sache für richtig gehalten hätten, die Praxisgebühr bei-
zubehalten. Wir tragen ihn schweren Herzens, aber gu-
ten Gewissens mit, weil wir wissen, dass wir selbst mit
dieser Entscheidung mehr Rücklagen in der gesetzlichen
Krankenversicherung und insgesamt eine stabilere finan-
zielle Situation haben werden, als das in den letzten
20 Jahren der Fall gewesen ist.

Das ist ein Ausdruck erfolgreicher christlich-liberaler
Gesundheitspolitik: nicht großes Trittbrettfahren, nicht
großes Reden, sondern gutes Handeln. Das setzen wir
auch fort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720509000

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Regelung des Assistenzpflegebedarfs in stationären Vor-
sorge- und Rehabilitationseinrichtungen.

Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/11396, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksachen 17/10747 und 17/10799 in der Aus-
schussfassung anzunehmen.

Interfraktionell ist vereinbart, über Art. 1 Nrn. 2 bis 6
und Art. 4 bis 6 – es handelt sich dabei um die Abschaf-
fung der Praxisgebühr – einerseits und über den Gesetz-
entwurf im Übrigen andererseits getrennt abzustimmen.

Ich rufe also zunächst Art. 1 Nrn. 2 bis 6 und Art. 4
bis 6 in der Ausschussfassung auf – Stichwort: Praxisge-
bühr.

Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Zur Ab-
stimmung liegt mir eine Erklärung des Kollegen Dr. Ilja
Seifert vor.1)

Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind alle Plätze an

1) Anlage 5





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


den Abstimmungsurnen besetzt? – Das ist der Fall. Dann
eröffne ich die namentliche Abstimmung.

Nun die obligate Frage: Haben alle anwesenden Mit-
glieder des Bundestages ihre Stimme abgegeben? – Es
gibt keine heftigen Bewegungen mehr, dann schließe ich
die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und
Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Bis zum
Vorliegen des Ergebnisses der namentlichen Abstim-
mung unterbreche ich die Sitzung.

Die Sitzung ist unterbrochen.


(Unterbrechung von 13.33 bis 13.40 Uhr)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720509100

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die unterbrochene

Sitzung ist wieder eröffnet.

Ich teile Ihnen zunächst das von den Schriftführerin-
nen und Schriftführern ermittelte – wie ich feststelle:
einmalige – Ergebnis der namentlichen Abstimmung
über Art. 1 Nrn. 2 bis 6 und Art. 4 bis 6 des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Regelung des Assistenzpflegebedarfs in stationären Vor-
sorge- oder Rehabilitationseinrichtungen in der Aus-
schussfassung – es geht also, kurz gesagt, um die Praxis-
gebühr – mit: abgegebene Stimmen 548. Mit Ja haben
gestimmt 548.

Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 546;
davon

ja: 546

Ja

CDU/CSU

Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck


(Reutlingen)

Manfred Behrens (Börde)

Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen


(Bönstrup)

Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer (Göttingen)

Dirk Fischer (Hamburg)


(Karlsruhe Land)


Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich


(Hof)

Michael Frieser
Erich G. Fritz
Hans-Joachim Fuchtel
Ingo Gädechens
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer

Alois Karl
Bernhard Kaster

(Villingen Schwenningen)

Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer (Altötting)

Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt

Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller (Erlangen)

Dr. Philipp Murmann
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche (Potsdam)

Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht (Weiden)

Anita Schäfer (Saalstadt)

Dr. Annette Schavan
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt (Fürth)

Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön (St. Wendel)

Dr. Kristina Schröder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer

(Weil am Rhein)

Detlef Seif
Johannes Selle





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl (Heilbronn)

Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel (Kleinsaara)

Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg (Hamburg)

Peter Weiß (Emmendingen)

Sabine Weiss (Wesel I)

Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-

Becker
Dagmar G. Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew

SPD

Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding (Heidelberg)

Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Edelgard Bulmahn
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke

Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf (Rosenheim)

Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Michael Groß
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Hubertus Heil (Peine)

Wolfgang Hellmich
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz (Essen)

Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe (Leipzig)

Anette Kramme
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)

Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel (Berlin)

Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth (Esslingen)

Michael Roth (Heringen)

Marlene Rupprecht


(Tuchenbach)

Annette Sawade
Bernd Scheelen
Werner Schieder (Weiden)

Carsten Schneider (Erfurt)

Ottmar Schreiner

Swen Schulz (Spandau)

Ewald Schurer
Frank Schwabe
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries

FDP

Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine Aschenberg-

Dugnus
Daniel Bahr (Münster)

Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Hans-Werner Ehrenberg
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther (Plauen)

Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth (Kyffhäuser)

Heinz Lanfermann

Harald Leibrecht
Sabine Leutheusser-

Schnarrenberger
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner (Berlin)

Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller (Aachen)

Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann


(Lausitz)

Hans-Joachim Otto


(Frankfurt)

Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Manfred Todtenhausen
Dr. Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel


(Lüdenscheid)

Dr. Daniel Volk
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)


DIE LINKE

Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Werner Dreibus
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Harald Koch
Jan Korte
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Ralph Lenkert
Stefan Liebich
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer (Köln)

Michael Schlecht
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Dr. Petra Sitte

Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Jörn Wunderlich

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Kerstin Andreae
Marieluise Beck (Bremen)

Volker Beck (Köln)

Cornelia Behm
Birgitt Bender
Agnes Brugger
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring

Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz (Herborn)

Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Stephan Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth (Quedlinburg)

Monika Lazar
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller (Köln)

Beate Müller-Gemmeke

Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth (Augsburg)

Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Ulrich Schneider
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang Strengmann-

Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Arfst Wagner (Schleswig)

Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler


(Beifall im ganzen Hause)


– Ich glaube, es geht Ihnen so wie mir. Das habe ich
noch nie erlebt im Deutschen Bundestag, also eine Pre-
miere.

Art. 1 Nrn. 2 bis 6 und Art. 4 bis 6 sind damit ange-
nommen.

Ich rufe nun die übrigen Teile des Gesetzentwurfs in
der Ausschussfassung auf. Ich bitte diejenigen, die zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt da-
gegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf
insgesamt in zweiter Beratung mit den Stimmen der bei-
den Koalitionsfraktionen und den Stimmen der Linken
bei Enthaltung von SPD und Grünen angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist damit mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie
zuvor angenommen.

Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Gesundheit auf Drucksache
17/11396 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buch-
stabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/10784
mit dem Titel „Assistenzpflege bedarfsgerecht sichern“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfrak-
tionen gegen die Stimmen von Linken und Grünen bei
Enthaltung der SPD angenommen.

Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksa-
che 17/9189 mit dem Titel „Praxisgebühr abschaffen –
Hausärztinnen und Hausärzte stärken“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen von SPD und Linken bei Enthaltung der Grü-
nen angenommen.

Unter Buchstabe d empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksa-
che 17/11192 mit dem Titel „Praxisgebühr sofort ab-
schaffen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitions-
fraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen
angenommen.

Unter Buchstabe e empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/9031 mit dem Titel „Praxisgebühr abschaffen“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die
Stimmen der Opposition angenommen.

Des Weiteren empfiehlt der Ausschuss unter
Buchstabe f seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/11396 die Ablehnung des Antrags der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 17/11141 mit dem Titel „Pra-
xisgebühr jetzt abschaffen“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


men der Koalition gegen die Stimmen der Opposition
angenommen.

Unter Buchstabe g empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 17/9408 mit dem Titel „Zusatzbei-
träge aufheben, Überschüsse für Abschaffung der
Praxisgebühr nutzen“. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Ko-
alition gegen die Stimmen der Opposition angenommen.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe h
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11396
die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/11179 mit dem Titel „Praxis-
gebühr und Zusatzbeiträge jetzt abschaffen“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen? – Auch diese Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die der
Opposition angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 44 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Diana
Golze, Jörn Wunderlich, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Altersgrenze beim Unterhaltsvorschuss anhe-
ben

– Drucksache 17/11326 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Jörn Wunderlich für die Fraktion Die Linke das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Jörn Wunderlich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720509200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Än-

derung des Unterhaltsvorschussgesetzes – seit Jahren
kursiert dieses Thema hier im Hause. Unterhaltsvor-
schuss ist ein wichtiges Thema; man kann das nur immer
wieder betonen. Vielleicht für die, die sich noch nicht
damit befasst haben: Unterhaltsvorschuss wird vom Amt
gezahlt, wenn Eltern getrennt leben und der Unterhalts-
verpflichtete seiner Unterhaltspflicht nicht nachkommt.
Er kommt also im Wesentlichen alleinerziehenden
Elternteilen zugute. Eigentlich müsste die Altersgrenze
– sie endet bei 12 Jahren, und das Ganze ist auf maximal
6 Jahre befristet – auf 18 Jahre, bis zur Volljährigkeit,
heraufgesetzt und das Ganze entfristet werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Das ist die Position meiner Fraktion. Einen entsprechen-
den Antrag haben wir eingebracht.

Heute liegt ein Antrag vor, in dem lediglich eine For-
derung steht, nämlich die Altersgrenze von 12 auf
14 Jahre anzuheben. Das ist nur ein kleiner Teil von
dem, was eigentlich erforderlich ist. Aber da wir wissen,
wie unsere Anträge – und seien sie noch so sach-

gerecht – im Ausschuss und hier im Plenum behandelt
werden, wollen wir mit diesem Antrag die Koalition an
ihren Koalitionsvertrag erinnern; denn in dem steht ge-
schrieben: Wir werden das Unterhaltsvorschussgesetz
dahin gehend ändern, dass die Altersgrenze auf 14 Jahre
angehoben wird. – Nichts anderes wollen wir mit unse-
rem Antrag erreichen: Wir wollen Sie an Ihre Verspre-
chen im Koalitionsvertrag erinnern.

Die FDP betont immer ihre ach so tolle Vertragstreue;
denn anders ist Ihre Zustimmung zum Betreuungsgeld
von heute früh nicht zu erklären.


(Judith Skudelny [FDP]: Doch! Doch!)


– Ja, es ist richtig. Ich habe vergessen: Sie haben sich am
letzten Wochenende im Rahmen des besagten Kuhhan-
dels kaufen lassen. Stimmt.


(Beifall bei der LINKEN und der SPD)


Diese FDP macht immer fleißig mit.


(Zuruf der Abg. Judith Skudelny [FDP])


– Nicht aufregen! Die Wahrheit muss man vertragen
können.


(Beifall bei der LINKEN)


Nun kann die FDP wirklich zeigen, wie vertragstreu sie
ist. Oder sie soll den Menschen, insbesondere den Al-
leinerziehenden, also einer Gruppe von Menschen, die
ohnehin von Armut bedroht ist, offen ins Gesicht sagen,
dass sie die im Koalitionsvertrag versprochene Unter-
stützung nicht gewährt, sondern im Gegenteil mit dem
Unterhaltsvorschussentbürokratisierungsgesetz ihnen noch
Mittel streichen will.

Wie ist denn die Situation von Alleinerziehenden?
Schule, Arbeit, Kindererziehung und Haushaltsführung
müssen kombiniert werden, und dann stellt das Amt die
Zahlung ein, weil das Kind zwölf Jahre alt wird. Das ist
überhaupt nicht zu verstehen. Jetzt will die FDP noch
weiter kürzen. Aber gestern betonte die FDP hier im
Haus noch ihr soziales Gewissen. Das hat Frau Piltz ge-
sagt. Das war die Lachnummer schlechthin.


(Caren Marks [SPD]: Das ist schon mal ein Widerspruch in sich: FDP und soziales Gewissen!)


– Ja, das ist richtig. – Wenn jetzt wieder das Argument
kommt: „Ach, die Linke stellt einen Schaufensteran-
trag“, kann ich nur sagen: Richtig. Das ist ein Schaufens-
terantrag. In das Schaufenster will ich nämlich die FDP
stellen, um allen Menschen zu zeigen, was von dieser
Partei zu halten ist.


(Beifall bei der LINKEN – Caren Marks [SPD]: Die armen Zuschauer!)


Frau Gruß, die immer ankommt mit „Kinder können
nicht auf Schuldenbergen spielen“ und „Wie soll das fi-
nanziert werden?“, halte ich entgegen: Wie kann denn
die FDP dem Milliardenprojekt Betreuungsgeld zustim-
men? Liberale Schuldenberge gibt es ja nicht.


(Judith Skudelny [FDP]: Von dem die Hartz-IVEmpfänger ihre Bildung bezahlen können!)






Jörn Wunderlich


(A) (C)



(D)(B)


– Regen Sie sich doch nicht so auf! – Jetzt muss sich die
FDP erklären. Macht sie Politik für Menschen, die sie
brauchen, oder klüngelt und kungelt sie, und bricht sie
ihre Versprechen? Alleinerziehende schröpfen, um das
Betreuungsgeld zu finanzieren – das ist die von Ihnen
selbst so oft „christlich-liberal“ genannte Politik. Und
die FDP schröpft fleißig mit.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Menschen werden das nicht vergessen; das ver-
spreche ich Ihnen. Stellen Sie heute unter Beweis, dass
Sie nicht heuchlerisch, vertrags- und wortbrüchig sind,
und stimmen Sie unserem Antrag zu, damit FDP nicht
länger für „Firma der Pharisäer“ steht.


(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN und der SPD)


Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720509300

Das Wort hat nun Kollegin Winkelmeier-Becker für

die CDU/CSU-Fraktion.


Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU):
Rede ID: ID1720509400

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Im Bundeshaushalt beträgt der Anteil für Sozia-
les fast 50 Prozent: Es sind 49 Prozent in diesem Jahr.
Trotzdem ist es nicht unüblich, dass die Opposition im-
mer noch mehr fordert, ob bei Rente, Kindergeld,
Grundsicherung und Grundeinkommen. All das wird ja
noch gefordert.


(Caren Marks [SPD]: Das steht im Koalitionsvertrag! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Bei der Rente ist das auch dringend nötig!)


Gerade für die Linke gilt: Egal, welche Leistung es
schon gibt, egal, wer was fordert – Sie setzen immer
noch eins drauf.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Weil Sie so knickrig sind!)


Das ist das Privileg der Opposition, die auch nicht in der
Verantwortung steht, alles unter einen Hut zu bringen.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Wir möchten nur, dass Sie Ihr Versprechen einlösen!)


Aber jetzt haben Sie es geschafft, sich selbst zu übertref-
fen. Sie haben es geschafft, im wöchentlichen Rhythmus
zum selben Sujet zwei unterschiedliche Anträge einzu-
bringen. In der einen Woche fordern Sie, die Alters-
grenze auf 14 Jahre zu erhöhen. In der anderen Woche
fordern Sie neben der Verlängerung der Bezugsdauer,
die Altersgrenze auf 18 Jahre zu erhöhen.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Frau Winkelmeier-Becker, hätten Sie zugehört, dann wüssten Sie, warum!)


Warum eigentlich nicht 25 Jahre oder solange man über-
haupt Unterhalt beanspruchen kann, solange man einen
Vater hat oder wie auch immer?


(Caren Marks [SPD]: Auf 14, steht im Koalitionsvertrag!)


Das müssen Sie uns erklären oder einfach sagen, was Sie
denn nun wollen.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Zuhören reicht nicht! Man muss es auch verstehen!)


Möglicherweise sind Sie auch schon wieder auf dem
Rückzug. Denn der ältere Antrag fordert 18 Jahre, der
jüngere 14 Jahre.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das nennt man Realpolitik, Frau Kollegin!)


Das Thema, um das es geht, ist zu ernst. Da sind wir,
denke ich, wieder auf einer gemeinsamen Basis.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das ist richtig! Ich möchte nur, dass Sie Ihr Versprechen aus dem Koalitionsvertrag einlösen! Mehr nicht!)


– Ein Koalitionsvertrag enthält niemals Versprechungen
gegenüber der Opposition, sondern Versprechungen ge-
genüber denen, die in einer Koalition zusammenarbei-
ten. Deshalb habe ich Ihnen gegenüber an dieser Stelle
ganz gewiss kein schlechtes Gewissen.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Deswegen steht da auch drin: „Wir werden den Unterhaltsvorschuss ausbauen“! Ihr kürzt ihn! Ihr sagt: „Wir verlängern ihn“, und dann kürzt ihr ihn!)


Es tut mir aber durchaus leid, wenn wir das in dieser
Legislaturperiode nicht hinbekommen. Das ist für mich
als Familienpolitikerin sehr bedauerlich.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Katastrophal, diese Politik!)


Denn wir wissen, dass die Situation für Alleinerziehende
schwierig ist. Deshalb haben wir uns das auch vorge-
nommen. Wir hätten es auch weglassen können. Wir ha-
ben es uns ehrlich vorgenommen,


(Diana Golze [DIE LINKE]: Ja! Aber nicht umgesetzt! Vornehmen alleine reicht nicht!)


in dem Bestreben, das auch umzusetzen,


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Und warum setzt ihr es nicht um? – Diana Golze [DIE LINKE]: Wenn man 2 Milliarden Euro für das Betreuungsgeld rausschmeißt, reicht es nicht mehr!)


aber wir kommen an mathematischen Gesetzmäßigkei-
ten nicht immer vorbei.

Auch wenn es schwierig ist, sollten wir uns trotzdem
konstruktiv an die Arbeit machen, um zu sehen, was
auch in einem begrenzten Rahmen möglich und zu ver-
bessern ist. Es gibt durchaus einige Ansatzpunkte, um
das Verfahren zu verbessern.





Elisabeth Winkelmeier-Becker


(A) (C)



(D)(B)


Um einmal an den Ursprung der Idee des Unterhalts-
vorschusses anzuknüpfen, darf ich daran erinnern: Un-
sere Vorgänger haben ihn 1979 eingeführt. Damals gab
es 36 Monate, maximal bis zum sechsten Geburtstag des
Kindes, Unterhaltsvorschuss. Man hat von Anfang an
problematisiert, was die richtige Altersgrenze und Be-
zugsdauer ist. Es ging dabei auch immer ganz klar um
die Begrenztheit des Budgets. Man hat sich schließlich
auf diese Zeiten geeinigt, weil man gesagt hat: In diesem
jungen Alter ist die Situation ganz besonders schlimm.

Man hat aber auch gesagt: 36 Monate reichen, um den
Unterhaltsanspruch gegenüber dem Vater zu klären. Das
unterstreicht noch einmal den wahren Charakter dieser
Leistung. Es ist eben nicht die auf Dauer angelegte zu-
sätzliche Unterstützung durch den Staat. Ich bezweifle
auch, dass es seine Richtigkeit hätte, wenn alleine die
Tatsache, dass eine Familie sich trennt, dazu führt, dass
man auf Dauer zusätzliche staatliche Leistungen be-
kommt.

Es ist eine Vorauszahlung des Staates, die er sich im
Idealfall vom Vater zurückholt.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Zurückholen! Man müsste mal die Rückholquote erhöhen!)


– Genau, man müsste die Rückholquote erhöhen,


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Ja! Dann fallen auch weniger Kosten an! Dann kann man es eher umsetzen! Frau Winkelmeier-Becker, machen Sie es einfach! Sie wissen anscheinend, wie es geht! Sie kommen doch auch vom Fach!)


und man müsste die in der Praxis sehr häufige Situation,
dass nämlich nach sechs Jahren sich jeder wundert: „Wo
bleibt denn das Geld?“ und keiner weiß, warum es nicht
mehr kommt, auflösen. Wir müssen den Müttern oder
denjenigen, bei denen das Kind lebt – das kann ja auch
andersherum sein – und die den Unterhalt für das Kind
beanspruchen, die nötigen Mittel geben. Da muss das Ju-
gendamt besser helfen, den anderen, unterhaltspflichti-
gen Elternteil aufspüren, einen Titel gegen ihn besorgen,
die Vollstreckung in die Wege leiten


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Genau! Und solange sie nichts haben, vorzahlen!)


und dann den Fall abgeben, am besten auch schon vor
Ablauf der sechs Jahre. Dann ist allen besser gedient.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wir hatten in der vergangenen Sitzungswoche die
erste Beratung eines Gesetzentwurfs, der verschiedene
Verfahrensmaßnahmen aufgreifen soll, die die Länder
uns vorschlagen.

Wir werden auch sehr aus dem Blickwinkel der erzie-
henden Elternteile betrachten, was wir da besser machen
können, ganz konkret mit dem Ziel, den Rückgriff zu
verbessern: Auskunftsrechte verbessern, Verfahren straf-
fen und dann die Verfahren in einem gut aufbereiteten
Zustand an die Eltern abgeben. Davon haben die Mütter
und die Kinder im Zweifel mehr, als wenn sie nach sechs

Jahren plötzlich überrascht feststellen, dass die Zeit um
ist und es keinen Unterhaltsvorschuss mehr gibt. In die-
sem Sinne können wir das gern gemeinsam konstruktiv
unter die Lupe nehmen.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Wir können es heute schon mal um zwei Jahre verlängern!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720509500

Das Wort hat nun Caren Marks für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Caren Marks (SPD):
Rede ID: ID1720509600

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Erst in der
letzten Plenarwoche hatten wir das Unterhaltsvorschuss-
entbürokratisierungsgesetz in erster Lesung auf der Ta-
gesordnung. Ich befürchte allerdings, dass die Bundesre-
gierung und vor allem die Familienministerin Schröder,
die eigentlich zuständig ist, die fachlichen Argumente
der Opposition wie auch der Fachverbände einmal mehr
ignoriert hat.

Was haben diese Bundesregierung und die Regie-
rungskoalition im Bereich der Familienpolitik nicht alles
vereinbart und angekündigt? Vereinbart war, jedenfalls
in Ihrem schwarz-gelben Koalitionsvertrag, die Zahlung
des Unterhaltsvorschusses bis zum 14. Lebensjahr zu er-
weitern.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Tja!)


Hier erklärt Schwarz-Gelb, ganz in der Tradition von
Adenauer: Was schert mich mein Geschwätz von ges-
tern?


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


In der Tat, sinnlos geschwatzt oder, noch besser, ge-
stritten wird in dieser schwarz-gelben Bundesregierung
viel. Gehandelt wird wenig. Wenn etwas auf den Weg
gebracht wird, dann sind es überwiegend keine Verbes-
serungen, sondern Verschlimmbesserungen oder Absur-
ditäten wie heute Morgen das Betreuungsgeld.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Dann ist es gut, wenn die nichts machen! Das ist Schadensminimierung!)


Meine Kolleginnen und Kollegen, eine solche Ver-
schlimmbesserung hat es beispielsweise beim Gesetz
zum Elterngeldvollzug und seiner vermeintlichen Ver-
besserung durch Entbürokratisierung gegeben. Die von
den Sachverständigen kritisierte Schlechterstellung von
Eltern mit Behinderungen bzw. Eltern mit einem Kind
mit Behinderungen ist bis heute nicht behoben.

Was nun das Unterhaltsvorschussentbürokratisie-
rungsgesetz betrifft: Die Präsidentin des Deutschen Ju-
ristinnenbundes hat anlässlich der Befassung mit diesem
Gesetzentwurf in erster Lesung in einer Pressemitteilung





Caren Marks


(A) (C)



(D)(B)


festgestellt – ich zitiere –: „Das geplante Gesetz stellt ei-
nen Rückschritt dar.“

Der Gesetzentwurf dient nicht den Alleinerziehenden.
Er dient nicht ihren Kindern. Er führt zwar zu Mehrein-
nahmen des Staates; diese, meine Kolleginnen und Kol-
legen von Schwarz-Gelb, kommen aber gerade nicht den
Kindern zugute. Doch gerade Kinder, die keinen Unter-
halt vom nichtbetreuenden Elternteil erhalten, sind – ich
sage es Ihnen – in ganz besonderer Weise auf diese Un-
terstützung angewiesen, und das sollten Sie nicht länger
ignorieren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Doch dieser Familienministerin geht es – das können
wir immer wieder merken, egal bei welchem Vorhaben –
nicht wirklich um die Familien in unserem Land und
schon gar nicht um die Einelternfamilien; denn sonst
würde sie sich für Verbesserungen beim Unterhaltsvor-
schuss einsetzen.

Eine Verbesserung wäre zum Beispiel die Anhebung
der Altersgrenze; völlig richtig. Von einer Ausdehnung
der Zahlung des Unterhaltsvorschusses bis zum 14. Le-
bensjahr würden immerhin 82 000 Kinder in unserem
Land profitieren. Die Mehrausgaben lägen bei etwa
240 Millionen Euro für Bund und Länder zusammen; so
jedenfalls die Aussage des Staatssekretärs Dr. Kues auf
eine entsprechende Anfrage vom Dezember 2011.

Die Verlängerung der Zahlung dieser Leistung muss
natürlich solide finanziert werden. Dazu bedarf es auch
einer Klärung des Bundes mit den Ländern, aber eben
auch mit den Kommunen; denn die Leistungen nach dem
Unterhaltsvorschussgesetz tragen zu einem Drittel der
Bund und zu zwei Drittel die Länder, und die Länder ha-
ben die Ermächtigung, die Kommunen an den Ausgaben
zu beteiligen.

Zur Anhebung der Altersgrenze auf 14 Jahre fordert
die Linke in ihrem heute zur Abstimmung stehenden
Antrag die Bundesregierung auf. Dabei erinnert er
Schwarz-Gelb zu Recht an den eigenen Koalitionsver-
trag. Die Forderung in Ihrem Antrag, meine Kolleginnen
und Kollegen von den Linken, ist insofern nur folgerich-
tig, meines Erachtens aber für eine Weiterentwicklung
des Unterhaltsvorschusses unvollständig; denn das wäre
eben nur ein Schritt zu einer Verbesserung. Weitere
Schritte müssen ganz dringend geprüft werden.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Die liegen schon vor!)


So muss meines Erachtens eine Verlängerung der Be-
zugsdauer des Unterhaltsvorschusses geprüft werden.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Liegt auch schon vor!)


Ebenso überprüft werden müsste der vollständige Abzug
des Kindergeldes beim Unterhaltsvorschuss. Dies stellt
Kinder, die Unterhaltsvorschuss erhalten, generell schlech-
ter als Kinder, die Unterhalt von einem Elternteil bekom-
men. – Dies sind nur zwei Beispiele für wirklich not-
wendige Prüfungen. Eine Prüfung aller relevanten

Gesichtspunkte mit dem Ziel einer Verbesserung des
Unterhaltsvorschusses muss die Bundesregierung vor-
legen. Das Ergebnis, Herr Staatssekretär, muss dem
Deutschen Bundestag vor Verabschiedung einer Geset-
zesänderung zum Unterhaltsvorschuss vorgelegt werden.
Beginnen Sie doch bitte mit Ihrer Arbeit!

Der Reformbedarf beim Unterhaltsvorschussgesetz
ist unstrittig. Aber wenn man eine Reform vornimmt,
dann bitte gleich richtig. So hat es jedenfalls die SPD-
Bundestagsfraktion in ihrem Antrag zur Unterstützung
der Alleinerziehenden gefordert, und dies verstehe ich
unter einer wirklich sinnvollen Weiterentwicklung und
Verbesserung des Gesetzes. Es muss der Zielgruppe ge-
recht werden, den gesellschaftlichen Bedingungen ange-
passt und positiv weiterentwickelt werden – und darf
nicht, wie es Schwarz-Gelb in der letzten Sitzungswoche
festgelegt hat, Alleinerziehende und ihre Kinder schlechter
stellen. Bei der Bundesregierung ist eben nicht Weiter-
entwicklung, sondern Rückschritt angesagt, Rückschritt
in der Familienpolitik auf ganzer Linie wie heute Mor-
gen beim Betreuungsgeld.

Letztlich – das bleibt festzustellen – fehlt es dieser
schwarz-gelben Bundesregierung auch bei der Familien-
politik an einem Gesamtkonzept. Die Familien und die
Kinder in diesem Land bekommen das auf bitterste
Weise zu spüren; aber Gott sei Dank sind Sie nicht mehr
lange an der Regierung.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720509700

Das Wort hat nun Judith Skudelny für die FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Judith Skudelny (FDP):
Rede ID: ID1720509800

Also, wer wie lange an der Regierung ist, das ent-

scheidet Gott sei Dank nicht die SPD-Fraktion; das ent-
scheiden die Wählerinnen und Wähler im nächsten Jahr.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Caren Marks [SPD]: Ja! Gott sei Dank!)


Ich möchte zunächst sagen, dass ich meine Kollegin,
die Vorsitzende des Familienausschusses, Frau Laurischk,
vertrete, die krankheitsbedingt leider nicht hier sein
kann. Ich wünsche ihr – ich denke, wir wünschen ihr –
von dieser Stelle aus alles Gute.


(Beifall im ganzen Hause)


Meine Damen und Herren! Die Unterhaltsleistung
nach dem Unterhaltsvorschussgesetz ist eine vorüberge-
hende Unterstützung für alleinerziehende Elternteile, die
ihre Kinder in der Regel unter erschwerten Bedingungen
erziehen. Alleinerziehende sind beim Ausfall von Unter-
haltsleistungen des anderen Elternteils gezwungen, fi-
nanziell für den von dem anderen Elternteil fehlenden





Judith Skudelny


(A) (C)



(D)(B)


Unterhalt aufzukommen. Ziel des Unterhaltsvorschusses
ist es, die Zeit, bis der alleinerziehende Elternteil den
Unterhalt vom unterhaltspflichtigen Elternteil erhält, zu
überbrücken. Bei unregelmäßigen oder ausbleibenden
Unterhaltszahlungen hat das Kind eines alleinerziehen-
den Elternteils Anspruch auf Leistungen nach dem Un-
terhaltsvorschussgesetz. An dieser Stelle möchte ich be-
tonen, dass der Unterhaltsvorschuss keine Sozialleistung
ist, sondern Familien in einer Notlage unterstützen soll.

Ein Kind braucht Unterhalt. Seine Bedürfnisse müs-
sen erfüllt werden. Wenn der unterhaltspflichtige Eltern-
teil diese Bedürfnisse durch die Zurückhaltung des Un-
terhalts nicht erfüllt, ist der Staat gefordert, in dieser
Notsituation einzugreifen. Wir müssen uns vor Augen
führen, dass das Nichtbezahlen von Unterhalt kein Ka-
valiersdelikt ist, sondern einen Straftatbestand darstellt.
Zu Zeiten, in denen wir die Stärkung der Rechte von Vä-
tern im Deutschen Bundestag diskutieren, dürfen wir de-
ren Pflichten nicht vergessen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Im Koalitionsvertrag der Unionsfraktion und der FDP
wurde dazu festgehalten – tatsächlich –:

Wir werden das Unterhaltsvorschussgesetz dahin
gehend ändern, dass der Unterhaltsvorschuss ent-
bürokratisiert und bis zur Vollendung des 14. Le-
bensjahres eines Kindes gewährt wird.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Dann macht es doch! Heute habt ihr die Chance!)


Aber manchmal hilft es auch, den ganzen Vertrag zu le-
sen. Dort steht nämlich: „immer unter dem Vorbehalt der
Finanzierung“.


(Caren Marks [SPD]: Ach, und beim Betreuungsgeld? – Weitere Zurufe von der SPD und der LINKEN)


Damit haben wir als Koalition unterstrichen, dass wir die
Situation der Alleinerziehenden besonders im Blick ha-
ben und sie in dieser schwierigen Lebensphase des Kon-
fliktes um den Unterhalt nicht alleinlassen. Zugleich ha-
ben wir eine starke Erwartungshaltung geschaffen, an
der eine Reform des Unterhaltsvorschussgesetzes nun
politisch gemessen wird.

Das Gesetz zur Änderung des Unterhaltsvorschussge-
setzes soll und wird Alleinerziehenden den Weg für
diese Unterstützungsleistung ebnen und die Antragstel-
lung so weit als möglich vereinfachen. Der Gesetzent-
wurf sieht vor, dass künftig alleinerziehende Elternteile
weniger Nachweise erbringen müssen. Das trägt natür-
lich auch dazu bei, den zuständigen Unterhaltsvorschuss-
stellen die Anspruchsprüfung und Anspruchsbewilligung
zu erleichtern. Darüber hinaus werden klarstellende Re-
gelungen wie die Anrechnung von erbrachten Unter-
haltsleistungen des familienfernen Elternteiles getroffen.

Im vorliegenden Gesetzentwurf wird die gerichtliche
Durchsetzung der Rückgriffsansprüche präzisiert. Zur
Verbesserung des Rückgriffs im Rahmen der Entbüro-
kratisierung des Unterhaltsvorschusses ist geplant, die
Auskunftsmöglichkeiten der für den Vollzug des UVG

zuständigen Stellen im Hinblick auf die Verhältnisse des
familienfernen Elternteils zu erweitern.

Insgesamt führt dieses Gesetz an vielen Stellen zu ei-
ner Vereinfachung des Verfahrens, sowohl für die An-
tragsteller – also für die alleinerziehenden Elternteile, in
der Regel die Mütter – als auch für die vollziehenden
Behörden. Ausdrücklich zu begrüßen ist, dass der Rück-
griff auf die Unterhaltsschuldner erleichtert wird.

Im weiteren Verfahren wollen wir weitere Verbesse-
rungen im Gesetzentwurf erreichen. Wir als FDP halten
es für notwendig, in § 2 klarzustellen, dass der Unter-
haltsverpflichtete ein Einverständnis des betreuenden El-
ternteils nachweisen muss, damit Zuwendungen an
Dritte leistungsbefreiende Wirkung haben. Es kann nicht
sein, dass der Vater für den Ballettunterricht des Kindes
aufkommt, das Essen aber nicht bezahlt. Außerdem wol-
len wir eine Regelung, nach der das Jugendamt Aus-
künfte über den Unterhaltsschuldner weitergeben muss.
Das soll dazu beitragen, den Unterhaltsanspruch des
Kindes notfalls auch gerichtlich durchzusetzen. Darüber
hinaus werden wir versuchen, § 4 noch einmal zu ändern
und die gegenwärtig geltende Möglichkeit der rückwir-
kenden Zahlung beizubehalten.

Natürlich ist die Anhebung der Altersgrenze auf
14 Jahre richtig und geboten. Doch wir haben nicht nur
Verantwortung für Alleinerziehende, sondern auch für
einen ausgeglichenen Bundeshaushalt; denn – Achtung,
jetzt kommt es – Kinder können auf Schuldenbergen
nicht spielen.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Ja! Aber auf euren liberalen schon, was? So ein Blödsinn!)


Wir wissen, wie schwer es werden wird – gerade bei den
Ländern, die ja zwei Drittel der Kosten tragen müssen –,
eine Ausweitung auf 14 Jahre durchzusetzen. Wenn die
Opposition die Ausweitung des Unterhaltsvorschusses
fordert, die in der Sache durchaus berechtigt ist, dann
fordere ich Sie, meine lieben Damen und Herren, dazu
auf, in den von SPD, Grünen und Linken regierten Bun-
desländern auch konsequent dafür einzutreten und über
den Bundesrat zur Ausweitung beizutragen. Denn es ist
absolut scheinheilig von der Opposition, auf der einen
Seite in einem Antrag den Bund zur Erhöhung der Al-
tersgrenze und damit zur Erhöhung der Kosten aufzu-
fordern und auf der anderen Seite in den Ländern alle fa-
milienpolitischen Maßnahmen zu blockieren, die die
Länder etwas kosten würden.

Danke.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720509900

Das Wort hat nun Katja Dörner für die Fraktion Bünd-

nis 90/Die Grünen.


Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720510000

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Sie hören es schon: Ich bin stimmlich
ein bisschen angeschlagen. Wir haben heute Morgen
eine Inklusionsdiskussion geführt. In diesem Sinne,





Katja Dörner


(A) (C)



(D)(B)


denke ich, müssen hier auch krächzende Abgeordnete
akzeptiert werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Iris Gleicke [SPD]: Gute Besserung!)


Keine andere Familienform hat in den letzten Jahr-
zehnten in Deutschland so an Bedeutung gewonnen wie
die Ein-Eltern-Familie. Wir reden von 1,6 Millionen Al-
leinerziehenden und insgesamt 2,2 Millionen Kindern
und Jugendlichen. Alleinerziehende leisten Enormes;
denn sie sorgen nicht nur alleine für ihre Kinder, sondern
verdienen in vielen Fällen auch den Lebensunterhalt al-
leine. Sie verdienen Anerkennung und Respekt, und sie
verdienen es, in besonderer Weise von Staat und Gesell-
schaft unterstützt zu werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie der Abg. Caren Marks [SPD])


Was tut die Bundesregierung aber für diese am meis-
ten von Armut betroffene Familienform?


(Caren Marks [SPD]: Kürzungen!)


Sie kürzt Programme und Leistungen, von denen Allein-
erziehende in besonderer Weise profitieren, beispiels-
weise das Programm „Soziale Stadt“, mit dem viele
Angebote für Alleinerziehende und ihre Kinder bewerk-
stelligt wurden. Wir erinnern uns auch an die komplette
Anrechnung des Sockelbetrags beim Elterngeld auf das
ALG II. Offensichtlich hält die Bundesregierung die Er-
ziehungsleistungen armer Eltern – darunter sind eben
überdurchschnittlich viele Alleinerziehende – nicht für
anerkennenswert. Diese Haltung finde ich völlig in-
akzeptabel.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie der Abg. Caren Marks [SPD])


Die Liste dokumentierter Respektlosigkeiten gegen-
über Alleinerziehenden ist aber noch lange nicht zu
Ende. Gerade hat die Bundesregierung den Entwurf ei-
nes Gesetzes zur Entbürokratisierung des Unterhaltsvor-
schusses eingebracht – das ist schon angesprochen wor-
den –; doch auch hier ist nichts Gutes zu vermuten.


(Caren Marks [SPD]: Ja, das ist der Hammer!)


Geplant sind vor allem Verschlechterungen wie die Ab-
schaffung der rückwirkenden Antragstellung oder die
Anrechnung kleinster Sachbeträge, beispielsweise wenn
der Vater einmal für den Sportverein oder den Gitarren-
unterricht Geld gibt.

Dabei weiß die Bundesregierung nicht einmal genau,
was sie tut. Es gibt nämlich keine umfassende qualitative
und quantitative Evaluation der Leistung. Mehrere
Kleine Anfragen unsererseits, aber auch von den ande-
ren Oppositionsfraktionen unter anderem zur Situation
von Unterhaltsvorschussbeziehenden, zur Verwaltung
der Leistung, zu den Wechselwirkungen mit anderen
staatlichen Leistungen oder auch zu den Ursachen des
schlechten Rückflusses konnten seitens der Bundesre-

gierung einfach nicht beantwortet werden. Dabei wäre es
doch wichtig, zu wissen, warum kein Unterhalt gezahlt
wird und der Staat in die Bresche springen muss. Es ist
beispielsweise kaum erklärbar, wenn ein Landstrich mit
einer eigentlich undramatischen sozialen Lage wie Fulda
– dieses Beispiel ist jetzt nur herausgegriffen – eine
Rückholquote von nur 13 Prozent hat, während eine an-
dere Kommune fast ein Drittel des Geldes wieder ein-
sammelt. Es wäre also wichtig, Wege zu finden, die
Rückholquote zu erhöhen, damit das Geld zurückfließt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Aber das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist nur ein
Aspekt.

Dramatischer ist, dass die Bundesregierung – wir ha-
ben es schon gehört – eigentlich gestartet ist, mithilfe der
Ausweitung der Altersgrenze Verbesserungen beim Un-
terhaltsvorschuss zu erreichen. Das wäre ein wichtiger
und guter Schritt; denn der Unterhaltsvorschuss kommt
bekanntlich direkt bei den Kindern an. Warum fällt die
Ausweitung der Altersgrenze aus? Angeblich ist die
Bundesregierung knapp bei Kasse. Komisch, für das Be-
treuungsgeld sind Milliardenbeträge da;


(Caren Marks [SPD]: Ja!)


die Finanzierung stellt offensichtlich überhaupt kein
Problem dar. Für Verbesserungen beim Unterhaltsvor-
schuss würden kleinere Millionenbeträge reichen; aber
die sind angeblich nicht zu finden.


(Judith Skudelny [FDP]: Die Länder sind auch knapp bei Kasse! Die haben da sowieso keinen Bock drauf!)


Die Forderung zum Unterhaltsvorschuss steht übrigens
im selben Koalitionsvertrag, zu dem die FDP immer so
gerne öffentlich Vertragstreue schwört. Auch hier nenne
ich nur das Stichwort „Betreuungsgeld“. Ein Schelm,
wer hier familienpolitisches Kalkül vermutet!

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungs-
koalition, ich bleibe dabei: Hören Sie auf mit der Be-
nachteiligung Alleinerziehender! Tun Sie endlich das,
was Sie den Alleinerziehenden versprochen haben! Ver-
sprechen Sie vor allem nichts, was Sie gar nicht halten
wollen!

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720510100

Letzter Redner zu diesem Debattenpunkt ist Kollege

Norbert Geis für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1720510200

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Ich meine, es lohnt nicht, diese Debatte mit gro-
ßen Auseinandersetzungen zu führen. Es ist wahr, dass
der Unterhaltsvorschuss von den Behörden aufgrund des





Norbert Geis


(A) (C)



(D)(B)


Antrages der alleingelassenen Mutter gezahlt wird. Die
alleinerziehenden Mütter wurden von den Vätern der
Kinder alleingelassen. Das führt dazu, dass zunächst ein-
mal der Staat einspringt. Der Staat springt ein, um den
alleingelassenen Müttern zu helfen; zu einem späteren
Zeitpunkt hilft er ihnen auch, zu den Unterhaltszahlun-
gen des Vaters zu kommen. Es ist also eine vorüberge-
hende Leistung, die der Staat erbringt, und so war es von
vornherein gedacht.

Der Unterhaltsvorschuss ist 1979 eingeführt worden.
Zunächst war die Unterstützung nur für Kinder bis zum
6. Lebensjahr vorgesehen. Nach der Wiedervereinigung
hat man das Alter auf zwölf Jahre heraufgesetzt und es
dabei auch belassen. Die Höchstbezugsdauer beträgt
nach wie vor 72 Monate, also – Sie können das durch-
rechnen – sechs Jahre und nicht zwölf Jahre.

Der Entwurf eines Unterhaltsvorschussentbürokrati-
sierungsgesetzes – ein Zungenbrecher – ist in der letzten
Sitzungswoche ins Plenum eingebracht worden. Eine
Debatte fand nicht statt; alle Reden wurden zu Protokoll
gegeben. Wir müssen die Debatte jetzt nicht nachholen.
Wir werden in den parlamentarischen Beratungen und
auch im Ausschuss noch Gelegenheit haben, darüber zu
diskutieren, ob das eine oder andere nicht noch zu korri-
gieren ist. Es wurde bereits angesprochen, dass man hier
und dort noch eine Korrektur anbringen könnte. Wenn
das Geld, das der Vater für den Sportverein oder die Kita
zahlt, auf die Unterhaltszahlung angerechnet wird, die
die Mutter zu erwarten hat, dann ist das unter Umstän-
den schwierig, da sie nicht über den gesamten Betrag
verfügen kann. Im Zuge der Ausschussberatungen kann
überlegt werden, ob die im Entwurf vorgesehene Rege-
lung so bleiben soll.

Um was geht es heute? Es geht um den Unterhaltsvor-
schuss selbst. Es geht nicht um die Entbürokratisierung,
obgleich man in diesem Zusammenhang auch darüber
diskutieren könnte. Es ist in der Tat so: Das Gesetz ist
ein Monster geworden. Bis die alleinerziehende Mutter
die ihr zustehende Unterhaltszahlung erhält, muss sie
viele Hürden überwinden. Auch für die Verwaltung
selbst ist die Abwicklung umständlich. Deswegen ist der
Teil der Koalitionsvereinbarung, der eine Entbürokrati-
sierung vorsieht, in den Gesetzentwurf eingeflossen. Der
zweite Teil – das gebe ich gerne zu –, nämlich die Al-
tersgrenze von 12 auf 14 Jahre anzuheben, ist nicht auf-
genommen worden. Es bleibt bei 12 Jahren, obwohl das
in der Koalitionsvereinbarung anders vorgesehen war.
Damit müssen wir uns auseinandersetzen; das ist richtig.

Es gibt sicherlich einen Grund dafür, die Altersgrenze
von 12 auf 14 Jahre anzuheben; das steht ja auch in der
Koalitionsvereinbarung. Die Höchstbezugsdauer von
72 Monaten wurde jedoch nicht angetastet. Eine Ände-
rung der Höchstbezugsdauer war in der Koalitionsver-
einbarung nicht vorgesehen. Man könnte das vielleicht
hineininterpretieren, aber klar ist: Expressis verbis ist
dies nicht enthalten. Es gibt ja zwei Säulen: zum einen
die Höchstbezugsdauer von 72 Monaten, zum anderen
das Höchstalter von 12 Jahren.

Hinter der Überlegung, das Höchstalter auf 14 Jahre
anzuheben, stand der Gedanke, dass eine Frau auch nach

dem 12. Geburtstag ihres Kindes in die Situation geraten
kann, dass der Vater weggeht und keinen Unterhalt leis-
tet. Deshalb wollte man die Altersgrenze für den Erhalt
von Unterhaltsvorschussleistungen auf 14 Jahre anhe-
ben. Dagegen spricht der Grundgedanke der Unterhalts-
vorschussleistung; denn der Grundgedanke ist eben
nicht, den Unterhaltsanspruch damit zum Erlöschen zu
bringen und die Unterhaltsleistung des Vaters zu erset-
zen. Der Grundgedanke ist, der betroffenen alleinerzie-
henden Mutter durch eine Vorschusszahlung zu helfen,
über eine schwierige Phase hinwegzukommen. Der Staat
hat sich aber immer schon den Regressanspruch gegen-
über dem Vater vorbehalten, und er will und soll ihn
auch durchsetzen. Dass er etwas schneller und leichter
durchgesetzt werden kann, ist im Übrigen im vorgeleg-
ten Gesetzentwurf vorgesehen.

Es geht jetzt darum, nicht den Fehler zu begehen, zu
glauben, die Unterhaltsvorschussleistung sei eine dauer-
hafte zusätzliche Familienleistung. So ist es nie gedacht
gewesen. Die Vorschussleistung soll eine Vorschussleis-
tung bleiben. Es ist deswegen vernünftig, die Alters-
grenze bei 12 Jahren zu belassen; sonst gewöhnt man
sich an die Vorschussleistung, und keiner denkt mehr da-
ran, dem Vater wegen des Unterhalts nachzurennen.

Unterhalt zu erstreiten, ist kein einfaches Geschäft.
Elisabeth Winkelmeier-Becker hat vorhin vorgetragen,
was da alles passiert. Zunächst einmal muss ein Titel er-
rungen werden, und man muss herausbekommen, wo der
Vater wohnt. Dann muss ihm die Klage zugestellt wer-
den, und der Titel muss durchgefochten werden. Dann
muss der Gerichtsvollzieher beauftragt werden, den Titel
umzusetzen und das Geld herauszuholen. Das ist
schwierig; aber das muss geschehen, weil wir nicht den
Fehler machen dürfen, anzunehmen, dass die Vorschuss-
leistung ein Ersatz für die Zahlungsverpflichtung des Va-
ters ist. Der Vater muss seine Leistung erbringen. Er
kann nicht auf den Steuerzahler hoffen und sagen: Die
Frau soll sich an den Staat wenden und nicht an mich. –
Das wäre der falsche Weg; das wollen wir nicht.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720510300

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/11326 mit dem
Titel „Altersgrenze beim Unterhaltsvorschuss anheben“.
Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen der
beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Lin-
ken bei Enthaltung von SPD und Grünen abgelehnt.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 43 a und 43 b auf:

a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung

Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand
der Deutschen Einheit 2012

– Drucksache 17/10803 –





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien

b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung

Bund-Länder-Bericht zum Programm Stadt-
umbau Ost

– Drucksache 17/10942 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien

Zu dem Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand
der Deutschen Einheit liegt ein Entschließungsantrag der
Fraktion der SPD vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamen-
tarischen Staatssekretär Dr. Christoph Bergner das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)


D
Dr. Christoph Bergner (CDU):
Rede ID: ID1720510400


Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Bun-
deskabinett hat am 26. September den jährlichen Bericht
zum Stand der deutschen Einheit beschlossen und dem
Parlament zugeleitet. Im 22. Jahr der deutschen Einheit
trifft man bei der Berichterstattung zum Stand der deut-
schen Einheit auf eine große Zahl von Aufgabenfeldern,
die im Sinne der Berichterstattung als weitgehend erle-
digt betrachtet werden können. Das heißt, die Gleich-
wertigkeit der Lebensverhältnisse ist erreicht oder weit-
gehend erreicht. Beispielhaft nenne ich die Situation des
Umwelt- und Naturschutzes. Wenn wir die Ausgangs-
lage vor 22 Jahren betrachten, dann können wir heute
eine praktische Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse
konstatieren. Ich denke, dass auch Bereiche wie das Ge-
sundheitswesen oder die Gesundheitsvorsorge weitge-
hende Angleichungen aufweisen. Ich verweise auf die
Darstellungen im Bericht, die die beachtlichen Entwick-
lungen der Lebenserwartungen in Ost und West, die vor
22 Jahren noch weit auseinander lagen, sich aber weitge-
hend angeglichen haben, charakterisieren. Wir haben
also erstens festzustellen, dass wir auf eine Vielzahl von
Erfolgen verweisen können. Wir sollten das auch mit
großer Dankbarkeit tun.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Zweitens beginnt sich 22 Jahre nach der deutschen
Einheit das Bild innerhalb Ostdeutschlands und insge-

samt innerhalb Deutschlands immer stärker zu differen-
zieren – auch der Westen war nie einheitlich –, sodass
pauschale Ost-West-Vergleiche zunehmend an Aussage-
kraft verlieren. Als Beispiel darf ich die Arbeitsmarkt-
situation nennen. Natürlich haben wir pauschal noch
festzustellen, dass die Arbeitslosenquote im Westen die
Hälfte der Arbeitslosenquote im Osten ausmacht. Sehen
wir aber genauer hin, so können wir feststellen, dass die
aktuelle Arbeitslosenquote in den ostdeutschen Flächen-
ländern niedriger ist als in Bremen und dass die Arbeits-
losenquote im Freistaat Thüringen inzwischen niedriger
ist als in Nordrhein-Westfalen. Das halte ich für sehr be-
merkenswert.


(Iris Gleicke [SPD]: 60 000 Pendler jeden Tag!)


Auch hier zeigt sich, dass sich das Bild allmählich zu
differenzieren beginnt, sodass ich ein gewisses Verständ-
nis dafür habe, dass mich neulich, als ich in einer Dis-
kussionsrunde mit Jugendlichen der Vereinigung 3te Ge-
neration Ostdeutschland saß, einer der Jugendlichen
fragte, ob wir nicht allmählich dazu übergehen müssten,
statt des Berichtes zum Stand der deutschen Einheit ei-
nen Bericht zum Stand der deutschen Vielfalt abzuge-
ben.

Wir haben uns vor dem Hintergrund dieser Entwick-
lungen bei der Berichterstattung 2012 darauf konzen-
triert, die bestehenden Entwicklungsprobleme darzustel-
len, die für die Zukunft der neuen Bundesländer und
damit für die Herstellung gleichwertiger Lebensverhält-
nisse in Deutschland von besonderer Bedeutung sind.
Dabei sind uns zwei Entwicklungsprobleme besonders
wichtig. Das eine Entwicklungsproblem ist die noch be-
stehende Lücke bei der Wirtschaftskraft zwischen Ost
und West, also die Konvergenzfrage hinsichtlich der
Wirtschaftskraft. Das zweite Entwicklungsproblem ist
die demografische Entwicklung.

Ich darf zunächst auf die Konvergenzfrage eingehen,
indem ich feststelle, dass die Transformation der ost-
deutschen Wirtschaft in eine Marktwirtschaft erfolgreich
abgeschlossen ist. Mehr noch: Die Unternehmen in Ost-
deutschland sind wettbewerbsfähige Unternehmen, auch
wenn der Kapitalstock ostdeutscher Unternehmen im
Durchschnitt nur 85 Prozent der westdeutschen Unter-
nehmen beträgt. Was uns beschäftigt, ist der Umstand,
dass das Bruttoinlandsprodukt Ostdeutschlands pro Kopf
bei 71 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der westlichen
Bundesländer liegt. Besonders wichtig ist, dass die Kon-
vergenzlücke zwischen Ost und West in diesem Bereich
nach einer Phase der rapiden Angleichung in den 90er-
Jahren in den letzten Jahren annähernd gleich groß ge-
blieben ist. Das sollte uns nicht gleichgültig sein; denn
dies findet seinen Niederschlag in der Einkommensent-
wicklung und natürlich auch in der Steuerkraft der öf-
fentlichen Hand in den neuen Bundesländern.

Die Bundesregierung – das kommt im Bericht eindeu-
tig zum Ausdruck – hält am Ziel der weiteren Anglei-
chung, der weiteren wirtschaftlichen Konvergenz fest.
Deshalb ist es wichtig, dass wir ein eindeutiges Bekennt-
nis zu den Förderinstrumenten des Solidarpakts II aus-
sprechen, die in vollem Umfang und effektiv zur





Parl. Staatssekretär Dr. Christoph Bergner


(A) (C)



(D)(B)


Anwendung kommen sollen. Wichtig ist, dass wir im
Bericht feststellen können, dass der gegenwärtige Erfül-
lungsstand des Solidarpakts II, was die Leistungen des
Bundes betrifft, als sehr gut betrachtet werden kann und
die Verwendungsberichte für die Sonderbedarfs-Bundes-
ergänzungszuweisungen der neuen Länder zeigen, dass
man sich diesbezüglich zunehmend den eigentlichen
Förderzielen zuwendet.

Im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Konver-
genz spielt der nächste Förderzeitrahmen für die EU-
Strukturförderung eine besondere Rolle. Wir betrachten
es als Erfolg der Arbeit der Bundesregierung, dass in
dem aktuellen Verordnungsentwurf der Kommission das
von uns gewünschte Sicherheitsnetz einen entsprechen-
den Niederschlag gefunden hat.

Wenn wir über die Konvergenz zwischen Ost und
West sprechen, müssen wir uns aber auch der Analyse
der Ursachen der verbleibenden Konvergenzlücke
stellen und Strategien zur Überwindung liefern. Die Ur-
sachen – das zeigt sich immer stärker – liegen im struk-
turellen Bereich. Eine kleinteilige Wirtschaftsstruktur
führt zu weniger internationaler Verflechtung und zu we-
niger wirtschaftseigener Forschung und Entwicklung.
Die Überwindung dieser strukturellen Probleme steht
deshalb im Mittelpunkt der Förderpolitik der Bundes-
regierung. Wir müssen die Nachteile der Kleinteiligkeit
durch Vernetzung und Clusterbildungen überwinden.
Wir müssen uns vor allen Dingen bewusst bleiben, dass
öffentliche Forschungs- und Entwicklungsförderung für
die neuen Bundesländer eine besondere Bedeutung hat.
Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die diesbe-
züglichen Ausführungen im Bericht, die deutlich ma-
chen, dass bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt die
staatlich finanzierte Forschungs- und Entwicklungskapa-
zität in den ostdeutschen Regionen größer ist als in allen
anderen europäischen Ländern. Ich finde, dass wir in
dieser Hinsicht – das zeigen die jüngsten Haushaltsent-
scheidungen – klare Zeichen setzen.

Mit Blick auf die fortgeschrittene Zeit will ich das
zweite Entwicklungsproblem, die demografische Ent-
wicklung, nur kurz anreißen. Die neuen Bundesländer
stellen in der Europäischen Union die vom demografi-
schen Wandel am stärksten betroffene Region dar. Dies
hat eine von uns in Auftrag gegebene ZEW-Studie zum
Ausdruck gebracht. Das heißt, die Region Ostdeutsch-
land ist ein Modell des demografischen Wandels, nicht
nur für Deutschland, sondern auch für die Europäische
Union.

Diesen Modellregionscharakter Ostdeutschlands zu
unterstreichen und zu gestalten, darauf haben sich die
Anstrengungen der Bundesregierung konzentriert, so-
wohl im Rahmen der Erarbeitung des Berichtes zum de-
mografischen Wandel, in dem wir zusammen mit den
neuen Bundesländern ein eigenes Handlungskonzept zur
Daseinsvorsorge in strukturschwachen Regionen entwi-
ckelt haben, wie auch bei der Erarbeitung der Demogra-
fiestrategie und der Demografiedialoge, in denen wir die
neuen Bundesländer als wichtige Erfahrungsträger in be-
sonderer Weise platzieren sollten.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, sechs Mi-
nuten Redezeit für einen Bericht, wie wir, die Bundes-
regierung, ihn vorgelegt haben, ist für eine umfassende
Berichterstattung sehr knapp. Ich hätte gern noch etwas
zu dem aktuellen Thema Rente gesagt.


(Iris Gleicke [SPD]: Ah! – Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann können wir Ihnen eine Zwischenfrage stellen!)


– Ja, gut. Dann will ich nicht den Eindruck erwecken,
dass ich kneife. – Ich will nur sagen: Der Bundesregie-
rung ist es wichtig, dass sie bei der Realisierung der Ko-
alitionsvereinbarungen auf einem breiten Konsens auf-
baut.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Mit wem denn?)


Wenn sich dieser Konsens nicht finden lässt, dann muss
ich darauf aufmerksam machen, dass das bestehende
Rentenrecht einen unschätzbaren Vorteil für Millionen
von Beschäftigten in den neuen Bundesländern hat, die
teilungsbedingt niedrigere Löhne als die Beschäftigten
in den alten Bundesländern erhalten. Wenn wir nicht
wollen, dass sich die teilungsbedingt niedrigeren Löhne
in 10, 20 oder 30 Jahren auf die jetzt Beitragszahlenden
mit einem Verlust an Entgeltpunkten auswirken, dann
sollten wir die Vorzüge des bestehenden Systems nicht
leichtfertig aufgeben.

In diesem Sinne herzlichen Dank für die Aufmerk-
samkeit. Es tut mir leid, dass ich nicht ausführlicher Stel-
lung nehmen kann. Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das Letzte war zu vernebelt!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720510500

Herr Kollege, Sie haben nicht sechs Minuten, sondern

zehn Minuten gesprochen. Es ist nun die Aufgabe des
Kollegen Grund, mit den Kollegen Ihrer Fraktion deren
weitere Redezeiten auszuhandeln.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Unglaublich, was sich die Regierung hier an Zeit nimmt! – Heiterkeit)


Das Wort hat nun Iris Gleicke für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Iris Gleicke (SPD):
Rede ID: ID1720510600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Heute, auf den Tag genau 23 Jahre nach dem Mauerfall,
debattieren wir den Jahresbericht der Bundesregierung
zum Stand der Deutschen Einheit. Ja, es besteht kein
Zweifel: Die Ostdeutschen haben dank ihres Willens,
aber auch aufgrund der Solidarität und finanziellen Un-
terstützung der Westdeutschen eine bemerkenswerte
Aufbauleistung vollbracht.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Viele Städte sind modernisiert. Dörfer erstrahlen in
neuem Glanz. Der Aufbau der Verkehrsinfrastruktur ist





Iris Gleicke


(A) (C)



(D)(B)


gut vorangekommen. Neue Arbeitsplätze sind entstan-
den. Aber die unzweifelhaften Erfolge dürfen den Blick
nicht darauf verstellen, dass es noch immer große De-
fizite bei der Angleichung der Lebensverhältnisse gibt.
Es bleibt 22 Jahre nach der deutschen Einheit noch viel
zu tun.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Abstand zwi-
schen den neuen und alten Ländern bei der Vermögens-
verteilung liegt bei 42 Prozent, besagt der Armuts- und
Reichtumsbericht der Bundesregierung. Westdeutsche
haben durchschnittlich 132 000 Euro Immobilienvermö-
gen pro Haushalt, ostdeutsche Haushalte gerade einmal
55 000 Euro. Das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner
lag in Ostdeutschland im vergangenen Jahr nur noch bei
71 Prozent des Westniveaus. Da waren wir, Herr Kollege
Bergner, schon einmal besser. Die Arbeitslosenquote ist
zwar gesunken, liegt aber fast immer noch doppelt so
hoch wie in den meisten Regionen der alten Bundeslän-
der. Auch der Anteil der Langzeitarbeitslosen ist wie in
Beton gegossen; er ist nach wie vor erschreckend hoch.

Ostdeutsche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
bekommen immer noch 17 Prozent weniger Lohn und
Gehalt als ihre westdeutschen Kolleginnen und Kolle-
gen. Diese Unterschiede bei den Löhnen und Gehältern
sind nicht mehr hinnehmbar.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Arbeit bei uns im Osten ist genauso viel wert wie im
Westen. Auch aus diesem Grunde brauchen wir einen
Mindestlohn – flächendeckend, in Ost und West gleich,
und zwar ohne Wenn und Aber.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, sogar die Bundesregierung
räumt in ihrem Bericht ein, dass wir von einer wirkli-
chen Angleichung der Lebensverhältnisse noch immer
weit entfernt sind. Vor so viel ungewohnter Ehrlichkeit
möchte man fast den Hut ziehen.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: So ist diese Koalition! Das ist eine Bundesregierung, die die Wahrheit spricht!)


Wer jetzt allerdings erwartet, dass es kreative Vorschläge
dieser Bundesregierung gibt, wie es mit dem Aufbau Ost
weitergehen soll, der ist auf dem Holzweg. Der stößt auf
Seite 69 des Berichts stattdessen auf eine knallharte An-
sage. Dort heißt es:

Perspektivisch gehen die Mittel für den Aufbau
Ost, bis zum Auslaufen des Solidarpakts II im
Jahr 2019, stetig zurück.

Das wissen wir; das ist so vereinbart. Jetzt kommt es:

Die neuen Länder werden von da an ohne spezielle
Förderung auskommen müssen.

Im Klartext heißt das: Liebe Ossis, den Solidarpakt hal-
ten wir ein – den hat Gerhard Schröder glücklicherweise

so gut verhandelt, dass das gar nicht anders geht –, aber
danach müsst ihr zusehen, wie ihr klarkommt. Damit ha-
ben wir Ostdeutschen es schwarz auf weiß: Von dieser
Bundesregierung haben wir nichts, aber auch gar nichts
zu erwarten.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE])


Niemand im Osten glaubt, dass der Solidarpakt nach
2019 einfach verlängert oder in gleicher Form noch ein-
mal aufgelegt wird; das ist auch mir klar. Aber man kann
und darf eine besondere Förderung nicht schon heute ka-
tegorisch ausschließen. Ich habe vor kurzem angeregt,
über einen „Solidarpakt strukturschwache Regionen“
nachzudenken, der auch die benachteiligten Regionen in
Westdeutschland einschließen könnte. Aber so viel Fan-
tasie kann man von einer Bundesregierung, der die ost-
deutschen Interessen ganz offensichtlich egal sind, wohl
kaum erwarten.


(Beifall bei der SPD – Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Ach was! Käse ist das!)


Anders kann ich mir nicht erklären, liebe Kolleginnen
und Kollegen, warum Sie Ihr Versprechen aus dem Ko-
alitionsvertrag, in dieser Legislaturperiode ein einheitli-
ches Rentenrecht zu schaffen, ganz offensichtlich bre-
chen.


(Daniela Kolbe [Leipzig] [SPD]: Versprochen, gebrochen! – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das ist ja nichts Neues!)


Die Thüringer Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht,
CDU, bezeichnete das vor kurzem als einen „Fall von
Arbeitsverweigerung,


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Ja! So ist es!)


für den nun windelweiche Ausreden vorgebracht“ wer-
den. Herr Bergner, das, was Sie hier zum Besten gege-
ben haben, folgt genau diesem Duktus. Ich sage:
Christine Lieberknecht hat recht.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Dann setzt mal schön mit ihr das Betreuungsgeld um!)


Wir haben in unserem Entschließungsantrag 25 For-
derungen formuliert, die Ostdeutschland helfen sollen,
dem Prozess der Angleichung der Lebensverhältnisse
neuen Schwung zu geben. Wir wollen den Kahlschlag
bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik beenden, damit die
Jobcenter wieder mehr Geld haben, um Langzeitarbeits-
lose in Arbeit zu bringen. Wir wollen, dass die wichtigs-
ten Wirtschaftsförderungsinstrumente, vor allem die
Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen
Wirtschaftsstruktur“, langfristig gesichert bleiben.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Haben wir gemacht!)


Wir wollen die Mittel für die Innovationsprogramme
ZIM und „Innovationskompetenz Ost“ verstetigen.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Schauen Sie in den Haushalt! Das steht da alles drin!)






Iris Gleicke


(A) (C)



(D)(B)


Wir wollen gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Wir wollen
in einem Rentenüberleitungsabschlussgesetz die noch
offenen Rentenüberleitungsfragen abschließend klären;


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Wir stocken auf, Frau Gleicke! Das läuft super!)


den Härtefällen wollen wir mit einem Härtefallfonds hel-
fen.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Haben Sie mal mit Frau Kraft darüber geredet?)


Wir wollen, dass die Versicherungszeiten für die Renten-
versicherung sofort angeglichen werden und dass Zeiten
der Kindererziehung, der Pflege von Angehörigen, des
Wehr- und Zivildienstes und der Beschäftigung in einer
Werkstatt für Behinderte angerechnet werden. Außer-
dem wollen wir einen Fahrplan für die Angleichung der
Rentensysteme.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, wir kommen nur vereint
zur inneren Einheit, mit Klarheit, Entschlossenheit und
Solidarität. Wir packen an. Kommen Sie endlich aus Ih-
rer Untätigkeitsecke heraus!

Schönen Dank.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720510700

Das Wort hat nun Patrick Kurth für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Patrick Kurth (FDP):
Rede ID: ID1720510800

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Frau Gleicke, Ihre Worte zum Solidarpakt waren gut und
erfrischend. Sie haben diese starken Worte auch in Ihren
Antrag gegossen. Jetzt fordere ich Sie auf: Schicken Sie
diesen Antrag bitte Ihren zahlreichen SPD-Wahlkämp-
fern im Westen!


(Iris Gleicke [SPD]: Machen Sie sich da mal keine Sorgen!)


Ob nur eine kleine Bürgermeisterwahl oder eine Land-
tagswahl stattfindet, man hört jedes Mal die gleiche
Leier: Der Solidarpakt wird noch vor seinem Auslaufen
im Jahr 2019 infrage gestellt. Ich finde es gut und rich-
tig, dass die Bundestagsfraktion der SPD ihren Wahl-
kämpfern vor Ort jetzt endlich einmal die Leviten liest
und sagt: So geht es nicht! – Das ist richtig, Frau
Gleicke. Sehr gut!


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Im Übrigen hätten Sie auch noch den nächsten Satz
aus dem Jahresbericht zitieren können; denn da kommt
die Antwort auf die Frage, die Sie gestellt haben.

Ich möchte mich erst einmal bedanken. Wir hatten in
den Koalitionsfraktionen vor ein paar Wochen die Idee,
in der Sitzung am 9. November, dem Tag des Mauerfalls,
über den Jahresbericht zu debattieren. Herzlichen Dank

an die Parlamentarischen Geschäftsführer und an den
Ältestenrat, dass das innerhalb kürzester Zeit gelungen
ist. Ich finde es hervorragend, dass wir an diesem Tag
über den Bericht sprechen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


23 Jahre sind viel Zeit, um Weichenstellungen vorzu-
nehmen. Niemand kann bestreiten – das will ich deutlich
sagen –, dass wir die Zeit genutzt haben. Die Deutschen,
besonders die Menschen im Osten, haben seit der Wende
mit ungeheurer Tatkraft und Courage das vereinigte
Deutschland vorangebracht. Im Osten entwickelten sich
ganz neue Stärken – das will ich hervorheben –: unge-
heure Flexibilität und großer Einfallsreichtum. Die Men-
schen haben sich in kürzester Zeit einem völlig neuen
System angepasst, neue Berufe erlernt, neue Sprachen
gelernt, Umzüge und Lebensumstellungen unternom-
men. Der Wandel führte viele Menschen in Ostdeutsch-
land zu einer Tugend, die man sich heute gesamtdeutsch
manchmal wünscht, und zu einer vorwärtsgewandten
und verantwortungsbewussten Lebenseinstellung. Diese
Bereitschaft zur Veränderung kann sich die heutige Ge-
sellschaft bisweilen zum Vorbild nehmen.

Mit Besitzstandswahrung, mit ideologischer Fort-
schrittsverweigerung, mit Wohlstandsdestruktivität – dies
ist zunehmend zu beobachten – kommen wir nicht vo-
ran.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche Wortkreationen!)


– Gut, dass gerade Sie sich angesprochen fühlen; denn
ich spreche Sie an. – Manche Parteien forcieren dies.
Wir machen das nicht. Wir brauchen den Fortschritt in
diesem Land und auch die Flexibilität, die die Ostdeut-
schen seit über 20 Jahren zeigen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Die Erfolge der letzten 23 Jahre sind bekannt. Die In-
frastruktur wurde aufgebaut und ausgebaut. Bei der
Wirtschaftskraft hat man aufgeholt. Die Umwelt – das
war eines der ganz großen Probleme in den neuen Län-
dern – regenerierte sich. Lebenserwartung und Wohl-
stand sind gestiegen. Die ostdeutschen Universitäten ha-
ben – das wissen nur wenige – einen führenden Stand in
Deutschland bei der Patentanmeldung.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Bei der Kitastruktur und oftmals auch bei der Schulbil-
dung ist der Osten deutschlandweit führend und vorbild-
gebend. Im Osten gibt es übrigens echte Wahlfreiheit.
Das ist das Entscheidende.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Arbeitslosigkeit – sie war lange das größte Pro-
blem und Sorgenkind – ist stark zurückgegangen. Sie ha-
ben es erwähnt. Thüringen hat Nordrhein-Westfalen im
positiven Sinne mittlerweile überholt und eine niedrigere
Arbeitslosenquote.





Patrick Kurth (Kyffhäuser)



(A) (C)



(D)(B)



(Iris Gleicke [SPD]: Wir haben 60 000 Pendler!)


Wir fordern die Nordrhein-Westfalen auf, auch wenn sie
von Rot-Grün regiert werden: Schaut nach Thüringen,
und macht es so wie wir in Ostdeutschland! Strengt euch
wieder an, dann klappt auch der Abbau der Arbeitslosig-
keit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Iris Gleicke [SPD]: Wir haben 60 000 Pendler nach Bayern, das kann man den Nordrhein-Westfalen nicht antun! – Steffen-Claudio Lemme [SPD]: Gute SPD-Politik!)


Die Herausforderungen sind groß. Auch das will ich
sagen; das ist wichtig. Das Thema Wirtschaftskraft ha-
ben Sie bereits angesprochen, Frau Gleicke. Es ist unbe-
stritten: Die großen Unternehmen mit ihren innovativen
Forschungsabteilungen sitzen im Westen.


(Iris Gleicke [SPD]: So ist das leider!)


Die unterdurchschnittliche F-und-E-Kapazität ist ein
großes Problem. Die geringe Eigenkapitalquote konnte
in den letzten 20 Jahren nicht so angehoben werden, wie
wir es uns wünschen. Das muss man deutlich sagen. Die
Lohnentwicklung ist nicht akzeptabel.

Es gibt immer noch ein erheblich niedrigeres Lohnni-
veau. Das muss man auch im Westen immer wieder
deutlich sagen. Insofern ist die Abschaffung der Praxis-
gebühr heute ein wichtiges Signal gewesen.


(Zurufe von der SPD: Oh!)


Deutschlandweit gibt es sehr unterschiedliche Lohnni-
veaus, aber überall die gleiche Praxisgebühr. Sie musste
abgeschafft werden; das haben wir hier heute in großer
Einigkeit beschlossen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Hinsichtlich der Forderung nach Mindestlöhnen wi-
derspreche ich Ihnen, Frau Gleicke. Ich glaube nicht,
dass diese helfen würden. Die Einführung von Mindest-
löhnen würde zu höherer Arbeitslosigkeit führen


(Steffen-Claudio Lemme [SPD]: Nein!)


und den Niedriglohnsektor befördern.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Alte Hüte!)


Es würde mehr Schwarzarbeit geben. Das eigentliche
Problem besteht doch bei Geringverdienern im Dienst-
leistungsgewerbe.


(Iris Gleicke [SPD]: Quatsch! – Steffen-Claudio Lemme [SPD]: Grimms Märchen!)


Lieber Kollege Lemme, Sie erzählten mir vor drei Jah-
ren bei einer Podiumsdiskussion, dass es unglaublich sei,
dass Sie in Thüringen für das Haareschneiden nur 6 Euro
zahlen. Da habe ich Sie gefragt: „Bei welchem Friseur
sind Sie denn? Sie können doch nicht nur 6 Euro zahlen,
Sie müssen doch etwas drauflegen!“


(Steffen-Claudio Lemme [SPD]: Der Inhaber ist von der FDP!)


Das ist doch das Problem. Wenn man das Doppelte
drauflegt, hat die Friseurin gleich noch etwas steuerfrei
in der Tasche. Die Bundesregierung der vorvergangenen
Legislaturperiode wollte sogar die Trinkgelder besteu-
ern. Gott sei Dank macht die jetzige Bundesregierung
nicht einen solchen Unsinn.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das Entscheidende, das den Ostdeutschen wirklich
helfen würde – darüber müssen Sie nachdenken –, ist et-
was, bei dem wir im gesamten Haus große Einigkeit ha-
ben. Im Wahlkampf haben wir alle, Sie und wir, gesagt:
Das müssen wir bekämpfen. Es geht um die kalte Pro-
gression. Bei den Löhnen, die im Osten gezahlt werden,
schlägt die kalte Progression besonders zu.


(Iris Gleicke [SPD]: Lassen Sie uns mal über Tarifbindung sprechen!)


Deswegen ist es richtig und gut, dass sich die Koalition
dazu entschlossen hat, die kalte Progression zu bekämp-
fen. Sie haben Ihre Wahlversprechen gebrochen. Diese
Bundesregierung hält ihre Versprechen. Der Bundesrat
steht auf der Bremse, er will dieses Vorhaben – aus par-
teipolitischem Kalkül – nicht mittragen. Das geht zulas-
ten der ostdeutschen Bevölkerung. Das müssen Sie den
Menschen, vor allem den Menschen im Osten, erklären!


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Sören Bartol [SPD]: Wie war das mit dem Länderfinanzausgleich?)


Zur demografischen Entwicklung will ich nur ganz
kurz sagen: Es ist gut, dass sich die Bundeskanzlerin
endlich mit den Ministerpräsidenten der ostdeutschen
Länder trifft und Handlungskonzepte und eine Demogra-
fiestrategie entwickelt.


(Iris Gleicke [SPD]: Wird dann auch die Klage gegen den Länderfinanzausgleich zurückgezogen?)


Mit dem Programm „Stadtumbau Ost“ fördern wir die
Stabilisierung der Wohnungswirtschaft. 2013 stellen wir
nochmals 2 Millionen Euro mehr in das Programm ein.
Jetzt kommt wahrscheinlich Applaus von Ihrer Seite.

Herr Bergner, zwei Kritikpunkte will ich am Ende
noch ansprechen. Von den Tribünen aus schaut uns eine
Schulklasse aus Bad Langensalza zu.


(Beifall)


Die jungen Leute kennen Stacheldraht und Todesstreifen
Gott sei Dank nur aus den Geschichtsbüchern. Das ist
die nächste Generation. Da ist keiner mehr von denen,
die das Grenzregime noch erlebt haben. Um diese jun-
gen Leute zu erreichen, müssen wir ihnen, zum Beispiel
mit neuen Techniken, etwas bieten.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720510900

Herr Kollege, Sie müssen leider zum Ende kommen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)







(A) (C)



(D)(B)



Patrick Kurth (FDP):
Rede ID: ID1720511000

Dazu gehört, dass diese Aufarbeitung im Jahresbe-

richt der Bundesregierung zum Stand der Deutschen
Einheit nicht auf Seite 70 in Fußnote 50 erscheint. Es
wäre schön, wenn dafür im nächsten Jahresbericht der
Bundesregierung ein eigenes Kapitel vorgesehen wäre.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Ich bedanke mich sehr herzlich für Ihre Aufmerksam-
keit.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720511100

Das Wort hat nun Roland Claus für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Roland Claus (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720511200

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ange-

sichts des Jahresberichts der Bundesregierung zum
Stand der Deutschen Einheit ist hier zu Recht an den
Mauerfall erinnert worden. Das heutige Datum, der
9. November, ist aber auch der Jahrestag des Pogroms
gegen Jüdinnen und Juden. Beides gehört zur deutschen
Geschichte.


(Iris Gleicke [SPD]: Richtig!)


Ich sage das hier erinnernd und nicht belehrend.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Müssen wir, meine Damen und Herren, noch über Ost
und West reden, oder ist das Schnee von gestern? Einige
wenige Fakten: Aus dem Jahresbericht der Bundesregie-
rung geht hervor, dass im Kaufkraftvergleich der Bun-
desländer Platz 11 Berlin, Platz 12 Brandenburg, Platz 13
Thüringen, Platz 14 Sachsen, Platz 15 Mecklenburg-
Vorpommern, Platz 16 Sachsen-Anhalt einnimmt. Ein
zweites Beispiel: Im Entwicklungsvergleich aller deut-
schen Landkreise sind unter den 50 Letztplatzierten
49 ostdeutsche Landkreise. Drittes Beispiel: Nicht eine
einzige Unternehmenszentrale hat ihren Sitz im Osten,


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das stimmt nicht! Die Bahn ist jetzt nach Berlin umgezogen, in den Hauptbahnhof!)


und seit geraumer Zeit schließt sich die Schere der wirt-
schaftlichen Leistungskraft nicht mehr, sondern geht
weiter auseinander.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Die haben Angst vor der Linken! Die haben Angst, dass sie enteignet werden!)


In dieser Situation muss man daran erinnern, dass die
Bundesministerin für Bildung und Forschung vor kur-
zem vollmundig angekündigt hat, für Forschung im Os-
ten zusätzliche 500 Millionen Euro in den Haushalt ein-
zustellen. Wenn man sich die einzelnen Kapitel des
Haushaltsentwurfs genau anschaut, stellt man fest: Das

ist alles nur die Fortführung bestehender Programme un-
ter neuer Überschrift. So nicht, Frau Schavan! So nicht,
Bundesregierung!


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Tankred Schipanski [CDU/ CSU]: 500 Millionen Euro für die neuen Länder, da sollte man dankbar sein!)


Wir müssen heute über Rentenungerechtigkeit reden.
Im Koalitionsvertrag heißt es:

Wir führen in dieser Legislaturperiode ein einheitli-
ches Rentensystem in Ost und West ein.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wann?)


Im Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der
Deutschen Einheit, über den wir heute debattieren, heißt
es:

Die Frage einer Vereinheitlichung der Rentenbe-
rechnung in Ost und West wird … von der Bundes-
regierung geprüft … Eine Regelung, die den … Er-
wartungen … in Ost und West … gerecht wird …,
ist derzeit … nicht absehbar.

Das nenne ich Vertragsbruch. Das ist Wahlbetrug mit
Ansage, und das lassen wir Ihnen nicht durchgehen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der Linken: Unerträglich ist das!)


Sie müssen sich einmal überlegen, was für ein Nonsens
das ist: Da treten ganz viele junge Leute im August 2012
ihre Berufsausbildung an. Damit werden sie Anwärter
für eine Ostrente. 2060, wenn sie aus ihrem Berufsleben
scheiden, müssen sie ihren Enkeln vielleicht erklären,
warum sie Ostrentner sind und was das ist. Das ist doch
nun wirklich nicht mehr zeitgemäß.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Aber die Bundesregierung muss sich noch eine an-
dere Kritik anhören.


(Abg. Manfred Grund [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720511300

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Grund?


Roland Claus (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720511400

Aber bitte.


Manfred Grund (CDU):
Rede ID: ID1720511500

Herr Kollege Claus, vielen Dank erst einmal. – Ist Ih-

nen bekannt, dass die niedrigeren Arbeitseinkommen
Ost auf das Durchschnittseinkommen West aufgewertet
werden und dass somit im Jahre 2060 bei Einkommens-
gleichheit überhaupt nicht mehr von Ostrente oder West-
rente, sondern nur noch von einer bundeseinheitlichen
deutschen Rente die Rede sein kann?





Manfred Grund


(A) (C)



(D)(B)



(Iris Gleicke [SPD]: Es gibt nicht nur Leute, die 80 Prozent verdienen, sondern deutlich darunter! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Bei Einkommensgleichheit! Die ist eben nicht gegeben!)



Roland Claus (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720511600

Mir ist das sehr wohl bekannt. Sie wissen aber: Wir

sind nicht Knecht der Rentenformel, sondern Herr des
Gesetzgebungsverfahrens – und Frau übrigens auch.


(Beifall bei der LINKEN)


Solange wir nur 89 Prozent des durchschnittlichen Ren-
tenniveaus erreichen, muss das Thema hier angespro-
chen werden und darf es nicht unter den Tisch gekehrt
werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Es ist doch nun wirklich absurd, heute 16-Jährigen diese
Unterscheidung noch zuzumuten.


(Zuruf von der Linken: Lohnniveau!)


Die Bundesregierung muss sich noch eine andere Kri-
tik gefallen lassen, nämlich dass die im Osten gesam-
melten Erfahrungen im Umgang mit gesellschaftlichen
Umbrüchen und zuvor mit einem anderen System völlig
brachliegen und nicht etwa, wie wir es uns wünschten,
bundesweit genutzt werden.

Dafür nur ein einziges Beispiel: Sie haben jetzt den
Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz ab 1. August 2013
versprochen. Weil Sie merkten, dass das alles hinten und
vorne nicht klappt, haben Sie jetzt in Ihrer Not die gigan-
tische Summe von 580 Millionen Euro für Kitaplätze in
den Nachtragshaushalt eingestellt. Das ist unterstützt
worden. Mit diesen 580 Millionen Euro können Sie
30 000 Kitaplätze finanzieren.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das machen wir zusätzlich!)


Das Statische Bundesamt hat uns dieser Tage aber vorge-
rechnet, dass 220 000 Kitaplätze fehlen. Mit der momen-
tanen Maßnahme lösen Sie also nur ein Siebtel des Pro-
blems. Hier wäre es doch angebracht, endlich auch
einmal die Vorschläge unserer Fraktion aufzunehmen
und zu sagen: Kinderbetreuung im Westen mindestens
auf Ostniveau bringen!


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Da hätten sie wirklich viel von!)


Meine Fraktion wird dem Entschließungsantrag der
SPD zustimmen.


(Beifall der Abg. Iris Gleicke [SPD])


Ich glaube, das ist erstmals so. Wir haben bei der Bewer-
tung eine Reihe von Differenzen, aber alle 25 vorge-
schlagenen Maßnahmen finden auch unsere Unterstüt-
zung.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie
wissen aber wie wir: Wenn Sie das Vorgeschlagene wirk-
lich umsetzen wollen, dann geht das nie und nimmer mit
der CDU,


(Iris Gleicke [SPD]: Das ist richtig!)


sondern nur mit der Linken in den Ländern und meinet-
halben auch im Bund.


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Viel Spaß! – Manfred Grund [CDU/CSU]: Wie in Berlin! – Iris Gleicke [SPD]: Das geht auch mit den Grünen! Wir haben das schon vorgemacht!)


Die SPD darf für die gemeinsame Durchsetzung ihrer ei-
genen Vorschläge dann auch die Zusammenarbeit in
Landesregierungen nicht ausschlagen, wie Sie es in Thü-
ringen und in Sachsen-Anhalt getan haben. Begeben Sie
sich auf den Brandenburger Weg!


(Beifall bei der LINKEN – Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Von der Linken sollten Sie immer wissen: Wir können
Osten!


(Beifall bei der LINKEN – Lachen bei der SPD – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Unsittliche Angebote!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720511700

Das Wort hat nun Stephan Kühn für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720511800

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Erst durch den Bericht zum Stand der Deutschen
Einheit wird man daran erinnert, dass Innenminister
Hans-Peter Friedrich für die Angelegenheiten in den
neuen Bundesländern zuständig ist. Würde nicht jedes
Jahr routinemäßig ein Bericht vorgelegt, niemand würde
Herrn Friedrich in dieser Funktion wahrnehmen. Er
glänzt auch heute durch Abwesenheit.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Er ist ja auch nicht Ostbeauftragter, Herr Kollege! Ostbeauftragter ist der Kollege Bergner! Das hilft uns überhaupt nicht weiter!)


Zwar werden im Bericht die richtigen Schwerpunkte
gesetzt, nämlich wirtschaftliche Konvergenz und demo-
grafischer Wandel, aber das bloße Beschreiben des Sta-
tus quo hilft überhaupt nicht weiter. Vom zuständigen
Minister gehen keinerlei Ideen und Impulse für die
neuen Bundesländer aus, und das, obwohl die neuen
Bundesländer drohen den wirtschaftlichen Anschluss zu
verlieren.


(Zuruf von der LINKEN: Er hat mit dem NSU zu tun!)


Die ostdeutsche Wirtschaft ist 2011 gewachsen. Preis-
bereinigt lag das Wachstum mit 2,5 Prozent aber unter
dem bundesdeutschen Durchschnitt von 3 Prozent.





Stephan Kühn


(A) (C)



(D)(B)


Probleme werden in diesem Bericht weichgespült. Es
wurde zwar schon darauf hingewiesen, dass die Ent-
wicklung auf dem Arbeitsmarkt positiv ist, richtig, aber
nicht erwähnt wurde, dass es 1 Million nicht sozialversi-
cherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse gibt. Die
Erhöhung der Verdienstgrenze bei den Minijobs auf
450 Euro wird den Niedriglohnsektor nur ausweiten und
hilft überhaupt nicht, dieses Problem zu lösen, im Ge-
genteil.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Stattdessen ist es notwendig, endlich einen gesetzlichen
Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro einzuführen.

Die Vielzahl der prekären Beschäftigungsverhältnisse
sorgt auch dafür, dass die Altersarmut wächst, worüber
wir uns nicht wundern müssen. Norbert Blüm hat recht:
„Aus Hungerlöhnen werden Hungerrenten.“ Da frage
ich, was der Vorschlag zur „Lebensleistungsrente“ brin-
gen soll, den die Koalition am Wochenende zusammen-
geschrieben hat. Wer von den Geringverdienern hat denn
40 Jahre lang einzahlen und privat vorsorgen können?
Niemand.

Meine Damen und Herren, eine selbsttragende Wirt-
schaftsstruktur in Ostdeutschland wird sich nur entwi-
ckeln können, wenn die Solidarpaktmittel für Investitio-
nen konsequent und noch konsequenter als bisher in die
Köpfe statt in Beton gelenkt werden.


(Lachen bei der CDU/CSU)


Notwendig ist eine Konzentration der Mittel auf die Be-
reiche Forschung und Innovation. Die Chancen der
Energiewende für den ostdeutschen Arbeitsmarkt, näm-
lich die Vorreiterschaft der ostdeutschen Länder bei Um-
welttechnologien weiter auszubauen, werden von der
Bundesregierung kläglich verspielt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Iris Gleicke [SPD]: Solar wird gekürzt, gekürzt! – Lachen bei der CDU/CSU)


Unverändert fließt auch mehr Geld in Infrastrukturgroß-
projekte, obwohl die Infrastrukturlücke schon längst
nicht mehr Realität ist. Die noch geplanten Verkehrspro-
jekte, die keinerlei positive regionalwirtschaftliche Ef-
fekte mehr entfalten können, müssen endlich auf den
Prüfstand.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Mit Rücksicht auf die SPD habe ich bewusst keine Bei-
spiele genannt.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Ganz gefährlich, Herr Kühn!)


Der demografische Wandel macht sich durch zuneh-
menden Fachkräftemangel bemerkbar. Wir müssen uns
darüber auch nicht wundern. Die Quote der Schulabgän-
gerinnen und Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss
in den neuen Bundesländern liegt doppelt so hoch wie
im Bundesdurchschnitt, nämlich in Mecklenburg-Vor-
pommern bei 13,8 Prozent, in Sachsen-Anhalt bei
12,6 Prozent, im Bund aber nur bei der Hälfte, nämlich

bei 6,7 Prozent. Wir brauchen in den Ländern, aber auch
im Bund endlich eine Bildungspolitik, die Schülerinnen
und Schüler nicht aussortiert, sondern individuell för-
dert.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir können es uns einfach nicht leisten, dass so viele
Schülerinnen und Schüler unsere Schulen ohne Chance
auf dem späteren Arbeitsmarkt verlassen.

Zunehmende demografische Veränderungen sind aber
auch relevant für den Stadtumbauprozess. Wir reden ja
heute auch über den Bund-Länder-Bericht zum Stadtum-
bau Ost. Die Erfolge des Programms „Stadtumbau Ost“
sind für alle sichtbar: die Sanierung von erhaltenswürdi-
gen Stadtquartieren, die Revitalisierung von Großwohn-
siedlungen.

Den neuen Herausforderungen, die in dem Bericht zu-
treffend beschrieben wurden, dass sich nämlich ange-
sichts eines wachsenden Leerstands der Rückbaubedarf
erhöht, wird die Bundesregierung aber nicht gerecht. Sie
hat ein Gutachten „Altschuldenhilfe und Stadtumbau“ in
Auftrag gegeben. In diesem Gutachten wird ausdrück-
lich empfohlen, die Altschuldenentlastung über das Jahr
2013 fortzuführen. Das hat die Bundesregierung aber
nicht vor. Ich sage Ihnen: Ohne Altschuldenhilfe ist die
Beteiligung von vielen ostdeutschen Wohnungsunter-
nehmen am Stadtumbauprozess gefährdet; denn es sind
gerade die Unternehmen, die von der bisherigen Alt-
schuldenhilfe nicht Gebrauch machen können, die über-
haupt noch Rückbaupotenzial haben.

Wir brauchen also eine Anschlussregelung für die
Altschuldenhilfe, die im nächsten Jahr auslaufen wird,
damit tatsächlich auch alle von Altschulden betroffenen
Wohnungsunternehmen antragsberechtigt sind und sich
im Stadtumbauprozess integrieren können. Wie das In-
strument heißt – man muss es nicht „Altschuldenhilfe“
nennen –, ist dabei gleichgültig. Auf jeden Fall brauchen
wir Investitionsanreize für die Sanierung und dafür, dass
sich Unternehmen aktiv am Rückbau beteiligen können,
und die fehlen perspektivisch.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720511900

Jetzt spricht der Kollege Volkmar Vogel.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Volkmar Uwe Vogel (CDU):
Rede ID: ID1720512000

Frau Präsidentin! Lieber Kollege Stephan Kühn, auch

wenn du noch jung an Jahren bist, können wir uns alle
am heutigen Tage über das Erreichte freuen, insbeson-
dere angesichts der geschaffenen Infrastruktur und der
Entwicklung unserer Städte und Dörfer, die sichtbar,
greifbar, ja erfahrbar sind. Deswegen muss ich sagen: Es
ist ein schöner Anlass, heute an diesem Tag auch über
den Stand der deutschen Einheit zu sprechen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)






Volkmar Vogel (Kleinsaara)



(A) (C)



(D)(B)


Wir konstatieren: Die Riesenaufgabe der Verwirkli-
chung der Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“, vor der
wir standen, ist de facto bewältigt. Wir haben alle Stre-
cken unter Betrieb bzw. im Bau. Das Ende ist abzusehen.
Ich denke, man kann an dieser Stelle sagen: Das ist ein
Erfolg der DEGES, der Deutsche Einheit Fernstraßen-
planungs- und -bau GmbH, eine erfolgreiche Gesell-
schaft, die ja einen Zusammenschluss des Bundes mit
den ostdeutschen Bundesländern darstellte. Das beson-
ders Schöne dabei ist, dass auch Hessen, Hamburg,
Schleswig-Holstein und Bremen Gesellschafter sind. Ich
denke, für die Zukunft gibt es noch Potenzial, dass auch
die anderen Bundesländer mitmachen und an den weite-
ren Herausforderungen, vor denen wir stehen, mitwir-
ken.

Zum Thema Bauen muss ich sagen: Höchste Aner-
kennung für alle Bauarbeiter, die in den letzen 20 Jahren
unsere Städte wieder in Schuss gebracht haben und auch
in unseren Dörfern Hervorragendes geleistet haben!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Natürlich ist es in diesem Bereich so wie in allen an-
deren Bereichen: Der demografische Wandel spielt eine
sehr große Rolle. Das Problem des demografischen
Wandels lässt sich nicht einfach in Ost und West unter-
teilen, sondern der demografische Wandel ist regional
bedingt.


(Iris Gleicke [SPD]: Aber wir machen ihn stärker und schneller durch!)


Darauf müssen wir uns in Zukunft einstellen.

Der Stadtumbau Ost war und ist ein Erfolgspro-
gramm. Schließlich wurde es maßgeblich von Thüringen
und Sachsen auf den Weg gebracht.


(Iris Gleicke [SPD]: Was? Daran würde ich mich aber erinnern! Das Copyright habe ich noch immer selber!)


Das muss man an dieser Stelle auch sagen. Wir haben
dieses Programm 2009 evaluiert. Wir haben damals ge-
meinsam mit der SPD mit einem entsprechenden Antrag
die Fortsetzung vereinbart. Dieses Programm läuft jetzt
bis 2016.


(Sören Bartol [SPD]: Warum kürzt ihr die Städtebauförderung?)


In dem vorliegenden Zwischenbericht wird darauf
hingewiesen, vor welchen Herausforderungen wir in der
Zukunft stehen. Besonders wichtig ist: Die westdeut-
schen Bundesländer können sehr viel von den Erfahrun-
gen, die unsere Wohnungsunternehmen und unsere
Kommunen in Ostdeutschland gesammelt haben, lernen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Herausforderungen bestehen nun nicht mehr nur im
Abriss. Vielmehr müssen wir dafür sorgen, dass der
Wohnraum, der bestehen bleibt, attraktiv ist und dass
auch ein entsprechendes soziales Umfeld vorhanden ist.

Deswegen unterstütze ich die Forderungen und Vor-
schläge der ostdeutschen Ministerpräsidenten zur Fort-

setzung dieses Programms. Wir werden uns den Zwi-
schenbericht ansehen, genau auswerten und 2015 nach
der Evaluierung überlegen, in welcher Art und Weise wir
dieses Programm fortsetzen.

Man kann heute schon sagen, ohne ein Prophet zu
sein: Wir brauchen ein Programm für die Regionen. Wir
brauchen keine Unterscheidung in Ost und West. Es gibt
keine neuen Länder mehr. Jeder kommt aus seinem Bun-
desland. Wir werden zum richtigen Zeitpunkt entschei-
den, wie wir in diesem Bereich weitermachen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720512100

Das Wort hat der Kollege Hans-Joachim Hacker für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Hans-Joachim Hacker (SPD):
Rede ID: ID1720512200

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Ja, die heutige Debatte findet an einem
historischen Tag statt. Daran denken wir alle, auch die
SPD-Bundestagsfraktion. Wir denken natürlich beson-
ders gern an den 9. November 1989 zurück. Heute wie
damals freut sich die Sozialdemokratie darüber, dass die
Mauer gefallen ist. Auf einen Schlag waren Honeckers
100 Jahre zu Ende. War das nicht schön?


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


In dieser Nacht des 9. November – auch das werden
wir nicht vergessen – waren die Deutschen in Ost und
West, besonders natürlich die Berlinerinnen und Berliner
emotional vereint.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Warum haben dann die SPD-Ministerpräsidenten gegen den Einigungsvertrag gestimmt?)


Der dann folgende Weg, der Weg zur deutschen Einheit
am 3. Oktober 1990 und der Weg danach, war ein steini-
ger Weg. Der Weg war schwieriger, als wir das Ende
1989 alle geglaubt haben.

Wir sind hier weit vorangekommen. Über das gute
Zusammenspiel der Aufbauleistungen der Menschen in
den neuen Ländern und die Unterstützung aus den Kom-
munen, aus den Ländern im alten Bundesgebiet ist hier
gesprochen worden; ich will das hier nicht weiter aus-
führen. Ich will aber daran erinnern, dass für all das viel-
leicht der gemeinsame Bundesverkehrswegeplan steht,
Herr Kühn und Herr Vogel. Das war ein Signal. Das
sollte uns Mut machen, ähnliche Grundsatzentscheidun-
gen auch in Zukunft zu treffen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Herr Bergner, für uns ist die Wiedervereinigung so-
wohl im sozialen Bereich als auch in anderen Bereichen
nicht vollumfänglich vollzogen. Für uns bleibt die Ren-





Hans-Joachim Hacker


(A) (C)



(D)(B)


tenvereinheitlichung eine ganz wichtige Frage. Sie ha-
ben heute leider nichts dazu gesagt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Sie haben es leichtfertigerweise angesprochen, aber
nichts dazu gesagt. Es bleibt die Verantwortung dieser
Koalition, der Bundesregierung und insbesondere der
Bundeskanzlerin, hierzu Vorschläge auf den Tisch zu le-
gen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Iris Gleicke [SPD]: Da kann man auch nach einem Konsens suchen!)


Ich erwähne stichwortartig noch drei Punkte: Lohnan-
gleichung, Senkung der Arbeitslosigkeit und Wohnungs-
baupolitik. Das alles sind wichtige Herausforderungen,
denen wir uns in den nächsten Jahren stellen müssen.

Über all diese Fragen müssen wir heutzutage anders
diskutieren als aus der Perspektive von 1990/91. Wir
sind seit 22 Jahren wiedervereinigt. Wer heute Förder-
politik in Deutschland allein nach Himmelsrichtungen
betreibt, hat – trotz aller Besonderheiten der neuen Län-
der, die ich angesprochen habe – den falschen Kompass.
Wir brauchen neben Schwerpunkten in den Regionen in-
dividuelle Förderungen. Darüber werden wir in Zukunft
– auch in der SPD – anders diskutieren müssen als in den
letzten Jahren.


(Zuruf von der FDP: Richtig!)


Herr Kühn, Sie haben gesagt, dass niemand weiß, wer
in der Bundesregierung für den Aufbau Ost zuständig
ist, wenn man auf dem Alexanderplatz danach fragt.


(Stephan Kühn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das werden Sie nie erfahren! – Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Der politische Bildungsstand ist manchmal bedauerlich! Mehr Geld für die Bundeszentrale für politische Bildung! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Wie heißt der Generalsekretär der SPD?)


Herr Bergner, sind Sie auf dem Alexanderplatz gut be-
kannt? – Sie können wohl noch zulegen, was Ihren Be-
kanntheitsgrad angeht. Der Aufbau Ost scheint bei der
Bundesregierung ein bisschen unter die Räder gekom-
men zu sein. Er ist beim Bundesinnenministerium quasi
abgeladen worden, aber nicht gestaltet worden.

Ein weiteres Thema, das auf der Tagesordnung steht,
ist der Stadtumbau Ost.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720512300

Kollege Hacker, gestatten Sie eine Frage oder Bemer-

kung des Kollegen Feist?


Hans-Joachim Hacker (SPD):
Rede ID: ID1720512400

Herr Feist, gerne. Welche Frage haben Sie?


(Iris Gleicke [SPD]: Och! Das habe ich heute ganz vermisst!)



Dr. Thomas Feist (CDU):
Rede ID: ID1720512500

Vielen herzlichen Dank. – Frau Gleicke, ich hätte das

auch zu Ihnen sagen sollen.

Wieder wird behauptet, die jetzige Bundesregierung
habe kein Herz für den Osten. Ich mache darauf auf-
merksam, dass es nach meiner Erinnerung einen ehema-
ligen Verkehrsminister gibt, der im letzten Jahr nicht an
der Debatte über den Stand der deutschen Einheit teilge-
nommen hat und auch heute nicht anwesend ist. Wo ist
der Kollege Tiefensee?


Hans-Joachim Hacker (SPD):
Rede ID: ID1720512600

Ich habe nicht davon gesprochen, dass Sie kein Herz

für den Osten hätten. Sie müssen mich völlig falsch ver-
standen haben. Ich habe über Probleme gesprochen, die
wir gemeinsam lösen wollen, und darüber, dass sich der
Herr Staatssekretär Bergner bestimmter Themen intensi-
ver annehmen müsste. Das ist doch eine gute Botschaft.
Darin stimmen wir sicherlich überein, nicht wahr?

Ein weiterer Punkt auf der heutigen Tagesordnung ist
der Stadtumbau Ost. Ich will daran erinnern, dass die
Projekte Stadtumbau Ost und „Soziale Stadt“ Leucht-
turmcharakter in den neuen Ländern hatten und dass wir
die in den neuen Ländern gesammelten Erfahrungen
auch im alten Bundesgebiet genutzt haben. Nun haben
wir enorme Kürzungen erlebt. Der Stadtumbau Ost ist
bei der CDU/CSU ein Stiefkind und bei der FDP ein
ungewolltes Kind. Ich will hier nicht die Zitate des Ge-
neralsekretärs wiederholen; diese sind ja bekannt. Das
Programm „Soziale Stadt“ haben Sie auf jeden Fall zer-
schlagen. – Kollege Vogel, hören Sie einmal zu; denn
Sie haben mitgeholfen, das Programm „Soziale Stadt“
zu zerschlagen. Während der Zeit der Großen Koalition
gab es in der ersten Runde ungefähr 98 Millionen Euro.
Unter Schwarz-Gelb sind es jetzt nur noch 28 Millionen
Euro.

Sie haben keine Antworten auf die Altschuldenfrage,
Herr Mücke. Sie haben ein Gutachten in Auftrag gege-
ben und wollten es dann auswerten. Als ich Sie schrift-
lich gefragt habe, was Sie machen, haben Sie mir lapidar
geantwortet: keine Notwendigkeit, kein Handlungsbe-
darf. – Wir waren uns doch einmal einig, dass wir das
Programm betreffend die Altschulden fortführen woll-
ten, allerdings nicht in altbekannter Form. Wir wollten
kreativ sein und etwas Neues machen.


(Iris Gleicke in der Lage! Aktivität geht da nicht! Aber dazu sagen Sie, Herr Mücke, No oder Njet. Das finde ich nicht gut. Ändern Sie sich! Bringen Sie einen Vorschlag ein! Die SPD ist dann dabei. Ich finde, hier besteht dringender Handlungsbedarf. Sie können sich nicht davonschleichen. Das wird Ihnen nicht gelingen. Sowohl für den Aufbau Ost als auch für die alten Bundesländer ist Konversion in den nächsten Jahren ein ganz wichtiges Thema. In einer seiner üblichen Sonntagsansprachen hat der Bundesverkehrsminister aus den Hans-Joachim Hacker bayerischen Bergen ein Konversionsprogramm angekündigt, das sich selber tragen sollte. Das war kein schlechter Vorschlag – Herr Mücke, sagen Sie ihm das –, aber als wir nachgefragt haben, hat der Bundesfinanzminister ihn einkassiert. Ich finde, wir sollten diese Sache noch einmal anpacken. Konversion ist in den nächsten Jahren sowohl für die neuen als auch für die alten Länder ein ganz wichtiges Thema. Deswegen verstehe ich einfach nicht, dass Sie dem Vorschlag der SPD nicht gefolgt sind, die Aufgaben der BImA zu präzisieren. Das haben Sie abgelehnt. Das finde ich unmöglich. Ich komme zum letzten Punkt, Frau Präsidentin. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wird die Zeit knapp?)


(Beifall bei der SPD)





(A) (C)


(D)(B)


(Sören Bartol [SPD]: Aber kommt nix!)


(Beifall bei der SPD)

Herr Mücke,


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Klingt schon schlecht!)


Sie haben beim Investitionsrahmenplan für die neuen
Länder enorme Einschränkungen vorgenommen. Die
neuen Ansätze betragen im Fall von Mecklenburg-Vor-
pommern 46 Prozent des alten Budgets.


(Zuruf von der SPD: Wahnsinn!)

Dagegen haben sich Kollegen aus Mecklenburg-Vor-
pommern, auf jeden Fall ich und vielleicht auch Herr
Rehberg von der CDU, massiv gewehrt. Auch die Lan-
desregierung von Mecklenburg-Vorpommern hat sich
gewehrt. Jetzt frage ich Herrn Monstadt: Warum sagen
Sie, Herr Monstadt, eigentlich der Bevölkerung in
Mecklenburg-Vorpommern, dass die Landesregierung
von Mecklenburg-Vorpommern für den Investitionsrah-
menplan 2011 bis 2015 nicht die nötigen Projekte einge-
stellt hat? Das ist ein Treppenwitz der Geschichte.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720512700

Kollege Hacker, dieses Gespräch müssen Sie in einer

anderen Form suchen. Kommen Sie bitte zum Ende.


Hans-Joachim Hacker (SPD):
Rede ID: ID1720512800

Ja. – Ich komme zum Thema zurück. Mein letzter

Satz lautet: Wir brauchen beim Aufschwung Ost mehr
Schwung, genauso wie bei den Themen, die sich auf ge-
samtdeutscher Ebene stellen. Dazu brauchen wir ein an-
deres Kabinett als das Kabinett Merkel/Rösler. Das ist
hierfür nicht die richtige Besetzung.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Rainer Stinner [FDP]: Das war jetzt nicht nötig! – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Die Mauer ist doch gefallen! Ist Ihnen das nicht aufgefallen? – Gegenruf des Abg. Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das hat mit der Mauer nichts zu tun! Frau Merkel kommt doch aus dem Osten! Was hat das mit „Mauer“ zu tun?)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720512900

Es ist schön, wenn wir belebte Debatten haben und

auch die eine oder andere Form des engeren Austauschs
suchen, aber jetzt hat der Kollege Arnold Vaatz für die
Unionsfraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Arnold Vaatz (CDU):
Rede ID: ID1720513000

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Auch wenn ich nur sehr wenig Zeit habe, nehme
ich mir sie doch, um Folgendes zu sagen: Für mich ist
der 9. November 1989 und die darauf folgende Zeit bis
zum 3. Oktober 1990 das größte Geschenk, das die Ge-
schichte in meinem Leben für mich bereitgehalten hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich bin froh und stolz, dass wir uns das alle gemeinsam
erstritten haben.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP – Iris Gleicke [SPD]: Erstritten haben wir es! Kein Geschenk!)


Wir sollten das nicht durch Kleinkariertheit und Zerre-
den kaputtmachen. Das ist der erste Punkt.

Zweitens. Heute lässt sich feststellen – man kann über
den Stand der deutschen Einheit reden, wie man will –:
Wir sind im Großen und Ganzen, was die Variations-
breite des Lebensstandards betrifft, in der Bundesrepu-
blik Deutschland angekommen.


(Dr. Marlies Volkmer [SPD]: Nee, sind wir nicht!)


Es ist festzustellen, dass wir noch immer 800 000 Ar-
beitslose in Ostdeutschland haben. Das ist viel, und das
ist bedauerlich, aber es gab Zeiten, da hatten wir fast
1 Million Arbeitslose mehr.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das kann doch kein Maßstab sein! – Iris Gleicke [SPD]: Viele sind weggezogen!)


Es ist ein großer Schritt nach vorne gewesen, dass wir
die Arbeitslosenquote senken konnten. Dafür sind wir
dankbar.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wenn wir nicht die Arbeitslosenquote, sondern die
Arbeitsplatzdichte als Kriterium nehmen, dann sind wir
noch weit tiefer im westdeutschen Spektrum als in Be-
zug auf die erste Messgröße. Auch das muss gesagt wer-
den.


(Iris Gleicke [SPD]: Wenn Sie alle nicht sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisse mitzählen!)


Hinsichtlich der Infrastrukturdichte sind wir nah an
das Westniveau herangekommen, aber es bleibt noch
viel zu tun.


(Iris Gleicke [SPD]: Leider!)


Auch das will ich in aller Deutlichkeit sagen.

Im Antrag der SPD wird gesagt, die Angleichung sei
zum Erliegen gekommen, weil das BIP in Ostdeutsch-





Arnold Vaatz


(A) (C)



(D)(B)


land nicht das gleiche Wachstum wie in Westdeutschland
aufweise.


(Iris Gleicke [SPD]: Es ist auseinandergegangen!)


Ich bitte um etwas mehr Aufrichtigkeit; denn es gehört
dazu, zu sagen, dass in der Wirtschaftskrise ab 2007/
2008 das BIP im Westen stärker als im Osten eingebro-
chen ist und demzufolge stärker wachsen musste, um das
Ursprungsniveau wieder zu erreichen.


(Iris Gleicke [SPD]: Sie vergleichen Äpfel mit Birnen und stellen eine Milchbubenrechnung auf!)


Die entsprechenden Zahlen betragen 5 und 4 Prozent.
Das ist eigentlich ein hoffnungsvolles Zeichen, weil das
belegt, dass der Osten etwas krisenstabiler gewesen ist
als der Westen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hans-Joachim Hacker [SPD]: Exportabhängigkeit im Westen!)


Jetzt will ich doch noch etwas zum Thema Rente sa-
gen.


(Roland Claus [DIE LINKE]: Ja, gute Idee!)


Herr Claus, Sie haben uns den Vorwurf des Wählerbe-
trugs gemacht. Ich halte das, was Sie da gesagt haben,
für etwas überdimensioniert.


(Iris Gleicke [SPD]: Aber im Prinzip richtig! – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Kleiner Wählerbetrug!)


Ich will Ihnen aber wenigstens Folgendes mitgeben:
Wenn Sie über die Rente reden, dann müssen Sie auch
erwähnen, dass es im Augenblick bei der Rentenberech-
nung eine Hochwertung der ostdeutschen Gehälter um
17,5 Prozent gibt.


(Iris Gleicke [SPD]: Das hat aber mit Anwartschaften zu tun und nicht mit der Rentenhöhe!)


Wenn Sie diese Hochwertung abschaffen und gleich-
zeitig den Rentenwert erhöhen, dann produzieren Sie für
die gegenwärtig einzahlenden Generationen systema-
tisch Altersarmut in Ostdeutschland. Das kann nicht un-
ser Ziel sein, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Wir wollen keine Altersarmut in Ostdeutschland!)


Ich bin den Kollegen in meiner Fraktion äußerst
dankbar, dass sie nicht zugelassen haben, dass in dieser
Legislaturperiode eine Verschlechterung für die ostdeut-
schen Rentner eintritt; denn die vielen Vorschläge,


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Welche denn? – Iris Gleicke [SPD]: Sie haben noch gar keinen vorgelegt! Schämen Sie sich!)


die von den anwesenden Parteien hier gemacht worden
sind, hätten entweder im Westen keine Mehrheit gefun-
den oder nicht zugleich Hochwertung und Angleichung
des Rentenwertes zustande gebracht.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Doch! In unserer! – Gegenruf der Abg. Iris Gleicke [SPD]: Das ist nicht wahr!)


– Sehen Sie, Ihnen wird widersprochen. – Wir haben
also dafür gesorgt, dass in dieser Legislaturperiode keine
Verschlechterung für die ostdeutschen Rentner eintritt.
Dafür wollen wir auch in der kommenden Legislaturpe-
riode sorgen.


(Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da habt ihr keine Chance! – HansJoachim Hacker [SPD]: Keine Lösungen!)


Dabei bitte ich alle um Mithilfe, die es wirklich ernst
meinen.

Mit Vorschlägen, die entweder nicht realisierbar sind
oder am Ende die ostdeutschen Rentner schlechterstel-
len, ist niemandem gedient, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das war ein schöner Schlusssatz! – Iris Gleicke [SPD]: Das steht im Koalitionsvertrag!)


Damit bedanke ich mich schon jetzt für Ihre Mitarbeit im
nächsten Jahr an diesem wichtigen Projekt.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Iris Gleicke [SPD]: Wir arbeiten wenigstens! – Hans-Joachim Hacker [SPD]: Eingeständnis des Versagens!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720513100

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/10803 und 17/10942 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann ist so beschlossen.

Wir kommen nun zu dem Entschließungsantrag der
Fraktion der SPD zu dem Jahresbericht der Bundesregie-
rung zum Stand der Deutschen Einheit 2012. Interfrak-
tionell ist vereinbart, über den Entschließungsantrag auf
Wunsch der einbringenden Fraktion abweichend von der
Geschäftsordnung sofort abzustimmen. Sind Sie damit
einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann verfah-
ren wir so.

Wir kommen damit zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag auf Drucksache 17/11337. Wer stimmt
für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dage-
gen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungsantrag ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion Die Linke
bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ab-
gelehnt.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf:

a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Brigitte Pothmer, Markus Kurth, Katrin Göring-





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)


Eckardt, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Einrichtung eines So-
zialen Arbeitsmarktes

– Drucksache 17/11076 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Mast, Anette Kramme, Petra Ernstberger, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Sozialen Arbeitsmarkt dauerhaft über Passiv-
Aktiv-Transfer ermöglichen – Teilhabe für alle
durch sozialversicherungspflichtige Beschäfti-
gung im allgemeinen Arbeitsmarkt

– Drucksache 17/11199 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Das Wort hat die Kollegin Brigitte Pothmer für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720513200

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist

offensichtlich: Weder der wirtschaftliche Aufschwung
noch der demografische Wandel oder der Fachkräfte-
mangel werden das Problem der Langzeitarbeitslosigkeit
quasi wie von selber lösen. Offensichtlich ist auch, dass
die arbeitsmarktpolitischen Instrumente völlig ungeeig-
net sind, das Problem der Langzeitarbeitslosigkeit bzw.
das der Langzeitarbeitslosen mit besonderen Vermitt-
lungshemmnissen zu lösen und sie in den ersten Arbeits-
markt zu integrieren.

Ihre sogenannten Erfolge beim Kampf gegen die
Langzeitarbeitslosigkeit basieren im Wesentlichen auf
statistischen Tricks. Sie zählen einfach 116 000 Lang-
zeitarbeitslose, die über 58 Jahre alt sind und ein Jahr
lang kein Arbeitsangebot bekommen haben, nicht mehr
mit. Sie fliegen bei Ihnen aus der Statistik. Aber sie sind
doch weiterhin arbeitslos.

Meine Damen und Herren, wenn Sie diesen statisti-
schen Effekt herausrechnen, dann ist die Langzeitar-
beitslosigkeit in Deutschland in den letzten drei Jahren
um magere 1 Prozent zurückgegangen. Das können Sie
nachlesen in der Antwort der Bundesregierung auf eine
Anfrage von mir: 1 Prozentpunkt! Das ist vor dem Hin-
tergrund des wirtschaftlichen Aufschwungs wirklich ein
beschämendes Ergebnis.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Für die Regierung ist das doch etwas Tolles!)


Langzeitarbeitslose sind die großen Verlierer der Ar-
beitsmarktpolitik von Frau von der Leyen. Für diese
Gruppe sind drei Jahre Schwarz-Gelb drei verlorene
Jahre.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Das ist ausgesprochen bitter für die Betroffenen; denn
auch für diese Gruppe – ich will das ausdrücklich beto-
nen – ist Arbeit, ist Erwerbsarbeit mehr als Geldverdie-
nen. Für diese Menschen bedeutet Arbeit auch Teilhabe,
bedeutet Selbstachtung und gibt ihnen das Gefühl, dazu-
zugehören. Das alles enthalten Sie diesen Menschen vor.

Sie signalisieren den Betroffenen, dass das, was sie
können, keiner braucht, dass das, was sie denken, keiner
schätzt, dass das, was sie fühlen, niemanden kümmert.
Sie konzentrieren sich auf die Starken. Sie konzentrieren
sich auf die Fitten. Das ist zynisch, meine Damen und
Herren, und das treibt die gesellschaftliche Spaltung
weiter voran.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich sage Ihnen: Wir werden das nicht hinnehmen. Wir
wollen allen Menschen einen Zugang zu sinnstiftender
Arbeit ermöglichen. Wir wollen einen verlässlichen so-
zialen Arbeitsmarkt, und damit stehen wir wahrlich nicht
allein. Die Wohlfahrtsverbände, fast alle arbeitsmarktpo-
litischen Experten, die Bundesagentur für Arbeit in Per-
son von Heinrich Alt, der Landkreistag, alle fordern die
Einrichtung eines sozialen Arbeitsmarkts.

Wir legen Ihnen heute einen Gesetzentwurf zur Aus-
gestaltung dieses sozialen Arbeitsmarkts vor. Unser so-
zialer Arbeitsmarkt ist ein freiwilliges Angebot. Es gibt
keine Sanktionen für die, die sich daran nicht beteiligen
wollen. Er ist verlässlich. Wir wollen endlich raus aus
diesen ständigen Programm- und Finanzierungswech-
seln. Und er ist – das will ich ausdrücklich betonen –
keine Sackgasse; im Gegenteil: Er ist der Ausgangs-
punkt für Integration in den ersten Arbeitsmarkt. Er ist
zielgenau für alle diejenigen, die ihn brauchen, und er
richtet sich an alle Arbeitgeber. Wir wollen keine abge-
schlossenen Nischen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Finanzieren werden wir den sozialen Arbeitsmarkt
durch einen Passiv-Aktiv-Transfer. Mit anderen Worten:
Wir nehmen die Regelsatzleistungen und die Leistungen
für die Kosten der Unterkunft und finanzieren daraus so-
zialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse.

Meine Damen und Herren von der Regierungskoali-
tion, ich weiß, dass es auch in Ihren Reihen inzwischen
Leute gibt, die der Auffassung sind, dass es klüger wäre,
Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Siehe da!)


Ich bitte Sie deswegen dringend: Gehen Sie konstruktiv
mit diesem Vorschlag um! Die abgehängten Langzeitar-
beitslosen werden es Ihnen danken.

Ich danke Ihnen.





Brigitte Pothmer


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720513300

Das Wort hat der Kollege Dr. Matthias Zimmer für

die Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Matthias Zimmer (CDU):
Rede ID: ID1720513400

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist ei-

gentlich schade, dass wir diese Debatte an einem Frei-
tagnachmittag führen, zu so später Stunde


(Beifall des Abg. Dr. Wolfgang StrengmannKuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Katja Mast [SPD]: Immerhin, wir führen sie!)


– immerhin, wir führen sie, verehrte Frau Mast –, nach-
dem die taz, dieses politisch korrekte Mitteilungsorgan
bürgerlicher Nonkonformisten, bereits vor einigen Tagen
darauf aufmerksam gemacht hatte, über was wir hier
sprechen wollen.


(Katja Mast [SPD]: Und der Tagesspiegel!)


Leider hat dann bei der taz die Begeisterung über
diese Möglichkeit dazu geführt, dass man sich die Vor-
schläge nicht genauer angesehen hat. Das hätte sich aber
aus zwei Gründen gelohnt, zum einen deshalb, weil die
dahinterliegende Idee, einen sozialen Arbeitsmarkt
durch einen Passiv-Aktiv-Transfer zu organisieren, ei-
nen gewissen Charme hat, zu dem sich auch mein Kol-
lege Pascal Kober öffentlich bekannt hat,


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


zum anderen aber auch deshalb, weil die beiden Papiere,
die wir heute beraten, einen Blick in die Mechanik des
Denkens der beiden Parteien ermöglichen, und dazu will
ich ein wenig sagen.

Zunächst einmal: Wir haben einen Gesetzentwurf der
Grünen mit Datum vom 17. Oktober und einen Antrag
der SPD vom 24. Oktober vorliegen. Der Gesetzentwurf
ist im Wesentlichen gut durchdacht, weitgehend strin-
gent. Er zeugt von einer längeren Befassung mit dem
Thema. Der Antrag der SPD hingegen scheint eher mit
der heißen Nadel gestrickt. Ich kann mir auch vorstellen,
wie das gekommen ist. Kaum hatten die Grünen ihren
Gesetzentwurf im Geschäftsgang, ist der SPD aufgegan-
gen, dass sie zu diesem Thema auch etwas machen
sollte. Es ist schließlich Vorwahlkampf, und da will man
jede Chance nutzen, in der taz einmal lobend erwähnt zu
werden; man hat es ja sonst schwer genug.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)


Vieles von dem, was die Grünen vorschlagen, findet
sich auch im Antrag der SPD. Deswegen will ich mich
zunächst mit dem, was die Grünen vorschlagen, aus-
einandersetzen.


(Katja Mast [SPD]: Was wollen Sie denn?)


Meine Damen und Herren, wir haben vor einem Jahr
die Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente be-
schlossen. Die Reform ist am 1. April in Kraft getreten.
Wir haben noch keine Wirkungsanalyse, wir haben keine
Evaluation. Deswegen ist die Behauptung mutig, die
sich im Gesetzentwurf der Grünen findet, dass die Ziel-
gruppe für einen sozialen Arbeitsmarkt von den arbeits-
marktpolitischen Instrumenten nicht erreicht worden sei.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 1 Prozent!)


Sie belegen dies exemplarisch – also beispielhaft, an
Einzelfällen orientiert – mit den Erfahrungen beim Be-
schäftigungszuschuss. Anekdotische Evidenz scheint
mir aber ein schlechter Ratgeber für gesetzgeberisches
Handeln zu sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir sollten uns schon die Zeit nehmen, die Wirkungen
der Reform von 2011 gründlich zu evaluieren und dann
die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Ich kann mir
durchaus vorstellen, dass es von unserer Seite dann auch
eine gewisse Grundsympathie für einen Passiv-Aktiv-
Transfer geben könnte und dass man dieser Idee durch
eine gezielte Förderung von Modellprojekten nahetritt.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie waren ja schon einmal weiter mit der JobPerspektive!)


Dann sollten wir aber auch versuchen, handwerkliche
Fehler zu vermeiden, wie sie sich beim Gesetzentwurf
der Grünen finden.


(Katja Mast [SPD]: Wir wollen keine Modellprojekte mehr! Projekteritis ist vorbei!)


Ich verstehe ja, dass Sie das Wesen von Anreizen mit-
unter nicht so ganz einschätzen können, weil dies in Ih-
rem vorliegenden sozialen Herkunftsmilieu, der öffentli-
chen Beschäftigung, nicht notwendig ist. Wenn man aber
ein Gesetz formuliert, kann das teuer werden, und zwar
zulasten der Steuerzahler. So ist mir überhaupt nicht klar,
woher sich der Optimismus in ihrem Entwurf speist,
wenn es dort heißt: Die Kosten für den Bundeshaushalt

sinken erheblich …, wenn die am Sozialen Arbeits-
markt beteiligten Kommunen ihre Einsparungen bei
den Kosten der Unterkunft zur Finanzierung des
Sozialen Arbeitsmarktes in Form eines Passiv-Ak-
tiv-Transfers einspeisen.

Die Lebenserfahrung lehrt: Die Einsparungen würden
die Kommunen vermutlich dankend einstreichen. Inso-
fern sind die Kostenberechnungen in Ihrem Gesetzent-
wurf nicht mehr als Schätzungen über den grünen Dau-
men.


(Beifall bei der CDU/CSU – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Landkreistag hat sich schon dazu bekannt, Herr Zimmer!)


Ich meine allerdings: An den Anfang einer Befassung
mit dem Passiv-Aktiv-Transfer gehört eine seriöse
Schätzung der Folgekosten.





Dr. Matthias Zimmer


(A) (C)



(D)(B)



(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist seriös! – Katja Mast [SPD]: Die machen das in Baden-Württemberg! – Gegenruf von der CDU/CSU: Die haben genug Probleme damit!)


Dann zu den Integrationsfortschritten als Vorausset-
zung für eine Förderung. Sie schreiben in den Gesetzent-
wurf hinein:

Verringern sich die Aufwendungen des Arbeitge-
bers oder verbessert sich die Leistungsfähigkeit des
erwerbstätigen Leistungsberechtigten, ist der Zu-
schuss entsprechend anzupassen.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!)


Mit anderen Worten: Verringern sich die Aufwendungen
nicht und verbessert sich auch die Leistungsfähigkeit
nicht, bleibt es bei einem höheren Abfluss öffentlicher
Mittel.


(Katja Mast [SPD]: Auch richtig! – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch richtig!)


Das ist nichts anderes als die Einladung zur Kollusion
auf Kosten der Steuerzahler. Sinnvoller wäre es, bin-
dende Integrationsvereinbarungen abzuschließen und
den Zuschuss zum Arbeitsentgelt von Beginn an degres-
siv auszugestalten. Das klingt übrigens im Antrag der
SPD an und ist im Grundsatz richtig. Die Degression
muss aber von Anfang an ein verpflichtender Bestandteil
einer Integrationsvereinbarung mit dem Arbeitgeber und
dem Leistungsberechtigten sein.


(Katja Mast [SPD]: Reden Sie mit den Experten, die widersprechen Ihnen!)


Nur so setzt man vernünftige Anreize, die Ziele auch zu
erreichen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gibt aber Leute, die brauchen dauerhafte Förderung!)


Ein weiterer, eher nachdenklicher Hinweis: Der Pas-
siv-Aktiv-Transfer soll denjenigen zugutekommen, die
mehrere Vermittlungshemmnisse haben. Ich halte dies
grundsätzlich für eine gute Idee, finde aber auch fol-
gende Frage legitim: Sollten wir Menschen mit mehre-
ren Vermittlungshemmnissen nicht eher in marktfernen,
in geschützten Bereichen arbeiten lassen?


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Nein, eben nicht!)


Überfordern wir sie nicht in marktnahen Beschäfti-
gungsverhältnissen?


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Der Markt muss verändert werden, nicht die Leute!)


Ich bin mir dessen im Moment selbst nicht sicher.

Bei aller Kritik: Die Überlegungen der Grünen schei-
nen mir in die richtige Richtung zu gehen. Wir wissen
aber alle, dass gut gemeint noch nicht gut gemacht ist.
Deswegen stimmt auch der forsche Hinweis im Gesetz-
entwurf der Grünen nicht, es gebe keine Alternativen.
Doch, die gibt es, nämlich zu warten,


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zu warten? Drei Jahre warten wir!)


die arbeitsmarktpolitischen Instrumente zu evaluieren
und dann auf dieser Basis, wenn es notwendig ist, einen
Gesetzentwurf zu formulieren, der zielgenau ist, Fehlan-
reize vermeidet und – dies wäre mein Wunsch – am bes-
ten von einer in den Wahlen 2013 bestätigten christlich-
liberalen Koalition formuliert wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein frommer Wunsch! – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wird wohl ein frommer Wunsch bleiben!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720513500

Das Wort hat die Kollegin Katja Mast für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Katja Mast (SPD):
Rede ID: ID1720513600

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Herr Kollege Zimmer, ich glaube Ihnen
sogar, dass Sie Sympathie für die Anträge haben und
auch für deren Finanzierung nach dem Grundsatz „Ar-
beit statt Arbeitslosigkeit finanzieren“.


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Ich habe auch Sympathie für Sie, Frau Mast!)


– Auch noch für mich; das freut mich ja umso mehr,
Herr Zimmer. – Aber Sie hatten jetzt drei Jahre Zeit, um
Ihren Vorstellungen zu einer Mehrheit in Ihrer Koalition
zu verhelfen. Sie haben nun die arbeitsmarktpolitischen
Instrumente reformiert, und dabei ist nichts von Ihrer
Sympathie zu spüren. Das ist unser Problem. Deshalb
liegen Ihnen heute zwei Anträge der Opposition zu ei-
nem echten sozialen Arbeitsmarkt vor.


(Beifall des Abg. Christian Lange [Backnang] [SPD])


Worum geht es heute? Es geht darum, dass man sich
Menschen zuwendet, die ganz am Rande des Arbeits-
marktes stehen. Das sind diejenigen, die schon sehr
lange Arbeit suchen, die meistens mit mehreren Vermitt-
lungshemmnissen zu tun haben und die auf absehbare
Zeit – das heißt auf mehrere Jahre hin – keine Integration
in den Arbeitsmarkt erwarten können. Das sind diejeni-
gen, die wir heute mit Arbeitslosengeld II abspeisen, de-
nen wir sagen: Diese Gesellschaft braucht dich nicht
mehr, du stehst am Rand, du hast keine Aufgabe. Wir
wollen dich nicht.

Um diese Menschen geht es. Man geht von ungefähr
200 000 Menschen aus; es gibt aber auch andere Schät-
zungen. Darum geht es letztlich aber nicht. Es geht viel-





Katja Mast


(A) (C)



(D)(B)


mehr darum, dass wir uns diesen Menschen zuwenden
und sie fragen: Was wollt ihr?

Ich kann mich sehr gut an viele Praktika erinnern, die
ich mit Langzeitarbeitslosen durchgeführt habe. Dabei
stand immer eine Frage im Mittelpunkt, nämlich: Frau
Mast, was können Sie dafür tun, dass meine Arbeit nach
dem Auslaufen des Projekts weitergeht? – Das ist die
Frage, die die Langzeitarbeitslosen stellen. Sie reden
nicht von spätrömischer Dekadenz oder ähnlichen Din-
gen. Vielmehr wollen diese Menschen morgens aufste-
hen und einer Tätigkeit nachgehen können; sie wollen
einen Arbeitsvertrag in der Tasche haben.

Darum geht es heute in der Debatte um den sozialen
Arbeitsmarkt. Was bekommen diese Menschen von die-
ser Regierung? Das ist spannend; wir haben ja schon ge-
hört, worum es geht. Was bekommen sie von Schwarz-
Gelb? Sie bekommen keine Zuwendung; vielmehr wen-
den Sie sich ab. Sie haben in Ihrer Arbeitsmarktpolitik
alle Möglichkeiten zum Erhalt einer dauerhaften sozial-
versicherungspflichtigen Beschäftigung abgeschafft.

Genau deshalb erhalten Sie die Anträge der Opposi-
tion. Wir sagen: Wir wollen für Menschen, die am Rand
stehen, eine auf Dauer angelegte Beschäftigungsmög-
lichkeit, die den Betroffenen aber immer auch die Mög-
lichkeit offenlässt, in den regulären ersten Arbeitsmarkt
zurückzukehren.

Das ist der grundsätzliche Unterschied zwischen Ih-
nen und der linken Seite hier im Haus. Da bringen alle
schönen und blumigen Worte nichts, ebenso wenig ir-
gendwelche Initiativen im Paritätischen Wohlfahrtsver-
band, wo Sie bis heute noch keine Mehrheit in Ihren
Fraktionen hinbekommen haben.


(Pascal Kober [FDP]: Das wissen Sie doch gar nicht!)


Das ist doch das Problem. Sie machen laufend Pro-
jekte: Bürgerarbeit, wieder ein neues Projektitis-Projekt
von Bundesarbeitsministerin von der Leyen.


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Was gut läuft!)


Den § 16 e SGB II haben wir in der Großen Koalition
zusammen auf den Weg gebracht. Damit ist uns erstmals
eine Regelung gelungen, die es Menschen, die am Rand
des Arbeitsmarktes stehen, ermöglicht, eine auf Dauer
ausgerichtete Beschäftigung zu erhalten. Und hier er-
schweren Sie jetzt die Bedingungen. Sie regeln, dass das
nur noch 24 Monate innerhalb von fünf Jahren möglich
ist.


(Pascal Kober [FDP]: Das stimmt nicht!)


Das ist alles zu wenig für die Menschen, die einen Ar-
beitsvertrag in der Hand haben wollen und ihr Recht auf
Beschäftigung wahrnehmen wollen.

Hinzu kommt, dass Sie einen massiven Kahlschlag in
der aktiven Arbeitsmarktpolitik gerade für Langzeit-
arbeitslose vornehmen. Sie haben den Eingliederungsti-
tel von 2011 bis 2013 um 40 Prozent gekürzt,


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Und um wie viel haben wir ihn vorher erhöht? Das ist selektive Wahrnehmung!)


obwohl diese Menschen, über die wir hier reden – Lang-
zeitarbeitslose mit vielen Vermittlungshemmnissen –,
keine Chance auf reguläre Beschäftigung haben.

Deshalb hat meine Fraktion heute einen Antrag zum
sozialen Arbeitsmarkt vorgelegt, der echte Teilhabe-
chancen bieten soll.


(Beifall bei der SPD)


Wir wenden uns den Menschen zu. Ich will noch einmal
auf unsere Forderungen eingehen.

Im Grunde wäre der Begriff „Langlangzeitarbeits-
lose“ für Menschen mit mehreren Vermittlungshemm-
nissen viel passender. Wir wollen, dass sie wieder Arbeit
bekommen, dass sie einen Arbeitsvertrag bekommen
und morgens wissen, warum sie aufstehen. Wir wollen,
dass sie gute Arbeit haben. Auch da unterscheiden wir
uns von Ihnen: Wir wollen, dass sie ortsüblich und tarif-
lich entlohnt werden. Wenn wir es nach der nächsten
Bundestagswahl zusammen mit den Grünen hinbekom-
men, dann werden sie dort, wo das nicht möglich ist, von
einem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn pro-
fitieren.


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Warum haben Sie sich denn nicht dem Gesetzentwurf der Grünen angeschlossen, anstatt uns zu beauftragen, einen zu schreiben? Das wäre doch viel einfacher! Das ist doch irre!)


Wir finden, dass Arbeit nicht nur mit Geldverdienen
zu tun hat; hier geht es auch um eine Frage der Würde
und des Miteinanders in dieser Gesellschaft. Deshalb
wollen wir, dass die Menschen nicht am Rand stehen
bleiben, und ihnen eine echte Beschäftigungschance ge-
ben; wir wollen das finanzieren. Ich bitte Sie, einfach zu
schauen, was die Sozialministerin von Baden-Württem-
berg, Katrin Altpeter – sie hat ein SPD-Parteibuch –, ak-
tuell im Bereich des sozialen Arbeitsmarkts erprobt.


(Pascal Kober [FDP]: Die Grünen sind nicht dabei in Baden-Württemberg? Das ist auch interessant!)


Dort, wo wir an der Regierung sind, tun wir das, was wir
heute fordern. Wir erproben in Baden-Württemberg ei-
nen sozialen Arbeitsmarkt für langzeitarbeitslose Men-
schen, gemeinsam mit unserem grünen Koalitionspart-
ner.

Ich lasse mich gerne von Ihnen überzeugen, dass Sie
für Mehrheiten in Ihrer Fraktion sorgen, wenn Sie mir
ein Bundesland zeigen, in dem Sie Regierungsverant-
wortung tragen und den Passiv-Aktiv-Tausch tatsächlich
organisieren, Herr Zimmer.


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Ich zeige Ihnen eins, wo es das Betreuungsgeld gibt, wo Sie regieren!)


– Wir reden gerade über den sozialen Arbeitsmarkt und
über Möglichkeiten der Finanzierung des Passiv-Aktiv-





Katja Mast


(A) (C)



(D)(B)


Transfers. Sie haben gerade dazu gesagt, Sie hätten
große Sympathien dafür; Sie würden einmal schauen
und ein Projekt durchführen – und noch ein Projekt und
wieder ein Projekt. Wir wollen aber keine Projektitis à la
von der Leyen, sondern wir wollen dauerhafte Möglich-
keiten, auf die sich die Menschen verlassen können,
übrigens auch diejenigen, die diese Menschen beschäfti-
gen, nämlich die Unternehmen, die Handwerker, die Trä-
ger, die Kommunen, damit sie wissen, woran sie sind,
damit sie wissen, dass sie das auf Dauer machen können.
Das ist der Unterschied zwischen Ihrer und unserer Hal-
tung.


(Beifall der Abg. Christian Lange [Backnang] [SPD] und Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich bin stolz, dass wir das in Baden-Württemberg hinbe-
kommen und damit die Grundlagen für eine Arbeits-
marktpolitik schaffen, die anders ist als Ihre.

Wir wollen einen Beschäftigungszuschuss von bis zu
75 Prozent ermöglichen, wie wir ihn in der Großen Ko-
alition zusammen umgesetzt haben; danach sind Sie lei-
der davon abgewichen. Wir sagen: Menschen, die bei
uns langzeitarbeitslos sind und etwas leisten wollen, et-
was beitragen wollen, sollen einen Teil ihres Einkom-
mens selbst erwirtschaften. Wir wollen das über den Pas-
siv-Aktiv-Tausch – das bedeutet nichts anderes als:
Arbeit statt Arbeitslosigkeit – finanzieren.

Wir wollen eine möglichst marktnahe Beschäftigung
erreichen. Denn alle Projekte, alle Maßnahmen für
Langzeitarbeitslose zeigen, dass die Menschen eine Be-
schäftigung haben wollen, bei der ein Produkt entsteht,
das hinterher verkauft wird. Sie wollen nicht auf Schein-
arbeitsmärkten oder geschützten Arbeitsmärkten be-
schäftigt sein, sondern wollen im Wirtschaftsprozess ih-
ren Beitrag leisten.

Für uns Sozialdemokraten ist es ein wichtiger Punkt,
an unserem Ziel der Vollbeschäftigung festzuhalten und
dort Antworten zu geben, wo es richtig schwer ist, Voll-
beschäftigung zu organisieren. Denn bei denjenigen, die
am Rand stehen, ist es nicht so einfach, Antworten zu
finden; sie profitieren – meine grüne Vorrednerin hat es
schon gesagt – heute nicht von der guten Konjunktur.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich heiße übrigens Brigitte Pothmer, Katja!)


Insofern ist es die Aufgabe unserer Zeit, sich den Lang-
zeitarbeitslosen zuzuwenden, anstatt sich abzuwenden.
Wir wollen echte Jobchancen für langzeitarbeitslose
Menschen in Deutschland.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720513700

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Pascal

Kober das Wort.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1720513800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Kollegin Pothmer, ich bin ganz erstaunt: Ich muss
Ihre Politik aus den sieben Jahren, in denen Sie regiert
haben, fast schon ein Stück weit in Schutz nehmen. Sie
haben die arbeitsmarktpolitischen Instrumente zu Be-
ginn Ihrer Rede ziemlich pauschal verdammt. Wir haben
zwar auch gesehen, dass die arbeitsmarktpolitischen In-
strumente reformbedürftig sind. Diese Regierungskoali-
tion hat sie reformiert:


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, aber in die falsche Richtung, Herr Kober!)


Wir haben sie zielgenauer ausgestaltet und damit er-
reicht, dass eine erfolgreichere Arbeitsmarktvermittlung
möglich ist. Aber so ganz schlecht waren die Grund-
ideen doch nicht, die Sie damals verfolgt haben. Auch
Sie können ein bisschen stolz sein; wir haben die Instru-
mente verbessert, aber der erste Ansatz war schon nicht
ganz schlecht.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt kommen Sie mal zu Ihrem Vorschlag!)


Zweitens. Liebe Frau Pothmer, ich gebe offen zu:
Diese Regierungskoalition ist noch nicht zufrieden,
wenn es um die Erfolge geht, die wir bei der Integration
gerade von „Langlangzeitarbeitslosen“ in den ersten Ar-
beitsmarkt erreichen konnten. Trotzdem ist es uns in den
letzten Jahren gelungen, 500 000 Langzeitarbeitslose in
den Arbeitsmarkt zu integrieren. Darauf ruhen wir uns
nicht aus. Trotzdem sollte man diese Leistung anerken-
nen.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 1 Prozent!)


Denn für jeden Einzelnen bedeutet das eine Perspektive,
für jeden Einzelnen hat sich das Leben verändert, für je-
den Einzelnen war alle Mühe und Anstrengung wert.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die
Grünen und SPD, Sie haben recht: Die Idee, die Sie im
Antrag bzw. im Gesetzentwurf so grob skizzieren, hat et-
was für sich. Wir von der FDP sehen das auch so und ha-
ben das auch in unserer Sozialpolitik immer so formu-
liert.


(Katja Mast [SPD]: Aber nicht durchgesetzt! Aber noch nie gemacht!)


In all den Jahren haben wir immer gesagt: Ein wesentli-
cher Aspekt des Bürgergeldmodells der FDP ist, dass ge-
rade diejenigen, die es auf dem Arbeitsmarkt schwer ha-
ben und Minderleistungen – wie man technisch unschön
sagt – zu bewältigen haben, eine kleine steuerfinanzierte
Unterstützung erhalten. Das war immer Politik der FDP.
Deshalb können wir uns im Grundsatz mit dem Modell,
das die Sozialverbände und auch Sie hier vorschlagen,
anfreunden.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wollen einen allgemeinen Kombi Pascal Kober lohn! Das wollen wir so nicht! Wir wollen keinen allgemeinen Kombilohn!)





(A) (C)


(D)(B)


Über die Details muss man allerdings noch diskutieren;
denn auf die Details kommt es an.

Liebe Katja Mast, Sie haben so freundlich die Lan-
desregierung in Baden-Württemberg ins Feld geführt.
Ich hoffe, Sie wollten sich nicht schon vom Koalitions-
partner Bündnis 90/Die Grünen distanzieren;


(Katja Mast [SPD]: Das habe ich doch gesagt: mit den Grünen zusammen!)


denn Sie regieren gemeinsam mit ihnen; die Ministerin
Altpeter macht das nicht allein. Sie haben gemeinsam
ein Programm auf den Weg gebracht, das das Passiv-Ak-
tiv-Modell simuliert, nicht mehr und nicht weniger.

Im Kern müssen sich noch Bundesrat und Bundestag
auf eine gemeinsame Finanzierung einigen;


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


denn sonst fehlen die finanziellen Mittel. Es muss die
gemeinsame Anstrengung aller im Bundestag und im
Bundesrat vertretenen Parteien sein,


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bundesgesetz!)


dass wir hier zu einem Ergebnis kommen. In Baden-
Württemberg finanzieren Sie alles aus Steuermitteln,
und am Ende haben Sie einen positiven Effekt, aber eben
durch Steuermittel des Landes und durch Fördermaßnah-
men aus Europa.


(Katja Mast [SPD]: Nein! Über die Arbeitsmarktpolitik finanzieren wir das nicht! Sonderregelung! Über den 16 e!)


Letztendlich wird dadurch in Baden-Württemberg der
positive Effekt, den man aus dem Passiv-Aktiv-Modell
ziehen könnte, nicht erzielt.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schade, Herr Kober! Sie hätten die Gelegenheit gehabt, wirklich etwas zu sagen!)


Wir werden hier noch spannende Debatten führen,
aber wir sollten sie miteinander und nicht gegeneinander
führen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Katja Mast [SPD]: Wo sind denn Ihre Initiativen?)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720513900

Das Wort hat die Kollegin Jutta Krellmann für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Kober, Sie sind doch viel weiter, als Sie hier vorgetragen haben!)



Jutta Krellmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720514000

Frau Pothmer, jetzt bin ich dran.


(Heiterkeit)


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Wir reden heute über den sozialen Arbeits-
markt, und das ist immer sehr konkret. In meiner Region
Hameln-Pyrmont kenne ich eine Frau, die schon seit
zehn Jahren keine Arbeit mehr hat. Nun hält sie die
Sanktionen des Jobcenters nicht mehr aus. Über zehn
Jahre wurde die gelernte Tischlerin von einer Maßnahme
in die andere gesteckt, und das hat nie dazu geführt, dass
sie einen Arbeitsplatz bekam.

Vom Jobcenter erwartet sie nichts mehr, sie geht jetzt
einfach nicht mehr hin. Die Frage ist: Von was lebt sie
denn jetzt eigentlich? Die Lösung heißt: Minijobs. Da-
mit landet sie zwangsläufig im Niedriglohnbereich und
weiß selbst ganz genau, dass sie garantiert bei den armen
Alten landen wird. Solche Erfahrungen machen Millio-
nen.

Kein hochentwickeltes europäisches Land hat einen
so ausgeprägten Niedriglohnbereich wie wir. Die Logik
der Befürworter der Einführung von Niedriglohnjobs
war: Niedrige Löhne schaffen mehr Beschäftigung. –
Das war ein Irrtum. Die meisten Langzeitarbeitslosen
haben keine neue Arbeit gefunden. Im Gegenteil: Die
Zahl der Langzeitarbeitslosen hat sich verfestigt. Ihr An-
teil unter allen Erwerbslosen stieg in den letzten zwei
Jahren von 33,5 Prozent auf 37 Prozent. Die absolute
Zahl liegt bei 1 Million Menschen.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie doch mal was zu unserem Gesetzentwurf!)


Was ist mit Ihrem Gerede, dass alles besser geworden
ist? Ich sage Ihnen: Von 2010 auf 2011 ist die Zahl ledig-
lich um 5 000 gesunken, und das trotz angeblichen Fach-
kräftemangels und trotz guter wirtschaftlicher Situation.
Der Anteil von Hartz-IV-Beziehern im Leistungsbezug
ab zwei Jahre stieg sogar von 55 Prozent im Jahr 2009
auf 61 Prozent Ende 2010.

All diese Menschen brauchen Arbeit, sagt die Linke.
Sie haben ein Recht auf Arbeit.


(Beifall bei der LINKEN – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie doch mal was zu unserem Gesetzentwurf!)


– Das kommt jetzt.

Wir reden heute über die von SPD und Grünen vorge-
legten Initiativen zur Einrichtung eines sozialen Arbeits-
marktes. Ich finde das missverständlich. Ich konnte nicht
lesen, dass es um Arbeitsplätze im sozialen Bereich geht.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das tut es auch nicht!)


Uns geht es um öffentlich geförderte Beschäftigung. So
haben wir es in unserem Antrag aus dem Jahr 2011 – Sie
werden sich erinnern – genannt. Leider hat die SPD die-
sen Antrag nicht verstanden und ihn abgelehnt.





Jutta Krellmann


(A) (C)



(D)(B)



(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Oder sie hat ihn verstanden und deshalb abgelehnt! – Gegenruf des Abg. Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das glaube ich nicht! Dann hätte sie ihn nicht abgelehnt!)


Oder ging es wieder einmal gar nicht um die Sache, son-
dern um unsere Forderung nach einem Mindestlohn von
10 Euro? Sie fordern 8,50 Euro.

Öffentlich geförderte Beschäftigung ist ein wichtiger
Baustein zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit. Die
Linke schlägt ein Konzept für öffentlich geförderte Be-
schäftigung vor, in dem es Mindeststandards gibt, unter
anderem Freiwilligkeit und einen tariflich orientierten
und existenzsichernden Lohn nicht unter unserer Min-
destlohnforderung von 10 Euro pro Stunde. Das macht
unabhängig von Hartz IV und ist voll sozialversiche-
rungspflichtig.


(Beifall bei der LINKEN)


Öffentlich geförderte Beschäftigung muss in klarer Ab-
grenzung zum öffentlichen Dienst und zur Wirtschaft
stehen, um die Verdrängung regulärer Arbeitsplätze zu
verhindern.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da ist Ihr Denkfehler!)


Sehr geehrte Damen und Herren, ich kann das ganze
Gerede von halbherzigen Anträgen nicht mehr hören.
Wir brauchen eine gute öffentlich geförderte Beschäfti-
gung. Geben Sie den Menschen die Würde zurück!

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720514100

Es ist vereinbart, den Beitrag des Kollegen Ulrich

Lange von der Unionsfraktion zu Protokoll zu neh-
men.1)

Der Kollege Johannes Vogel hat nun für die FDP-
Fraktion das Wort.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1720514200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Arbeit ist mehr als Broterwerb. Deshalb habe ich mich
über den konstruktiven Grundton der Debatte heute ge-
freut. Ich glaube, zumindest uns, die vier Fraktionen,
eint das Ziel, mehr Menschen eine Perspektive auf dem
Arbeitsmarkt zu geben. Wir wollen uns nicht auf den gu-
ten Arbeitsmarktzahlen ausruhen, sondern immer bes-
sere Perspektiven schaffen.

Liebe Frau Kollegin Pothmer, über den Aufruf zur
konstruktiven Behandlung habe ich mich gefreut. Das
wollen wir tun, aber Sie selbst könnten in der Debatte an
dieser Stelle auch noch etwas konstruktiver werden. Las-
sen Sie doch einfach die wohlfeilen Vorwürfe weg.


(Zuruf der Abg. Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Lassen Sie die Sache mit der Statistik weg. Sie wissen so
gut wie ich, dass diese Koalition gar nichts an der Statis-
tik geändert hat, also können wir auch nicht irgendwie
daran gedreht haben.


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: So ist es!)


Liebe Kollegin Katja Mast, lass doch einfach den
Vorwurf der angeblichen Kürzungspolitik weg.


(Katja Mast [SPD]: Was heißt „angeblich“? 40 Prozent!)


Du weißt so gut wie wir alle, dass diese Koalition pro
Kopf nicht weniger Geld für die aktive Arbeitsmarktpo-
litik zur Verfügung stellt, als das die Große Koalition vor
der Krise getan hat, und es ist übrigens mehr, als Rot-
Grün damals zur Verfügung gestellt hat.

Lassen Sie uns doch lieber konstruktiv darüber reden,
was wir hier wirklich tun können. Dass es für Menschen,
die es auf dem Arbeitsmarkt schwer haben, weil sie eine
schwierige Geschichte haben, ein Instrument geben
muss, das eine Arbeitsmarktintegration ermöglicht, ist
ein Ziel, das wir teilen. Deshalb habe ich mich ein biss-
chen geärgert und nicht verstanden, liebe Kollegin
Pothmer, dass Sie gesagt haben, die Instrumente, die es
gibt, seien ungeeignet. Sie bauen in Ihrem Antrag selbst
auf § 16 e des SGB II auf.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der muss verändert werden!)


Sie nennen das explizit als Ansatzpunkt für den Passiv-
Aktiv-Transfer. Ich will nur sagen: Das Gesetzgebungs-
verfahren zu den arbeitsmarktpolitischen Instrumenten
hat dazu geführt, dass – übrigens auf Initiative der Koali-
tionsfraktionen, von dem Kollegen Zimmer und mir –
§ 16 e SGB II erhalten und so ausgestaltet wurde, dass er
für eine echte Integration in den ersten Arbeitsmarkt ge-
eignet ist.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: § 16 e lässt das doch jetzt nicht zu!)


Lassen Sie uns doch gemeinsam festhalten: Diese
christlich-liberale Koalition hat sich zu dem Instrument
bekannt. Das sollten wir gemeinsam bejahen und hier
nicht die Behauptung aufstellen, es gebe nicht die geeig-
neten Instrumente.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und was ist mit Passiv-Aktiv-Transfer?)


Die Instrumente gibt es; wir haben sie explizit erhalten.

Richtig ist, dass wir uns fragen müssen: Wie stellen
wir die Finanzierung sicher? Wie schaffen wir es, mögli-
cherweise noch mehr Mittel umzuwidmen?


(Katja Mast [SPD]: Dazu hatten Sie drei Jahre Zeit!)


Ich stimme dem Kollegen Zimmer und auch meinem
Kollegen Pascal Kober zu, der dies öffentlich gemein-
sam mit Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrts-1) Anlage 6





Johannes Vogel (Lüdenscheid)



(A) (C)



(D)(B)


verband gesagt hat: Wir sollten uns konstruktiv damit
beschäftigen, ob es unter der Überschrift Passiv-Aktiv-
Transfer eine Möglichkeit gibt.


(Katja Mast [SPD]: Dann können Sie ja zustimmen! – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Aber Sie stimmen uns zu, dass diese Möglichkeit im jetzigen § 16 e nicht vorgesehen ist!)


Im Namen meiner Fraktion bekenne ich mich ausdrück-
lich dazu. Nur, liebe Frau Kollegin Pothmer, wir müssen
uns gemeinsam ernsthaft mit diesem Thema beschäfti-
gen. Wenn man das wirklich will – der Kollege Kober
hat eben schon darauf hingewiesen –, dann muss es da-
für auch fraktionsübergreifende Mehrheiten in Bundes-
tag und Bundesrat geben. So, wie die Lage im Moment
aussieht, ist das nicht so einfach.


(Katja Mast [SPD]: Die SPD-Länder machen mit! Ihre Koalition hindert!)


Zweitens. Ich glaube, wir müssen erst einmal grund-
legende Fragen klären. Ich will eines ausdrücklich
sagen: Uns geht es dabei um echte, gleichberechtigte
Teilhabe auf dem ersten Arbeitsmarkt, nicht um Pseudo-
beschäftigung.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das war jetzt ein schöner Schlusssatz!)


Ich finde es missverständlich, wenn Sie von einem so-
zialen Arbeitsmarkt und der dauerhaften Etablierung
dieses Arbeitsmarktes sprechen. Lassen Sie uns lieber
über ein Instrument reden, das durch Unterstützung
– Lohnkostenzuschüsse – echte Teilhabe auf dem ersten
Arbeitsmarkt ermöglicht.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Jetzt ist aber gut!)


Ich denke, die Einigung darauf, dass man das Ganze so
nennt, wäre eine wichtige Gesprächsgrundlage.


(Katja Mast [SPD]: Haben Sie die Anträge gelesen?)


– Ich habe die Anträge gelesen.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720514300

Kollege Vogel, in Ihrer Reihung wären Sie jetzt ei-

gentlich bei drittens. Ihre Redezeit ist jetzt aber zu Ende.


Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1720514400

Dann will ich einen letzten Punkt ansprechen. – Frau

Kollegin Pothmer, ich glaube – damit beziehe ich mich
auf den Antrag der Grünen –, dass ein 100-prozentiger
Lohnkostenzuschuss keine gute Idee ist,


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch!)


weil er Missbrauch fördert.

Bekennen Sie sich zu dem Instrument, das wir ge-
schaffen haben,


(Katja Mast [SPD]: Sie haben kein Instrument geschaffen! Sie haben nur welche abgeschafft!)


und lassen Sie uns gemeinsam konstruktiv überlegen,
wie wir hinsichtlich der Finanzierung vorankommen
können. Ich glaube, damit sind wir gemeinsam auf ei-
nem guten Weg für die Langzeitarbeitslosen in diesem
Land.

Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Vogel, das war in sich nicht logisch!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720514500

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/11076 und 17/11199 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 45 a und 45 b auf:

a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP

Durch Zusammenarbeit Zivilgesellschaft und
Rechtsstaatlichkeit in Russland stärken

– Drucksache 17/11327 –

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(3. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Fraktion der SPD

Gemeinsam die Modernisierung Russlands
voranbringen – Rückschläge überwinden –
Neue Impulse für die Partnerschaft setzen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Marieluise
Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), Agnes
Brugger, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Keine Modernisierung Russlands ohne
Rechtsstaatlichkeit

– Drucksachen 17/11005, 17/11002, 17/11391 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Philipp Mißfelder
Franz Thönnes
Patrick Kurth (Kyffhäuser)

Wolfgang Gehrcke
Kerstin Müller (Köln)


Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Patrick Kurth für die FDP-Fraktion.





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Patrick Kurth (FDP):
Rede ID: ID1720514600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Erneut reden wir im Plenum über Russland. Mein
persönlicher Eindruck: Neben Weißrussland und der
Ukraine haben wir uns im Bundestag über keine andere
Region öfter ausgetauscht, ausgenommen natürlich die
Brennpunkte Nordafrika, Naher und Mittlerer Osten.

Egal ob man die häufige Thematisierung der östlichen
Partnerschaft im Deutschen Bundestag als Ausdruck be-
sonderer Wertschätzung oder als Ausdruck besonderer
Sorge wertet: Die Häufigkeit, mit der sich der Deutsche
Bundestag über Russland austauscht, zeigt die Wertig-
keit, die Russland für uns Deutsche hat. Russland und
Deutschland verbindet eine lange Geschichte. Wenn man
die Geschichte seit Zar Peter betrachtet, dann kann man
konstatieren: Es gab sehr grausige Kapitel, grausamste.
Gemessen an der gesamten Zeitspanne gab es aber zu-
meist Frieden und kulturellen Austausch. Seit jüngerer
Zeit gibt es sogar eine Modernisierungspartnerschaft.

Wir stehen für eine stärkere Integration Russlands in
europäische und westliche Institutionen und Standards.
Dennoch bereitet Russland uns Deutschen in letzter Zeit
viel Sorge, und nicht nur uns Deutschen, sondern den
Europäern insgesamt. Wir Deutsche sagen Russland
deutlich: Euer Umgang mit politisch Andersdenkenden,
mit Oppositionellen, ist für euer Land nicht gut. Unsere
und eure Geschichte zeigen, dass Repression und Kon-
trolle immer schaden. Neue Gesetze in Russland dürfen
die Zivilgesellschaft nicht einschüchtern, weil dadurch
das Vertrauen in Russland zerstört wird. Wir verurteilen
auch die Einführung eines Gesetzes in St. Petersburg
gegen „Propaganda männlicher und weiblicher Homo-
sexualität, Bisexualität und Transgenderismus unter
Minderjährigen“.

Diese Aufzählung könnten wir fortsetzen. Die Ge-
schwindigkeit, mit der diese Probleme innerhalb kurzer
Zeit größer geworden sind, ist beängstigend. Quasiauto-
ritäres Handeln politisch Verantwortlicher darf nicht
ignoriert werden.

Aber – das gilt für die Debatten des Deutschen Bun-
destages und seine Beschlüsse –: Der Deutsche Bundes-
tag kann aus unserer Sicht keine Ansammlung von Kri-
tik beschließen. Der Deutsche Bundestag beschließt
keine Anklageschriften. Dafür ist dieses Gremium ein-
fach nicht da. Es geht um politische Einordnungen, um
Wertungen und um daraus folgende Maßnahmen. Ich
habe mir noch einmal die Beschlüsse angeschaut, die wir
in dieser, aber auch in den letzten Legislaturen zu ande-
ren problematischen Ländern gefasst haben. Natürlich
wurde Kritik geübt, aber immer mit Wertungen, mit Ein-
ordnungen und vor allen Dingen mit politischen Konklu-
sionen. Selbst der alte Bundestag hat die DDR niemals
in einem Antrag oder etwas Ähnlichem nur mit massiver
Kritik überzogen. Deswegen muss uns die Frage umtrei-
ben: Können wir ein solches Vorgehen zulassen, wenn es
um die Zusammenarbeit mit Russland geht?

Wir setzen dabei nicht auf den Weg der Ausgrenzung
– das ist entscheidend –, sondern wir wollen den Dialog
mit Russland. Wir lassen nicht zu, dass im östlichen Eu-
ropa zunehmend der Eindruck entsteht, der Eiserne Vor-
hang sei mental von der Mitte Deutschlands an die Ost-
grenze Polens verschoben. Gerade wir Deutsche kennen
die Herausforderungen eines Transformationsprozesses.
Wir können unsere persönlichen Erfahrungen, die wir
hier in diesem Land mit all seinen Problemen – wir ha-
ben gerade über den Jahresbericht der Bundesregierung
zum Stand der Deutschen Einheit 2012 und über die Fol-
gen von Transformation gesprochen – gemacht haben, in
den schwierigen Prozess, in dem sich auch Russland be-
findet, einbringen.

Unsere Kritik und unsere Zusammenarbeit mit Russ-
land müssen in Bezug auf andere Staaten der Welt ver-
hältnismäßig sein. Insofern ist es wichtig, sich von Russ-
land nicht abzuwenden; das wäre der falsche Weg.

Zu den vorliegenden Anträgen. Der SPD-Antrag las
sich über weite Strecken wie ein Lexikonbeitrag. Es ist
ja alles richtig, was darin steht, wie die Situation darge-
stellt ist usw. Man kann inhaltlich über einige Punkte re-
den; aber im Grundsatz kann man dem zustimmen. Das
ist gleichzeitig ein Problem: Dieser Antrag bleibt ideen-
los im Hinblick auf das politische Handeln. – Wie geht
es weiter? Wie gehen wir damit um? Das sind die ent-
scheidenden Fragen.

Der Antrag der SPD ignoriert die Bestrebungen,
Russland in seinem Transformationsprozess als starker
Partner zur Seite zu stehen. Die Schwäche des Antrags
der SPD wird in seinen Forderungen deutlich. Sie, die
SPD, nennen zwar Schlagwörter, gehen aber nicht wei-
ter. Die Zusammenarbeit im schulischen Bereich tun Sie
zum Beispiel mit einem Halbsatz ab, sodass die Wichtig-
keit dieses Punktes, der eigentlich ein Schwerpunkt ist,
völlig untergeht.

Die deutsche Außenpolitik, die auswärtige Kultur-
und Bildungspolitik haben gerade in Russland durch
eine Sprachoffensive dazu beigetragen, dass viel erreicht
worden ist. Russland ist ein fruchtbarer Boden für
Deutsch als Fremdsprache. Der Slogan des Goethe-Insti-
tuts in Russland lautet: Mit Englisch kommen Sie durch,
mit Deutsch kommen Sie weiter. – So etwas wird ange-
nommen. Das ist das Entscheidende, wenn wir mit Russ-
land umgehen.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Und wie ist es umgekehrt?)


Wenn es sozusagen im Kern der Diplomatie auch ein-
mal kühler wird – das deutsch-russische Verhältnis hat
sich ohne Zweifel ein Stück weit abgekühlt –, dann muss
man gerade in den Außenbereichen, in den soften Berei-
chen, etwa in der auswärtigen Kultur- und Bildungspoli-
tik, Lockerungsübungen durchführen. Dazu sind die
Russen selbstverständlich bereit.

In ähnlicher Weise ist der Antrag der Grünen, der viel
Kritik übt, aber zu wenig auf die Zusammenarbeit mit
Russland eingeht, zu werten. Ohne den entsprechenden
Dialog mit Russland ist es schlicht nicht möglich, ge-
meinsame Interessen zu verfolgen und gemeinsame Risi-





Patrick Kurth (Kyffhäuser)



(A) (C)



(D)(B)


ken zu minimieren. Beispielsweise findet derzeit das
Deutschlandjahr in Russland statt, und wir, Deutschland,
haben das Russlandjahr. Wir haben in Russland Kultur-
institute eingerichtet, und wir haben vor allen Dingen
Schüler und Studenten durch Austauschprogramme nach
vorne gebracht. Ich glaube, dass so etwas hilft. Ich
glaube, dass wir auch in der Visafrage deutlich weiter
gehen müssen, als wir es bisher getan haben. Viele in
Europa meinen, wir brauchen Sicherheit vor Russland.
Wir in Deutschland vertreten sicherheitspolitisch die
Auffassung: Wir brauchen Sicherheit mit Russland. Ich
glaube, das ist entscheidend.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720514700

Das Wort hat der Kollege Dr. Gernot Erler für die

SPD-Fraktion.


Dr. h.c. Gernot Erler (SPD):
Rede ID: ID1720514800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Im heutigen Russland treffen wir auf politische Entwick-
lungen, die nicht zueinander passen wollen. Am 14. Ok-
tober wurden in fünf Föderationsgliederungen, nämlich
in den Gebieten Amur, Belgorod, Brjansk, Nowgorod
und Rjasan, Gouverneurswahlen abgehalten, und paral-
lel werden in sechs Gebieten neue regionale Parlamente
gewählt. Durchweg gewinnen bei den Gouverneurswah-
len die Kandidaten der Kremlpartei Jedinaja Rossija,
Einheitliches Russland, mit Ergebnissen zwischen
64 und 78 Prozent.

Die Partei der Macht setzt sich auch bei den sechs
regionalen Parlamentswahlen durch, mit 44 bis 78 Pro-
zent – als hätte es nie die Proteste in den großen Städten
gegeben, als hätte nie der oppositionelle Blogger Alexej
Nawalny genau diese Partei der Macht mit einem bösen
Attribut belegt. Er hat sie nämlich als „partija zulikow i
worow“, als Partei der Gauner und Diebe, bezeichnet
und damit bei den etwa 53 Millionen Internetnutzern in
Russland fast den offiziellen Namen Einheitliches Russ-
land verdrängt.

Schon bei der ersten Gelegenheit bestätigt sich also
die Einschätzung von Analytikern, die immer davor ge-
warnt haben, das real existierende Herrschaftsmonopol
in der Russischen Föderation abzuschreiben, nachdem
die Partei Einheitliches Russland bei den Duma-Wahlen
im Dezember 2011 die Dreiviertelmehrheit, die sie bis
dahin hatte, nicht mehr erreichen konnte und Wladimir
Putin mit „nur“ 63,6 Prozent zum Präsidenten gewählt
wurde.

Eigentlich müsste man erwarten, dass solche Ergeb-
nisse beruhigend wirken und in den Führungsetagen zu
Gelassenheit ermutigen. Sie bestätigen ja obendrein,
dass der Protest bisher Sache begrenzter Großstadtmili-
eus war, aber nicht die Weiten des russischen Landes er-
reicht hat. Aber wer dieser Logik folgt, muss erleben,
dass von Gelassenheit keine Spur ist. Auf allen Ebenen
wird der Protest eingeschüchtert. Es gibt Verhaftungen
von oppositionellen Aktivisten und gerichtliche Ankla-

gen gegen sie, die zu langjährigen Haftstrafen führen
können. Grundlage dafür sind auch neue Gesetze, zum
Beispiel zum Versammlungsrecht und zur öffentlichen
Ordnung.

Massive Maßnahmen richten sich gegen einzelne
Mitglieder der Partei Spravedlivaja Rossija, Gerechtes
Russland. Ursprünglich war sie eine vom Kreml insze-
nierte Neugründung. Aber während der Proteste wan-
delte sich Gerechtes Russland immer mehr zu einer op-
positionellen Kraft in der Staatsduma.

Dem dieser Fraktion angehörigen Abgeordneten
Gennadij Gudkow wurde sein Duma-Mandat einfach
entzogen, und seinem Unternehmen wurde die Existenz-
grundlage genommen. Zu einem richtigen Skandalfall
entwickelt sich derzeit die Anklage gegen den parlamen-
tarischen Mitarbeiter Leonid Raswosschajew, ein Fall,
mit dem sich sogar der Vorsitzende des Menschenrechts-
rates, Michail Fedotow, beschäftigt. Offensichtlich geht
es darum, seinen Arbeitgeber, den Gerechtes-Russland-
Abgeordneten Ilja Ponomarjow, aus der Staatsduma zu
drängen.


(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Der ist entführt worden! Skandalös!)


– Ja, er ist entführt worden.

Traurige Berühmtheit hat auch das neue NGO-Gesetz
erlangt, das alle zivilgesellschaftlichen Institutionen
zwingt, aus dem Ausland kommende Mittel zu deklarie-
ren und sich dabei selbst als Agenten des Auslands zu
bekennen – ein durchsichtiges Verfahren; denn dadurch
stehen die Verantwortlichen aller russischen NGOs, die
für ihre Arbeit Unterstützungsmittel aus dem Ausland
erhalten bzw. benötigen, schon mit einem Bein im Ge-
fängnis. Gegen Auslandsagenten kann nämlich zu jedem
beliebigen Zeitpunkt Anklage erhoben werden. Das
Schuldeingeständnis liegt ja schon bereit.

Diese Auflistung, Kolleginnen und Kollegen, die kei-
neswegs vollständig ist und zu der man das abschre-
ckende Strafmaß gegen die Aktivistinnen der Gruppe
Pussy Riot und andere Vorgänge hinzufügen könnte, zei-
gen: Der Wieder-Präsident Wladimir Putin hat sich ge-
gen einen Dialog mit der Opposition entschieden und da-
mit viele Hoffnungen enttäuscht. Er hat sich entschieden
für die Einschüchterung, die Kriminalisierung und die
Zerstörung der Basisorganisationen der Opposition, zum
Beispiel der Partei Gerechtes Russland; dafür steht die-
ses Vorgehen.

Dabei kann der Kreml nicht mehr behaupten, es gebe
ja gar keine legitimierten Ansprechpartner auf der ande-
ren Seite. Bisher hatten wir es bei der russischen Opposi-
tion tatsächlich mit einem kopflosen Konglomerat
höchst unterschiedlicher Menschen und politischer
Gruppen zu tun. Aber am 20./21. Oktober dieses Jahres
wurde ein 45-köpfiger Koordinationsrat gewählt, in dem
auch je fünf Vertreter der drei unterschiedlichen opposi-
tionellen Hauptströmungen – der Linken, der Liberalen
und der Nationalisten – Sitz und Stimme haben. Immer-
hin haben sich mehr als 170 000 Wählerinnen und Wäh-
ler für diesen Wahlgang registriert, über 81 000 haben





Dr. h. c. Gernot Erler


(A) (C)



(D)(B)


dann tatsächlich teilgenommen, die meisten per Internet.
Dabei haben sie dem bereits genannten Blogger Alexej
Nawalny, dem Schriftsteller Dmitri Bykow und dem
ehemaligen Schachweltmeister Garri Kasparow die
meisten Stimmen gegeben.

Wir können also feststellen: Dieselbe Machtstruktur,
die während der beiden Wahlakte bestimmte Schwächen
zeigte und der im Aufbau befindlichen Opposition da-
mals einige Zugeständnisse einräumte, so beim Parteien-
und Wahlrecht, interpretiert die wiedergewonnene Posi-
tion heute als Aufforderung, der Opposition die Luft
zum Atmen zu nehmen. Ich glaube, in diesem Hohen
Hause gibt es einen breiten Konsens, dass dies ein ver-
hängnisvoller Irrtum ist. Ein Russland, das die noch
junge, sich formierende parlamentarische und außerpar-
lamentarische Opposition einzuschüchtern oder gar zu
kriminalisieren versucht, wird es nicht schaffen, den
breiten Diskurs bzw. Dialog über die richtigen Entwick-
lungswege des Landes in die Zukunft sicherzustellen,
den Russland dringend braucht.

Das jetzige Vorgehen wird eine doppelte Wirkung ha-
ben. Die einen werden resignieren und sich zurückzie-
hen. Ein anderer Teil wird sich radikalisieren und immer
wieder für Schlagzeilen sorgen, die Russlands Image im
Ausland beeinträchtigen werden. Auf jeden Fall wird ein
solcher Prozess Russlands Weg in die Moderne verlän-
gern, einen Weg, bei dem man ohne umfassende Refor-
men und ohne eine Offenheit in der Gesellschaft lange
und gefährliche Umwege einkalkulieren muss.

Wie sollten wir uns verhalten? Längst ist erwiesen:
Der bis zur Ermüdung erhobene drohende Zeigefinger
bringt uns nicht weiter. Im besten Fall provoziert er, dass
kritische Gegenfragen gestellt werden. Dazu gibt es
überall – auch bei uns – Anlass. Im schlechtesten Fall
wird die Tür zugeschlagen. Dies hätte negative Folgen,
unter anderem für das 2007 vom damaligen Außen-
minister Frank-Walter Steinmeier formulierte Angebot
der Modernisierungspartnerschaft. Dieses Angebot be-
schränkte sich nie auf Kooperation allein auf dem Gebiet
von Wirtschaft und Hightech. Es ist und bleibt ein offe-
nes Angebot, das sich auf alle Fragen moderner Admi-
nistration, auf Rechtsstaatlichkeit und Governance und
auch auf die Nutzung zivilgesellschaftlicher Potenziale
für eine nachhaltige Entwicklung in einem Land bezieht,
das globale Verantwortung anerkennt und übernimmt.

Der kritische Kommentar zu gesellschaftlichen Fehl-
entwicklungen in der Russischen Föderation erzwingt
aus unserer Sicht keineswegs den erhobenen Zeigefin-
ger, sondern lässt sich auch mit der ausgestreckten Hand
und mit einem strukturierten Meinungsaustausch auf
gleicher Augenhöhe verbinden. Genau das wollte das
Angebot der Modernisierungspartnerschaft von Anfang
an.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720514900

Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege

Dr. Andreas Schockenhoff das Wort.


Dr. Andreas Schockenhoff (CDU):
Rede ID: ID1720515000

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Deutsch-russische Regierungskonsultati-
onen sind in der Tat gewöhnlich nicht ein Anlass dafür,
dass sich der Bundestag mit drei Anträgen zur Lage in
Russland und zu den deutsch-russischen Beziehungen
befasst. Herr Kollege Erler, ich will Ihnen ausdrücklich
beipflichten: Dass dies dennoch der Fall ist, zeigt, dass
in der großen Breite des Bundestages eine erhebliche
Sorge über die russische Politik und die innere Entwick-
lung Russlands besteht.

In kürzester Zeit wurden seit dem 7. Mai gesetzgebe-
rische und juristische Maßnahmen ergriffen, die auf eine
wachsende Kontrolle aktiver Bürger abzielen, die kriti-
sches Engagement kriminalisieren und die einen kon-
frontativen Kurs gegenüber Regierungskritikern bedeu-
ten. Wenn in einem Mitgliedstaat des Europarats
Demokratiestandards zurückgedreht, Rechtsstaatlich-
keit eingeschränkt und repressive Tendenzen weiter ver-
schärft werden, dann lässt uns das nicht gleichgültig,
sondern erfüllt uns mit großer Sorge.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das ist eine der Botschaften, die in allen drei Anträgen
gleichermaßen zum Ausdruck kommt. Das ist eine wich-
tige gemeinsame Botschaft, die heute von diesem Hause
ausgeht.

Es erfüllt uns zugleich mit großer Sorge, dass diese
Entwicklungen auch die Möglichkeiten der gegenseiti-
gen Beziehungen einschränken, dass sie zu einer Ent-
fremdung zwischen Russland und dem restlichen Europa
führen. Das aber wollen wir nicht. Im Gegenteil: Wir
wollen eine Vertiefung der Partnerschaft. Deshalb muss
dies heute vor den deutsch-russischen Regierungskon-
sultationen zum Ausdruck gebracht werden.

Um es klar zu sagen: Wir haben das Interesse an einer
engen Kooperation mit Russland und nicht an seiner
Isolierung. Wir wollen ein starkes, politisch und wirt-
schaftlich modernes und rechtsstaatlich verfasstes demo-
kratisches Russland. Darum wollen wir auch eine Mo-
dernisierungspartnerschaft mit Russland. Doch wir
müssen uns auch einig sein, was wir unter Modernisie-
rung verstehen.

Über all das brauchen wir einen offenen und, wenn
nötig, streitigen Dialog. Dabei geht es – auch darin sind
wir völlig einig, Herr Kollege Erler – nicht um einseitige
Kritik. Es geht um ein gemeinsames Verständnis da-
rüber, was uns verbindet. Uns verbindet, wie gesagt, der
Wunsch nach einem starken, politisch und wirtschaftlich
modernen Russland. Doch Russlands innere Entwick-
lung steht zunehmend im Widerspruch zu seinem eige-
nen Anspruch, als moderne internationale Führungs-
macht anerkannt zu werden.

Für alle ehrgeizigen Projekte, die Russland sich vor-
genommen hat, braucht es einen Konsens mit der eige-





Dr. Andreas Schockenhoff


(A) (C)



(D)(B)


nen Bevölkerung. Doch wir sehen mit Sorge, dass die
Polarisierung zwischen Staat und Gesellschaft weiter zu-
nimmt. Gesellschaftlich engagierte Bürger werden von
der Staatsmacht häufig nicht als Partner, sondern als
Gegner verstanden. Sogar freiwilliges Engagement wird
als verdächtig angesehen. Gleichzeitig nimmt die soziale
Unzufriedenheit zu. Vor allem hält die Flucht von drin-
gend benötigtem Kapital und von Vertretern der soge-
nannten kreativen Klasse weiter an. Das allein muss uns
Sorgen machen.

Ich stelle fest, dass dies keine Sorge allein der Koali-
tionsfraktionen ist. Im Antrag der SPD beispielsweise –
ähnlich im Antrag der Grünen – ist von der Gefahr einer
„neuen Protestbewegung“ in Russland die Rede, „die
das gesamte politische System ins Wanken bringen“
könnte. Mit Recht sagen Sie, dass ein politisch instabiles
und wirtschaftlich kriselndes Russland nicht im Interesse
Deutschlands und der EU sein kann.

Deswegen geht es im Dialog mit Russland vor allem
auch um eine Auseinandersetzung über unsere verschie-
denen Modernisierungskonzepte. Die Modernisierungs-
partnerschaft beruhte auf einem gemeinsamen Verständ-
nis von Zielen und Interessen von Modernisierung.

Wir müssen heute feststellen, dass sich die Vorausset-
zungen geändert haben. In Russland hat sich die Debatte
auf eine rein wirtschaftlich-technische Modernisierung
verengt, in der – so sagt es der Präsident selbst – wie in
den 30er-Jahren der militärisch-industrielle Komplex als
Lokomotive fungieren soll. Nach unserem Verständnis
braucht Innovation eben nicht Aufrüstung, sondern Kre-
ativität, nicht Abschreckung, sondern Investitionen in
„soft power“ wie Bildung, Rechtsstaatlichkeit, Stärkung
von Mittelschicht und Mittelstand.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ohne einen echten Dialog mit der Zivilgesellschaft,
ohne eine Einbindung der Zivilgesellschaft wird es keine
Modernisierung geben. Russlands Potenzial sind die
Menschen: die gut ausgebildete, modern denkende, ver-
netzte Mittelschicht, die der wichtigste Träger für die
Modernisierung des Landes wäre. Sie ist lange nicht
mehr auf Moskau und Sankt Petersburg beschränkt.
Diese Menschen wollen die Modernisierung mitgestal-
ten. Sie fordern nach persönlicher Freiheit auch politi-
sche Rechte ein. Das aber erfordert auch eine politische
und gesellschaftliche Modernisierung.

Für eine solche Modernisierung wollen wir ein Part-
ner sein – auch im Interesse unserer wirtschaftlichen Be-
ziehungen. Deshalb sprechen wir uns für den Ausbau der
Zusammenarbeit mit Russland zur Stärkung von Rechts-
staatlichkeit, transparenten Institutionen und effizienten
Verwaltungen sowie zum Abbau der systemischen Kor-
ruption aus. Dabei ist die enge Kooperation zwischen zi-
vilgesellschaftlichen Akteuren ein wesentlicher Faktor.
Ihre Arbeit darf nicht kriminalisiert oder behindert wer-
den.

Um die Zusammenarbeit mit Russland auf ein breite-
res gesellschaftliches Fundament zu stellen, muss die
zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit zu einem

neuen Schwerpunkt werden. Viele der russischen Ak-
teure teilen europäische Werte wie individuelle Rechte,
wirtschaftliche Freiheit und Transparenz. Sie sind unsere
natürlichen Partner und sollten gezielt in die bilaterale
Zusammenarbeit einbezogen werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie der Abg. Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Meine Damen und Herren, in unseren Beziehungen
zu Russland brauchen wir nicht weniger Dialog und Zu-
sammenarbeit, sondern mehr. Dazu gehören eine Ver-
breiterung der gesellschaftlichen Kontakte und ein Dia-
log, in dem die Unterschiede und Probleme nicht
verschwiegen, sondern offen und kritisch angesprochen
werden. Das ist unser Ansatz und Anspruch für die künf-
tige Russland-Politik. In diesem Sinne bitte ich um eine
breite Zustimmung zu unserem Antrag.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720515100

Das Wort hat der Kollege Wolfgang Gehrcke für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720515200

Frau Präsidentin, schönen Dank! Meine SPD-Kolle-

gen haben mir gerade zugerufen, ich solle die gute Stim-
mung nicht kaputtmachen. Ich komme leider nicht ganz
drum herum, das zu tun.


(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Oh!)


– Ich habe mir gedacht, dass Sie so reagieren.

Ich denke, dass wir hier ein Zeichen dafür setzen soll-
ten, dass die Türen für einen Dialog zwischen Russland
und Deutschland offen bleiben müssen. Ich möchte, dass
es bei der ausgestreckten Hand bleibt, Kollege Erler, und
ich möchte, dass die Zeigefinger, mit denen Sie nach
Russland zeigen, endlich verschwinden.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich habe überhaupt nichts von der Strickjacken-
Freundschaft zwischen Kohl und Gorbatschow im Kau-
kasus gehalten.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Was war daran schlecht? Deutsche Einheit vorbereitet! Das kann ja wohl nicht wahr sein!)


Diese Art von Freundschaft wurde dann mit Jelzin fort-
gesetzt. Ich habe auch überhaupt nichts davon gehalten,
dass Gerhard Schröder Putin zum lupenreinen Demokra-
ten erklärt hat. Darüber schweigen Sie sich hier auch
aus.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich halte auch überhaupt nichts von den Wadenbeiße-
reien des Kollegen Schockenhoff. So koordiniert man





Wolfgang Gehrcke


(A) (C)



(D)(B)


keine Beziehungen zwischen Deutschland und Russland,
so macht man Beziehungen kaputt.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Was hat das mit Wadenbeißerei zu tun? Das ist Quatsch!)


Gerade wenn man einen offenen Dialog und eine kriti-
sche Auseinandersetzung will, muss man in anderer Art
und Weise damit umgehen.

Ich habe mir die ganze Zeit die Frage gestellt, wie wir
eigentlich reagieren würden, wenn das russische Parla-
ment, die Duma, jede Woche über Missstände in unse-
rem Land reden und diskutieren würde.


(Zuruf des Abg. Karl-Georg Wellmann [CDU/ CSU])


– Es gibt keine Missstände; Ihre Meinung kenne ich. –
Wie würden wir reagieren?

Ich finde es langsam befremdlich, welcher Ton hier
angeschlagen wird, und ich glaube nicht, dass wir in die-
ser Art und Weise in der Zusammenarbeit mit Russland
weiterkommen.


(Beifall bei der LINKEN – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Welcher Ton wird hier denn angeschlagen?)


Gerade weil ich möchte, dass in Russland frei demon-
striert werden kann und dass Meinungsfreiheit und
Rechtsstaatlichkeit durchgesetzt werden, möchte ich
eine andere Art des Umgangs. Dazu will ich Ihnen ein
paar Vorschläge machen.

Wenn man über Modernisierungspartnerschaft redet
– zu Recht –, dann hat das natürlich eine wirtschaftliche
Seite. Das streite ich überhaupt nicht ab, und das sollte
auch keiner abstreiten. Modernisierungspartnerschaft hat
aber auch eine soziale Seite.


(Dr. Rainer Stinner [FDP]: Das sagen wir ja auch alle!)


Ich möchte, dass wir mit den russischen Partnern viel
stärker die soziale Seite der Modernisierungspartner-
schaft diskutieren und dass wir verstehen, dass es nicht
nur darum geht: „Wir bringen euch etwas bei“, sondern
dass das ein zweiseitiger Prozess ist.

Herr Schockenhoff, ich muss ehrlich sagen: Wenn Sie
Courage gehabt hätten, dann hätten Sie sich hier hinge-
stellt und gesagt: Es ist eine Schande, wie meine Frak-
tion mit der Visafreiheit umgeht.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn wir den russischen Partnern nicht die Visafreiheit
anbieten – und zwar in deutlicher Weise – und emotional
nicht begreifen, dass sie diese vor den Olympischen
Spielen 2014 haben möchten, dann werden wir nicht
weiterkommen.


(Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Wir arbeiten ja daran!)


– Arbeiten Sie weiter, Herr Kollege Mißfelder. Ich weiß
ja, dass Sie es wollen, aber die Hardliner in Ihrer Frak-
tion bremsen in dieser Angelegenheit.

Ich finde, dass Modernisierungspartnerschaft auch
eine Demokratiepartnerschaft beinhaltet. Ich möchte,
dass wir in fairer Art und Weise mit Russland über De-
mokratie und den Ausbau von Demokratie diskutieren
und die Zivilgesellschaft stärken. Dazu gehört für mich
auch, dass nicht immer nur Privatisierung das Ergebnis
einer solchen Politik sein soll und sein darf.

Ich möchte gerne, dass wir mit Russland eine Kultur-
partnerschaft eingehen. Das kann ein ganz wichtiger
zweiseitiger Schritt sein. Hier geht es nicht nur um
Hochkultur, sondern Russland ist eine Basis für vielfäl-
tige kulturelle Ausdrucksformen. Ich möchte, dass wir
so etwas auch nach Deutschland holen und hier präsen-
tieren. Das Russlandjahr in Deutschland und umgekehrt
das Deutschlandjahr in Russland haben doch kein Profil.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das sind Vorschläge!)


Letztendlich möchte ich, dass es eine Friedenspartner-
schaft ist.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Wenn Sie so darangehen!)


Ich frage Sie, warum in Ihrem Antrag zu solchen Din-
gen wie der Sorge Russlands vor dem sogenannten Ra-
ketenabwehrsystem überhaupt nichts steht. Das ist der
Eiserne Vorhang, der hier aufgebaut wird.


(Beifall bei der LINKEN)


Vor solchen Fragen drücken Sie sich. Deswegen kann
man auch das, was Sie vorschlagen, nicht besonders
ernst nehmen.

Ich möchte gerne, dass wir in einer anderen Art und
Weise mit Russland umgehen. Das ist eine wichtige
Partnerschaft. Ich bitte Sie, ziehen Sie den ausgestreck-
ten Zeigefinger ein. Er ist unter uns nicht angebracht,
und im Verhältnis zu Russland ist er erst recht nicht an-
gebracht.

Schönen Dank.


(Beifall bei der LINKEN – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Wo ist denn der Antrag? – Gegenruf des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Den haben Sie vor einem halben Jahr schon abgelehnt!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720515300

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kol-

legin Marieluise Beck das Wort.

Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenigstens ist auf Sie, Herr Gehrcke, Verlass.
Ich bin begeistert.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Ja, er ist ja auch nicht in der FDP!)






Marieluise Beck (Bremen)



(A) (C)



(D)(B)


Denn es kam der zu erwartende Spin: Wir Deutschen
dürfen Russland nicht mit erhobenem Zeigefinger kriti-
sieren; denn der Russe ist sensibel. – Nun würde ich sa-
gen: Das russische Volk kritisieren wir in der Tat nicht;
zu dem wollen wir Freundschaft. Dass die ehemaligen
Herren vom KGB, die heute im Kreml sitzen, so hoch-
sensibel sein sollen, daran mache ich allerdings mein
Fragezeichen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Aber ich will Ihnen gerne folgen und schlage vor, ein-
mal einen Perspektivwechsel vorzunehmen und tatsäch-
lich nicht über Russland zu sprechen, sondern über un-
sere Moral und über unsere Werte.

Beispiel eins: Siemens. Siemens zahlte in den Jahren
2005 und 2006 rund 3 Millionen US-Dollar an Schmier-
geldern im Zusammenhang mit einem Moskauer Ver-
kehrsprojekt. Daraufhin wurde eine russische Siemens-
Tochter für vier Jahre von Weltbankausschreibungen
ausgeschlossen. Inzwischen hat sich Siemens – das muss
man fairerweise sagen – dazu verpflichtet, Antikorrup-
tionsmaßnahmen unter anderem bei den Vereinten Na-
tionen 15 Jahre lang mit etwa 5 Millionen Euro jährlich
zu unterstützen.

Beispiel zwei: Daimler. Daimler zahlte zwischen
2000 und 2005 etwa 4 Millionen Dollar an Vertreter der
russischen Regierung, um den Verkauf von Limousinen
für den Sicherheitsapparat abzusichern. Die Empfänger
von Schmiergeld saßen unter anderem im russischen In-
nenministerium und im russischen Fahrdienst für Staats-
gäste.

Beispiel drei: Im Jahr 2009 trafen sich Manager eini-
ger wichtiger Dax-Konzerne, also deutscher Firmen, drei
Stunden lang bei Präsident Putin. Dies waren Daimler,
Siemens, Metro, Eon, Deutsche Bahn, Fraport, Volkswa-
gen und die Commerzbank. Sie haben drei Stunden
persönlich mit Putin sprechen können. Es ging um die
Teilnahme der deutschen Unternehmen am Privatisie-
rungsprogramm des Kremls, und Putin versprach jede
Hilfe. Haben die Herren bei dieser Gelegenheit den Fall
Chodorkowski angesprochen? Haben die Herren jemals
geäußert, es beunruhige sie, dass ein Unternehmen wie
Jukos mithilfe der Steuerbehörden willkürlich zerschla-
gen werden kann, dann über eine Briefkastenfirma auf-
gekauft, dem Staatskonzern Rosneft einverleibt und auf
diese Art und Weise letztlich wieder dem Staat zurück-
geführt worden ist? Haben die Herren mal gesagt: „Herr
Präsident, das beunruhigt uns; denn wir haben Assets in
einem Land zu vertreten, auf dessen rechtsstaatliche
Strukturen wir uns verlassen können wollen“, oder ha-
ben sie nur auf den großen Absatzmarkt in Russland ge-
schaut?

Beispiel vier: der Deal BP/Rosneft. Den Deal zwi-
schen BP und dem russischen Staatskonzern Rosneft hat
Putin als ein gutes Geschäft zu einem guten Preis be-
zeichnet. Damit ist Rosneft zum größten börsennotierten
Ölkonzern der Welt aufgestiegen. Die Zerschlagung von
Jukos und die Verfolgung von Chodorkowski waren Vo-

raussetzung für diesen Deal; denn Rosneft hat diese Ak-
tien von Jukos erst bekommen, nachdem Jukos zerschla-
gen worden war, und ist auf diese Art und Weise an die
Spitze der russischen Erdölproduzenten aufgestiegen.
BP hat Anteile im Milliardenwert von Rosneft übernom-
men. Im Bürgerlichen Gesetzbuch nennt man solche
Ware „Hehlerware“. Deswegen würde ich sagen: Wer
sich so verhält, kann in Russland nicht mit starker
Stimme für Rechtsstaatlichkeit eintreten. Diese Doppel-
moral wäre nämlich ein Problem.

Kurz zu unserem Abstimmungsverhalten. Wir bitten
darum, dass über den ersten Absatz der Ziffer I im An-
trag der Koalitionsfraktionen gesondert abgestimmt
wird. Wir gehen nämlich nicht davon aus, dass Russland
derzeit ein strategischer Partner sein kann. Das ist nur
eine Zielsetzung. Ansonsten gilt aber: Nachdem es dem
Kollegen Schockenhoff gelungen ist, das, was Patrick
Kurth eben gesagt hat, sozusagen wieder herauszuneh-
men, meinen wir, dass wir dem anderen Teil des Antrags
zustimmen können. So viel dazu, um das etwas unge-
wöhnliche Abstimmungsverfahren zu erklären.

Schönen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720515400

Nun hat der Kollege Dr. Peter Gauweiler für die

Unionsfraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Peter Gauweiler (CSU):
Rede ID: ID1720515500

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren Kollegen! Ich möchte auf die Kontroverse zwi-
schen Herrn Gehrcke und Frau Beck nicht weiter einge-
hen. Zu der Zeit meiner politischen Sozialisation beur-
teilten die hinter Ihnen beiden stehenden politischen
Kräfte das politische Moskau nicht so kontrovers, wie
das heute hier zutage getreten ist.


(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wie meinen Sie das? Ich komme aus der evangelischen Kirche!)


Ich möchte Ihnen, lieber Herr Gehrcke, in aller
Freundschaft in einem Punkt widersprechen. Es geht um
Ihre Kritik an der Strickjackenfreundschaft zwischen
Helmut Kohl und Michail Gorbatschow. Ich glaube,
diese Freundschaft war eine große Sache. Strickjacke
und Hausschuhe sind besser als Panzer und Stacheldraht.
Das hat uns eigentlich alle gut vorangebracht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Diese Debatte wäre unehrlich, Frau Beck, wenn wir
gerade mit Reminiszenz an die Vergangenheit nicht alles
sagen würden, egal aus welchem politischen Lager wir
kommen: Das heutige Russland mit all seinen Proble-
men hat in Sachen Freiheit und Demokratie im Vergleich
zur gulagischen Sowjetunion einen riesigen Sprung,
quasi einen Jahrhundertsprung, gemacht. Wir können
uns gar nicht vorstellen, mit welchen Problemen und
Schwierigkeiten dies im Einzelfall verbunden ist.





Dr. Peter Gauweiler


(A) (C)



(D)(B)


Deutschland mit seiner Unterschrift unter die Euro-
päische Menschenrechtskonvention im Jahr 1953 und
Russland mit seiner Unterschrift 40 Jahre später haben
eine unwiderrufliche Wertentscheidung getroffen. Was
die Entscheidung Russlands, die EMRK zu unterschrei-
ben, betrifft: Die meisten meines Alters hätten nie ge-
dacht, dass sie dies einmal erleben würden.

Diese Unterschrift war es – das ist keine Frage von
rechts oder links –, die die moralische und ideologische
Teilung Europas im 20. Jahrhundert beendet hat. Das
heißt nicht, dass es uns verboten wäre, wechselseitig auf
Defizite hinzuweisen. Das geschieht auch in unserem
Antrag. Aber eines muss ganz klar sein: Wir, Russen und
Deutsche, führen diese Debatte aufgrund unserer beider
Unterschrift auf der gleichen moralischen Grundlage. In-
sofern möchte ich das unterstreichen, was Herr
Schockenhoff sagte: Ziel dieses Antrags ist keine neue
geistige Mauer, sondern Ziel dieses Antrags ist die Ver-
tiefung der Partnerschaft. Partner halten solche Debatten
aus.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wir haben uns durch die Unterschrift unter die
EMRK sozusagen auf den gleichen moralischen Violin-
schlüssel geeinigt. Ich habe, Frau Beck, unter Würdi-
gung Ihrer Tätigkeit im Fall Timoschenko in der Ukraine
– Sie erinnern sich vielleicht an die Debatte, die wir im
Auswärtigen Ausschuss dazu hatten – damals schon da-
rauf hingewiesen, dass in Art. 33 der EMRK die soge-
nannte Staatenbeschwerde vorgesehen ist. Das heißt, die
Partnerstaaten können Menschenrechtsbeschwerden vor
einem supranationalen Gericht ansprechen. Dies ist ver-
meintlich härter als politische Resolutionen. In Wahrheit
ist dies ein menschenrechtliches Schiedsgericht unter
Partnern.

Wenn hier jeder Einzelne von uns – das bezieht sich
auch auf die Regierung; ich freue mich, dass ein Vertre-
ter des Justizministeriums anwesend ist – von den Be-
schwerden überzeugt ist, die in allen drei Anträgen mit
unterschiedlicher Intensität enthalten sind, dann muss
man die Kraft haben – dabei schließe ich die russische
Seite mit ein –, dies einem supranationalen Gerichtshof,
der in Art. 33 der EMRK vorgesehen ist, vorzulegen.
Dies ist besser – ich sage das hier ganz offen – als der
Weg ständiger politischer Resolutionen. Warum? Politi-
sche Äußerungen sind immer – nicht bei den hier Anwe-
senden, wohl aber bei allen anderen – von politischen
Zwecken geleitet. Der erfahrene Politiker weiß: Man
kann auch mit der Wahrheit lügen.


(Beifall des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])


– Wenigstens einer.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)


Der erfahrene Politiker weiß auch: Das eine ist die
Ethik, das andere die Heuchelei. Die Frage nach Ethik
und Heuchelei müssen auch die Deutschen in dieser De-
batte bedenken. Ich bin dankbar, dass meine Fraktion
versucht hat, in ihrem Antrag, für den ich hier spreche,

auch auf den Gesichtspunkt der Zusammenarbeit hinzu-
weisen.

Ein kurzes – bewusst nicht aktuelles – Zitat vom De-
zember 1180. Der Sekretär des Erzbischofs von Canter-
bury, ein gewisser John von Salisbury, schrieb:

Wer hat die Deutschen zu Richtern über die Völker
gesetzt? Wer hat diesen rohen und brutalen Leuten
das Recht gegeben, nach ihrem Belieben einen
Fürsten über die Häupter der Menschenkinder zu
setzen?

Eines muss ganz klar sein: Der Deutsche Bundestag
will nicht den Eindruck erwecken, dass wir uns zu Rich-
tern über andere Völker erheben.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Nun zu der von Ihnen, Herr Kollege Erler, angespro-
chenen Debatte über Pussy Riot. Ich empfehle die Lek-
türe des neuen Buchs von Peter Scholl-Latour, einem
unserer anerkanntesten Journalisten, Die Welt aus den
Fugen, in dem die Frage gestellt wird, ob dieses aufsäs-
sige Trio seinen Klamauk nicht sinnvollerweise vor dem
Mausoleum Lenins am Roten Platz hätte aufführen sol-
len.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Jetzt ist aber Schluss! – Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die können die drei doch freilassen! Dann können die das gleich machen!)


Denn die Moskauer Erlöserkirche war seinerzeit durch
Stalin gesprengt und in ein Schwimmbad umgewandelt
worden. Wir sind insbesondere nicht Richter über die
russisch-orthodoxe Kirche und bewundern den Kampf,
den diese Kirche über Jahrzehnte im besetzten Russland
geführt hat.

Ich finde es gut, dass in unserem Antrag neben der
Modernisierungspartnerschaft auf die kulturelle Partner-
schaft hingewiesen wird. Man kann sagen, dass sich die
Dinge hier extrem zum Besseren entwickelt haben. Das
Goethe-Institut Moskau hat die Reichweite seiner Pro-
gramme von rund 23 000 Personen auf über 100 000 Per-
sonen im letzten Jahr erhöht.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720515600

Kollege Gauweiler, das alles sind sicherlich sehr

wichtige Fakten. Aber achten Sie bitte einmal auf das Si-
gnal, und kommen Sie zum Schluss.


Dr. Peter Gauweiler (CSU):
Rede ID: ID1720515700

Ich leite die Landung ein, Frau Präsidentin. – Das

Goethe-Institut Nowosibirsk hat mittlerweile seine
Reichweite ebenfalls auf rund 100 000 Personen erhöht.
Das Goethe-Institut Sankt Petersburg hat seine Reich-
weite von 14 000 auf sogar über 130 000 Personen er-
höht.

Wir, die CDU/CSU-Fraktion, haben vor diesem Hin-
tergrund in unserem Antrag Folgendes erklärt – das ist





Dr. Peter Gauweiler


(A) (C)



(D)(B)


uns wichtig –: „Russland ist unabdingbar für eine ge-
samteuropäische Friedensordnung.“

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720515800

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache
17/11327 mit dem Titel „Durch Zusammenarbeit Zivil-
gesellschaft und Rechtsstaatlichkeit in Russland stär-
ken“. Interfraktionell ist vereinbart, über den ersten Ab-
satz der Ziffer I des Antrags einerseits und über den
übrigen Antrag andererseits getrennt abzustimmen.

Wir stimmen daher zuerst über den ersten Absatz der
Ziffer I des Antrags auf Drucksache 17/11327 ab. Wer
stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der erste Absatz der Ziffer I des Antrags ist mit
den Stimmen der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion und
der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der SPD-Frak-
tion angenommen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN)


Wir kommen nun zur Abstimmung über den übrigen
Teil des Antrags auf Drucksache 17/11327. Wer stimmt
dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Da-
mit ist der Antrag insgesamt angenommen mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen bei Enthaltung der SPD-Fraktion und der
Fraktion Die Linke.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wir kommen nun zur Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf
Drucksache 17/11391. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ableh-
nung des Antrags der Fraktion der SPD auf Druck-
sache 17/11005 mit dem Titel „Gemeinsam die Mo-
dernisierung Russlands voranbringen – Rückschläge
überwinden – Neue Impulse für die Partnerschaft set-
zen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und
der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion
bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Es ist heute eine gewisse Herausforderung. Das zeigt
aber, dass nicht alles so ist, wie manch einer denkt.


(Heiterkeit)


Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 17/11002 mit dem Titel „Keine Mo-
dernisierung Russlands ohne Rechtsstaatlichkeit“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-

lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei
Enthaltung der SPD-Fraktion und der Fraktion Die
Linke angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 48 auf:

Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Umsetzung des EuGH-Urteils vom
20. Oktober 2011 in der Rechtssache C-284/09

– Drucksache 17/11314 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Mathias Middelberg für die Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Mathias Middelberg (CDU):
Rede ID: ID1720515900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-

gen! Es geht um ein Gesetz, mit dem wir Vorgaben der
EuGH-Rechtsprechung umsetzen und umsetzen müssen.
Mit diesem Gesetzentwurf werden wir den europarechts-
widrigen Zustand auch mit Wirkung für die Vergangen-
heit beseitigen. Die von dem EuGH-Urteil betroffenen
ausländischen EU-Körperschaften, also Aktiengesell-
schaften und GmbHs, werden von der Kapitalertragsteuer
bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen entlas-
tet. Eine Erstattung erfolgt für diese Gesellschaften aller-
dings nur, soweit sie nachweisen, dass die deutsche Ka-
pitalertragsteuer im Ausland weder angerechnet noch als
Betriebsausgabe abgezogen worden ist. Es gibt also
keine doppelte Entlastung, sondern nur eine, und zwar
dann, wenn im eigenen Land eine Belastung erfolgt ist.

Diese Umsetzung ist zwingend. Sie führt zu jährli-
chen Erstattungen und damit zu Steuerausfällen in der
Größenordnung von 650 Millionen Euro. Aber diese
Umsetzung ist notwendig, und sie ist richtig; denn die
Steuerfreiheit konzerninterner Dividenden, also von Ge-
winnausschüttungen im Rahmen eines mehrfach gestuf-
ten bzw. verschachtelten Konzerns, entspricht dem Teil-
einkünfteverfahren, und dieses Teileinkünfteverfahren
im Unternehmensteuerrecht haben wir damals, 2008, in
der Großen Koalition als Verfahren bei der Besteuerung
von Kapitalgesellschaftsgewinnen eingeführt.

Da ist es üblicherweise so, dass in einem ersten
Schritt die Besteuerung auf der Ebene der Kapitalgesell-
schaft stattfindet – mit Gewerbesteuer und Kapitalertrag-
steuer. Das sind zusammen ungefähr 30 Prozent. Danach
wird in einem zweiten Schritt die Ausschüttung, die Di-
vidende, von dem privaten Gesellschafter, der diese Di-
vidende erhält, versteuert. Er zahlt Abgeltungsteuer und
Solidaritätszuschlag, sodass er letzten Endes bei einer





Dr. Mathias Middelberg


(A) (C)



(D)(B)


Besteuerung von 49,5 Prozent, also fast 50 Prozent, lan-
det.

Dieses System ist sinnvoll und konsistent mit unse-
rem bisherigen Unternehmensteuerrecht. Es entspricht,
wie ich gesagt habe, dem Teileinkünfteverfahren.

Wenn wir es anders machen würden, insbesondere so,
wie der Bundesrat es vorschlägt, dann würden wir zu ei-
ner Überbesteuerung von konzerninternen Gewinnen
kommen. Es würden dann richtige Kaskadeneffekte ent-
stehen. Das heißt, über je mehr Ebenen ein Gewinn in-
nerhalb eines Konzerns weitergereicht wird, desto mehr
Besteuerungsstufen hat man.

Wenn man eine weitere Tochterebene und damit zwei
Ebenen hat, würde man zu einer Gesamtbelastung von
64 Prozent kommen. Ich habe es eben schon gesagt:
Normalerweise beträgt die Steuerlast 49,5 Prozent.

Mit einer weiteren Tochterebene in dem Konzern ist
man schon bei einer Steuerlast von 76 Prozent. Kommt
dann noch eine Tochterebene in dem Konzern hinzu,
liegt man bei einer Besteuerung des Gewinns in Höhe
von 83 Prozent.

Daran kann jeder erkennen, dass der Vorschlag des
Bundesrates in die Irre führt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Der Vorschlag des Bundesrates würde nur dazu führen,
dass wir jetzt, am Jahresende, panische Beteiligungsver-
käufe erleben würden. Alle würden nämlich ihre Streu-
besitzbeteiligungen zu verkaufen suchen. Viele Fonds
würden dies versuchen, weil sie sich jetzt noch steuerfrei
bzw. zu vernünftigen Steuersätzen von den Beteiligun-
gen trennen könnten. Das heißt, wir würden einen Run
von Beteiligungsverkäufen im Fondsbereich auslösen.
Das wäre – ich sage das so deutlich – absoluter
Schwachsinn.

Wir würden zu einer völlig ungleichmäßigen Besteue-
rung von Unternehmensgewinnen in Deutschland kom-
men, wenn wir – was wir durch das Teileinkünfteverfah-
ren gerade nicht machen wollen – die Gewinne im
Grunde kaskadenmäßig, je nachdem, wie viele Tochter-
ebenen es in einem Konzern gibt, besteuerten. Wir wür-
den damit auch viele Unternehmen zwingen, entweder
ihre gesellschaftsrechtlichen Strukturen zu verändern,
was teuer, aufwendig und blödsinnig wäre, oder ihren
Holdingsitz aus Deutschland zu verlagern. Wir haben
aber ein großes Interesse daran, dass möglichst viele Ge-
sellschaften einen Holdingsitz in Deutschland haben,
weil wir deren Steuern einnehmen wollen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wir wollen diese Steuereinnahmen in Deutschland. Wir
wollen diese Unternehmen nicht vertreiben. Diese wür-
den dann demnächst ihren Konzernsitz von Deutschland
nach Holland oder Österreich verlegen, weil dort die Be-
steuerungsgrundlagen genau die sind, die wir mit diesem
Gesetzesvorschlag schaffen wollen.

Der Punkt ist: Ich möchte keine Unternehmen vertrei-
ben, sondern ich möchte diese Unternehmen hierbehal-
ten, damit wir sie weiter hier besteuern und weiter
50 Prozent von Unternehmensgewinnen von Aktienge-
sellschaften und GmbHs in Deutschland kassieren kön-
nen.

Sie würden mit dem Vorschlag, der über den Bundes-
rat eingereicht worden ist, vor allem auch die betriebli-
che Altersvorsorge schädigen. Denn die Anbieter von
betrieblicher Altersvorsorge legen zu großen Teilen in
Wertpapieren, vor allen Dingen in Aktien, an, und zwar
nicht in großen Paketen, sondern sie haben in der Regel
Streubesitz. Ihre Beteiligungen sind niemals größer als
null Komma irgendwas, 1, 2 oder 3 Prozent.

Das wären genau die Fonds, die verkaufen müssten.
Die Sozialdemokraten haben ein Rentenkonzept vorge-
legt, mit dem sie die betriebliche Altersvorsorge aus-
drücklich fördern wollen. Welchen Sinn hat es denn,
wenn ihr den Leuten Zuschüsse zu ihrer betrieblichen
Altersvorsorge geben wollt, aber das Konzept der be-
trieblichen Altersvorsorge mit Streubesitz bei Aktienbe-
teiligungen vorher kaputthaut? Völliger Blödsinn, kann
ich dazu nur sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Benachteiligt würden auch Fondsanlagen steuerbe-
freiter institutioneller Anleger. Sie würden damit Kir-
chen, Stiftungen und bisher steuerbefreite Pensions- und
Unterstützungskassen treffen.

Was auch ganz gefährlich und problematisch wäre:
Wir würden damit unsere Start-up-Finanzierung gewal-
tig beschädigen. Denn in der Regel gibt es bei den Start-
up-Unternehmen keine großen Beteiligungen, sondern
sie leben häufig von vielfältigen Streubeteiligungen und
Kleinstbeteiligungen, weil natürlich keiner sein ganzes
Geld dort investieren will, sondern sich mit ein paar
Euro an einem Start-up beteiligt, um ihm die Chance zu
geben, die ihm beigemessen wird. Diese Finanzierung
von Start-up-Unternehmen in Deutschland, also von Un-
ternehmen, die sich in der Gründungs- und Aufbauphase
befinden, würden wir – das haben sie uns schon mit
Nachdruck transportiert – massiv beschädigen. Ich kann
nur dringend davon abraten, dem Vorschlag des Bundes-
rates näherzutreten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Ungleichbehandlung von ausländischen und in-
ländischen Anteilseignern müssen wir beseitigen – das
ist klar –, aber nicht dadurch, dass wir die Inländerbe-
steuerung verschlechtern, sondern dadurch, dass wir ein
Erstattungssystem einrichten. Ich habe dieses System
eben vorgestellt. Was wir hier vorschlagen, entspricht im
Übrigen dem Modell, das in Österreich bereits Gesetz
ist, das dort schon existiert. Ich halte es für eine gute Re-
gelung, dass unter klaren und eindeutigen Bedingungen
eine Erstattung erfolgt. So sollten wir es hier auch ma-
chen.

Wir müssen immer sehen – ich habe das eben schon
gesagt –: Unser Unternehmensteuerrecht steht im Wett-





Dr. Mathias Middelberg


(A) (C)



(D)(B)


bewerb. Wir leben nicht auf einer Insel, sondern wir le-
ben mit anderen zusammen; da besteht ein Kontext.
Wenn wir das nicht so umsetzen, wie wir es jetzt vor-
schlagen, sondern einen anderen Weg wählen, etwa den,
den der Bundesrat vorschlägt, wird das dazu führen, dass
Steuerausfälle – bei dem von uns vorgeschlagenen Ver-
fahren werden ja Steuerausfälle beklagt – erst recht ein-
treten. Wir würden, wenn wir es so regeln würden, wie
der Bundesrat es vorschlägt, erst recht Steuersubstrat,
also Masse, die wir besteuern können, verlieren. Meh-
rere Unternehmen – ich habe es eben gesagt – würden
dann darüber nachdenken, den Konzernsitz ins Ausland
zu verlegen, den Konzern anders zu strukturieren. Wir
würden dann massive Steuerausfälle haben.

Ich kann nur sagen: Solche Aktionen sind nicht im In-
teresse unseres Steueraufkommens insgesamt. Sie sind
auch nicht im Interesse der beteiligten Arbeitnehmer;
denn solche Sitzverlegungen können irgendwann dazu
führen, dass das ganze Unternehmen Deutschland ver-
lässt. All das möchte ich nicht. Deswegen werbe ich um
Zustimmung zu unserem Gesetzesvorschlag. Vor dem
Weg, den der Bundesrat alternativ vorgeschlagen hat,
kann ich nur dringend warnen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720516000

Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Lothar

Binding das Wort.


Lothar Binding (SPD):
Rede ID: ID1720516100

Sehr verehrte Damen und Herren! Frau Präsidentin!

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Middelberg
hat schon erklärt, warum das ein kompliziertes Thema
ist. Was uns an dieser Stelle besonders ärgert, ist, dass
wir uns die Chance genommen haben, eine gemeinsame
Lösung zu suchen für das Problem, dass wir hier Steuer-
ausfälle zu gewärtigen haben. Sie haben gesagt, es seien
650 Millionen Euro. Das ist schon viel. Aber die Schät-
zungen gehen in noch größere Dimensionen. Solche
Steuerausfälle sind in der Lage, in der wir in Deutsch-
land sind, nicht gut zu verkraften.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Wir haben die höchsten Steuereinnahmen seit Jahren!)


Sie haben gesagt: Wir folgen jetzt dem Modell Öster-
reich. – Okay, es gibt auch noch andere Länder, die das
so ähnlich machen, wie Sie es jetzt regeln wollen. Ich
nenne England, Estland und Ungarn. Aber es gibt auch
Länder, die es eben anders regeln, so, wie die von uns
geführten Bundesländer das vorschlagen. Übrigens, Hes-
sen wollte da ähnlich initiativ werden, aber das ist in
letzter Sekunde gestoppt worden. Jetzt müssen andere
Länder einspringen.

Die Steuerpflicht haben Belgien, Frankreich, die Nie-
derlande und Polen, aber interessanterweise auch die
USA. Das hätte man doch gar nicht vermutet, wenn man
Ihren Argumenten Glauben schenken würde.

Im Moment leiden wir ein bisschen darunter, dass uns
die Flut großer und wichtiger Gesetzesvorhaben sozusa-
gen überrollt. Darunter leidet auch dieses Gesetzge-
bungsvorhaben. Das hat uns nämlich die Zeit genom-
men, über gute Lösungen nachzudenken.

Die Steuerfreistellung beim Streubesitz steht im Fo-
kus Ihrer Gesetzgebungsarbeit und nicht die Gemein-
schaft, nicht der Staat. Wir sagen: Es wäre besser gewe-
sen, eine Lösung zu finden, die den Unternehmen hilft,
ihnen nicht schadet, aber auch dem Staat hilft und ihm
nicht schadet. Der Möglichkeit, diesen Kompromiss zu
suchen, haben Sie uns beraubt. Denn es existieren Alter-
nativen.

Die erste Alternative ist: Wir hätten das, was Sie jetzt
vorschlagen, nämlich einfach alles steuerfrei zu stellen,
schon im Jahressteuergesetz 2013 regeln können.


(Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Das haben wir doch gar nicht getan!)


Die steuerliche Freistellung von Dividenden hat schon
was Besonderes; viele denken über Dividenden gar nicht
nach. Sie hätten sich in Kooperation mit dem Bundesrat
auf eine Gesetzgebung verständigen können, die all die
genannten Probleme löst.

Allerdings haben Sie das nicht gewollt. Ich glaube,
ich weiß, warum Sie es nicht im Jahressteuergesetz re-
geln wollten. Da wäre es nämlich untergegangen. Sie
wollten das ins Schaufenster stellen und zeigen: Seht,
wir helfen euch!

Aber was ist das Ergebnis? Das Ergebnis ist, dass aus-
ländische Körperschaften – es geht nicht um Privatper-
sonen, die sich irgendwo beteiligen – künftig Steuern auf
Dividenden bei deutschen Beteiligungen sparen. Die
Frage ist, ob es wirklich klug ist, eine Dividende, die ei-
nen Gewinn im Rahmen einer Aktienbeteiligung dar-
stellt, steuerfrei zu stellen. Wir glauben, dass das für un-
seren Fiskus schlecht ist. Uns stört, dass Sie uns keine
Alternativen vorgestellt oder untersucht haben und alles,
was denkbar war, verworfen haben.

Worum geht es? Der EuGH – das haben Sie eben vor-
getragen – hat gesagt: Man darf ausländische Beteiligun-
gen an deutschen Unternehmen und inländische Beteili-
gungen an deutschen Unternehmen nicht ungleich
behandeln. Die müssen gleich behandelt werden.

Es gibt zwei Schnelllösungen: Die eine Schnelllösung
ist: Man stellt alles steuerfrei. Das sagen Sie. Das kostet
den Staat viel.


(Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Das stimmt überhaupt nicht!)


Die zweite Schnelllösung ist: Man macht alles steuer-
pflichtig. Das könnten wir jetzt vorschlagen. Dies wäre
in unserem Sinne, es wäre eine gute Lösung.

Doch wäre es die eigentliche Aufgabe gewesen, zu
überlegen, ob es nicht Gründe gibt, für bestimmte Kon-
stellationen Befreiungen zu erwirken. Denn wir wollen
natürlich auch keinen Schaden anrichten. Steuerfreiheit
für alle lässt sich allerdings überhaupt nicht rechtferti-
gen. Denn Streubesitz kann man mit einem Verhältnis





Lothar Binding (Heidelberg)



(A) (C)



(D)(B)


unter fremden Dritten vergleichen. Es gibt überhaupt
keinen Grund, die Dividendenzahlungen steuerfrei zu
stellen.

Sie haben vorhin die Steuerfreistellung bei der
Schachteldividende erwähnt. Das ist ohnehin klar; das
ist schon seit langem so. Dies hat nie Probleme gemacht.
Dafür gibt es einen guten Grund: Für den Fall eines en-
gen Konzernverbunds, wo die Beteiligungsmacht so
groß ist, dass man Einfluss auf seine Tochter, seinen En-
kel, seinen Urenkel ausüben will, könnte eine Ausschüt-
tungskaskade und im Extremfall eine 100-Prozent-Be-
steuerung entstehen. Dies soll vermieden werden.

Es wäre aber auch eine gute Idee gewesen, andere
Länder zu fragen, was sie machen. Nils Schmid, Finanz-
minister in Baden-Württemberg, hat einen guten Vor-
schlag gemacht. Er hat gesagt: Lasst uns gemeinsam
überlegen, wie wir die Probleme, die aus der Besteue-
rung aller entstehen, für bestimmte Beteiligte lösen kön-
nen. Leider ist dieser Ball nicht aufgegriffen worden.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Weil es kein Beitrag zur Steuervereinfachung gewesen wäre!)


– Das wissen Sie ja noch gar nicht. Sie haben ja noch gar
nicht vorgetragen, welche Probleme in anderen Model-
len entstehen würden.

Man müsste sich vielleicht sogar fragen, ob die Steu-
erfreistellung der Schachteldividende in der Weise ge-
rechtfertigt ist, wie wir immer argumentieren. Denn die
Frage ist: Warum gibt es überhaupt diese überkomplexen
Konzernstrukturen? Warum muss ein Konzern neben ei-
ner Tochter einen Enkel, einen Urenkel – bis zu einer
Schachteltiefe von 15 – haben? Warum muss das sein?
Im Regelfall ist die Tochter etwa in Italien, der Enkel in
Andorra, der Urenkel in Liechtenstein. Irgendwann
kommt das Geld steuerfrei und unter einem anderen Na-
men nach Deutschland zurück. Man muss sich überle-
gen, ob das überhaupt Sinn macht.


(Beifall bei der SPD)


Hier geht es um etwas anderes. Hier geht es um Streu-
besitz. Streubesitz sind ganz kleine Beteiligungen. Wenn
ich kleine Beteiligungen habe, bekomme ich wenig Di-
vidende. Bei einer geringen Dividende ist die Steuerlast
klein, das Problem also nicht groß.


(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Es gibt auch eine Fülle von kleinen Beteiligungen!)


– Ja, das stimmt. Das muss man sich überlegen. Ich
wollte nur deutlich machen, dass es nicht um strategi-
sche Beteiligungen geht, sondern um Streubesitzbeteili-
gungen. Unsere Aufgabe wäre es gewesen, steuersyste-
matisch und fiskalpolitisch zu überlegen, was man tut.
Das wäre wichtig gewesen; denn es gibt Steuern, wie in
meinem eben angedachten Vorschlag, die kontraproduk-
tiv arbeiten. Das wollen wir nicht.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Ihr Vorschlag ist kontraproduktiv!)


Auch unsere Wirtschaftspolitiker haben den Finger
gehoben. Wolfgang Tiefensee sagt: Wir müssen aufpas-

sen, dass Wagnisbeteiligungsgesellschaften keine Pro-
bleme bekommen. Denn wir brauchen Innovationen.
Wir brauchen einen ökologischen Umbau der Industrie-
gesellschaft. Wir brauchen auch Existenzgründer. Man-
che sprechen auch von Business Angels, obwohl sie hier
nicht gemeint sind; denn Business Angels zahlen Ein-
kommensteuer und sind von der heutigen Vorlage über-
haupt nicht betroffen. Business Angels sind außerdem
nicht nur Angels, sie machen auch Business und beteili-
gen sich an einem erhöhten Risiko – mit der Erwartung
dann auch höheren Gewinns. Man muss also aufpassen.
Über die Business Angels debattieren wir aber nicht. Die
Gründerszene ist uns jedoch wichtig. Deshalb müssen
wir schauen, ob wir die Wagnisbeteiligungsgesellschaf-
ten nicht anders behandeln sollten als die, die wir an-
sonsten besteuern.


(Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Wie wollt ihr das denn auseinanderhalten?)


– Das wollen wir gar nicht. Die Frage ist, ob wir eine au-
ßersteuerliche Lösung finden. Darüber haben Sie gar
nicht nachgedacht.

Im Umfeld von guter Bildung – gute Arbeit ist Ihnen
eher fremd –, guter Forschung haben die Gründungs-
szene und die Wagniskapitalgeber eine eminent hohe
Bedeutung. Es wäre wichtig gewesen, darüber nachzu-
denken, wie wir das Steuersubstrat in Deutschland erhal-
ten, ohne diese Szene zu schädigen.

Das ist die eigentliche Aufgabe. Haben Sie sich da-
rum gekümmert? Leider Fehlanzeige! Das wäre eine
richtig gute Aufgabe gewesen. Wenn Sie sich übrigens
erinnern: Wir haben das Ganze in der Großen Koalition
schon einmal versucht, nämlich beim MoRaKG, beim
Gesetz zur Modernisierung der Rahmenbedingungen für
Kapitalbeteiligungen.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Versucht? Blockiert haben Sie damals!)


Die Europäische Kommission hat aber gesagt: Vorsicht,
das ist europarechtswidrig. Dann haben wir nach neuen
Lösungen gesucht. Da hätten Sie sich anschließen müs-
sen.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Das Verfahren ist noch anhängig!)


Das haben Sie aber nicht getan. Sie haben einfach ge-
sagt: Wir machen alles steuerfrei. Damit haben Sie zwar
kein Problem gelöst, dafür aber dem Fiskus und dem
deutschen Steuerzahler ein Problem bereitet; denn die
Steuerausfälle der einen sind immer Steuererhöhungen
für die anderen.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Aber nur wenn die SPD das Sagen hat, kommen Steuererhöhungen!)


Wir sprechen uns dagegen aus; denn wir sind für eine
gerechte Besteuerung. Dieser ungerechten Besteue-
rungstaktik werden wir nicht folgen. Ich bin gespannt,
welche Lösungsvorschläge wir in der Debatte noch hö-
ren werden.

Schönen Dank.





Lothar Binding (Heidelberg)



(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720516200

Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Dr. Volker

Wissing das Wort.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Volker Wissing (FDP):
Rede ID: ID1720516300

Herr Kollege Binding, das ist heute die erste Lesung

dieses Gesetzentwurfs. Es ist noch nicht das Ende des
Gesetzgebungsverfahrens, sondern erst der Beginn. Jetzt
müssen Sie mir einmal in der Öffentlichkeit erklären,
weshalb wir Ihnen die Chance genommen haben, sich in
dieses Gesetzgebungsverfahren einzubringen. Das er-
schließt sich mir jedenfalls nicht.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Sie kennen doch Ihre hektischen Verfahren!)


Worum geht es? Der EuGH hat vor einem Jahr festge-
stellt, dass ausländische Kapitalgesellschaften, die mit
weniger als 10 Prozent an einer deutschen Aktiengesell-
schaft beteiligt sind, gegenüber deutschen Kapitalgesell-
schaften mit gleicher Beteiligung benachteiligt werden.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Ein Jahr tatenlos und jetzt große Hektik!)


Es geht um einen Sachverhalt, der aufgearbeitet werden
muss. Es ist wahr, dass das Ganze schon einige Zeit zu-
rückliegt. Es hat eine breite Diskussion unter Steuer- und
Finanzpolitikern auf Landes- und auf Bundesebene ge-
geben. Insofern hat die erste Lesung schon einen gewis-
sen Vorlauf gehabt.

Der Grund für diese Ungleichbehandlung liegt darin,
dass bei reinen Inlandssachverhalten die einbehaltene
Quellensteuer auf Dividenden mit der Körperschafts-
steuerschuld verrechnet werden kann und bei Auslands-
bezug wegen der Versagung der Veranlagung eine Defi-
nitivbelastung in Höhe von 15 Prozent besteht.

Diese Ungleichbehandlung muss jetzt beseitigt wer-
den. Was tut die Koalition? Wir erhalten die Steuerfrei-
heit inländischer Streubesitzdividenden und führen für
Streubesitzdividenden mit Auslandsbezug ein Verfahren
ein, das eine Ungleichbehandlung verhindert, und tragen
damit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichts-
hofs Rechnung.

Dabei orientieren wir uns – Herr Kollege Middelberg
hat es gesagt – an dem Verfahren, das die Österreicher
erfolgreich praktizieren. Deutschland wird demnach die
gezahlte Kapitalertragsteuer erstatten, wenn eine Ver-
rechnung im Anteilseignerstaat nicht möglich ist. Damit
begrenzen wir die zur Erhaltung der inländischen Steuer-
freiheit notwendigen Änderungen bei Sachverhalten mit
Auslandsbezug auf das europarechtlich gebotene Maß.

Ihre Behauptung, dass wir eine unnötig weite Steuer-
befreiung gewähren würden, ist nicht wahr; vielmehr be-
schränken wir die Steuerbefreiung auf das europarecht-
lich notwendige Maß.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das kostet wahrscheinlich 1 Milliarde Euro!)


Ihr Vorschlag war, Steuererhöhungen für Bürger und Un-
ternehmen im Inland umzusetzen. Das wollen wir ver-
meiden, weil wir der Überzeugung sind, dass Steuerer-
höhungen das Letzte sind, was wir im derzeitigen
Konjunkturumfeld verantworten können.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Weil Sie zur Verwirrung der Öffentlichkeit hier be-
hauptet haben, es ginge uns um die Steuerbefreiung der
Großen,


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das habe ich nicht gesagt! Ich habe nicht gesagt: Steuerbefreiung der Großen!)


will ich noch einmal an Folgendes erinnern: Wer hält
denn klassischerweise Dividenden im Streubesitz? Das
sind Kleinanleger, es sind Fonds, Wagniskapitalgeber, es
sind Business Angels und vor allem Versicherungen.

Mit der Einführung der Steuerpflicht für Streubesitz-
dividenden käme es zu Mehrfachbesteuerungen, zu Kas-
kadeneffekten; denn die dividendenzahlende Kapitalge-
sellschaft hat bereits Körperschaftsteuer auf den nun
ausgeschütteten Gewinnanteil entrichtet. Sie wollen die
Beteiligungserträge aus Streubesitz, und zwar Dividen-
den und Veräußerungsgewinne, auch im Inland steuer-
pflichtig machen. Das machen Sie sich ja auf der Basis
des Vorschlags der Länder zu eigen. Damit würden Sie
aber die private und die betriebliche Altersvorsorge vie-
ler Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gefährden.
Genau aus diesem Grund sagen die Koalitionsfraktio-
nen: Diesen Weg halten wir für unverantwortlich und ge-
hen ihn eben nicht.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Sich hier hinzustellen, sich die Vorschläge des Bun-
desrates zu eigen zu machen und gleichzeitig zu behaup-
ten, man wolle gerade für Start-ups die Situation nicht
verschlechtern, ist ein Widerspruch in sich, Herr Kollege
Binding.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Ich habe gesagt, wir müssen darüber nachdenken!)


– Man muss darüber nachdenken, aber es ist immer
wichtig, dass man frühzeitig darüber nachdenkt. Wäh-
rend Sie sagen, man müsste einmal darüber nachdenken,
haben wir bereits darüber nachgedacht und sind zu dem
Ergebnis gekommen, dass man Start-ups unterstützen
und sie nicht behindern soll.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Dann hätten wir ja vor elf Monaten damit anfangen können!)


Deswegen legen wir diesen Gesetzentwurf heute vor.

Ich will daran erinnern: Im Jahr 2009 gab es ein Jah-
ressteuergesetz. In der Debatte über dieses Jahressteuer-
gesetz wurde schon einmal vorgeschlagen, eine Steuer-
pflicht für Beteiligungserträge aus Streubesitz auch für
inländische Sachverhalte zu schaffen. Damals haben





Dr. Volker Wissing


(A) (C)



(D)(B)


CDU/CSU und SPD diesen Vorschlag nicht aufgegrif-
fen. Heute wollen Sie von der SPD das Gegenteil von
dem tun, was Sie damals getan haben.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: So stimmt es ja nicht! Sie erzählen manchmal auch Unsinn! Das ist wirklich erschreckend!)


Das haben wir heute Morgen beim Betreuungsgeld
schon einmal erlebt: Die Dinge, die Sie damals für rich-
tig gehalten haben, halten Sie heute plötzlich für ganz
falsch. Ich kann Ihnen versichern: Wir sind nach wie vor
der Meinung, dass eine Steuerpflicht für inländische
Streubesitzdividenden wegen der Kaskadeneffekte auf
die Altersversorgung in Deutschland nicht zumutbar ist.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Warum ist denn eine Kaskade beim Streubesitz nötig? Das ist überhaupt nicht nötig!)


Wir sagen deswegen ganz klar: Die Erhaltung der
Steuerfreiheit für inländische Streubesitzdividenden ist
der richtige Weg. Wir legen einen Gesetzentwurf vor
und werden jetzt in die weitere Beratung gehen. Sie kön-
nen sich da gerne mit einbringen. Wir werden eine An-
hörung durchführen. Sie können auch eigene Vorschläge
machen. Aber uns die Dinge, die Sie schon damals für
falsch gehalten haben,


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das stimmt doch gar nicht! Nein! Sie machen den Staat ärmer mit diesem Gesetz!)


heute mit inbrünstiger Überzeugung vorzutragen, über-
zeugt uns nicht. Deswegen schlage ich vor: Wenn Sie es
mit der Verschonung von Business Angels und Start-ups
ernst meinen, dann schließen Sie sich diesem Gesetzent-
wurf an. Dann haben wir eine gute Lösung für unser
Land.

Ich bin überzeugt, dass diese Form der Steuerpolitik
im Sinne einer nachhaltigen Haushaltspolitik ist: Es ist
der richtige Weg, nicht nur fiskalisch zu denken, sondern
auch an die Unternehmen, die hier etwas aufbauen und
erreichen wollen. Es ist der richtige Weg, um Investitio-
nen nicht aus unserem Land zu vertreiben, sondern sie
anzuziehen und so die Attraktivität des Standorts zu er-
halten.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das ist Wagniskapital!)


Wir haben in den vergangenen Jahren gezeigt, dass so-
lide Haushalte ohne Steuererhöhungen möglich sind.
Deswegen sollten Sie sich diesem Vorschlag anschlie-
ßen. Es ist der richtige Weg, gerade auch in der laufen-
den Krise.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Es kostet den Staat 1 Milliarde!)


Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720516400

Die Rede der Kollegin Dr. Barbara Höll nehmen wir

zu Protokoll.1)

Nun hat der Kollege Dr. Thomas Gambke für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Vorfeld
dieser Plenardebatte gab es die Frage, warum wir denn
diese Debatte nicht zu Protokoll nehmen. Es ist schon
ein bisschen anders, als es Herr Kollege Middelberg ge-
sagt hat. Er sprach von 650 Millionen Euro; das war ein
Verkäuferargument. Da hat sich etwas angestaut, Herr
Middelberg: Wir reden hier nach Angaben des Bundes-
finanzministers über eine Summe von 3 Milliarden Euro
in den nächsten beiden Jahren. Deswegen wollen wir die
Debatte nicht einfach so zu Protokoll nehmen. Alle Welt
redet von der Haushaltskonsolidierung.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Das machen Sie! – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/ CSU]: Sie reden, und wir handeln!)


Da wollen wir nicht, dass eine Debatte über 3 Milliarden
Euro einfach so, en passant, durch den Deutschen Bun-
destag geht, auch nicht in der ersten Lesung.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Sie haben gesagt, worum es geht: Es geht um die
Steuerfreiheit von Streubesitzdividenden. In der Tat: Der
Gesetzgeber wollte mit der vorliegenden Regelung die
sogenannte Kaskadenbesteuerung auf der Ebene des An-
teilseigners und dann im Unternehmen verhindern; er
wollte sie vermeiden. Diese Steuerfreiheit gilt nicht für
Gesellschaften, bei denen der Anteilseigner im Ausland
ansässig ist. Diese Ungleichbehandlung hat der EuGH,
der Europäische Gerichtshof, für nicht zulässig erklärt.
So weit, so gut.

Ich denke, wir sollten uns Kriterien überlegen. Aus
grüner Sicht sind das folgende:

Erstens. Wir dürfen nicht zulassen, dass es zu Steuer-
mindereinnahmen kommt.

Zweitens. Wir wollen, dass ausländische Gesellschaf-
ten nicht benachteiligt werden; aber sie dürfen auch
nicht bessergestellt werden als deutsche Unternehmen.


(Beifall der Abg. Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Lothar Binding [Heidelberg] [SPD])


Drittens. Wir müssen aufpassen, dass über eine solche
Regelung keine Möglichkeiten zur Steuergestaltung über
das Ausland geschaffen werden, wodurch das Steuerauf-
kommen sinken würde.

Der Bundesrat schlägt vor, die Steuerfreiheit von
Streubesitzdividenden aufzuheben. In der Tat würde das
zu einer Kaskadenbesteuerung führen, die wir kritisch
sehen. Wir sehen auch kritisch, dass es zumindest ohne
weitere Anpassungen negative Auswirkungen auf die
Finanzierung junger Unternehmen hätte.


(Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Das ist 1)






Dr. Thomas Gambke


(A) (C)



(D)(B)


Keine Frage; denn bei diesen geringen Beteiligungen ist
es in der Tat typisch, dass Investoren ihre Investments
ganz bewusst streuen, um damit das höhere Risiko aus-
zugleichen. Wenn wir den Streubesitz besteuern, dann
wird die Finanzierung zumindest ohne weitere Anpas-
sungsmaßnahmen erschwert. Das ist genau das Gegen-
teil von dem, was wir wollen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das hat auch die Regierung verstanden, aber sie geht
ins andere Extrem. Sie will auch ausländischen Streube-
sitz steuerfrei stellen. Das führt aber zu erheblichen Ein-
nahmeausfällen – ich sage es noch einmal –, kumuliert
in den nächsten beiden Jahren in Höhe von 3 Milliarden.
Wir stellen damit die ausländischen Unternehmen besser
als inländische, weil sie keine Gewerbesteuer zahlen.
Wir würden also neben den erheblichen Einnahmeaus-
fällen auch einen deutlichen Anreiz zur Steuergestaltung
bieten. Das können wir nicht zulassen. Wir wollen keine
weiteren Anreize für Steuergestaltung schaffen.

Ich plädiere dafür, einen dritten Vorschlag zu prüfen,
nämlich die Schaffung einer Veranlagungsoption für
ausländische Gesellschaften in Deutschland. Schon bei
anderen Verstößen gegen die Grundfreiheiten des Bin-
nenmarktes hat Deutschland Regelungen getroffen, die
es dem Ausländer erlauben, sich wie ein Inländer voll
besteuern zu lassen, zum Beispiel im Erbschaftsteuer-
recht. Wir schlagen eine analoge Regelung vor, die aus
unserer Sicht auch bei der Dividendenbesteuerung mög-
lich wäre. In Deutschland würden die ausländischen Ge-
sellschaften bei der Ausschüttung ihrer Dividenden wie
Inländer zur Körperschaftsteuer und zur Gewerbesteuer
veranlagt. Damit würde in Deutschland für Inländer wie
für Ausländer die gleiche Steuerlast gelten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Das ist im Ausland auch so?)


So eben mal am Freitagnachmittag 3 Milliarden Euro
Einnahmeverluste durchwinken, das können wir nicht
tun, auch nicht in erster Beratung, Herr Wissing.

Wir wollen erstens die innovativen Unternehmen in
Deutschland stärken und nicht schwächen. Wir wollen
zweitens Steuerumgehungen vermeiden. Wir wollen
Deutschland nicht zu einer Steueroase machen. Das sind
die Randbedingungen, die wir beachten müssen. Lassen
Sie uns an solchen Lösungen arbeiten, aber nicht mit der
jetzt vorgeschlagenen Lösung durchs Ziel gehen. Das
darf nicht das Ergebnis sein.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720516500

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/11314 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Dienstag, den 20. November 2012, 10 Uhr,
ein.

Die Sitzung ist geschlossen.