Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichbegrüße Sie herzlich zur 205. Sitzung des DeutschenBundestages.Dass der 9. November, an dem diese Sitzung stattfin-det, nicht irgendein Kalendertag ist, muss ich in diesemGremium nicht erläutern. Es ist der prominenteste Tag inder deutschen Geschichte. Um kein anderes Datumgruppieren sich Glanz und Elend der deutschen Ge-schichte in einer auch nur vergleichbaren Weise. Demwurde und wird in verschiedenen Veranstaltungen ges-tern und heute überall im Lande gedacht. Wir sollten vorEintritt in die Tagesordnung zumindest das Bewusstseindieser Bedeutung gemeinsam zu Protokoll nehmen.
Ich möchte Sie gerne darauf hinweisen, dass sich derÄltestenrat in seiner gestrigen Sitzung darauf verständigthat, während der Haushaltsberatungen, die in unserernächsten Sitzungswoche ab dem 20. November stattfin-den, wie üblich keine Befragung der Bundesregierung,keine Fragestunde und auch keine Aktuellen Stundendurchzuführen. Als Präsenztage sind die Tage vonMontag, dem 19. November, bis Freitag, dem 23. No-vember 2012, festgelegt worden. Dazu kann ich sicherIhr Einvernehmen feststellen. – Das ist offenkundig derFall. Dann können wir so verfahren.Ich rufe nun die Zusatzpunkte 9 a bis 9 c unserer Ta-gesordnung auf:ZP 9 a) – Zweite und dritte Beratung des von den Frak-tionen der CDU/CSU und FDP eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Einführung einesBetreuungsgeldes
– Drucksache 17/9917 –Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Familie, Senioren, Frauen und Ju-gend
– Drucksache 17/11404 –Berichterstattung:Abgeordnete Dorothee BärCaren MarksFlorian BernschneiderDiana GolzeEkin Deligöz
– Drucksache 17/11405 –Berichterstattung:Abgeordnete Andreas MattfeldtRolf SchwanitzDr. Florian ToncarSteffen BockhahnSven-Christian Kindlerb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Familie, Senioren,Frauen und Jugend
– zu dem Antrag der Abgeordneten CarenMarks, Petra Crone, Petra Ernstberger, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der SPDKita-Ausbau statt Betreuungsgeld– zu dem Antrag der Abgeordneten DianaGolze, Agnes Alpers, Matthias W. Birkwald,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEBetreuungsgeld nicht einführen – Öffentli-che Kinderbetreuung ausbauen– zu dem Antrag der Abgeordneten KatjaDörner, Sven-Christian Kindler, Ekin Deligöz,weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKein Betreuungsgeld einführen – Kinderund Familien durch den Ausbau der Kin-dertagesbetreuung fördern– Drucksachen 17/9572, 17/9582, 17/9165,17/11404 –
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24990 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Berichterstattung:Abgeordnete Dorothee BärCaren MarksFlorian BernschneiderDiana GolzeEkin Deligözc) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-setzes zur Ergänzung des Betreuungsgeldge-setzes
– Drucksache 17/11315 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GOÜber den Entwurf eines Gesetzes zur Einführung ei-nes Betreuungsgeldes werden wir später namentlich ab-stimmen.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Auch hierzuhöre ich keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächstdie Kollegin Dorothee Bär für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich freue michsehr, dass wir heute abschließend – da bin ich mir sicher –über dieses Thema hier im Plenum des Deutschen Bun-destages diskutieren.
Ich setze auf die Vernunft aller Anwesenden.
Es gibt ja kaum ein Thema, über das so intensiv undleidenschaftlich diskutiert wurde, nicht nur über Wochenund Monate, sondern sogar über Jahre. Für und Widerwurden auf allen Seiten wirklich sehr abgewägt, nichtnur zwischen den verschiedenen Parteien, sondern bei-spielsweise auch sehr stark in unseren beiden Parteien.Daher freue ich mich, dass am vergangenen Sonntag derWeg für die Wahlfreiheit in unserem Land frei gemachtwurde.
– Frau Roth, ich weiß nicht, was Sie gegen Wahlfreiheithaben.
Ich erkläre Ihnen noch einmal, wie wir uns das vor-stellen; denn wir haben unseren ohnehin guten Gesetz-entwurf im parlamentarischen Verfahren noch einmalverbessert. Wir haben jetzt zum Beispiel klargestellt,dass der Besuch von Eltern-Kind-Gruppen, von PEKiP-Gruppen usw. nicht zum Ausschluss vom Bezug des Be-treuungsgeldes führt. Wir haben unsere Härtefallklauselnoch etwas verbessert. Wenn es zum Beispiel bei Krank-heit, bei Tod oder bei Schwerbehinderung der Elternnicht möglich ist, die Kinder selbst zu betreuen, führenbis zu 20 Wochenstunden öffentlich geförderte Betreu-ung im Durchschnitt des Monats nicht zum Ausschlussvom Bezug des Betreuungsgeldes.Wir sprechen in diesem Zusammenhang auch überdas Betreuungsgeldergänzungsgesetz. Dieses Gesetzbringt Alternativen zu einer Barauszahlung. Das ist einwichtiger Schritt, der es Ihnen eigentlich leichter ma-chen müsste, zuzustimmen. Das Betreuungsgeld sollteeigentlich mit einer ganz breiten Mehrheit des ganzenHauses verabschiedet werden können.
Wenn sich die Eltern dafür entscheiden, das Betreuungs-geld in eine zusätzliche private Altersvorsorge zu ste-cken oder es zum Bildungssparen zu verwenden, erhal-ten sie einen zusätzlichen Bonus von 15 Euro. Nun kannauch ein Bildungskonto eingerichtet werden. Das ist einPunkt, wo ich sage: Da müssten Sie springen können.
– Herr Trittin, Frau Roth, nicht diejenigen, die am lautes-ten schreien, werden am Ende recht behalten.
Warum wird über dieses Thema eigentlich so wahn-sinnig emotional diskutiert?
Warum wird über Familienpolitik so emotional disku-tiert? Weil – das habe ich im Vorgespräch mit meinerKollegin Deligöz leider Gottes wieder feststellen müssen –oft gemeint wird, dass überhaupt nur auf der Grundlagedes eigenen Modells diskutiert werden könne. Das findeich nicht redlich. Wir müssen doch für die gesamte Be-völkerung sprechen.
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Dorothee Bär
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Wir können doch nicht nur diejenigen im Blick haben,die berufstätig sind. Wir müssen auch an die denken, dieihre Erwerbsbiografie zugunsten ihrer Kinder zeitweiseunterbrechen wollen. Wenn jemand ein anderes Lebens-modell vorzieht, muss ihm das doch unbenommen sein.Sagen Sie doch nicht immer, dass das Betreuungsgeldden Müttern schade.
Warum wird gerade von Ihrer Seite aus so wenig überdie Väter in diesem Lande gesprochen? Mir ist es wich-tig, dass es in dieser Diskussion auch um die Väter geht,dass die Väter auch Verantwortung übernehmen.
Man sieht an dem Streit über das Betreuungsgeldganz deutlich, dass es bei weitem nicht nur darum geht,ob der Staat – neben den Mitteln, die er für den Ausbauund den Betrieb von Kinderkrippen und Kindertages-pflege bereitstellt – auch diejenigen, die eine andere Be-treuungsmöglichkeit wählen, die ihre Kinder selbst be-treuen oder die Betreuung privat organisieren, finanziellunterstützen soll.An dieser Stelle möchte ich auch einmal an die Groß-eltern erinnern, die in diesem Land einen wertvollenBeitrag zur Kinderbetreuung leisten. Ein herzliches Dan-keschön dafür! Warum haben wir denn mit der letztenRegierung Mehrgenerationenhäuser eingeführt? Dochwohl nicht, weil Mehrgenerationenhäuser schlecht fürKinder oder für Ältere wären.
Ganz im Gegenteil: weil von Mehrgenerationenhäusernalle Generationen profitieren.
Wenn es Ihnen nicht vorrangig um Geld geht,
worum dann? Wollen Sie wieder die Lufthoheit über dieKinderbetten erringen?
– Ich weiß, dass die Wahrheit wehtut. – Warum wird soerbittert über verschiedene Familienmodelle gestritten?Ich finde es erschreckend, dass Sie wollen, dass sich derStaat so wahnsinnig in die Familien einmischen kann.
Warum vertrauen Sie den Eltern in unserem Land so we-nig?
Mich stört massiv, dass alle Kinder über einen Kammgeschoren werden sollen. Für das eine Kind ist es viel-leicht kein Problem, wenn es mit zwölf oder 18 Monatenfür einige Stunden in eine Krippe kommt. Ein anderesKind, das schon drei Jahre alt ist, kann sich damitschwertun. Kinder sind eben unterschiedlich. Es gibtnicht die beste Betreuungsmöglichkeit an sich. Sie glau-ben pauschal, eine institutionelle Förderung sei einer pri-vaten Förderung der Kinder vorzuziehen. Das sehen wirnicht so.Sie verweisen auf die Meinung einiger Verfassungs-rechtler. Wir können Ihnen Verfassungsrechtler nennen,die anderer Meinung sind. Sie führen die Aussagen eini-ger Verbandsvertreter an. Wir können andere anführen.Sie kommen mit der Einschätzung von Psychologen.Wir können auf andere Psychologen verweisen. Ob Be-fürworter oder Gegner, jeder kann Experten aufbieten,die seiner Meinung sind. Das ist ein Pattspiel.
Ich bin der Meinung, dass andere Experten maßgeb-lich sind: Das sind die Eltern.
Wir bekommen Schreiben, in denen sich Eltern bei unsdafür bedanken, dass wir uns für sie einsetzen. Ich darf,Herr Präsident, aus der FAZ vom Mittwoch zitieren:Die Mehrheit der Familien mit kleinen Kindernprofitiert von der Hartnäckigkeit der CSU.
Das ist wahr, und wir können stolz darauf sein, dass wiruns an dieser Stelle nicht haben beirren lassen.Ich finde es ja positiv, dass so leidenschaftlich disku-tiert wird. Ich finde es auch positiv, dass Herr Steinbrückheute sagt: Mir ist das Thema so wichtig, da gehe ich alsFamilienpolitiker der SPD in die Bütt. – Ganz hervorra-gend, dass Sie sich auch dieser intensiven Diskussionanschließen!
Ich freue mich auch, Ihnen einmal bei einer Rede zuhö-ren zu dürfen.
Wir haben hier einen ganz großen Erfolg, den wir heutehoffentlich feiern können.Damit Sie das klar wissen und weil ich auch nichtmöchte, dass die verschiedenen Modelle gegeneinanderausgespielt werden, möchte ich deutlich sagen: Wir, diewir für das Betreuungsgeld sind, sind selbstverständlichauch für den Ausbau der Krippen in diesem Lande.
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Dorothee Bär
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– Ja, selbstverständlich, und da darf nicht nur ein kleines„Oh“ zugerufen werden. Wir als Bund – unsere Regie-rung – haben nämlich gesagt: Uns ist das Thema sowichtig, dass wir uns bei den Ländern und Kommuneneinmischen. Wir stellen Geld zur Verfügung, obwohl wirnicht zuständig sind.
Es fällt einem Finanzminister ja auch nicht ganz leicht,zu sagen: Ich gebe den Ländern und Kommunen dasGeld, weil uns diese Betreuung wichtig ist.
Wir sind also selbstverständlich dafür.Wir haben auch den Rechtsanspruch auf einen Be-treuungsplatz eingeführt.
Das ist doch ein ganz wunderbares Gesamtpaket! Aufder einen Seite sagen wir: Wir bauen neue Krippen, undwir bauen die vorhandenen aus. Außerdem geben wirden Ländern ständig mehr Geld. – Das sind ja keine Pea-nuts. Wir reden hier über knapp 5 Milliarden Euro, diewir den Ländern zur Verfügung stellen. Auf der anderenSeite tun wir natürlich auch etwas in Bezug auf die lau-fenden Kosten und für den Rechtsanspruch. Hier bin ichunserer Familienministerin dankbar, dass sie immer wie-der gesagt hat: Am Rechtsanspruch wird nicht gerüttelt. –Nein, das wird es natürlich nicht.
– Herr Trittin, ich weiß, warum Sie hysterisch lachen.
Die Ersten, die gegen einen Rechtsanspruch geschrienhaben, waren Ihr Kollege Herr Palmer und der Herr Udevon der SPD, weil sie als Kommunalpolitiker es ebennicht als so wichtig ansehen bzw. sagen: Das können wirden Kommunen nicht antun.
Es ist kein Geheimnis – auch für einen Herrn Ude inBayern nicht –, dass nach dem 31. Juli 2013 der 1. Au-gust 2013 kommt. Also muss er auch wissen, dass er bisdahin für München seine Hausaufgaben zu machen hat.Im Rest Bayerns funktioniert das übrigens gut.
Schauen Sie sich die neueste DJI-Studie an. Es istdoch spannend, zu sehen, dass es den geringsten Fehlbe-darf an Betreuungsplätzen in Bayern gibt. Bis zum1. August 2013 werden wir sogar 40 Prozent geschaffenhaben.
Nordrhein-Westfalen steht sehr schlecht da; das istauch spannend. Noch spannender ist es aber bei Ihrer Fa-milienpolitikerin aus Mecklenburg-Vorpommern, die siebis heute dauernd wie eine Monstranz vor sich hertra-gen. Mecklenburg-Vorpommern steht von allen ostdeut-schen Bundesländern am schlechtesten da. Auch hiermüssen Sie sich also einmal an die eigene Nase fassen.Die Ministerin vor Ort bekommt das nicht auf den Weg.Wir müssen jetzt nicht mit weiteren tausend Zahlenum uns schmeißen. Die Argumente wurden sieben Jahrelang ausgetauscht. Ich möchte Ihnen aber trotzdem nochsagen, warum das heute für mich ein wichtiges Anliegenist:Ich möchte nicht in einem Land leben, in dem wir alsPolitiker sowie die Arbeitgeberverbände, die Wissen-schaftler oder auch die Verfassungsrechtler alleine da-rüber entscheiden dürfen, was gut für die Kinder in unse-rem Land ist.
Ich will auch nicht in einem Land leben, in dem ElternAngst haben, Kinder in die Welt zu setzen, weil sie be-fürchten, dass man ihnen nichts zutraut, weil Elternfüh-rerscheine gemacht werden müssen und der Staat die Er-ziehung übernehmen möchte.
Wir wollen den Eltern Mut machen. Sie müssen sichnicht dafür rechtfertigen, welches Modell für sie richtigoder falsch ist. Das richtige Modell ist immer das – dasist der Idealfall –, dass sich Vater und Mutter einig sind.Das ist dann auch das Beste für die Kinder.Stimmen Sie heute also bitte pro Mündigkeit und proWahlfreiheit, also pro Betreuungsgeld.Vielen Dank.
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Peer
Steinbrück.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heute soll mit
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Peer Steinbrück
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der Einführung des Betreuungsgeldgesetzes ein Gesetzverabschiedet werden, für das groteskerweise gilt: We-der will es ein nennenswerter Teil der Regierungskoali-tion noch gibt es eine breite gesellschaftliche Mehrheitin unserem Land für dieses Gesetz.
Auf Ersteres lässt die kuriose, um nicht zu sagen ab-surde Geschichte des Betreuungsgeldgesetzes in IhrenReihen schließen; denn es ist in dieser Legislaturperiodevon Ihrer Koalition nicht weniger als viermal beschlos-sen worden. Das Betreuungsgeldgesetz ist hier im Deut-schen Bundestag am 15. Juni nicht zur Abstimmung ge-bracht worden, weil Sie nicht wussten, wie vieleMitglieder Ihrer eigenen Regierungskoalition zustimmenwürden.
Und Sie haben noch im Oktober dieses Jahres eine Neu-ansetzung vermieden, weil sonst diese Konflikte öffent-lich aufgebrochen wären. Nun soll es heute mit einemHöchstmaß an Disziplinierung, auch an Selbstverleug-nung, insbesondere in den Reihen der FDP, durchge-drückt werden
mit einer Inkraftsetzung zum 1. August 2013, will sagen:wenige Wochen vor einer Bundestagswahl, was durch-aus als Ausdruck besonderer Selbstgefälligkeit undIgnoranz bewertet werden darf.
Überall dort, wo ich hinkomme und wo ich die Mög-lichkeit habe, Gespräche zu führen mit alleinerziehendenFrauen, etwa gestern hier in Berlin, mit Erzieherinnen ineiner Kindertagesstätte in meinem Wahlkreis
– ja, führen Sie die nicht;
empfinden Sie das als etwas Besonderes? –, mit Arbeit-gebern – übrigens, das Interview von Herrn Hundt in derWelt spricht Bände zu diesem Thema –,
mit Sozialarbeiterinnen, mit Lehrerinnen oder Lehrern,auch mit jungen Eltern, insbesondere mit alleinerziehen-den Frauen, gibt es ein übereinstimmendes Urteil überdieses Betreuungsgeld: Dieses Betreuungsgeld ist einegrundfalsche Weichenstellung. Um es deutlicher zu sa-gen: Es ist schwachsinnig.
Diese Bewertung entspricht keineswegs einer Verall-gemeinerung individueller Momentaufnahmen; denn wirwissen aus Umfragen, dass mehr als 75 Prozent der deut-schen Bevölkerung das genauso sehen. Wir wissen ins-besondere, dass die Wählerinnen und Wähler ihrer eige-nen Koalition dieses Betreuungsgeldgesetz zu mehr als60 Prozent ebenfalls für absurd halten.Der Fortschritt unserer Gesellschaft bemisst sichmaßgeblich daran, meine Damen und Herren, wie zu-künftig Männer und Frauen miteinander leben und arbei-ten, insbesondere auch daran, ob Frauen ein größeresSelbstbestimmungsrecht darüber bekommen, eine ei-gene Berufsbiografie zu schreiben.
Deshalb ist das, was Sie mit diesem Betreuungsgeldmachen, eine Katastrophe dahin gehend, dass es eine ge-sellschaftliche Rückwärtsgewandtheit ausdrückt, die mitunseren Vorstellungen über eine moderne und aufge-klärte Gesellschaft nichts zu tun hat.
Sie verfestigen überholte Rollenbilder. Wir sagen,dieses Betreuungsgeld wird dazu führen, dass wenigerFrauen eine eigene berufliche Biografie schreiben unddass weniger Kinder einen chancengerechten Zugangauf Bildung bekommen. Das wird das Ergebnis diesesBetreuungsgeldes sein.
Dieses Betreuungsgeld wird Deutschland deshalb un-gerechter machen und in ein überholtes Gesellschafts-bild einsperren. Es stellt für unser Land einen fatalenRückschritt dar. Auf der ganzen Wegstrecke ist der Ko-alition und der Bundesregierung nicht nur von der SPDund von den Grünen deutlich gemacht worden, dass die-ses Betreuungsgeld falsch ist. Die Protagonisten, die sichdazu geäußert haben, sind beeindruckend: Gewerkschaf-ten, Arbeitgeber, Migrantenverbände, die DIHK, jüngstder Vorsitzende des Sachverständigenrates und, HerrKauder, auch die Europäische Kommission. Sie haben ineiner vergangenen Bundestagsdebatte versucht, uns dasGegenteil einzureden.
Alle diese Vertreter stimmen in dem Urteil überein, dassdieses Betreuungsgeld eine sträflich falsche Weichen-stellung ist.Es ist absurd: Eltern sollen eine finanzielle Leistungdafür bekommen, dass sie öffentliche Einrichtungennicht in Anspruch nehmen werden. Das einzige Argu-ment, das Ihnen verbleibt, hat Frau Bär gerade genannt;das ist der Vorwurf, es gehe darum, die Eltern zu diskre-ditieren. Nein, es geht nicht darum, irgendwelche Elternzu diskreditieren, die ihre Kinder zu Hause erziehenwollen, sondern es geht darum, denjenigen zu helfen,insbesondere alleinerziehenden Frauen, die eine Berufs-perspektive eröffnet haben wollen.
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Peer Steinbrück
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Es geht insbesondere darum, den Kindern aus eherschwächeren sozialen Schichten einen Zugang zur Bil-dung zu ermöglichen, sodass sie anschließend ein selbst-verantwortliches Leben führen können.
Neue individuelle Transfers, verehrte Kolleginnenund Kollegen von der FDP, sollen gezahlt werden, übri-gens zulasten des Bundeshaushaltes, um ein überholtesGesellschaftsbild zu verfestigen, weil es eine Regional-partei aus Bayern unbedingt als ihr Hobby ansieht, einsolches Gesetz durchzudrücken.
Da muss sich doch eigentlich bei der FDP der politi-sche Magen umdrehen. Welches Ausmaß an Selbstver-leugnung müssen Sie erreicht haben, um dafür zwarnicht die Hand zu reichen, aber die Hand zu heben? Nurmühsam haben wir gemeinsam in diesem Haus den Er-kenntnisfortschritt vollzogen, dass sich Frauen ebennicht mehr zwischen Kind und Beruf, zwischen Kindund Karriere entscheiden müssen. Hinter diesen Kon-sens, der auch in der Großen Koalition schon verbreitetwar, fällt die Logik dieses Betreuungsgeldgesetzes umLichtjahre zurück.
Steuergeld soll auch in der aktuellen Lage des öffent-lichen Haushalts unter Absingen der Lieder der Konso-lidierung eingesetzt werden, damit Frauen eine Berufs-tätigkeit zurückstellen und stattdessen in einerfamilienpolitischen Idylle gefangen gehalten werden,
die den gesellschaftlichen Realitäten, den vielfältigenBiografien und die insbesondere auch der teilweisenackten materiellen Not von Frauen, die einen Beruf be-nötigen, nicht entspricht.
Erstens. Das Betreuungsgeld ist aus fiskalischenGründen falsch. Es ist finanzpolitischer Unfug, und Siewissen das. Es kostet in einer Zeit, in der die Bundesre-gierung mit erhobenem Zeigefinger durch Europa läuftund andere zur Haushaltskonsolidierung anhält, bis zu2 Milliarden Euro, und die Gegenfinanzierung von Ihnenfehlt. Oder plündern Sie die KfW oder den Gesundheits-fonds weiter aus? Wie soll das finanziert werden?Mich würde Ihre Reaktion sehr interessieren, sollteetwa ein mediterranes Land, zum Beispiel Griechenland,eine Prämie dafür beschließen, dass Frauen besser da-heimbleiben sollen, statt sich berufliche Chancen zu er-öffnen.
Die Stimmen aus Ihren Reihen, die dann kommen wür-den, sind mir sehr präsent.Zweitens. Das Betreuungsgeld ist aus bildungspoliti-schen Gründen falsch. Ich zitiere: Das Betreuungsgeldist bildungspolitisch eine Katastrophe.
– Das sagte Frau von der Leyen.
Sie sind ja ein Weltmeister im Eigentorschießen.
Ich kann nur sagen: Wo Frau von der Leyen recht hat,hat sie recht.
Vor allem für Frauen oder Familien mit niedrigen undmittleren Einkommen schafft das Betreuungsgeld einenfinanziellen Anreiz, den Kitaplatz gegen eine Geldleis-tung einzutauschen. Dabei ist längst erwiesen, dass ge-rade für Kinder aus sozial benachteiligten, aus eher bil-dungsfernen Schichten, eine möglichst frühe Förderungund soziale Integration besonders wichtig wären.
Das sagt Ihnen nicht ein SPD-Politiker, sondern dassagen Ihnen alle fachlich-pädagogisch versierten undaufgeklärten Menschen in dieser Republik. Gerade Kin-der aus sozial schwachen Familien verpassen damit einehochwertige Betreuung und Erziehung in Krippen, diesie brauchen, um anschließend die Fähigkeiten zu entwi-ckeln, die ihnen eine Teilhabe an unserem Leben ermög-lichen.
Sie schaffen damit auch Ausgaben, obwohl diesesGeld besser in die Erstellung einer weiteren Betreuungs-infrastruktur investiert wäre, und zwar vor dem Hinter-grund, dass nach wie vor mehr als 220 000 Kitaplätzefehlen. Ich meine mit diesem Geld nicht nur den mate-riellen Ausbau dieser Betreuungsinfrastruktur, sondernich glaube, dass mit diesem Geld insbesondere auch dieLöhne und Gehälter und auch die Qualifizierung derjeni-gen verbessert werden sollten, die sich um die Kinder,den Nachwuchs dieser Republik kümmern.
Drittens. Dieses Betreuungsgeld ist auch aus arbeits-marktpolitischen Gründen falsch, was Sie wissen. DasBetreuungsgeld hält Frauen vom Arbeitsmarkt fern. Es
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schafft einen Anreiz für Frauen, länger aus dem Berufauszusteigen, mit der Folge, dass ihre Rückkehrmöglich-keiten beschränkt werden.
Auch die Wiederkehr in Jobs oder Beschäftigungen, dieihren ursprünglichen Qualifikationen entsprechen, wirdimmer schwieriger.Dabei wissen Sie, meine Damen und Herren von derKoalition – nicht von mir, nicht von der SPD, nicht vonder Abteilung Agitation und Propaganda, sondern vonder Bundesagentur für Arbeit –, dass diese Republik bis2025 ungefähr 5 Millionen bis 6 Millionen Beschäftigteverliert. Das heißt, das Erwerbspersonenpotenzial gehtdeutlich nach unten. Wir können uns gemeinsam dieFrage stellen: Was heißt das für die Wirtschaftskraft, dieInnovationsfähigkeit und die Neugier in Wirtschaft undGesellschaft? Es gibt zwei Möglichkeiten, diesem Trendentgegenzuwirken. Das eine ist eine Einwanderungspoli-tik. Das andere ist, die Erwerbstätigkeit von Frauen inder Bundesrepublik Deutschland auf das Niveau skandi-navischer Gesellschaften zu erhöhen.
Das gelingt wesentlich mit zwei Maßnahmen, nämlichdem Ausbau von Betreuungsplätzen und der gleichenBezahlung von Frauen und Männern für die gleiche Tä-tigkeit.
Das Betreuungsgeld wird einen sträflichen Trend fort-setzen, der in Deutschland besonders skandalös ist, näm-lich die weitere Spreizung der Löhne und Gehälter vonMännern und Frauen. Es ist erstaunlich, wie nachlässigSie mit diesem Problem umgehen.
Sie wissen genauso gut wie ich, dass ausweislich derOECD Frauen in Deutschland im Durchschnitt um bis zu23 Prozent schlechter bezahlt werden als Männer. Dassollte Sie genauso beschäftigen wie uns.
Viertens. Das Betreuungsgeld ist aus gesellschaftspo-litischen Gründen falsch. „Das Betreuungsgeld passtnicht in die Zeit“, sagt Herr Döring von der FDP.
Damit sind wir bei dem springenden Punkt, den er aus-nahmsweise zu Recht erfasst hat. Dieses Betreuungs-geld, diese Fernhalteprämie für Frauen im Hinblick aufdas Arbeitsleben und eine gesellschaftliche Teilhabe,entspricht einer gesellschaftspolitischen Vorstellungs-welt, die eher in die Biedermeieridylle passt als in das21. Jahrhundert.
Vater am Arbeitsplatz, Mutter an Heim und Herd – dasist die traditionelle Rollenverteilung, die sich mit dieserGesetzesinitiative verbindet.Die Koalitionsfraktionen vergewissern sich gegensei-tig, sich an den gültigen Koalitionsvertrag zu halten. DieFDP sei vertragstreu, sagen Sie, Herr Brüderle. Sie istvertragstreu, Herr Brüderle, obwohl die stellvertretendeParteivorsitzende der FDP, Justizministerin FrauLeutheusser-Schnarrenberger, sogar erhebliche verfas-sungsrechtliche Bedenken gegen das Betreuungsgeld ge-äußert hat – ich zitiere –:Die Frage wird sein, ob Grundsätze der Gleichbe-handlung verletzt werden. Man muss damit rech-nen, dass Gegner des Betreuungsgeldes vor dasBundesverfassungsgericht ziehen. Die Bundesre-gierung sollte nicht riskieren, in Karlsruhe zu schei-tern.
Welche Rolle hat diese Einschätzung in Ihren Beratun-gen gespielt? Die Vorsitzende des Bundestagsausschus-ses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Ihre Par-teifreundin Frau Laurischk, sagte: Ich bezweifle dieVerfassungsmäßigkeit des Betreuungsgeldes. – Wir tundas auch.
Unter einer SPD-geführten Bundesregierung und ei-ner rot-grünen Koalition wird dieses Gesetz die kürzesteHalbwertszeit in der Geschichte der Gesetzgebung derBundesrepublik Deutschland haben.
Eine der ersten Maßnahmen einer rot-grünen Regierungwird die Abschaffung des Betreuungsgeldes sein undauch, die dazu bisher zur Verfügung gestellte Summe inden Ausbau der Kindertagesplätze in Deutschland zu in-vestieren.
Warum – so frage ich Sie, Frau Bundeskanzlerin –stellen Sie das Betreuungsgeld zur Abstimmung imDeutschen Bundestag, obwohl alle Argumente dagegensprechen und Sie selbst, wie ich glaube, in einem innerenDialog wissen dürften, dass dieses Gesetz unsinnig ist?Sie tun es aus einem Pragmatismus, der nichts mit derZukunftsfähigkeit dieses Landes zu tun hat, wohl abermit der Gefälligkeit gegenüber einem Koalitionspartner,also aus einem Kalkül der Machtbalance innerhalb IhrerRegierung. Das ist ein Pragmatismus, der keinerlei Vor-stellungskraft und keinerlei Führungsqualität bei derFrage zu erkennen gibt, wie mit der Benachteiligung vonFrauen, eine eigene berufliche Biografie zu schreiben,aufgeräumt werden kann und wie die Chancen für Kin-
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der, insbesondere aus bildungsferneren Schichten, inDeutschland verbessert werden können.
Mit diesem Betreuungsgeld dokumentieren Sie, dassIhr politischer Kompass nicht einer klaren Vorstellungfolgt, wie diese Gesellschaft in der Perspektive des zwei-ten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts zusammen leben undarbeiten sollte; dieser politische Kompass – das doku-mentiert dieses Betreuungsgeld – ist vielmehr alleine aufdie Überlebensfähigkeit Ihrer Koalition bis zur Bundes-tagswahl in elf Monaten gerichtet. Das ist zu wenig. Zu-sammen können wir sehr viel mehr.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Patrick
Meinhardt das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Vor allem meine Kolleginnen und Kollegen
von der SPD-Fraktion, Sie alle leiden wohl an kollekti-
vem Gedächtnisverlust.
Erinnern Sie sich noch an den 26. September 2008? Da-
mals haben Sie sogar regiert. Und Sie haben das Kinder-
förderungsgesetz verabschiedet. Wenn Sie es auch nicht
mehr hören können, Sie werden es immer und immer
wieder zu hören bekommen, hier im Deutschen Bundes-
tag und auf jeder Podiumsdiskussion. Ich zitiere, was Sie
verabschiedet haben:
Ab 2013 soll für diejenigen Eltern, die ihre Kinder
von ein bis drei Jahren nicht in Einrichtungen be-
treuen lassen wollen oder können, eine monatliche
Zahlung
– eine monatliche Barzahlung –
eingeführt werden.
Was Sie hier im Deutschen Bundestag veranstalten, ist
an Doppelzüngigkeit und Heuchelei nicht zu überbieten.
Herr Kollege, möchten Sie schon Zwischenfragen zu-
lassen?
Nein, ich glaube, Herr Steinbrück hatte genügendMöglichkeiten gehabt,
die verfehlte SPD-Position hier darzustellen.
Der damalige SPD-Generalsekretär Hubertus Heil– er kommt gerade – bezeichnete dieses Gesetz inklusiveder Barauszahlung als – ich zitiere – „Quantensprung,der jungen Eltern endlich wirkliche Wahlfreiheit ermög-licht“. Können Sie hier überhaupt noch stehen und inden Spiegel schauen?
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen von der SPD, es istdurch und durch unredlich, wenn Sie so tun, als hättenSie damit nichts zu tun; denn Sie waren es, die das Be-treuungsgeld beschlossen haben, Sie haben die Hand da-für gehoben – im Bundestag, im Kabinett.
Der damalige Finanzminister Steinbrück, der Außen-minister Steinmeier, der Umweltminister Gabriel – Siesind die rote Betreuungstroika.
Auch wenn Sie sich heute dafür schämen sollten, ausdieser Nummer kommen Sie nicht mehr raus.
Aber Sie, Herr Steinbrück, toppen das Ganze noch,nach dem Motto „Was interessiert mich mein Geschwätzvon gestern“.
Als Bundesfinanzminister sagten Sie noch über das be-schlossene Gesetz: Es ist ein vernünftiger Kompromiss.
Heute das als Schwachsinn darzustellen, was Sie selbstals „vernünftigen Kompromiss“ eingebracht haben, istan Unverfrorenheit nicht mehr zu überbieten.
Wer als Bundesfinanzminister von einem „vernünftigenKompromiss“ redet und als Kanzlerkandidat der SPD indiesem Hohen Haus eine solche Rede hält, wie Sie sie
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Patrick Meinhardt
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gehalten haben, der hat jeden ehrlichen Anspruch ver-wirkt, auf der Regierungsbank Platz zu nehmen.
Irgendwie erscheint es so, als ob Sie in Thüringen nichtmitregierten.
In Thüringen gibt es eine Große Koalition von CDU undSPD. In Thüringen gibt es einen Koalitionsvertrag derKoalitionspartner. In Thüringen gibt es ein Betreuungs-geld. Jetzt kommt die Unverfrorenheit hoch drei: Aussozialdemokratischer Sicht ist es also eine Leistung, dieSie selbst durch Koalitionsvertrag zur eigenen Regie-rungspolitik gemacht haben und in einem Land wie Thü-ringen mittragen. Aber wenn wir es einführen wollen,soll es eine Katastrophe sein. Gleichzeitig sagen IhreLandesminister vor Ort – sie sind auch in Ihrem Kompe-tenzteam –, dass die Einführung des Betreuungsgeldsauf Bundesebene das Betreuungsgeld in Thüringen er-setzen würde und Thüringen dann das Betreuungsgeldaufgeben könnte. Meine Damen und Herren, in welcherWelt leben Sie eigentlich? Hier muss mehr Glaubwür-digkeit in die Debatte hinein.
Wir haben sehr, sehr viel Kraft investiert, um in die-sem Gesetzentwurf das Maximum an besseren Bildungs-chancen für unsere Kinder zu erreichen.
Wir haben als FDP und in dieser Regierungskoalitiondem Betreuungsgeld einen zusätzlichen Bildungsstem-pel aufgedrückt. Das ist wichtig. Der Gesetzentwurf zumBetreuungsgeld ist mit der heutigen Einbringung derTüröffner für ein Bildungssparen in der BundesrepublikDeutschland.
– Sie sollten sich eher an die eigene Nase fassen. Dennzahlreiche Studien haben gezeigt, dass Deutschland ge-rade beim Bildungssparen mit großem Abstand die roteLaterne in Europa trägt. Wir wollen aus diesem Zustandheraus.
Wir wollen mehr für Bildungsgerechtigkeit, frühkindli-che Bildung und lebenslanges Lernen erreichen, und daswird der Einstieg dafür. Deswegen ist es auch richtig undgut, dass das Bundeswirtschaftsministerium ein entspre-chendes Gutachten in Auftrag gegeben hat, damit wir inder Bundesrepublik Deutschland eine breite Diskussionüber die richtigen Wege eines klugen und intelligentenSparens ein Leben lang führen können.
3 600 Euro können innerhalb von 22 Monaten auf einBildungskonto eingezahlt werden. Ganz wichtig ist – dassollten wir an dieser Stelle deutlich hervorheben –: Fürjedes Kind, das in Deutschland in einer Familie auf-wächst, die von Hartz IV leben muss, kann diese Bil-dungsinvestition auf dem Bildungskonto angelegt wer-den. Sagen Sie den 250 000 Kindern unter drei Jahren,die in solchen Gemeinschaften leben, dass Sie nicht wol-len, dass für sie ein Bildungskonto mit einem Guthabenin Höhe von 3 600 Euro eingerichtet werden kann! Siesind die Partei der sozialen Ungerechtigkeit.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir habeninnerhalb der letzten drei Jahre eine große Investitions-leistung in der Bildungs- und Familienpolitik hingelegt.Wir haben den größten Investitionsbereich mit über13,7 Milliarden Euro im Bereich Bildung und For-schung. Diese Bundesregierung lässt sich von einemganz klaren Bild leiten: Es gibt keine Einheitskinder;deswegen gibt es auch keine Einheitsfamilie. Wir wollendafür kämpfen, dass Bildungsvielfalt, Gestaltungsviel-falt, gesellschaftliche Vielfalt in dieser BundesrepublikDeutschland Realität ist. Dafür kämpft diese Regierungaus CDU, CSU und FDP. In der Bildungsgerechtigkeitund mit den Bildungsaufstiegschancen, die wir innerhalbdieser Jahre gewährt haben, hat die Regierung in diesendrei Jahren mehr zustande gebracht als jede andere Vor-gängerregierung.
Deswegen, sehr geehrter Herr Steinbrück: Sie habenrecht. Wir sollten hier im Deutschen Bundestag eine ge-meinsame Linie am heutigen Vormittag finden. StimmenSie einfach zu! Springen Sie über Ihren Schatten!
Bevor ich der Kollegin Diana Golze für die FraktionDie Linke das Wort erteile, erhält der Kollege Heil dieGelegenheit zu einer Kurzintervention.
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24998 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012
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Sehr geehrter Herr Kollege Meinhardt, da Sie mich
persönlich angesprochen haben, aber nicht den Mut hat-
ten, eine Zwischenfrage zuzulassen,
und da ich dem Handbuch des Deutschen Bundestages
gerade entnommen habe, dass Sie zumindest eines mit
mir gemeinsam haben – wir beide geben an, evangeli-
sche Christen zu sein –, möchte ich Sie an einen Satz er-
innern, der in der Bibel steht, nämlich: Du sollst nicht
falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.
Wer mich hier anspricht – das haben Sie getan – und
ein Zitat, in dem ich von einem Quantensprung für junge
Eltern gesprochen habe und das ich auf den Krippenaus-
bau gemünzt habe, aus dem Zusammenhang reißt und
damit versucht, zu kaschieren, was er selbst hier heute
veranstaltet, der muss damit rechnen, dass wir das auf-
klären. Das versuche ich jetzt.
Wir haben niemals und wir hätten niemals die Hand
für ein solches Gesetz gehoben. Ein unverbindlicher
Prüfauftrag in der Begründung eines Gesetzes ist ein Un-
terschied zu dem, was Sie heute machen.
Es ist doch auffällig, Herr Kollege, dass Sie in einer
Gesetzesberatung wie der heutigen keinen einzigen Satz
zur Sinnhaftigkeit dieses unsinnigen Betreuungsgeldes
gesagt haben, sondern mit Nebelgranaten schmeißen, um
die Rückgratlosigkeit der FDP zu kaschieren.
Das ist das, was Sie eben gemacht haben in selbstgefälli-
ger Art und Weise.
Deshalb habe ich nur eine Frage – die können Sie ja
beantworten –: Was sagt es über das Rückgrat einer ehe-
mals stolzen FDP aus, wenn Ihre Jugendorganisation
sagt: „Stimmt jetzt ruhig zu, und wir schaffen es dann
nach der Wahl wieder ab“? Was ist denn das für ein
Brummkreisel? Warum versuchen Sie, jemanden wie
Frau Pieper, die den Mut hat, diesen Unsinn nicht mitzu-
machen, per Interview Ihres Generalsekretärs Döring
von der Ausübung des freien Mandats abzuhalten?
Warum haben Sie eigentlich nicht den Mut, Ihrem Ge-
wissen zu folgen und diesen Unsinn abzulehnen, der
auch verfassungswidrig ist?
Das ist das, was ich Ihnen sage.
Deshalb, lieber Kollege: Wenn Sie mich zitieren,
dann bitte korrekt! Ich sage es noch einmal: Der Krip-
penausbau ist ein Quantensprung, den wir gemeinsam
schaffen müssen. Er ist noch nicht erreicht. Aber diese
Fernhalteprämie, die Frauen vom Arbeitsmarkt und Kin-
der von der frühkindlichen Förderung fernhält, ist ein
Rückschritt. Das müssen andere Mehrheiten hier im
Haus wieder abschaffen, weil Sie es verbockt haben und
kein Rückgrat haben. Das ist die Wahrheit, Herr Kol-
lege!
Zur Erwiderung Kollege Meinhardt.
Es ist immer gut, wenn man einen Blick in den Geset-zestext wirft. Ich formuliere: in den Gesetzestext, nichtin irgendeine Entscheidung, nicht in irgendeinen Antrag.Im Gesetzestext, ich sage es ein weiteres Mal, steht:Ab 2013 soll für diejenigen Eltern, die ihre Kindervon ein bis drei Jahren nicht in Einrichtungen be-treuen lassen wollen oder können, eine monatlicheZahlung eingeführtwerden.
Ende des Gesetzestextes.Diesem Gesetzestext hat die SPD-Fraktion hier imDeutschen Bundestag zugestimmt. Diesem Gesetzestexthaben Sie zugestimmt.
Diesem Gesetzestext haben alle drei Herrschaften vonder SPD-Troika zugestimmt.Wenn Sie schon auf einer korrekten Zitierweise beste-hen: Sie haben damals zum Gesetzestext gesagt,
dieser Gesetzestext inklusive aller Bestandteile – dennnur so kann man eine derartige Rede, wenn man zumGesetzestext ohne irgendeine Einschränkung spricht, in-terpretieren – sei ein Quantensprung, der jungen Elternendlich wirkliche Wahlfreiheit ermöglicht.Wenn Sie schon in der Art und Weise hier aufstehenund agieren, dann ist meine herzliche Bitte von jeman-dem mit theologischer Bildung zu jemandem mit theolo-gischer Bildung, dass Sie wirklich bei den Inhalten undden Kernaussagen Ihrer Worte bleiben. Ich erwarte vonIhnen – wenn Sie „Quantensprung“ gesagt haben und esdamals so zitiert haben –: Dann stehen Sie hier auchdazu! Von mir aus können Sie sich auch hier hinstellenund sagen, Sie haben sich geirrt. Das können Sie jeder-zeit. Das wäre ein ehrlicher Ansatz. Aber interpretierenSie nicht das um, was Sie vor vier Jahren im Hohen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012 24999
Patrick Meinhardt
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Haus verabschiedet haben. Sie können sich nicht ausdieser Verantwortung stehlen.
Nun erhält die Kollegin Diana Golze für die Fraktion
Die Linke das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen undKollegen! Herr Meinhardt, Sie haben in Ihrer Rede ge-sagt: Es muss mehr Glaubwürdigkeit in die Debatte. –Ich hätte mir gewünscht, Sie hätten damit angefangen.
Ich kann Ihnen die Anträge zum Thema Betreuungs-geld, die Sie als FDP-Fraktion, als Sie noch in der Oppo-sition waren – was Sie bald, wenn überhaupt, wiedersein werden –, vorgelegt haben, sehr gerne in Erinnerungrufen. Auch in diesen Anträgen haben Sie behauptet, Sieseien gegen das Betreuungsgeld. Heute wollen Sie etwasanderes beschließen, im Gegenzug zur Verabschiedungeines Gesetzes, das mit dem Betreuungsgeld nichts, aberauch gar nichts zu tun hat. Es ist das Ergebnis eines Kuh-handels im Koalitionsausschuss, der nur dem Zweckdiente, diese Regierung am Leben zu erhalten auf Kos-ten von Kindern, auf Kosten von Frauen, auf Kosten vonFamilien. Das möchte ich Ihnen gerne deutlich machen.Wir haben bereits in dieser Debatte darüber gespro-chen, welchen Einfluss dieses Betreuungsgeld auf denweiteren Ausbau der Kindertagesbetreuung höchstwahr-scheinlich haben wird. Wir haben die Erfahrungen ausanderen Ländern – unter anderem den skandinavischenStaaten, in denen es so etwas Ähnliches wie das Betreu-ungsgeld gab –, dass dieses Betreuungsgeld einen erheb-lichen negativen Einfluss auf das Angebot und die Nach-frage von Kindertagesbetreuungsplätzen hatte. DasGerede von Wahlfreiheit kann ich einfach nicht mehr er-tragen.
Frau Bär, wenn Sie für sich in Anspruch nehmen:„Wir müssen für die Gesamtbevölkerung sprechen“,dann sage ich Ihnen noch einmal: Mehr als zwei Drittelder Gesamtbevölkerung lehnen das Betreuungsgeld ab.Sie lehnen es deshalb ab, weil das Gerede von Wahlfrei-heit nur Gerede ist, solange die Kindertagesbetreuungs-plätze und die Plätze bei Tagespflegepersonen nicht dasind. Und sie sind nicht da.
Das Statistische Bundesamt hat in dieser Woche dieZahlen noch einmal vorgelegt. Mehr als 220 000 Plätzefehlen noch. Der Rechtsanspruch auf einen Platz stehtauf tönernen Füßen, obwohl er im nächsten Jahr greifensoll. Solange keine öffentlichen und qualitativ hochwer-tigen Kindertagesbetreuungsplätze da sind, kann dochnicht von einer Wahlfreiheit gesprochen werden. Siewerden mit diesem Betreuungsgeld den Druck, diesePlätze zu schaffen, herausnehmen, weil Sie den Elterndiesen Rechtsanspruch billig abkaufen. Dem werden undkönnen wir nicht zustimmen.
Dieses Betreuungsgeld ist ein gleichstellungspoliti-sches Katastrophenprogramm. Alle Staaten, die ein sol-ches Betreuungsgeld hatten und die es im Übrigen wie-der abgeschafft haben, belegen: Das Betreuungsgeldverhindert in erster Linie die Erwerbstätigkeit vonFrauen. Es verschärft die ungleiche Entlohnung; dennalle Länder, die ein solches Betreuungsgeld hatten, zei-gen, dass es von Frauen mit einem höheren Bildungs-grad und einem höheren Einkommen, das sie vor der Ge-burt ihres Kindes hatten, nicht in Anspruch genommenwird. Anders herum gesagt: Es wird von denen in An-spruch genommen, die entweder vorher keinen Job hat-ten oder einen hatten, der sehr schlecht bezahlt war. Dieschlecht bezahlten Jobs sind auch in Deutschland leiderimmer noch diejenigen, die vor allem von Frauen ausge-übt werden. Das heißt, diese Frauen werden aus dem Er-werbsleben herausgedrängt, die Lohnungleichheit wirdverschärft, Einkommensunterschiede werden sich ver-größern.Die Frauen werden das Problem haben, dass sie nacheiner längeren Erwerbspause nicht wieder in einen gutenJob zurückkommen können. Sie werden auf Minijobsabgeschoben. Minijobs bedeuten Minilohn, bedeutenMinirente. Das ist alles abzusehen. Und Sie gehen diesenWeg. Diesem Weg aber können wir nicht zustimmen undwerden ihn nicht mitgehen.
Jetzt machen Sie zu diesem Betreuungsgeldgesetz einBegleitgesetz, ein Ergänzungsgesetz, das uns heute inerster Lesung vorliegt, in dem Sie den betroffenenFrauen die Möglichkeit einräumen wollen, eine privateRentenvorsorge zu treffen. Das Geld, das als Betreu-ungsgeld gezahlt wird, soll angelegt werden können, umauf diese Weise für die Alterssicherung vorzusorgen.Das ist doch widersinnig. Sie haben genau diesen Frauen– den erwerbslosen Frauen – im Jahr 2010 die Rentenan-teile im Arbeitslosengeld II gestrichen. Und jetzt wollenSie ihnen das Betreuungsgeld schmackhaft machen füreine private Altersvorsorge, die noch nicht einmal denAnspruch erreichen wird, den Frau von der Leyen mitihrer komischen Zuschussrente – oder wie Sie jetzt sa-gen: Lebensleistungsrente – einlösen will.Das ist doch widersinnig. Diese Frauen sind arm, undsie bleiben arm, und sie werden auch im Alter arm sein.
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25000 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012
Diana Golze
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Auch deshalb können wir diesem Gesetzentwurf nichtzustimmen.Ich möchte jetzt die Ministerin für Familie, Senioren,Frauen und Jugend ansprechen, die sich in dieser De-batte leider nicht zu Wort meldet; zumindest geht das soaus der Redeliste hervor.
Frau Ministerin, Sie sind nicht die Ministerin für Wahl-geschenke an Bayern, Sie sind unter anderem die Minis-terin für Frauen, für Familien und für deren Kinder.
Wenn aber dieses Gesetz Ihr Konzept darstellen soll füreine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, fürdie bessere Gleichstellung der Geschlechter, für dieExistenzsicherung der Frauen auch im Alter, dann habenSie etwas grundsätzlich falsch verstanden und sindfalsch auf diesem Posten.
Das Betreuungsgeld ist zudem ein Bildungsverhinde-rungsinstrument und ein integrationspolitisches Armuts-zeugnis.
Nicht erst seit gestern ist in diesem Hause bekannt, dassKindertagesstätten mehr sind als nur Einrichtungen fürdie Betreuung von Kindern. Vielmehr soll hier auchfrühkindliche Bildung stattfinden. Sprechen, Lesen,Rechnen, Bewegung, motorische Fähigkeiten, sozialeKompetenzen – all das lernen Kinder nicht von allein.Dazu brauchen sie ihre Eltern, ja richtig. Dazu brauchensie aber auch ganz dringend andere gleichaltrige Kinder.
Ich bin selbst Mutter von zwei Kindern, und ich sageIhnen: Ja, auch ich habe für mich den Anspruch, meineKinder zu erziehen und zu bilden. Aber ich bin ehrlichgenug, zuzugeben, dass ich meinen Kindern beim bestenWillen nicht das bieten kann, was ihnen das Zusammen-sein mit gleichaltrigen Kindern bieten kann und was ih-nen eine qualifizierte, gut ausgestattete Kita bieten kann.
Deshalb kann ich einem Gesetz nicht zustimmen, dasKindern das Zusammensein mit Gleichaltrigen und dieFörderung durch gut qualifizierte und gut bezahlte Kita-erzieherinnen und -erzieher verwehrt.Ich bekomme die Tagesbetreuung für meine Kinderim Übrigen nicht geschenkt, das will ich hier noch ein-mal ganz deutlich sagen. Es wird ja immer der Eindruckerweckt, wir dürften das Geld nicht nur in die Kitas ste-cken, sondern wir müssten auch den Eltern Geld geben,die ihre Kinder eben nicht in die Kitas schicken.
Diese Kitas gibt es für die Eltern nicht umsonst. Esgibt viele Kommunen, die sich sozial gestaffelte Kitabe-treuungsgebühren nicht mehr leisten können. Da werdenhorrende Beträge fällig. Ich bin gerne bereit, für einegute Kitabetreuung meiner Kinder gutes Geld zu zahlen.Das Argument jedoch, ich bekäme hier etwas geschenkt,ist doch einfach falsch. Einen Gegensatz herzuleiten undzu sagen: „Ich darf nicht nur den einen Eltern etwas ge-ben, sondern ich muss auch den anderen etwas geben“,das ist deshalb an den Haaren herbeigezogen.
Sie verteilen ungerechtfertigte Geschenke, die sich alsvergiftete Geschenke erweisen werden.Wir haben in diesem Hause – Frau MinisterinSchröder hat öfter einmal mit bunten Broschüren gewe-delt – häufiger darüber gesprochen, wie wir es schaffenkönnen, Menschen mit Migrationshintergrund und ihreKinder besser in unsere Gesellschaft zu integrieren. Eswerden Modellprogramme aufgelegt, um genau dies zuschaffen. Es wird Geld dafür ausgegeben, um Sprachför-derung in den Kitas zu organisieren. Und nun wird dau-erhaft noch mehr Geld angelegt, um die Kinder genauvon dieser Förderung fernzuhalten.Herr Meinhardt, ich möchte mich an Sie wenden. Ichhabe im Kürschner, also im Handbuch des DeutschenBundestages, gelesen, dass Sie der bildungspolitischeSprecher Ihrer Fraktion sind. Wenn das stimmt, kann ichnur sagen: Ich kann es nicht verstehen, wie ein Bildungs-politiker einem Gesetz zustimmen kann, das Kinder vonBildung fernhält.
Ich kann es auch dann nicht verstehen, wenn über dasErgänzungsgesetz irgendwann einmal das sogenannteBildungssparen kommen soll. Denn es ist ja noch nichtfestgeschrieben; es wird das Gesetz zum Gesetz zum Ge-setz geben, wenn Sie überhaupt noch die Zeit dazu ha-ben.
Ich kann es nicht verstehen, dass Sie davon ausgehen,dass mit einem Betrag von 3 630 Euro – es ist schade,dass Sie mir nicht zuhören – die Bildung aller Kinder ge-sichert wird. Sie wissen sehr genau, dass sich das Bil-dungssparen nur dann für die Kinder auszahlen wird,wenn es nicht nur auf den Zeitraum von zwei Jahren be-schränkt ist, sondern fortgeführt wird. Aber woher sollendenn die Familien, zum Beispiel die im Hartz-IV-Bezug,das Geld nehmen, um nach Bezug des Betreuungsgeldesdieses Konto weiter aufzufüllen?
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012 25001
Diana Golze
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(B)
Woher denn? Aus Ihrem ominösen Bildungs- und Teil-habepaket, oder woher? Sie stellen sich da ein Armuts-zeugnis aus. Sie sollten Ihren Titel des bildungspoliti-schen Sprechers aufgeben; denn Sie haben in dieserBeziehung versagt.
Das Betreuungsgeld ist verfassungsrechtlich sehr um-stritten. Viele haben angekündigt – auch meine Fraktion –,dass sie dieses Gesetz anfechten werden. Ich hoffe, HerrSteinbrück, dass es ein gemeinsames Agieren der Oppo-sition in diese Richtung gibt. Ich war sehr enttäuscht,dass Sie in Ihrer Rede hier gerade bei so einem wichti-gen Thema eine Differenz aufmachen. Ich sage es hiernoch einmal ganz klar: Die gesamte Opposition des Bun-destages ist gegen dieses Betreuungsgeld. Wir werden esin Karlsruhe prüfen lassen und werden all denen, die die-ses Betreuungsgeld ablehnen, auch in der nächsten Le-gislatur eine Stimme geben. Wir werden die SPD sehrgenau beobachten und schauen, ob sie dieses Gesetz tat-sächlich zurücknimmt oder nicht.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort erhält nun der Kollege Jürgen Trittin für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will
mit einem Zitat beginnen:
Das Betreuungsgeld lehnen wir ab.
Es stammt von Professor Dr. Wolfgang Franz, Vorsitzen-
der des Sachverständigenrats der Bundesregierung. Be-
rufen wurde Herr Professor Franz von der Bundeskanz-
lerin, Frau Merkel. Meine Damen und Herren, es reicht
nicht, Sachverständige zu berufen. Man muss auch mal
auf sie hören, verdammt noch mal!
Es herrscht in Deutschland Fachkräftemangel. Was
tun Sie? Sie schaffen einen ökonomischen Anreiz, gut
ausgebildete Frauen vom Arbeitsmarkt fernzuhalten.
Mädchen sind besser in der Schule.
Frauen haben die besseren Abschlüsse.
Die Merkel-Koalition will, dass diese Frauen zu Hause
bleiben.
Sie, Frau Merkel, wollen doch den Skandal fortsetzen:
Sie wollen, dass das begabtere Geschlecht weiterhin ein
Viertel weniger verdient als wir Männer. Das ist fatal.
Frau Bär, erzählen Sie uns nichts von „Wahlfreiheit“.
Bei 220 000 fehlenden Krippenplätzen gibt es keine
Wahlfreiheit. Sie kämpfen nicht für Wahlfreiheit; Sie
machen Wahlkampf für Bayern. Das ist der Punkt.
Es mag ja mit dem Weltbild aus Wolfratshausen überein-
stimmen, wenn Frauen wieder einen Anreiz erhalten, zu
Hause bei Heim und Herd zu sitzen und den Job aufzu-
geben. Aber ich sage Ihnen: Wolfratshausen ist nicht die
Zukunft; das ist Vergangenheit. Deswegen können wir
mit dieser Gesellschaftspolitik die Zukunft nicht gestal-
ten.
Diese Fernhalteprämie ist kinderfeindlich, sie ist frau-
enfeindlich, sie ist familienfeindlich, und sie ist wirt-
schaftsfeindlich. Für diesen Irrweg sollen wir alle bezah-
len: Die Wirtschaft soll auf Fachkräfte verzichten.
Herr Kollege Trittin, lassen Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Vogler zu?
Bitte.
Herr Trittin, Sie haben mich und meine Geschlechts-genossinnen unumwunden als das begabtere Geschlechtbezeichnet. Ich wüsste sehr gerne, welchen Begabungs-begriff Sie zugrunde legen und ob Sie Männer tatsäch-lich für weniger lern- und bildungsfähig halten alsFrauen und Mädchen.
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25002 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012
(C)
(B)
Liebe Kollegin, der Empirie, die ich hier zitiert habe,
muss man sich stellen. Die Wahrheit ist, dass im statisti-
schen Durchschnitt junge Mädchen besser in der Schule
sind als Jungen, dass sie die besseren Schulabschlüsse
und auch die besseren Universitätsabschlüsse haben. Wir
leben in einer Gesellschaft, in der als Konsens gilt
– nicht nur bei der FDP –, dass sich Leistung lohnen soll.
Das Prinzip, dass sich Leistung lohnt, sollte sich auch im
Einkommen widerspiegeln.
Ich habe lediglich eine einfache Feststellung getrof-
fen: Diejenigen, die in den Schulen und Universitäten
bessere Leistungen bringen, gehen mit einem Gehalt
nach Hause, das bis zu einem Viertel niedriger ist als das
Gehalt derer, die einen schlechteren Abschluss haben.
Das ist ein Skandal, und das muss man beenden. Man
darf das nicht befördern, wie es die rechte Seite dieses
Hauses will.
Wir alle sollen für diesen Irrweg bezahlen, nur damit
Bayern nicht zum Swing State wird wie Nordrhein-
Westfalen, Rheinland-Pfalz und demnächst auch Nieder-
sachsen.
Er ist teuer. Liebe Frau Merkel, Ihre Klientelpolitik vom
vergangenen Wochenende kostet uns im nächsten Jahr
3,8 Milliarden Euro und 2014 5,4 Milliarden Euro. Al-
lein die Herdprämie schlägt im Haushalt mit mindestens
1,2 Milliarden Euro zu Buche. Für den Ausbau der Krip-
penplätze hingegen planen Sie lediglich 770 Millionen
Euro ein. Das sind Ihre Prioritäten. Von wegen Wahlfrei-
heit: Sie dementieren sich selber!
Es ist ein Stück aus dem Tollhaus, wenn Sie, Frau
Bundeskanzlerin, uns das auch noch als Sparpolitik ver-
kaufen wollen. Stellen Sie sich doch einmal vor, der
spanische Premierminister würde 5,4 Milliarden Euro
rauswerfen! Würden Sie sagen: „Schön gespart, Herr
Rajoy“? Sie predigen dem Rest Europas Sparsamkeit,
schmeißen hier aber das Geld aus dem Fenster
und bedienen locker Ihre eigene Klientel. Beim Be-
treuungsgeld ist noch ein Schnäppchen für die Ver-
sicherungswirtschaft enthalten. Nebenher wird Herr
Ramsauer für die Zubetonierung der bayerischen Land-
schaft einmal eben mit weiteren 750 Millionen Euro aus-
gestattet, entnommen aus den Gebäudesanierungsmitteln
der KfW. Sie sorgen dafür, dass Straßen gebaut werden
und kürzen gleichzeitig die Mittel für den Klimaschutz.
Herr Kollege Trittin, darf die Kollegin Steinbach auch
eine Frage stellen?
Gerne.
Herr Trittin, ich möchte noch einmal auf das begab-
tere Geschlecht zurückkommen.
Das muss ja tief gesessen haben.
Ja, ganz bestimmt; das werden Sie gleich merken. –
Wie kommt es, dass dieses begabtere Geschlecht zu rot-
grüner Regierungszeit nicht den Vizekanzler seitens der
Grünen gestellt hat?
Liebe Frau Steinbach, weil der Vizekanzler damals
Joschka Fischer hieß und bekanntermaßen ein Mann
war.
Ich weiß, dass Sie das persönlich besonders umgetrieben
hat. Ich glaube aber, das lag nicht daran, dass Joschka
ein Mann war, sondern daran, dass Sie mit der politi-
schen Haltung von Joschka Fischer nicht klarkommen.
Aber so hatte der Wähler, die Wählerin nun einmal ent-
schieden.
Sie sehen an meiner Fraktion, wie eine Frauenquote
funktionieren kann. Wir würden Ihnen für Ihre Fraktion
gerne Gleiches anraten; aber davon sind Sie noch weit
entfernt.
Herr Kollege Trittin, vielleicht können wir uns daraufverständigen, dass es einzelne Männer gibt, die dasdurchschnittliche Begabungsprofil von Frauen errei-chen?
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012 25003
(C)
(B)
Herr Präsident, wenn Sie das sagen, dann will ich das
Ihnen ausdrücklich konzedieren.
Meine Damen und Herren, es ist interessant, wie Sie
das finanzieren. Die Sanierung des Haushaltes finanzie-
ren Sie nämlich aus den Kassen der Krankenversiche-
rungen. Ich sage Ihnen: Es ist schon ein eigentümliches
Verständnis von Solidarität, wenn künftig für den Sozial-
ausgleich nur noch die sozialversicherungspflichtig Be-
schäftigten herhalten müssen, weil Beamte und Selbst-
ständige in diesem Fall aus der Solidarität entlassen
werden. Das haben Sie einmal anders versprochen. Ich
sage Ihnen, was hier passiert: Sie lassen die Klientelge-
schenke, die Sie aus Steuermitteln verteilen, von den So-
zialversicherten bezahlen.
– Lieber Herr Kollege Bahr, Sie rufen „Praxisgebühr“
dazwischen. Wenn wir die Überschüsse aus den gesetzli-
chen Krankenversicherungen nehmen würden, dann
könnten wir nicht nur die Praxisgebühr senken, sondern
auch die Beiträge. Sie aber haben genau diese Über-
schüsse für den Sozialausgleich verwendet, der immer
aus Steuermitteln bezahlt werden sollte. Das ist Ihre
Form von Politik. Sie reduzieren Solidarität auf die Be-
schäftigten und beziehen sie nicht auf die Bürgerinnen
und Bürger in diesem Land.
Meine Damen und Herren, der Abgrund, der sich in
dieser Koalition auftut, zeigt sich an einer anderen
Stelle, nämlich an der sogenannten Lebensleistungs-
rente. Dieses Wort muss man sich auf der Zunge zerge-
hen lassen. Was ist Ihnen die Lebensleistung eines Men-
schen wert, der vierzig Jahre lang hart gearbeitet hat? –
In Beträgen ausgedrückt, ist diese Leistung Frau Merkel
und Frau von der Leyen 10 Euro wert. Wissen Sie, wo-
ran mich das erinnert? Das erinnert mich an das 19. Jahr-
hundert. Damals schenkte der Patriarch seinem Vorarbei-
ter in der Firma nach vierzig Jahren eine Uhr. Er war
aber nicht ganz so schlimm wie Sie. Sie haben noch ei-
nen Begriff erfunden; er lautet: Lebensleistungsrente.
Diese Form von Sozialzynismus geht in diesem Land
nicht mehr. Damit muss Schluss sein.
Nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion ist der
Kollege Markus Grübel.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichhabe in meiner zehnjährigen Abgeordnetenzeit selteneine so ideologische Debatte erlebt wie zum Betreuungs-geld. Von der Opposition wird kräftig schwarz-weiß ge-malt.
Den Vorwurf der Opposition könnte man so zusammen-fassen: Eltern schaden ihren Kindern. Und dieser Vor-wurf ist Unsinn.
Sie sagen: Nur wer mit einem Jahr in einer Kinder-krippe ist, hat Chancen im Leben. Das ist falsch. BeimBetreuungsgeld geht es um Ein- und Zweijährige, alsoum ganz kleine Kinder. Es geht nicht um Kindergarten-kinder. Vielfach unterstützen die Großeltern die Mütterund Väter bei der Betreuung ihrer Kinder. Die Argu-mente, die Sie gegen die Betreuung zu Hause bringen,beleidigen nicht nur die Eltern, sondern auch die Großel-tern.
Sie wollen entscheiden, was gut und was schlecht fürFamilien ist. Das wissen die Familien aber selbst vielbesser. Darum wollen wir die Wahlfreiheit stärken. Wirermöglichen die Wahlfreiheit durch das Betreuungsgeldund den massiven Ausbau der Kinderbetreuung. BeimBetreuungsgeld geht es nicht um Leben und Tod, auchwenn in dieser Debatte manche den Eindruck erwecken.Sie von der SPD haben 2007/2008 dem Betreuungs-geld zugestimmt.
Sie haben dem in der Großen Koalition zugestimmt. Wirhaben damals in § 16 Abs. 5 SGB VIII – Kinder- und Ju-gendhilfe – geschrieben – Sie haben ja alle moderne Ge-räte; lesen Sie es einmal nach –,
dass ab 2013 „für diejenigen Eltern, die ihre Kinder vonein bis drei Jahren nicht in Einrichtungen betreuen lassen
Auch wenn Sie das heute nicht mehr wahrhaben wollen:Die meisten, die hier sitzen, haben dem damals zuge-stimmt.
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25004 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012
Markus Grübel
(C)
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Sie, Herr Steinbrück, haben das damals als vernünfti-gen Kompromiss bezeichnet. Ein wörtliches Zitat – HerrSteinbrück am 28. Februar 2008 –:Ich freue mich, dass wir gemeinsam diesen ver-nünftigen Kompromiss gefunden haben.
Heute nennen Sie Kompromisse Kuhhandel und das Be-treuungsgeld frauenfeindlich. Erinnern Sie sich an Ihrefrühere Meinung!
Ich sage Ihnen: Sie sollten das Betreuungsgeld hiernicht verteufeln. Sie haben diesen Kompromiss selbstschon einmal geschlossen. Sie haben mit dafür gesorgt,dass das ins Gesetz geschrieben wird, und das als gutenKompromiss bezeichnet. Das war, zugegeben, nicht IhrHerzensanliegen; aber Sie haben es mitgetragen und alsguten Kompromiss bezeichnet.
Es gibt eine Parallele zwischen der sozialen Pflege-versicherung und dem Betreuungsgeld. Auch in der Pfle-geversicherung gibt es Geldleistungen und Sachleistun-gen, die Pflege zu Hause und die Pflege im Pflegeheim.Bei der Pflege zu Hause spricht überhaupt niemand da-von, dass die Geldleistung eine Herdprämie oder Fern-halteprämie sei.
Bei der Pflege zu Hause spricht auch niemand davon,dass die Eltern schlecht gepflegt werden, weil sie zuHause gepflegt werden und nicht im Pflegeheim.
Dass wir die Pflege zu Hause fördern, zeigt, dass wir unsdas richtige Gefühl dafür bewahrt haben, wie wichtigund gut die Betreuung durch die Familie ist. Die Wahl-freiheit in Sachen Pflege ist gut und richtig, und dieWahlfreiheit in Sachen Betreuung ist auch gut und rich-tig. Darum werden wir sie ermöglichen.
Der Staat darf kein Betreuungsmodell bevorzugen. Erdarf nicht einseitig die U-3-Betreuung ausbauen; er mussauch andere Lebensentwürfe der Eltern unterstützen.
Es darf nicht das Privileg reicher Eltern sein, ihre Kinderselbst betreuen zu können. Das müssen sich auch Elternmit geringerem Einkommen leisten können.
Wir haben den vorliegenden Gesetzentwurf in wichti-gen Punkten geändert. So haben wir klargestellt, dass El-tern-Kind-Gruppen, Krabbelgruppen und Ähnlicheskeine regulären Betreuungsplätze im Sinne des Gesetzessind und der Besuch solcher Gruppen daher für den Be-zug des Betreuungsgeldes unschädlich ist.Ferner haben wir die Härtefallklausel massiv erwei-tert: Bei schwerer Krankheit oder schwerer Behinderungsind Leistungen von 20 Wochenstunden im Durchschnittdes Monats für den Bezug des Betreuungsgelds unschäd-lich. Man kann in einer Woche also auch einmal 30 oder40 Stunden Kinderbetreuung in Anspruch nehmen, wennsich das im Monatsdurchschnitt ausgleicht. Das ent-spricht der Lebenswirklichkeit. In Sondersituationenbrauchen die Eltern Unterstützung, zum Beispiel durcheinen Betreuungsplatz.
Wir schaffen ein Wahlrecht. Neben der Barleistungsind die Vorsorge für das Alter – ein Bonus von 15 Euro– und das Bildungssparen – Vorsorge für die Ausbildungder Kinder – möglich. Da kommen 3 630 Euro zusam-men. Dieses Geld können die Eltern gut gebrauchen,wenn die Kinder in Sachen Bildung Förderung benöti-gen. Die Rentenleistung und das Bildungssparen könnenauch Hartz-IV-Empfänger anrechnungsfrei in Anspruchnehmen und so Vorsorge für das Alter oder die Ausbil-dung der Kinder treffen.
Diesen Gesetzentwurf bringen wir heute ebenfalls ein.Wir haben bereits viel getan, und wir tun noch mehr.Wir haben gemeinsam mit Ihnen den Rechtsanspruchzum 1. August 2013 eingeführt. Heute führen wir dasBetreuungsgeld zum 1. August 2013 ein. Wir haben dieAnzahl der U-3-Betreuungsplätze massiv erhöht. Nochnie hat eine Regierung für die Betreuung der unter Drei-jährigen so viel gemacht. Wir haben 4 Milliarden Eurodafür gegeben.
Wir fördern 30 000 weitere Betreuungsplätze mit580 Millionen Euro.Schließlich beteiligen wir uns künftig an den Be-triebskosten mit einem Bundeszuschuss von 845 Millio-nen Euro.Wir haben also viel getan. Erfreulich ist übrigens,dass die Länder dem Kompromiss mittlerweile zuge-stimmt haben und dass der Vermittlungsausschuss nichtangerufen wird. Es ist eine wichtige Information für dieGemeinden, dass es mit dem Ausbau der Kinderbetreu-ung weitergeht.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012 25005
Markus Grübel
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(B)
Wir haben in der vergangenen Woche die entsprechen-den Zahlen vom Statistischen Bundesamt bekommen.Danach fehlen bundesweit noch 220 000 Betreuungs-plätze; das besagen die Zahlen vom März dieses Jahres.Seither hat sich viel verändert. Es gibt aber noch viel zutun.Bemerkenswert ist, dass die von den Ländern gemel-deten Zahlen mit den Zahlen vom Statistischen Bundes-amt nicht in Einklang zu bringen sind. Das rot-grüneNordrhein-Westfalen, Herr Steinbrück, ist nicht nurSchlusslicht aller Flächenländer, was die Deckung an-geht,
sondern hat falsche Zahlen in einer Größenordnung von30 000 gemeldet. Da muss man wirklich politische Mo-tive unterstellen.
Herr Steinbrück, das rot-grüne NRW sollte sich einmalan Bayern ein Beispiel nehmen.
Bayern hat nicht nur gute Zahlen; es meldet auch dierichtigen Zahlen.
Herr Steinbrück, als Sie das Land Nordrhein-Westfa-len als Ministerpräsident verlassen haben, da lag dieZahl der Betreuungsplätze für unter Dreijährige bei4 Prozent. Das zu ändern, war überhaupt kein Anliegenvon Ihnen. Ihre Neigung für Familienpolitik haben Sieerst vor einigen Tagen entdeckt, und zwar erst, seitdemSie Bundeskanzlerkandidat sind.
Ich fasse zusammen, sehr geehrte Damen und Herren:Wir ermöglichen die Wahlfreiheit durch den massivenAusbau der Kinderbetreuung und durch das Betreuungs-geld.Herzlichen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Caren Marks für
die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Vorab ersteinmal: Herr Grübel und auch andere haben immer wie-der versucht, hier Legendenbildung zu betreiben. Damitmöchte ich aufräumen. Im KiföG, von der Großen Koali-tion beschlossen, hat es nicht mehr als eine unverbindli-che salvatorische Klausel gegeben, ein Zückerchen fürdie CSU, die die Notwendigkeit des Krippenausbausnicht anerkennen wollte. Das hatte keinen Rechtsfolge-charakter. Das ist damals deutlich geworden in den Äu-ßerungen aller SPD-Abgeordneten, der gesamten SPD-Bundestagsfraktion, aber zum Beispiel auch der damali-gen Familienministerin Frau von der Leyen, die zum Be-treuungsgeld klar Nein gesagt hat.
Herr Grübel, wenn wir das Betreuungsgeld damals inder Großen Koalition wirklich beschlossen hätten, wa-rum streiten Sie sich dann seit drei Jahren in derschwarz-gelben Koalition darüber?
Warum haben Sie es nötig gehabt, einen Gesetzentwurfin erster Lesung zum unsinnigsten Projekt aller Zeiten,zum Betreuungsgeld, einzubringen? Warum versuchenSie, bei der heutigen Abstimmung mit disziplinarischenMaßnahmen eine schwarz-gelbe Mehrheit zustande zubringen? Wir werden noch sehen, ob das überhauptklappt. Aber, wie gesagt: Wenn das Betreuungsgeld zuZeiten der Großen Koalition beschlossen worden wäre,müsste es heute keine Abstimmung mehr geben. Das istFakt.
Nach monatelangem Streit peitschen Sie diese Woche– Sie, die schwarz-gelbe Koalition, die Bundesregie-rung; Frau Schröder scheint es ja nicht mehr nötig zu ha-ben, sich zu irgendwelchen Projekten zu äußern –
– ist auch besser; das stimmt – den Gesetzentwurf imwahrsten Sinne des Wortes im Schweinsgalopp durchdie Gremien. Diese Eile, meine Damen und Herren vonSchwarz-Gelb, ist sachlich in wirklich keiner Weise be-gründet. Das Gesetz soll ja erst in zehn Monaten in Krafttreten.
Geht es Ihnen nur darum, dieses für die Koalition hoch-explosive Thema schnell vom Tisch zu bekommen? Ichgarantiere Ihnen – auch wenn Sie es sich anders wün-schen –: Das Thema Betreuungsgeld wird mit der heuti-gen Abstimmung definitiv nicht vom Tisch sein.
Bis heute haben Sie die Befürchtungen und fachli-chen Einwendungen nicht ausräumen können, die vieleWissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Fachver-bände, Kommunen, auch vier ehemalige Familienminis-
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Caren Marks
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terinnen, davon zwei von der CDU, in Bezug auf das Be-treuungsgeld äußern. Ich möchte aus dem Appell dervier ehemaligen Bundesfamilienministerinnen Lehr,Süssmuth – beide CDU –, Bergmann und Schmidt ausdiesem Sommer zitieren:Das geplante Betreuungsgeld für Kleinkinder, dienicht in öffentlichen Einrichtungen betreut werden,würde die bisherige Strategie konterkarieren, statt-dessen alte Fehler erneuern und Fehlanreize ver-stärken, anstatt Defizite zu reduzieren. Das Betreu-ungsgeld verbessert die soziale Lage der Frauennicht und schadet Kindern, die Betreuung und Bil-dungsförderung besonders nötig hätten.Ich sage Ihnen nur: Würden Sie doch auf Ihre ehemali-gen Familienministerinnen hören!
Partei- und fachübergreifend wird dieser schwarz-gel-ben Bundesregierung ins Stammbuch geschrieben, dassdas Betreuungsgeld einer modernen Familien-, Bil-dungs- und Gleichstellungspolitik widerspricht. NennenSie mir nur einen namhaften Wissenschaftler oder einenamhafte Wissenschaftlerin, der oder die klar sagt: DasBetreuungsgeld ist eine notwendige familienpolitischeLeistung. – Ich sage Ihnen: Sie werden keinen finden.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoali-tion, bitte erklären Sie der Öffentlichkeit doch einmal,wie es sein kann, dass am 1. August 2013 ein Rechts-anspruch für Kinder unter drei Jahren auf einen Krip-penplatz in Kraft tritt, gleichzeitig nun aber auch eineRegelung, die genau dies konterkariert. Denn das Be-treuungsgeld ist nichts anderes als ein Anreiz, vondiesem Rechtsanspruch nicht Gebrauch zu machen.Fachorganisationen nennen diese Kuriosität eine „Fern-halteprämie von Kitas, die das Betreuungssystem belei-digt, das die Bundesregierung gleichzeitig ausbauenwill“. So sieht es aus.
Das Betreuungsgeld ist mit dem heutigen Tage auchdeshalb nicht vom Tisch, weil eine überwiegende Mehr-heit der Menschen genau diese Absurdität durchschaut.Alle Oppositionsfraktionen im Deutschen Bundestagfordern in ihren Anträgen, auf die Einführung des Be-treuungsgeldes zu verzichten und stattdessen den Krip-penausbau voranzubringen. Familien erwarten zu Recht,dass beim Ausbau der frühkindlichen Bildung Kurs ge-halten wird. Sie erwarten zu Recht, dass die frühkindli-che Bildung weiter ausgebaut wird, das Personal stärkerqualifiziert wird und zusätzliches Fachpersonal gewon-nen wird. Doch von diesem Kurs sind Sie, Schwarz-Gelb, meilenweit entfernt. Die von der Bundeskanzlerineinst ausgerufene Bildungsrepublik ist nichts, aber auchwirklich nichts mehr wert.
Wie absurd die ganze Debatte ist, zeigt das von derCSU immer wieder vorgetragene Argument, das Betreu-ungsgeld diene der Anerkennung der Erziehungsleistungder Eltern. Erstens erziehen auch Eltern, deren Kindereine Krippe besuchen, ihre Kinder.
Zweitens – ich schaue zu Herrn Geis – trifft genau diesesArgument auf diesen Gesetzentwurf nicht zu; denn dieZahlung des Betreuungsgeldes soll an die Bedingung ge-knüpft werden, dass ein Kind keine öffentlich geförderteKita besucht. Andere Betreuungsformen – nicht nur dieBetreuung zu Hause, sondern auch die durch ein Au-pair-Mädchen, ein Kindermädchen oder in einer privatfinanzierten Krippe – sind mit Ihrem Betreuungsgeldvereinbar.
Qualitätskriterien und Kriterien des Kinderschutzes spie-len in Ihrem Gesetzentwurf keine Rolle. Alles ausge-räumt!
Lassen Sie mich noch wenige Worte zum Betreuungs-geldergänzungsgesetz sagen, das Sie heute in erster Le-sung einbringen. Das, was Sie uns als Einstieg in dasBildungssparen präsentieren, Herr Meinhardt, ist nichtsanderes als der Ausstieg aus einer gerechten Bildungs-politik. Aber von der FDP kann man ja definitiv nichtsanderes erwarten.
Dieses Argument ist genauso absurd, Herr Meinhardt,wie das Betreuungsgeld an sich; denn anstatt durch guteKitas und Schulen eine bessere Bildung für alle zu er-möglichen, greifen Sie nun denjenigen unter die Arme,die viel Geld haben und es nicht wirklich brauchen.
– Die bekommen es doch gar nicht.
Meine Damen und Herren, ich wünsche mir, dass dieKritikerinnen und Kritiker in den Reihen der Regie-rungskoalition bei der namentlichen Abstimmung bei ih-rem Nein bleiben. Die Mehrheit der Bürgerinnen undBürger, der Familien wird es Ihnen danken.Herzlichen Dank.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012 25007
Caren Marks
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Pascal Kober ist der nächste Redner für die FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, Siekönnen sich ja hier in der Debatte gerne auf den Kopfstellen, mit den Beinen wackeln und Hurra schreien;
aber, lieber Herr Trittin, eines muss sich diese Regie-rungskoalition aus CDU/CSU und FDP von Ihnen nichtvorwerfen lassen: Sozialzynismus. So haben Sie es ge-nannt. Diese Regierungskoalition ist in allen Politikbe-reichen besser, als Sie es sein könnten, und hat gerade imBereich der Kinder mehr getan als Sie in Ihren siebenJahren Regierungszeit.
Wir waren es – nicht Sie –, denen es gelungen ist,dass das Risiko für Kleinkinder in Deutschland, in Ar-mut aufzuwachsen, rückläufig ist.
Wir waren es – nicht Sie –, die die Familien mit kleinenund mittleren Einkommen um 4,2 Milliarden Euro ent-lastet haben.
Wir waren es – nicht Sie –, die das Kindergeld erhöht ha-ben. Wir waren es – nicht Sie –, die die Vorbehaltserklä-rung zur UN-Kinderrechtskonvention zurückgenommenhaben.
Wir waren es – nicht Sie –, die den Lebensraum für Kin-der in unserer Gesellschaft faktisch vergrößert haben, in-dem wir per Gesetz klargestellt haben, dass Kinderlärmkein schädlicher Umwelteinfluss ist.
Wir waren es – nicht Sie –, die das Prinzip „Löschenstatt Sperren“ im Internet durchgesetzt haben und so er-reicht haben, dass nicht nur der Zugang zu kinderporno-grafischen Seiten erschwert ist, sondern dass diese men-schenverachtenden Bilder im Internet gelöscht werdenund so die Persönlichkeitsrechte der Kinder gestärktwerden.
Wir waren es – nicht Sie –, die die Meldepflichten fürKinder ohne Aufenthaltsstatus so verändert und gelo-ckert haben, dass ihnen in Zukunft auch ein Kindergar-ten- und Schulbesuch möglich ist.
Wir waren es – nicht Sie –, die einen Straftatbestandfür Zwangsheirat eingeführt haben, um gerade auchMinderjährige zu schützen.
Wir waren es – nicht Sie –, die die Rechte der Opfer inErmittlungs- und Strafverfahren gestärkt haben, was ge-rade Kindern zugute kommt, weil belastende Mehrfach-vernehmungen in Zukunft nicht mehr nötig sind.
Wir waren es – nicht Sie –, die die Chancen auf ge-sellschaftliche Teilhabe für Kinder durch das Bildungs-und Teilhabepaket erhöht haben.
Wir waren es – nicht Sie –, die die finanziellen Mittel zurBildungsförderung für Kinder mit dem Bildungs- undTeilhabepaket zur Verfügung gestellt haben und gleich-zeitig den Weg der Haushaltskonsolidierung nicht ver-lassen haben.
Wir waren es – nicht Sie –, die eine kluge Arbeitsmarkt-,Wirtschafts- und Finanzpolitik gemacht haben
und so das wirtschaftliche Wachstum unterstützt haben,sodass viele Menschen, so viele wie seit Jahrzehntennicht mehr, in diesem Land eine Arbeit haben, was be-deutet, dass auch viele Eltern eine Arbeit haben.
Wir waren es – nicht Sie –, denen es gelungen ist,
dass so wenige Menschen wie noch nie seit Beginn derstatistischen Aufzeichnungen von Transferleistungen inunserem Land leben müssen.
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Pascal Kober
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, das zeigt, dass dieseRegierungskoalition arbeitsfähig ist,
dass diese Regierungskoalition Verantwortung über-nimmt, dass diese Regierungskoalition, gerade wenn esum Kinder geht, eine verantwortliche Politik macht unddie Lebenssituation der Kinder in diesem Land wirklichverbessert.
Diese Regierungskoalition steht zusammen und machteine gute Regierungspolitik. Wir werden dafür sorgen,dass Sie noch mehrere Jahre von der Oppositionsbankaus zusehen werden. So können Sie von uns etwas ler-nen.
Herr Kollege Kober, lassen Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Kekeritz zu?
Nein. – Eine persönliche Anmerkung: Dies war in
dieser Legislaturperiode meine 100. Rede im Deutschen
Bundestag. Lieber Herr Steinbrück, es freut mich, dass
ausgerechnet Sie dabei anwesend waren.
Vielen Dank.
Die Kollegin Deligöz hat nun das Wort für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Kober, die Frage ist doch nicht, was Sie alles gelo-ckert haben, sondern warum Sie das eigentlich haben lo-ckern müssen: weil Sie die Restriktionen in diesem Landerst eingeführt haben.
Vorgestern im Ausschuss hat ein Kollege von derFDP gesagt: Wenn die FDP in der letzten Wahlperiode inder Regierung gewesen wäre, hätte es diesen Gesetzent-wurf nicht gegeben. – Ihre eigene Jugendorganisation,die Julis, sagt: Wenn die FDP in der nächsten Wahlpe-riode in der Regierung ist, wird sie dieses Gesetz wiederabschaffen. – Falls Sie das noch nicht mitbekommen ha-ben: Sie regieren jetzt, in der Gegenwart. Stimmen Siedoch einfach dagegen! Übernehmen Sie Verantwortung!Sie haben jetzt die Gelegenheit dazu.
Das Betreuungsgeld ist bildungspolitisch und gleich-stellungspolitisch wie frauenpolitisch total fatal. Sie wis-sen das. Die Erfahrungen aus Norwegen zeigen das, dieErfahrungen aus Finnland zeigen das, die Erfahrungenaus Thüringen zeigen das. Nicht nur ein- oder zweijäh-rige Kinder bleiben zu Hause, auch drei- oder vierjährigeKinder werden zu Hause gehalten. Sie vernichten dieChancengerechtigkeit. Sie nehmen den Kindern ihreTeilhabechancen. Das müssen Sie doch einsehen!
Wer nimmt das Betreuungsgeld denn in Anspruch?Das sind vorwiegend Familien mit einem niedrigen Ein-kommen, Familien mit einem geringen Bildungsniveau.Die Kinder aus diesen Familien sind aber genau die Kin-der, die Förderung brauchen, auch Sprachförderung. Sienehmen diesen Kindern ihre Chancen, Sie nehmen ihnendamit ihre Zukunft in diesem Land. Wie können Sie da-bei ein gutes Gewissen haben?
Die Armut in Deutschland, liebe Kolleginnen undKollegen, ist vor allem jung und weiblich: 40 Prozentder Alleinerziehenden leben von ALG II. Sie würdengerne arbeiten, wissen aber nicht, wie. Wenn der Kinder-garten um 12.30 Uhr schließt, bekommt man nicht ein-mal einen Halbtagsjob. Das ist das eigentliche Problem.Mit dem Geld, das jetzt als Betreuungsgeld ausge-zahlt werden soll, könnten in Deutschland 6 000 Voll-zeitstellen für Erzieherinnen geschaffen werden, ein-schließlich 13. Monatsgehalt. Erzieherinnen brauchtdieses Land, nicht irgendwelche komischen Geldge-schenke.
Sie reden von Wahlfreiheit. In diesem Land werdenfür Familienleistungen 180 Milliarden Euro ausgegeben,vier Fünftel davon sind Geldleistungen. Weniger als einFünftel wird in die Infrastruktur investiert. Wie kommenSie eigentlich darauf, dass dieses Geld keine Anerken-nung der Elternleistungen ist? Wie kommen Sie über-haupt darauf, dass bei dem bisschen Geld, das in die Inf-rastruktur investiert wird, Wahlfreiheit in diesem Landgewährleistet ist? Wie können Sie die Realität, dass El-tern, die eine Betreuung für ihr Kind suchen, auf zigWartelisten stehen, ignorieren? Das ist nicht nur Igno-ranz, das ist Vogel-Strauß-Politik: sich wegducken unddie Realität nicht anerkennen wollen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt ein anderesBayern: ein weltoffenes Bayern, ein tolerantes Bayern.
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Ekin Deligöz
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Folgen Sie Ihren wahren Gedanken und stimmen Siediesem Gesetzentwurf nicht zu!
Peter Tauber erhält nun das Wort für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! MeineHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beschlie-ßen heute das Betreuungsgeld. Ich will mit einer Zahlbeginnen: mit der Zahl 35. Als wir die entsprechendenGesetze zum Ausbau der Zahl der Krippenplätze auf denWeg gebracht haben, haben wir angenommen, dass35 Prozent der Kinder in diesem Land einen Krippen-platz brauchen.
Inzwischen wissen wir, dass die Zahl der Kinder, die ei-nen Krippenplatz brauchen, höher ist. Deswegen werdenwir unsere Anstrengungen verdoppeln. Die christlich-li-berale Koalition hat ihren Beitrag dazu geleistet, dieKommunen beim Ausbau der Kinderbetreuung zu unter-stützen.
Selbst wenn sich der Anteil der Kinder, die einenKrippenplatz brauchen, 50 Prozent nähern sollte, bedeu-tet das aber immer noch, dass 50 Prozent der Eltern ihreKleinkinder bis zum dritten Lebensjahr zu Hause be-treuen. Frau Kollegin Deligöz, die Eltern „halten“ ihreKinder nicht zu Hause, sie betreuen sie zu Hause. DerBegriff „halten“ entstammt der Zoologie, nicht der Päda-gogik.
Wir wissen, dass die Hälfte der Eltern ihre Kinder biszum dritten Lebensjahr zu Hause betreut, um sie dann inden Kindergarten zu bringen. Genau das wollen wir. Esist ein berechtigtes Anliegen dieser Eltern, zu fragen:Was tut die Politik, um uns das zu ermöglichen? Dafürist das Betreuungsgeld da. Das ist ganz einfach zu ver-stehen. Dazu braucht man keine Ideologie.Wenn Sie sich den letzten ARD-Deutschlandtrend vorAugen führen, dann sehen Sie, dass all Ihre Zahlen nichtstimmen; denn dort haben 39 Prozent der Menschen ge-sagt, sie freuen sich über die Entscheidung des Koali-tionsausschusses, sie seien für das Betreuungsgeld.
Wer sind diese 39 Prozent? Okay, es mögen keine Ge-werkschaftsfunktionäre sein, die uns sagen, wir müssendie Kinder möglichst vom ersten Tag an in die Krippebringen. Es werden auch keine Wirtschaftsfunktionäredes BDI sein, die in den Menschen an dieser Stelle viel-leicht nur eine ökonomische Verfügungsmasse sehen.Das ist auch nicht unser Anspruch an Familienpolitik.Wir wollen die notwendigen Rahmenbedingungen set-zen, damit Familie gelebt werden kann. Das geht sowohlin der Krippe als auch zu Hause.Wir verwahren uns gegen das einseitige Aufrechnen:Dort funktioniert es, und dort ist es schlecht. – Das funk-tioniert nicht, und dagegen verwahren wir uns. Das willich hier an dieser Stelle noch einmal sehr deutlich sagen.
In der letzten Debatte habe ich an die Adresse der Op-position gesagt, es wäre ganz klug, wenn Sie Ihre Fach-politiker und nicht die erste Reihe hier reden lassen wür-den.
Gerade bei der Rede von Herrn Steinbrück ist das nocheinmal sehr deutlich geworden.Herr Steinbrück, Sie haben ja nicht einmal den Na-men der Vorsitzenden des Ausschusses für Familie, Se-nioren, Frauen und Jugend richtig ausgesprochen, ge-schweige denn hier in der Sache sauber zum Themageredet.
Die Kollegin Deligöz hat getwittert – das kann ichaber nicht bestätigen; das muss Ihre Fraktion beantwor-ten –, sie hätte gehört, dass in der SPD schon der Hut he-rumgeht, weil Herr Steinbrück heute redet.
Ich glaube, Ihre Rede heute war kostenlos. Sie war abernicht nur kostenlos, sondern auch umsonst,
und zwar nicht nur, weil Sie in der Sache falsch argu-mentiert haben.
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25010 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012
Dr. Peter Tauber
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Ihr Problem ist ein ganz anderes, auch wenn Sie nichtzuhören: Ihr Problem ist, dass Sie nicht glaubwürdigsind. Sie haben damals, als das Gesetz beschlossenwurde, gesagt, das sei ein guter Kompromiss. Heute stel-len Sie sich hier hin und sagen, das sei Schwachsinn.Was gilt denn nun, Herr Steinbrück?Das ist ja auch nicht nur bei diesem Thema so.
Sie haben damals bei der Pleite von Lehman Brothersgesagt, das hätte keine Auswirkungen auf Europa. Wenndiese Bundeskanzlerin Sie nicht an die Hand genommenund gesagt hätte,
die Sparguthaben der Deutschen sind sicher, dann wärenSie vielleicht bei dieser Meinung geblieben. Was galtdenn damals, Herr Steinbrück?
Dann haben Sie gesagt, Griechenland muss gerettet wer-den. Kurze Zeit später waren Sie gegen die Griechen-land-Rettung. Was gilt denn nun, Herr Steinbrück? Siehaben auch gesagt: Nein, eine Insolvenz von Griechen-land ist nicht in Ordnung. – Danach haben Sie gesagt,man müsse einmal über eine Insolvenz Griechenlandsreden. Was gilt denn, Herr Steinbrück?Die Menschen wissen nicht, woran sie bei Ihnen sind.Das ist das eigentliche Problem, das Sie an dieser Stellehaben.
Zur Sache selbst.
Wir haben damals im großen Konsens nicht nur die4 Milliarden Euro auf den Weg gebracht, um den Aus-bau der Krippenplätze voranzutreiben. Wir haben mit580 Millionen Euro auch noch einmal draufgesattelt. Dahaben Sie sich mit den Ländern im Bundesrat ewig ge-ziert. Das war aber ein ganz entscheidender wichtigerSchritt nach vorne. Daneben haben wir das KfW-Pro-gramm auf den Weg gebracht. Hier muss man auch derMinisterin noch einmal danken, die sich dort engagierthat.Es nützt auch nichts, dass Sie hier ständig persönlicheKämpfe gegen einzelne Mitglieder der Bundesregierungführen. Sie müssen sich auch ganz konkret fragen lassen:Was leisten Sie vor Ort, dort, wo Sie Verantwortung ha-ben, wo Sozialdemokraten Bürgermeister und Landrätesind, für einen Beitrag, damit es genug Betreuungsplätzevor Ort gibt? Das ist die entscheidende Frage, die Siesich stellen lassen müssen.Mir fallen viele Beispiele von sozialdemokratisch re-gierten Kommunen ein, in denen noch irgendwelcheWunschträume erfüllt und entsprechende Personalkostenfinanziert werden und es deswegen, weil Sie vor Ort diefalschen Prioritäten setzen, nicht genug Krippenplätzegibt. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe,
und es ist falsch, zu suggerieren, dass allein eine Bun-desregierung, egal welcher Couleur, für genug Krippen-plätze vor Ort sorgen kann. Hier müssen die Kommunenund die Länder mitmachen. Anhand der Zahlen sehenwir genau, wo es noch hapert. Dieser Aufgabe solltenSie sich mit Vehemenz zuwenden. Dann wäre sehr vielgewonnen.Es bleibt dabei: Wir machen das nicht mit. Wir wollennicht die gute Arbeit, die Erzieherinnen und Erzieher inden Krippen leisten, gegen das aufrechnen, was Elternihren Kindern an Liebe und Fürsorge auf den Weg ge-ben, weil die Wahrheit am Ende des Tages ist: Kinderbrauchen immer beides. Sie brauchen eine gute Betreu-ung, spätestens im Kindergarten, und sie brauchen dieLiebe und Fürsorge ihrer Eltern, ihrer Verwandten, ihrerBrüder und Schwestern, ihrer Großeltern. Darum gehtes. Das ist die Botschaft, die wir von hier aussendenmüssen.
Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie einmal von Ihremideologischen Ross heruntersteigen und das hier einbisschen deutlicher sagen.Ich glaube deswegen, dass wir den 39 Prozent derer,die sich über die Entscheidung dieser Koalition freuen– das sind vor allem die jungen Eltern, die sagen: „Ichwill mein fünfzehn Monate altes Kleinkind eben nicht ineine Krippe bringen“ –, damit Rechnung tragen. Denn esist auch Aufgabe der Politik, nicht immer nur vermeintli-chen Mehrheiten hinterherzurennen, sondern an alleGruppen in dieser Gesellschaft zu denken. Dazu gehört,dass wir für die, die die Krippenplätze brauchen, dieseKrippenplätze auch bereitstellen. Da beißt die Maus kei-nen Faden ab; der Rechtsanspruch gilt. Wenn sozialde-mokratische Kommunalpolitiker den jetzt aushebelnwollen, dann werden wir ihnen klar sagen: Mit uns wirddas nicht gehen. – Der Rechtsanspruch ist wichtig, dergilt, der steht.
Wer es sich erlauben kann oder wer darauf Wert legtoder wer diese Entscheidung ganz bewusst getroffen hat,dass er in der Familie während der ersten drei Lebens-jahre seiner Kinder deren Betreuung anders organisiert,der soll das tun, und der kriegt von uns die entspre-chende Unterstützung. Sie werden es nicht erleben, dassein Christdemokrat, selbst wenn er dem Betreuungsgeldals Instrument kritisch gegenübersteht, den Stab übersolche Eltern bricht. Es geht hier um den Elternwillen,das ist die freie Entscheidung von Familien. Das respek-tieren wir.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012 25011
Dr. Peter Tauber
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Wir wollen eben nicht die Lufthoheit über den Kinder-betten, von denen Sie heimlich noch träumen. Diesscheint in manchen Wortmeldungen durch. Sagen Sie eswenigstens so ehrlich, dass es Ihr Gesellschaftsbild ist,die Kinder möglichst früh in staatliche Obhut zu neh-men. Aber tun Sie nicht immer so, als ginge es um etwasanderes. Verstecken Sie das nicht hinter anderen Wort-hülsen. Das wird der Sache nicht gerecht.Deswegen ist es gut, wenn wir die Debatte heute be-enden, das Gesetz auf den Weg bringen. Ich glaube, vieleEltern werden es uns danken.Herzlichen Dank.
Uwe Schummer ist der letzte Redner zu diesem Ta-
gesordnungspunkt für die CDU/CSU-Fraktion.
Verehrtes Präsidium! Meine Damen und Herren! Esstimmt, wir haben uns beim Thema Betreuungsgeld überMonate, auch über Jahre hinweg gestritten; wir habenunterschiedliche Positionen gehabt. Am Ende haben wiraber auch miteinander einen Weg gefunden, der für unsalle akzeptabel ist. Wir haben uns deshalb darüber ge-stritten und haben dann einen Kompromiss und gemein-samen Weg in der Koalition gefunden, weil uns dasThema wichtig ist, weil uns die Kinder wichtig sind, umdie es letztendlich in diesem unserem Lande geht.Sie von der SPD haben einen anderen Weg gewählt:Diffamierung, Herdprämie, taktische Spielchen. Ichwerde als Abgeordneter nicht vergessen, dass Sie vor derparlamentarischen Sommerpause auf Anweisung IhrerFraktionsführungen den Plenarsaal verlassen haben, umsich einer Diskussion zu verweigern.
– Das ist Verweigerung! – Sie standen hämisch vor denTüren und haben noch darauf gewartet, dass die Koali-tion alleine die Beschlussfähigkeit hier feststellen unddurchsetzen sollte. Sie haben sich einer Plenardebatteverweigert, haben künstlich die Beschlussunfähigkeithergestellt.
Das sind taktische Spielchen. Es gibt doch einen Grund,weshalb Sie zu solchen Spielchen greifen.
Herr Steinbrück, wer von Daniel Goffart Ihre Biogra-fie liest, der kennt den Grund:Für die SPD ist das Betreuungsgeld ein politischerGlücksfall. Da kaum ein politisches Feld inDeutschland so ideologisch besetzt ist wie Erzie-hungsfragen und Familienpolitik, scheint sich die-ses Thema bestens für eine Wahlkampfauseinander-setzung zu eignen.Das ist Ihre Motivation. Es geht nicht um Kinder und Fa-milien, sondern es geht um Ihre Wahlkampftaktik.
Der haben Sie das Parlament unterworfen, Ihre Abge-ordneten und offensichtlich auch dieses Thema.Stichwort Fernhalteprämie: Herr Steinbrück, wer bei17 namentlichen Abstimmungen nicht im Parlamentwar, um stattdessen Prämien in Bochum und anderswozu kassieren, der sollte sich entschuldigen. Das ist dieeinzige Fernhalteprämie, die hier ausgezahlt worden ist,und zwar an Sie, Herr Steinbrück.
Bei den 17 namentlichen Abstimmungen ging es in neunFällen um die Entsendung von Menschen nach Afgha-nistan, ins Kosovo und in andere Länder der Welt, umsich dort für Frieden einzusetzen. Ihr Verhalten ist aucheine Missachtung der Menschen, für die wir hier im Par-lament zuständig sind.
Wir wollen die Kombination des Betreuungsgeldesmit dem Bildungssparen. Sie haben gemeinsam mit IhrerFraktion in der Großen Koalition 2008 ein Element desBildungssparens eingebracht. Wir haben das Vermö-gensbildungsgesetz für 12 Millionen Arbeitnehmer ne-ben dem Bausparen und dem Produktivsparen für die Al-terssicherung für das Bildungssparen geöffnet. Wirwollen jetzt in der christlich-liberalen Koalition die Lü-cke mit einem Bildungssparbuch von der Geburt bis hinzur Erwerbstätigkeit schließen.
Damit setzen wir einen wichtigen Punkt, damit ein le-bensbegleitendes Bildungskonto aufgebaut werdenkann. Das ist eine der wichtigen Maßnahmen, die wir indieser Koalition durchsetzen werden.
Natürlich lässt sich mit einem solchen Bildungssparbuchvon Geburt an auch das Bildungspaket verbinden, wo-durch vieles einfacher wird.
Ich komme zu der Unterstellung, dass Familien miteinem geringeren Einkommen ihre Kinder schlechter er-ziehen würden. Sie waren doch einmal die Partei der Ar-beitnehmer und der kleinen Leute. Trauen Sie denennichts mehr zu? Sie meinen offenbar, ein Kind aus einersolchen Familie müsse frühzeitig in eine Betreuung ge-
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25012 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012
Uwe Schummer
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geben werden. Ich denke, man muss die professionelleArbeit mit der ehrenamtlichen Arbeit und der Familien-arbeit kombinieren. Unser Weg ist, Brücken zu bauen,anstatt zu polarisieren und Gräben aufzureißen.
Es gibt Programme der Agentur für Arbeit, mit derenHilfe es möglich ist, die Familienarbeit mit der Erwerbs-arbeit zu kombinieren. Ich nenne hier das StichwortWiedereinstieg nach der Elternschaft. Es gibt aber auchviele andere berufliche Weiterbildungsmaßnahmen derAgentur für Arbeit. Diese können auch in Verbindungmit einer Kinderbetreuung in Anspruch genommen wer-den. Das heißt, Weiterbildung, Familienarbeit und Er-werbsarbeit sind möglich, wenn man alle Instrumente,die die Bundesregierung geschaffen hat, nützt.Alle familienpolitischen Leistungen in Deutschlandsind von unionsgeführten Regierungen, von Unions-kanzlern grundgelegt worden. Das waren bei KonradAdenauer die Einführung des Mutterschutzes und desKindergeldes, bei Helmut Kohl das Erziehungsgeld unddie Rentenansprüche für Erziehungszeiten sowie diePflegeversicherung. Familie ist überall dort, wo KinderVerantwortung für ihre Eltern und Eltern Verantwortungfür ihre Kinder übernehmen.
Das ist die Grundaussage unserer Politik. Unter AngelaMerkel sind der Rechtsanspruch auf einen Kinderkrip-penplatz für unter Dreijährige, das Betreuungsgeld unddas Bildungssparen grundgelegt worden.Wie immer in einer christlich-demokratisch geführtenBundesregierung geht es mit den Familien vorwärts.Heute ist ein guter Tag für die Familien, ein guter Tagfür die Bildung. Ich denke, wir sollten jetzt versuchen,miteinander um bessere Wege zu ringen, und die Linkesollte ihre Diffamierungen einstellen.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von denFraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent-wurf eines Gesetzes zur Einführung eines Betreuungs-geldes. Hierzu liegen mir zahlreiche persönliche Erklä-rungen zur Abstimmung vor, die wir dem Protokollbeifügen.1)
– Ich verkneife mir jeden Hinweis, wie häufig das vor-kommt, zu welchen Anlässen und von welcher Seite.Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Ju-gend empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussemp-fehlung auf Drucksache 17/11404, den Gesetzentwurfder Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf der Drucksa-che 17/9917 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ichbitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen.– Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Ge-setzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.Wir kommen nun zurdritten Beratungund Schlussabstimmung. Über den Gesetzentwurf stim-men wir auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSUund FDP namentlich ab. Darf ich um ein Signal derSchriftführerinnen und Schriftführer bitten, ob alle Ab-stimmungsurnen besetzt sind? – Jawohl.Dann eröffne ich hiermit die Abstimmung über diesenGesetzentwurf.Ist ein Mitglied im Saal anwesend, das seine Stimmenoch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Dannschließe ich hiermit die Abstimmung und bitte dieSchriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-lung zu beginnen. Ich teile Ihnen dann das Ergebnis dernamentlichen Abstimmung mit, sobald es vorliegt.2)Darf ich Sie bitten, die Plätze wieder einzunehmenoder anderenfalls den Saal zu verlassen?Unter Zusatzpunkt 9 b setzen wir die Abstimmungenzu den Beschlussempfehlungen des Ausschusses fürFamilie, Senioren, Frauen und Jugend auf Drucksache17/11404 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buch-stabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung desAntrags der SPD-Fraktion auf Drucksache 17/9572 mitdem Titel „Kita-Ausbau statt Betreuungsgeld“. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-lung ist angenommen.Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-sache 17/9582 mit dem Titel „Betreuungsgeld nicht ein-führen – Öffentliche Kinderbetreuung ausbauen“. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Auch diese Beschluss-empfehlung ist angenommen.Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe dseiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11404die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen auf Drucksache 17/9165 mit dem Titel „KeinBetreuungsgeld einführen – Kinder und Familie durchden Ausbau der Kindertagesbetreuung fördern“. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Auch diese Beschluss-empfehlung ist angenommen.Interfraktionell wird unter dem Tagesordnungs-punkt 9 c die Überweisung des Gesetzentwurfs auf derDrucksache 17/11315 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitigeVorschläge? – Die sind nicht erkennbar. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.1) Anlagen 2 bis 4 2) Ergebnis Seite 25014 D
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012 25013
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 42 a und 42 bsowie den Zusatzpunkt 10 auf:42 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Silvia Schmidt , Anette Kramme,Elke Ferner, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der SPDUN-Konvention jetzt umsetzen – Chancen füreine inklusive Gesellschaft nutzen– Drucksachen 17/7942, 17/10010 –Berichterstattung:Abgeordnete Maria Michalkb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung
– zu dem Antrag der Abgeordneten KlausRiegert, Sibylle Pfeiffer, Dr. Christian Ruck,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSU sowie der Abgeordneten HelgaDaub, Dr. Christiane Ratjen-Damerau,Joachim Günther und der Fraktionder FDPSelbstbestimmtes Leben von Menschen mitBehinderung – Grundsatz der deutschenEntwicklungspolitik– zu dem Antrag der Abgeordneten Karin Roth
, Dr. Sascha Raabe, Lothar Binding
, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPDBehinderung und Entwicklungszusammen-arbeit – Behindertenrechtskonvention um-setzen und Entwicklungszusammenarbeitinklusiv gestalten– Drucksachen 17/9730, 17/8926, 17/10330 –Berichterstattung:Abgeordnete Klaus RiegertKarin Roth
Helga DaubNiema MovassatUwe KekeritzZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten OliverKaczmarek, Dr. Ernst Dieter Rossmann,Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der SPDDas Menschenrecht auf inklusive Bildung inDeutschland endlich verwirklichen– Drucksache 17/10117 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeHaushaltsausschussAuch diese Aussprache soll nach einer interfraktio-nellen Vereinbarung 90 Minuten dauern. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Also können wir so verfahren.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächstdie Kollegin Maria Michalk für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nachdieser hochemotionalen Debatte über das Betreuungs-geld, für die sich alle interessiert und an der sich alle be-teiligt haben – alle haben sich eine Meinung dazu gebil-det –, wünschte ich mir, dass das Thema, das jetzt aufder Tagesordnung steht, eine genauso breite Aufmerk-samkeit sowohl in der Gesellschaft als auch hier im Hausfindet und zu genauso viel Engagement führt.
Es liegen mehrere Anträge zu dem Thema auf demTisch, und zwar zum wiederholten Mal, wie wir die Teil-habe von Menschen mit Behinderung in unserem Landbesser organisieren können. Es geht darum, mit ihnen inden Dialog zu treten, Verbesserungen zu diskutieren unddiese umzusetzen. Vor allen Dingen sollten wir aufneh-men, was nicht so gut läuft, und die Gesetze korrigieren,die wir in guter Absicht verabschiedet haben, die sichaber in der Praxis vor Ort als mangelhaft erwiesen ha-ben. Manches kann man mit einem großen Fragezeichenversehen, und manches erregt große Verärgerung,manchmal auch Verwunderung.Es tut not, dieses Thema, das ein Querschnittsthemaist, immer wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Wirhaben das erlebt, als wir vor 14 Tagen hier im DeutschenBundestag zum ersten Mal diese große fraktionsüber-greifende Initiative gestartet haben. Ich rede von der Be-gegnung des Parlaments mit Menschen mit Behinde-rung. Es gab eine ausführliche Debatte mit Menschenmit Behinderung aus allen Teilen Deutschlands, die aufEinladung von Abgeordneten hierhergekommen sind.Dies hat zu einer weiteren Vernetzung dieser Menschengeführt.Ich danke vor allen Dingen den Kolleginnen und Kol-legen, die sich engagiert haben, obwohl das verdienteWochenende bevorstand und noch viele Verpflichtungenin den Wahlkreisen wahrzunehmen waren. Sie habensich die Zeit genommen, mit den Menschen hier vor Ortzu diskutieren. Gleichwohl haben die Menschen mit Be-hinderung auf der Abschlussveranstaltung dezidiert ge-sagt, dass sie sich gewünscht hätten, dass noch mehr Ab-geordnete teilgenommen hätten. Ich komme somitmeiner Verpflichtung nach, dies hier öffentlich noch ein-mal zu betonen. Wir als behindertenpolitische Sprecherwollen nicht, dass diese Veranstaltung eine Eintagsfliegewar.Die Forderungen und die Erkenntnisse, die in denzwölf Arbeitskreisen erhoben bzw. gewonnen wurden,
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Maria Michalk
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werden eine gute Grundlage für unsere weitere Arbeitsein. Viele Diskussionen, die auch Sie sicherlich in IhrenWahlkreisen führen, zeigen, dass es nottut, mit dem Den-ken in Schubladen aufzuhören. Manchen ist das Wort„Inklusion“, das wir seit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention im Munde führen, zu pla-kativ. Vielleicht finden sie es auch nicht geeignet, dasauszudrücken, was gemeint ist. Ich will auch an Vorur-teile erinnern, die sich gebildet haben. Das finde ich sehrschade.Wir sollten uns vergegenwärtigen, was das Wort „In-klusion“ eigentlich bedeutet. Ich möchte eine Analogieherstellen. Wir wissen beim Bezahlen einer Ware, diewir in einem Geschäft kaufen, dass der Preis inklusiveMehrwertsteuer ist, obwohl die Mehrwertsteuer nichtextra ausgewiesen ist. Wir haben sozusagen mit der Mut-termilch aufgesogen, dass es bei der Mehrwertsteuereine Inklusion gibt. Aber in unserem Bereich tun wir unsmit dem Wort „Inklusion“ schwer.Wir brauchen also kein Schubladendenken, sonderneine fächerübergreifende Denkweise. Das merken wirheute auch an den Anträgen. Was haben wir im Deut-schen Bundestag nicht schon alles zu diesem Thema dis-kutiert: Wir wollen eine bessere Einbindung der Men-schen mit Behinderung in den ersten Arbeitsmarkt undfür diejenigen, bei denen die Voraussetzungen für eineBeschäftigung am ersten Arbeitsmarkt nicht gegebensind, optimale Arbeitsmöglichkeiten in den Werkstättenmit einer viel größeren Durchlässigkeit und Außen-arbeitsplätzen. Wir haben hierzu das Gesetz zur Einfüh-rung Unterstützter Beschäftigung beschlossen.Es geht also um das große Thema der Teilhabe amArbeitsleben. Denn es kann uns nicht zufriedenstellen,dass es bei sinkenden Arbeitslosenzahlen in unseremLand – Gott sei Dank ist die Arbeitslosenquote so nied-rig wie schon lange nicht mehr; seit der Wiedervereini-gung Deutschlands, auch daran muss man an diesem Tagerinnern, hat es noch nie eine so niedrige Arbeitslosen-quote gegeben – bei der Zahl behinderter ArbeitsloserStagnation gibt. Das ist geradezu eine Aufforderung anuns alle, sich darüber Gedanken zu machen.Wir haben das Modellprojekt aus dem Nationalen Ak-tionsplan zur Inklusion, bei dem wir mithilfe von vierSäulen, durch Berufsorientierung, Berufsausbildung, In-tegrationsmaßnahmen und Unterstützung der Industrie-und Handelskammern, versuchen, auch Menschen mitBehinderung, die über 50 Jahre sind und scheinbar zumalten Eisen zählen, in den ersten Arbeitsmarkt zu inte-grieren.
Die Initiative läuft über die Länder, die für die Umset-zung zuständig sind. Es ist interessant, wie unterschied-lich die Ergebnisse nach fast einjähriger Laufzeit sind.Auch das sollte uns im Parlament beschäftigen.Ich erinnere daran, dass wir erst neulich gemeinsameine Initiative beschlossen haben, die darauf abzielt, dassbei öffentlichen Ausschreibungen – das ist für diesenArbeitsmarktbereich einfach notwendig – die Vergabe-ordnung so ausgelegt wird, dass viel stärker Qualität,Kompetenz und Eingliederungserfolge Berücksichti-gung finden.
Wir haben im Bereich des Personennahverkehrs Ini-tiativen gestartet, in deren Folge die 50-Kilometer-Grenze aufgehoben worden ist. Wir haben mit den Ver-kehrspolitikern darüber gesprochen und letztlich einengemeinsamen Appell verabschiedet, dass im Zuge derUmsetzung der Fernbusrichtlinie in Zukunft viel stärkerals bisher barrierefreie Mitfahrmöglichkeiten berück-sichtigt werden sollen. Auch da haben wir sehr viel aufden Weg gebracht.Bei diesem Thema geht es also um eine Querschnitts-aufgabe, die unter dem Stichwort „Inklusion“ gebündeltist. Inklusion ist kein Gesetz, wie ich schon mehrfach andieser Stelle gesagt habe, sondern es ist eine Herzenssa-che; es ist ein Programm. Ich hoffe sehr, dass wir weitergut vorankommen und mit den Betroffenen die Punktediskutieren und Schritt für Schritt abstellen, bei denender Grundgedanke der Inklusion noch nicht zu 100 Pro-zent erfüllt wird.Auf diesem Weg bitte ich darum, dass wir gemeinsamdaran arbeiten, und danke Ihnen, dass Sie mir zugehörthaben.
Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, möchte ichIhnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführernermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmungzur Einführung eines Betreuungsgeldes bekannt geben:abgegebene Stimmen 594. Mit Ja haben gestimmt 310,mit Nein haben gestimmt 282, Enthaltungen 2. Der Ge-setzentwurf ist angenommen.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 594;davonja: 310nein: 282enthalten: 2JaCDU/CSUIlse AignerPeter AltmaierPeter AumerDorothee BärThomas BareißNorbert BarthleGünter BaumannErnst-Reinhard Beck
Manfred Behrens
Veronika BellmannDr. Christoph BergnerPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserDr. Maria BöhmerWolfgang Börnsen
Wolfgang Bosbach
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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Norbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexander DobrindtMarie-Luise DöttDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachHartwig Fischer
Dirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachDr. Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserErich G. FritzDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelIngo GädechensDr. Peter GauweilerDr. Thomas GebhartNorbert GeisAlois GerigEberhard GiengerMichael GlosJosef GöppelPeter GötzDr. Wolfgang GötzerReinhard GrindelHermann GröheMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundMonika GrüttersOlav GuttingFlorian HahnDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilUrsula Heinen-EsserFrank HeinrichRudolf HenkeMichael HennrichAnsgar HevelingErnst HinskenPeter HintzeChristian HirteRobert HochbaumKarl HolmeierFranz-Josef HolzenkampJoachim HörsterAnette HübingerHubert HüppeThomas JarzombekDieter JasperDr. Franz Josef JungDr. Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerAlois KarlBernhard Kaster
Volker KauderDr. Stefan KaufmannRoderich KiesewetterEckart von KlaedenEwa KlamtVolkmar KleinAxel KnoerigJens KoeppenManfred KolbeDr. Rolf KoschorrekHartmut KoschykThomas KossendeyMichael KretschmerGunther KrichbaumDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Hermann KuesGünter LachAndreas G. LämmelDr. Norbert LammertUlrich LangeDr. Max LehmerPaul LehriederDr. Ursula von der LeyenIngbert LiebingMatthias LietzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsDr. Jan-Marco LuczakDaniela LudwigDr. Michael LutherKarin MaagDr. Thomas de MaizièreHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Dr. Michael MeisterDr. Angela MerkelMaria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergPhilipp MißfelderDietrich MonstadtMarlene MortlerDr. Gerd MüllerStefan Müller
Dr. Philipp MurmannBernd Neumann
Michaela NollDr. Georg NüßleinFranz ObermeierEduard OswaldHenning OtteDr. Michael PaulUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferBeatrix PhilippRonald PofallaChristoph PolandRuprecht PolenzEckhard PolsThomas RachelDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergKatherina Reiche
Lothar RiebsamenJosef RiefKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckErwin RüddelAlbert Rupprecht
Anita Schäfer
Dr. Wolfgang SchäubleDr. Annette SchavanDr. Andreas ScheuerKarl SchiewerlingNorbert SchindlerTankred SchipanskiGeorg SchirmbeckChristian Schmidt
Patrick SchniederDr. Andreas SchockenhoffNadine Schön
Dr. Kristina SchröderDr. Ole SchröderBernhard Schulte-DrüggelteUwe Schummer
Detlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelErika SteinbachChristian Freiherr von StettenDieter StierGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerKarin StrenzThomas Strobl
Michael StübgenDr. Peter TauberAntje TillmannDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzVolkmar Vogel
Stefanie VogelsangAndrea Astrid VoßhoffDr. Johann WadephulMarco WanderwitzKai WegnerMarcus Weinberg
Peter Weiß
Sabine Weiss
Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannPeter WichtelAnnette Widmann-MauzKlaus-Peter WillschDagmar G. WöhrlDr. Matthias ZimmerWolfgang ZöllerWilli ZylajewFDPJens AckermannChristian AhrendtChristine Aschenberg-DugnusDaniel Bahr
Florian BernschneiderSebastian BlumenthalClaudia BögelKlaus BreilRainer BrüderleAngelika BrunkhorstErnst BurgbacherMarco BuschmannHelga DaubReiner DeutschmannBijan Djir-SaraiPatrick DöringMechthild DyckmansHans-Werner EhrenbergRainer ErdelJörg van EssenUlrike FlachOtto FrickeDr. Edmund Peter GeisenDr. Wolfgang GerhardtHans-Michael GoldmannHeinz GolombeckJoachim Günther
Dr. Christel Happach-KasanHeinz-Peter HausteinManuel HöferlinElke HoffBirgit HomburgerHeiner KampMichael KauchDr. Lutz KnopekPascal KoberDr. Heinrich L. KolbGudrun KoppDr. h. c. Jürgen KoppelinHolger KrestelPatrick Kurth
Heinz LanfermannHarald LeibrechtSabine Leutheusser-SchnarrenbergerLars LindemannDr. Martin Lindner
Michael Link
Dr. Erwin LotterOliver LuksicHorst MeierhoferPatrick MeinhardtGabriele MolitorJan MückePetra Müller
Dr. Martin Neumann
Dirk Niebel
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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Hans-Joachim Otto
Gisela PiltzJörg von PolheimDr. Birgit ReinemundDr. Peter RöhlingerDr. Stefan RuppertBjörn SängerFrank SchäfflerChristoph SchnurrJimmy SchulzMarina SchusterDr. Erik SchweickertWerner SimmlingJudith SkudelnyDr. Hermann Otto SolmsJoachim SpatzDr. Max StadlerTorsten StaffeldtDr. Rainer StinnerStephan ThomaeManfred TodtenhausenDr. Florian ToncarSerkan TörenJohannes Vogel
Dr. Daniel VolkDr. Guido WesterwelleDr. Claudia WintersteinDr. Volker WissingHartfrid Wolff
NeinCDU/CSUJürgen KlimkeKatharina LandgrafSPDIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeinz-Joachim BarchmannDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsKlaus BarthelSören BartolBärbel BasSabine Bätzing-LichtenthälerDirk BeckerUwe BeckmeyerLothar Binding
Gerd BollmannKlaus BrandnerWilli BraseBernhard Brinkmann
Edelgard BulmahnUlla BurchardtMartin BurkertPetra CroneDr. Peter DanckertMartin DörmannElvira Drobinski-WeißSebastian EdathyIngo EgloffSiegmund EhrmannDr. h. c. Gernot ErlerPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerElke FernerGabriele FograscherDr. Edgar FrankeDagmar FreitagSigmar GabrielMichael GerdesMartin GersterIris GleickeGünter GloserUlrike GottschalckAngelika Graf
Kerstin GrieseGabriele GronebergMichael GroßWolfgang GunkelHans-Joachim HackerBettina HagedornKlaus HagemannMichael Hartmann
Hubertus Heil
Wolfgang HellmichRolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogGabriele Hiller-OhmPetra Hinz
Frank Hofmann
Christel HummeJosip JuratovicOliver KaczmarekJohannes KahrsDr. h. c. Susanne KastnerUlrich KelberLars KlingbeilHans-Ulrich KloseDr. Bärbel KoflerDaniela Kolbe
Fritz Rudolf KörperAnette KrammeAngelika Krüger-LeißnerUte KumpfChristine LambrechtChristian Lange
Dr. Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerKirsten LühmannCaren MarksKatja MastHilde MattheisPetra Merkel
Ullrich MeßmerDr. Matthias MierschFranz MünteferingDr. Rolf MützenichAndrea NahlesThomas OppermannHolger OrtelAydan ÖzoğuzHeinz PaulaJohannes PflugJoachim PoßDr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeMechthild RawertStefan RebmannGerold ReichenbachDr. Carola ReimannSönke RixRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannKarin Roth
Michael Roth
Marlene Rupprecht
Annette SawadeAnton SchaafAxel Schäfer
Bernd ScheelenMarianne Schieder
Werner Schieder
Ulla Schmidt
Carsten Schneider
Ottmar SchreinerSwen Schulz
Ewald SchurerFrank SchwabeDr. Martin SchwanholzRolf SchwanitzStefan SchwartzeRita Schwarzelühr-SutterDr. Carsten SielingSonja SteffenPeer SteinbrückDr. Frank-Walter SteinmeierChristoph SträsserKerstin TackDr. h. c. Wolfgang ThierseFranz ThönnesWolfgang TiefenseeRüdiger VeitUte VogtDr. Marlies VolkmerAndrea WickleinHeidemarie Wieczorek-ZeulDr. Dieter WiefelspützWaltraud Wolff
Uta ZapfDagmar ZieglerManfred ZöllmerBrigitte ZypriesFDPSylvia CanelSebastian KörberBurkhardt Müller-SönksenCornelia PieperDIE LINKEJan van AkenAgnes AlpersDr. Dietmar BartschHerbert BehrensKarin BinderMatthias W. BirkwaldHeidrun BluhmSteffen BockhahnChristine BuchholzEva Bulling-SchröterDr. Martina BungeRoland ClausDr. Diether DehmWerner DreibusDr. Dagmar EnkelmannKlaus ErnstWolfgang GehrckeNicole GohlkeDiana GolzeAnnette GrothHeike HänselDr. Rosemarie HeinInge HögerDr. Barbara HöllAndrej HunkoUlla JelpkeKatja KippingHarald KochJan KorteJutta KrellmannKatrin KunertCaren LayRalph LenkertStefan LiebichUlla LötzerDr. Gesine LötzschThomas LutzeUlrich MaurerDorothée MenznerCornelia MöhringKornelia MöllerWolfgang NeškovićThomas NordPetra PauJens PetermannRichard PitterleYvonne PloetzIngrid RemmersPaul Schäfer
Michael SchlechtDr. Ilja SeifertKathrin Senger-SchäferDr. Petra SitteKersten SteinkeSabine StüberAlexander SüßmairDr. Kirsten TackmannFrank TempelDr. Axel TroostAlexander UlrichKathrin VoglerJohanna VoßSahra WagenknechtHalina WawzyniakHarald WeinbergKatrin WernerJörn WunderlichBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKerstin AndreaeMarieluise Beck
Volker Beck
Cornelia BehmBirgitt BenderAgnes BruggerViola von Cramon-Taubadel
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012 25017
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Ekin DeligözKatja DörnerHarald EbnerHans-Josef FellDr. Thomas GambkeKai GehringKatrin Göring-EckardtBritta HaßelmannBettina HerlitziusPriska Hinz
Dr. Anton HofreiterBärbel HöhnIngrid HönlingerThilo HoppeUwe KekeritzKatja KeulMemet KilicSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkUte KoczyTom KoenigsSylvia Kotting-UhlOliver KrischerAgnes KrumwiedeFritz KuhnStephan KühnRenate KünastMarkus KurthUndine Kurth
Monika LazarDr. Tobias LindnerNicole MaischJerzy MontagKerstin Müller
Beate Müller-GemmekeDr. Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffDr. Hermann E. OttLisa PausBrigitte PothmerTabea RößnerClaudia Roth
Krista SagerManuel SarrazinElisabeth ScharfenbergDr. Gerhard SchickDr. Frithjof SchmidtUlrich SchneiderDorothea SteinerDr. Wolfgang Strengmann-KuhnHans-Christian StröbeleDr. Harald TerpeMarkus TresselJürgen TrittinDaniela WagnerBeate Walter-RosenheimerArfst Wagner
Wolfgang WielandDr. Valerie WilmsJosef Philip WinklerEnthaltenCDU/CSUElisabeth Winkelmeier-BeckerFDPMiriam Gruß
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulla Schmidt von derSPD-Fraktion.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Heute ist ein Datum, das in der deutschenGeschichte immer wieder eine Rolle gespielt hat: der9. November. Es gab schöne Tage – Fall der Mauer –,und es gab an diesem Tag die Reichspogromnacht, mitder der Vernichtungsfeldzug gegen die jüdische Bevöl-kerung in unserem Lande gestartet wurde, infolgedessenaber auch Menschen mit Behinderungen von den Natio-nalsozialisten jedes Lebensrecht abgesprochen wurde.Sie wurden verfolgt und zu Menschenversuchen miss-braucht. Ich finde es gut, dass der Deutsche Bundestagan diesem Datum darüber redet, dass wir mit der Behin-dertenrechtskonvention ganz klar gesagt haben: Men-schenrechte sind nicht teilbar. Die Menschenrechte derbehinderten Menschen in unserem Land werden festge-schrieben. – Wir bemühen uns nun darum, dass und wiedas geschieht.
Es ist auch gut, an den glücklichen Umstand zu erin-nern, dass dank unserer parlamentarischen Demokratieund unseres Grundgesetzes heute die erste Generationgeistig behinderter Frauen und Männer das Rentenaltererreichen kann. Aber das muss für uns auch eine Ver-pflichtung sein, alles dafür zu tun, dass die immer nochbestehenden Barrieren, in der medizinischen und pflege-rischen Versorgung und auch bei der Umsetzung beste-hender Gesetze, beseitigt werden; denn wir stellen heutefest: Geistig behinderte Menschen, behinderte Menschenim Rentenalter haben die gleichen gesundheitlichen undpflegerischen Probleme wie alle anderen Menschen dannauch. Wir müssen dafür sorgen, dass die Pflege endlichauf Grundlage eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffserbracht wird, der Teilhabe für das ganze Leben bis zumletzten Atemzug zugrunde legt, damit die vorgesehenenLeistungen den Menschen mit geistiger Behinderung,mit mehrfacher Behinderung oder mit erhöhtem Hilfebe-darf endlich so zugutekommen, wie sie es für Teilhabebrauchen.
In der Behindertenrechtskonvention, über die wirheute reden, sehe ich eine große Chance für die gesamteGesellschaft, nicht nur deshalb, weil mit der Behinder-tenrechtskonvention die Menschenrechte aus der Per-spektive der behinderten Menschen festgeschriebenwerden, sondern auch deshalb, weil deutlich wird:„Menschenrechte sind nicht teilbar“, weil das Signalausgesendet wird: „Du bist uns willkommen“. Ich wärefroh, wenn das die Botschaft des heutigen Tages ist: Unsist jeder willkommen.Wir werden darauf achten, dass mit Verwirklichungvon Inklusion nicht nur das Modell der Teilhabe umge-setzt wird, sondern dass auch ganz deutlich wird, dassInklusion und Teilhabe einen Rechtsanspruch begrün-den. Wir sind dazu da, die gesetzlichen Voraussetzungenzu schaffen, damit diese Gesellschaft endlich so verän-dert wird – die Infrastruktur, die Rahmenbedingungen –,dass diese Proklamation und Deklaration in der Behin-dertenrechtskonvention nicht nur ein Wort bleibt, son-dern gelebtes Leben hier bei uns in Deutschland wird. Esist die Aufgabe des heutigen Tages, auch dafür zu sor-gen.
Inklusion, liebe Kolleginnen und Kollegen, das be-deutet Wertschätzung, das bedeutet gleiche Augenhöhe,das bedeutet für uns alle, uns so zu verändern, dass wirlernen, das scheinbar Unnormale als das Normale anzu-sehen. Inklusion ist keine Deklaration. Wir als Sozialde-mokraten haben in dieser Legislaturperiode eine Reihe
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Ulla Schmidt
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von Anträgen eingebracht, weil wir wollen, dass dieserRechtsanspruch auch im Gesetz verankert wird.Im Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung fin-den sich viele schöne Worte; wir erleben aber, dass vieledieser Worte nur Worte bleiben. Heute ist aber der Tag,an dem wir sagen: Wir brauchen auch gesetzliche Rah-menbedingungen. Wer, wenn nicht der Deutsche Bun-destag oder die Parlamente in den Ländern, soll denn da-für sorgen, dass dieser Rechtsanspruch der behindertenMenschen in diesem Land auch in Gesetzesform umge-setzt wird? Kein anderer wird das für uns tun, wenn wirnur Absichtserklärungen abgeben. Das muss eine Ver-pflichtung für uns sein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben schonwichtige Schritte getan in unserem Land. Mit dem Re-formkanzler Gerhard Schröder haben wir den Paradig-menwechsel in der Behindertenpolitik eingeleitet, indemwir den Weg „weg von der Fürsorge, hin zur Teilhabe“gegangen sind, indem das SGB IX entwickelt wurde, mitdem die Rechtsansprüche behinderter Menschen festge-schrieben wurden, indem wir mit dem Behinderten-gleichstellungsgesetz von 2002 den Anspruch auf barrie-refreie Zugänge festgeschrieben haben und indem wir alsSPD mit den Grünen auch das Allgemeine Gleichbehand-lungsgesetz, das Antidiskriminierungsgesetz, durchge-setzt haben – und das gegen den Widerstand der damali-gen Opposition, der CDU/CSU und der FDP.Meine Damen und Herren, wir haben aber noch einenlangen Weg vor uns, ehe wir Inklusion auch wirklichumgesetzt haben.Ich glaube, dass ein wichtiger Lackmustest hierfürsein wird, ob es uns gelingt, die Barrierefreiheit durchgesetzliche Vorgaben nicht nur für öffentliche Einrich-tungen, sondern auch für die Privatwirtschaft umzuset-zen; denn die Privatwirtschaft ist das entscheidende. Ichbin nicht mehr bereit, hinzunehmen, dass immer dann,wenn die Privatwirtschaft gefragt ist, gesagt wird, daskönnen wir nicht tun. Wir haben keine Probleme, ihrGesetze zu verordnen über Umweltstandards, über Ar-beitsschutzbedingungen, über Gesundheitsschutzbedin-gungen, über Arbeitszeit, Steuerrecht und vieles anderemehr. Ich finde, heute muss der Tag sein, von dem dasSignal ausgeht: Behinderte Menschen gehören mitten-rein. Sie gehören zu uns. Wir werden auch die Privat-wirtschaft dazu verpflichten, Barrierefreiheit in ihremBereich umzusetzen. Das muss man gesetzlich auf denWeg bringen, wenn man wirklich etwas erreichen will.
Den zweiten Lackmustest, ob wir es ernst meinen mitder Behindertenrechtskonvention, wird die Reform derEingliederungshilfe darstellen. Wir müssen davon weg-kommen, dass wir über die Eingliederungshilfe unterdem Aspekt der Bedürftigkeit diskutieren. Bei ihr gehtes um einen Teilhabeanspruch, der verwirklicht werdensoll und der für jeden Menschen gilt. Dazu gehört, dassklar wird, dass es nicht darum geht, einen bestimmtenGeldbetrag zur Verfügung zu stellen und dann zu überle-gen, wie wir ihn verteilen können. Die Eingliederungs-hilfe wird ihrem Namen nur dann gerecht, wenn mit ihrTeilhabe für den Einzelnen tatsächlich möglich wird.Damit das umgesetzt wird, muss alles getan werden. Ichsage hier ganz deutlich, liebe Kolleginnen und Kollegen:Der Maßstab müssen die Menschen mit besonderem Hil-febedarf sein, sonst haben wir in Zukunft eine Zweiklas-sengesellschaft von Behinderten: die, die die Inklusionleicht schaffen, und die anderen, die außen vor stehen.Das muss der Anspruch an zukünftiges Vorgehen sein.
Wir wollen deswegen, dass die Eingliederungshilfeim Sozialgesetzbuch IX verankert wird, damit Partizipa-tion, Nachteilsausgleich, Selbstbestimmung und dasRecht auf stetige Verbesserung der Lebensbedingungenverwirklicht werden; denn für uns endet die Menschen-würde nicht mit dem Verlust von körperlichen und kog-nitiven Fähigkeiten.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Menschen, die be-hindert sind, brauchen unsere Unterstützung. Aber auchMenschen mit geistiger Behinderung können Hilfe ge-ben. Sie können Unterstützung leisten. Sie bringen sichein. Sie engagieren sich. Sie sind aktiv. Sie sind kompe-tent. Sie leisten zum Beispiel tolle Arbeit im Bereich derKindertagesstätten. Sie leisten tolle Arbeit im Bereichder Altenpflege. Die Lebenshilfe hat in diesem Jahr einProjekt zum Einsatz von geistig behinderten Menschenals Alltagsbegleiter in der Pflege vorgestellt. HubertHüppe war dabei. Ich muss sagen: Das ist Wertschätzungfür Menschen mit Behinderungen, wie wir sie meinen.Sie erfüllen bei pflegebedürftigen Menschen ihre Aufga-ben, können sich dort einbringen und daran wachsen, ha-ben Zeit für die pflegebedürftigen Menschen.Das zeigt aber auch, wo Chancen und Perspektivenfür unsere Gesellschaft liegen. Wir reden darüber, dasswir in einer Gesellschaft leben, in der wir immer mehrÄltere und immer weniger Jüngere haben.
Frau Kollegin.
Das ist der Punkt, zu zeigen, dass wir auf die Fähig-
keit von keinem einzigen Menschen verzichten können,
sondern dass wir Inklusion, die Teilhabe aller, als Ge-
winn für die ganze Gesellschaft betrachten.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Gabriele Molitor vonder FDP-Fraktion.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012 25019
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Vor zwei Wochen stand an diesem
Rednerpult ein Mann mit Downsyndrom. Er war Teil-
nehmer der ersten Veranstaltung „Menschen mit Behin-
derung im Deutschen Bundestag“, wo sich knapp
300 Menschen mit Behinderungen versammelt haben,
um mit uns gemeinsam zu diskutieren, wie ein besseres
Miteinander funktionieren kann. Menschen mit Behin-
derungen wissen am besten, was passieren muss, damit
dieses selbstverständliche Miteinander realisiert werden
kann.
Ich freue mich, dass wir heute mehrere behinderten-
politische Anträge zu beraten haben, weil dadurch deut-
lich wird, dass Behindertenpolitik eine Querschnittsauf-
gabe ist, dass es aber auch eine Aufgabe ist, die nicht nur
unser Land betrifft, sondern auch für die Zusammen-
arbeit mit anderen Ländern wichtig ist. Denn wir reden
hier von einem Menschenrecht. Wir sollten alles daran-
setzen, die Ausgrenzung von Menschen mit Behinderun-
gen dort, wo sie noch immer besteht, zu beenden.
Gerade an einem Tag wie heute ist es wichtig, noch
einmal daran zu erinnern, wie in früheren Zeiten mit
Menschen mit Behinderungen umgegangen wurde. Im
Dritten Reich ist mit der Euthanasie schlimmstes Un-
recht begangen worden. Daran muss man bei einer sol-
chen Debatte auch erinnern.
Nach dem Krieg war man der Meinung, man müsste
Menschen mit Behinderung in Sonderwelten unterbrin-
gen und ihnen mit besonders intensiver Betreuung
begegnen. Bis in die 70er-Jahre hinein hat man Behinde-
rung und Beeinträchtigung als persönliches und funktio-
nales Defizit verstanden. Erst die UN-Behinderten-
rechtskonvention hat hier ein neues Denken eröffnet;
seitdem wird Behinderung als Form menschlichen Le-
bens verstanden.
Der in der Konvention verwendete Begriff „Inklu-
sion“ – ich merke immer wieder, dass man diesen Be-
griff erklären muss; er ist nicht ohne Weiteres verständ-
lich – kennzeichnet dieses Umdenken. Das bedeutet,
dass die Gesellschaft Bedingungen herstellen muss, un-
ter denen Behinderung nicht zur Benachteiligung wird.
In diesem Zusammenhang ist zu sagen, dass der Natio-
nale Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung
der UN-Behindertenrechtskonvention eine vorbildliche
Gesamtstrategie enthält.
Auch wenn wir hier viele Gemeinsamkeiten sogar
über die Fraktionsgrenzen hinweg feststellen, muss ich
an dieser Stelle doch sagen, dass es mich wundert, wenn
in dem Antrag von der SPD der richtige Weg darin gese-
hen wird, Gleichstellung und ein vorurteilsfreies Mit-
einander mit Gesetzesverschärfungen und Sanktionen
auf den Weg bringen zu wollen. Inklusion lässt sich
nicht erzwingen. Sie muss noch weit über das hinausge-
hen, was der Gesetzgeber bewerkstelligen kann.
Ich freue mich über unseren gemeinsamen Antrag,
der die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinde-
rung zum Grundsatz der deutschen Entwicklungspolitik
macht. Inklusion ist hier längst kein Fremdwort mehr.
Wir werden die Ziele der UN-Behindertenrechtskonven-
tion so auch nach und nach umsetzen.
Was ist wichtig? Wir wollen Vorurteile von Anfang an
vermeiden. Wir wissen: Es ist ein großes Plus, wenn
Kinder in Kindertagesstätten erfahren, dass es normal
ist, verschieden zu sein. Integrative Kindertagesstätten
erfreuen sich großer Beliebtheit. Mit dem Eintritt in die
Schule hört dieses Miteinander häufig auf. Ich glaube,
hier besteht Handlungsbedarf. Gemeinsames Lernen
muss auch hier einen wichtigen Platz haben. Ich sage
aber auch, dass das Kindeswohl zu berücksichtigen ist.
Es gibt durchaus eine Berechtigung für den Fortbestand
der Förderschulen, wo sie zum Wohle der Kinder not-
wendig sind.
Warum ist gemeinsames Lernen so wichtig? Es ist
wichtig, weil es Auswirkungen auf späteres gemeinsa-
mes Arbeiten hat. Mir geht es sehr darum, dass Men-
schen mit Behinderungen nicht nur in den Werkstätten
einen Arbeitsplatz finden, sondern auch auf dem ersten
Arbeitsmarkt. Viele stellen fest, dass mit der richtigen
Assistenz, mit dem richtigen Coaching und mit entspre-
chender Unterstützung wertvolle Mitarbeiter zur Verfü-
gung stehen, die ihrer Tätigkeit mit Begeisterung nach-
gehen. Gerade, wenn wir vom Fachkräftemangel reden,
sollten wir auch Menschen mit Behinderung im Blick
haben. Wir senden ein gutes Signal aus, wenn wir sagen:
Wir brauchen euch. In diese Richtung müssen wir gehen,
um mehr Teilhabe zu verwirklichen.
Der gesetzliche Rahmen ist das eine. Das andere ist:
Die Gesellschaft insgesamt muss sowohl die Inklusion
als auch die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskon-
vention zu ihrem Anliegen machen. Denn eine inklusive
Gesellschaft geht alle an. Gerade beim Stichwort „Barrie-
refreiheit“ erkennt man: Alle profitieren davon, wenn
die inklusive Gesellschaft Wirklichkeit wird.
Vielen Dank.
Jetzt hat der Kollege Dr. Ilja Seifert von der Fraktion
Die Linke das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Meine Damen und Herren draußen und hier auf denTribünen! Heute vor zwei Wochen trafen sich 299 Men-
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25020 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012
Dr. Ilja Seifert
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schen mit den unterschiedlichsten Beeinträchtigungenund Bundestagsabgeordnete zum Erfahrungsaustausch.Wer von Ihnen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen,nicht dabei war, verpasste etwas. Diese Begegnung warinhaltlich und emotional ein großer Erfolg.
Darauf können wir stolz sein. Der Bundestag zeigte, wiees aussieht, wenn ein Verfassungsorgan seine Verpflich-tungen aus der UN-Behindertenrechtskonvention ernstnimmt. Schade ist allerdings – so viel Selbstkritik musssein –, dass die Anzahl der Gäste die der Gastgeber umein Vielfaches überstieg.Anhand sehr praktischer Beispiele aus dem Alltagschilderten die Gäste, was ihr Leben so ausmacht. Derwichtigste Eindruck war: große Lebensfreude, enormeLebenskraft. Da wurde nicht gejammert, da wurde nichtgebarmt. Aber wir erfuhren von alltäglicher Mühsal:bauliche und kommunikative Barrieren, schikanös klein-mütige Verwaltungs- bzw. Verhinderungs- und Verwei-gerungspraktiken, haarsträubende Gesetzesauslegung,offene oder versteckte, in jedem Fall aber kränkende undherabwürdigende Missachtung, fehlende Assistenz, seies bei der Pflege, sei es bei der Arbeit, sei es in der Frei-zeit, sei es Gebärdenkommunikation, und vieles anderemehr.Diese Praxisschilderungen waren mit klaren Ansagenverbunden, mit klugen Forderungen und wohldurch-dachten Vorschlägen. Zu den inhaltlichen Kernbotschaf-ten gehörten unter anderem folgende Forderungen: Ver-bot jedweder Diskriminierung, Schaffung umfassenderBarrierefreiheit sowie voller und gleichberechtigter Teil-habe.
Eine der Forderungen, die in vielen Arbeitsgruppen undunter unterschiedlichsten Blickwinkeln immer wiedererhoben wurde, war: Assistenzleistungen in allen Le-benslagen und in jedem Alter, und zwar als Nachteils-ausgleich, also unabhängig von Einkommen und Vermö-gen; Frau Schmidt wies ja auch schon darauf hin.
Das, meine Damen und Herren, sind wahrlich keineneuen Erkenntnisse; sie wurden dieses Mal nur so kom-pakt, so authentisch und so schnörkellos vorgetragen,dass man sich ihrer Überzeugungskraft weder intellek-tuell noch emotional entziehen konnte. Ich will Ihnenanhand einiger Beispiele aufzeigen, was konkret ge-meint ist.Aber eine erste Schlussfolgerung darf ich schon ein-mal nennen: Wir haben kein Erkenntnis-, sondern einUmsetzungsproblem. Allerdings ist die Erkenntnis of-fenbar noch sehr ungleich verteilt.Die Begegnung im Paul-Löbe-Haus zeigte, dass dieMenschenrechtsdimension der UN-Behindertenrechts-konvention bei vielen der Entscheiderinnen und Ent-scheider offenbar längst noch nicht angekommen ist.Vielmehr denkt man diesseits der Barriere offenbar nochin Kategorien medizinischer Defizite, bestenfalls imGeiste der Wohltätigkeit. Es geht aber um Rechte, dieden Menschen mit und ohne Behinderungen zustehen.Es geht weder um Gnade noch um Großherzigkeit; esgeht um Ansprüche.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Behin-dertenrechtskonvention wurde vor sechs Jahren von derUNO-Vollversammlung angenommen. An ihrer Aus-arbeitung – das war für die Diplomaten in New Yorksehr ungewohnt – beteiligten sich Betroffene aus allerWelt. Sie gaben der Losung „Nichts über uns ohne uns!“praktische Gestalt. Was also brachte uns dieses Doku-ment?In Deutschland brauchten wir immerhin zwei Jahre,um die Konvention zu innerstaatlichem Recht zu ma-chen. Vonseiten der Betroffenen stand von vornhereindie teilweise fehlerhafte und irreführende Übersetzungin der Kritik. Aber die Regierung erwies sich als hartlei-big: keine Änderung.Dem Ratifikationsgesetzentwurf beigefügt war eineDenkschrift. Ihr Inhalt lässt sich in zwei kurzen Sätzenzusammenfassen: Alles ist gut. Nichts müssen wir än-dern. – Zwar kritisierten in der Bundestagsdebatte vieleRednerinnen und Redner diese Denkschrift, dennochwird sie heute noch gelegentlich als Argument fürNichts-tun-Wollen aus der Mottenkiste geholt und giltdann als Wille des Gesetzgebers. Das war er wirklichnicht.Nach der Bundestagswahl 2009 färbte sich die Regie-rung von schwarz-rosa in schwarz-gelblich um. Sie er-kannte immerhin, dass ein Umsetzungsplan nötig sei.Um diesen zu erstellen, ließ sie sich gut anderthalb JahreZeit. Derweil veranstaltete die Regierung mit großemBrimborium und viel Geld etliche Einbeziehungsfesti-vals, bei denen Menschen mit Behinderungen ihre Er-wartungen an diesen Plan benennen sollten. Dort, im fe-derführenden Ministerium, müsste die Erkenntnis alsolängst vorhanden sein. Aber es gelang dem Ministerium,diese standhaft zu ignorieren. Der Nationale Aktionsplanatmet den Geist muffiger Verzögerungstaktik.
Es konnte immerhin nicht verhindert werden, dasssich das Wissen um die große Bedeutung der Konven-tion verbreitet. Wir kommen also mit der Bewusstseins-bildung ein bisschen voran, nunmehr sogar bis in denBundestag. Das ist erfreulich.Bedauerlicherweise lässt sich Bewusstsein jedochnicht völlig ohne Inhalt bilden. Also drang auch der Slo-
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Dr. Ilja Seifert
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gan „Nicht über uns ohne uns!“ etwas weiter vor. Dasheißt, Menschen mit Behinderungen und ihre Selbsthil-feorganisationen sind an politischen Entscheidungen zubeteiligen.
Noch etwas lässt sich immer schwerer verheimlichen:Ein Screening aller Gesetze auf Kompatibilität mit derBehindertenrechtskonvention muss her. Auf Grundlagedieser muss dann geändert und modernisiert werden. Ichnenne hier einmal zwei aktuelle Beispiele.Da ist erstens das Wahlrecht. § 13 entzieht momentanMenschen, die in allen Lebenslagen betreut werden, pau-schal das Wahlrecht – als wenn sie keine politische Mei-nung haben könnten! Als wenn sie ihren Wählerwillennicht eindeutig ausdrücken könnten! Diese diskriminie-rende Regelung gehört abgeschafft. Es geht hier um einmenschenrechtlich gestütztes Bürgerrecht. Das darf nie-mandem pauschal vorenthalten werden.
Da ist zweitens die zwangsweise medizinische Be-handlung. Sie ist menschenrechtswidrig. Niemandemdarf man Medikamente aufzwingen. Auch eine Betreue-rin oder ein Betreuer hat nicht das Recht, den erkennba-ren Willen zu ignorieren. Allerdings muss ich befürch-ten, dass gegenwärtig in manchen Bundesländern eherdaran gearbeitet wird, diese vom Bundesverfassungsge-richt außer Kraft gesetzten Zwangsregelungen juristischzu legitimieren, anstatt sie dem modernen Menschenbildanzupassen. Das ist sehr bedenklich.Oder nehmen wir das Beispiel Bildung. Die amtlicheÜbersetzung kennt den Begriff „Inklusion“ überhauptnicht, Frau Molitor, dennoch – immerhin! – spricht heutejeder und jede davon, allerdings durchaus mit sehr unter-schiedlichem Verständnis dessen, was gemeint seinkönnte. Ich verweise diesbezüglich einmal auf Italien.Dort gibt es keine Sonderschulen. Keine! Also gibt esauch keine Sonderschülerinnen und Sonderschüler –vom Kindergarten bis zum Abitur und, wenn gewünscht,bis zum Studium. Lassen Sie uns einfach mal in Südtirolnachschauen. Dort spricht man auch Deutsch. Vielleichtverstehen wir es dann sogar einmal.Der Arbeitsmarkt zeigt keine wirklichen Verbesserun-gen. Noch immer ist die offiziell registrierte Arbeitslo-sigkeit unter Menschen mit Behinderungen doppelt sohoch wie unter Nichtbehinderten. Von Gleichheit alsokeine Spur. Dafür blühen jede Menge Aussonderungs-werkstätten. Dass sich dort etliche Mitarbeiterinnen undMitarbeiter wohler fühlen, als wenn sie völlig untätigumhersäßen, ändert nichts daran, dass hier erheblicherHandlungsbedarf besteht.Oder schauen wir auf die Mobilität. In der Tat sehenwir vielerorts barrierefreie Busse und Bahnen. Hier wir-ken sich Entscheidungen aus, die vor 20 oder 30 Jahrenvon Leuten, die seinerzeit Spinner genannt wurden, vonklugen und tapferen Visionärinnen und Visionären, er-kämpft wurden. Im Flugverkehr sieht es schon wenigererfreulich aus, jedenfalls, wenn eine Rollstuhlfahrerineinmal auf die Toilette muss. Auch gibt es auf unserenFlüssen nur wenige barrierefreie Schiffe.Eine besondere Ambivalenz zeigt die Zulassung vonLinienfernbussen. Hier wird mehr als drei Jahre nach In-krafttreten der Behindertenrechtskonvention etwasNeues eingeführt. Aber Barrierefreiheit soll nach demWillen der Bundesregierung weiterhin keine bindendeVorschrift sein. Wieso? Mit welchem Recht ignoriert dieBundesregierung die eigenen Gesetze? Nunmehr fandsich, da der Rechtfertigungsdruck zu groß wurde, einhalbherziger Kompromiss, der aber immer noch besagt:Vorläufig bleibst du draußen.Nehmen wir das Thema Wohnen: Es sind praktischkaum barrierefreie Wohnungen zu finden. Die freie Wahldes Wohnorts wird so zur Farce. Es gibt weder ein nen-nenswertes Programm zur Förderung des Neubaus be-zahlbarer barrierefreier Wohnungen noch eines zumUmbau vorhandener Wohnungen. Der Bedarf ist groß,aber Aktivitäten der Regierung sind nicht erkennbar.Wie sieht es überhaupt mit dem Ausgleich behinde-rungsbedingter Nachteile aus? Die Konvention sprichtvon angemessenen Vorkehrungen, die zu treffen seien,um volle Teilhabe zu ermöglichen. Es besteht Anspruchauf Persönliches Budget, das sogar trägerübergreifendsein soll. Wenn aber der Sozialhilfeträger gebraucht wird– und das ist bei hohem Assistenzbedarf immer der Fall –,wird zuerst nach Bedürftigkeit gefragt. Du musst armsein, wenn du etwas willst. Das ist kein Ausgleich behin-derungsbedingter Nachteile, das ist die Verhinderungvon Teilhabe. Wir brauchen ein einkommens- und ver-mögensunabhängiges Leistungsgesetz.
Dass die Linke im Bundestag einen entsprechendenAntrag zur Abstimmung stellte, soll hier nicht nur amRande erwähnt sein. Gleiches gilt für den Kostenvorbe-halt in § 13 SGB XII.Aber die Regierung war auch kreativ, beispielsweiseindem sie die Regelbedarfsstufe 3 erfand. Diese sorgtdafür, dass erwachsene Menschen mit Behinderungen,die noch bei ihren Eltern wohnen müssen, 20 Prozentweniger Geld haben. Das ist enorm.Nun rang sich die Koalition zu einem Gesetzentwurfdurch, der zukünftig die Mitnahme von Assistentinnenund Assistenten zu medizinischen Vor- und Nachsorge-maßnahmen ermöglichen wird. Toll! Allerdings hat sieeinen gleichlautenden Gesetzentwurf der Linken, derfast zwei Jahre lang im Parlament schmorte, gerade erstabgelehnt.Im Pflegebereich ist es nicht besser. Seit Jahren weißman, dass es nicht mehr um satt, sauber und still geht,sondern um Teilhabeermöglichung. Alle Aktivitäten, diein diese Richtung gehen, werden aber verhindert. Es gibtkein bisschen Fortschritt, geschweige denn eine solidari-sche Bürgerinnen- und Bürgerversicherung.Es gäbe noch viele Punkte zu nennen, bei denen sichnichts oder nichts zum Guten änderte. Ich nenne nurwahl- und wertungslos einige Stichworte: Kindergeldab-
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Dr. Ilja Seifert
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zweigung, Rundfunkgebühren, Wertmarke für Freifahrt-berechtigung im ÖPNV, institutionelle Förderung derSelbsthilfe, Medaillenprämien bei Paralympics und Op-fer von Contergan.Heute nun stimmen wir unter anderem über einen An-trag ab, mit dem die Koalitionsfraktionen ihrer eigenenRegierung sagen, dass sie auch in der Entwicklungszu-sammenarbeit die UN-Behindertenrechtskonvention zubeachten habe. Das ist peinlich, aber wir stimmen zu,wenn auch mit einem Schmunzeln.
Herr Kollege Seifert, bitte denken Sie an die Zeit.
Entschuldigen Sie, Herr Präsident. Ich komme zum
letzten Satz.
Vor allem sollten wir zu einem Menschenbild finden,
das die und den anderen nicht nur irgendwie toleriert,
sondern das Anderssein will, sich darüber freut. Es sind
die Unterschiede, die uns einander interessant machen.
Sie sind es auch, die uns zu gegenseitig ergänzendem,
solidarischem Handeln bringen können.
Danke für die Aufmerksamkeit.
Der Kollege Markus Kurth spricht jetzt für Bündnis 90/
Die Grünen.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Ich glaube, man muss einmal anhand von Beispielenplastisch deutlich machen: Was bedeutet eigentlich dieUN-Behindertenrechtskonvention? Was beinhaltet sie?Was bedeuten die konkreten Rechte?Ich möchte mit dem Naheliegendsten anfangen, miteiner Frage, die alle hier, alle Zuhörerinnen und Zuhörer,alle Bürgerinnen und Bürger betrifft, nämlich mit derFrage des Wohnens und des normalen Lebens. ImGrunde genommen – das muss man sich klarmachen –beinhaltet die UN-Konvention über die Rechte von Men-schen mit Behinderungen Dinge, die alle Menschenohne Beeinträchtigung als Selbstverständlichkeiten an-sehen.So heißt es zum Beispiel in Art. 19, dass die Vertrags-staaten gewährleisten – ich zitiere –, dass „Menschenmit Behinderungen gleichberechtigt die Möglichkeit ha-ben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden,wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, inbesonderen Wohnformen zu leben“. Ich sehe junge Men-schen oben rechts auf der Tribüne, die sich wahrschein-lich achselzuckend sagen: Na und? Ich nehme für michselbstverständlich in Anspruch, selbst zu entscheiden,wo und mit wem ich zusammenlebe. – Aber für Men-schen mit besonderem Unterstützungsbedarf und Beein-trächtigung in Deutschland sieht die Sache anders aus.Da haben wir zum Beispiel seit vielen Jahren den Falldes Herrn Geier. Herr Geier ist Ende 30 und lebt in ei-nem Heim. Er möchte gerne ausziehen. Er benötigt per-sönliche Assistenz. Im Heim gibt es aber nicht genügendPersonal. Er muss also morgens warten, bis jemand Zeithat, ihm aus dem Bett zu helfen, ihn zu waschen, zu ra-sieren usw. Herr Geier hat auch eine Freundin. Sie mussmit ihm im Heim im 90 Zentimeter breiten Bett liegen.Morgens kommt das Pflegepersonal und holt die beidenmanchmal, je nachdem, mit einem etwas scheelen Grin-sen aus dem Bett. Würden Sie sich das gefallen lassen?Können Sie sich eine solche Beziehung, eine solche Le-bensform vorstellen? Herr Geier möchte mehr Kontrolleüber sein Leben haben und in einer eigenen Wohnung le-ben. Seit sechs Jahren kämpft er um die Übernahme derKosten mit dem Sozialhilfeträger, der sich mit Verweisauf die zu hohen Kosten für Assistenz und Pflegeweigert, ein Leben in der eigenen Häuslichkeit zu er-möglichen. Das ist nach dieser UN-Behindertenrechts-konvention, insbesondere nach Art. 19, den ich geradevorgetragen habe, jetzt und auch zukünftig eine klareMenschenrechtsverletzung. Es ist die Verpflichtung vonuns allen, diesen Zustand zu ändern.
Ich möchte ein weiteres Beispiel geben, und zwar ausdem Bereich Arbeit, der ebenfalls sehr zentral ist. InArt. 27 der Behindertenrechtskonvention heißt es, dassdie Vertragsstaaten anerkennen, dass die Menschen dieMöglichkeit haben, den Lebensunterhalt durch Arbeit zuverdienen – auch das ist etwas, was wir als selbstver-ständlich ansehen –, und zwar in einem offenen, frei ge-wählten Arbeitsumfeld. Die Aufgabe von staatlichen In-stitutionen, aber insbesondere von Sozialversicherungenist es, wäre es, dies zu ermöglichen und offensiv zu be-treiben.Aber was passiert unter anderem in Deutschland? Einanderes Beispiel: Wir haben den Fall eines jungen Men-schen, der eine Berufsausbildung macht. Er hat Assis-tenzbedarf. Er hat Unterstützungsbedarf: Gebärden-sprachdolmetschung in der Berufsschule. Was passiert?Über Monate bzw. Jahre hinweg streiten sich Integra-tionsamt und Schulträger darüber, wer das zu bezahlenhat. Das Integrationsamt lehnt ab und sagt: Es geht umdie Berufsschule. Das ist also Schule. Damit haben wirnichts zu tun. – Der Schulträger wiederum sagt: Das istBerufsausbildung. Das ist berufliche Eingliederung. Da-mit haben wir nichts zu tun. – Dadurch, dass sich diesebeiden Seiten jeweils für unzuständig erklären und nichtleisten, werden die Ausbildung eines jungen Menschenund seine Möglichkeiten, im Arbeitsmarkt Fuß zu fas-sen, gefährdet, und das ist ein Skandal.
Das Besondere an der Behindertenrechtskonventionist, dass sie unterstützende Strukturen fordert und alsRecht feststellt. Die klassischen Menschenrechte sindAbwehrrechte. Das Recht auf Meinungsfreiheit und dasRecht auf körperliche Unversehrtheit sind Abwehrrechte
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Markus Kurth
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gegenüber einem übermächtigen Kollektiv und gegen-über staatlichen Zumutungen. Die Menschenrechtskon-vention ändert das Bild. Das ist die erste Menschen-rechtskonvention, in der Unterstützung und Befähigungzum Wahrnehmen von Menschenrechten ganz klar auf-geschrieben wurden. Ich denke, das ist eine Unterstüt-zung für alle mit ihren Beeinträchtigungen und Beson-derheiten.
Diesem Anspruch werden wir unzulänglich gerecht –leider.Ich hätte mir gewünscht, dass die SPD mit ihrem An-trag etwas mehr Mut bewiesen hätte; das muss ich schonsagen. Ich habe an einem Beispiel die Wohnsituationdargestellt und geschildert. Die nordrhein-westfälischeLandesregierung hat in ihrem Aktionsplan eine sehr kon-sequente Formulierung in diesem Zusammenhang ge-funden. Sie hat gesagt, dass der entsprechende Paragrafim Sozialrecht, der bereits von Herrn Seifert erwähnte§ 13 SGB XII, ersatzlos gestrichen werden soll. Fertig!Der Mehrkostenvorbehalt sei zu streichen.
Man kann sich wirtschaftliche Leistungsformen überle-gen. Ich bezweifle, dass es automatisch zu überborden-den Mehrkosten kommt. Man schaue sich einmal ernst-haft an, was für Leistungserbringungen wir wollen.Die SPD-Bundestagsfraktion hat leider nicht dieKlarheit und Konsequenz, die die rot-grüne nordrhein-westfälische Landesregierung hierbei an den Tag gelegthat.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat an ebendieser Stelle inihrem Antrag nur einen Prüfauftrag festgeschrieben.Man muss sagen, dass das etwas zu kurz gesprungen ist.Der nordrhein-westfälische Aktionsplan kann undsollte auch der Bundesregierung als Beispiel dafür die-nen – das muss man ihr an dieser Stelle ganz klar mittei-len –, wie ein Aktionsplan auszusehen hat: Alle Res-sorts, alle landesrechtlichen Regelungen sollen auf dieUN-Behindertenrechtskonvention hin überprüft werden.Es ist so, dass ganz klare Zielsetzungen, Fristen und Zu-ständigkeiten in den Ressorts genannt sind. Diese Klar-heit und Konsequenz bei der Umsetzung der UN-Behin-dertenrechtskonvention, die dort zu erkennen sind, hätteich mir auch von der Bundesregierung gewünscht.Vielen Dank.
Jetzt hat das Wort der Kollege Hubert Hüppe für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freuemich, heute erstmals hier im Hohen Haus in dieserWahlperiode reden zu dürfen, nachdem ich in den Bun-destag aufgrund des tragischen Todes eines Kollegennachrücken durfte. Ich möchte als Beauftragter der Bun-desregierung für die Belange behinderter Menschen ersteinmal allen Beauftragten der Fraktionen an dieser Stellefür die gute Zusammenarbeit danken.
Ich glaube, dass vieles erreicht worden ist, weil manes gemeinsam über alle Partei- und Fraktionsgrenzenhinweg vorangebracht hat. Eben wurde schon die Veran-staltung „Menschen mit Behinderung im DeutschenBundestag“ angesprochen. Ich möchte an dieser Stellenoch einmal dem THW danken, das im wahrsten Sinnedes Wortes Brücken gebaut hat. Das Schöne war: Mit-arbeiter des THW haben geholfen, und auch unter diesenMitarbeitern waren zwei Menschen im Rollstuhl. Sie ha-ben gezeigt, dass sie etwas leisten können. Dem THWsei an dieser Stelle noch einmal herzlich gedankt.
Meine Damen und Herren, wenn über Inklusion ge-sprochen wird – dieser Begriff ist ja auch nicht ganz bar-rierefrei –, dann sagen erst einmal alle, sie seien dafür.Dann sagen sie, man müsse aber jeden mitnehmen. Dannsagen sie, man dürfe bewährte Strukturen aber nicht ein-fach so infrage stellen; man dürfe das Kind nicht mitdem Bade ausschütten. Letztendlich sei es eine Jahrhun-dertaufgabe.Eins will ich einmal sagen: Die UN-Behinderten-rechtskonvention stellt klar: Teilhabe ist Menschenrecht.
Daher kann man nicht noch einmal ein paar Jahre war-ten. Vergleichbar ist das Ganze mit der Situation einesBusfahrers, der alle Wartenden an allen Haltestellen mit-nehmen will. Wenn man nun wartet, bis auch der Letztedie Einsicht hat, dass Teilhabe Menschenrecht ist, dannwird, um im Bild zu bleiben, dieser Bus nicht ankom-men. Deswegen sage ich als Behindertenbeauftragter– und das gilt ja auch für die Menschen, die in Behinder-teneinrichtungen arbeiten –: Wir sind, wenn wir dieseAufgabe wahrnehmen, nicht für die Einrichtungen, son-dern für die Menschen mit Behinderung da, nichts ande-res.Wenn man gegenüber Kommunalpolitikern das Wort„Inklusion“ nennt, dann zucken erst einmal alle zusam-men und sagen: Das kostet viel Geld. – Es wird wahr-scheinlich auch Geld kosten. Aber das geschieht in ei-nem System, das in den letzten Jahrzehnten darauf
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Hubert Hüppe
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ausgerichtet war, Menschen mit Behinderung von denanderen zu trennen, nur weil sie Unterstützung brauchen.Auch das ist teuer. Manchmal kommt es gar nicht daraufan, ob man Geld ausgibt, sondern darauf, wie wichtiguns Teilhabe ist. Ich nenne zwei Beispiele:Im historischen Rathaus meiner Heimatstadt sollte einAufzug gebaut werden. Das wäre fast daran gescheitert,dass der Denkmalschutz dabei nicht mitmachen wollte.
Ich bin für Denkmalschutz. Aber wenn es nicht andersgeht, dann muss die Teilhabe von Menschen mit Behin-derung, gerade wenn es um die Teilhabe an politischenEntscheidungen geht, höher als der Schutz von Denkmä-lern stehen.
Ein zweites Beispiel. In meiner Nachbarstadt gab eseine Bergmannssiedlung, und diese Bergmannssiedlunghatte eine Gestaltungssatzung. Dort wohnte eine Fami-lie, die ein neunjähriges schwerstbehindertes Kind hatte.Sie wollte einen Anbau nach hinten, weil es anders nichtmöglich war, das Kind zu pflegen. Die Familie brauchteeinen Kran im Gebäude. Das war in dem Haus, in demsie wohnte, nicht möglich. Ein Jahr hat es gedauert, bisdie Familie die Erlaubnis bekommen hat. Die Konse-quenz, wenn sie diese Erlaubnis nicht bekommen hätte,wäre gewesen, dass diese Familie hätte wegziehen müs-sen, weil sie ein schwerstmehrfachbehindertes Kind hat.Das ist nicht vereinbar mit der UN-Behindertenrechts-konvention.
Meine Damen und Herren, noch immer ist unser Sys-tem auf Trennung ausgerichtet. Inklusion fängt klein an.Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Es gibt immer noch heilpä-dagogische Kindergarteneinrichtungen, Sonderkinder-gärten. Dort sind blinde Kinder, gehörlose Kinder, kör-perbehinderte Kinder, sogenannte geistig behinderteKinder und autistische Kinder untergebracht. Nur eineGruppe findet man dort nicht: nicht behinderte Kinder.Ich komme aus dem Kreis Unna. Wenn man dort seinbehindertes Kind in einem Sonderkindergarten unter-bringt, dann wird das Kind morgens abgeholt, abendsnach Hause gebracht – in dieser Jahreszeit wird das Kindum diese Uhrzeit keine Nachbarkinder mehr antreffen –,und das Ganze ist kostenlos, sowohl die Betreuung alsauch die Fahrt; denn das ist Eingliederungshilfe. Schafftman es aber, sein Kind in einem Regelkindergarten unter-zubringen – wenn sich denn einer dazu bereit erklärt –,dann muss man sein Kind selbst dorthin bringen undeinen Kindergartenbeitrag bezahlen; denn das ist Ju-gendhilfe. Das heißt, es können nur solche Eltern Ein-gliederungshilfe bekommen, die bereit sind, ihr Kindauszugliedern. Das ist genau das, was diese UN-Kon-vention für die Zukunft nicht mehr will. Es gibt dafürauch keine pädagogische Begründung.
Im Übrigen ist das auch der Grund dafür, dass wirzwar einen Fonds für ehemalige Heimkinder haben, die-ser aber immer noch nur für Kinder in Jugendeinrichtun-gen gilt, aber nicht für Kinder, die in den 50er- und 60er-Jahren in Behinderteneinrichtungen oder Kinderpsychia-trien missbraucht worden sind. Ich denke, wir als Bun-destag müssen dafür sorgen – das war ja damals eine ge-meinsame Initiative –, dass diese Menschen nicht längerauf Unterstützung warten müssen als Menschen ohneBehinderung. Auch das gehört dazu, meine Damen undHerren.
Weiter geht es mit der Schule. Es wurde schon gesagt:Kein Land hat mehr Förderschüler als Deutschland. Ih-nen, lieber Kollege Kurth – wir kommen ja gut miteinan-der aus –, darf ich sagen: Allein in den letzten 14 Jahrenhat die Zahl der Schüler mit dem Förderschwerpunktgeistige Entwicklung, die Zahl sogenannter geistig be-hinderter Kinder, um 50 Prozent zugenommen. Eines istklar: Wenn man erst einmal in einer Sondereinrichtungist, kommt man so gut wie nie wieder heraus, zumindestnicht aus diesen Schulen. Die Zahlen steigen übrigensimmer noch, trotz unserer Debatte über Inklusion. Ichdenke, das muss sich ändern.Dabei müssen die Betroffenen mitreden dürfen. Eskann nicht sein, dass der Elterninitiative „Gemeinsam le-ben – gemeinsam lernen“ in Baden-Württemberg, diesich an dem Prozess zur inklusiven Schule im Rahmeneiner Anhörung beteiligen wollte, von der Ministerinschriftlich mitgeteilt wurde, die Initiative könne darannicht teilnehmen. Ich zitiere:Daher müssen wir die offizielle Anhörung auf dieAnhörungsberechtigten und auf die für die Schulenbesonders wichtigen gesellschaftlichen Gruppie-rungen beschränken.Meine Damen und Herren, Eltern mit behindertenKindern sind zu beteiligen, wenn es um Inklusion geht.
Denn sie sind die Betroffenen, nicht die Förderschulleh-rer, nicht die Sonderpädagogen und auch nicht die Re-gelpädagogen. Sie brauchen wir auch. Aber ohne die Be-teiligung der Menschen mit Behinderung wird Inklusionnicht gelingen. Deswegen müssen wir auch im Bereichder Arbeit ermöglichen, dass es Persönliche Budgetsgibt, die Menschen Hilfe bekommen und die behindertenMenschen von nicht behinderten Menschen nicht deswe-gen getrennt werden, weil sie Unterstützung brauchen.Ein Letztes. In all den Debatten um Schule, Kinder-garten und vieles mehr dürfen wir die vielen alten Men-schen mit Behinderung nicht vergessen. Auch sie brau-chen Barrierefreiheit; denn sie wollen dort wohnenbleiben, wo sie jetzt wohnen. Auch sie wollen nur im äu-ßersten Fall in eine Einrichtung. Deswegen sind Investi-tionen in Barrierefreiheit aus meiner Sicht Investitionenin die Zukunft.
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Hubert Hüppe
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Wer Inklusion will, der sucht Wege, wer sie nichtwill, sucht Begründungen. Lassen Sie uns nach Wegensuchen.Vielen Dank.
Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der Kollege Oliver
Kaczmarek.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Wenn wir die Inklusionsdis-kussion vor Ort betrachten, dann sehen wir, dass der Be-reich Bildung oft eine herausgehobene Bedeutung hat.Dabei werden viele Sorgen, Hoffnungen, aber eben auchÄngste deutlich: Welche Kita ist die richtige? WelcheSchule ist die richtige? Was passiert nach der Schule?Wie finde ich einen Studienplatz? Aber es geht auch umdie Fragen: Reicht meine Ausbildung als Lehrer, um derinklusiven Bildung gerecht zu werden? Wer hilft mei-nem Kind? Was passiert mit meinem Arbeitsplatz?Das alles zeigt aus meiner Sicht die Dimension undHerausforderung für unser Bildungswesen. Inklusion be-tont Individualität. Inklusion meint: Verschiedenheit istder Normalfall. Genau das bricht mit der leider auchheute noch zu oft im deutschen Bildungswesen vorhan-denen Logik des Sortierens und Aussiebens. Inklusionweist weit über die isolierte Betrachtung von Handicapseinzelner Menschen hinaus. Inklusion ist ein Entwurf fürein Zusammenleben in unserer Gesellschaft. Wir solltenes auch in dieser Komplexität begreifen.
Ich glaube, dass die Umsetzung der UN-Behinderten-rechtskonvention tatsächlich eine der größten Herausfor-derungen ist, die das deutsche Bildungswesen derzeit zubewältigen hat. Sie ist eine Aufgabe, die aus meinerSicht nur im nationalen Maßstab bewältigt werden kann.Wir müssen Verantwortung vor allem dort stärken, woinklusive Bildung umgesetzt wird, also in den Städtenund Gemeinden. Die SPD hat deshalb in ihrem Antragzur Umsetzung des Menschenrechts auf inklusive Bil-dung einen „Pakt für Inklusive Bildung“ vorgeschlagen,der zwischen Bund, Ländern und Kommunen geschmie-det werden soll. Der Bund darf sich eben nicht daraufbeschränken, die Konvention zu ratifizieren; er muss mitanpacken, wenn es um die Umsetzung und die Qualitätgeht. Wer die Länder und die Kommunen bei der Umset-zung nicht alleine lassen will, der darf auch vor dem Ko-operationsverbot in der Bildung nicht kapitulieren.Bund, Länder und Kommunen müssen das zusammenangehen. Deswegen muss das Kooperationsverbot fal-len.
Inklusive Bildung ist eine Aufgabe für alle Etappeneiner Bildungsbiografie und alle Institutionen des Bil-dungswesens. Der Grund liegt auf der Hand: Überall imBildungswesen gibt es talentierte Menschen auch mitBehinderung. Es ist unsere Aufgabe, das System so gutwie möglich darauf einzurichten, dass es ihnen gerechtwird. Ich möchte angesichts der Kürze der Zeit hier nurzwei Beispiele nennen.Erstens. Inklusive Bildung und individuelle Förde-rung brauchen mehr Zeit. Deshalb schlagen wir vor, einneues Bundesprogramm aufzulegen, durch das die An-zahl der Ganztagsschulen wieder deutlich ansteigt. Esmacht ja keinen Sinn, nur die Gemeinsamkeiten zu beto-nen. Hier gibt es eben auch einen Unterschied. Gut aus-gestattete Ganztagsschulen und Ganztagsbetreuung sindelementare Bedingungen für inklusive Bildung. DasGeld wäre dort sicher besser angelegt als bei dem Be-treuungsgeld, dem einige hier nur widerwillig zuge-stimmt haben.
Zweitens. Gleichberechtigte Teilhabe von Menschenmit Behinderung am Arbeitsmarkt kann einen Beitragzur Behebung des Fachkräftemangels leisten. Wir brau-chen deshalb gute Übergänge von der Schule in das Ar-beitsleben. Wir brauchen spezielle Maßnahmen zur Be-rufsorientierung und zur Ersteingliederung. Ich habe eshier schon einmal gesagt: Die „Initiative Inklusion“ derBundesregierung ist sicherlich ein erster richtiger, aberleider nicht hinreichender Schritt. Wir müssen grund-sätzlich auch arbeitslosen Menschen mit BehinderungZugang zu allen Instrumenten der Sozialgesetzbücher IIund III, und zwar zielgruppenspezifisch und in ausrei-chender Anzahl, zur Verfügung stellen. Deshalb darfman nicht dort kürzen, wo es um die Schwächsten geht.Die Kürzungen der Bundesregierung bei den Mitteln fürdie aktive Arbeitsmarktpolitik treffen direkt und indirektMenschen mit Behinderung. Deswegen treffen sie auchindirekt den Prozess der Inklusion.Wir reden oft über Strukturen und institutionelleÜbergänge, wenn wir über inklusive Bildung sprechen.Dabei dürfen wir eines nicht außer Acht lassen: DasHerzstück gelungener inklusiver Bildung sind aus mei-ner Sicht motivierte und engagierte Erzieher, Lehrer, So-zialarbeiter, Heilpädagogen, Ausbilder, Sonderpädago-gen usw. Wir müssen sie besser qualifizieren, und wirmüssen sie begleiten. Wir brauchen sie alle als Profis fürinklusive Bildung.Wir dürfen auch nicht vergessen, Betroffene zu Betei-ligten zu machen. Herr Seifert hat gerade schon daraufhingewiesen. Menschen mit Behinderung müssen denProzess hin zur inklusiven Bildung auf Augenhöhe mit-gestalten können, damit nichts über sie ohne sie ent-schieden wird. Zur gleichberechtigten Teilhabe gehörtgleichberechtigte Mitbestimmung im Bildungswesen.
Meine Damen und Herren, ich bin überzeugt: Wennes uns gelingt, die Philosophie der inklusiven Bildungals Idee des Zusammenlebens der Gesellschaft zu ver-wirklichen, wenn es uns gelingt, dass alle mitmachenund motiviert sind, dann wird die inklusive Bildung un-
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Oliver Kaczmarek
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serem gesamten Bildungswesen einen entscheidendenEntwicklungsschub geben können. Davon haben alle et-was. Also lassen Sie es uns angehen.Herzlichen Dank.
Für die FDP-Fraktion hat jetzt die Kollegin Helga
Daub das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen undKolleginnen! Ich komme jetzt zu dem Bereich „Inklu-sion in der Entwicklungspolitik“. Das Wort „Inklusion“ist zugegebenermaßen auch für mich immer noch einbisschen sperrig; aber das ist nun einmal der Begriff, undwir werden uns im Laufe der Zeit daran gewöhnen.Weltweit sind 15 Prozent der Menschen behindert.80 Prozent dieser Menschen leben in Entwicklungslän-dern. Behinderte gehören gerade in Entwicklungslän-dern zu den am stärksten benachteiligten Gruppen – seies beim Zugang zu medizinischer Versorgung, sei es beiden Chancen in Schul- und Berufsbildung, sei es gene-rell hinsichtlich der Möglichkeiten der gesellschaftlichenund wirtschaftlichen Teilhabe. Behinderte werden häufigdiskriminiert, gelten als Belastung für ihre Familien, ja,man schämt sich ihrer.Der wertvolle gesellschaftliche Beitrag, den behin-derte Menschen leisten können, geht somit verloren. DasRecht auf Gleichbehandlung und Selbstbestimmung istbei uns mittlerweile selbstverständlich – oder sollte essein. Auch bei uns gibt es da noch Defizite; aber das istein himmelweiter Unterschied dazu, dass Behinderten inEntwicklungsländern diese Rechte häufig verwehrt wer-den. Das ist ein unhaltbarer, entwürdigender Zustandund ein eklatanter Verstoß gegen die Menschenrechte.Wir dürfen nicht vergessen, dass die Behinderung vie-ler Menschen eine Folge von Bürgerkriegen ist, geradein Entwicklungsländern. Die Regierungen dieser Ländersind infolge der Bürgerkriege viel zu schwach, um sichdieser Menschen annehmen zu können. Da müssen wireinschreiten und helfen.
Deutschland hat die Behindertenrechtskonvention2009 als einer der ersten Staaten unterschrieben und rati-fiziert. Mit dem Nationalen Aktionsplan der Bundes-regierung zur Umsetzung der Konvention gehörtDeutschland zu den ersten europäischen Staaten, die sichdieses Themas auch im Rahmen ihrer Entwicklungspoli-tik ganz konkret annehmen. Dass Menschen mit Behin-derung die universellen Rechte gewährt werden, wirdhiermit ausdrücklich thematisiert und zu einer verbindli-chen Vorgabe gemacht.Liebe Kollegen und Kolleginnen von der SPD, Siefordern in Ihrem Antrag, die Zivilgesellschaft müsse indie Erarbeitung der Strategie sehr viel stärker eingebun-den werden, und stellen einen umfassenden Maßnah-menkatalog auf. So weit, so gut. Mit einem starren Rah-men werden Sie einer komplexen Herausforderung wieder inklusiven Gestaltung der Entwicklungszusammen-arbeit allerdings nicht gerecht.Im Übrigen ist die Zivilgesellschaft – auch dank IhrerRegierungsarbeit – selbstverständlich bereits eingebun-den: Seit dem Jahr 2000 hat das BMZ über 200 spezifi-sche Projekte mit einem Gesamtvolumen von 60 Millio-nen Euro gefördert und sie größtenteils mithilfe privaterund kirchlicher Träger – also der Zivilgesellschaft –durchgeführt. Daran waren Sie in Ihrer Regierungszeitaktiv beteiligt. Sie wollen das alles immer anhand desGeldes bewerten. Das mag gut gemeint sein, ist aberdeutlich zu kurz gegriffen. Das ist hier nicht der alleinigeAnsatz.Was wollen wir mit dem Wort „Inklusion“ letztlichaussagen? Das heißt doch, dass Menschen mit Behinde-rung in allen Lebensbereichen ganz normal eingebundensind bzw. werden. Wir verfolgen dazu einen zweigleisi-gen Ansatz: Erstens werden Maßnahmen gefördert, diespezifisch auf Menschen mit Behinderungen ausgerich-tet sind. Zweitens sollen deren Belange darüber hinausauch in allen relevanten entwicklungspolitischen Vorha-ben ausreichend Berücksichtigung finden.Das Problem Ihres Ansatzes sehe ich darin, dass Sieinfrastrukturelle Maßnahmen, die natürlich auch den Be-hinderten zugutekommen, in ihre Kalkulation nicht mitaufnehmen, weil es nicht unter dem entsprechendenHaushaltstitel steht.Im Rahmen des 3. Runden Tisches zur Inklusion vomFebruar dieses Jahres hat sich der rege und produktiveAustausch mit der Zivilgesellschaft weiter etabliert. Ge-meinsam mit Vertretern aus ebendieser Zivilgesellschaft,die ja auch die entsprechende Expertise mitbringen, undaus der Politik wurden Ideen und Vorschläge diskutiert.All dies ist in ein Strategiepapier eingeflossen, das nochin diesem Jahr verabschiedet werden soll. Konkret wer-den über 40 Maßnahmen aus zehn unterschiedlichen Be-reichen gefördert, wie zum Beispiel Gesundheit, berufli-che Bildung, soziale Sicherung und andere Dinge.Bei meinen Besuchen in Entwicklungsländern habeich selbst gesehen, wie Behinderten die Chancen auf einselbstbestimmtes und würdevolles Leben verwehrt blei-ben. Die Lebensumstände dieser Kinder, Frauen undMänner zu verbessern, ist für uns alle eine fortwährendeAufgabe.
Diesen Dienstag wurde hier in Berlin das unabhän-gige Deutsche Evaluierungsinstitut der Entwicklungszu-sammenarbeit eröffnet. Dieses unabhängige Institut – ichbetone: unabhängige – untersucht alle Projekte und Pro-gramme auf Erfolg und Effizienz. Dazu gehört auch un-sere Arbeit, die wir für die Inklusion von behinderten
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Helga Daub
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Menschen leisten. Liebe Kolleginnen und Kollegen vonder SPD, das ist sicherlich auch in Ihrem Sinne. Übri-gens: Der Chef dieses Instituts, Professor Helmut Asche,ist kein Mitglied einer der Regierungsparteien.Unser Ansatz ist der umfassendere. Deshalb bitte ichSie um Zustimmung zu unserem Antrag.Danke.
Für Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege
Uwe Kekeritz.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Frau Daub hat schon darauf hingewiesen: In
Entwicklungs- und Schwellenländern ist die Anzahl der
Menschen mit Behinderung überproportional hoch. Das
hat viele Ursachen, auch strukturelle. Es fehlen medizi-
nische Einrichtungen, und es fehlen therapeutische Ein-
richtungen. Das zeigt uns, dass Behinderung und Armut
in einem engen Zusammenhang stehen. Umgekehrt gilt
aber auch: Behinderung vergrößert die Armut enorm –
und in vielen Fällen extrem.
Kulturelle Faktoren – Frau Daub hat auch das schon
angesprochen – sind sehr zentral in Entwicklungslän-
dern. Die Menschen werden oftmals ausgeschlossen und
nicht entsprechend ihrem Potenzial gefördert. Man muss
auch erwähnen: Frauen sind davon wieder einmal über-
proportional betroffen.
Besonders nachdenklich sollte es uns machen, dass
Behinderung auch Folge von Krieg ist – Frau Daub hat
„Bürgerkrieg“ gesagt – und dass mit dem Ende des Krie-
ges die Gefahr der Verstümmelung längst nicht vorbei
ist. Über 100 Millionen Minen lauern als tödliche Gefahr
in der Erde und werden in den nächsten Jahrzehnten
noch 20 000 Menschen jährlich verkrüppeln. Meistens
sind es Kinder. Hier könnte wirklich Präventionsarbeit
geleistet werden. Deutschland und die internationale Ge-
meinschaft müssten hier sehr viel mehr leisten.
Das BMZ gibt ein Bekenntnis zu einer zweigleisigen
Behindertenpolitik ab. Neben spezifischen Maßnahmen
für Behinderte – Gleis 1 – sollen bei allen entwicklungs-
politischen Maßnahmen – Gleis 2 – Menschen mit Be-
hinderung besonders berücksichtigt werden. Bekennt-
nisse sind wichtig und notwendig, aber Bekenntnisse
sind nur die Grundlage zur Ausarbeitung konkreter Stra-
tegien und Umsetzungspläne, und hier gibt es noch enor-
men Nachholbedarf.
In den letzten drei Jahren habe ich in den Entwick-
lungsländern viele deutsche Projekte besucht. Mein sub-
jektiver Eindruck ist, dass der zweigleisige Ansatz so gut
wie nicht existent ist. Objektiv kann ich von meinen Rei-
sen berichten, dass ich in keinem der vielen deutschen
Projekte Behinderte überhaupt wahrgenommen hätte.
Nie wurde uns erklärt, dass Behinderte am Projekt betei-
ligt sind oder im Projekt integriert sind, obwohl es in
vielen Projekten sicher gute Einsatzmöglichkeiten für
Menschen mit Behinderung gibt. Da klafft also eine er-
hebliche Lücke zwischen theoretischem Anspruch und
der konkreten Politik.
Damit komme ich zum „Nichtantrag“ der Koalition.
Soviel ich weiß, ist es Aufgabe des Parlaments, Anträge
an die Regierung zu stellen. Aber der Koalitionsantrag
richtet sich nicht an die Regierung, sondern an das Parla-
ment. Unter Punkt II, in dem normalerweise die Forde-
rungen aufgeführt werden, heißt es:
Der Deutsche Bundestag unterstützt die Anliegen
der Bundesregierung …
Dann listen Sie sechs Anliegen auf.
Ich wusste gar nicht, dass es das Instrument des An-
trags an das Parlament gibt. Ihr Antrag ist aber insofern
auch konsequent, als Sie im Ausschuss den Antrag der
SPD-Fraktion mit dem Argument abgelehnt haben, er sei
zwar inhaltlich korrekt, es stehe nichts Falsches darin, er
sei sogar sehr gut, aber er sei überflüssig, weil diese
Bundesregierung ohnehin alles richtig mache.
Ihr Antrag, den Sie jetzt vorlegen, ist deshalb auch ein
Lobgesang ohne Forderungen. Es ist wirklich schade
– nein, eigentlich ist es traurig –, meine Kolleginnen und
Kollegen von den Koalitionsfraktionen, dass sich die
Entwicklungspolitikerinnen und Entwicklungspolitiker
zu einer PR-Agentur des Ministeriums umfunktionieren
lassen. Insofern ist Herr Minister Niebel sehr erfolg-
reich. Frau Staatssekretärin, ich gratuliere ihm dazu. Ich
bin sicher, Sie werden ihm meinen Glückwunsch über-
mitteln.
Art. 32 der Behindertenrechtskonvention wird er da-
mit aber nicht gerecht. Dieser Artikel verpflichtet uns
nicht zu Bekenntnissen und toll klingenden Papieren,
sondern zu konkreten Maßnahmen. Genau das leistet
diese Regierung viel zu wenig.
Danke schön.
Das Wort hat jetzt der Kollege Paul Lehrieder von der
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Herzlichen Dank zunächst für Ihre An-träge. Die zahlreichen Anträge zum Thema Inklusionzeigen, dass hier fraktionsübergreifend Einigkeit bestehtund der zentrale Leitgedanke der UN-Behindertenrechts-konvention, nämlich die Idee der Inklusion, unser ge-meinsames Ziel ist.
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Paul Lehrieder
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Ich möchte mich an dieser Stelle ausdrücklich auchbei den behindertenpolitischen Sprechern aller Fraktio-nen bedanken für die Hinweise, für die regelmäßigeAufarbeitung der Themen für die Kolleginnen und Kol-legen, die nicht jeden Tag so tief in der behindertenpoli-tischen Arbeit stecken wie die behindertenpolitischenSprecher. Ich bedanke mich auch für die Sensibilisierungder Kolleginnen und Kollegen, die nicht täglich mit die-sem Thema zu tun haben.
Je öfter wir über das wichtige Thema Inklusion spre-chen und über Fraktionsgrenzen hinweg nach gemeinsa-men Lösungen suchen, desto besser ist dies für die Men-schen mit Behinderung in unserem Land. In Deutschlandleben immerhin 11,7 Prozent der Bürgerinnen und Bür-ger mit einer Behinderung; das sind 9,6 Millionen Men-schen. Nur 5 Prozent sind von Geburt an behindert,95 Prozent erlangen erst im Laufe ihres Lebens eine Be-hinderung.Ich kann es gar nicht oft genug betonen, dass mir dasselbstverständliche miteinander Leben und die gleichbe-rechtigte und selbstbestimmte Teilhabe für diese fast10 Millionen Menschen mit Behinderung besonders amHerzen liegen. Wir sind bereits auf einem sehr gutenWeg, aber natürlich – das haben die Vorredner bereitsausgeführt – noch längst nicht am Ziel angelangt. Unsergemeinsames Ziel muss es sein, alle – ich meine damitalle Parteien: Bundesregierung, Länder und Kommunen,Verbände, Arbeitgeber und Bürger – dazu zu bewegen,ihren Beitrag für eine inklusive Gesellschaft zu leisten.Für mich zählen, lieber Herr Kollege Seifert, bei derinklusiven Gesellschaft auch die Einrichtungen für Men-schen mit besonderem Förderbedarf dazu. Ich sprechebewusst nicht von Sonderschulen. Letztendlich sind esFörderschulen, die bereits eine sehr segensreiche Arbeitgeleistet haben. Wir sollten uns, ähnlich wie es im Fami-lienrecht üblich ist, immer am Wohl des betreffendenMenschen, am Wohl des betreffenden Kindes orientie-ren.
Sehr viele dieser Kinder, Frau Kollegin Rawert, werdenim Rahmen der Inklusion an einer Regelschule beschultwerden können. Aber es wird auch Kinder geben, dievon einer sie behütenden Einrichtung mehr profitierenals eben von einer Regelschule.Kürzlich hat mir eine Mutter in meinem Wahlkreisgesagt: Ich bin heilfroh, dass mein Kind an dieser spe-ziellen Schule ist. Da weiß ich, dass die Lehrer mit gro-ßem Engagement und mit großer Fachkompetenz auf ge-nau diese Art von Behinderung eingehen können. – Invielen Fällen wird eine Einschulung in der Regelschulemöglich sein. Aber wir sollten hier nicht das Kind mitdem Bade ausschütten. Ich bedanke mich ausdrücklichbei allen Pädagogen, die in Fördereinrichtungen tätigsind.
– Bei den anderen natürlich auch, Frau Kollegin. Dankefür den Hinweis. Ich bedanke mich auch bei den Pädago-gen, die in allgemeinbildenden Schulen tätig sind.Mit dem Nationalen Aktionsplan sorgt die unionsge-führte Bundesregierung für eine umfassende Umsetzungder UN-Behindertenrechtskonvention und kommt aufdiesem Weg in eine inklusive Gesellschaft einen großenSchritt voran. Der Nationale Aktionsplan hat bereits– das wird auch weiterhin so sein – das Leben der rund9,6 Millionen Menschen mit Behinderung in Deutsch-land maßgeblich verbessert und positiv beeinflusst.
Mit den etwa 200 verschiedenen Maßnahmen aus allenLebensbereichen wollen wir nicht nur die physischenBarrieren beseitigen, sondern auch die psychischen, dieeine Integration und Berührung von Menschen mit Be-hinderung bislang erschweren.Auch die vom Ausschuss für Arbeit und Soziales am19. März dieses Jahres durchgeführte Sachverständigen-anhörung hat gezeigt, dass die unionsgeführte Bundes-regierung mit dem Nationalen Aktionsplan zur Umset-zung der UN-Behindertenrechtskonvention auf einemsehr guten Weg ist. Bei der Entwicklung des NationalenAktionsplanes wurden ganz bewusst Menschen mit Be-hinderung sowie deren Verbände mit einbezogen, umeine nachhaltige Wirkung und Qualität der Maßnahmenzu gewährleisten.Von Frau Kollegin Michalk wurde bereits darauf hin-gewiesen: Wir haben mittlerweile im Nahverkehr dieBeförderungsgrenze von 50 Kilometern überwindenkönnen, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Wirhaben bei Ausschreibungen von Integrationsfachdiens-ten die Zuverlässigkeit und die Passgenauigkeit der Ein-richtungen stärker zu berücksichtigen. Auch da sind wirauf einem guten Weg und können das Problem gut lösen.Gerade auf dem Arbeitsmarkt hat sich, wie die Sach-verständigen bestätigen konnten, die Situation von Men-schen mit Behinderung bereits erheblich verbessert. Ge-rade vor dem Hintergrund des demografischen Wandelsund des Fachkräftemangels gilt es, die hervorragendenPotenziale und die Qualifikationen, die in vielen behin-derten Menschen schlummern, zu nutzen. Gerade auchin puncto Motivation und Engagement können wir unsbei den Menschen mit Behinderung eine große Scheibeabschneiden.Dass zahlreiche Unternehmen hier bereits vorbildli-che Arbeit leisten, möchte ich nicht unerwähnt lassen.Mehr als 1 Million schwerbehinderte Menschen befin-den sich bereits in Beschäftigung. Aber unser Ziel mussweiterhin sein, durch Überzeugungsarbeit jene Rahmen-bedingungen zu schaffen, damit sich diese Zahl nochweiter erhöht.Hierzu möchte ich die „Initiative Inklusion“ der Bun-desregierung anführen, mit deren Hilfe die Bundesregie-
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Paul Lehrieder
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rung gemeinsam mit Ländern, Bundesagentur für Arbeit,Kammern sowie Integrationsämtern und Hauptfürsorge-stellen schwerbehinderte Menschen gezielt in Arbeitbringen möchte; denn gerade die Teilhabe am Arbeitsle-ben ist der Grundstein für eine erfolgreiche Inklusion in-nerhalb der Gesellschaft.Das Bewusstsein, gebraucht zu werden, mitzuwirken,einen Beitrag für die Gesellschaft und den Arbeitsmarktzu leisten, ist für die Menschen mit Behinderung sehrwichtig, genauso wie die Wertschätzung der anderen, diedie Menschen mit Behinderung hier verdienen. Arbeit zuhaben, bedeutet, gebraucht zu werden, und bringt sozialeKontakte und Anerkennung.Hier ist sicher noch einiges zu tun. In vielen Berei-chen werden wir auch in Zukunft noch große Ziele voruns haben. Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg. Esist ein Etappensieg. Aber wir haben in den nächsten Jah-ren noch vieles zu tun. Wir werden über dieses Themahier im Plenum sicherlich in Zukunft noch sehr oft de-battieren.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort die Kollegin
Karin Roth.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Wie notwendig die UN-Behindertenrechtskonven-tion ist, hat, glaube ich, die Debatte gezeigt. Wie wichtiges ist, fraktionsübergreifend Gemeinsamkeiten festzu-stellen, ist auch unbestritten. Allerdings würden wirunseren internationalen Verpflichtungen nicht gerechtwerden, wenn wir uns nur innenpolitisch auf die Not-wendigkeit der Veränderungen in diesem Bereich be-schränken würden.Wir können froh sein, dass sich die Situation derMenschen mit Behinderung bei uns Schritt für Schrittverbessert hat. Das wurde hier deutlich. Es ist auch nochviel zu tun. Immerhin leben fast 10 Millionen Menschenmit unterschiedlichen Behinderungen in unserem Land.Deren Lebenssituation in allen politischen Bereichen zuberücksichtigen, sie gesellschaftlich nicht auszuschlie-ßen und überall politische und gesellschaftliche Teil-habe, aber auch Barrierefreiheit zu gewährleisten, das istunser Anspruch und auch unsere Verpflichtung.Wir wären allerdings auf einem Auge blind, wenn wirnicht zur gleichen Zeit die Situation der über 800 Millio-nen Menschen mit Behinderung in den Entwicklungslän-dern sehen würden, die meistens ausgegrenzt sind – ver-bunden mit einem großen Stigma – und nicht dieMöglichkeiten der Integration und der Inklusion nutzenkönnen. Sie leben am Rand der Gesellschaft. Wir müs-sen die Belange dieser Menschen in unserer Politikwahrnehmen und sie insbesondere in den Mittelpunktunserer Entwicklungspolitik stellen.
Umso beschämender war es, dass die Bundesregie-rung im Entwurf zum Nationalen Aktionsplan zurUmsetzung der Behindertenrechtskonvention die inter-nationale Verpflichtung betreffend die Menschen mitBehinderung in Entwicklungsländern schlichtweg ver-gessen hatte. Umso merkwürdiger ist der Antrag der Ko-alitionsfraktionen, der vorsieht, sich auf bereits Vorhan-denes zu beschränken. Mein Kollege Kekeritz hat dazubereits alles gesagt, was notwendig ist. Mehr Engage-ment und mehr Empathie haben die Menschen mit Be-hinderung in den Entwicklungsländern wahrlich ver-dient. Auch wenn wir schon einiges auf den Weggebracht haben, Frau Kollegin Daub: Das reicht aller-dings noch nicht.
Erst auf Intervention der SPD-Bundestagsfraktionund auf Druck engagierter Organisationen, die die Situa-tion der Menschen mit Behinderung gemeinsam mit denBetroffenen verbessern wollen, gibt es nun ein zusätzli-ches Kapitel im Nationalen Aktionsplan. Man kann sa-gen: Prima! Die Opposition hat etwas geleistet, und dieRegierung ist ihr gefolgt. – So muss es sein.
Ab sofort gilt auch in der Entwicklungszusammen-arbeit, die Belange der Menschen mit Behinderung in al-len Bereichen zu verankern und alle beteiligten Akteurein inklusiven Projekten und Strukturen zu verpflichten.Das ist wahrlich ein wichtiger Schritt, um die bisher ver-gessenen Menschen mit Behinderung in den Entwick-lungsländern zu beachten und sie zu unterstützen.Zukünftig sollen nach dem Willen der SPD alle Neu-vorhaben – ich betone: alle – auch zur Verbesserung derLebenssituation dieser Menschen beitragen. Damals gabes im sozialdemokratisch geführten Entwicklungsressortbereits Sektorenkonzepte, die Menschen mit Behinde-rung berücksichtigten. So konnten zahlreiche Organisa-tionen wie die Christoffel-Blindenmission, der Verein„Behinderung und Entwicklungszusammenarbeit“ oderdie Deutsche Lepra- und Tuberkulosehilfe wichtige Pro-jekte in den betreffenden Ländern durchführen. Die Er-fahrung dieser Organisationen zu nutzen und gemeinsammit ihnen eine entwicklungspolitische Strategie zu erar-beiten, wurde zunächst von Ihrem Ministerium unterlas-sen. Erst durch die Initiative der SPD wurden die Orga-nisationen mit ihrer Kompetenz einbezogen; das istrichtig. Endlich wird zudem der selbstverständliche An-spruch der Menschen mit Behinderung auf Teilhabe– „Nichts über uns ohne uns“ – erfüllt. Auch das ist einFortschritt, den wir als Opposition verbuchen können.
Allerdings hat Minister Niebel im Haushalt keinefinanzielle Zielgröße verankert und damit die Chancevertan, Programme und Projekte nachvollziehbar zu fi-
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Karin Roth
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nanzieren. Es bleibt beim Versprechen ohne Geld. Aberdas kennen wir ja schon.Im Übrigen hat das Außenministerium – es war bisgerade eben hier noch vertreten –, das für die humanitäreNot- und Übergangshilfe zuständig ist, bei seinen Leitli-nien zu Maßnahmen für Menschen mit Behinderung vie-les vergessen. Hier besteht dringender Handlungsbedarfseitens des Außenministers Westerwelle; denn dieseLeitlinien sollen im Rahmen der Not- und Übergangs-hilfe besonders Menschen mit Behinderung helfen. Hiermuss nachgebessert werden.
Die SPD-Bundestagsfraktion setzt auf eine kohärentePolitik, in der alle Maßnahmen ineinandergreifen undkeine Maßnahme isoliert betrachtet wird. Dazu gehörenauch die international abgestimmte und intensiviertePolitik der Friedenssicherung und Konfliktprävention,um den Ursachen von Behinderung, wie zum BeispielLandminen – ein großes Thema –, entgegenzuwirken,aber auch eine Verstärkung der entwicklungspolitischenMaßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheits-versorgung. Das sind wichtige Punkte, die dazu führen,dass Menschen mit Behinderung mehr Lebenschancenbekommen. Das ist nicht selbstverständlich, aber not-wendig.
Wer Menschen mit Behinderung helfen will, der mussauch die Forschung zur Vermeidung von Behinderungintensivieren; denn oft entsteht Behinderung durch ar-mutsbedingte und vernachlässigte Krankheiten. Das wis-sen wir. Deshalb müssen wir in diesem Bereich die For-schung verstärken, nicht nur deutschlandweit, sondernauch europaweit und international.
Die spezielle Situation von Menschen mit Behinde-rung muss auch in den jetzt stattfindenden MDG-ProzessEingang finden. Das finde ich deshalb so wichtig, weildarüber zurzeit debattiert wird. Beim letzten Mal warenbei den Millenniumszielen die Menschen mit Behinde-rung vergessen worden. Beim nächsten Mal müssen wiralle gemeinsam dafür sorgen, dass sie nicht vergessenwerden. Das ist unsere internationale Verpflichtung.
Dem kann auch die FDP zustimmen.Kohärente Politik bedeutet, dass auch in Regierungs-verhandlungen mit den Partnerländern die Umsetzungder Behindertenrechtskonvention sowohl rechtlich alsauch im Regierungshandeln nicht nur thematisiert wird,sondern gleichzeitig auch Unterstützung angeboten wirdund die Zivilgesellschaft einbezogen wird; denn auchdort gibt es diese Kompetenzen, so wie in Deutschlandauch. Nur wenn es uns gelingt, in diesen Ländern Men-schen mit Behinderung zu integrieren, anstatt sie zu dis-kriminieren, haben wir den Auftrag der UN-Konventionerfüllt. Deshalb muss auch bei uns und in diesen Län-dern die Inklusion in den Köpfen beginnen. Dass Aus-grenzung eine nicht akzeptable Diskriminierung ist,muss im Bewusstsein der gesamten Gesellschaft veran-kert sein.
Wir in Deutschland haben einen langen Weg zurück-gelegt – auch haben wir eine schwierige Geschichte; da-rauf ist schon von meiner Kollegin Schmidt hingewiesenworden –, um die Diskriminierung von Menschen mitBehinderung aufzubrechen und allmählich eine gleich-berechtigte Teilhabe in allen Bereichen zu ermöglichen.Auch bei uns gibt es noch viel zu tun, um das Denken zuändern und um diskriminierungsfreie Bedingungen zuschaffen. Dabei dürfen wir uns nicht nur auf unsere na-tionale Verantwortung beschränken, sondern wir müssenalles tun, um Menschen mit Behinderungen weltweit zuhelfen.Lassen Sie mich mit einem Zitat des Direktors derChristoffel-Blindenmission schließen. Er sagte:Ein Leben in Armut führt oft zu Behinderungen undein Leben mit Behinderungen zu Armut. DiesenTeufelskreis müssen wir durchbrechen, und die in-ternationale Entwicklungszusammenarbeit mussMenschen mit Behinderungen stärker berücksichti-gen.Genau dies will die SPD mit ihrem Antrag erreichen.Da es so viele Gemeinsamkeiten am heutigen Tage gibt,schlage ich vor, auch unserem Antrag zuzustimmen.
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt der Kollege
Klaus Riegert.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Weltweit leben etwa 15 Prozent der Menschen mit einerBehinderung. Das sind über 1 Milliarde Menschen.80 Prozent aller Menschen mit Behinderungen leben inEntwicklungsländern. Der Weltbehindertenbericht be-legt: Die meisten Menschen mit Behinderungen habenschlechtere Chancen auf Gesundheitsversorgung, Schul-und Berufsausbildung und wirtschaftliche Teilhabe. Siewerden in den Entwicklungsländern häufig diskriminiertund ausgegrenzt. Viele leben in Armut.Menschen mit Behinderungen werden weder in derMillenniumserklärung noch in den Millenniumsentwick-lungszielen ausdrücklich erwähnt. Deshalb ist es not-wendig und richtig, die Einhaltung der Menschenrechtevon Menschen mit Behinderungen in der Entwicklungs-zusammenarbeit immer wieder zu thematisieren.
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Klaus Riegert
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Wir verstehen Entwicklungspolitik als praktischeMenschenrechtspolitik. Das zeigt auch unser Menschen-rechtskonzept. Wer Entwicklung fördern will, mussMenschenrechte stärken. Wer Menschenrechte stärkt,der fördert Entwicklung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir betrachtenMenschen mit Behinderungen als aktive Partner bei derUmsetzung ihrer Rechte. Daher fördern wir nicht nurProgramme für Menschen mit Behinderungen; wir stre-ben auch an, dass alle Entwicklungsvorhaben auch Men-schen mit Behinderungen zugänglich sein müssen. DieAufforderung im SPD-Antrag, den Twin-track-Ansatzweiter auszubauen und messbar zu machen, haben wirlängst verinnerlicht. Unsere Botschaft lautet: Entwick-lung inklusiv gestalten.
Das BMZ unterstützt in vielen Partnerländern dieTeilhabe von Menschen mit Behinderungen in Entwick-lungsprojekten. So werden in Sierra Leone und Äthio-pien beispielsweise Menschen mit Behinderungen in Be-schäftigungsfördermaßnahmen einbezogen. In Chile hatdie deutsche Entwicklungszusammenarbeit die Behör-den dabei unterstützt, das nationale System zur Früh-erziehung inklusiv für Kinder mit Behinderungen zu ge-stalten. Durch das Projekt wurden über 2 200 behinderteKinder im ganzen Land in Regelkindergärten aufgenom-men.Nach dem Erdbeben in Haiti hat die deutsche Ent-wicklungszusammenarbeit für Tausende Familien Über-gangsunterkünfte gebaut. Dabei wurde besonders auf dieBedürfnisse von Menschen mit Behinderungen geachtet.In allen deutschen Maßnahmen des Wiederaufbaus inHaiti werden die Rechte von Menschen mit Behinderun-gen berücksichtigt. Wir haben uns im Dezember letztenJahres bei unserem Delegationsbesuch ein Projekt derChristoffel-Blindenmission angesehen. Wir sind davonüberzeugt: Da wird schon einiges geleistet. Aber es warauch zu sehen, dass es noch eine Menge zu tun gibt.Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit arbeiteteng mit zivilgesellschaftlichen Organisationen zusam-men. Eine besondere Rolle kommt dabei der Förderungvon Selbstvertretungsorganisationen von Menschen mitBehinderungen zu. In Tansania, Kambodscha und Viet-nam hat das BMZ die Einbeziehung von Behinderten-verbänden in nationale Armutsreduzierungsprozesse un-terstützt. In Haiti werden Organisationen behinderterMenschen mit Training und Workshops zu einer besse-ren politischen Teilhabe befähigt. In Bangladesch wer-den solche Gruppen bei der Erstellung lokaler Aktions-pläne zur Umsetzung der Behindertenrechtskonventionbeteiligt.2013 werden zwei größere angewandte Forschungs-vorhaben aufgelegt, die sich mit der Frage der Inklusionim Kontext von Entwicklungsländern befassen: eines zurInklusion von Menschen mit Behinderungen in sozialenSicherungssystemen, ein weiteres zu inklusiver Bildung.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir fördern die In-klusion von Menschen mit Behinderungen in unserenPartnerländern. Infolge der Ratifikation der Konventionhat die Bundesregierung am 15. Juni 2011 den Nationa-len Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung derUN-Behindertenrechtskonvention beschlossen. Als eineMaßnahme im Aktionsplan ist die Entwicklung einerBMZ-Strategie zur Inklusion von Menschen mit Behin-derungen in der Entwicklungszusammenarbeit ange-kündigt. Damit gehört Deutschland – Frau Daub hat esschon gesagt – zu den ersten europäischen Ländern, diesich einen eigenen Aktionsplan zur Stärkung der Rechtevon Menschen mit Behinderungen im Rahmen der Ent-wicklungspolitik geben.Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung istnur für Menschen innerhalb Deutschlands zuständig.Deshalb habe ich den Wunsch, dass der Behindertenbe-auftragte auch sozusagen den Rest der Welt im Blick ha-ben sollte.
Die BMZ-Strategie wird das Format eines Aktions-plans mit 10 Handlungsfeldern und über 40 Maßnahmenhaben. Unsere Parlamentarische Staatssekretärin imBMZ, Gudrun Kopp, hat am 2. Februar 2012 im Rahmendes 3. Runden Tisches zur Inklusion von Menschen mitBehinderungen in der Entwicklungszusammenarbeit dieEckpunkte für den Aktionsplan vorgelegt.
Der SPD-Antrag ist vom 7. März dieses Jahres. Der3. Runde Tisch war am 2. Februar. Es war also, liebeFrau Roth, kein Weckruf der SPD notwendig, damit wirhier vorangehen.
Das hat das BMZ schon viel früher gemacht.
Wir reden auch mit den Vertretern der Zivilgesell-schaft, mit Vertretungsorganisationen von behindertenMenschen und mit anderen wichtigen Stakeholdern. Zudiesem Beteiligungsprozess müssen wir nicht von Ihnenaufgefordert werden. Wir tun das bereits. Wir kooperie-ren selbstverständlich mit anderen Akteuren.Im Rahmen des BMZ-Aktionsplans zur Inklusion vonMenschen mit Behinderungen werden in den kommen-den drei Jahren pilothaft in fünf verschiedenen Themen-bereichen in mindestens zehn Ländern Entwicklungs-maßnahmen inklusiv konzipiert: Kambodscha undTansania mit Schwerpunkt „Gesundheit“; Guatemalaund Malawi im Bereich „Grundbildung“; Bangladeschund Kambodscha mit Schwerpunkt „Demokratie, Zivil-gesellschaft und öffentliche Verwaltung“; Vietnam,Indonesien und Malawi im Themenbereich „soziale Si-cherung“; Afghanistan, Laos und Namibia im Themen-bereich „berufliche Bildung“.Sie sehen: Wir sind schon längst da angekommen, woSie mit Ihrem Antrag hin wollen.
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Klaus Riegert
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Was Sie fordern, machen wir schon. Sie können ganz ge-trost unserem Antrag zustimmen.Danke schön.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt das Wort der Kollege Johannes Selle von der CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren! Die Aufgaben in derWelt sind groß, um allen Menschen Frieden, Freiheit undDemokratie zu geben und Ihnen eine würdige Versor-gung mit Arbeitsplätzen, Nahrung, Gesundheit, Bildungund vielem mehr zu gewährleisten.
Die notwendigen Aufwendungen für den Aufbau vonguten Verwaltungen und Infrastruktur, für die Rohstoff-erschließung, das Bildungs- und Gesundheitswesen undfür Maßnahmen im Bereich „Wasser und Abwasser“ las-sen sich gar nicht beziffern. Die Millenniumsziele wer-den wohl nicht in allen Punkten zu erfüllen sein – trotzerheblicher Fortschritte.Warum jetzt auch noch in einem Antrag einenSchwerpunkt auf Menschen mit Behinderungen in derEntwicklungszusammenarbeit legen? Diese Fragestel-lung zeigt das Problem. Dass Menschen mit und ohneBehinderung zusammenleben können, weitestgehendselbstbestimmt, ist kein Sonderrecht mit neuen Belastun-gen; es ist im Idealfall der Normalfall.
Es ist ein Menschenrecht, wie es in unserem Grundge-setz heißt:Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. … Niemand darf wegen seiner Behinderung benach-teiligt werden.Dem wollen wir zu mehr Normalität verhelfen.Nach unserem Menschenbild ist die Würde des Men-schen nicht von seiner körperlichen Verfassung abhän-gig. Während wir in Deutschland damit beginnen, Film-und Fernsehbeiträge barrierefrei zu machen, stehen wirin der Entwicklungspolitik vor ganz anderen Dimensio-nen. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisationsind weltweit 15 Prozent der Menschen von Behinderun-gen betroffen, in den Entwicklungs- und Schwellenlän-dern etwa 18 Prozent, in den Industrieländern etwa12 Prozent.In den Entwicklungsländern sind die Risikofaktorenfür Behinderungen zahlreicher: Bewaffnete Konflikte,zu wenig Schutz vor Naturkatastrophen, Mangelernäh-rung, fehlender Arbeitsschutz und unzureichende medi-zinische Sofortbehandlung treiben die Zahlen in der Sta-tistik nach oben.Behinderung und Armut sind eng miteinander ver-bunden. Da Menschen mit Behinderung meist ohne Ein-kommen leben müssen, zählen sie zu den Ärmsten. OhneEinkommen sinkt die Chance auf geeignete medizini-sche Versorgung; von der richtigen Ernährung ganz zuschweigen. Behinderung und Armut bilden einen Teu-felskreis, aus dem kaum auszubrechen ist. Hinzu kom-men leider ganz oft Vorurteile, Diskriminierung, Aus-grenzung, Gewalt und Verbergen des Schicksals.Es ist deshalb kein Wunder, dass Menschen mit Be-hinderungen in unteren Einkommensgruppen und inoberen Altersklassen deutlich höher vertreten sind. Diegesellschaftliche und soziale Nichtbeachtung diesesThemas machen körperliche und geistige Handicapsnoch einmal richtig beschwerlich. Mit knapp einemFünftel der Bevölkerung in Entwicklungsländern betrifftdieses Thema relevante Bevölkerungsgruppen.In der deutschen Entwicklungszusammenarbeit hatdas Thema bereits durchaus eine nennenswerte Rolle ge-spielt. 188 spezifische Projekte für Behinderte mit einemGesamtvolumen von 54 Millionen Euro wurden seit2000 gefördert. Zurzeit fördert das BMZ 14 inklusiv ge-staltete Entwicklungsmaßnahmen.Weil wir diesem Thema in der Welt begegnen, weil esin unserem eigenen Land wichtig ist, wollen wir auch inder Entwicklungszusammenarbeit darauf achten. Durchdie UN-Behindertenrechtskonvention kommt zusätzlichSchwung in die Erfüllung dieses Menschenrechtes. Unsist es ein Anliegen, mit dem Antrag „SelbstbestimmtesLeben von Menschen mit Behinderung – Grundsatz derdeutschen Entwicklungspolitik“ nicht nur auch spezifi-sche Projekte durchzuführen, sondern systematisch jedesProjekt für Inklusion zu öffnen und zusätzliche Chancenzu schaffen.
Das gilt für die Einbeziehung Behinderter in Deutsch-land in entwicklungspolitische Vorhaben. Das BMZ hatden Freiwilligendienst „weltwärts“ darauf ausgerichtet;das darf hier durchaus einmal anerkannt werden. Das giltebenso für die Berücksichtigung der Anliegen Behinder-ter in den Zielgebieten der Zusammenarbeit. Häufigerleichtert die Beachtung von Barrierefreiheit bei Pro-jekten den physischen Zugang zu Verwaltungs-, Gesund-heits- und Bildungseinrichtungen. Die konsequenteEinbeziehung von Interessenvertretern in den Partner-ländern wird uns auf diesem Weg voranbringen.Wir wollen mit diesem Antrag unsere Durchführungs-organisationen – KfW und GIZ – konsequent und syste-matisch auf diese Querschnittsaufgabe ausrichten. Wirwollen das in einem Monitoringsystem beobachten unddokumentieren. Das, was für uns in Deutschland selbst-verständlich ist, wollen wir vorleben und zur Selbstver-ständlichkeit in den Partnerländern werden lassen. Das
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012 25033
Johannes Selle
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gehört zu einer modernen, menschenrechtsorientiertenGesellschaft.
Frau Kollegin Roth und Herr Kollege Kekeritz, wirhaben oft genug fraktionsübergreifende Anträge ver-fasst. Aber wer in seinem Antrag schreibt, dass die Bun-desregierung „erst auf Druck von Zivilgesellschaft undOpposition“ reagiert hat, der will gar keinen gemeinsa-men Antrag. Deshalb: Stimmen Sie unserem zu!
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zudem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „UN-Konvention jetzt umsetzen – Chancen für eine inklusiveGesellschaft nutzen“. Der Ausschuss empfiehlt in seinerBeschlussempfehlung auf Drucksache 17/10010, denAntrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/7942abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be-schlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmender Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD beiEnthaltung der Linken und der Grünen.Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus-schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-wicklung zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSUund FDP mit dem Titel „Selbstbestimmtes Leben vonMenschen mit Behinderung – Grundsatz der deutschenEntwicklungspolitik“. Der Ausschuss empfiehlt unterBuchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-che 17/10330, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSUund der FDP auf Drucksache 17/9730 anzunehmen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim-men? – Enthaltungen? – Was machen die Linken? –
– Zugestimmt, gut.
– Ist ja in Ordnung. Wenn Sie sich den Stimmen der Ko-alition anschließen, ist das Ihre Verantwortung.
Die Beschlussempfehlung ist also angenommen mitden Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FraktionDie Linke bei Gegenstimmen der SPD und Enthaltungder Grünen.Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksa-che 17/8926 mit dem Titel „Behinderung und Entwick-lungszusammenarbeit – Behindertenrechtskonventionumsetzen und Entwicklungszusammenarbeit inklusivgestalten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung?– Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koali-tionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfrak-tionen.Zusatzpunkt 10. Interfraktionell wird Überweisungder Vorlage auf Drucksache 17/10117 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dannist die Überweisung so beschlossen.Jetzt rufe ich die Zusatzpunkte 11 a und 11 b auf:a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Regelung des Assistenzpflegebedarfs instationären Vorsorge- oder Rehabilitationsein-richtungen– Drucksachen 17/10747, 17/10799 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Gesundheit
– Drucksache 17/11396 –Berichterstattung:Abgeordnete Maria Michalkb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. IljaSeifert, Diana Golze, Matthias W. Birkwald,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEAssistenzpflege bedarfsgerecht sichern– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. KarlLauterbach, Elke Ferner, Bärbel Bas, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPDPraxisgebühr abschaffen – Hausärztinnenund Hausärzte stärken– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. KarlLauterbach, Elke Ferner, Bärbel Bas, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPDPraxisgebühr sofort abschaffen– zu dem Antrag der Abgeordneten HaraldWeinberg, Dr. Martina Bunge, Diana Golze,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEPraxisgebühr abschaffen– zu dem Antrag der Abgeordneten HaraldWeinberg, Dr. Martina Bunge, Diana Golze,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEPraxisgebühr jetzt abschaffen– zu dem Antrag der Abgeordneten BirgittBender, Maria Klein-Schmeink, Elisabeth
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25034 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENZusatzbeiträge aufheben, Überschüsse fürAbschaffung der Praxisgebühr nutzen– zu dem Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENPraxisgebühr und Zusatzbeiträge jetzt ab-schaffen– Drucksachen 17/10784, 17/9189, 17/11192,17/9031, 17/11141, 17/9408, 17/11179, 17/11396–Berichterstattung:Abgeordnete Maria MichalkBei dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Re-gelung des Assistenzpflegebedarfs werden wir späterüber den Teil, der die Abschaffung der Praxisgebühr be-trifft, namentlich abstimmen.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt esWiderspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das sobeschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner das Wort dem Bundesgesundheitsminister DanielBahr.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren Abgeordneten! Heute ist ein guter Tag für die Patien-tinnen und Patienten in Deutschland. Nach Umfragensind 80 Prozent der Menschen in Deutschland der Über-zeugung, dass das größte Ärgernis für ihre Alltagssorgendie Praxisgebühr ist. Die bürgerlich-liberale Koalitionbeweist heute, dass sie die Alltagssorgen der Menschenernst nimmt und das größte Ärgernis der Deutschen end-lich abschafft. Das ist eine gute Entscheidung.
SPD und Grüne haben die Praxisgebühr seinerzeit mitviel Hoffnung eingeführt. Sie haben erwartet, dass da-durch die hohe Zahl der Arztbesuche reduziert würde,dass Ärzte wieder mehr Zeit für ihre Patienten haben undPatienten nur für wirklich notwendige Untersuchungendie Arztpraxis aufsuchen würden. Heute, nach einigenJahren der Erfahrung, stellen wir fest, dass der seinerzeitformulierte Zweck und die damit verbundenen Hoffnun-gen nicht erfüllt worden sind.Das zeigt den Unterschied zu anderen Eigenbeteili-gungen, die es im Gesundheitswesen natürlich braucht.Die bürgerlich-liberale Koalition stellt ja nicht die Ei-genbeteiligung im Gesundheitswesen als solche infrage.Wir sind der Überzeugung, dass es im Gesundheitswe-sen sinnvolle Eigenbeteiligungen auch weiterhinbraucht. Die Patienten sollen erkennen, dass Kosten ver-ursacht werden.Allein die Umfragen beweisen, dass die Bürgerinnenund Bürger einen großen Unterschied machen zwischenden Eigenbeteiligungen beim Zahnersatz, den Arznei-mittelzuzahlungen und der Eigenbeteiligung im Kran-kenhausbereich einerseits und der Eigenbeteiligung inForm der Praxisgebühr andererseits. Keine Eigenbeteili-gung trifft auf eine so große Ablehnung in der Bevölke-rung wie die Praxisgebühr.
Das beweist: Die Praxisgebühr ist keine sinnvolle Eigen-beteiligung. Sie hat keine steuernde Funktion, sie findetin der Bevölkerung keine Akzeptanz und führt nicht zuTransparenz über die in Anspruch genommenen Leistun-gen.Die Politik der christlich-liberalen Bundesregierunghat bei den Krankenversicherungen zu einer finanziellenSituation geführt, von der Sie in Ihrer Regierungszeit nurhätten träumen können.
Das hätten Sie durch Ihre Politik nie erreicht. Deswegenist es heute an der Zeit, dass wir angesichts der Über-schüsse bei den Krankenkassen etwas davon an die Ver-sicherten zurückgeben.
Es ist und bleibt das Geld der Versicherten und derPatienten. Es sind ihre Beiträge, die sie eingezahlt ha-ben. Im Gesundheitsfonds werden im nächsten Jahr etwa14 Milliarden Euro liegen und noch einmal die gleicheSumme bei den gesetzlichen Krankenkassen selbst. Des-wegen ist es richtig, dass wir dieses Geld nicht weiterhorten. Wir werden von dieser Summe ein finanziellesPolster, eine solide Finanzierung stehen lassen, aber wirwerden den Patienten und Versicherten auch einen Teildavon zurückgeben.Es gibt viele Optionen, was man mit den Überschüs-sen machen könnte.
Der Verzicht auf die Praxisgebühr bleibt jedoch die spür-barste Entlastung der Patienten in Deutschland. Zugleichtragen wir damit zum Bürokratieabbau bei, damit Patien-ten und Ärzte wieder mehr Zeit für ein Gespräch in denArztpraxen haben.
Deswegen hat sich die Koalition nach ausführlichenBeratungen entschlossen, dass die Praxisgebühr ab 1. Ja-nuar 2013 entfallen soll, damit Arzt und Patient in derArztpraxis wieder mehr Zeit füreinander haben, damitdie ungeheure Bürokratie, die dadurch entstanden ist, ab-gebaut wird. Es gibt Schätzungen, die besagen, dass einArzt allein für die Verwaltung der Gebühr etwa120 Stunden pro Jahr aufwenden muss, dass sie Büro-
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Bundesminister Daniel Bahr
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kratiekosten von insgesamt ungefähr 360 MillionenEuro pro Jahr verursacht. Bei einem Aufkommen von1,9 Milliarden Euro ist das wirklich ein stattlicher Anteilan Bürokratiekosten. Wenn all das in der Realität nichtdazu geführt hat, den eigentlichen Zweck der Praxisge-bühr zu erfüllen, dann ist es an der Zeit, dass wir jetztauf die Praxisgebühr verzichten.
Insofern hat die Koalition hier eine Entscheidung getrof-fen, die den Menschen unmittelbar zugutekommt und ih-nen in den nächsten Jahren Verlässlichkeit bringt.Es gibt einen Witz,
und der Witz geht wie folgt: Kommt ein Mann zum Arzt.Fragt der Arzt: Was fehlt Ihnen? Sagt der Mann: Zu-nächst einmal 10 Euro, Herr Doktor.
Dieser Witz wird ab 1. Januar Geschichte sein,
weil die Menschen sich darauf verlassen können, dassdiese unsinnige Gebühr, eine Autobahnvignette in derArztpraxis, nicht mehr erhoben wird.
– Ihr Genöle zeigt doch nur eines, meine Damen undHerren von SPD und Grünen: Sie sind neidisch, dass eseine bürgerlich-liberale Koalition ist, die die Sorgen derMenschen ernst nimmt,
die mit ihrer Politik – durch Einsparungen bei Arznei-mitteln, durch kluges und solides Wirtschaften, durchdie Schaffung von Arbeitsplätzen für die Menschen –erst die Voraussetzungen dafür geschaffen hat, dass IhrFehler von seinerzeit, der Fehler von Rot-Grün, die Pra-xisgebühr einzuführen,
jetzt korrigiert werden kann. Das trifft Sie; anders kannich Ihr Verhalten hier heute nicht verstehen, meine Da-men und Herren von Rot-Grün.
Das Gesetz beweist zusätzlich, dass wir die Alltags-sorgen betroffener Menschen ernst nehmen. Mit demGesetz zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs wirdein Beitrag dazu geleistet, dass Menschen, deren Behin-derung so stark ist, dass sie auf einen Pflegeassistentenangewiesen sind, den Pflegeassistenten künftig nicht nurbei einem Krankenhausaufenthalt mitnehmen können;diese Regelung wird jetzt auf Vorsorge- und Rehabilita-tionseinrichtungen ausgeweitet. Das heißt, die Betreu-ung durch eine vertraute Pflegeperson muss nicht unter-brochen werden. Damit kann die Behandlung optimalunterstützt werden. Wir sorgen für eine bessere Rege-lung hinsichtlich der Investitionskosten in Pflegeheimen.Wir sorgen mit den Regelungen dafür, dass Fehlverhal-ten im Bereich der Pflegeversicherung nun bekämpftwerden kann.Meine Damen und Herren, all das beweist einmalmehr, dass in dieser Legislaturperiode, bei der christlich-liberalen Koalition, die Patienten im Mittelpunkt stehen.Wir machen eine Politik, deren Ergebnisse unmittelbarbei den Patientinnen und Patienten ankommen.
Wir sorgen mit Blick auf ihre Alltagssorgen vor und lö-sen Probleme.Das zeichnet Christlich-Liberal aus. Das ist eine so-lide, verlässliche Gesundheitspolitik, die für eine guteFinanzlage sorgt, aber auch dafür, dass es dort, wo esnötig ist, zu einer Entlastung kommt und der Bürokratie-abbau vorangebracht wird. Deswegen ist das heute einguter Tag für die Patientinnen und Patienten in Deutsch-land.
Das Wort hat die Kollegin Hilde Mattheis von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrter Herr Minister, nicht immer ist eine frecheBehauptung besser als ein Beweis. Das haben Sie geradehier selbst bewiesen. Bei Ihrem Versuch, die Abschaf-fung der Praxisgebühr in diesem Haus allein Ihrer Koali-tion zuzuschreiben, haben Sie jeden – leider jämmerlichgescheiterten – Versuch unterschlagen, den wir, alle Op-positionsfraktionen gemeinsam, unternommen haben,um die Praxisgebühr viel früher zu thematisieren und ab-zuschaffen.
Es ist schlicht und ergreifend Ihrem Koalitionsge-schacher zu verdanken, dass Sie sich jetzt hier hinstellenund so tun, als seien Sie diejenigen, die auf irgendeineWeise für die Versicherten eine Bresche schlagen wür-den. Ihnen geht es doch ausschließlich darum, eineKlientel wieder an sich zu binden, die Sie bei Ihrer Ge-sundheitspolitik mittlerweile auf der Strecke gelassenhaben, nämlich die Ärzte; an diese Klientel wollen Sieheran.
Es geht Ihnen nicht um die Versicherten, wie man auchbeim Thema Assistenzpflege sieht.
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25036 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012
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– Vielleicht wird der Kollege Franke gleich genauer aufdas Thema Praxisgebühr eingehen und auf die legendäreNacht zu sprechen kommen, in der Herr Seehofer allesgetan hat, um die Praxisgebühr durchzusetzen. Das wis-sen wir alle. Es stand nicht nur in sämtlichen Zeitungen;es ist mittlerweile regelrecht Geschichte geworden.
– Regen Sie sich doch nicht auf! Eine schöne Nacht isteine schöne Nacht, Herr Zöller. Ich bitte Sie!
– Sie scheinen sich aber mächtig darüber aufzuregen. Siewaren es doch, Herr Lanfermann, der zu Beginn jederAusschusssitzung gesagt hat: Absetzung von der Tages-ordnung. Oder haben Sie das vergessen?
– Ach, Herr Lanfermann, es ist schön, dass Sie das sogenau darstellen. Das ist gut. Herr Franke wird später da-rauf eingehen.
– Sie waren es doch, der eine Entscheidung immer wie-der hinausgezögert hat, weil sich die Koalition schlichtund ergreifend nicht einig werden konnte.
Jetzt haben Sie das Geschacher Betreuungsgeld gegenPraxisgebühr. Der eine bedient die eine Klientel, der an-dere die andere Klientel.
So kann man keine Politik machen.
Im Folgenden gehe ich auf die Assistenzpflege ein.Sie haben vorhin blumig zum Thema UN-Behinderten-rechtskonvention gesprochen. Wir wollen die Rechte derMenschen mit Behinderungen umsetzen, um sie zu un-terstützen. Die Grundlage des von Ihnen vorgelegten As-sistenzpflegegesetzes wurde 2009 von unserer damali-gen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt auf den Weggebracht. Ihr Ansatz jetzt springt viel zu kurz, er ist we-nig durchsetzungsstark, weil viele Bevölkerungsgruppenwie Menschen mit geistiger Behinderung ausgeschlos-sen sind.2009 haben wir etwas Gutes auf den Weg gebracht.Wir haben dafür gesorgt, dass Menschen mit Behinde-rung während eines Krankenhausaufenthalts eine Assis-tenzpflege finanziert bekommen. Das ist der richtige An-satz. Wir haben die Assistenzpflege damals auf denBereich Krankenhaus begrenzt. Aber die Erfahrung seitdieser Zeit hat uns zwei Dinge gelehrt:Erstens. Wir dürfen die Leistungen nicht an das Ar-beitgebermodell koppeln, weil sonst viele Menschen mitanderen Behinderungen und anderen Assistenzbedarfenvon Unterstützungen ausgeschlossen sind. Das ist unsereErfahrung. Die bisherige Regelung betrifft nur einenganz speziellen und kleinen Kreis von Menschen mit Be-hinderung.Zweitens. Seit 2009 haben wir auch gelernt, dass wirbei der Assistenzpflege andere Versorgungsstrukturenschlicht und ergreifend nicht ausklammern dürfen.Wir begrüßen Ihren ersten Schritt, aber Sie gehennicht weit genug. Wir wollen ab 2013 wirklich sicher-stellen – fragen Sie Herrn Hüppe; er hat vorhin heftig da-für plädiert –, dass die UN-Behindertenrechtskonventiondurch konkrete Maßnahmen umgesetzt wird.
Diese Verpflichtung sind wir alle eingegangen. LassenSie uns dafür sorgen, dass Menschen von der Assistenz-pflege nicht ausgeschlossen, sondern einbezogen wer-den.Wir als SPD werden den Gesetzentwurf nicht ableh-nen, aber wir werden uns enthalten.
Herr Bahr, wir erwarten, dass Sie Menschen mit Behin-derungen mit der gleichen Leidenschaft unterstützen wiedie Ärzte.
Vielen Dank fürs Zuhören.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Maria Michalk von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe KolleginMattheis, Sie sagen, das von Ulla Schmidt auf den Weggebrachte Gesetz sei gut. Wir haben es damals in derGroßen Koalition gemeinsam beschlossen. Nun habenwir das Gesetz fortentwickelt. Jetzt sagen Sie, das seinicht weitgehend genug, und wollen sich der Stimmeenthalten. Das ist inkonsequent.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012 25037
Maria Michalk
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Lassen Sie mich die Sache auf den Punkt bringen.Das große Thema ist heute natürlich die Praxisgebühr.Schon seit Wochen ist es in aller Munde. Aber hätten wirdieses kleine, feine Gesetz zur Fortentwicklung des As-sistenzpflegebedarfs im stationären Bereich sowohl inder Vorsorge als auch in der Rehabilitation nicht auf denWeg gebracht – die Koalition hat dies in Abstimmungmit den Ländern getan –, dann hätten Sie die Debatteheute so nicht führen können. Das will ich an dieserStelle noch einmal sagen; denn es ist wichtig, dass wirdie Dinge, die notwendig sind, im Rahmen unserer regu-lären Arbeit vervollkommnen und verbessern.Das Gesetz existiert seit dem 30. Juli 2009. Es ist aus-schließlich auf das sogenannte Arbeitgebermodell aus-gerichtet. Es ist richtig und gut, dass sich Menschen miteiner Behinderung ihre Assistenz selbst aussuchen undsie auch selbst einstellen können und dass sie so ihr Le-ben mit der Assistenz ganz konkret individuell gestaltenkönnen. Es ist in der Sache auch richtig und gut, dassdiese Menschen bei einem stationären Krankenhausauf-enthalt den sogenannten Mehrpflegebedarf von ihrervertrauten Assistenz, in der vertrauten persönlichenKonstellation, erhalten.Die Praxis hat in den letzten Jahren gezeigt, dass esschlecht bzw. menschlich nicht vertretbar ist, wenn dieseAssistenz nicht in den sogenannten Vorsorgebereichoder Rehabilitationsbereich mitgenommen werden kann.Diesen Fakt haben wir im Gesundheitsausschuss aufge-griffen und dazu ein Expertengespräch durchgeführt. So-wohl die Länder als auch die Leistungserbringer, also dieKommunen, haben gesagt: Ja, diese in sich logische Er-weiterung auf den Rehabilitationsbereich bzw. die statio-näre Vorsorge ist gut und richtig und auch bezahlbar. Dasist ein Schritt in die richtige Richtung.Es sind ungefähr 700 Menschen in unserem Land vondieser Regelung betroffen. Das ist eine relativ kleine undüberschaubare Zahl. Wir regeln jetzt diese Erweiterung,weil wir möchten, dass die Pflege aus einer Hand erfolgtund dass der Mehraufwand im Rahmen dieses speziellenVertrauensverhältnisses gewährleistet wird.Uns liegt ein Antrag der Linken vor. Ursprünglichwollte die Linke den Antrag, den wir heute zur Abstim-mung stellen, auch eingebracht haben. Wir standen mit-einander im Dialog, und zwar fraktionsübergreifend;auch das muss ich noch einmal sagen. Dummerweise hatsich die Linke von ihrem ersten Ansinnen verabschiedet.Sie fordert jetzt eine Ausweitung auf alle Bereiche.Nun kann man immer alles fordern. Fakt ist aber:Politik ist auch ein Instrument des Machbaren und desschrittweise Vervollkommnens. Deshalb sagen wir: Dasist ein logischer, konsequenter, gerechtfertigter und fol-gerichtiger Schritt, der an dieser Stelle in unserem Ge-setz geregelt wird. Wir wissen, dass es in der konkretenLebenssituation durchaus Konstellationen geben kannund wird, in denen dieser Mehraufwand notwendig ist,weil kein Arbeitgebermodell zum Tragen kommt.Ich möchte noch einmal auf die bestehende Regelungin § 11 SGB V verweisen. Ich zitiere ausdrücklich, wasin § 11 Abs. 3 für die Menschen geregelt ist, die ihre As-sistenz nicht im Rahmen des Arbeitgebermodells be-schäftigen:Bei stationärer Behandlung umfassen die Leistun-gen auch die aus medizinischen Gründen notwen-dige Mitaufnahme einer Begleitperson des Versi-cherten oder bei stationärer Behandlung in einemKrankenhaus nach § 108 die Mitaufnahme einerPflegekraft …Das heißt, dass in ganz konkreten schwierigen Kon-stellationen eine qualitative Pflege möglich ist. Diesemuss nur gelebt werden. Dass sie gelebt wird, haben unsdie Experten in der Anhörung zu dem Gesetz gesagt.Deshalb bleiben wir bei unserem Gesetzentwurf.Wir haben neben dem Änderungsantrag zur Abschaf-fung der Praxisgebühr einen anderen kleinen, aber wich-tigen Änderungsantrag eingebracht, den ich noch erwäh-nen möchte, weil er Bestandteil unserer heutigenGesetzesbeschlussfassung sein wird. Wir regeln näm-lich, dass bei der Bearbeitung von Anträgen auf Pflege-leistungen im Fall des Verdachtes auf Missbrauch einAuskunftsanspruch besteht. Dies gilt für den Fall, dasssich abzeichnet, dass bei der Einstufung nicht alles aufden Tisch gelegt wurde. Für diesen Fall wird ein Aus-kunftsrecht eingeführt; denn wir möchten in unseremLand weiterhin eine gesetzeskonforme Mittelverwen-dung gewährleisten.Dieser Änderungsantrag enthält einen zweiten As-pekt: die Umsetzung von Entscheidungen des Bundes-sozialgerichtes vom letzten Jahr. Es gibt nämlich großeUnsicherheiten, was die finanzielle Absicherung von In-vestitionen bei den Pflegeeinrichtungen angeht. DieLänder erhalten nun das Recht auf Pauschalierung derAufwendungen im Zusammenhang mit der Instandhal-tung und Instandsetzung, und zwar mit Blick auf die Be-legungsquote. Das ist sehr wichtig. Auch an dieser Stellesorgen wir für Rechtssicherheit.
Dadurch sorgen wir dafür, dass unsere Pflegeeinrichtun-gen auch weiterhin modernisiert und veränderten Be-dürfnissen angepasst werden können.Diese Regelung bewirkt auch, dass die finanzielle Be-lastung auf die Menschen, die in Pflegeeinrichtungen le-ben, gleichmäßig verteilt wird, das heißt, dass diejeni-gen, die heute in Pflegeeinrichtungen leben, nicht diekompletten Investitionskosten zu tragen haben, währenddiejenigen, die künftig in diesen Einrichtungen lebenwerden, nichts zu tragen haben. Dieser Änderungsantragist ein wichtiger Baustein zur Vervollkommnung unsererSozialgesetzgebung.Mir ist wichtig, zu betonen, dass wir mit diesem Ent-wurf eines Assistenzpflegegesetzes zeigen – damit knüp-fen wir auch an die Debatte an, die wir kurz zuvor ge-führt haben –, dass es uns ernst ist mit der besserenTeilhabe von Menschen mit Behinderungen in unserer
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25038 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012
Maria Michalk
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Gesellschaft. Ganz konkret nehmen wir im Gesundheits-bereich die hierfür notwendigen gesetzlichen Schrittevor.Ich will in diesem Zusammenhang darauf hinweisen,dass wir unseren Krankenkassen die Möglichkeit zurSatzungsregelung eingeräumt haben. Es gibt durchausKrankenkassen, die über Leistungsverträge in diesemBereich für Verbesserungen sorgen. Ich will in diesemZusammenhang auf eine Vereinbarung hinweisen– Ehre, wem Ehre gebührt –, die der Taubblinden-Assis-tenten-Verband mit den gesetzlichen Krankenkassen inNordrhein-Westfalen geschlossen hat, in der geregelt ist,dass die Krankenkassen, sofern sie diesen Vertrag unter-zeichnet haben, in Zukunft für alle betroffenen Men-schen eine Assistenz finanzieren, sodass bei diesenkonkreten Beeinträchtigungen eine Assistenz bei jedemArztbesuch möglich ist. Ich frage mich allerdings, wa-rum bundeseinheitlich agierende Krankenkassen diesbe-züglich keine bundeseinheitliche Regelung finden.
Ich will damit sagen: Der Gesetzgeber lässt sich in diePflicht nehmen, wenn er in der Pflicht ist. Ich appelliereaber auch: Was man außergesetzlich regeln kann, sollteman außergesetzlich regeln und vor allen Dingen auchleben.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Harald Weinberg für die Fraktion
Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren! Es begann in einerlangen Nachtsitzung 2003. Rot-Grün wollte das Fach-arzthopping bekämpfen und für jeden Facharztbesuchohne Überweisung eine Gebühr von 15 Euro nehmen.Die Union wollte für jeden Arztkontakt eine Gebühr er-heben. Seehofer und Schmidt feilschten und feilschten.Heraus kam die bekannte Praxisgebühr von 10 Euro imQuartal. Das endete in einer langen Nachtsitzung am4. November 2012,
in der die Abschaffung der Praxisgebühr der einzigeLichtblick in der ansonsten tiefen Dunkelheit der ande-ren Beschlüsse war.
Damals Geschachere, heute wieder Geschachere.Beide Male war der König der Basarhändler, HorstSeehofer, beteiligt. Das ist eine bemerkenswerte Tatsa-che.
Diesmal hat er die Praxisgebühr gegen die von ihm sosehr gewünschte Herdprämie namens Betreuungsgeldeingetauscht. Es wurde ein großer Murks beseitigt undein noch größerer Murks geschaffen.
Das ist das Ende eines langen Prozesses. Zwischenden beiden Basarnächten gab es viele Diskussionen undAbstimmungen über dieses Ärgernis. Ich will sie nocheinmal Revue passieren lassen, auch wenn es Ihnen viel-leicht wehtut – das müssen Sie jetzt aushalten –: 2004wurde das GKV-Modernisierungsgesetz beschlossen.Nur die PDS-Abgeordneten waren gegen die Praxisge-bühr. Die FDP, um das noch einmal in aller Deutlichkeitzu sagen, wollte eine prozentuale Selbstbeteiligung. Siehat damals einen eigenen Antrag vorgelegt. Dieser An-trag enthielt eine lange Giftliste, in der genau das stand.Ich kann Ihnen sogar die Drucksachennummer sagen.
– Ja, Sie standen mit auf dem Antrag; Sie haben völligrecht, Herr Bahr.
2006 legte die Linke einen Gesetzentwurf vor, in demdie Abschaffung der Praxisgebühr geregelt war. Alle an-deren Fraktionen waren dagegen. 2009 stellte die Linkeeinen Antrag auf Abschaffung der Praxisgebühr. DieGrünen enthielten sich. Alle anderen waren dagegen.
2012 stellte die Linke einen Antrag auf Sofortabstim-mung über die Abschaffung der Praxisgebühr. DieGrünen stimmten mit uns, alle anderen dagegen. In derletzten Sitzungswoche – wir haben es erlebt – gab es An-träge der Oppositionsfraktionen auf Sofortabstimmungüber die Abschaffung der Praxisgebühr. Die Koalitions-fraktionen sorgten dafür, dass diese Anträge in die Aus-schüsse überwiesen wurden.Ja, die FDP, die angebliche Vorkämpferin gegen diePraxisgebühr!
Einen unserer Anträge auf Abschaffung der Praxisge-bühr hat sie monatelang im Ausschuss nicht abschlie-ßend behandeln wollen. Noch letzte Woche hat sie ihnim Ausschuss blockiert, und das, um nicht vorzeitigFarbe bekennen zu müssen. Das Problem ist nämlich:Die Positionsänderung der FDP erfolgte in erster Linienicht aus sachlichen Gründen. Erst als sie etwas für dasGeschachere in der Hand hatte, hat sie sich aus der De-ckung gewagt, und dann wurde der Murks abgeschafft –oder besser: gegen anderen Murks eingetauscht.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012 25039
Harald Weinberg
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Hätte die FDP jemals Glaubwürdigkeit besessen, dannwäre sie spätestens jetzt dahin.Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bundestag istdie Vertretung des Souveräns.
– Herr Spahn, seien Sie doch einmal still. –
Uns sollte es im Kern darum gehen, keine obskurenTauschgeschäfte zu machen, sondern um die Frage, wel-che Vor- und Nachteile beispielsweise solche Zuzahlun-gen haben.Es ist einer der populären Irrtümer der Gesundheits-politik, zu glauben, dass Menschen zu viele Gesund-heitsleistungen in Anspruch nehmen, wenn sie nichtskosten. Ich zitiere Norbert Häring, Ökonomiekorrespon-dent des sicher eher unverdächtigen Handelsblattes. Ersagte diese Woche:Es ist vielleicht erstaunlich, aber nachgewiesen,dass Zuzahlungen die Nutzungsrate von sehr wirk-samen und wichtigen Medikamenten ebenso starksenken wie von Mitteln für Akne oder Erkältungen.… Kostendämpfung nach dem Motto „Die Leutenehmen zu viel Gesundheitsleistungen in An-spruch, wenn sie nichts kosten, also machen wir sieteurer“, scheren alles über einen Kamm und könnendadurch– durch Folgeerkrankungen –Zusatzkosten verursachen, statt Kosten zu senken –abgesehen von dem unnötigen Leid der Patienten,das dadurch eventuell verursacht wird.
Und weiter – noch ein kurzes Zitat von ihm –:Die Praxisgebühr gehört zu den undifferenziertenMaßnahmen, die diesem Motto folgen.Wie recht er hat.Wir begrüßen ausdrücklich das Ende der Praxisge-bühr. Wir haben lange genug dafür gekämpft. Immerhinzeigt das auch: Die Linke wirkt.
Aber wir werden insbesondere bei Geringverdienern undKranken die paradoxe Wirkung haben, dass die Zuzah-lungen an anderer Stelle steigen: bei Arzneimitteln, beiHeilmitteln, bei Krankenhäusern.
Deshalb erinnern wir noch einmal an unseren anderenAntrag im parlamentarischen Verfahren, der darauf zielt,alle Zuzahlungen abzuschaffen.
Das, was für die Praxisgebühr gilt, gilt genauso fürdie anderen Zuzahlungen: Sie haben keine positivensteuernden Wirkungen. Sie bestrafen diejenigen, diekrank und auf Hilfe und auf Medikamente angewiesensind und führen im Zweifel zu den von Norbert Häringbeschriebenen negativen Folgekosten.Und was ist mit dem Finanzierungsbeitrag? Schonseit Monaten liegt das Konzept einer solidarischen Bür-gerinnen- und Bürgerversicherung von uns auf demTisch, das in der Tat durchgerechnet ist. Danach kommtman auch ohne Zuzahlungen zu einer vernünftigenFinanzierung.
Heute vollziehen wir mit der Abschaffung der Praxis-gebühr einen ersten wichtigen Schritt – ein schöner Er-folg für die Beharrlichkeit der Linken.
Noch einen letzten Satz – das ist nämlich wichtig; daswill ich gerade der FDP hinter die Ohren schreiben –:
Wir taktieren nicht, wie Sie es gerne tun und getan ha-ben; wir werden der Abschaffung der Praxisgebühr zu-stimmen, auch wenn der Gesetzentwurf von Ihnenkommt.
Das Wort hat nun Birgitt Bender für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum As-sistenzpflegegesetz hat die Kollegin Mattheis das Rich-tige gesagt: Es ist ein richtiger, aber unzureichenderSchritt. – Dieser Einschätzung schließen wir uns an.
Jetzt reden wir über die Praxisgebühr. Die FDP spieltsich auf einmal als Streiterin für die Patienten auf undsagt, dass sie sie entlasten will.
Ja, was erleben wir denn hier? Die Partei, die immer fürmehr Selbstbeteiligung ist, die immer in den Geldbeutelder Versicherten greifen will, schafft plötzlich eine Be-lastung ab. Was ist passiert? Ist die FDP sozial gewor-den? Erleben wir hier einen Ausbruch von mitfühlendemLiberalismus?
Nein, meine Damen und Herren, genau das ist nicht derFall. Wenn von dieser Koalition jetzt die Praxisgebühr
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Birgitt Bender
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abgeschafft wird, dann heißt das: Die Rechnung kommtspäter.
Es ist doch so: Schwarz-Gelb hat dafür gesorgt, dassder einheitliche Beitragssatz eingefroren worden ist undalle weiteren Kostensteigerungen allein zulasten derVersicherten gehen, und zwar in Form eines einkom-mensunabhängigen Zusatzbeitrages, der kleinen Kopf-pauschale.
Noch im Februar dieses Jahres hat der Gesundheitsmi-nister diese neue Finanzarchitektur als einen historischenSchritt gelobt. Da muss ich Ihnen sagen: Er hat leiderrecht. Ja, es ist ein historischer Schritt, der das Aus fürdie soziale Krankenversicherung einläutet.
Das, was die FDP betreibt, ist Entsolidarisierung. Des-wegen hat das gar nichts mit mitfühlendem Liberalismuszu tun.
Meine Damen und Herren, auch wenn diese Zusatz-beiträge zurzeit nicht spürbar sind: Es würde auf genaudiesem Weg weitergehen, wenn sich an der Rechtslagenichts ändert.
Dass jetzt Geld da ist, liegt daran, dass die Koalition denEinheitsbeitrag heraufgesetzt hat, und daran, dass dieKassen Geld gehamstert haben, um bloß die Erhebungeines Zusatzbeitrages zu vermeiden, damit ihnen dieVersicherten nicht davonlaufen.Aber wir wissen doch: Jedes Jahr steigen die Einnah-men, wenn es gut läuft, um 2 Prozent; wir reden ja vonLöhnen und Gehältern als Finanzierungsbasis. Das Aus-gabenwachstum liegt aber immer bei ungefähr 4 Pro-zent. Also: Spätestens im Jahre 2015 ist von diesen Re-serven nichts mehr da. Aber die Koalition greift jetzt indie Kasse. Sie entzieht dem Gesundheitsfonds für dasJahr 2013 2,5 Milliarden Euro und für das Jahr 20142 Milliarden Euro. Das heißt, der Gesundheitsfonds wirdzum Sparkässle für das Betreuungsgeld. Was ist denndas für eine Politik?
Dass durch die Praxisgebühr 2 Milliarden Euro hinzu-kommen, bedeutet natürlich nichts anderes, als dass derAbbau der Reserven und damit der Weg in den Zusatz-beitrag schneller vonstattengeht.
Meine Damen und Herren, trotzdem stimmen wir derAbschaffung der Praxisgebühr zu,
weil wir festgestellt haben, dass sie nichts bewirkt hat.Durch sie hat sich die Zahl der Arztbesuche nicht redu-ziert. Im Gegenteil: Wir haben sogar Anlass zur Sorge,dass sozial Schwache notwendige Arztbesuche aufschie-ben oder gar unterlassen.
Wir stimmen auch deswegen zu, weil wir wissen, dassdas Geld im Jahr 2013 gerade noch ausreicht, ohne dasses zur Erhebung von Zusatzbeiträgen kommt, und weilwir davon ausgehen, dass uns das Ergebnis der Bundes-tagswahl die Gelegenheit geben wird, die Zusatzbeiträge
abzuschaffen und den Weg in die Bürgerversicherung zugehen. Dafür werden wir kämpfen, meine Damen undHerren.
Das Wort hat nun Heinz Lanfermann für die FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Zuhö-rer müssen jetzt ganz verwirrt sein. Hier wird zuerst einRiesenaufstand gemacht und so getan, als würde gleichdie Welt untergehen, und dann erklären alle drei Opposi-tionsredner in dieser Trittbrettfahrerrallye, die wir erlebthaben, dass sie dem vorliegenden Gesetzentwurf zustim-men werden.
Das tun sie natürlich deshalb, weil die Abschaffung derPraxisgebühr in der Tat überall in Deutschland auf un-heimlich viel Zustimmung trifft. Für Herrn Hundt giltdas zwar nicht, weil die Arbeitgeber in diesem Fall nichtentlastet werden; das ist okay. Aber lassen wir das ein-mal beiseite.Wir haben eine Regelung getroffen, die die Men-schen auch deswegen gut finden, weil sie nicht nach-vollziehen können, warum sie 40 Jahre nach Einfüh-rung des bargeldlosen Zahlungsverkehrs jedes Mal miteinem 10-Euro-Schein in einer Arztpraxis auftauchensollen
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Heinz Lanfermann
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und dieser dort eingesammelt wird, um nachher mühsammit dem Honorar verrechnet zu werden.
Meine Damen und Herren, es geht um Bürokratieab-bau. Das war eines unserer wesentlichen Ziele. Die ersteMeldung zur Beschlusslage der Gesundheitspolitiker derFDP gab es übrigens am 1. März dieses Jahres. Das seider SPD gesagt. Ihr Antrag kam am 28. März. Dannfolgten weitere Anträge, und es wurden Legenden aufge-baut. Hier im Plenum ist nichts abgelehnt worden, wieHerr Steinmeier in einem Interview mit der RheinischenPost am 8. November behauptet hat. Wir haben Ihre An-träge in der Tat in den Ausschuss überwiesen.Im Ausschuss hatten wir schon vorher gesagt, dasswir Beratungsbedarf haben. Bei uns überfährt kein Ko-alitionspartner den anderen, sondern wir beraten solange, bis wir eine Lösung gefunden haben.
In dem Falle war es eine Lösung, die mehr den Vorschlä-gen der FDP entsprach, so wie natürlich bei anderenThemen auch die Vorschläge der Union zur Geltungkommen, manchmal ganz, manchmal zum Teil. So gehtKoalition. Sie von den Grünen haben das schon verges-sen, weil es bei Ihnen etliche Jahre zurückliegt.
Während sich die Menschen freuen, werden Sie zumTrittbrettfahrer. Sie erklären uns hier, wie schlimm dasalles ist. Dann schließen Sie Ihre Rede damit ab, dass Siezustimmen werden. Gut, es sei Ihnen gegönnt, dass Siebei dieser Maßnahme mitmachen.Im Übrigen müssen Sie verstehen, dass eine Diskus-sion ernsthaft geführt werden muss. Wir nehmen auchdie Bedenken ernst. Wenn zum Beispiel Kollege Spahnöffentlich erklärt, es habe hier und da Bedenken, dannfinde ich das in Ordnung.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Das ist sein Abschiedsschmerz. Dieser sei ihm ge-
gönnt. Hauptsache, am Ende steht die richtige Entschei-
dung.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Edgar Franke für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Sie kennen ja bereits die Geschichte von Horst undUlla.
Herr Minister, nach Ihrer Rede war ich mir nicht so si-cher, ob Sie die Geschichte von Horst und Ulla kennenbzw. ob Sie sie richtig in Erinnerung haben.
Es ist die Geschichte von der angeblich schönsten Nacht,die Horst Seehofer je erlebt hat,
die Geschichte einer Nacht, in der ein uneheliches Kindgeboren wurde. Das Kind hieß Praxisgebühr. DiesesKind ist unehelich, weil nicht Rot-Grün die Eltern sind,weil nicht Ulla Schmidt die Mutter ist.
Hilde Mattheis hat schon darauf hingewiesen – ichmuss es hier wiederholen –: Rot-Grün wollte eine Pra-xisgebühr, durch die teure Facharztbesuche und teureApparatemedizin verhindert werden sollten. Das war derWille von Rot-Grün. Wir wollten, dass der Hausarzt derAnsprechpartner ist, Herr Zöller, und dass man nicht beijeder noch so leichten Krankheit zum Facharzt rennt.Das war die besagte Steuerungswirkung. Wir wolltensolch eine Praxisgebühr, und wir wollten keine Praxisge-bühr à la Seehofer. Deshalb ist es richtig, sie abzuschaf-fen.
– Wir hatten, wie Sie wissen, aber nicht die Mehrheit.
– Wir hatten nicht die Mehrheit im Bundesrat.Nun hat Horst wieder eine schöne Nacht erleben dür-fen, diesmal nicht mit Ulla, sondern mit Philipp, mitPhilipp Rösler.
In dieser Nacht wurde ein Lieblingskind der CSU gebo-ren. Dieses Lieblingskind heißt Betreuungsgeld. Am An-fang haben sich aber Philipp und Horst gar nicht so gutverstanden. Ich zitiere einmal die Onlineausgabe derSüddeutschen Zeitung: „Seehofer verärgert über Rösler“.Horst Seehofer hat gesagt: „Mein Vertrauensverhältniszu Philipp Rösler hat einen Kratzer bekommen.“ Die Li-beralen bezeichneten das Betreuungsgeld sogar als „gro-ben Unfug“. Nun ist bei der Koalition aber wieder großeHarmonie angesagt. Horst und Philipp haben sich wiederlieb.
Das uneheliche Kind, die Praxisgebühr, ist auf der Stre-cke geblieben.
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Dr. Edgar Franke
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Nachdem sich die jetzige Praxisgebühr à la Seehoferals Fehlschlag erwiesen hat, wird sie durch den nächstengroben Unfug ersetzt. Die Presse nennt dies zu Recht ei-nen politischen Kuhhandel. Wissen Sie, was man unterKuhhandel versteht? Darunter versteht man das Feil-schen und Betrügen beim Viehhandel. Listige Händlerschummelten früher beim Verkauf ihrer Kühe und Pferdebezüglich des Alters und der Leistungsfähigkeit derTiere, um sie zu einem höheren Preis zu verkaufen. Ichfinde, besser kann man die Politik von Schwarz-Gelbnicht beschreiben.
Was Sie am letzten Sonntag in den Verhandlungen derKoalition gemacht haben, bestätigt aus meiner Sichtviele der Vorurteile, die die Menschen gegenüber derPolitik haben. Sie betreiben nämlich nicht aus sachlicherÜberzeugung Politik. Die Praxisgebühr wird nur deshalbabgeschafft, damit die CSU ihr Betreuungsgeld be-kommt. Das ist die Wahrheit, meine sehr verehrten Da-men und Herren.
Das Betreuungsgeld kostet – Biggi Bender hat es gesagt –2 Milliarden Euro. Die Abschaffung der Praxisgebührkostet noch mal 2 Milliarden Euro. Das sind klassischeWahlgeschenke.
Um das bezahlen zu können, greifen Sie zu Taschenspie-lertricks: Sie nehmen Mittel aus dem Gesundheitsfonds.Alles zusammengerechnet nehmen Sie aus dem Gesund-heitsfonds 2013 und 2014 4,5 Milliarden Euro. Sie ver-geuden das Geld der Beitragszahler, meine sehr verehr-ten Damen und Herren. Seriöse Politik sieht anders aus.
Sie entziehen dem Gesundheitsfonds 4,5 MilliardenEuro. Dabei nehmen Sie bewusst in Kauf, dass die unse-ligen Zusatzbeiträge wiederkommen.
Vor der letzten Bundestagswahl versprachen Unionund FDP den Wählern solides Durchregieren. Die FDPversprach eine deutliche Entlastung im Geldbeutel. Washaben Sie gemacht? Sie haben die Krankenversiche-rungsbeiträge erhöht. Das ist das Gegenteil von „MehrNetto vom Brutto“. Rechnen können Sie also auch nicht.Sie versuchen, sich bis zur Bundestagswahl durchzu-wursteln. Auf dem Weg dahin verteilen Sie Wahlge-schenke. Ihre Haushaltspolitik erinnert an einen Men-schen, der abnehmen will und sich trotzdem jeden Tageine Tafel Schokolade gönnt. Das ist vollkommen unse-riös.
Zu einer zukunftsorientierten Politik ist diese Koalitionjedenfalls längst nicht mehr in der Lage. Wir hoffen, daswird nächstes Jahr anders werden.Recht herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Jens Spahn für die CDU/CSU-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichwill noch einmal daran erinnern, was die Grundlage da-für ist, dass wir heute die Entscheidung zur Abschaffungder Praxisgebühr treffen können: Das ist die gute finan-zielle Situation der sozialen Sicherungssysteme, insbe-sondere der gesetzlichen Krankenversicherung. DieLage ist vor allem deswegen so gut, weil die Koalitionaus Union und FDP angesichts der Defizite, die für 2011und 2012 drohten, bereit war, ein Sparpaket zu schnüren,das alle mit einbezogen hat. Zum Zweiten hat die wirt-schaftliche Entwicklung – eine Entwicklung, die wirdurch gesetzgeberische Maßnahmen befördert haben –dazu beigetragen, dass die sozialen Sicherungssystemeheute so gut dastehen wie seit über zwanzig Jahren nicht.Es gibt Rücklagen. Das ist ein gutes Zeichen für Patien-ten, Ärzte, Pflegekräfte und alle anderen, die im Gesund-heitswesen tätig sind.
Angesichts der Forderungen, die über die Abschaf-fung der Praxisgebühr hinaus erhoben worden sind, ge-winnt man manchmal den Eindruck, als habe die Oppo-sition nicht mitbekommen, wie sich die finanzielleSituation der gesetzlichen Krankenversicherung in denletzten zehn Jahren entwickelt hat. Deshalb will ich aus-drücklich daran erinnern: Im Jahr 2000 hat die gesetzli-che Krankenversicherung 134 Milliarden Euro ausgege-ben. 2013 wird die gesetzliche Krankenversicherung190 Milliarden Euro ausgeben. Das heißt, in den letztendreizehn Jahren sind die Ausgaben der gesetzlichenKrankenversicherung – aufgrund der Alterung derGesellschaft, aufgrund des technisch-medizinischenFortschritts und aufgrund des Umstands, dass wir eineflächendeckende Versorgung aufrechterhalten wollen –deutlich gestiegen. Diese Steigerung macht überdeutlich,dass es Sinn macht, die Rücklagen der sozialen Siche-rungssysteme grundsätzlich zu erhalten. Genau das tutdiese Koalition, selbst wenn wir die Praxisgebühr ab-
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Jens Spahn
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schaffen. Wir halten Rücklagen vor, weil wir wissen,dass die sozialen Sicherungssysteme sie in den nächstenJahren brauchen werden. Deshalb ist es falsch, wenn Siedieses Geld den Menschen versprechen.
Die Linken wollen, dass alle Zuzahlungen abge-schafft werden. Hinsichtlich der Sinnhaftigkeit von Zu-zahlungen haben wir offenkundig eine unterschiedlicheEinschätzung. Ich will ausdrücklich sagen: Wer inDeutschland krank wird – egal, ob er Krebs, MS,Parkinson hat oder Bluter ist –, der kann sich darauf ver-lassen, dass ihm, egal wie teuer die Behandlung wird, ei-nes der besten Gesundheitssysteme der Welt flächende-ckend zur Verfügung steht.
Es ist auch eine Form von Solidarität, wenn derjenige,der auf dieses gute Gesundheitswesen vertrauen kann,im Rahmen seiner Möglichkeiten – darum die Einkom-mensgrenzen von maximal 1 Prozent des Bruttolohns fürchronisch Kranke und maximal 2 Prozent des Brutto-lohns für alle anderen – durch Eigenbeteiligungen undZuzahlungen einen Beitrag dazu leistet, dass dieses Sys-tem so gut sein kann. Das mag Ihnen nicht gefallen, unddas ist sicherlich nicht populär. Aber ich bin sehr sicher,dass die meisten Menschen ein gesundes Verständnis da-für haben, dass das richtig ist. Deswegen halten wir anZuzahlungen grundsätzlich fest.
Sie machen in dieser Woche bei den Haushaltsberatun-gen zum Gesundheitsetat ja sowieso wieder Politik nachdem Motto: Im Himmel ist Jahrmarkt. Sie stellen Anträgeim Gesundheitsausschuss. Wir sollen 1 bis 2 MilliardenEuro mehr für Krankenhäuser ausgeben, wir sollen mehrfür Prävention ausgeben, wir sollen für die Versorgungin der Fläche mehr ausgeben, und wir sollen die Praxis-gebühr und die Zuzahlungen abschaffen.Ich bin der festen Überzeugung, dass Ihnen die Men-schen nicht auf den Leim gehen werden.
Sie wissen ganz genau, dass eine gute medizinische Ver-sorgung Geld kostet, dass man nicht alles versprechenkann und dass das, was Sie hier machen, tatsächlich bil-liges Trittbrettfahren ist, wie der Kollege das gerade dar-gestellt hat, mehr aber auch nicht.
Es ist schon drollig, wie sich die Kollegen von derSPD hier winden. Ich will einmal daran erinnern, dass esUlla Schmidt als Gesundheitsministerin war, die die Pra-xisgebühr mit unserer Zustimmung eingeführt hat,
weil wir sie in der Sache für richtig gehalten haben undnoch immer für richtig halten. Was ihr hier acht Jahrespäter, nachdem ihr sie eingeführt habt, gerade versucht,ist eine Form von unbefleckter Empfängnis. Ihr tut so,als hättet ihr nichts damit zu tun gehabt. Das lassen wireuch in der Debatte aber nicht durchgehen.
Ich muss hier fragen: Wo ist denn der große KollegeLauterbach? Er steht vor jeder Kamera und bei jedemFernsehteam und erzählt etwas zur Praxisgebühr und zuanderen Themen, aber im Ausschuss, am Mittwoch, warer nicht zu sehen, und heute bei der Debatte ist er auchnicht zu sehen. Es gibt Menschen, die darüber diskutie-ren, wie oft Herr Steinbrück in den Ausschüssen sitzt,aber es gab in den letzten 30 Jahren im ganzen Parla-ment keinen gesundheitspolitischen Sprecher, der sichweniger im Ausschuss oder im Plenum hat sehen lassen.Weniger große Klappe im TV und etwas mehr Anwesen-heit im Parlament wäre auch einmal angemessen.Wir als Union werden diesen gemeinsam gefundenenKompromiss am Ende mittragen, obgleich wir es in derSache für richtig gehalten hätten, die Praxisgebühr bei-zubehalten. Wir tragen ihn schweren Herzens, aber gu-ten Gewissens mit, weil wir wissen, dass wir selbst mitdieser Entscheidung mehr Rücklagen in der gesetzlichenKrankenversicherung und insgesamt eine stabilere finan-zielle Situation haben werden, als das in den letzten20 Jahren der Fall gewesen ist.Das ist ein Ausdruck erfolgreicher christlich-liberalerGesundheitspolitik: nicht großes Trittbrettfahren, nichtgroßes Reden, sondern gutes Handeln. Das setzen wirauch fort.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zurRegelung des Assistenzpflegebedarfs in stationären Vor-sorge- und Rehabilitationseinrichtungen.Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unterBuchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-che 17/11396, den Gesetzentwurf der Bundesregierungauf Drucksachen 17/10747 und 17/10799 in der Aus-schussfassung anzunehmen.Interfraktionell ist vereinbart, über Art. 1 Nrn. 2 bis 6und Art. 4 bis 6 – es handelt sich dabei um die Abschaf-fung der Praxisgebühr – einerseits und über den Gesetz-entwurf im Übrigen andererseits getrennt abzustimmen.Ich rufe also zunächst Art. 1 Nrn. 2 bis 6 und Art. 4bis 6 in der Ausschussfassung auf – Stichwort: Praxisge-bühr.Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Zur Ab-stimmung liegt mir eine Erklärung des Kollegen Dr. IljaSeifert vor.1)Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, dievorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind alle Plätze an1) Anlage 5
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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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den Abstimmungsurnen besetzt? – Das ist der Fall. Danneröffne ich die namentliche Abstimmung.Nun die obligate Frage: Haben alle anwesenden Mit-glieder des Bundestages ihre Stimme abgegeben? – Esgibt keine heftigen Bewegungen mehr, dann schließe ichdie Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen undSchriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Bis zumVorliegen des Ergebnisses der namentlichen Abstim-mung unterbreche ich die Sitzung.Die Sitzung ist unterbrochen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die unterbrocheneSitzung ist wieder eröffnet.Ich teile Ihnen zunächst das von den Schriftführerin-nen und Schriftführern ermittelte – wie ich feststelle:einmalige – Ergebnis der namentlichen Abstimmungüber Art. 1 Nrn. 2 bis 6 und Art. 4 bis 6 des von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurRegelung des Assistenzpflegebedarfs in stationären Vor-sorge- oder Rehabilitationseinrichtungen in der Aus-schussfassung – es geht also, kurz gesagt, um die Praxis-gebühr – mit: abgegebene Stimmen 548. Mit Ja habengestimmt 548.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 546;davonja: 546JaCDU/CSUIlse AignerPeter AltmaierPeter AumerDorothee BärThomas BareißNorbert BarthleGünter BaumannErnst-Reinhard Beck
Manfred Behrens
Veronika BellmannDr. Christoph BergnerPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserDr. Maria BöhmerWolfgang Börnsen
Wolfgang BosbachNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexander DobrindtMarie-Luise DöttDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachHartwig Fischer
Dirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachHerbert FrankenhauserDr. Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserErich G. FritzHans-Joachim FuchtelIngo GädechensDr. Peter GauweilerDr. Thomas GebhartNorbert GeisAlois GerigEberhard GiengerJosef GöppelPeter GötzDr. Wolfgang GötzerReinhard GrindelHermann GröheMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundMonika GrüttersOlav GuttingFlorian HahnJürgen HardtGerda HasselfeldtDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilUrsula Heinen-EsserFrank HeinrichRudolf HenkeMichael HennrichAnsgar HevelingErnst HinskenPeter HintzeChristian HirteRobert HochbaumKarl HolmeierFranz-Josef HolzenkampJoachim HörsterAnette HübingerHubert HüppeThomas JarzombekDieter JasperDr. Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerAlois KarlBernhard Kaster
Volker KauderDr. Stefan KaufmannRoderich KiesewetterEckart von KlaedenEwa KlamtVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenManfred KolbeDr. Rolf KoschorrekHartmut KoschykMichael KretschmerGunther KrichbaumDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Hermann KuesGünter LachAndreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeDr. Max LehmerPaul LehriederDr. Ursula von der LeyenIngbert LiebingMatthias LietzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsDr. Jan-Marco LuczakDaniela LudwigDr. Michael LutherKarin MaagDr. Thomas de MaizièreHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Dr. Michael MeisterDr. Angela MerkelMaria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergPhilipp MißfelderDietrich MonstadtMarlene MortlerDr. Gerd MüllerStefan Müller
Dr. Philipp MurmannMichaela NollDr. Georg NüßleinFranz ObermeierEduard OswaldHenning OtteDr. Michael PaulUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferBeatrix PhilippRonald PofallaChristoph PolandRuprecht PolenzEckhard PolsThomas RachelDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergKatherina Reiche
Lothar RiebsamenJosef RiefKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckErwin RüddelAlbert Rupprecht
Anita Schäfer
Dr. Annette SchavanKarl SchiewerlingNorbert SchindlerTankred SchipanskiGeorg SchirmbeckChristian Schmidt
Patrick SchniederDr. Andreas SchockenhoffNadine Schön
Dr. Kristina SchröderDr. Ole SchröderBernhard Schulte-DrüggelteUwe Schummer
Detlef SeifJohannes Selle
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012 25045
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Reinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelErika SteinbachChristian Freiherr von StettenDieter StierGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerKarin StrenzThomas Strobl
Michael StübgenDr. Peter TauberAntje TillmannDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzVolkmar Vogel
Stefanie VogelsangAndrea Astrid VoßhoffDr. Johann WadephulMarco WanderwitzKai WegnerMarcus Weinberg
Peter Weiß
Sabine Weiss
Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannPeter WichtelAnnette Widmann-MauzKlaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerDagmar G. WöhrlDr. Matthias ZimmerWolfgang ZöllerWilli ZylajewSPDIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsKlaus BarthelSören BartolBärbel BasSabine Bätzing-LichtenthälerUwe BeckmeyerLothar Binding
Gerd BollmannKlaus BrandnerWilli BraseEdelgard BulmahnMartin BurkertPetra CroneDr. Peter DanckertMartin DörmannSebastian EdathyIngo EgloffSiegmund EhrmannPetra ErnstbergerElke FernerGabriele FograscherDr. Edgar FrankeDagmar FreitagMichael GerdesMartin GersterIris GleickeGünter GloserUlrike GottschalckAngelika Graf
Kerstin GrieseGabriele GronebergMichael GroßHans-Joachim HackerBettina HagedornKlaus HagemannHubertus Heil
Wolfgang HellmichDr. Barbara HendricksGustav HerzogGabriele Hiller-OhmPetra Hinz
Christel HummeJosip JuratovicOliver KaczmarekJohannes KahrsDr. h. c. Susanne KastnerUlrich KelberLars KlingbeilHans-Ulrich KloseDr. Bärbel KoflerDaniela Kolbe
Anette KrammeAngelika Krüger-LeißnerUte KumpfChristine LambrechtChristian Lange
Steffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerKirsten LühmannCaren MarksKatja MastHilde MattheisPetra Merkel
Ullrich MeßmerDr. Matthias MierschFranz MünteferingDr. Rolf MützenichThomas OppermannHolger OrtelHeinz PaulaDr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeMechthild RawertStefan RebmannGerold ReichenbachDr. Carola ReimannSönke RixRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannKarin Roth
Michael Roth
Marlene Rupprecht
Annette SawadeBernd ScheelenWerner Schieder
Carsten Schneider
Ottmar SchreinerSwen Schulz
Ewald SchurerFrank SchwabeStefan SchwartzeRita Schwarzelühr-SutterDr. Carsten SielingDr. Frank-Walter SteinmeierChristoph SträsserKerstin TackDr. h. c. Wolfgang ThierseFranz ThönnesWolfgang TiefenseeRüdiger VeitUte VogtDr. Marlies VolkmerAndrea WickleinHeidemarie Wieczorek-ZeulDagmar ZieglerManfred ZöllmerBrigitte ZypriesFDPJens AckermannChristian AhrendtChristine Aschenberg-DugnusDaniel Bahr
Florian BernschneiderSebastian BlumenthalClaudia BögelNicole Bracht-BendtKlaus BreilRainer BrüderleAngelika BrunkhorstErnst BurgbacherMarco BuschmannSylvia CanelHelga DaubReiner DeutschmannBijan Djir-SaraiPatrick DöringMechthild DyckmansHans-Werner EhrenbergRainer ErdelJörg van EssenUlrike FlachOtto FrickeDr. Edmund Peter GeisenDr. Wolfgang GerhardtHans-Michael GoldmannHeinz GolombeckMiriam GrußJoachim Günther
Dr. Christel Happach-KasanHeinz-Peter HausteinManuel HöferlinBirgit HomburgerHeiner KampMichael KauchDr. Lutz KnopekPascal KoberDr. Heinrich L. KolbGudrun KoppDr. h. c. Jürgen KoppelinSebastian KörberHolger KrestelPatrick Kurth
Heinz LanfermannHarald LeibrechtSabine Leutheusser-SchnarrenbergerLars LindemannDr. Martin Lindner
Dr. Erwin LotterOliver LuksicHorst MeierhoferPatrick MeinhardtGabriele MolitorJan MückePetra Müller
Burkhardt Müller-SönksenDr. Martin Neumann
Hans-Joachim Otto
Cornelia PieperGisela PiltzJörg von PolheimDr. Birgit ReinemundDr. Peter RöhlingerDr. Stefan RuppertBjörn SängerFrank SchäfflerChristoph SchnurrJimmy SchulzMarina SchusterDr. Erik SchweickertWerner SimmlingJudith SkudelnyDr. Hermann Otto SolmsJoachim SpatzDr. Max StadlerTorsten StaffeldtDr. Rainer StinnerStephan ThomaeManfred TodtenhausenDr. Florian ToncarSerkan TörenJohannes Vogel
Dr. Daniel VolkDr. Claudia WintersteinDr. Volker WissingHartfrid Wolff
DIE LINKEJan van AkenAgnes AlpersDr. Dietmar BartschHerbert BehrensKarin BinderMatthias W. BirkwaldHeidrun BluhmSteffen BockhahnChristine BuchholzEva Bulling-SchröterDr. Martina BungeRoland ClausDr. Diether DehmWerner DreibusWolfgang GehrckeNicole GohlkeDiana GolzeHeike HänselDr. Rosemarie HeinInge Höger
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25046 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Dr. Barbara HöllAndrej HunkoUlla JelpkeHarald KochJan KorteJutta KrellmannKatrin KunertCaren LayRalph LenkertStefan LiebichUlla LötzerDr. Gesine LötzschThomas LutzeUlrich MaurerDorothée MenznerCornelia MöhringKornelia MöllerWolfgang NeškovićThomas NordJens PetermannRichard PitterleYvonne PloetzIngrid RemmersPaul Schäfer
Michael SchlechtDr. Ilja SeifertKathrin Senger-SchäferDr. Petra SitteKersten SteinkeSabine StüberAlexander SüßmairDr. Kirsten TackmannDr. Axel TroostAlexander UlrichKathrin VoglerSahra WagenknechtHalina WawzyniakHarald WeinbergKatrin WernerJörn WunderlichBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKerstin AndreaeMarieluise Beck
Volker Beck
Cornelia BehmBirgitt BenderAgnes BruggerViola von Cramon-TaubadelEkin DeligözKatja DörnerHarald EbnerDr. Thomas GambkeKai GehringKatrin Göring-EckardtBritta HaßelmannBettina HerlitziusPriska Hinz
Dr. Anton HofreiterBärbel HöhnIngrid HönlingerThilo HoppeUwe KekeritzKatja KeulMemet KilicSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkUte KoczyTom KoenigsSylvia Kotting-UhlOliver KrischerAgnes KrumwiedeStephan KühnRenate KünastMarkus KurthUndine Kurth
Monika LazarDr. Tobias LindnerNicole MaischJerzy MontagKerstin Müller
Beate Müller-GemmekeDr. Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffDr. Hermann OttLisa PausBrigitte PothmerTabea RößnerClaudia Roth
Krista SagerManuel SarrazinElisabeth ScharfenbergDr. Gerhard SchickDr. Frithjof SchmidtUlrich SchneiderDorothea SteinerDr. Wolfgang Strengmann-KuhnHans-Christian StröbeleDr. Harald TerpeMarkus TresselJürgen TrittinDaniela WagnerBeate Walter-RosenheimerArfst Wagner
Wolfgang WielandDr. Valerie WilmsJosef Philip Winkler
– Ich glaube, es geht Ihnen so wie mir. Das habe ichnoch nie erlebt im Deutschen Bundestag, also eine Pre-miere.Art. 1 Nrn. 2 bis 6 und Art. 4 bis 6 sind damit ange-nommen.Ich rufe nun die übrigen Teile des Gesetzentwurfs inder Ausschussfassung auf. Ich bitte diejenigen, die zu-stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt da-gegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurfinsgesamt in zweiter Beratung mit den Stimmen der bei-den Koalitionsfraktionen und den Stimmen der Linkenbei Enthaltung von SPD und Grünen angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist damit mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wiezuvor angenommen.Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschlussemp-fehlung des Ausschusses für Gesundheit auf Drucksache17/11396 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buch-stabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung desAntrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/10784mit dem Titel „Assistenzpflege bedarfsgerecht sichern“.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfrak-tionen gegen die Stimmen von Linken und Grünen beiEnthaltung der SPD angenommen.Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksa-che 17/9189 mit dem Titel „Praxisgebühr abschaffen –Hausärztinnen und Hausärzte stärken“. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen dieStimmen von SPD und Linken bei Enthaltung der Grü-nen angenommen.Unter Buchstabe d empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksa-che 17/11192 mit dem Titel „Praxisgebühr sofort ab-schaffen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-empfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitions-fraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionenangenommen.Unter Buchstabe e empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-sache 17/9031 mit dem Titel „Praxisgebühr abschaffen“.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen dieStimmen der Opposition angenommen.Des Weiteren empfiehlt der Ausschuss unterBuchstabe f seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-che 17/11396 die Ablehnung des Antrags der FraktionDie Linke auf Drucksache 17/11141 mit dem Titel „Pra-xisgebühr jetzt abschaffen“. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012 25047
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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men der Koalition gegen die Stimmen der Oppositionangenommen.Unter Buchstabe g empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen auf Drucksache 17/9408 mit dem Titel „Zusatzbei-träge aufheben, Überschüsse für Abschaffung derPraxisgebühr nutzen“. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Ko-alition gegen die Stimmen der Opposition angenommen.Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe hseiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11396die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen auf Drucksache 17/11179 mit dem Titel „Praxis-gebühr und Zusatzbeiträge jetzt abschaffen“. Wer stimmtfür diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dage-gen? – Enthaltungen? – Auch diese Beschlussempfeh-lung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die derOpposition angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 44 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten DianaGolze, Jörn Wunderlich, Matthias W. Birkwald,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEAltersgrenze beim Unterhaltsvorschuss anhe-ben– Drucksache 17/11326 –Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile dem KollegenJörn Wunderlich für die Fraktion Die Linke das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Än-derung des Unterhaltsvorschussgesetzes – seit Jahrenkursiert dieses Thema hier im Hause. Unterhaltsvor-schuss ist ein wichtiges Thema; man kann das nur immerwieder betonen. Vielleicht für die, die sich noch nichtdamit befasst haben: Unterhaltsvorschuss wird vom Amtgezahlt, wenn Eltern getrennt leben und der Unterhalts-verpflichtete seiner Unterhaltspflicht nicht nachkommt.Er kommt also im Wesentlichen alleinerziehendenElternteilen zugute. Eigentlich müsste die Altersgrenze– sie endet bei 12 Jahren, und das Ganze ist auf maximal6 Jahre befristet – auf 18 Jahre, bis zur Volljährigkeit,heraufgesetzt und das Ganze entfristet werden.
Das ist die Position meiner Fraktion. Einen entsprechen-den Antrag haben wir eingebracht.Heute liegt ein Antrag vor, in dem lediglich eine For-derung steht, nämlich die Altersgrenze von 12 auf14 Jahre anzuheben. Das ist nur ein kleiner Teil vondem, was eigentlich erforderlich ist. Aber da wir wissen,wie unsere Anträge – und seien sie noch so sach-gerecht – im Ausschuss und hier im Plenum behandeltwerden, wollen wir mit diesem Antrag die Koalition anihren Koalitionsvertrag erinnern; denn in dem steht ge-schrieben: Wir werden das Unterhaltsvorschussgesetzdahin gehend ändern, dass die Altersgrenze auf 14 Jahreangehoben wird. – Nichts anderes wollen wir mit unse-rem Antrag erreichen: Wir wollen Sie an Ihre Verspre-chen im Koalitionsvertrag erinnern.Die FDP betont immer ihre ach so tolle Vertragstreue;denn anders ist Ihre Zustimmung zum Betreuungsgeldvon heute früh nicht zu erklären.
– Ja, es ist richtig. Ich habe vergessen: Sie haben sich amletzten Wochenende im Rahmen des besagten Kuhhan-dels kaufen lassen. Stimmt.
Diese FDP macht immer fleißig mit.
– Nicht aufregen! Die Wahrheit muss man vertragenkönnen.
Nun kann die FDP wirklich zeigen, wie vertragstreu sieist. Oder sie soll den Menschen, insbesondere den Al-leinerziehenden, also einer Gruppe von Menschen, dieohnehin von Armut bedroht ist, offen ins Gesicht sagen,dass sie die im Koalitionsvertrag versprochene Unter-stützung nicht gewährt, sondern im Gegenteil mit demUnterhaltsvorschussentbürokratisierungsgesetz ihnen nochMittel streichen will.Wie ist denn die Situation von Alleinerziehenden?Schule, Arbeit, Kindererziehung und Haushaltsführungmüssen kombiniert werden, und dann stellt das Amt dieZahlung ein, weil das Kind zwölf Jahre alt wird. Das istüberhaupt nicht zu verstehen. Jetzt will die FDP nochweiter kürzen. Aber gestern betonte die FDP hier imHaus noch ihr soziales Gewissen. Das hat Frau Piltz ge-sagt. Das war die Lachnummer schlechthin.
– Ja, das ist richtig. – Wenn jetzt wieder das Argumentkommt: „Ach, die Linke stellt einen Schaufensteran-trag“, kann ich nur sagen: Richtig. Das ist ein Schaufens-terantrag. In das Schaufenster will ich nämlich die FDPstellen, um allen Menschen zu zeigen, was von dieserPartei zu halten ist.
Frau Gruß, die immer ankommt mit „Kinder könnennicht auf Schuldenbergen spielen“ und „Wie soll das fi-nanziert werden?“, halte ich entgegen: Wie kann denndie FDP dem Milliardenprojekt Betreuungsgeld zustim-men? Liberale Schuldenberge gibt es ja nicht.
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25048 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012
Jörn Wunderlich
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– Regen Sie sich doch nicht so auf! – Jetzt muss sich dieFDP erklären. Macht sie Politik für Menschen, die siebrauchen, oder klüngelt und kungelt sie, und bricht sieihre Versprechen? Alleinerziehende schröpfen, um dasBetreuungsgeld zu finanzieren – das ist die von Ihnenselbst so oft „christlich-liberal“ genannte Politik. Unddie FDP schröpft fleißig mit.
Die Menschen werden das nicht vergessen; das ver-spreche ich Ihnen. Stellen Sie heute unter Beweis, dassSie nicht heuchlerisch, vertrags- und wortbrüchig sind,und stimmen Sie unserem Antrag zu, damit FDP nichtlänger für „Firma der Pharisäer“ steht.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Kollegin Winkelmeier-Becker für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Im Bundeshaushalt beträgt der Anteil für Sozia-les fast 50 Prozent: Es sind 49 Prozent in diesem Jahr.Trotzdem ist es nicht unüblich, dass die Opposition im-mer noch mehr fordert, ob bei Rente, Kindergeld,Grundsicherung und Grundeinkommen. All das wird janoch gefordert.
Gerade für die Linke gilt: Egal, welche Leistung esschon gibt, egal, wer was fordert – Sie setzen immernoch eins drauf.
Das ist das Privileg der Opposition, die auch nicht in derVerantwortung steht, alles unter einen Hut zu bringen.
Aber jetzt haben Sie es geschafft, sich selbst zu übertref-fen. Sie haben es geschafft, im wöchentlichen Rhythmuszum selben Sujet zwei unterschiedliche Anträge einzu-bringen. In der einen Woche fordern Sie, die Alters-grenze auf 14 Jahre zu erhöhen. In der anderen Wochefordern Sie neben der Verlängerung der Bezugsdauer,die Altersgrenze auf 18 Jahre zu erhöhen.
Warum eigentlich nicht 25 Jahre oder solange man über-haupt Unterhalt beanspruchen kann, solange man einenVater hat oder wie auch immer?
Das müssen Sie uns erklären oder einfach sagen, was Siedenn nun wollen.
Möglicherweise sind Sie auch schon wieder auf demRückzug. Denn der ältere Antrag fordert 18 Jahre, derjüngere 14 Jahre.
Das Thema, um das es geht, ist zu ernst. Da sind wir,denke ich, wieder auf einer gemeinsamen Basis.
– Ein Koalitionsvertrag enthält niemals Versprechungengegenüber der Opposition, sondern Versprechungen ge-genüber denen, die in einer Koalition zusammenarbei-ten. Deshalb habe ich Ihnen gegenüber an dieser Stelleganz gewiss kein schlechtes Gewissen.
Es tut mir aber durchaus leid, wenn wir das in dieserLegislaturperiode nicht hinbekommen. Das ist für michals Familienpolitikerin sehr bedauerlich.
Denn wir wissen, dass die Situation für Alleinerziehendeschwierig ist. Deshalb haben wir uns das auch vorge-nommen. Wir hätten es auch weglassen können. Wir ha-ben es uns ehrlich vorgenommen,
in dem Bestreben, das auch umzusetzen,
aber wir kommen an mathematischen Gesetzmäßigkei-ten nicht immer vorbei.Auch wenn es schwierig ist, sollten wir uns trotzdemkonstruktiv an die Arbeit machen, um zu sehen, wasauch in einem begrenzten Rahmen möglich und zu ver-bessern ist. Es gibt durchaus einige Ansatzpunkte, umdas Verfahren zu verbessern.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012 25049
Elisabeth Winkelmeier-Becker
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Um einmal an den Ursprung der Idee des Unterhalts-vorschusses anzuknüpfen, darf ich daran erinnern: Un-sere Vorgänger haben ihn 1979 eingeführt. Damals gabes 36 Monate, maximal bis zum sechsten Geburtstag desKindes, Unterhaltsvorschuss. Man hat von Anfang anproblematisiert, was die richtige Altersgrenze und Be-zugsdauer ist. Es ging dabei auch immer ganz klar umdie Begrenztheit des Budgets. Man hat sich schließlichauf diese Zeiten geeinigt, weil man gesagt hat: In diesemjungen Alter ist die Situation ganz besonders schlimm.Man hat aber auch gesagt: 36 Monate reichen, um denUnterhaltsanspruch gegenüber dem Vater zu klären. Dasunterstreicht noch einmal den wahren Charakter dieserLeistung. Es ist eben nicht die auf Dauer angelegte zu-sätzliche Unterstützung durch den Staat. Ich bezweifleauch, dass es seine Richtigkeit hätte, wenn alleine dieTatsache, dass eine Familie sich trennt, dazu führt, dassman auf Dauer zusätzliche staatliche Leistungen be-kommt.Es ist eine Vorauszahlung des Staates, die er sich imIdealfall vom Vater zurückholt.
– Genau, man müsste die Rückholquote erhöhen,
und man müsste die in der Praxis sehr häufige Situation,dass nämlich nach sechs Jahren sich jeder wundert: „Wobleibt denn das Geld?“ und keiner weiß, warum es nichtmehr kommt, auflösen. Wir müssen den Müttern oderdenjenigen, bei denen das Kind lebt – das kann ja auchandersherum sein – und die den Unterhalt für das Kindbeanspruchen, die nötigen Mittel geben. Da muss das Ju-gendamt besser helfen, den anderen, unterhaltspflichti-gen Elternteil aufspüren, einen Titel gegen ihn besorgen,die Vollstreckung in die Wege leiten
und dann den Fall abgeben, am besten auch schon vorAblauf der sechs Jahre. Dann ist allen besser gedient.
Wir hatten in der vergangenen Sitzungswoche dieerste Beratung eines Gesetzentwurfs, der verschiedeneVerfahrensmaßnahmen aufgreifen soll, die die Länderuns vorschlagen.Wir werden auch sehr aus dem Blickwinkel der erzie-henden Elternteile betrachten, was wir da besser machenkönnen, ganz konkret mit dem Ziel, den Rückgriff zuverbessern: Auskunftsrechte verbessern, Verfahren straf-fen und dann die Verfahren in einem gut aufbereitetenZustand an die Eltern abgeben. Davon haben die Mütterund die Kinder im Zweifel mehr, als wenn sie nach sechsJahren plötzlich überrascht feststellen, dass die Zeit umist und es keinen Unterhaltsvorschuss mehr gibt. In die-sem Sinne können wir das gern gemeinsam konstruktivunter die Lupe nehmen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat nun Caren Marks für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Erst in derletzten Plenarwoche hatten wir das Unterhaltsvorschuss-entbürokratisierungsgesetz in erster Lesung auf der Ta-gesordnung. Ich befürchte allerdings, dass die Bundesre-gierung und vor allem die Familienministerin Schröder,die eigentlich zuständig ist, die fachlichen Argumenteder Opposition wie auch der Fachverbände einmal mehrignoriert hat.Was haben diese Bundesregierung und die Regie-rungskoalition im Bereich der Familienpolitik nicht allesvereinbart und angekündigt? Vereinbart war, jedenfallsin Ihrem schwarz-gelben Koalitionsvertrag, die Zahlungdes Unterhaltsvorschusses bis zum 14. Lebensjahr zu er-weitern.
Hier erklärt Schwarz-Gelb, ganz in der Tradition vonAdenauer: Was schert mich mein Geschwätz von ges-tern?
In der Tat, sinnlos geschwatzt oder, noch besser, ge-stritten wird in dieser schwarz-gelben Bundesregierungviel. Gehandelt wird wenig. Wenn etwas auf den Weggebracht wird, dann sind es überwiegend keine Verbes-serungen, sondern Verschlimmbesserungen oder Absur-ditäten wie heute Morgen das Betreuungsgeld.
Meine Kolleginnen und Kollegen, eine solche Ver-schlimmbesserung hat es beispielsweise beim Gesetzzum Elterngeldvollzug und seiner vermeintlichen Ver-besserung durch Entbürokratisierung gegeben. Die vonden Sachverständigen kritisierte Schlechterstellung vonEltern mit Behinderungen bzw. Eltern mit einem Kindmit Behinderungen ist bis heute nicht behoben.Was nun das Unterhaltsvorschussentbürokratisie-rungsgesetz betrifft: Die Präsidentin des Deutschen Ju-ristinnenbundes hat anlässlich der Befassung mit diesemGesetzentwurf in erster Lesung in einer Pressemitteilung
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25050 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012
Caren Marks
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festgestellt – ich zitiere –: „Das geplante Gesetz stellt ei-nen Rückschritt dar.“Der Gesetzentwurf dient nicht den Alleinerziehenden.Er dient nicht ihren Kindern. Er führt zwar zu Mehrein-nahmen des Staates; diese, meine Kolleginnen und Kol-legen von Schwarz-Gelb, kommen aber gerade nicht denKindern zugute. Doch gerade Kinder, die keinen Unter-halt vom nichtbetreuenden Elternteil erhalten, sind – ichsage es Ihnen – in ganz besonderer Weise auf diese Un-terstützung angewiesen, und das sollten Sie nicht längerignorieren.
Doch dieser Familienministerin geht es – das könnenwir immer wieder merken, egal bei welchem Vorhaben –nicht wirklich um die Familien in unserem Land undschon gar nicht um die Einelternfamilien; denn sonstwürde sie sich für Verbesserungen beim Unterhaltsvor-schuss einsetzen.Eine Verbesserung wäre zum Beispiel die Anhebungder Altersgrenze; völlig richtig. Von einer Ausdehnungder Zahlung des Unterhaltsvorschusses bis zum 14. Le-bensjahr würden immerhin 82 000 Kinder in unseremLand profitieren. Die Mehrausgaben lägen bei etwa240 Millionen Euro für Bund und Länder zusammen; sojedenfalls die Aussage des Staatssekretärs Dr. Kues aufeine entsprechende Anfrage vom Dezember 2011.Die Verlängerung der Zahlung dieser Leistung mussnatürlich solide finanziert werden. Dazu bedarf es aucheiner Klärung des Bundes mit den Ländern, aber ebenauch mit den Kommunen; denn die Leistungen nach demUnterhaltsvorschussgesetz tragen zu einem Drittel derBund und zu zwei Drittel die Länder, und die Länder ha-ben die Ermächtigung, die Kommunen an den Ausgabenzu beteiligen.Zur Anhebung der Altersgrenze auf 14 Jahre fordertdie Linke in ihrem heute zur Abstimmung stehendenAntrag die Bundesregierung auf. Dabei erinnert erSchwarz-Gelb zu Recht an den eigenen Koalitionsver-trag. Die Forderung in Ihrem Antrag, meine Kolleginnenund Kollegen von den Linken, ist insofern nur folgerich-tig, meines Erachtens aber für eine Weiterentwicklungdes Unterhaltsvorschusses unvollständig; denn das wäreeben nur ein Schritt zu einer Verbesserung. WeitereSchritte müssen ganz dringend geprüft werden.
So muss meines Erachtens eine Verlängerung der Be-zugsdauer des Unterhaltsvorschusses geprüft werden.
Ebenso überprüft werden müsste der vollständige Abzugdes Kindergeldes beim Unterhaltsvorschuss. Dies stelltKinder, die Unterhaltsvorschuss erhalten, generell schlech-ter als Kinder, die Unterhalt von einem Elternteil bekom-men. – Dies sind nur zwei Beispiele für wirklich not-wendige Prüfungen. Eine Prüfung aller relevantenGesichtspunkte mit dem Ziel einer Verbesserung desUnterhaltsvorschusses muss die Bundesregierung vor-legen. Das Ergebnis, Herr Staatssekretär, muss demDeutschen Bundestag vor Verabschiedung einer Geset-zesänderung zum Unterhaltsvorschuss vorgelegt werden.Beginnen Sie doch bitte mit Ihrer Arbeit!Der Reformbedarf beim Unterhaltsvorschussgesetzist unstrittig. Aber wenn man eine Reform vornimmt,dann bitte gleich richtig. So hat es jedenfalls die SPD-Bundestagsfraktion in ihrem Antrag zur Unterstützungder Alleinerziehenden gefordert, und dies verstehe ichunter einer wirklich sinnvollen Weiterentwicklung undVerbesserung des Gesetzes. Es muss der Zielgruppe ge-recht werden, den gesellschaftlichen Bedingungen ange-passt und positiv weiterentwickelt werden – und darfnicht, wie es Schwarz-Gelb in der letzten Sitzungswochefestgelegt hat, Alleinerziehende und ihre Kinder schlechterstellen. Bei der Bundesregierung ist eben nicht Weiter-entwicklung, sondern Rückschritt angesagt, Rückschrittin der Familienpolitik auf ganzer Linie wie heute Mor-gen beim Betreuungsgeld.Letztlich – das bleibt festzustellen – fehlt es dieserschwarz-gelben Bundesregierung auch bei der Familien-politik an einem Gesamtkonzept. Die Familien und dieKinder in diesem Land bekommen das auf bittersteWeise zu spüren; aber Gott sei Dank sind Sie nicht mehrlange an der Regierung.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Judith Skudelny für die FDP-Frak-
tion.
Also, wer wie lange an der Regierung ist, das ent-scheidet Gott sei Dank nicht die SPD-Fraktion; das ent-scheiden die Wählerinnen und Wähler im nächsten Jahr.
Ich möchte zunächst sagen, dass ich meine Kollegin,die Vorsitzende des Familienausschusses, Frau Laurischk,vertrete, die krankheitsbedingt leider nicht hier seinkann. Ich wünsche ihr – ich denke, wir wünschen ihr –von dieser Stelle aus alles Gute.
Meine Damen und Herren! Die Unterhaltsleistungnach dem Unterhaltsvorschussgesetz ist eine vorüberge-hende Unterstützung für alleinerziehende Elternteile, dieihre Kinder in der Regel unter erschwerten Bedingungenerziehen. Alleinerziehende sind beim Ausfall von Unter-haltsleistungen des anderen Elternteils gezwungen, fi-nanziell für den von dem anderen Elternteil fehlenden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012 25051
Judith Skudelny
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Unterhalt aufzukommen. Ziel des Unterhaltsvorschussesist es, die Zeit, bis der alleinerziehende Elternteil denUnterhalt vom unterhaltspflichtigen Elternteil erhält, zuüberbrücken. Bei unregelmäßigen oder ausbleibendenUnterhaltszahlungen hat das Kind eines alleinerziehen-den Elternteils Anspruch auf Leistungen nach dem Un-terhaltsvorschussgesetz. An dieser Stelle möchte ich be-tonen, dass der Unterhaltsvorschuss keine Sozialleistungist, sondern Familien in einer Notlage unterstützen soll.Ein Kind braucht Unterhalt. Seine Bedürfnisse müs-sen erfüllt werden. Wenn der unterhaltspflichtige Eltern-teil diese Bedürfnisse durch die Zurückhaltung des Un-terhalts nicht erfüllt, ist der Staat gefordert, in dieserNotsituation einzugreifen. Wir müssen uns vor Augenführen, dass das Nichtbezahlen von Unterhalt kein Ka-valiersdelikt ist, sondern einen Straftatbestand darstellt.Zu Zeiten, in denen wir die Stärkung der Rechte von Vä-tern im Deutschen Bundestag diskutieren, dürfen wir de-ren Pflichten nicht vergessen.
Im Koalitionsvertrag der Unionsfraktion und der FDPwurde dazu festgehalten – tatsächlich –:Wir werden das Unterhaltsvorschussgesetz dahingehend ändern, dass der Unterhaltsvorschuss ent-bürokratisiert und bis zur Vollendung des 14. Le-bensjahres eines Kindes gewährt wird.
Aber manchmal hilft es auch, den ganzen Vertrag zu le-sen. Dort steht nämlich: „immer unter dem Vorbehalt derFinanzierung“.
Damit haben wir als Koalition unterstrichen, dass wir dieSituation der Alleinerziehenden besonders im Blick ha-ben und sie in dieser schwierigen Lebensphase des Kon-fliktes um den Unterhalt nicht alleinlassen. Zugleich ha-ben wir eine starke Erwartungshaltung geschaffen, ander eine Reform des Unterhaltsvorschussgesetzes nunpolitisch gemessen wird.Das Gesetz zur Änderung des Unterhaltsvorschussge-setzes soll und wird Alleinerziehenden den Weg fürdiese Unterstützungsleistung ebnen und die Antragstel-lung so weit als möglich vereinfachen. Der Gesetzent-wurf sieht vor, dass künftig alleinerziehende Elternteileweniger Nachweise erbringen müssen. Das trägt natür-lich auch dazu bei, den zuständigen Unterhaltsvorschuss-stellen die Anspruchsprüfung und Anspruchsbewilligungzu erleichtern. Darüber hinaus werden klarstellende Re-gelungen wie die Anrechnung von erbrachten Unter-haltsleistungen des familienfernen Elternteiles getroffen.Im vorliegenden Gesetzentwurf wird die gerichtlicheDurchsetzung der Rückgriffsansprüche präzisiert. ZurVerbesserung des Rückgriffs im Rahmen der Entbüro-kratisierung des Unterhaltsvorschusses ist geplant, dieAuskunftsmöglichkeiten der für den Vollzug des UVGzuständigen Stellen im Hinblick auf die Verhältnisse desfamilienfernen Elternteils zu erweitern.Insgesamt führt dieses Gesetz an vielen Stellen zu ei-ner Vereinfachung des Verfahrens, sowohl für die An-tragsteller – also für die alleinerziehenden Elternteile, inder Regel die Mütter – als auch für die vollziehendenBehörden. Ausdrücklich zu begrüßen ist, dass der Rück-griff auf die Unterhaltsschuldner erleichtert wird.Im weiteren Verfahren wollen wir weitere Verbesse-rungen im Gesetzentwurf erreichen. Wir als FDP haltenes für notwendig, in § 2 klarzustellen, dass der Unter-haltsverpflichtete ein Einverständnis des betreuenden El-ternteils nachweisen muss, damit Zuwendungen anDritte leistungsbefreiende Wirkung haben. Es kann nichtsein, dass der Vater für den Ballettunterricht des Kindesaufkommt, das Essen aber nicht bezahlt. Außerdem wol-len wir eine Regelung, nach der das Jugendamt Aus-künfte über den Unterhaltsschuldner weitergeben muss.Das soll dazu beitragen, den Unterhaltsanspruch desKindes notfalls auch gerichtlich durchzusetzen. Darüberhinaus werden wir versuchen, § 4 noch einmal zu ändernund die gegenwärtig geltende Möglichkeit der rückwir-kenden Zahlung beizubehalten.Natürlich ist die Anhebung der Altersgrenze auf14 Jahre richtig und geboten. Doch wir haben nicht nurVerantwortung für Alleinerziehende, sondern auch füreinen ausgeglichenen Bundeshaushalt; denn – Achtung,jetzt kommt es – Kinder können auf Schuldenbergennicht spielen.
Wir wissen, wie schwer es werden wird – gerade bei denLändern, die ja zwei Drittel der Kosten tragen müssen –,eine Ausweitung auf 14 Jahre durchzusetzen. Wenn dieOpposition die Ausweitung des Unterhaltsvorschussesfordert, die in der Sache durchaus berechtigt ist, dannfordere ich Sie, meine lieben Damen und Herren, dazuauf, in den von SPD, Grünen und Linken regierten Bun-desländern auch konsequent dafür einzutreten und überden Bundesrat zur Ausweitung beizutragen. Denn es istabsolut scheinheilig von der Opposition, auf der einenSeite in einem Antrag den Bund zur Erhöhung der Al-tersgrenze und damit zur Erhöhung der Kosten aufzu-fordern und auf der anderen Seite in den Ländern alle fa-milienpolitischen Maßnahmen zu blockieren, die dieLänder etwas kosten würden.Danke.
Das Wort hat nun Katja Dörner für die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Sie hören es schon: Ich bin stimmlichein bisschen angeschlagen. Wir haben heute Morgeneine Inklusionsdiskussion geführt. In diesem Sinne,
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25052 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012
Katja Dörner
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denke ich, müssen hier auch krächzende Abgeordneteakzeptiert werden.
Keine andere Familienform hat in den letzten Jahr-zehnten in Deutschland so an Bedeutung gewonnen wiedie Ein-Eltern-Familie. Wir reden von 1,6 Millionen Al-leinerziehenden und insgesamt 2,2 Millionen Kindernund Jugendlichen. Alleinerziehende leisten Enormes;denn sie sorgen nicht nur alleine für ihre Kinder, sondernverdienen in vielen Fällen auch den Lebensunterhalt al-leine. Sie verdienen Anerkennung und Respekt, und sieverdienen es, in besonderer Weise von Staat und Gesell-schaft unterstützt zu werden.
Was tut die Bundesregierung aber für diese am meis-ten von Armut betroffene Familienform?
Sie kürzt Programme und Leistungen, von denen Allein-erziehende in besonderer Weise profitieren, beispiels-weise das Programm „Soziale Stadt“, mit dem vieleAngebote für Alleinerziehende und ihre Kinder bewerk-stelligt wurden. Wir erinnern uns auch an die kompletteAnrechnung des Sockelbetrags beim Elterngeld auf dasALG II. Offensichtlich hält die Bundesregierung die Er-ziehungsleistungen armer Eltern – darunter sind ebenüberdurchschnittlich viele Alleinerziehende – nicht füranerkennenswert. Diese Haltung finde ich völlig in-akzeptabel.
Die Liste dokumentierter Respektlosigkeiten gegen-über Alleinerziehenden ist aber noch lange nicht zuEnde. Gerade hat die Bundesregierung den Entwurf ei-nes Gesetzes zur Entbürokratisierung des Unterhaltsvor-schusses eingebracht – das ist schon angesprochen wor-den –; doch auch hier ist nichts Gutes zu vermuten.
Geplant sind vor allem Verschlechterungen wie die Ab-schaffung der rückwirkenden Antragstellung oder dieAnrechnung kleinster Sachbeträge, beispielsweise wennder Vater einmal für den Sportverein oder den Gitarren-unterricht Geld gibt.Dabei weiß die Bundesregierung nicht einmal genau,was sie tut. Es gibt nämlich keine umfassende qualitativeund quantitative Evaluation der Leistung. MehrereKleine Anfragen unsererseits, aber auch von den ande-ren Oppositionsfraktionen unter anderem zur Situationvon Unterhaltsvorschussbeziehenden, zur Verwaltungder Leistung, zu den Wechselwirkungen mit anderenstaatlichen Leistungen oder auch zu den Ursachen desschlechten Rückflusses konnten seitens der Bundesre-gierung einfach nicht beantwortet werden. Dabei wäre esdoch wichtig, zu wissen, warum kein Unterhalt gezahltwird und der Staat in die Bresche springen muss. Es istbeispielsweise kaum erklärbar, wenn ein Landstrich miteiner eigentlich undramatischen sozialen Lage wie Fulda– dieses Beispiel ist jetzt nur herausgegriffen – eineRückholquote von nur 13 Prozent hat, während eine an-dere Kommune fast ein Drittel des Geldes wieder ein-sammelt. Es wäre also wichtig, Wege zu finden, dieRückholquote zu erhöhen, damit das Geld zurückfließt.
Aber das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist nur einAspekt.Dramatischer ist, dass die Bundesregierung – wir ha-ben es schon gehört – eigentlich gestartet ist, mithilfe derAusweitung der Altersgrenze Verbesserungen beim Un-terhaltsvorschuss zu erreichen. Das wäre ein wichtigerund guter Schritt; denn der Unterhaltsvorschuss kommtbekanntlich direkt bei den Kindern an. Warum fällt dieAusweitung der Altersgrenze aus? Angeblich ist dieBundesregierung knapp bei Kasse. Komisch, für das Be-treuungsgeld sind Milliardenbeträge da;
die Finanzierung stellt offensichtlich überhaupt keinProblem dar. Für Verbesserungen beim Unterhaltsvor-schuss würden kleinere Millionenbeträge reichen; aberdie sind angeblich nicht zu finden.
Die Forderung zum Unterhaltsvorschuss steht übrigensim selben Koalitionsvertrag, zu dem die FDP immer sogerne öffentlich Vertragstreue schwört. Auch hier nenneich nur das Stichwort „Betreuungsgeld“. Ein Schelm,wer hier familienpolitisches Kalkül vermutet!Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungs-koalition, ich bleibe dabei: Hören Sie auf mit der Be-nachteiligung Alleinerziehender! Tun Sie endlich das,was Sie den Alleinerziehenden versprochen haben! Ver-sprechen Sie vor allem nichts, was Sie gar nicht haltenwollen!Vielen Dank.
Letzter Redner zu diesem Debattenpunkt ist Kollege
Norbert Geis für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich meine, es lohnt nicht, diese Debatte mit gro-ßen Auseinandersetzungen zu führen. Es ist wahr, dassder Unterhaltsvorschuss von den Behörden aufgrund des
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012 25053
Norbert Geis
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Antrages der alleingelassenen Mutter gezahlt wird. Diealleinerziehenden Mütter wurden von den Vätern derKinder alleingelassen. Das führt dazu, dass zunächst ein-mal der Staat einspringt. Der Staat springt ein, um denalleingelassenen Müttern zu helfen; zu einem späterenZeitpunkt hilft er ihnen auch, zu den Unterhaltszahlun-gen des Vaters zu kommen. Es ist also eine vorüberge-hende Leistung, die der Staat erbringt, und so war es vonvornherein gedacht.Der Unterhaltsvorschuss ist 1979 eingeführt worden.Zunächst war die Unterstützung nur für Kinder bis zum6. Lebensjahr vorgesehen. Nach der Wiedervereinigunghat man das Alter auf zwölf Jahre heraufgesetzt und esdabei auch belassen. Die Höchstbezugsdauer beträgtnach wie vor 72 Monate, also – Sie können das durch-rechnen – sechs Jahre und nicht zwölf Jahre.Der Entwurf eines Unterhaltsvorschussentbürokrati-sierungsgesetzes – ein Zungenbrecher – ist in der letztenSitzungswoche ins Plenum eingebracht worden. EineDebatte fand nicht statt; alle Reden wurden zu Protokollgegeben. Wir müssen die Debatte jetzt nicht nachholen.Wir werden in den parlamentarischen Beratungen undauch im Ausschuss noch Gelegenheit haben, darüber zudiskutieren, ob das eine oder andere nicht noch zu korri-gieren ist. Es wurde bereits angesprochen, dass man hierund dort noch eine Korrektur anbringen könnte. Wenndas Geld, das der Vater für den Sportverein oder die Kitazahlt, auf die Unterhaltszahlung angerechnet wird, diedie Mutter zu erwarten hat, dann ist das unter Umstän-den schwierig, da sie nicht über den gesamten Betragverfügen kann. Im Zuge der Ausschussberatungen kannüberlegt werden, ob die im Entwurf vorgesehene Rege-lung so bleiben soll.Um was geht es heute? Es geht um den Unterhaltsvor-schuss selbst. Es geht nicht um die Entbürokratisierung,obgleich man in diesem Zusammenhang auch darüberdiskutieren könnte. Es ist in der Tat so: Das Gesetz istein Monster geworden. Bis die alleinerziehende Mutterdie ihr zustehende Unterhaltszahlung erhält, muss sieviele Hürden überwinden. Auch für die Verwaltungselbst ist die Abwicklung umständlich. Deswegen ist derTeil der Koalitionsvereinbarung, der eine Entbürokrati-sierung vorsieht, in den Gesetzentwurf eingeflossen. Derzweite Teil – das gebe ich gerne zu –, nämlich die Al-tersgrenze von 12 auf 14 Jahre anzuheben, ist nicht auf-genommen worden. Es bleibt bei 12 Jahren, obwohl dasin der Koalitionsvereinbarung anders vorgesehen war.Damit müssen wir uns auseinandersetzen; das ist richtig.Es gibt sicherlich einen Grund dafür, die Altersgrenzevon 12 auf 14 Jahre anzuheben; das steht ja auch in derKoalitionsvereinbarung. Die Höchstbezugsdauer von72 Monaten wurde jedoch nicht angetastet. Eine Ände-rung der Höchstbezugsdauer war in der Koalitionsver-einbarung nicht vorgesehen. Man könnte das vielleichthineininterpretieren, aber klar ist: Expressis verbis istdies nicht enthalten. Es gibt ja zwei Säulen: zum einendie Höchstbezugsdauer von 72 Monaten, zum anderendas Höchstalter von 12 Jahren.Hinter der Überlegung, das Höchstalter auf 14 Jahreanzuheben, stand der Gedanke, dass eine Frau auch nachdem 12. Geburtstag ihres Kindes in die Situation geratenkann, dass der Vater weggeht und keinen Unterhalt leis-tet. Deshalb wollte man die Altersgrenze für den Erhaltvon Unterhaltsvorschussleistungen auf 14 Jahre anhe-ben. Dagegen spricht der Grundgedanke der Unterhalts-vorschussleistung; denn der Grundgedanke ist ebennicht, den Unterhaltsanspruch damit zum Erlöschen zubringen und die Unterhaltsleistung des Vaters zu erset-zen. Der Grundgedanke ist, der betroffenen alleinerzie-henden Mutter durch eine Vorschusszahlung zu helfen,über eine schwierige Phase hinwegzukommen. Der Staathat sich aber immer schon den Regressanspruch gegen-über dem Vater vorbehalten, und er will und soll ihnauch durchsetzen. Dass er etwas schneller und leichterdurchgesetzt werden kann, ist im Übrigen im vorgeleg-ten Gesetzentwurf vorgesehen.Es geht jetzt darum, nicht den Fehler zu begehen, zuglauben, die Unterhaltsvorschussleistung sei eine dauer-hafte zusätzliche Familienleistung. So ist es nie gedachtgewesen. Die Vorschussleistung soll eine Vorschussleis-tung bleiben. Es ist deswegen vernünftig, die Alters-grenze bei 12 Jahren zu belassen; sonst gewöhnt mansich an die Vorschussleistung, und keiner denkt mehr da-ran, dem Vater wegen des Unterhalts nachzurennen.Unterhalt zu erstreiten, ist kein einfaches Geschäft.Elisabeth Winkelmeier-Becker hat vorhin vorgetragen,was da alles passiert. Zunächst einmal muss ein Titel er-rungen werden, und man muss herausbekommen, wo derVater wohnt. Dann muss ihm die Klage zugestellt wer-den, und der Titel muss durchgefochten werden. Dannmuss der Gerichtsvollzieher beauftragt werden, den Titelumzusetzen und das Geld herauszuholen. Das istschwierig; aber das muss geschehen, weil wir nicht denFehler machen dürfen, anzunehmen, dass die Vorschuss-leistung ein Ersatz für die Zahlungsverpflichtung des Va-ters ist. Der Vater muss seine Leistung erbringen. Erkann nicht auf den Steuerzahler hoffen und sagen: DieFrau soll sich an den Staat wenden und nicht an mich. –Das wäre der falsche Weg; das wollen wir nicht.Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktion Die Linke auf Drucksache 17/11326 mit demTitel „Altersgrenze beim Unterhaltsvorschuss anheben“.Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen derbeiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Lin-ken bei Enthaltung von SPD und Grünen abgelehnt.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 43 a und 43 b auf:a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierungJahresbericht der Bundesregierung zum Standder Deutschen Einheit 2012– Drucksache 17/10803 –
Metadaten/Kopzeile:
25054 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
SportausschussRechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialesVerteidigungsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für TourismusAusschuss für Kultur und Medienb) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierungBund-Länder-Bericht zum Programm Stadt-umbau Ost– Drucksache 17/10942 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
InnenausschussAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für TourismusAusschuss für Kultur und MedienZu dem Jahresbericht der Bundesregierung zum Standder Deutschen Einheit liegt ein Entschließungsantrag derFraktion der SPD vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamen-tarischen Staatssekretär Dr. Christoph Bergner das Wort.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Bun-deskabinett hat am 26. September den jährlichen Berichtzum Stand der deutschen Einheit beschlossen und demParlament zugeleitet. Im 22. Jahr der deutschen Einheittrifft man bei der Berichterstattung zum Stand der deut-schen Einheit auf eine große Zahl von Aufgabenfeldern,die im Sinne der Berichterstattung als weitgehend erle-digt betrachtet werden können. Das heißt, die Gleich-wertigkeit der Lebensverhältnisse ist erreicht oder weit-gehend erreicht. Beispielhaft nenne ich die Situation desUmwelt- und Naturschutzes. Wenn wir die Ausgangs-lage vor 22 Jahren betrachten, dann können wir heuteeine praktische Gleichwertigkeit der Lebensverhältnissekonstatieren. Ich denke, dass auch Bereiche wie das Ge-sundheitswesen oder die Gesundheitsvorsorge weitge-hende Angleichungen aufweisen. Ich verweise auf dieDarstellungen im Bericht, die die beachtlichen Entwick-lungen der Lebenserwartungen in Ost und West, die vor22 Jahren noch weit auseinander lagen, sich aber weitge-hend angeglichen haben, charakterisieren. Wir habenalso erstens festzustellen, dass wir auf eine Vielzahl vonErfolgen verweisen können. Wir sollten das auch mitgroßer Dankbarkeit tun.
Zweitens beginnt sich 22 Jahre nach der deutschenEinheit das Bild innerhalb Ostdeutschlands und insge-samt innerhalb Deutschlands immer stärker zu differen-zieren – auch der Westen war nie einheitlich –, sodasspauschale Ost-West-Vergleiche zunehmend an Aussage-kraft verlieren. Als Beispiel darf ich die Arbeitsmarkt-situation nennen. Natürlich haben wir pauschal nochfestzustellen, dass die Arbeitslosenquote im Westen dieHälfte der Arbeitslosenquote im Osten ausmacht. Sehenwir aber genauer hin, so können wir feststellen, dass dieaktuelle Arbeitslosenquote in den ostdeutschen Flächen-ländern niedriger ist als in Bremen und dass die Arbeits-losenquote im Freistaat Thüringen inzwischen niedrigerist als in Nordrhein-Westfalen. Das halte ich für sehr be-merkenswert.
Auch hier zeigt sich, dass sich das Bild allmählich zudifferenzieren beginnt, sodass ich ein gewisses Verständ-nis dafür habe, dass mich neulich, als ich in einer Dis-kussionsrunde mit Jugendlichen der Vereinigung 3te Ge-neration Ostdeutschland saß, einer der Jugendlichenfragte, ob wir nicht allmählich dazu übergehen müssten,statt des Berichtes zum Stand der deutschen Einheit ei-nen Bericht zum Stand der deutschen Vielfalt abzuge-ben.Wir haben uns vor dem Hintergrund dieser Entwick-lungen bei der Berichterstattung 2012 darauf konzen-triert, die bestehenden Entwicklungsprobleme darzustel-len, die für die Zukunft der neuen Bundesländer unddamit für die Herstellung gleichwertiger Lebensverhält-nisse in Deutschland von besonderer Bedeutung sind.Dabei sind uns zwei Entwicklungsprobleme besonderswichtig. Das eine Entwicklungsproblem ist die noch be-stehende Lücke bei der Wirtschaftskraft zwischen Ostund West, also die Konvergenzfrage hinsichtlich derWirtschaftskraft. Das zweite Entwicklungsproblem istdie demografische Entwicklung.Ich darf zunächst auf die Konvergenzfrage eingehen,indem ich feststelle, dass die Transformation der ost-deutschen Wirtschaft in eine Marktwirtschaft erfolgreichabgeschlossen ist. Mehr noch: Die Unternehmen in Ost-deutschland sind wettbewerbsfähige Unternehmen, auchwenn der Kapitalstock ostdeutscher Unternehmen imDurchschnitt nur 85 Prozent der westdeutschen Unter-nehmen beträgt. Was uns beschäftigt, ist der Umstand,dass das Bruttoinlandsprodukt Ostdeutschlands pro Kopfbei 71 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der westlichenBundesländer liegt. Besonders wichtig ist, dass die Kon-vergenzlücke zwischen Ost und West in diesem Bereichnach einer Phase der rapiden Angleichung in den 90er-Jahren in den letzten Jahren annähernd gleich groß ge-blieben ist. Das sollte uns nicht gleichgültig sein; denndies findet seinen Niederschlag in der Einkommensent-wicklung und natürlich auch in der Steuerkraft der öf-fentlichen Hand in den neuen Bundesländern.Die Bundesregierung – das kommt im Bericht eindeu-tig zum Ausdruck – hält am Ziel der weiteren Anglei-chung, der weiteren wirtschaftlichen Konvergenz fest.Deshalb ist es wichtig, dass wir ein eindeutiges Bekennt-nis zu den Förderinstrumenten des Solidarpakts II aus-sprechen, die in vollem Umfang und effektiv zur
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Parl. Staatssekretär Dr. Christoph Bergner
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Anwendung kommen sollen. Wichtig ist, dass wir imBericht feststellen können, dass der gegenwärtige Erfül-lungsstand des Solidarpakts II, was die Leistungen desBundes betrifft, als sehr gut betrachtet werden kann unddie Verwendungsberichte für die Sonderbedarfs-Bundes-ergänzungszuweisungen der neuen Länder zeigen, dassman sich diesbezüglich zunehmend den eigentlichenFörderzielen zuwendet.Im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Konver-genz spielt der nächste Förderzeitrahmen für die EU-Strukturförderung eine besondere Rolle. Wir betrachtenes als Erfolg der Arbeit der Bundesregierung, dass indem aktuellen Verordnungsentwurf der Kommission dasvon uns gewünschte Sicherheitsnetz einen entsprechen-den Niederschlag gefunden hat.Wenn wir über die Konvergenz zwischen Ost undWest sprechen, müssen wir uns aber auch der Analyseder Ursachen der verbleibenden Konvergenzlückestellen und Strategien zur Überwindung liefern. Die Ur-sachen – das zeigt sich immer stärker – liegen im struk-turellen Bereich. Eine kleinteilige Wirtschaftsstrukturführt zu weniger internationaler Verflechtung und zu we-niger wirtschaftseigener Forschung und Entwicklung.Die Überwindung dieser strukturellen Probleme stehtdeshalb im Mittelpunkt der Förderpolitik der Bundes-regierung. Wir müssen die Nachteile der Kleinteiligkeitdurch Vernetzung und Clusterbildungen überwinden.Wir müssen uns vor allen Dingen bewusst bleiben, dassöffentliche Forschungs- und Entwicklungsförderung fürdie neuen Bundesländer eine besondere Bedeutung hat.Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die diesbe-züglichen Ausführungen im Bericht, die deutlich ma-chen, dass bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt diestaatlich finanzierte Forschungs- und Entwicklungskapa-zität in den ostdeutschen Regionen größer ist als in allenanderen europäischen Ländern. Ich finde, dass wir indieser Hinsicht – das zeigen die jüngsten Haushaltsent-scheidungen – klare Zeichen setzen.Mit Blick auf die fortgeschrittene Zeit will ich daszweite Entwicklungsproblem, die demografische Ent-wicklung, nur kurz anreißen. Die neuen Bundesländerstellen in der Europäischen Union die vom demografi-schen Wandel am stärksten betroffene Region dar. Dieshat eine von uns in Auftrag gegebene ZEW-Studie zumAusdruck gebracht. Das heißt, die Region Ostdeutsch-land ist ein Modell des demografischen Wandels, nichtnur für Deutschland, sondern auch für die EuropäischeUnion.Diesen Modellregionscharakter Ostdeutschlands zuunterstreichen und zu gestalten, darauf haben sich dieAnstrengungen der Bundesregierung konzentriert, so-wohl im Rahmen der Erarbeitung des Berichtes zum de-mografischen Wandel, in dem wir zusammen mit denneuen Bundesländern ein eigenes Handlungskonzept zurDaseinsvorsorge in strukturschwachen Regionen entwi-ckelt haben, wie auch bei der Erarbeitung der Demogra-fiestrategie und der Demografiedialoge, in denen wir dieneuen Bundesländer als wichtige Erfahrungsträger in be-sonderer Weise platzieren sollten.Meine sehr verehrten Damen und Herren, sechs Mi-nuten Redezeit für einen Bericht, wie wir, die Bundes-regierung, ihn vorgelegt haben, ist für eine umfassendeBerichterstattung sehr knapp. Ich hätte gern noch etwaszu dem aktuellen Thema Rente gesagt.
– Ja, gut. Dann will ich nicht den Eindruck erwecken,dass ich kneife. – Ich will nur sagen: Der Bundesregie-rung ist es wichtig, dass sie bei der Realisierung der Ko-alitionsvereinbarungen auf einem breiten Konsens auf-baut.
Wenn sich dieser Konsens nicht finden lässt, dann mussich darauf aufmerksam machen, dass das bestehendeRentenrecht einen unschätzbaren Vorteil für Millionenvon Beschäftigten in den neuen Bundesländern hat, dieteilungsbedingt niedrigere Löhne als die Beschäftigtenin den alten Bundesländern erhalten. Wenn wir nichtwollen, dass sich die teilungsbedingt niedrigeren Löhnein 10, 20 oder 30 Jahren auf die jetzt Beitragszahlendenmit einem Verlust an Entgeltpunkten auswirken, dannsollten wir die Vorzüge des bestehenden Systems nichtleichtfertig aufgeben.In diesem Sinne herzlichen Dank für die Aufmerk-samkeit. Es tut mir leid, dass ich nicht ausführlicher Stel-lung nehmen kann. Danke schön.
Herr Kollege, Sie haben nicht sechs Minuten, sondern
zehn Minuten gesprochen. Es ist nun die Aufgabe des
Kollegen Grund, mit den Kollegen Ihrer Fraktion deren
weitere Redezeiten auszuhandeln.
Das Wort hat nun Iris Gleicke für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Heute, auf den Tag genau 23 Jahre nach dem Mauerfall,debattieren wir den Jahresbericht der Bundesregierungzum Stand der Deutschen Einheit. Ja, es besteht keinZweifel: Die Ostdeutschen haben dank ihres Willens,aber auch aufgrund der Solidarität und finanziellen Un-terstützung der Westdeutschen eine bemerkenswerteAufbauleistung vollbracht.
Viele Städte sind modernisiert. Dörfer erstrahlen inneuem Glanz. Der Aufbau der Verkehrsinfrastruktur ist
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Iris Gleicke
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gut vorangekommen. Neue Arbeitsplätze sind entstan-den. Aber die unzweifelhaften Erfolge dürfen den Blicknicht darauf verstellen, dass es noch immer große De-fizite bei der Angleichung der Lebensverhältnisse gibt.Es bleibt 22 Jahre nach der deutschen Einheit noch vielzu tun.Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Abstand zwi-schen den neuen und alten Ländern bei der Vermögens-verteilung liegt bei 42 Prozent, besagt der Armuts- undReichtumsbericht der Bundesregierung. Westdeutschehaben durchschnittlich 132 000 Euro Immobilienvermö-gen pro Haushalt, ostdeutsche Haushalte gerade einmal55 000 Euro. Das Bruttoinlandsprodukt je Einwohnerlag in Ostdeutschland im vergangenen Jahr nur noch bei71 Prozent des Westniveaus. Da waren wir, Herr KollegeBergner, schon einmal besser. Die Arbeitslosenquote istzwar gesunken, liegt aber fast immer noch doppelt sohoch wie in den meisten Regionen der alten Bundeslän-der. Auch der Anteil der Langzeitarbeitslosen ist wie inBeton gegossen; er ist nach wie vor erschreckend hoch.Ostdeutsche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerbekommen immer noch 17 Prozent weniger Lohn undGehalt als ihre westdeutschen Kolleginnen und Kolle-gen. Diese Unterschiede bei den Löhnen und Gehälternsind nicht mehr hinnehmbar.
Die Arbeit bei uns im Osten ist genauso viel wert wie imWesten. Auch aus diesem Grunde brauchen wir einenMindestlohn – flächendeckend, in Ost und West gleich,und zwar ohne Wenn und Aber.
Meine Damen und Herren, sogar die Bundesregierungräumt in ihrem Bericht ein, dass wir von einer wirkli-chen Angleichung der Lebensverhältnisse noch immerweit entfernt sind. Vor so viel ungewohnter Ehrlichkeitmöchte man fast den Hut ziehen.
Wer jetzt allerdings erwartet, dass es kreative Vorschlägedieser Bundesregierung gibt, wie es mit dem Aufbau Ostweitergehen soll, der ist auf dem Holzweg. Der stößt aufSeite 69 des Berichts stattdessen auf eine knallharte An-sage. Dort heißt es:Perspektivisch gehen die Mittel für den AufbauOst, bis zum Auslaufen des Solidarpakts II imJahr 2019, stetig zurück.Das wissen wir; das ist so vereinbart. Jetzt kommt es:Die neuen Länder werden von da an ohne spezielleFörderung auskommen müssen.Im Klartext heißt das: Liebe Ossis, den Solidarpakt hal-ten wir ein – den hat Gerhard Schröder glücklicherweiseso gut verhandelt, dass das gar nicht anders geht –, aberdanach müsst ihr zusehen, wie ihr klarkommt. Damit ha-ben wir Ostdeutschen es schwarz auf weiß: Von dieserBundesregierung haben wir nichts, aber auch gar nichtszu erwarten.
Niemand im Osten glaubt, dass der Solidarpakt nach2019 einfach verlängert oder in gleicher Form noch ein-mal aufgelegt wird; das ist auch mir klar. Aber man kannund darf eine besondere Förderung nicht schon heute ka-tegorisch ausschließen. Ich habe vor kurzem angeregt,über einen „Solidarpakt strukturschwache Regionen“nachzudenken, der auch die benachteiligten Regionen inWestdeutschland einschließen könnte. Aber so viel Fan-tasie kann man von einer Bundesregierung, der die ost-deutschen Interessen ganz offensichtlich egal sind, wohlkaum erwarten.
Anders kann ich mir nicht erklären, liebe Kolleginnenund Kollegen, warum Sie Ihr Versprechen aus dem Ko-alitionsvertrag, in dieser Legislaturperiode ein einheitli-ches Rentenrecht zu schaffen, ganz offensichtlich bre-chen.
Die Thüringer Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht,CDU, bezeichnete das vor kurzem als einen „Fall vonArbeitsverweigerung,
für den nun windelweiche Ausreden vorgebracht“ wer-den. Herr Bergner, das, was Sie hier zum Besten gege-ben haben, folgt genau diesem Duktus. Ich sage:Christine Lieberknecht hat recht.
Wir haben in unserem Entschließungsantrag 25 For-derungen formuliert, die Ostdeutschland helfen sollen,dem Prozess der Angleichung der Lebensverhältnisseneuen Schwung zu geben. Wir wollen den Kahlschlagbei der aktiven Arbeitsmarktpolitik beenden, damit dieJobcenter wieder mehr Geld haben, um Langzeitarbeits-lose in Arbeit zu bringen. Wir wollen, dass die wichtigs-ten Wirtschaftsförderungsinstrumente, vor allem dieGemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalenWirtschaftsstruktur“, langfristig gesichert bleiben.
Wir wollen die Mittel für die InnovationsprogrammeZIM und „Innovationskompetenz Ost“ verstetigen.
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Iris Gleicke
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Wir wollen gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Wir wollenin einem Rentenüberleitungsabschlussgesetz die nochoffenen Rentenüberleitungsfragen abschließend klären;
den Härtefällen wollen wir mit einem Härtefallfonds hel-fen.
Wir wollen, dass die Versicherungszeiten für die Renten-versicherung sofort angeglichen werden und dass Zeitender Kindererziehung, der Pflege von Angehörigen, desWehr- und Zivildienstes und der Beschäftigung in einerWerkstatt für Behinderte angerechnet werden. Außer-dem wollen wir einen Fahrplan für die Angleichung derRentensysteme.
Meine Damen und Herren, wir kommen nur vereintzur inneren Einheit, mit Klarheit, Entschlossenheit undSolidarität. Wir packen an. Kommen Sie endlich aus Ih-rer Untätigkeitsecke heraus!Schönen Dank.
Das Wort hat nun Patrick Kurth für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeFrau Gleicke, Ihre Worte zum Solidarpakt waren gut underfrischend. Sie haben diese starken Worte auch in IhrenAntrag gegossen. Jetzt fordere ich Sie auf: Schicken Siediesen Antrag bitte Ihren zahlreichen SPD-Wahlkämp-fern im Westen!
Ob nur eine kleine Bürgermeisterwahl oder eine Land-tagswahl stattfindet, man hört jedes Mal die gleicheLeier: Der Solidarpakt wird noch vor seinem Auslaufenim Jahr 2019 infrage gestellt. Ich finde es gut und rich-tig, dass die Bundestagsfraktion der SPD ihren Wahl-kämpfern vor Ort jetzt endlich einmal die Leviten liestund sagt: So geht es nicht! – Das ist richtig, FrauGleicke. Sehr gut!
Im Übrigen hätten Sie auch noch den nächsten Satzaus dem Jahresbericht zitieren können; denn da kommtdie Antwort auf die Frage, die Sie gestellt haben.Ich möchte mich erst einmal bedanken. Wir hatten inden Koalitionsfraktionen vor ein paar Wochen die Idee,in der Sitzung am 9. November, dem Tag des Mauerfalls,über den Jahresbericht zu debattieren. Herzlichen Dankan die Parlamentarischen Geschäftsführer und an denÄltestenrat, dass das innerhalb kürzester Zeit gelungenist. Ich finde es hervorragend, dass wir an diesem Tagüber den Bericht sprechen.
23 Jahre sind viel Zeit, um Weichenstellungen vorzu-nehmen. Niemand kann bestreiten – das will ich deutlichsagen –, dass wir die Zeit genutzt haben. Die Deutschen,besonders die Menschen im Osten, haben seit der Wendemit ungeheurer Tatkraft und Courage das vereinigteDeutschland vorangebracht. Im Osten entwickelten sichganz neue Stärken – das will ich hervorheben –: unge-heure Flexibilität und großer Einfallsreichtum. Die Men-schen haben sich in kürzester Zeit einem völlig neuenSystem angepasst, neue Berufe erlernt, neue Sprachengelernt, Umzüge und Lebensumstellungen unternom-men. Der Wandel führte viele Menschen in Ostdeutsch-land zu einer Tugend, die man sich heute gesamtdeutschmanchmal wünscht, und zu einer vorwärtsgewandtenund verantwortungsbewussten Lebenseinstellung. DieseBereitschaft zur Veränderung kann sich die heutige Ge-sellschaft bisweilen zum Vorbild nehmen.Mit Besitzstandswahrung, mit ideologischer Fort-schrittsverweigerung, mit Wohlstandsdestruktivität – diesist zunehmend zu beobachten – kommen wir nicht vo-ran.
– Gut, dass gerade Sie sich angesprochen fühlen; dennich spreche Sie an. – Manche Parteien forcieren dies.Wir machen das nicht. Wir brauchen den Fortschritt indiesem Land und auch die Flexibilität, die die Ostdeut-schen seit über 20 Jahren zeigen.
Die Erfolge der letzten 23 Jahre sind bekannt. Die In-frastruktur wurde aufgebaut und ausgebaut. Bei derWirtschaftskraft hat man aufgeholt. Die Umwelt – daswar eines der ganz großen Probleme in den neuen Län-dern – regenerierte sich. Lebenserwartung und Wohl-stand sind gestiegen. Die ostdeutschen Universitäten ha-ben – das wissen nur wenige – einen führenden Stand inDeutschland bei der Patentanmeldung.
Bei der Kitastruktur und oftmals auch bei der Schulbil-dung ist der Osten deutschlandweit führend und vorbild-gebend. Im Osten gibt es übrigens echte Wahlfreiheit.Das ist das Entscheidende.
Die Arbeitslosigkeit – sie war lange das größte Pro-blem und Sorgenkind – ist stark zurückgegangen. Sie ha-ben es erwähnt. Thüringen hat Nordrhein-Westfalen impositiven Sinne mittlerweile überholt und eine niedrigereArbeitslosenquote.
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Patrick Kurth
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Wir fordern die Nordrhein-Westfalen auf, auch wenn sievon Rot-Grün regiert werden: Schaut nach Thüringen,und macht es so wie wir in Ostdeutschland! Strengt euchwieder an, dann klappt auch der Abbau der Arbeitslosig-keit.
Die Herausforderungen sind groß. Auch das will ichsagen; das ist wichtig. Das Thema Wirtschaftskraft ha-ben Sie bereits angesprochen, Frau Gleicke. Es ist unbe-stritten: Die großen Unternehmen mit ihren innovativenForschungsabteilungen sitzen im Westen.
Die unterdurchschnittliche F-und-E-Kapazität ist eingroßes Problem. Die geringe Eigenkapitalquote konntein den letzten 20 Jahren nicht so angehoben werden, wiewir es uns wünschen. Das muss man deutlich sagen. DieLohnentwicklung ist nicht akzeptabel.Es gibt immer noch ein erheblich niedrigeres Lohnni-veau. Das muss man auch im Westen immer wiederdeutlich sagen. Insofern ist die Abschaffung der Praxis-gebühr heute ein wichtiges Signal gewesen.
Deutschlandweit gibt es sehr unterschiedliche Lohnni-veaus, aber überall die gleiche Praxisgebühr. Sie mussteabgeschafft werden; das haben wir hier heute in großerEinigkeit beschlossen.
Hinsichtlich der Forderung nach Mindestlöhnen wi-derspreche ich Ihnen, Frau Gleicke. Ich glaube nicht,dass diese helfen würden. Die Einführung von Mindest-löhnen würde zu höherer Arbeitslosigkeit führen
und den Niedriglohnsektor befördern.
Es würde mehr Schwarzarbeit geben. Das eigentlicheProblem besteht doch bei Geringverdienern im Dienst-leistungsgewerbe.
Lieber Kollege Lemme, Sie erzählten mir vor drei Jah-ren bei einer Podiumsdiskussion, dass es unglaublich sei,dass Sie in Thüringen für das Haareschneiden nur 6 Eurozahlen. Da habe ich Sie gefragt: „Bei welchem Friseursind Sie denn? Sie können doch nicht nur 6 Euro zahlen,Sie müssen doch etwas drauflegen!“
Das ist doch das Problem. Wenn man das Doppeltedrauflegt, hat die Friseurin gleich noch etwas steuerfreiin der Tasche. Die Bundesregierung der vorvergangenenLegislaturperiode wollte sogar die Trinkgelder besteu-ern. Gott sei Dank macht die jetzige Bundesregierungnicht einen solchen Unsinn.
Das Entscheidende, das den Ostdeutschen wirklichhelfen würde – darüber müssen Sie nachdenken –, ist et-was, bei dem wir im gesamten Haus große Einigkeit ha-ben. Im Wahlkampf haben wir alle, Sie und wir, gesagt:Das müssen wir bekämpfen. Es geht um die kalte Pro-gression. Bei den Löhnen, die im Osten gezahlt werden,schlägt die kalte Progression besonders zu.
Deswegen ist es richtig und gut, dass sich die Koalitiondazu entschlossen hat, die kalte Progression zu bekämp-fen. Sie haben Ihre Wahlversprechen gebrochen. DieseBundesregierung hält ihre Versprechen. Der Bundesratsteht auf der Bremse, er will dieses Vorhaben – aus par-teipolitischem Kalkül – nicht mittragen. Das geht zulas-ten der ostdeutschen Bevölkerung. Das müssen Sie denMenschen, vor allem den Menschen im Osten, erklären!
Zur demografischen Entwicklung will ich nur ganzkurz sagen: Es ist gut, dass sich die Bundeskanzlerinendlich mit den Ministerpräsidenten der ostdeutschenLänder trifft und Handlungskonzepte und eine Demogra-fiestrategie entwickelt.
Mit dem Programm „Stadtumbau Ost“ fördern wir dieStabilisierung der Wohnungswirtschaft. 2013 stellen wirnochmals 2 Millionen Euro mehr in das Programm ein.Jetzt kommt wahrscheinlich Applaus von Ihrer Seite.Herr Bergner, zwei Kritikpunkte will ich am Endenoch ansprechen. Von den Tribünen aus schaut uns eineSchulklasse aus Bad Langensalza zu.
Die jungen Leute kennen Stacheldraht und TodesstreifenGott sei Dank nur aus den Geschichtsbüchern. Das istdie nächste Generation. Da ist keiner mehr von denen,die das Grenzregime noch erlebt haben. Um diese jun-gen Leute zu erreichen, müssen wir ihnen, zum Beispielmit neuen Techniken, etwas bieten.
Herr Kollege, Sie müssen leider zum Ende kommen.
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Dazu gehört, dass diese Aufarbeitung im Jahresbe-
richt der Bundesregierung zum Stand der Deutschen
Einheit nicht auf Seite 70 in Fußnote 50 erscheint. Es
wäre schön, wenn dafür im nächsten Jahresbericht der
Bundesregierung ein eigenes Kapitel vorgesehen wäre.
Ich bedanke mich sehr herzlich für Ihre Aufmerksam-
keit.
Das Wort hat nun Roland Claus für die Fraktion Die
Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ange-
sichts des Jahresberichts der Bundesregierung zum
Stand der Deutschen Einheit ist hier zu Recht an den
Mauerfall erinnert worden. Das heutige Datum, der
9. November, ist aber auch der Jahrestag des Pogroms
gegen Jüdinnen und Juden. Beides gehört zur deutschen
Geschichte.
Ich sage das hier erinnernd und nicht belehrend.
Müssen wir, meine Damen und Herren, noch über Ost
und West reden, oder ist das Schnee von gestern? Einige
wenige Fakten: Aus dem Jahresbericht der Bundesregie-
rung geht hervor, dass im Kaufkraftvergleich der Bun-
desländer Platz 11 Berlin, Platz 12 Brandenburg, Platz 13
Thüringen, Platz 14 Sachsen, Platz 15 Mecklenburg-
Vorpommern, Platz 16 Sachsen-Anhalt einnimmt. Ein
zweites Beispiel: Im Entwicklungsvergleich aller deut-
schen Landkreise sind unter den 50 Letztplatzierten
49 ostdeutsche Landkreise. Drittes Beispiel: Nicht eine
einzige Unternehmenszentrale hat ihren Sitz im Osten,
und seit geraumer Zeit schließt sich die Schere der wirt-
schaftlichen Leistungskraft nicht mehr, sondern geht
weiter auseinander.
In dieser Situation muss man daran erinnern, dass die
Bundesministerin für Bildung und Forschung vor kur-
zem vollmundig angekündigt hat, für Forschung im Os-
ten zusätzliche 500 Millionen Euro in den Haushalt ein-
zustellen. Wenn man sich die einzelnen Kapitel des
Haushaltsentwurfs genau anschaut, stellt man fest: Das
ist alles nur die Fortführung bestehender Programme un-
ter neuer Überschrift. So nicht, Frau Schavan! So nicht,
Bundesregierung!
Wir müssen heute über Rentenungerechtigkeit reden.
Im Koalitionsvertrag heißt es:
Wir führen in dieser Legislaturperiode ein einheitli-
ches Rentensystem in Ost und West ein.
Im Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der
Deutschen Einheit, über den wir heute debattieren, heißt
es:
Die Frage einer Vereinheitlichung der Rentenbe-
rechnung in Ost und West wird … von der Bundes-
regierung geprüft … Eine Regelung, die den … Er-
wartungen … in Ost und West … gerecht wird …,
ist derzeit … nicht absehbar.
Das nenne ich Vertragsbruch. Das ist Wahlbetrug mit
Ansage, und das lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
Sie müssen sich einmal überlegen, was für ein Nonsens
das ist: Da treten ganz viele junge Leute im August 2012
ihre Berufsausbildung an. Damit werden sie Anwärter
für eine Ostrente. 2060, wenn sie aus ihrem Berufsleben
scheiden, müssen sie ihren Enkeln vielleicht erklären,
warum sie Ostrentner sind und was das ist. Das ist doch
nun wirklich nicht mehr zeitgemäß.
Aber die Bundesregierung muss sich noch eine an-
dere Kritik anhören.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Grund?
Aber bitte.
Herr Kollege Claus, vielen Dank erst einmal. – Ist Ih-nen bekannt, dass die niedrigeren ArbeitseinkommenOst auf das Durchschnittseinkommen West aufgewertetwerden und dass somit im Jahre 2060 bei Einkommens-gleichheit überhaupt nicht mehr von Ostrente oder West-rente, sondern nur noch von einer bundeseinheitlichendeutschen Rente die Rede sein kann?
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25060 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012
Manfred Grund
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Mir ist das sehr wohl bekannt. Sie wissen aber: Wir
sind nicht Knecht der Rentenformel, sondern Herr des
Gesetzgebungsverfahrens – und Frau übrigens auch.
Solange wir nur 89 Prozent des durchschnittlichen Ren-
tenniveaus erreichen, muss das Thema hier angespro-
chen werden und darf es nicht unter den Tisch gekehrt
werden.
Es ist doch nun wirklich absurd, heute 16-Jährigen diese
Unterscheidung noch zuzumuten.
Die Bundesregierung muss sich noch eine andere Kri-
tik gefallen lassen, nämlich dass die im Osten gesam-
melten Erfahrungen im Umgang mit gesellschaftlichen
Umbrüchen und zuvor mit einem anderen System völlig
brachliegen und nicht etwa, wie wir es uns wünschten,
bundesweit genutzt werden.
Dafür nur ein einziges Beispiel: Sie haben jetzt den
Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz ab 1. August 2013
versprochen. Weil Sie merkten, dass das alles hinten und
vorne nicht klappt, haben Sie jetzt in Ihrer Not die gigan-
tische Summe von 580 Millionen Euro für Kitaplätze in
den Nachtragshaushalt eingestellt. Das ist unterstützt
worden. Mit diesen 580 Millionen Euro können Sie
30 000 Kitaplätze finanzieren.
Das Statische Bundesamt hat uns dieser Tage aber vorge-
rechnet, dass 220 000 Kitaplätze fehlen. Mit der momen-
tanen Maßnahme lösen Sie also nur ein Siebtel des Pro-
blems. Hier wäre es doch angebracht, endlich auch
einmal die Vorschläge unserer Fraktion aufzunehmen
und zu sagen: Kinderbetreuung im Westen mindestens
auf Ostniveau bringen!
Meine Fraktion wird dem Entschließungsantrag der
SPD zustimmen.
Ich glaube, das ist erstmals so. Wir haben bei der Bewer-
tung eine Reihe von Differenzen, aber alle 25 vorge-
schlagenen Maßnahmen finden auch unsere Unterstüt-
zung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie
wissen aber wie wir: Wenn Sie das Vorgeschlagene wirk-
lich umsetzen wollen, dann geht das nie und nimmer mit
der CDU,
sondern nur mit der Linken in den Ländern und meinet-
halben auch im Bund.
Die SPD darf für die gemeinsame Durchsetzung ihrer ei-
genen Vorschläge dann auch die Zusammenarbeit in
Landesregierungen nicht ausschlagen, wie Sie es in Thü-
ringen und in Sachsen-Anhalt getan haben. Begeben Sie
sich auf den Brandenburger Weg!
Von der Linken sollten Sie immer wissen: Wir können
Osten!
Das Wort hat nun Stephan Kühn für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Erst durch den Bericht zum Stand der DeutschenEinheit wird man daran erinnert, dass InnenministerHans-Peter Friedrich für die Angelegenheiten in denneuen Bundesländern zuständig ist. Würde nicht jedesJahr routinemäßig ein Bericht vorgelegt, niemand würdeHerrn Friedrich in dieser Funktion wahrnehmen. Erglänzt auch heute durch Abwesenheit.
Zwar werden im Bericht die richtigen Schwerpunktegesetzt, nämlich wirtschaftliche Konvergenz und demo-grafischer Wandel, aber das bloße Beschreiben des Sta-tus quo hilft überhaupt nicht weiter. Vom zuständigenMinister gehen keinerlei Ideen und Impulse für dieneuen Bundesländer aus, und das, obwohl die neuenBundesländer drohen den wirtschaftlichen Anschluss zuverlieren.
Die ostdeutsche Wirtschaft ist 2011 gewachsen. Preis-bereinigt lag das Wachstum mit 2,5 Prozent aber unterdem bundesdeutschen Durchschnitt von 3 Prozent.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012 25061
Stephan Kühn
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Probleme werden in diesem Bericht weichgespült. Eswurde zwar schon darauf hingewiesen, dass die Ent-wicklung auf dem Arbeitsmarkt positiv ist, richtig, abernicht erwähnt wurde, dass es 1 Million nicht sozialversi-cherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse gibt. DieErhöhung der Verdienstgrenze bei den Minijobs auf450 Euro wird den Niedriglohnsektor nur ausweiten undhilft überhaupt nicht, dieses Problem zu lösen, im Ge-genteil.
Stattdessen ist es notwendig, endlich einen gesetzlichenMindestlohn in Höhe von 8,50 Euro einzuführen.Die Vielzahl der prekären Beschäftigungsverhältnissesorgt auch dafür, dass die Altersarmut wächst, worüberwir uns nicht wundern müssen. Norbert Blüm hat recht:„Aus Hungerlöhnen werden Hungerrenten.“ Da frageich, was der Vorschlag zur „Lebensleistungsrente“ brin-gen soll, den die Koalition am Wochenende zusammen-geschrieben hat. Wer von den Geringverdienern hat denn40 Jahre lang einzahlen und privat vorsorgen können?Niemand.Meine Damen und Herren, eine selbsttragende Wirt-schaftsstruktur in Ostdeutschland wird sich nur entwi-ckeln können, wenn die Solidarpaktmittel für Investitio-nen konsequent und noch konsequenter als bisher in dieKöpfe statt in Beton gelenkt werden.
Notwendig ist eine Konzentration der Mittel auf die Be-reiche Forschung und Innovation. Die Chancen derEnergiewende für den ostdeutschen Arbeitsmarkt, näm-lich die Vorreiterschaft der ostdeutschen Länder bei Um-welttechnologien weiter auszubauen, werden von derBundesregierung kläglich verspielt.
Unverändert fließt auch mehr Geld in Infrastrukturgroß-projekte, obwohl die Infrastrukturlücke schon längstnicht mehr Realität ist. Die noch geplanten Verkehrspro-jekte, die keinerlei positive regionalwirtschaftliche Ef-fekte mehr entfalten können, müssen endlich auf denPrüfstand.
Mit Rücksicht auf die SPD habe ich bewusst keine Bei-spiele genannt.
Der demografische Wandel macht sich durch zuneh-menden Fachkräftemangel bemerkbar. Wir müssen unsdarüber auch nicht wundern. Die Quote der Schulabgän-gerinnen und Schulabgänger ohne Hauptschulabschlussin den neuen Bundesländern liegt doppelt so hoch wieim Bundesdurchschnitt, nämlich in Mecklenburg-Vor-pommern bei 13,8 Prozent, in Sachsen-Anhalt bei12,6 Prozent, im Bund aber nur bei der Hälfte, nämlichbei 6,7 Prozent. Wir brauchen in den Ländern, aber auchim Bund endlich eine Bildungspolitik, die Schülerinnenund Schüler nicht aussortiert, sondern individuell för-dert.
Wir können es uns einfach nicht leisten, dass so vieleSchülerinnen und Schüler unsere Schulen ohne Chanceauf dem späteren Arbeitsmarkt verlassen.Zunehmende demografische Veränderungen sind aberauch relevant für den Stadtumbauprozess. Wir reden jaheute auch über den Bund-Länder-Bericht zum Stadtum-bau Ost. Die Erfolge des Programms „Stadtumbau Ost“sind für alle sichtbar: die Sanierung von erhaltenswürdi-gen Stadtquartieren, die Revitalisierung von Großwohn-siedlungen.Den neuen Herausforderungen, die in dem Bericht zu-treffend beschrieben wurden, dass sich nämlich ange-sichts eines wachsenden Leerstands der Rückbaubedarferhöht, wird die Bundesregierung aber nicht gerecht. Siehat ein Gutachten „Altschuldenhilfe und Stadtumbau“ inAuftrag gegeben. In diesem Gutachten wird ausdrück-lich empfohlen, die Altschuldenentlastung über das Jahr2013 fortzuführen. Das hat die Bundesregierung abernicht vor. Ich sage Ihnen: Ohne Altschuldenhilfe ist dieBeteiligung von vielen ostdeutschen Wohnungsunter-nehmen am Stadtumbauprozess gefährdet; denn es sindgerade die Unternehmen, die von der bisherigen Alt-schuldenhilfe nicht Gebrauch machen können, die über-haupt noch Rückbaupotenzial haben.Wir brauchen also eine Anschlussregelung für dieAltschuldenhilfe, die im nächsten Jahr auslaufen wird,damit tatsächlich auch alle von Altschulden betroffenenWohnungsunternehmen antragsberechtigt sind und sichim Stadtumbauprozess integrieren können. Wie das In-strument heißt – man muss es nicht „Altschuldenhilfe“nennen –, ist dabei gleichgültig. Auf jeden Fall brauchenwir Investitionsanreize für die Sanierung und dafür, dasssich Unternehmen aktiv am Rückbau beteiligen können,und die fehlen perspektivisch.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Jetzt spricht der Kollege Volkmar Vogel.
Frau Präsidentin! Lieber Kollege Stephan Kühn, auchwenn du noch jung an Jahren bist, können wir uns alleam heutigen Tage über das Erreichte freuen, insbeson-dere angesichts der geschaffenen Infrastruktur und derEntwicklung unserer Städte und Dörfer, die sichtbar,greifbar, ja erfahrbar sind. Deswegen muss ich sagen: Esist ein schöner Anlass, heute an diesem Tag auch überden Stand der deutschen Einheit zu sprechen.
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25062 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012
Volkmar Vogel
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Wir konstatieren: Die Riesenaufgabe der Verwirkli-chung der Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“, vor derwir standen, ist de facto bewältigt. Wir haben alle Stre-cken unter Betrieb bzw. im Bau. Das Ende ist abzusehen.Ich denke, man kann an dieser Stelle sagen: Das ist einErfolg der DEGES, der Deutsche Einheit Fernstraßen-planungs- und -bau GmbH, eine erfolgreiche Gesell-schaft, die ja einen Zusammenschluss des Bundes mitden ostdeutschen Bundesländern darstellte. Das beson-ders Schöne dabei ist, dass auch Hessen, Hamburg,Schleswig-Holstein und Bremen Gesellschafter sind. Ichdenke, für die Zukunft gibt es noch Potenzial, dass auchdie anderen Bundesländer mitmachen und an den weite-ren Herausforderungen, vor denen wir stehen, mitwir-ken.Zum Thema Bauen muss ich sagen: Höchste Aner-kennung für alle Bauarbeiter, die in den letzen 20 Jahrenunsere Städte wieder in Schuss gebracht haben und auchin unseren Dörfern Hervorragendes geleistet haben!
Natürlich ist es in diesem Bereich so wie in allen an-deren Bereichen: Der demografische Wandel spielt einesehr große Rolle. Das Problem des demografischenWandels lässt sich nicht einfach in Ost und West unter-teilen, sondern der demografische Wandel ist regionalbedingt.
Darauf müssen wir uns in Zukunft einstellen.Der Stadtumbau Ost war und ist ein Erfolgspro-gramm. Schließlich wurde es maßgeblich von Thüringenund Sachsen auf den Weg gebracht.
Das muss man an dieser Stelle auch sagen. Wir habendieses Programm 2009 evaluiert. Wir haben damals ge-meinsam mit der SPD mit einem entsprechenden Antragdie Fortsetzung vereinbart. Dieses Programm läuft jetztbis 2016.
In dem vorliegenden Zwischenbericht wird daraufhingewiesen, vor welchen Herausforderungen wir in derZukunft stehen. Besonders wichtig ist: Die westdeut-schen Bundesländer können sehr viel von den Erfahrun-gen, die unsere Wohnungsunternehmen und unsereKommunen in Ostdeutschland gesammelt haben, lernen.
Die Herausforderungen bestehen nun nicht mehr nur imAbriss. Vielmehr müssen wir dafür sorgen, dass derWohnraum, der bestehen bleibt, attraktiv ist und dassauch ein entsprechendes soziales Umfeld vorhanden ist.Deswegen unterstütze ich die Forderungen und Vor-schläge der ostdeutschen Ministerpräsidenten zur Fort-setzung dieses Programms. Wir werden uns den Zwi-schenbericht ansehen, genau auswerten und 2015 nachder Evaluierung überlegen, in welcher Art und Weise wirdieses Programm fortsetzen.Man kann heute schon sagen, ohne ein Prophet zusein: Wir brauchen ein Programm für die Regionen. Wirbrauchen keine Unterscheidung in Ost und West. Es gibtkeine neuen Länder mehr. Jeder kommt aus seinem Bun-desland. Wir werden zum richtigen Zeitpunkt entschei-den, wie wir in diesem Bereich weitermachen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Hans-Joachim Hacker für
die SPD-Fraktion.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Ja, die heutige Debatte findet an einemhistorischen Tag statt. Daran denken wir alle, auch dieSPD-Bundestagsfraktion. Wir denken natürlich beson-ders gern an den 9. November 1989 zurück. Heute wiedamals freut sich die Sozialdemokratie darüber, dass dieMauer gefallen ist. Auf einen Schlag waren Honeckers100 Jahre zu Ende. War das nicht schön?
In dieser Nacht des 9. November – auch das werdenwir nicht vergessen – waren die Deutschen in Ost undWest, besonders natürlich die Berlinerinnen und Berlineremotional vereint.
Der dann folgende Weg, der Weg zur deutschen Einheitam 3. Oktober 1990 und der Weg danach, war ein steini-ger Weg. Der Weg war schwieriger, als wir das Ende1989 alle geglaubt haben.Wir sind hier weit vorangekommen. Über das guteZusammenspiel der Aufbauleistungen der Menschen inden neuen Ländern und die Unterstützung aus den Kom-munen, aus den Ländern im alten Bundesgebiet ist hiergesprochen worden; ich will das hier nicht weiter aus-führen. Ich will aber daran erinnern, dass für all das viel-leicht der gemeinsame Bundesverkehrswegeplan steht,Herr Kühn und Herr Vogel. Das war ein Signal. Dassollte uns Mut machen, ähnliche Grundsatzentscheidun-gen auch in Zukunft zu treffen.
Herr Bergner, für uns ist die Wiedervereinigung so-wohl im sozialen Bereich als auch in anderen Bereichennicht vollumfänglich vollzogen. Für uns bleibt die Ren-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012 25063
Hans-Joachim Hacker
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tenvereinheitlichung eine ganz wichtige Frage. Sie ha-ben heute leider nichts dazu gesagt.
Sie haben es leichtfertigerweise angesprochen, abernichts dazu gesagt. Es bleibt die Verantwortung dieserKoalition, der Bundesregierung und insbesondere derBundeskanzlerin, hierzu Vorschläge auf den Tisch zu le-gen.
Ich erwähne stichwortartig noch drei Punkte: Lohnan-gleichung, Senkung der Arbeitslosigkeit und Wohnungs-baupolitik. Das alles sind wichtige Herausforderungen,denen wir uns in den nächsten Jahren stellen müssen.Über all diese Fragen müssen wir heutzutage andersdiskutieren als aus der Perspektive von 1990/91. Wirsind seit 22 Jahren wiedervereinigt. Wer heute Förder-politik in Deutschland allein nach Himmelsrichtungenbetreibt, hat – trotz aller Besonderheiten der neuen Län-der, die ich angesprochen habe – den falschen Kompass.Wir brauchen neben Schwerpunkten in den Regionen in-dividuelle Förderungen. Darüber werden wir in Zukunft– auch in der SPD – anders diskutieren müssen als in denletzten Jahren.
Herr Kühn, Sie haben gesagt, dass niemand weiß, werin der Bundesregierung für den Aufbau Ost zuständigist, wenn man auf dem Alexanderplatz danach fragt.
Herr Bergner, sind Sie auf dem Alexanderplatz gut be-kannt? – Sie können wohl noch zulegen, was Ihren Be-kanntheitsgrad angeht. Der Aufbau Ost scheint bei derBundesregierung ein bisschen unter die Räder gekom-men zu sein. Er ist beim Bundesinnenministerium quasiabgeladen worden, aber nicht gestaltet worden.Ein weiteres Thema, das auf der Tagesordnung steht,ist der Stadtumbau Ost.
Kollege Hacker, gestatten Sie eine Frage oder Bemer-
kung des Kollegen Feist?
Herr Feist, gerne. Welche Frage haben Sie?
Vielen herzlichen Dank. – Frau Gleicke, ich hätte das
auch zu Ihnen sagen sollen.
Wieder wird behauptet, die jetzige Bundesregierung
habe kein Herz für den Osten. Ich mache darauf auf-
merksam, dass es nach meiner Erinnerung einen ehema-
ligen Verkehrsminister gibt, der im letzten Jahr nicht an
der Debatte über den Stand der deutschen Einheit teilge-
nommen hat und auch heute nicht anwesend ist. Wo ist
der Kollege Tiefensee?
Ich habe nicht davon gesprochen, dass Sie kein Herzfür den Osten hätten. Sie müssen mich völlig falsch ver-standen haben. Ich habe über Probleme gesprochen, diewir gemeinsam lösen wollen, und darüber, dass sich derHerr Staatssekretär Bergner bestimmter Themen intensi-ver annehmen müsste. Das ist doch eine gute Botschaft.Darin stimmen wir sicherlich überein, nicht wahr?Ein weiterer Punkt auf der heutigen Tagesordnung istder Stadtumbau Ost. Ich will daran erinnern, dass dieProjekte Stadtumbau Ost und „Soziale Stadt“ Leucht-turmcharakter in den neuen Ländern hatten und dass wirdie in den neuen Ländern gesammelten Erfahrungenauch im alten Bundesgebiet genutzt haben. Nun habenwir enorme Kürzungen erlebt. Der Stadtumbau Ost istbei der CDU/CSU ein Stiefkind und bei der FDP einungewolltes Kind. Ich will hier nicht die Zitate des Ge-neralsekretärs wiederholen; diese sind ja bekannt. DasProgramm „Soziale Stadt“ haben Sie auf jeden Fall zer-schlagen. – Kollege Vogel, hören Sie einmal zu; dennSie haben mitgeholfen, das Programm „Soziale Stadt“zu zerschlagen. Während der Zeit der Großen Koalitiongab es in der ersten Runde ungefähr 98 Millionen Euro.Unter Schwarz-Gelb sind es jetzt nur noch 28 MillionenEuro.Sie haben keine Antworten auf die Altschuldenfrage,Herr Mücke. Sie haben ein Gutachten in Auftrag gege-ben und wollten es dann auswerten. Als ich Sie schrift-lich gefragt habe, was Sie machen, haben Sie mir lapidargeantwortet: keine Notwendigkeit, kein Handlungsbe-darf. – Wir waren uns doch einmal einig, dass wir dasProgramm betreffend die Altschulden fortführen woll-ten, allerdings nicht in altbekannter Form. Wir wolltenkreativ sein und etwas Neues machen.
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Herr Mücke,
Sie haben beim Investitionsrahmenplan für die neuenLänder enorme Einschränkungen vorgenommen. Dieneuen Ansätze betragen im Fall von Mecklenburg-Vor-pommern 46 Prozent des alten Budgets.
Dagegen haben sich Kollegen aus Mecklenburg-Vor-pommern, auf jeden Fall ich und vielleicht auch HerrRehberg von der CDU, massiv gewehrt. Auch die Lan-desregierung von Mecklenburg-Vorpommern hat sichgewehrt. Jetzt frage ich Herrn Monstadt: Warum sagenSie, Herr Monstadt, eigentlich der Bevölkerung inMecklenburg-Vorpommern, dass die Landesregierungvon Mecklenburg-Vorpommern für den Investitionsrah-menplan 2011 bis 2015 nicht die nötigen Projekte einge-stellt hat? Das ist ein Treppenwitz der Geschichte.
Kollege Hacker, dieses Gespräch müssen Sie in einer
anderen Form suchen. Kommen Sie bitte zum Ende.
Ja. – Ich komme zum Thema zurück. Mein letzter
Satz lautet: Wir brauchen beim Aufschwung Ost mehr
Schwung, genauso wie bei den Themen, die sich auf ge-
samtdeutscher Ebene stellen. Dazu brauchen wir ein an-
deres Kabinett als das Kabinett Merkel/Rösler. Das ist
hierfür nicht die richtige Besetzung.
Vielen Dank.
Es ist schön, wenn wir belebte Debatten haben und
auch die eine oder andere Form des engeren Austauschs
suchen, aber jetzt hat der Kollege Arnold Vaatz für die
Unionsfraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Auch wenn ich nur sehr wenig Zeit habe, nehmeich mir sie doch, um Folgendes zu sagen: Für mich istder 9. November 1989 und die darauf folgende Zeit biszum 3. Oktober 1990 das größte Geschenk, das die Ge-schichte in meinem Leben für mich bereitgehalten hat.
Ich bin froh und stolz, dass wir uns das alle gemeinsamerstritten haben.
Wir sollten das nicht durch Kleinkariertheit und Zerre-den kaputtmachen. Das ist der erste Punkt.Zweitens. Heute lässt sich feststellen – man kann überden Stand der deutschen Einheit reden, wie man will –:Wir sind im Großen und Ganzen, was die Variations-breite des Lebensstandards betrifft, in der Bundesrepu-blik Deutschland angekommen.
Es ist festzustellen, dass wir noch immer 800 000 Ar-beitslose in Ostdeutschland haben. Das ist viel, und dasist bedauerlich, aber es gab Zeiten, da hatten wir fast1 Million Arbeitslose mehr.
Es ist ein großer Schritt nach vorne gewesen, dass wirdie Arbeitslosenquote senken konnten. Dafür sind wirdankbar.
Wenn wir nicht die Arbeitslosenquote, sondern dieArbeitsplatzdichte als Kriterium nehmen, dann sind wirnoch weit tiefer im westdeutschen Spektrum als in Be-zug auf die erste Messgröße. Auch das muss gesagt wer-den.
Hinsichtlich der Infrastrukturdichte sind wir nah andas Westniveau herangekommen, aber es bleibt nochviel zu tun.
Auch das will ich in aller Deutlichkeit sagen.Im Antrag der SPD wird gesagt, die Angleichung seizum Erliegen gekommen, weil das BIP in Ostdeutsch-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012 25065
Arnold Vaatz
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land nicht das gleiche Wachstum wie in Westdeutschlandaufweise.
Ich bitte um etwas mehr Aufrichtigkeit; denn es gehörtdazu, zu sagen, dass in der Wirtschaftskrise ab 2007/2008 das BIP im Westen stärker als im Osten eingebro-chen ist und demzufolge stärker wachsen musste, um dasUrsprungsniveau wieder zu erreichen.
Die entsprechenden Zahlen betragen 5 und 4 Prozent.Das ist eigentlich ein hoffnungsvolles Zeichen, weil dasbelegt, dass der Osten etwas krisenstabiler gewesen istals der Westen.
Jetzt will ich doch noch etwas zum Thema Rente sa-gen.
Herr Claus, Sie haben uns den Vorwurf des Wählerbe-trugs gemacht. Ich halte das, was Sie da gesagt haben,für etwas überdimensioniert.
Ich will Ihnen aber wenigstens Folgendes mitgeben:Wenn Sie über die Rente reden, dann müssen Sie aucherwähnen, dass es im Augenblick bei der Rentenberech-nung eine Hochwertung der ostdeutschen Gehälter um17,5 Prozent gibt.
Wenn Sie diese Hochwertung abschaffen und gleich-zeitig den Rentenwert erhöhen, dann produzieren Sie fürdie gegenwärtig einzahlenden Generationen systema-tisch Altersarmut in Ostdeutschland. Das kann nicht un-ser Ziel sein, meine Damen und Herren.
Ich bin den Kollegen in meiner Fraktion äußerstdankbar, dass sie nicht zugelassen haben, dass in dieserLegislaturperiode eine Verschlechterung für die ostdeut-schen Rentner eintritt; denn die vielen Vorschläge,
die von den anwesenden Parteien hier gemacht wordensind, hätten entweder im Westen keine Mehrheit gefun-den oder nicht zugleich Hochwertung und Angleichungdes Rentenwertes zustande gebracht.
– Sehen Sie, Ihnen wird widersprochen. – Wir habenalso dafür gesorgt, dass in dieser Legislaturperiode keineVerschlechterung für die ostdeutschen Rentner eintritt.Dafür wollen wir auch in der kommenden Legislaturpe-riode sorgen.
Dabei bitte ich alle um Mithilfe, die es wirklich ernstmeinen.Mit Vorschlägen, die entweder nicht realisierbar sindoder am Ende die ostdeutschen Rentner schlechterstel-len, ist niemandem gedient, meine Damen und Herren.
Damit bedanke ich mich schon jetzt für Ihre Mitarbeit imnächsten Jahr an diesem wichtigen Projekt.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagenauf den Drucksachen 17/10803 und 17/10942 an die inder Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-gen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.Dann ist so beschlossen.Wir kommen nun zu dem Entschließungsantrag derFraktion der SPD zu dem Jahresbericht der Bundesregie-rung zum Stand der Deutschen Einheit 2012. Interfrak-tionell ist vereinbart, über den Entschließungsantrag aufWunsch der einbringenden Fraktion abweichend von derGeschäftsordnung sofort abzustimmen. Sind Sie damiteinverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann verfah-ren wir so.Wir kommen damit zur Abstimmung über den Ent-schließungsantrag auf Drucksache 17/11337. Wer stimmtfür diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dage-gen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungsantrag istmit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen dieStimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion Die Linkebei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ab-gelehnt.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf:a) Erste Beratung des von den AbgeordnetenBrigitte Pothmer, Markus Kurth, Katrin Göring-
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Vizepräsidentin Petra Pau
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Eckardt, weiteren Abgeordneten und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Einrichtung eines So-zialen Arbeitsmarktes– Drucksache 17/11076 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GOb) Beratung des Antrags der Abgeordneten KatjaMast, Anette Kramme, Petra Ernstberger, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der SPDSozialen Arbeitsmarkt dauerhaft über Passiv-Aktiv-Transfer ermöglichen – Teilhabe für alledurch sozialversicherungspflichtige Beschäfti-gung im allgemeinen Arbeitsmarkt– Drucksache 17/11199 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Das Wort hat die Kollegin Brigitte Pothmer für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es istoffensichtlich: Weder der wirtschaftliche Aufschwungnoch der demografische Wandel oder der Fachkräfte-mangel werden das Problem der Langzeitarbeitslosigkeitquasi wie von selber lösen. Offensichtlich ist auch, dassdie arbeitsmarktpolitischen Instrumente völlig ungeeig-net sind, das Problem der Langzeitarbeitslosigkeit bzw.das der Langzeitarbeitslosen mit besonderen Vermitt-lungshemmnissen zu lösen und sie in den ersten Arbeits-markt zu integrieren.Ihre sogenannten Erfolge beim Kampf gegen dieLangzeitarbeitslosigkeit basieren im Wesentlichen aufstatistischen Tricks. Sie zählen einfach 116 000 Lang-zeitarbeitslose, die über 58 Jahre alt sind und ein Jahrlang kein Arbeitsangebot bekommen haben, nicht mehrmit. Sie fliegen bei Ihnen aus der Statistik. Aber sie sinddoch weiterhin arbeitslos.Meine Damen und Herren, wenn Sie diesen statisti-schen Effekt herausrechnen, dann ist die Langzeitar-beitslosigkeit in Deutschland in den letzten drei Jahrenum magere 1 Prozent zurückgegangen. Das können Sienachlesen in der Antwort der Bundesregierung auf eineAnfrage von mir: 1 Prozentpunkt! Das ist vor dem Hin-tergrund des wirtschaftlichen Aufschwungs wirklich einbeschämendes Ergebnis.
Langzeitarbeitslose sind die großen Verlierer der Ar-beitsmarktpolitik von Frau von der Leyen. Für dieseGruppe sind drei Jahre Schwarz-Gelb drei verloreneJahre.
Das ist ausgesprochen bitter für die Betroffenen; dennauch für diese Gruppe – ich will das ausdrücklich beto-nen – ist Arbeit, ist Erwerbsarbeit mehr als Geldverdie-nen. Für diese Menschen bedeutet Arbeit auch Teilhabe,bedeutet Selbstachtung und gibt ihnen das Gefühl, dazu-zugehören. Das alles enthalten Sie diesen Menschen vor.Sie signalisieren den Betroffenen, dass das, was siekönnen, keiner braucht, dass das, was sie denken, keinerschätzt, dass das, was sie fühlen, niemanden kümmert.Sie konzentrieren sich auf die Starken. Sie konzentrierensich auf die Fitten. Das ist zynisch, meine Damen undHerren, und das treibt die gesellschaftliche Spaltungweiter voran.
Ich sage Ihnen: Wir werden das nicht hinnehmen. Wirwollen allen Menschen einen Zugang zu sinnstiftenderArbeit ermöglichen. Wir wollen einen verlässlichen so-zialen Arbeitsmarkt, und damit stehen wir wahrlich nichtallein. Die Wohlfahrtsverbände, fast alle arbeitsmarktpo-litischen Experten, die Bundesagentur für Arbeit in Per-son von Heinrich Alt, der Landkreistag, alle fordern dieEinrichtung eines sozialen Arbeitsmarkts.Wir legen Ihnen heute einen Gesetzentwurf zur Aus-gestaltung dieses sozialen Arbeitsmarkts vor. Unser so-zialer Arbeitsmarkt ist ein freiwilliges Angebot. Es gibtkeine Sanktionen für die, die sich daran nicht beteiligenwollen. Er ist verlässlich. Wir wollen endlich raus ausdiesen ständigen Programm- und Finanzierungswech-seln. Und er ist – das will ich ausdrücklich betonen –keine Sackgasse; im Gegenteil: Er ist der Ausgangs-punkt für Integration in den ersten Arbeitsmarkt. Er istzielgenau für alle diejenigen, die ihn brauchen, und errichtet sich an alle Arbeitgeber. Wir wollen keine abge-schlossenen Nischen.
Finanzieren werden wir den sozialen Arbeitsmarktdurch einen Passiv-Aktiv-Transfer. Mit anderen Worten:Wir nehmen die Regelsatzleistungen und die Leistungenfür die Kosten der Unterkunft und finanzieren daraus so-zialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse.Meine Damen und Herren von der Regierungskoali-tion, ich weiß, dass es auch in Ihren Reihen inzwischenLeute gibt, die der Auffassung sind, dass es klüger wäre,Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren.
Ich bitte Sie deswegen dringend: Gehen Sie konstruktivmit diesem Vorschlag um! Die abgehängten Langzeitar-beitslosen werden es Ihnen danken.Ich danke Ihnen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012 25067
Brigitte Pothmer
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Das Wort hat der Kollege Dr. Matthias Zimmer für
die Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist ei-gentlich schade, dass wir diese Debatte an einem Frei-tagnachmittag führen, zu so später Stunde
– immerhin, wir führen sie, verehrte Frau Mast –, nach-dem die taz, dieses politisch korrekte Mitteilungsorganbürgerlicher Nonkonformisten, bereits vor einigen Tagendarauf aufmerksam gemacht hatte, über was wir hiersprechen wollen.
Leider hat dann bei der taz die Begeisterung überdiese Möglichkeit dazu geführt, dass man sich die Vor-schläge nicht genauer angesehen hat. Das hätte sich aberaus zwei Gründen gelohnt, zum einen deshalb, weil diedahinterliegende Idee, einen sozialen Arbeitsmarktdurch einen Passiv-Aktiv-Transfer zu organisieren, ei-nen gewissen Charme hat, zu dem sich auch mein Kol-lege Pascal Kober öffentlich bekannt hat,
zum anderen aber auch deshalb, weil die beiden Papiere,die wir heute beraten, einen Blick in die Mechanik desDenkens der beiden Parteien ermöglichen, und dazu willich ein wenig sagen.Zunächst einmal: Wir haben einen Gesetzentwurf derGrünen mit Datum vom 17. Oktober und einen Antragder SPD vom 24. Oktober vorliegen. Der Gesetzentwurfist im Wesentlichen gut durchdacht, weitgehend strin-gent. Er zeugt von einer längeren Befassung mit demThema. Der Antrag der SPD hingegen scheint eher mitder heißen Nadel gestrickt. Ich kann mir auch vorstellen,wie das gekommen ist. Kaum hatten die Grünen ihrenGesetzentwurf im Geschäftsgang, ist der SPD aufgegan-gen, dass sie zu diesem Thema auch etwas machensollte. Es ist schließlich Vorwahlkampf, und da will manjede Chance nutzen, in der taz einmal lobend erwähnt zuwerden; man hat es ja sonst schwer genug.
Vieles von dem, was die Grünen vorschlagen, findetsich auch im Antrag der SPD. Deswegen will ich michzunächst mit dem, was die Grünen vorschlagen, aus-einandersetzen.
Meine Damen und Herren, wir haben vor einem Jahrdie Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente be-schlossen. Die Reform ist am 1. April in Kraft getreten.Wir haben noch keine Wirkungsanalyse, wir haben keineEvaluation. Deswegen ist die Behauptung mutig, diesich im Gesetzentwurf der Grünen findet, dass die Ziel-gruppe für einen sozialen Arbeitsmarkt von den arbeits-marktpolitischen Instrumenten nicht erreicht worden sei.
Sie belegen dies exemplarisch – also beispielhaft, anEinzelfällen orientiert – mit den Erfahrungen beim Be-schäftigungszuschuss. Anekdotische Evidenz scheintmir aber ein schlechter Ratgeber für gesetzgeberischesHandeln zu sein.
Wir sollten uns schon die Zeit nehmen, die Wirkungender Reform von 2011 gründlich zu evaluieren und danndie notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Ich kann mirdurchaus vorstellen, dass es von unserer Seite dann aucheine gewisse Grundsympathie für einen Passiv-Aktiv-Transfer geben könnte und dass man dieser Idee durcheine gezielte Förderung von Modellprojekten nahetritt.
Dann sollten wir aber auch versuchen, handwerklicheFehler zu vermeiden, wie sie sich beim Gesetzentwurfder Grünen finden.
Ich verstehe ja, dass Sie das Wesen von Anreizen mit-unter nicht so ganz einschätzen können, weil dies in Ih-rem vorliegenden sozialen Herkunftsmilieu, der öffentli-chen Beschäftigung, nicht notwendig ist. Wenn man aberein Gesetz formuliert, kann das teuer werden, und zwarzulasten der Steuerzahler. So ist mir überhaupt nicht klar,woher sich der Optimismus in ihrem Entwurf speist,wenn es dort heißt: Die Kosten für den Bundeshaushaltsinken erheblich …, wenn die am Sozialen Arbeits-markt beteiligten Kommunen ihre Einsparungen beiden Kosten der Unterkunft zur Finanzierung desSozialen Arbeitsmarktes in Form eines Passiv-Ak-tiv-Transfers einspeisen.Die Lebenserfahrung lehrt: Die Einsparungen würdendie Kommunen vermutlich dankend einstreichen. Inso-fern sind die Kostenberechnungen in Ihrem Gesetzent-wurf nicht mehr als Schätzungen über den grünen Dau-men.
Ich meine allerdings: An den Anfang einer Befassungmit dem Passiv-Aktiv-Transfer gehört eine seriöseSchätzung der Folgekosten.
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25068 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012
Dr. Matthias Zimmer
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Dann zu den Integrationsfortschritten als Vorausset-zung für eine Förderung. Sie schreiben in den Gesetzent-wurf hinein:Verringern sich die Aufwendungen des Arbeitge-bers oder verbessert sich die Leistungsfähigkeit deserwerbstätigen Leistungsberechtigten, ist der Zu-schuss entsprechend anzupassen.
Mit anderen Worten: Verringern sich die Aufwendungennicht und verbessert sich auch die Leistungsfähigkeitnicht, bleibt es bei einem höheren Abfluss öffentlicherMittel.
Das ist nichts anderes als die Einladung zur Kollusionauf Kosten der Steuerzahler. Sinnvoller wäre es, bin-dende Integrationsvereinbarungen abzuschließen undden Zuschuss zum Arbeitsentgelt von Beginn an degres-siv auszugestalten. Das klingt übrigens im Antrag derSPD an und ist im Grundsatz richtig. Die Degressionmuss aber von Anfang an ein verpflichtender Bestandteileiner Integrationsvereinbarung mit dem Arbeitgeber unddem Leistungsberechtigten sein.
Nur so setzt man vernünftige Anreize, die Ziele auch zuerreichen.
Ein weiterer, eher nachdenklicher Hinweis: Der Pas-siv-Aktiv-Transfer soll denjenigen zugutekommen, diemehrere Vermittlungshemmnisse haben. Ich halte diesgrundsätzlich für eine gute Idee, finde aber auch fol-gende Frage legitim: Sollten wir Menschen mit mehre-ren Vermittlungshemmnissen nicht eher in marktfernen,in geschützten Bereichen arbeiten lassen?
Überfordern wir sie nicht in marktnahen Beschäfti-gungsverhältnissen?
Ich bin mir dessen im Moment selbst nicht sicher.Bei aller Kritik: Die Überlegungen der Grünen schei-nen mir in die richtige Richtung zu gehen. Wir wissenaber alle, dass gut gemeint noch nicht gut gemacht ist.Deswegen stimmt auch der forsche Hinweis im Gesetz-entwurf der Grünen nicht, es gebe keine Alternativen.Doch, die gibt es, nämlich zu warten,
die arbeitsmarktpolitischen Instrumente zu evaluierenund dann auf dieser Basis, wenn es notwendig ist, einenGesetzentwurf zu formulieren, der zielgenau ist, Fehlan-reize vermeidet und – dies wäre mein Wunsch – am bes-ten von einer in den Wahlen 2013 bestätigten christlich-liberalen Koalition formuliert wird.
Das Wort hat die Kollegin Katja Mast für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Herr Kollege Zimmer, ich glaube Ihnensogar, dass Sie Sympathie für die Anträge haben undauch für deren Finanzierung nach dem Grundsatz „Ar-beit statt Arbeitslosigkeit finanzieren“.
– Auch noch für mich; das freut mich ja umso mehr,Herr Zimmer. – Aber Sie hatten jetzt drei Jahre Zeit, umIhren Vorstellungen zu einer Mehrheit in Ihrer Koalitionzu verhelfen. Sie haben nun die arbeitsmarktpolitischenInstrumente reformiert, und dabei ist nichts von IhrerSympathie zu spüren. Das ist unser Problem. Deshalbliegen Ihnen heute zwei Anträge der Opposition zu ei-nem echten sozialen Arbeitsmarkt vor.
Worum geht es heute? Es geht darum, dass man sichMenschen zuwendet, die ganz am Rande des Arbeits-marktes stehen. Das sind diejenigen, die schon sehrlange Arbeit suchen, die meistens mit mehreren Vermitt-lungshemmnissen zu tun haben und die auf absehbareZeit – das heißt auf mehrere Jahre hin – keine Integrationin den Arbeitsmarkt erwarten können. Das sind diejeni-gen, die wir heute mit Arbeitslosengeld II abspeisen, de-nen wir sagen: Diese Gesellschaft braucht dich nichtmehr, du stehst am Rand, du hast keine Aufgabe. Wirwollen dich nicht.Um diese Menschen geht es. Man geht von ungefähr200 000 Menschen aus; es gibt aber auch andere Schät-zungen. Darum geht es letztlich aber nicht. Es geht viel-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012 25069
Katja Mast
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mehr darum, dass wir uns diesen Menschen zuwendenund sie fragen: Was wollt ihr?Ich kann mich sehr gut an viele Praktika erinnern, dieich mit Langzeitarbeitslosen durchgeführt habe. Dabeistand immer eine Frage im Mittelpunkt, nämlich: FrauMast, was können Sie dafür tun, dass meine Arbeit nachdem Auslaufen des Projekts weitergeht? – Das ist dieFrage, die die Langzeitarbeitslosen stellen. Sie redennicht von spätrömischer Dekadenz oder ähnlichen Din-gen. Vielmehr wollen diese Menschen morgens aufste-hen und einer Tätigkeit nachgehen können; sie wolleneinen Arbeitsvertrag in der Tasche haben.Darum geht es heute in der Debatte um den sozialenArbeitsmarkt. Was bekommen diese Menschen von die-ser Regierung? Das ist spannend; wir haben ja schon ge-hört, worum es geht. Was bekommen sie von Schwarz-Gelb? Sie bekommen keine Zuwendung; vielmehr wen-den Sie sich ab. Sie haben in Ihrer Arbeitsmarktpolitikalle Möglichkeiten zum Erhalt einer dauerhaften sozial-versicherungspflichtigen Beschäftigung abgeschafft.Genau deshalb erhalten Sie die Anträge der Opposi-tion. Wir sagen: Wir wollen für Menschen, die am Randstehen, eine auf Dauer angelegte Beschäftigungsmög-lichkeit, die den Betroffenen aber immer auch die Mög-lichkeit offenlässt, in den regulären ersten Arbeitsmarktzurückzukehren.Das ist der grundsätzliche Unterschied zwischen Ih-nen und der linken Seite hier im Haus. Da bringen alleschönen und blumigen Worte nichts, ebenso wenig ir-gendwelche Initiativen im Paritätischen Wohlfahrtsver-band, wo Sie bis heute noch keine Mehrheit in IhrenFraktionen hinbekommen haben.
Das ist doch das Problem. Sie machen laufend Pro-jekte: Bürgerarbeit, wieder ein neues Projektitis-Projektvon Bundesarbeitsministerin von der Leyen.
Den § 16 e SGB II haben wir in der Großen Koalitionzusammen auf den Weg gebracht. Damit ist uns erstmalseine Regelung gelungen, die es Menschen, die am Randdes Arbeitsmarktes stehen, ermöglicht, eine auf Dauerausgerichtete Beschäftigung zu erhalten. Und hier er-schweren Sie jetzt die Bedingungen. Sie regeln, dass dasnur noch 24 Monate innerhalb von fünf Jahren möglichist.
Das ist alles zu wenig für die Menschen, die einen Ar-beitsvertrag in der Hand haben wollen und ihr Recht aufBeschäftigung wahrnehmen wollen.Hinzu kommt, dass Sie einen massiven Kahlschlag inder aktiven Arbeitsmarktpolitik gerade für Langzeit-arbeitslose vornehmen. Sie haben den Eingliederungsti-tel von 2011 bis 2013 um 40 Prozent gekürzt,
obwohl diese Menschen, über die wir hier reden – Lang-zeitarbeitslose mit vielen Vermittlungshemmnissen –,keine Chance auf reguläre Beschäftigung haben.Deshalb hat meine Fraktion heute einen Antrag zumsozialen Arbeitsmarkt vorgelegt, der echte Teilhabe-chancen bieten soll.
Wir wenden uns den Menschen zu. Ich will noch einmalauf unsere Forderungen eingehen.Im Grunde wäre der Begriff „Langlangzeitarbeits-lose“ für Menschen mit mehreren Vermittlungshemm-nissen viel passender. Wir wollen, dass sie wieder Arbeitbekommen, dass sie einen Arbeitsvertrag bekommenund morgens wissen, warum sie aufstehen. Wir wollen,dass sie gute Arbeit haben. Auch da unterscheiden wiruns von Ihnen: Wir wollen, dass sie ortsüblich und tarif-lich entlohnt werden. Wenn wir es nach der nächstenBundestagswahl zusammen mit den Grünen hinbekom-men, dann werden sie dort, wo das nicht möglich ist, voneinem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn pro-fitieren.
Wir finden, dass Arbeit nicht nur mit Geldverdienenzu tun hat; hier geht es auch um eine Frage der Würdeund des Miteinanders in dieser Gesellschaft. Deshalbwollen wir, dass die Menschen nicht am Rand stehenbleiben, und ihnen eine echte Beschäftigungschance ge-ben; wir wollen das finanzieren. Ich bitte Sie, einfach zuschauen, was die Sozialministerin von Baden-Württem-berg, Katrin Altpeter – sie hat ein SPD-Parteibuch –, ak-tuell im Bereich des sozialen Arbeitsmarkts erprobt.
Dort, wo wir an der Regierung sind, tun wir das, was wirheute fordern. Wir erproben in Baden-Württemberg ei-nen sozialen Arbeitsmarkt für langzeitarbeitslose Men-schen, gemeinsam mit unserem grünen Koalitionspart-ner.Ich lasse mich gerne von Ihnen überzeugen, dass Siefür Mehrheiten in Ihrer Fraktion sorgen, wenn Sie mirein Bundesland zeigen, in dem Sie Regierungsverant-wortung tragen und den Passiv-Aktiv-Tausch tatsächlichorganisieren, Herr Zimmer.
– Wir reden gerade über den sozialen Arbeitsmarkt undüber Möglichkeiten der Finanzierung des Passiv-Aktiv-
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Katja Mast
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Transfers. Sie haben gerade dazu gesagt, Sie hättengroße Sympathien dafür; Sie würden einmal schauenund ein Projekt durchführen – und noch ein Projekt undwieder ein Projekt. Wir wollen aber keine Projektitis à lavon der Leyen, sondern wir wollen dauerhafte Möglich-keiten, auf die sich die Menschen verlassen können,übrigens auch diejenigen, die diese Menschen beschäfti-gen, nämlich die Unternehmen, die Handwerker, die Trä-ger, die Kommunen, damit sie wissen, woran sie sind,damit sie wissen, dass sie das auf Dauer machen können.Das ist der Unterschied zwischen Ihrer und unserer Hal-tung.
Ich bin stolz, dass wir das in Baden-Württemberg hinbe-kommen und damit die Grundlagen für eine Arbeits-marktpolitik schaffen, die anders ist als Ihre.Wir wollen einen Beschäftigungszuschuss von bis zu75 Prozent ermöglichen, wie wir ihn in der Großen Ko-alition zusammen umgesetzt haben; danach sind Sie lei-der davon abgewichen. Wir sagen: Menschen, die beiuns langzeitarbeitslos sind und etwas leisten wollen, et-was beitragen wollen, sollen einen Teil ihres Einkom-mens selbst erwirtschaften. Wir wollen das über den Pas-siv-Aktiv-Tausch – das bedeutet nichts anderes als:Arbeit statt Arbeitslosigkeit – finanzieren.Wir wollen eine möglichst marktnahe Beschäftigungerreichen. Denn alle Projekte, alle Maßnahmen fürLangzeitarbeitslose zeigen, dass die Menschen eine Be-schäftigung haben wollen, bei der ein Produkt entsteht,das hinterher verkauft wird. Sie wollen nicht auf Schein-arbeitsmärkten oder geschützten Arbeitsmärkten be-schäftigt sein, sondern wollen im Wirtschaftsprozess ih-ren Beitrag leisten.Für uns Sozialdemokraten ist es ein wichtiger Punkt,an unserem Ziel der Vollbeschäftigung festzuhalten unddort Antworten zu geben, wo es richtig schwer ist, Voll-beschäftigung zu organisieren. Denn bei denjenigen, dieam Rand stehen, ist es nicht so einfach, Antworten zufinden; sie profitieren – meine grüne Vorrednerin hat esschon gesagt – heute nicht von der guten Konjunktur.
Insofern ist es die Aufgabe unserer Zeit, sich den Lang-zeitarbeitslosen zuzuwenden, anstatt sich abzuwenden.Wir wollen echte Jobchancen für langzeitarbeitsloseMenschen in Deutschland.
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Pascal
Kober das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Kollegin Pothmer, ich bin ganz erstaunt: Ich mussIhre Politik aus den sieben Jahren, in denen Sie regierthaben, fast schon ein Stück weit in Schutz nehmen. Siehaben die arbeitsmarktpolitischen Instrumente zu Be-ginn Ihrer Rede ziemlich pauschal verdammt. Wir habenzwar auch gesehen, dass die arbeitsmarktpolitischen In-strumente reformbedürftig sind. Diese Regierungskoali-tion hat sie reformiert:
Wir haben sie zielgenauer ausgestaltet und damit er-reicht, dass eine erfolgreichere Arbeitsmarktvermittlungmöglich ist. Aber so ganz schlecht waren die Grund-ideen doch nicht, die Sie damals verfolgt haben. AuchSie können ein bisschen stolz sein; wir haben die Instru-mente verbessert, aber der erste Ansatz war schon nichtganz schlecht.
Zweitens. Liebe Frau Pothmer, ich gebe offen zu:Diese Regierungskoalition ist noch nicht zufrieden,wenn es um die Erfolge geht, die wir bei der Integrationgerade von „Langlangzeitarbeitslosen“ in den ersten Ar-beitsmarkt erreichen konnten. Trotzdem ist es uns in denletzten Jahren gelungen, 500 000 Langzeitarbeitslose inden Arbeitsmarkt zu integrieren. Darauf ruhen wir unsnicht aus. Trotzdem sollte man diese Leistung anerken-nen.
Denn für jeden Einzelnen bedeutet das eine Perspektive,für jeden Einzelnen hat sich das Leben verändert, für je-den Einzelnen war alle Mühe und Anstrengung wert.Liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/DieGrünen und SPD, Sie haben recht: Die Idee, die Sie imAntrag bzw. im Gesetzentwurf so grob skizzieren, hat et-was für sich. Wir von der FDP sehen das auch so und ha-ben das auch in unserer Sozialpolitik immer so formu-liert.
In all den Jahren haben wir immer gesagt: Ein wesentli-cher Aspekt des Bürgergeldmodells der FDP ist, dass ge-rade diejenigen, die es auf dem Arbeitsmarkt schwer ha-ben und Minderleistungen – wie man technisch unschönsagt – zu bewältigen haben, eine kleine steuerfinanzierteUnterstützung erhalten. Das war immer Politik der FDP.Deshalb können wir uns im Grundsatz mit dem Modell,das die Sozialverbände und auch Sie hier vorschlagen,anfreunden.
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Über die Details muss man allerdings noch diskutieren;denn auf die Details kommt es an.Liebe Katja Mast, Sie haben so freundlich die Lan-desregierung in Baden-Württemberg ins Feld geführt.Ich hoffe, Sie wollten sich nicht schon vom Koalitions-partner Bündnis 90/Die Grünen distanzieren;
denn Sie regieren gemeinsam mit ihnen; die MinisterinAltpeter macht das nicht allein. Sie haben gemeinsamein Programm auf den Weg gebracht, das das Passiv-Ak-tiv-Modell simuliert, nicht mehr und nicht weniger.Im Kern müssen sich noch Bundesrat und Bundestagauf eine gemeinsame Finanzierung einigen;
denn sonst fehlen die finanziellen Mittel. Es muss diegemeinsame Anstrengung aller im Bundestag und imBundesrat vertretenen Parteien sein,
dass wir hier zu einem Ergebnis kommen. In Baden-Württemberg finanzieren Sie alles aus Steuermitteln,und am Ende haben Sie einen positiven Effekt, aber ebendurch Steuermittel des Landes und durch Fördermaßnah-men aus Europa.
Letztendlich wird dadurch in Baden-Württemberg derpositive Effekt, den man aus dem Passiv-Aktiv-Modellziehen könnte, nicht erzielt.
Wir werden hier noch spannende Debatten führen,aber wir sollten sie miteinander und nicht gegeneinanderführen.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Jutta Krellmann für die
Fraktion Die Linke.
Frau Pothmer, jetzt bin ich dran.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Wir reden heute über den sozialen Arbeits-markt, und das ist immer sehr konkret. In meiner RegionHameln-Pyrmont kenne ich eine Frau, die schon seitzehn Jahren keine Arbeit mehr hat. Nun hält sie dieSanktionen des Jobcenters nicht mehr aus. Über zehnJahre wurde die gelernte Tischlerin von einer Maßnahmein die andere gesteckt, und das hat nie dazu geführt, dasssie einen Arbeitsplatz bekam.Vom Jobcenter erwartet sie nichts mehr, sie geht jetzteinfach nicht mehr hin. Die Frage ist: Von was lebt siedenn jetzt eigentlich? Die Lösung heißt: Minijobs. Da-mit landet sie zwangsläufig im Niedriglohnbereich undweiß selbst ganz genau, dass sie garantiert bei den armenAlten landen wird. Solche Erfahrungen machen Millio-nen.Kein hochentwickeltes europäisches Land hat einenso ausgeprägten Niedriglohnbereich wie wir. Die Logikder Befürworter der Einführung von Niedriglohnjobswar: Niedrige Löhne schaffen mehr Beschäftigung. –Das war ein Irrtum. Die meisten Langzeitarbeitslosenhaben keine neue Arbeit gefunden. Im Gegenteil: DieZahl der Langzeitarbeitslosen hat sich verfestigt. Ihr An-teil unter allen Erwerbslosen stieg in den letzten zweiJahren von 33,5 Prozent auf 37 Prozent. Die absoluteZahl liegt bei 1 Million Menschen.
Was ist mit Ihrem Gerede, dass alles besser gewordenist? Ich sage Ihnen: Von 2010 auf 2011 ist die Zahl ledig-lich um 5 000 gesunken, und das trotz angeblichen Fach-kräftemangels und trotz guter wirtschaftlicher Situation.Der Anteil von Hartz-IV-Beziehern im Leistungsbezugab zwei Jahre stieg sogar von 55 Prozent im Jahr 2009auf 61 Prozent Ende 2010.All diese Menschen brauchen Arbeit, sagt die Linke.Sie haben ein Recht auf Arbeit.
– Das kommt jetzt.Wir reden heute über die von SPD und Grünen vorge-legten Initiativen zur Einrichtung eines sozialen Arbeits-marktes. Ich finde das missverständlich. Ich konnte nichtlesen, dass es um Arbeitsplätze im sozialen Bereich geht.
Uns geht es um öffentlich geförderte Beschäftigung. Sohaben wir es in unserem Antrag aus dem Jahr 2011 – Siewerden sich erinnern – genannt. Leider hat die SPD die-sen Antrag nicht verstanden und ihn abgelehnt.
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Jutta Krellmann
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Oder ging es wieder einmal gar nicht um die Sache, son-dern um unsere Forderung nach einem Mindestlohn von10 Euro? Sie fordern 8,50 Euro.Öffentlich geförderte Beschäftigung ist ein wichtigerBaustein zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit. DieLinke schlägt ein Konzept für öffentlich geförderte Be-schäftigung vor, in dem es Mindeststandards gibt, unteranderem Freiwilligkeit und einen tariflich orientiertenund existenzsichernden Lohn nicht unter unserer Min-destlohnforderung von 10 Euro pro Stunde. Das machtunabhängig von Hartz IV und ist voll sozialversiche-rungspflichtig.
Öffentlich geförderte Beschäftigung muss in klarer Ab-grenzung zum öffentlichen Dienst und zur Wirtschaftstehen, um die Verdrängung regulärer Arbeitsplätze zuverhindern.
Sehr geehrte Damen und Herren, ich kann das ganzeGerede von halbherzigen Anträgen nicht mehr hören.Wir brauchen eine gute öffentlich geförderte Beschäfti-gung. Geben Sie den Menschen die Würde zurück!Vielen Dank.
Es ist vereinbart, den Beitrag des Kollegen Ulrich
Lange von der Unionsfraktion zu Protokoll zu neh-
men.1)
Der Kollege Johannes Vogel hat nun für die FDP-
Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Arbeit ist mehr als Broterwerb. Deshalb habe ich michüber den konstruktiven Grundton der Debatte heute ge-freut. Ich glaube, zumindest uns, die vier Fraktionen,eint das Ziel, mehr Menschen eine Perspektive auf demArbeitsmarkt zu geben. Wir wollen uns nicht auf den gu-ten Arbeitsmarktzahlen ausruhen, sondern immer bes-sere Perspektiven schaffen.Liebe Frau Kollegin Pothmer, über den Aufruf zurkonstruktiven Behandlung habe ich mich gefreut. Daswollen wir tun, aber Sie selbst könnten in der Debatte andieser Stelle auch noch etwas konstruktiver werden. Las-sen Sie doch einfach die wohlfeilen Vorwürfe weg.
Lassen Sie die Sache mit der Statistik weg. Sie wissen sogut wie ich, dass diese Koalition gar nichts an der Statis-tik geändert hat, also können wir auch nicht irgendwiedaran gedreht haben.
Liebe Kollegin Katja Mast, lass doch einfach denVorwurf der angeblichen Kürzungspolitik weg.
Du weißt so gut wie wir alle, dass diese Koalition proKopf nicht weniger Geld für die aktive Arbeitsmarktpo-litik zur Verfügung stellt, als das die Große Koalition vorder Krise getan hat, und es ist übrigens mehr, als Rot-Grün damals zur Verfügung gestellt hat.Lassen Sie uns doch lieber konstruktiv darüber reden,was wir hier wirklich tun können. Dass es für Menschen,die es auf dem Arbeitsmarkt schwer haben, weil sie eineschwierige Geschichte haben, ein Instrument gebenmuss, das eine Arbeitsmarktintegration ermöglicht, istein Ziel, das wir teilen. Deshalb habe ich mich ein biss-chen geärgert und nicht verstanden, liebe KolleginPothmer, dass Sie gesagt haben, die Instrumente, die esgibt, seien ungeeignet. Sie bauen in Ihrem Antrag selbstauf § 16 e des SGB II auf.
Sie nennen das explizit als Ansatzpunkt für den Passiv-Aktiv-Transfer. Ich will nur sagen: Das Gesetzgebungs-verfahren zu den arbeitsmarktpolitischen Instrumentenhat dazu geführt, dass – übrigens auf Initiative der Koali-tionsfraktionen, von dem Kollegen Zimmer und mir –§ 16 e SGB II erhalten und so ausgestaltet wurde, dass erfür eine echte Integration in den ersten Arbeitsmarkt ge-eignet ist.
Lassen Sie uns doch gemeinsam festhalten: Diesechristlich-liberale Koalition hat sich zu dem Instrumentbekannt. Das sollten wir gemeinsam bejahen und hiernicht die Behauptung aufstellen, es gebe nicht die geeig-neten Instrumente.
Die Instrumente gibt es; wir haben sie explizit erhalten.Richtig ist, dass wir uns fragen müssen: Wie stellenwir die Finanzierung sicher? Wie schaffen wir es, mögli-cherweise noch mehr Mittel umzuwidmen?
Ich stimme dem Kollegen Zimmer und auch meinemKollegen Pascal Kober zu, der dies öffentlich gemein-sam mit Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrts-1) Anlage 6
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Johannes Vogel
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verband gesagt hat: Wir sollten uns konstruktiv damitbeschäftigen, ob es unter der Überschrift Passiv-Aktiv-Transfer eine Möglichkeit gibt.
Im Namen meiner Fraktion bekenne ich mich ausdrück-lich dazu. Nur, liebe Frau Kollegin Pothmer, wir müssenuns gemeinsam ernsthaft mit diesem Thema beschäfti-gen. Wenn man das wirklich will – der Kollege Koberhat eben schon darauf hingewiesen –, dann muss es da-für auch fraktionsübergreifende Mehrheiten in Bundes-tag und Bundesrat geben. So, wie die Lage im Momentaussieht, ist das nicht so einfach.
Zweitens. Ich glaube, wir müssen erst einmal grund-legende Fragen klären. Ich will eines ausdrücklichsagen: Uns geht es dabei um echte, gleichberechtigteTeilhabe auf dem ersten Arbeitsmarkt, nicht um Pseudo-beschäftigung.
Ich finde es missverständlich, wenn Sie von einem so-zialen Arbeitsmarkt und der dauerhaften Etablierungdieses Arbeitsmarktes sprechen. Lassen Sie uns lieberüber ein Instrument reden, das durch Unterstützung– Lohnkostenzuschüsse – echte Teilhabe auf dem erstenArbeitsmarkt ermöglicht.
Ich denke, die Einigung darauf, dass man das Ganze sonennt, wäre eine wichtige Gesprächsgrundlage.
– Ich habe die Anträge gelesen.
Kollege Vogel, in Ihrer Reihung wären Sie jetzt ei-
gentlich bei drittens. Ihre Redezeit ist jetzt aber zu Ende.
Dann will ich einen letzten Punkt ansprechen. – Frau
Kollegin Pothmer, ich glaube – damit beziehe ich mich
auf den Antrag der Grünen –, dass ein 100-prozentiger
Lohnkostenzuschuss keine gute Idee ist,
weil er Missbrauch fördert.
Bekennen Sie sich zu dem Instrument, das wir ge-
schaffen haben,
und lassen Sie uns gemeinsam konstruktiv überlegen,
wie wir hinsichtlich der Finanzierung vorankommen
können. Ich glaube, damit sind wir gemeinsam auf ei-
nem guten Weg für die Langzeitarbeitslosen in diesem
Land.
Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagenauf den Drucksachen 17/11076 und 17/11199 an die inder Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-gen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 45 a und 45 b auf:a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDPDurch Zusammenarbeit Zivilgesellschaft undRechtsstaatlichkeit in Russland stärken– Drucksache 17/11327 –b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
– zu dem Antrag der Fraktion der SPDGemeinsam die Modernisierung Russlandsvoranbringen – Rückschläge überwinden –Neue Impulse für die Partnerschaft setzen– zu dem Antrag der Abgeordneten MarieluiseBeck , Volker Beck (Köln), AgnesBrugger, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKeine Modernisierung Russlands ohneRechtsstaatlichkeit– Drucksachen 17/11005, 17/11002, 17/11391 –Berichterstattung:Abgeordnete Philipp MißfelderFranz ThönnesPatrick Kurth
Wolfgang GehrckeKerstin Müller
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegePatrick Kurth für die FDP-Fraktion.
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25074 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012
Vizepräsidentin Petra Pau
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Erneut reden wir im Plenum über Russland. Meinpersönlicher Eindruck: Neben Weißrussland und derUkraine haben wir uns im Bundestag über keine andereRegion öfter ausgetauscht, ausgenommen natürlich dieBrennpunkte Nordafrika, Naher und Mittlerer Osten.Egal ob man die häufige Thematisierung der östlichenPartnerschaft im Deutschen Bundestag als Ausdruck be-sonderer Wertschätzung oder als Ausdruck besondererSorge wertet: Die Häufigkeit, mit der sich der DeutscheBundestag über Russland austauscht, zeigt die Wertig-keit, die Russland für uns Deutsche hat. Russland undDeutschland verbindet eine lange Geschichte. Wenn mandie Geschichte seit Zar Peter betrachtet, dann kann mankonstatieren: Es gab sehr grausige Kapitel, grausamste.Gemessen an der gesamten Zeitspanne gab es aber zu-meist Frieden und kulturellen Austausch. Seit jüngererZeit gibt es sogar eine Modernisierungspartnerschaft.Wir stehen für eine stärkere Integration Russlands ineuropäische und westliche Institutionen und Standards.Dennoch bereitet Russland uns Deutschen in letzter Zeitviel Sorge, und nicht nur uns Deutschen, sondern denEuropäern insgesamt. Wir Deutsche sagen Russlanddeutlich: Euer Umgang mit politisch Andersdenkenden,mit Oppositionellen, ist für euer Land nicht gut. Unsereund eure Geschichte zeigen, dass Repression und Kon-trolle immer schaden. Neue Gesetze in Russland dürfendie Zivilgesellschaft nicht einschüchtern, weil dadurchdas Vertrauen in Russland zerstört wird. Wir verurteilenauch die Einführung eines Gesetzes in St. Petersburggegen „Propaganda männlicher und weiblicher Homo-sexualität, Bisexualität und Transgenderismus unterMinderjährigen“.Diese Aufzählung könnten wir fortsetzen. Die Ge-schwindigkeit, mit der diese Probleme innerhalb kurzerZeit größer geworden sind, ist beängstigend. Quasiauto-ritäres Handeln politisch Verantwortlicher darf nichtignoriert werden.Aber – das gilt für die Debatten des Deutschen Bun-destages und seine Beschlüsse –: Der Deutsche Bundes-tag kann aus unserer Sicht keine Ansammlung von Kri-tik beschließen. Der Deutsche Bundestag beschließtkeine Anklageschriften. Dafür ist dieses Gremium ein-fach nicht da. Es geht um politische Einordnungen, umWertungen und um daraus folgende Maßnahmen. Ichhabe mir noch einmal die Beschlüsse angeschaut, die wirin dieser, aber auch in den letzten Legislaturen zu ande-ren problematischen Ländern gefasst haben. Natürlichwurde Kritik geübt, aber immer mit Wertungen, mit Ein-ordnungen und vor allen Dingen mit politischen Konklu-sionen. Selbst der alte Bundestag hat die DDR niemalsin einem Antrag oder etwas Ähnlichem nur mit massiverKritik überzogen. Deswegen muss uns die Frage umtrei-ben: Können wir ein solches Vorgehen zulassen, wenn esum die Zusammenarbeit mit Russland geht?Wir setzen dabei nicht auf den Weg der Ausgrenzung– das ist entscheidend –, sondern wir wollen den Dialogmit Russland. Wir lassen nicht zu, dass im östlichen Eu-ropa zunehmend der Eindruck entsteht, der Eiserne Vor-hang sei mental von der Mitte Deutschlands an die Ost-grenze Polens verschoben. Gerade wir Deutsche kennendie Herausforderungen eines Transformationsprozesses.Wir können unsere persönlichen Erfahrungen, die wirhier in diesem Land mit all seinen Problemen – wir ha-ben gerade über den Jahresbericht der Bundesregierungzum Stand der Deutschen Einheit 2012 und über die Fol-gen von Transformation gesprochen – gemacht haben, inden schwierigen Prozess, in dem sich auch Russland be-findet, einbringen.Unsere Kritik und unsere Zusammenarbeit mit Russ-land müssen in Bezug auf andere Staaten der Welt ver-hältnismäßig sein. Insofern ist es wichtig, sich von Russ-land nicht abzuwenden; das wäre der falsche Weg.Zu den vorliegenden Anträgen. Der SPD-Antrag lassich über weite Strecken wie ein Lexikonbeitrag. Es istja alles richtig, was darin steht, wie die Situation darge-stellt ist usw. Man kann inhaltlich über einige Punkte re-den; aber im Grundsatz kann man dem zustimmen. Dasist gleichzeitig ein Problem: Dieser Antrag bleibt ideen-los im Hinblick auf das politische Handeln. – Wie gehtes weiter? Wie gehen wir damit um? Das sind die ent-scheidenden Fragen.Der Antrag der SPD ignoriert die Bestrebungen,Russland in seinem Transformationsprozess als starkerPartner zur Seite zu stehen. Die Schwäche des Antragsder SPD wird in seinen Forderungen deutlich. Sie, dieSPD, nennen zwar Schlagwörter, gehen aber nicht wei-ter. Die Zusammenarbeit im schulischen Bereich tun Siezum Beispiel mit einem Halbsatz ab, sodass die Wichtig-keit dieses Punktes, der eigentlich ein Schwerpunkt ist,völlig untergeht.Die deutsche Außenpolitik, die auswärtige Kultur-und Bildungspolitik haben gerade in Russland durcheine Sprachoffensive dazu beigetragen, dass viel erreichtworden ist. Russland ist ein fruchtbarer Boden fürDeutsch als Fremdsprache. Der Slogan des Goethe-Insti-tuts in Russland lautet: Mit Englisch kommen Sie durch,mit Deutsch kommen Sie weiter. – So etwas wird ange-nommen. Das ist das Entscheidende, wenn wir mit Russ-land umgehen.
Wenn es sozusagen im Kern der Diplomatie auch ein-mal kühler wird – das deutsch-russische Verhältnis hatsich ohne Zweifel ein Stück weit abgekühlt –, dann mussman gerade in den Außenbereichen, in den soften Berei-chen, etwa in der auswärtigen Kultur- und Bildungspoli-tik, Lockerungsübungen durchführen. Dazu sind dieRussen selbstverständlich bereit.In ähnlicher Weise ist der Antrag der Grünen, der vielKritik übt, aber zu wenig auf die Zusammenarbeit mitRussland eingeht, zu werten. Ohne den entsprechendenDialog mit Russland ist es schlicht nicht möglich, ge-meinsame Interessen zu verfolgen und gemeinsame Risi-
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Patrick Kurth
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ken zu minimieren. Beispielsweise findet derzeit dasDeutschlandjahr in Russland statt, und wir, Deutschland,haben das Russlandjahr. Wir haben in Russland Kultur-institute eingerichtet, und wir haben vor allen DingenSchüler und Studenten durch Austauschprogramme nachvorne gebracht. Ich glaube, dass so etwas hilft. Ichglaube, dass wir auch in der Visafrage deutlich weitergehen müssen, als wir es bisher getan haben. Viele inEuropa meinen, wir brauchen Sicherheit vor Russland.Wir in Deutschland vertreten sicherheitspolitisch dieAuffassung: Wir brauchen Sicherheit mit Russland. Ichglaube, das ist entscheidend.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Gernot Erler für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Im heutigen Russland treffen wir auf politische Entwick-lungen, die nicht zueinander passen wollen. Am 14. Ok-tober wurden in fünf Föderationsgliederungen, nämlichin den Gebieten Amur, Belgorod, Brjansk, Nowgorodund Rjasan, Gouverneurswahlen abgehalten, und paral-lel werden in sechs Gebieten neue regionale Parlamentegewählt. Durchweg gewinnen bei den Gouverneurswah-len die Kandidaten der Kremlpartei Jedinaja Rossija,Einheitliches Russland, mit Ergebnissen zwischen64 und 78 Prozent.Die Partei der Macht setzt sich auch bei den sechsregionalen Parlamentswahlen durch, mit 44 bis 78 Pro-zent – als hätte es nie die Proteste in den großen Städtengegeben, als hätte nie der oppositionelle Blogger AlexejNawalny genau diese Partei der Macht mit einem bösenAttribut belegt. Er hat sie nämlich als „partija zulikow iworow“, als Partei der Gauner und Diebe, bezeichnetund damit bei den etwa 53 Millionen Internetnutzern inRussland fast den offiziellen Namen Einheitliches Russ-land verdrängt.Schon bei der ersten Gelegenheit bestätigt sich alsodie Einschätzung von Analytikern, die immer davor ge-warnt haben, das real existierende Herrschaftsmonopolin der Russischen Föderation abzuschreiben, nachdemdie Partei Einheitliches Russland bei den Duma-Wahlenim Dezember 2011 die Dreiviertelmehrheit, die sie bisdahin hatte, nicht mehr erreichen konnte und WladimirPutin mit „nur“ 63,6 Prozent zum Präsidenten gewähltwurde.Eigentlich müsste man erwarten, dass solche Ergeb-nisse beruhigend wirken und in den Führungsetagen zuGelassenheit ermutigen. Sie bestätigen ja obendrein,dass der Protest bisher Sache begrenzter Großstadtmili-eus war, aber nicht die Weiten des russischen Landes er-reicht hat. Aber wer dieser Logik folgt, muss erleben,dass von Gelassenheit keine Spur ist. Auf allen Ebenenwird der Protest eingeschüchtert. Es gibt Verhaftungenvon oppositionellen Aktivisten und gerichtliche Ankla-gen gegen sie, die zu langjährigen Haftstrafen führenkönnen. Grundlage dafür sind auch neue Gesetze, zumBeispiel zum Versammlungsrecht und zur öffentlichenOrdnung.Massive Maßnahmen richten sich gegen einzelneMitglieder der Partei Spravedlivaja Rossija, GerechtesRussland. Ursprünglich war sie eine vom Kreml insze-nierte Neugründung. Aber während der Proteste wan-delte sich Gerechtes Russland immer mehr zu einer op-positionellen Kraft in der Staatsduma.Dem dieser Fraktion angehörigen AbgeordnetenGennadij Gudkow wurde sein Duma-Mandat einfachentzogen, und seinem Unternehmen wurde die Existenz-grundlage genommen. Zu einem richtigen Skandalfallentwickelt sich derzeit die Anklage gegen den parlamen-tarischen Mitarbeiter Leonid Raswosschajew, ein Fall,mit dem sich sogar der Vorsitzende des Menschenrechts-rates, Michail Fedotow, beschäftigt. Offensichtlich gehtes darum, seinen Arbeitgeber, den Gerechtes-Russland-Abgeordneten Ilja Ponomarjow, aus der Staatsduma zudrängen.
– Ja, er ist entführt worden.Traurige Berühmtheit hat auch das neue NGO-Gesetzerlangt, das alle zivilgesellschaftlichen Institutionenzwingt, aus dem Ausland kommende Mittel zu deklarie-ren und sich dabei selbst als Agenten des Auslands zubekennen – ein durchsichtiges Verfahren; denn dadurchstehen die Verantwortlichen aller russischen NGOs, diefür ihre Arbeit Unterstützungsmittel aus dem Auslanderhalten bzw. benötigen, schon mit einem Bein im Ge-fängnis. Gegen Auslandsagenten kann nämlich zu jedembeliebigen Zeitpunkt Anklage erhoben werden. DasSchuldeingeständnis liegt ja schon bereit.Diese Auflistung, Kolleginnen und Kollegen, die kei-neswegs vollständig ist und zu der man das abschre-ckende Strafmaß gegen die Aktivistinnen der GruppePussy Riot und andere Vorgänge hinzufügen könnte, zei-gen: Der Wieder-Präsident Wladimir Putin hat sich ge-gen einen Dialog mit der Opposition entschieden und da-mit viele Hoffnungen enttäuscht. Er hat sich entschiedenfür die Einschüchterung, die Kriminalisierung und dieZerstörung der Basisorganisationen der Opposition, zumBeispiel der Partei Gerechtes Russland; dafür steht die-ses Vorgehen.Dabei kann der Kreml nicht mehr behaupten, es gebeja gar keine legitimierten Ansprechpartner auf der ande-ren Seite. Bisher hatten wir es bei der russischen Opposi-tion tatsächlich mit einem kopflosen Konglomerathöchst unterschiedlicher Menschen und politischerGruppen zu tun. Aber am 20./21. Oktober dieses Jahreswurde ein 45-köpfiger Koordinationsrat gewählt, in demauch je fünf Vertreter der drei unterschiedlichen opposi-tionellen Hauptströmungen – der Linken, der Liberalenund der Nationalisten – Sitz und Stimme haben. Immer-hin haben sich mehr als 170 000 Wählerinnen und Wäh-ler für diesen Wahlgang registriert, über 81 000 haben
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Dr. h. c. Gernot Erler
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dann tatsächlich teilgenommen, die meisten per Internet.Dabei haben sie dem bereits genannten Blogger AlexejNawalny, dem Schriftsteller Dmitri Bykow und demehemaligen Schachweltmeister Garri Kasparow diemeisten Stimmen gegeben.Wir können also feststellen: Dieselbe Machtstruktur,die während der beiden Wahlakte bestimmte Schwächenzeigte und der im Aufbau befindlichen Opposition da-mals einige Zugeständnisse einräumte, so beim Parteien-und Wahlrecht, interpretiert die wiedergewonnene Posi-tion heute als Aufforderung, der Opposition die Luftzum Atmen zu nehmen. Ich glaube, in diesem HohenHause gibt es einen breiten Konsens, dass dies ein ver-hängnisvoller Irrtum ist. Ein Russland, das die nochjunge, sich formierende parlamentarische und außerpar-lamentarische Opposition einzuschüchtern oder gar zukriminalisieren versucht, wird es nicht schaffen, denbreiten Diskurs bzw. Dialog über die richtigen Entwick-lungswege des Landes in die Zukunft sicherzustellen,den Russland dringend braucht.Das jetzige Vorgehen wird eine doppelte Wirkung ha-ben. Die einen werden resignieren und sich zurückzie-hen. Ein anderer Teil wird sich radikalisieren und immerwieder für Schlagzeilen sorgen, die Russlands Image imAusland beeinträchtigen werden. Auf jeden Fall wird einsolcher Prozess Russlands Weg in die Moderne verlän-gern, einen Weg, bei dem man ohne umfassende Refor-men und ohne eine Offenheit in der Gesellschaft langeund gefährliche Umwege einkalkulieren muss.Wie sollten wir uns verhalten? Längst ist erwiesen:Der bis zur Ermüdung erhobene drohende Zeigefingerbringt uns nicht weiter. Im besten Fall provoziert er, dasskritische Gegenfragen gestellt werden. Dazu gibt esüberall – auch bei uns – Anlass. Im schlechtesten Fallwird die Tür zugeschlagen. Dies hätte negative Folgen,unter anderem für das 2007 vom damaligen Außen-minister Frank-Walter Steinmeier formulierte Angebotder Modernisierungspartnerschaft. Dieses Angebot be-schränkte sich nie auf Kooperation allein auf dem Gebietvon Wirtschaft und Hightech. Es ist und bleibt ein offe-nes Angebot, das sich auf alle Fragen moderner Admi-nistration, auf Rechtsstaatlichkeit und Governance undauch auf die Nutzung zivilgesellschaftlicher Potenzialefür eine nachhaltige Entwicklung in einem Land bezieht,das globale Verantwortung anerkennt und übernimmt.Der kritische Kommentar zu gesellschaftlichen Fehl-entwicklungen in der Russischen Föderation erzwingtaus unserer Sicht keineswegs den erhobenen Zeigefin-ger, sondern lässt sich auch mit der ausgestreckten Handund mit einem strukturierten Meinungsaustausch aufgleicher Augenhöhe verbinden. Genau das wollte dasAngebot der Modernisierungspartnerschaft von Anfangan.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege
Dr. Andreas Schockenhoff das Wort.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Deutsch-russische Regierungskonsultati-onen sind in der Tat gewöhnlich nicht ein Anlass dafür,dass sich der Bundestag mit drei Anträgen zur Lage inRussland und zu den deutsch-russischen Beziehungenbefasst. Herr Kollege Erler, ich will Ihnen ausdrücklichbeipflichten: Dass dies dennoch der Fall ist, zeigt, dassin der großen Breite des Bundestages eine erheblicheSorge über die russische Politik und die innere Entwick-lung Russlands besteht.In kürzester Zeit wurden seit dem 7. Mai gesetzgebe-rische und juristische Maßnahmen ergriffen, die auf einewachsende Kontrolle aktiver Bürger abzielen, die kriti-sches Engagement kriminalisieren und die einen kon-frontativen Kurs gegenüber Regierungskritikern bedeu-ten. Wenn in einem Mitgliedstaat des EuroparatsDemokratiestandards zurückgedreht, Rechtsstaatlich-keit eingeschränkt und repressive Tendenzen weiter ver-schärft werden, dann lässt uns das nicht gleichgültig,sondern erfüllt uns mit großer Sorge.
Das ist eine der Botschaften, die in allen drei Anträgengleichermaßen zum Ausdruck kommt. Das ist eine wich-tige gemeinsame Botschaft, die heute von diesem Hauseausgeht.Es erfüllt uns zugleich mit großer Sorge, dass dieseEntwicklungen auch die Möglichkeiten der gegenseiti-gen Beziehungen einschränken, dass sie zu einer Ent-fremdung zwischen Russland und dem restlichen Europaführen. Das aber wollen wir nicht. Im Gegenteil: Wirwollen eine Vertiefung der Partnerschaft. Deshalb mussdies heute vor den deutsch-russischen Regierungskon-sultationen zum Ausdruck gebracht werden.Um es klar zu sagen: Wir haben das Interesse an einerengen Kooperation mit Russland und nicht an seinerIsolierung. Wir wollen ein starkes, politisch und wirt-schaftlich modernes und rechtsstaatlich verfasstes demo-kratisches Russland. Darum wollen wir auch eine Mo-dernisierungspartnerschaft mit Russland. Doch wirmüssen uns auch einig sein, was wir unter Modernisie-rung verstehen.Über all das brauchen wir einen offenen und, wennnötig, streitigen Dialog. Dabei geht es – auch darin sindwir völlig einig, Herr Kollege Erler – nicht um einseitigeKritik. Es geht um ein gemeinsames Verständnis da-rüber, was uns verbindet. Uns verbindet, wie gesagt, derWunsch nach einem starken, politisch und wirtschaftlichmodernen Russland. Doch Russlands innere Entwick-lung steht zunehmend im Widerspruch zu seinem eige-nen Anspruch, als moderne internationale Führungs-macht anerkannt zu werden.Für alle ehrgeizigen Projekte, die Russland sich vor-genommen hat, braucht es einen Konsens mit der eige-
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Dr. Andreas Schockenhoff
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nen Bevölkerung. Doch wir sehen mit Sorge, dass diePolarisierung zwischen Staat und Gesellschaft weiter zu-nimmt. Gesellschaftlich engagierte Bürger werden vonder Staatsmacht häufig nicht als Partner, sondern alsGegner verstanden. Sogar freiwilliges Engagement wirdals verdächtig angesehen. Gleichzeitig nimmt die sozialeUnzufriedenheit zu. Vor allem hält die Flucht von drin-gend benötigtem Kapital und von Vertretern der soge-nannten kreativen Klasse weiter an. Das allein muss unsSorgen machen.Ich stelle fest, dass dies keine Sorge allein der Koali-tionsfraktionen ist. Im Antrag der SPD beispielsweise –ähnlich im Antrag der Grünen – ist von der Gefahr einer„neuen Protestbewegung“ in Russland die Rede, „diedas gesamte politische System ins Wanken bringen“könnte. Mit Recht sagen Sie, dass ein politisch instabilesund wirtschaftlich kriselndes Russland nicht im InteresseDeutschlands und der EU sein kann.Deswegen geht es im Dialog mit Russland vor allemauch um eine Auseinandersetzung über unsere verschie-denen Modernisierungskonzepte. Die Modernisierungs-partnerschaft beruhte auf einem gemeinsamen Verständ-nis von Zielen und Interessen von Modernisierung.Wir müssen heute feststellen, dass sich die Vorausset-zungen geändert haben. In Russland hat sich die Debatteauf eine rein wirtschaftlich-technische Modernisierungverengt, in der – so sagt es der Präsident selbst – wie inden 30er-Jahren der militärisch-industrielle Komplex alsLokomotive fungieren soll. Nach unserem Verständnisbraucht Innovation eben nicht Aufrüstung, sondern Kre-ativität, nicht Abschreckung, sondern Investitionen in„soft power“ wie Bildung, Rechtsstaatlichkeit, Stärkungvon Mittelschicht und Mittelstand.
Ohne einen echten Dialog mit der Zivilgesellschaft,ohne eine Einbindung der Zivilgesellschaft wird es keineModernisierung geben. Russlands Potenzial sind dieMenschen: die gut ausgebildete, modern denkende, ver-netzte Mittelschicht, die der wichtigste Träger für dieModernisierung des Landes wäre. Sie ist lange nichtmehr auf Moskau und Sankt Petersburg beschränkt.Diese Menschen wollen die Modernisierung mitgestal-ten. Sie fordern nach persönlicher Freiheit auch politi-sche Rechte ein. Das aber erfordert auch eine politischeund gesellschaftliche Modernisierung.Für eine solche Modernisierung wollen wir ein Part-ner sein – auch im Interesse unserer wirtschaftlichen Be-ziehungen. Deshalb sprechen wir uns für den Ausbau derZusammenarbeit mit Russland zur Stärkung von Rechts-staatlichkeit, transparenten Institutionen und effizientenVerwaltungen sowie zum Abbau der systemischen Kor-ruption aus. Dabei ist die enge Kooperation zwischen zi-vilgesellschaftlichen Akteuren ein wesentlicher Faktor.Ihre Arbeit darf nicht kriminalisiert oder behindert wer-den.Um die Zusammenarbeit mit Russland auf ein breite-res gesellschaftliches Fundament zu stellen, muss diezwischengesellschaftliche Zusammenarbeit zu einemneuen Schwerpunkt werden. Viele der russischen Ak-teure teilen europäische Werte wie individuelle Rechte,wirtschaftliche Freiheit und Transparenz. Sie sind unserenatürlichen Partner und sollten gezielt in die bilateraleZusammenarbeit einbezogen werden.
Meine Damen und Herren, in unseren Beziehungenzu Russland brauchen wir nicht weniger Dialog und Zu-sammenarbeit, sondern mehr. Dazu gehören eine Ver-breiterung der gesellschaftlichen Kontakte und ein Dia-log, in dem die Unterschiede und Probleme nichtverschwiegen, sondern offen und kritisch angesprochenwerden. Das ist unser Ansatz und Anspruch für die künf-tige Russland-Politik. In diesem Sinne bitte ich um einebreite Zustimmung zu unserem Antrag.Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Gehrcke für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin, schönen Dank! Meine SPD-Kolle-gen haben mir gerade zugerufen, ich solle die gute Stim-mung nicht kaputtmachen. Ich komme leider nicht ganzdrum herum, das zu tun.
– Ich habe mir gedacht, dass Sie so reagieren.Ich denke, dass wir hier ein Zeichen dafür setzen soll-ten, dass die Türen für einen Dialog zwischen Russlandund Deutschland offen bleiben müssen. Ich möchte, dasses bei der ausgestreckten Hand bleibt, Kollege Erler, undich möchte, dass die Zeigefinger, mit denen Sie nachRussland zeigen, endlich verschwinden.
Ich habe überhaupt nichts von der Strickjacken-Freundschaft zwischen Kohl und Gorbatschow im Kau-kasus gehalten.
Diese Art von Freundschaft wurde dann mit Jelzin fort-gesetzt. Ich habe auch überhaupt nichts davon gehalten,dass Gerhard Schröder Putin zum lupenreinen Demokra-ten erklärt hat. Darüber schweigen Sie sich hier auchaus.
Ich halte auch überhaupt nichts von den Wadenbeiße-reien des Kollegen Schockenhoff. So koordiniert man
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25078 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012
Wolfgang Gehrcke
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keine Beziehungen zwischen Deutschland und Russland,so macht man Beziehungen kaputt.
Gerade wenn man einen offenen Dialog und eine kriti-sche Auseinandersetzung will, muss man in anderer Artund Weise damit umgehen.Ich habe mir die ganze Zeit die Frage gestellt, wie wireigentlich reagieren würden, wenn das russische Parla-ment, die Duma, jede Woche über Missstände in unse-rem Land reden und diskutieren würde.
– Es gibt keine Missstände; Ihre Meinung kenne ich. –Wie würden wir reagieren?Ich finde es langsam befremdlich, welcher Ton hierangeschlagen wird, und ich glaube nicht, dass wir in die-ser Art und Weise in der Zusammenarbeit mit Russlandweiterkommen.
Gerade weil ich möchte, dass in Russland frei demon-striert werden kann und dass Meinungsfreiheit undRechtsstaatlichkeit durchgesetzt werden, möchte icheine andere Art des Umgangs. Dazu will ich Ihnen einpaar Vorschläge machen.Wenn man über Modernisierungspartnerschaft redet– zu Recht –, dann hat das natürlich eine wirtschaftlicheSeite. Das streite ich überhaupt nicht ab, und das sollteauch keiner abstreiten. Modernisierungspartnerschaft hataber auch eine soziale Seite.
Ich möchte, dass wir mit den russischen Partnern vielstärker die soziale Seite der Modernisierungspartner-schaft diskutieren und dass wir verstehen, dass es nichtnur darum geht: „Wir bringen euch etwas bei“, sonderndass das ein zweiseitiger Prozess ist.Herr Schockenhoff, ich muss ehrlich sagen: Wenn SieCourage gehabt hätten, dann hätten Sie sich hier hinge-stellt und gesagt: Es ist eine Schande, wie meine Frak-tion mit der Visafreiheit umgeht.
Wenn wir den russischen Partnern nicht die Visafreiheitanbieten – und zwar in deutlicher Weise – und emotionalnicht begreifen, dass sie diese vor den OlympischenSpielen 2014 haben möchten, dann werden wir nichtweiterkommen.
– Arbeiten Sie weiter, Herr Kollege Mißfelder. Ich weißja, dass Sie es wollen, aber die Hardliner in Ihrer Frak-tion bremsen in dieser Angelegenheit.Ich finde, dass Modernisierungspartnerschaft aucheine Demokratiepartnerschaft beinhaltet. Ich möchte,dass wir in fairer Art und Weise mit Russland über De-mokratie und den Ausbau von Demokratie diskutierenund die Zivilgesellschaft stärken. Dazu gehört für michauch, dass nicht immer nur Privatisierung das Ergebniseiner solchen Politik sein soll und sein darf.Ich möchte gerne, dass wir mit Russland eine Kultur-partnerschaft eingehen. Das kann ein ganz wichtigerzweiseitiger Schritt sein. Hier geht es nicht nur umHochkultur, sondern Russland ist eine Basis für vielfäl-tige kulturelle Ausdrucksformen. Ich möchte, dass wirso etwas auch nach Deutschland holen und hier präsen-tieren. Das Russlandjahr in Deutschland und umgekehrtdas Deutschlandjahr in Russland haben doch kein Profil.
Letztendlich möchte ich, dass es eine Friedenspartner-schaft ist.
Ich frage Sie, warum in Ihrem Antrag zu solchen Din-gen wie der Sorge Russlands vor dem sogenannten Ra-ketenabwehrsystem überhaupt nichts steht. Das ist derEiserne Vorhang, der hier aufgebaut wird.
Vor solchen Fragen drücken Sie sich. Deswegen kannman auch das, was Sie vorschlagen, nicht besondersernst nehmen.Ich möchte gerne, dass wir in einer anderen Art undWeise mit Russland umgehen. Das ist eine wichtigePartnerschaft. Ich bitte Sie, ziehen Sie den ausgestreck-ten Zeigefinger ein. Er ist unter uns nicht angebracht,und im Verhältnis zu Russland ist er erst recht nicht an-gebracht.Schönen Dank.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kol-legin Marieluise Beck das Wort.Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wenigstens ist auf Sie, Herr Gehrcke, Verlass.Ich bin begeistert.
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Marieluise Beck
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Denn es kam der zu erwartende Spin: Wir Deutschendürfen Russland nicht mit erhobenem Zeigefinger kriti-sieren; denn der Russe ist sensibel. – Nun würde ich sa-gen: Das russische Volk kritisieren wir in der Tat nicht;zu dem wollen wir Freundschaft. Dass die ehemaligenHerren vom KGB, die heute im Kreml sitzen, so hoch-sensibel sein sollen, daran mache ich allerdings meinFragezeichen.
Aber ich will Ihnen gerne folgen und schlage vor, ein-mal einen Perspektivwechsel vorzunehmen und tatsäch-lich nicht über Russland zu sprechen, sondern über un-sere Moral und über unsere Werte.Beispiel eins: Siemens. Siemens zahlte in den Jahren2005 und 2006 rund 3 Millionen US-Dollar an Schmier-geldern im Zusammenhang mit einem Moskauer Ver-kehrsprojekt. Daraufhin wurde eine russische Siemens-Tochter für vier Jahre von Weltbankausschreibungenausgeschlossen. Inzwischen hat sich Siemens – das mussman fairerweise sagen – dazu verpflichtet, Antikorrup-tionsmaßnahmen unter anderem bei den Vereinten Na-tionen 15 Jahre lang mit etwa 5 Millionen Euro jährlichzu unterstützen.Beispiel zwei: Daimler. Daimler zahlte zwischen2000 und 2005 etwa 4 Millionen Dollar an Vertreter derrussischen Regierung, um den Verkauf von Limousinenfür den Sicherheitsapparat abzusichern. Die Empfängervon Schmiergeld saßen unter anderem im russischen In-nenministerium und im russischen Fahrdienst für Staats-gäste.Beispiel drei: Im Jahr 2009 trafen sich Manager eini-ger wichtiger Dax-Konzerne, also deutscher Firmen, dreiStunden lang bei Präsident Putin. Dies waren Daimler,Siemens, Metro, Eon, Deutsche Bahn, Fraport, Volkswa-gen und die Commerzbank. Sie haben drei Stundenpersönlich mit Putin sprechen können. Es ging um dieTeilnahme der deutschen Unternehmen am Privatisie-rungsprogramm des Kremls, und Putin versprach jedeHilfe. Haben die Herren bei dieser Gelegenheit den FallChodorkowski angesprochen? Haben die Herren jemalsgeäußert, es beunruhige sie, dass ein Unternehmen wieJukos mithilfe der Steuerbehörden willkürlich zerschla-gen werden kann, dann über eine Briefkastenfirma auf-gekauft, dem Staatskonzern Rosneft einverleibt und aufdiese Art und Weise letztlich wieder dem Staat zurück-geführt worden ist? Haben die Herren mal gesagt: „HerrPräsident, das beunruhigt uns; denn wir haben Assets ineinem Land zu vertreten, auf dessen rechtsstaatlicheStrukturen wir uns verlassen können wollen“, oder ha-ben sie nur auf den großen Absatzmarkt in Russland ge-schaut?Beispiel vier: der Deal BP/Rosneft. Den Deal zwi-schen BP und dem russischen Staatskonzern Rosneft hatPutin als ein gutes Geschäft zu einem guten Preis be-zeichnet. Damit ist Rosneft zum größten börsennotiertenÖlkonzern der Welt aufgestiegen. Die Zerschlagung vonJukos und die Verfolgung von Chodorkowski waren Vo-raussetzung für diesen Deal; denn Rosneft hat diese Ak-tien von Jukos erst bekommen, nachdem Jukos zerschla-gen worden war, und ist auf diese Art und Weise an dieSpitze der russischen Erdölproduzenten aufgestiegen.BP hat Anteile im Milliardenwert von Rosneft übernom-men. Im Bürgerlichen Gesetzbuch nennt man solcheWare „Hehlerware“. Deswegen würde ich sagen: Wersich so verhält, kann in Russland nicht mit starkerStimme für Rechtsstaatlichkeit eintreten. Diese Doppel-moral wäre nämlich ein Problem.Kurz zu unserem Abstimmungsverhalten. Wir bittendarum, dass über den ersten Absatz der Ziffer I im An-trag der Koalitionsfraktionen gesondert abgestimmtwird. Wir gehen nämlich nicht davon aus, dass Russlandderzeit ein strategischer Partner sein kann. Das ist nureine Zielsetzung. Ansonsten gilt aber: Nachdem es demKollegen Schockenhoff gelungen ist, das, was PatrickKurth eben gesagt hat, sozusagen wieder herauszuneh-men, meinen wir, dass wir dem anderen Teil des Antragszustimmen können. So viel dazu, um das etwas unge-wöhnliche Abstimmungsverfahren zu erklären.Schönen Dank.
Nun hat der Kollege Dr. Peter Gauweiler für die
Unionsfraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren Kollegen! Ich möchte auf die Kontroverse zwi-schen Herrn Gehrcke und Frau Beck nicht weiter einge-hen. Zu der Zeit meiner politischen Sozialisation beur-teilten die hinter Ihnen beiden stehenden politischenKräfte das politische Moskau nicht so kontrovers, wiedas heute hier zutage getreten ist.
Ich möchte Ihnen, lieber Herr Gehrcke, in allerFreundschaft in einem Punkt widersprechen. Es geht umIhre Kritik an der Strickjackenfreundschaft zwischenHelmut Kohl und Michail Gorbatschow. Ich glaube,diese Freundschaft war eine große Sache. Strickjackeund Hausschuhe sind besser als Panzer und Stacheldraht.Das hat uns eigentlich alle gut vorangebracht.
Diese Debatte wäre unehrlich, Frau Beck, wenn wirgerade mit Reminiszenz an die Vergangenheit nicht allessagen würden, egal aus welchem politischen Lager wirkommen: Das heutige Russland mit all seinen Proble-men hat in Sachen Freiheit und Demokratie im Vergleichzur gulagischen Sowjetunion einen riesigen Sprung,quasi einen Jahrhundertsprung, gemacht. Wir könnenuns gar nicht vorstellen, mit welchen Problemen undSchwierigkeiten dies im Einzelfall verbunden ist.
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25080 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012
Dr. Peter Gauweiler
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Deutschland mit seiner Unterschrift unter die Euro-päische Menschenrechtskonvention im Jahr 1953 undRussland mit seiner Unterschrift 40 Jahre später habeneine unwiderrufliche Wertentscheidung getroffen. Wasdie Entscheidung Russlands, die EMRK zu unterschrei-ben, betrifft: Die meisten meines Alters hätten nie ge-dacht, dass sie dies einmal erleben würden.Diese Unterschrift war es – das ist keine Frage vonrechts oder links –, die die moralische und ideologischeTeilung Europas im 20. Jahrhundert beendet hat. Dasheißt nicht, dass es uns verboten wäre, wechselseitig aufDefizite hinzuweisen. Das geschieht auch in unseremAntrag. Aber eines muss ganz klar sein: Wir, Russen undDeutsche, führen diese Debatte aufgrund unserer beiderUnterschrift auf der gleichen moralischen Grundlage. In-sofern möchte ich das unterstreichen, was HerrSchockenhoff sagte: Ziel dieses Antrags ist keine neuegeistige Mauer, sondern Ziel dieses Antrags ist die Ver-tiefung der Partnerschaft. Partner halten solche Debattenaus.
Wir haben uns durch die Unterschrift unter dieEMRK sozusagen auf den gleichen moralischen Violin-schlüssel geeinigt. Ich habe, Frau Beck, unter Würdi-gung Ihrer Tätigkeit im Fall Timoschenko in der Ukraine– Sie erinnern sich vielleicht an die Debatte, die wir imAuswärtigen Ausschuss dazu hatten – damals schon da-rauf hingewiesen, dass in Art. 33 der EMRK die soge-nannte Staatenbeschwerde vorgesehen ist. Das heißt, diePartnerstaaten können Menschenrechtsbeschwerden voreinem supranationalen Gericht ansprechen. Dies ist ver-meintlich härter als politische Resolutionen. In Wahrheitist dies ein menschenrechtliches Schiedsgericht unterPartnern.Wenn hier jeder Einzelne von uns – das bezieht sichauch auf die Regierung; ich freue mich, dass ein Vertre-ter des Justizministeriums anwesend ist – von den Be-schwerden überzeugt ist, die in allen drei Anträgen mitunterschiedlicher Intensität enthalten sind, dann mussman die Kraft haben – dabei schließe ich die russischeSeite mit ein –, dies einem supranationalen Gerichtshof,der in Art. 33 der EMRK vorgesehen ist, vorzulegen.Dies ist besser – ich sage das hier ganz offen – als derWeg ständiger politischer Resolutionen. Warum? Politi-sche Äußerungen sind immer – nicht bei den hier Anwe-senden, wohl aber bei allen anderen – von politischenZwecken geleitet. Der erfahrene Politiker weiß: Mankann auch mit der Wahrheit lügen.
– Wenigstens einer.
Der erfahrene Politiker weiß auch: Das eine ist dieEthik, das andere die Heuchelei. Die Frage nach Ethikund Heuchelei müssen auch die Deutschen in dieser De-batte bedenken. Ich bin dankbar, dass meine Fraktionversucht hat, in ihrem Antrag, für den ich hier spreche,auch auf den Gesichtspunkt der Zusammenarbeit hinzu-weisen.Ein kurzes – bewusst nicht aktuelles – Zitat vom De-zember 1180. Der Sekretär des Erzbischofs von Canter-bury, ein gewisser John von Salisbury, schrieb:Wer hat die Deutschen zu Richtern über die Völkergesetzt? Wer hat diesen rohen und brutalen Leutendas Recht gegeben, nach ihrem Belieben einenFürsten über die Häupter der Menschenkinder zusetzen?Eines muss ganz klar sein: Der Deutsche Bundestagwill nicht den Eindruck erwecken, dass wir uns zu Rich-tern über andere Völker erheben.
Nun zu der von Ihnen, Herr Kollege Erler, angespro-chenen Debatte über Pussy Riot. Ich empfehle die Lek-türe des neuen Buchs von Peter Scholl-Latour, einemunserer anerkanntesten Journalisten, Die Welt aus denFugen, in dem die Frage gestellt wird, ob dieses aufsäs-sige Trio seinen Klamauk nicht sinnvollerweise vor demMausoleum Lenins am Roten Platz hätte aufführen sol-len.
Denn die Moskauer Erlöserkirche war seinerzeit durchStalin gesprengt und in ein Schwimmbad umgewandeltworden. Wir sind insbesondere nicht Richter über dierussisch-orthodoxe Kirche und bewundern den Kampf,den diese Kirche über Jahrzehnte im besetzten Russlandgeführt hat.Ich finde es gut, dass in unserem Antrag neben derModernisierungspartnerschaft auf die kulturelle Partner-schaft hingewiesen wird. Man kann sagen, dass sich dieDinge hier extrem zum Besseren entwickelt haben. DasGoethe-Institut Moskau hat die Reichweite seiner Pro-gramme von rund 23 000 Personen auf über 100 000 Per-sonen im letzten Jahr erhöht.
Kollege Gauweiler, das alles sind sicherlich sehr
wichtige Fakten. Aber achten Sie bitte einmal auf das Si-
gnal, und kommen Sie zum Schluss.
Ich leite die Landung ein, Frau Präsidentin. – DasGoethe-Institut Nowosibirsk hat mittlerweile seineReichweite ebenfalls auf rund 100 000 Personen erhöht.Das Goethe-Institut Sankt Petersburg hat seine Reich-weite von 14 000 auf sogar über 130 000 Personen er-höht.Wir, die CDU/CSU-Fraktion, haben vor diesem Hin-tergrund in unserem Antrag Folgendes erklärt – das ist
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012 25081
Dr. Peter Gauweiler
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uns wichtig –: „Russland ist unabdingbar für eine ge-samteuropäische Friedensordnung.“Vielen herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache
17/11327 mit dem Titel „Durch Zusammenarbeit Zivil-
gesellschaft und Rechtsstaatlichkeit in Russland stär-
ken“. Interfraktionell ist vereinbart, über den ersten Ab-
satz der Ziffer I des Antrags einerseits und über den
übrigen Antrag andererseits getrennt abzustimmen.
Wir stimmen daher zuerst über den ersten Absatz der
Ziffer I des Antrags auf Drucksache 17/11327 ab. Wer
stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der erste Absatz der Ziffer I des Antrags ist mit
den Stimmen der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion und
der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der SPD-Frak-
tion angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den übrigen
Teil des Antrags auf Drucksache 17/11327. Wer stimmt
dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Da-
mit ist der Antrag insgesamt angenommen mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen bei Enthaltung der SPD-Fraktion und der
Fraktion Die Linke.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf
Drucksache 17/11391. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ableh-
nung des Antrags der Fraktion der SPD auf Druck-
sache 17/11005 mit dem Titel „Gemeinsam die Mo-
dernisierung Russlands voranbringen – Rückschläge
überwinden – Neue Impulse für die Partnerschaft set-
zen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und
der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion
bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Es ist heute eine gewisse Herausforderung. Das zeigt
aber, dass nicht alles so ist, wie manch einer denkt.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 17/11002 mit dem Titel „Keine Mo-
dernisierung Russlands ohne Rechtsstaatlichkeit“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei
Enthaltung der SPD-Fraktion und der Fraktion Die
Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 48 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Umsetzung des EuGH-Urteils vom
20. Oktober 2011 in der Rechtssache C-284/09
– Drucksache 17/11314 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Mathias Middelberg für die Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Es geht um ein Gesetz, mit dem wir Vorgaben derEuGH-Rechtsprechung umsetzen und umsetzen müssen.Mit diesem Gesetzentwurf werden wir den europarechts-widrigen Zustand auch mit Wirkung für die Vergangen-heit beseitigen. Die von dem EuGH-Urteil betroffenenausländischen EU-Körperschaften, also Aktiengesell-schaften und GmbHs, werden von der Kapitalertragsteuerbei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen entlas-tet. Eine Erstattung erfolgt für diese Gesellschaften aller-dings nur, soweit sie nachweisen, dass die deutsche Ka-pitalertragsteuer im Ausland weder angerechnet noch alsBetriebsausgabe abgezogen worden ist. Es gibt alsokeine doppelte Entlastung, sondern nur eine, und zwardann, wenn im eigenen Land eine Belastung erfolgt ist.Diese Umsetzung ist zwingend. Sie führt zu jährli-chen Erstattungen und damit zu Steuerausfällen in derGrößenordnung von 650 Millionen Euro. Aber dieseUmsetzung ist notwendig, und sie ist richtig; denn dieSteuerfreiheit konzerninterner Dividenden, also von Ge-winnausschüttungen im Rahmen eines mehrfach gestuf-ten bzw. verschachtelten Konzerns, entspricht dem Teil-einkünfteverfahren, und dieses Teileinkünfteverfahrenim Unternehmensteuerrecht haben wir damals, 2008, inder Großen Koalition als Verfahren bei der Besteuerungvon Kapitalgesellschaftsgewinnen eingeführt.Da ist es üblicherweise so, dass in einem erstenSchritt die Besteuerung auf der Ebene der Kapitalgesell-schaft stattfindet – mit Gewerbesteuer und Kapitalertrag-steuer. Das sind zusammen ungefähr 30 Prozent. Danachwird in einem zweiten Schritt die Ausschüttung, die Di-vidende, von dem privaten Gesellschafter, der diese Di-vidende erhält, versteuert. Er zahlt Abgeltungsteuer undSolidaritätszuschlag, sodass er letzten Endes bei einer
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25082 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012
Dr. Mathias Middelberg
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Besteuerung von 49,5 Prozent, also fast 50 Prozent, lan-det.Dieses System ist sinnvoll und konsistent mit unse-rem bisherigen Unternehmensteuerrecht. Es entspricht,wie ich gesagt habe, dem Teileinkünfteverfahren.Wenn wir es anders machen würden, insbesondere so,wie der Bundesrat es vorschlägt, dann würden wir zu ei-ner Überbesteuerung von konzerninternen Gewinnenkommen. Es würden dann richtige Kaskadeneffekte ent-stehen. Das heißt, über je mehr Ebenen ein Gewinn in-nerhalb eines Konzerns weitergereicht wird, desto mehrBesteuerungsstufen hat man.Wenn man eine weitere Tochterebene und damit zweiEbenen hat, würde man zu einer Gesamtbelastung von64 Prozent kommen. Ich habe es eben schon gesagt:Normalerweise beträgt die Steuerlast 49,5 Prozent.Mit einer weiteren Tochterebene in dem Konzern istman schon bei einer Steuerlast von 76 Prozent. Kommtdann noch eine Tochterebene in dem Konzern hinzu,liegt man bei einer Besteuerung des Gewinns in Höhevon 83 Prozent.Daran kann jeder erkennen, dass der Vorschlag desBundesrates in die Irre führt.
Der Vorschlag des Bundesrates würde nur dazu führen,dass wir jetzt, am Jahresende, panische Beteiligungsver-käufe erleben würden. Alle würden nämlich ihre Streu-besitzbeteiligungen zu verkaufen suchen. Viele Fondswürden dies versuchen, weil sie sich jetzt noch steuerfreibzw. zu vernünftigen Steuersätzen von den Beteiligun-gen trennen könnten. Das heißt, wir würden einen Runvon Beteiligungsverkäufen im Fondsbereich auslösen.Das wäre – ich sage das so deutlich – absoluterSchwachsinn.Wir würden zu einer völlig ungleichmäßigen Besteue-rung von Unternehmensgewinnen in Deutschland kom-men, wenn wir – was wir durch das Teileinkünfteverfah-ren gerade nicht machen wollen – die Gewinne imGrunde kaskadenmäßig, je nachdem, wie viele Tochter-ebenen es in einem Konzern gibt, besteuerten. Wir wür-den damit auch viele Unternehmen zwingen, entwederihre gesellschaftsrechtlichen Strukturen zu verändern,was teuer, aufwendig und blödsinnig wäre, oder ihrenHoldingsitz aus Deutschland zu verlagern. Wir habenaber ein großes Interesse daran, dass möglichst viele Ge-sellschaften einen Holdingsitz in Deutschland haben,weil wir deren Steuern einnehmen wollen.
Wir wollen diese Steuereinnahmen in Deutschland. Wirwollen diese Unternehmen nicht vertreiben. Diese wür-den dann demnächst ihren Konzernsitz von Deutschlandnach Holland oder Österreich verlegen, weil dort die Be-steuerungsgrundlagen genau die sind, die wir mit diesemGesetzesvorschlag schaffen wollen.Der Punkt ist: Ich möchte keine Unternehmen vertrei-ben, sondern ich möchte diese Unternehmen hierbehal-ten, damit wir sie weiter hier besteuern und weiter50 Prozent von Unternehmensgewinnen von Aktienge-sellschaften und GmbHs in Deutschland kassieren kön-nen.Sie würden mit dem Vorschlag, der über den Bundes-rat eingereicht worden ist, vor allem auch die betriebli-che Altersvorsorge schädigen. Denn die Anbieter vonbetrieblicher Altersvorsorge legen zu großen Teilen inWertpapieren, vor allen Dingen in Aktien, an, und zwarnicht in großen Paketen, sondern sie haben in der RegelStreubesitz. Ihre Beteiligungen sind niemals größer alsnull Komma irgendwas, 1, 2 oder 3 Prozent.Das wären genau die Fonds, die verkaufen müssten.Die Sozialdemokraten haben ein Rentenkonzept vorge-legt, mit dem sie die betriebliche Altersvorsorge aus-drücklich fördern wollen. Welchen Sinn hat es denn,wenn ihr den Leuten Zuschüsse zu ihrer betrieblichenAltersvorsorge geben wollt, aber das Konzept der be-trieblichen Altersvorsorge mit Streubesitz bei Aktienbe-teiligungen vorher kaputthaut? Völliger Blödsinn, kannich dazu nur sagen.
Benachteiligt würden auch Fondsanlagen steuerbe-freiter institutioneller Anleger. Sie würden damit Kir-chen, Stiftungen und bisher steuerbefreite Pensions- undUnterstützungskassen treffen.Was auch ganz gefährlich und problematisch wäre:Wir würden damit unsere Start-up-Finanzierung gewal-tig beschädigen. Denn in der Regel gibt es bei den Start-up-Unternehmen keine großen Beteiligungen, sondernsie leben häufig von vielfältigen Streubeteiligungen undKleinstbeteiligungen, weil natürlich keiner sein ganzesGeld dort investieren will, sondern sich mit ein paarEuro an einem Start-up beteiligt, um ihm die Chance zugeben, die ihm beigemessen wird. Diese Finanzierungvon Start-up-Unternehmen in Deutschland, also von Un-ternehmen, die sich in der Gründungs- und Aufbauphasebefinden, würden wir – das haben sie uns schon mitNachdruck transportiert – massiv beschädigen. Ich kannnur dringend davon abraten, dem Vorschlag des Bundes-rates näherzutreten.
Die Ungleichbehandlung von ausländischen und in-ländischen Anteilseignern müssen wir beseitigen – dasist klar –, aber nicht dadurch, dass wir die Inländerbe-steuerung verschlechtern, sondern dadurch, dass wir einErstattungssystem einrichten. Ich habe dieses Systemeben vorgestellt. Was wir hier vorschlagen, entspricht imÜbrigen dem Modell, das in Österreich bereits Gesetzist, das dort schon existiert. Ich halte es für eine gute Re-gelung, dass unter klaren und eindeutigen Bedingungeneine Erstattung erfolgt. So sollten wir es hier auch ma-chen.Wir müssen immer sehen – ich habe das eben schongesagt –: Unser Unternehmensteuerrecht steht im Wett-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012 25083
Dr. Mathias Middelberg
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bewerb. Wir leben nicht auf einer Insel, sondern wir le-ben mit anderen zusammen; da besteht ein Kontext.Wenn wir das nicht so umsetzen, wie wir es jetzt vor-schlagen, sondern einen anderen Weg wählen, etwa den,den der Bundesrat vorschlägt, wird das dazu führen, dassSteuerausfälle – bei dem von uns vorgeschlagenen Ver-fahren werden ja Steuerausfälle beklagt – erst recht ein-treten. Wir würden, wenn wir es so regeln würden, wieder Bundesrat es vorschlägt, erst recht Steuersubstrat,also Masse, die wir besteuern können, verlieren. Meh-rere Unternehmen – ich habe es eben gesagt – würdendann darüber nachdenken, den Konzernsitz ins Auslandzu verlegen, den Konzern anders zu strukturieren. Wirwürden dann massive Steuerausfälle haben.Ich kann nur sagen: Solche Aktionen sind nicht im In-teresse unseres Steueraufkommens insgesamt. Sie sindauch nicht im Interesse der beteiligten Arbeitnehmer;denn solche Sitzverlegungen können irgendwann dazuführen, dass das ganze Unternehmen Deutschland ver-lässt. All das möchte ich nicht. Deswegen werbe ich umZustimmung zu unserem Gesetzesvorschlag. Vor demWeg, den der Bundesrat alternativ vorgeschlagen hat,kann ich nur dringend warnen.Vielen Dank.
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Lothar
Binding das Wort.
Sehr verehrte Damen und Herren! Frau Präsidentin!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Middelberghat schon erklärt, warum das ein kompliziertes Themaist. Was uns an dieser Stelle besonders ärgert, ist, dasswir uns die Chance genommen haben, eine gemeinsameLösung zu suchen für das Problem, dass wir hier Steuer-ausfälle zu gewärtigen haben. Sie haben gesagt, es seien650 Millionen Euro. Das ist schon viel. Aber die Schät-zungen gehen in noch größere Dimensionen. SolcheSteuerausfälle sind in der Lage, in der wir in Deutsch-land sind, nicht gut zu verkraften.
Sie haben gesagt: Wir folgen jetzt dem Modell Öster-reich. – Okay, es gibt auch noch andere Länder, die dasso ähnlich machen, wie Sie es jetzt regeln wollen. Ichnenne England, Estland und Ungarn. Aber es gibt auchLänder, die es eben anders regeln, so, wie die von unsgeführten Bundesländer das vorschlagen. Übrigens, Hes-sen wollte da ähnlich initiativ werden, aber das ist inletzter Sekunde gestoppt worden. Jetzt müssen andereLänder einspringen.Die Steuerpflicht haben Belgien, Frankreich, die Nie-derlande und Polen, aber interessanterweise auch dieUSA. Das hätte man doch gar nicht vermutet, wenn manIhren Argumenten Glauben schenken würde.Im Moment leiden wir ein bisschen darunter, dass unsdie Flut großer und wichtiger Gesetzesvorhaben sozusa-gen überrollt. Darunter leidet auch dieses Gesetzge-bungsvorhaben. Das hat uns nämlich die Zeit genom-men, über gute Lösungen nachzudenken.Die Steuerfreistellung beim Streubesitz steht im Fo-kus Ihrer Gesetzgebungsarbeit und nicht die Gemein-schaft, nicht der Staat. Wir sagen: Es wäre besser gewe-sen, eine Lösung zu finden, die den Unternehmen hilft,ihnen nicht schadet, aber auch dem Staat hilft und ihmnicht schadet. Der Möglichkeit, diesen Kompromiss zusuchen, haben Sie uns beraubt. Denn es existieren Alter-nativen.Die erste Alternative ist: Wir hätten das, was Sie jetztvorschlagen, nämlich einfach alles steuerfrei zu stellen,schon im Jahressteuergesetz 2013 regeln können.
Die steuerliche Freistellung von Dividenden hat schonwas Besonderes; viele denken über Dividenden gar nichtnach. Sie hätten sich in Kooperation mit dem Bundesratauf eine Gesetzgebung verständigen können, die all diegenannten Probleme löst.Allerdings haben Sie das nicht gewollt. Ich glaube,ich weiß, warum Sie es nicht im Jahressteuergesetz re-geln wollten. Da wäre es nämlich untergegangen. Siewollten das ins Schaufenster stellen und zeigen: Seht,wir helfen euch!Aber was ist das Ergebnis? Das Ergebnis ist, dass aus-ländische Körperschaften – es geht nicht um Privatper-sonen, die sich irgendwo beteiligen – künftig Steuern aufDividenden bei deutschen Beteiligungen sparen. DieFrage ist, ob es wirklich klug ist, eine Dividende, die ei-nen Gewinn im Rahmen einer Aktienbeteiligung dar-stellt, steuerfrei zu stellen. Wir glauben, dass das für un-seren Fiskus schlecht ist. Uns stört, dass Sie uns keineAlternativen vorgestellt oder untersucht haben und alles,was denkbar war, verworfen haben.Worum geht es? Der EuGH – das haben Sie eben vor-getragen – hat gesagt: Man darf ausländische Beteiligun-gen an deutschen Unternehmen und inländische Beteili-gungen an deutschen Unternehmen nicht ungleichbehandeln. Die müssen gleich behandelt werden.Es gibt zwei Schnelllösungen: Die eine Schnelllösungist: Man stellt alles steuerfrei. Das sagen Sie. Das kostetden Staat viel.
Die zweite Schnelllösung ist: Man macht alles steuer-pflichtig. Das könnten wir jetzt vorschlagen. Dies wärein unserem Sinne, es wäre eine gute Lösung.Doch wäre es die eigentliche Aufgabe gewesen, zuüberlegen, ob es nicht Gründe gibt, für bestimmte Kon-stellationen Befreiungen zu erwirken. Denn wir wollennatürlich auch keinen Schaden anrichten. Steuerfreiheitfür alle lässt sich allerdings überhaupt nicht rechtferti-gen. Denn Streubesitz kann man mit einem Verhältnis
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Lothar Binding
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unter fremden Dritten vergleichen. Es gibt überhauptkeinen Grund, die Dividendenzahlungen steuerfrei zustellen.Sie haben vorhin die Steuerfreistellung bei derSchachteldividende erwähnt. Das ist ohnehin klar; dasist schon seit langem so. Dies hat nie Probleme gemacht.Dafür gibt es einen guten Grund: Für den Fall eines en-gen Konzernverbunds, wo die Beteiligungsmacht sogroß ist, dass man Einfluss auf seine Tochter, seinen En-kel, seinen Urenkel ausüben will, könnte eine Ausschüt-tungskaskade und im Extremfall eine 100-Prozent-Be-steuerung entstehen. Dies soll vermieden werden.Es wäre aber auch eine gute Idee gewesen, andereLänder zu fragen, was sie machen. Nils Schmid, Finanz-minister in Baden-Württemberg, hat einen guten Vor-schlag gemacht. Er hat gesagt: Lasst uns gemeinsamüberlegen, wie wir die Probleme, die aus der Besteue-rung aller entstehen, für bestimmte Beteiligte lösen kön-nen. Leider ist dieser Ball nicht aufgegriffen worden.
– Das wissen Sie ja noch gar nicht. Sie haben ja noch garnicht vorgetragen, welche Probleme in anderen Model-len entstehen würden.Man müsste sich vielleicht sogar fragen, ob die Steu-erfreistellung der Schachteldividende in der Weise ge-rechtfertigt ist, wie wir immer argumentieren. Denn dieFrage ist: Warum gibt es überhaupt diese überkomplexenKonzernstrukturen? Warum muss ein Konzern neben ei-ner Tochter einen Enkel, einen Urenkel – bis zu einerSchachteltiefe von 15 – haben? Warum muss das sein?Im Regelfall ist die Tochter etwa in Italien, der Enkel inAndorra, der Urenkel in Liechtenstein. Irgendwannkommt das Geld steuerfrei und unter einem anderen Na-men nach Deutschland zurück. Man muss sich überle-gen, ob das überhaupt Sinn macht.
Hier geht es um etwas anderes. Hier geht es um Streu-besitz. Streubesitz sind ganz kleine Beteiligungen. Wennich kleine Beteiligungen habe, bekomme ich wenig Di-vidende. Bei einer geringen Dividende ist die Steuerlastklein, das Problem also nicht groß.
– Ja, das stimmt. Das muss man sich überlegen. Ichwollte nur deutlich machen, dass es nicht um strategi-sche Beteiligungen geht, sondern um Streubesitzbeteili-gungen. Unsere Aufgabe wäre es gewesen, steuersyste-matisch und fiskalpolitisch zu überlegen, was man tut.Das wäre wichtig gewesen; denn es gibt Steuern, wie inmeinem eben angedachten Vorschlag, die kontraproduk-tiv arbeiten. Das wollen wir nicht.
Auch unsere Wirtschaftspolitiker haben den Fingergehoben. Wolfgang Tiefensee sagt: Wir müssen aufpas-sen, dass Wagnisbeteiligungsgesellschaften keine Pro-bleme bekommen. Denn wir brauchen Innovationen.Wir brauchen einen ökologischen Umbau der Industrie-gesellschaft. Wir brauchen auch Existenzgründer. Man-che sprechen auch von Business Angels, obwohl sie hiernicht gemeint sind; denn Business Angels zahlen Ein-kommensteuer und sind von der heutigen Vorlage über-haupt nicht betroffen. Business Angels sind außerdemnicht nur Angels, sie machen auch Business und beteili-gen sich an einem erhöhten Risiko – mit der Erwartungdann auch höheren Gewinns. Man muss also aufpassen.Über die Business Angels debattieren wir aber nicht. DieGründerszene ist uns jedoch wichtig. Deshalb müssenwir schauen, ob wir die Wagnisbeteiligungsgesellschaf-ten nicht anders behandeln sollten als die, die wir an-sonsten besteuern.
– Das wollen wir gar nicht. Die Frage ist, ob wir eine au-ßersteuerliche Lösung finden. Darüber haben Sie garnicht nachgedacht.Im Umfeld von guter Bildung – gute Arbeit ist Ihneneher fremd –, guter Forschung haben die Gründungs-szene und die Wagniskapitalgeber eine eminent hoheBedeutung. Es wäre wichtig gewesen, darüber nachzu-denken, wie wir das Steuersubstrat in Deutschland erhal-ten, ohne diese Szene zu schädigen.Das ist die eigentliche Aufgabe. Haben Sie sich da-rum gekümmert? Leider Fehlanzeige! Das wäre einerichtig gute Aufgabe gewesen. Wenn Sie sich übrigenserinnern: Wir haben das Ganze in der Großen Koalitionschon einmal versucht, nämlich beim MoRaKG, beimGesetz zur Modernisierung der Rahmenbedingungen fürKapitalbeteiligungen.
Die Europäische Kommission hat aber gesagt: Vorsicht,das ist europarechtswidrig. Dann haben wir nach neuenLösungen gesucht. Da hätten Sie sich anschließen müs-sen.
Das haben Sie aber nicht getan. Sie haben einfach ge-sagt: Wir machen alles steuerfrei. Damit haben Sie zwarkein Problem gelöst, dafür aber dem Fiskus und demdeutschen Steuerzahler ein Problem bereitet; denn dieSteuerausfälle der einen sind immer Steuererhöhungenfür die anderen.
Wir sprechen uns dagegen aus; denn wir sind für einegerechte Besteuerung. Dieser ungerechten Besteue-rungstaktik werden wir nicht folgen. Ich bin gespannt,welche Lösungsvorschläge wir in der Debatte noch hö-ren werden.Schönen Dank.
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Lothar Binding
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Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Dr. Volker
Wissing das Wort.
Herr Kollege Binding, das ist heute die erste Lesungdieses Gesetzentwurfs. Es ist noch nicht das Ende desGesetzgebungsverfahrens, sondern erst der Beginn. Jetztmüssen Sie mir einmal in der Öffentlichkeit erklären,weshalb wir Ihnen die Chance genommen haben, sich indieses Gesetzgebungsverfahren einzubringen. Das er-schließt sich mir jedenfalls nicht.
Worum geht es? Der EuGH hat vor einem Jahr festge-stellt, dass ausländische Kapitalgesellschaften, die mitweniger als 10 Prozent an einer deutschen Aktiengesell-schaft beteiligt sind, gegenüber deutschen Kapitalgesell-schaften mit gleicher Beteiligung benachteiligt werden.
Es geht um einen Sachverhalt, der aufgearbeitet werdenmuss. Es ist wahr, dass das Ganze schon einige Zeit zu-rückliegt. Es hat eine breite Diskussion unter Steuer- undFinanzpolitikern auf Landes- und auf Bundesebene ge-geben. Insofern hat die erste Lesung schon einen gewis-sen Vorlauf gehabt.Der Grund für diese Ungleichbehandlung liegt darin,dass bei reinen Inlandssachverhalten die einbehalteneQuellensteuer auf Dividenden mit der Körperschafts-steuerschuld verrechnet werden kann und bei Auslands-bezug wegen der Versagung der Veranlagung eine Defi-nitivbelastung in Höhe von 15 Prozent besteht.Diese Ungleichbehandlung muss jetzt beseitigt wer-den. Was tut die Koalition? Wir erhalten die Steuerfrei-heit inländischer Streubesitzdividenden und führen fürStreubesitzdividenden mit Auslandsbezug ein Verfahrenein, das eine Ungleichbehandlung verhindert, und tragendamit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichts-hofs Rechnung.Dabei orientieren wir uns – Herr Kollege Middelberghat es gesagt – an dem Verfahren, das die Österreichererfolgreich praktizieren. Deutschland wird demnach diegezahlte Kapitalertragsteuer erstatten, wenn eine Ver-rechnung im Anteilseignerstaat nicht möglich ist. Damitbegrenzen wir die zur Erhaltung der inländischen Steuer-freiheit notwendigen Änderungen bei Sachverhalten mitAuslandsbezug auf das europarechtlich gebotene Maß.Ihre Behauptung, dass wir eine unnötig weite Steuer-befreiung gewähren würden, ist nicht wahr; vielmehr be-schränken wir die Steuerbefreiung auf das europarecht-lich notwendige Maß.
Ihr Vorschlag war, Steuererhöhungen für Bürger und Un-ternehmen im Inland umzusetzen. Das wollen wir ver-meiden, weil wir der Überzeugung sind, dass Steuerer-höhungen das Letzte sind, was wir im derzeitigenKonjunkturumfeld verantworten können.
Weil Sie zur Verwirrung der Öffentlichkeit hier be-hauptet haben, es ginge uns um die Steuerbefreiung derGroßen,
will ich noch einmal an Folgendes erinnern: Wer hältdenn klassischerweise Dividenden im Streubesitz? Dassind Kleinanleger, es sind Fonds, Wagniskapitalgeber, essind Business Angels und vor allem Versicherungen.Mit der Einführung der Steuerpflicht für Streubesitz-dividenden käme es zu Mehrfachbesteuerungen, zu Kas-kadeneffekten; denn die dividendenzahlende Kapitalge-sellschaft hat bereits Körperschaftsteuer auf den nunausgeschütteten Gewinnanteil entrichtet. Sie wollen dieBeteiligungserträge aus Streubesitz, und zwar Dividen-den und Veräußerungsgewinne, auch im Inland steuer-pflichtig machen. Das machen Sie sich ja auf der Basisdes Vorschlags der Länder zu eigen. Damit würden Sieaber die private und die betriebliche Altersvorsorge vie-ler Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gefährden.Genau aus diesem Grund sagen die Koalitionsfraktio-nen: Diesen Weg halten wir für unverantwortlich und ge-hen ihn eben nicht.
Sich hier hinzustellen, sich die Vorschläge des Bun-desrates zu eigen zu machen und gleichzeitig zu behaup-ten, man wolle gerade für Start-ups die Situation nichtverschlechtern, ist ein Widerspruch in sich, Herr KollegeBinding.
– Man muss darüber nachdenken, aber es ist immerwichtig, dass man frühzeitig darüber nachdenkt. Wäh-rend Sie sagen, man müsste einmal darüber nachdenken,haben wir bereits darüber nachgedacht und sind zu demErgebnis gekommen, dass man Start-ups unterstützenund sie nicht behindern soll.
Deswegen legen wir diesen Gesetzentwurf heute vor.Ich will daran erinnern: Im Jahr 2009 gab es ein Jah-ressteuergesetz. In der Debatte über dieses Jahressteuer-gesetz wurde schon einmal vorgeschlagen, eine Steuer-pflicht für Beteiligungserträge aus Streubesitz auch fürinländische Sachverhalte zu schaffen. Damals haben
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Dr. Volker Wissing
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CDU/CSU und SPD diesen Vorschlag nicht aufgegrif-fen. Heute wollen Sie von der SPD das Gegenteil vondem tun, was Sie damals getan haben.
Das haben wir heute Morgen beim Betreuungsgeldschon einmal erlebt: Die Dinge, die Sie damals für rich-tig gehalten haben, halten Sie heute plötzlich für ganzfalsch. Ich kann Ihnen versichern: Wir sind nach wie vorder Meinung, dass eine Steuerpflicht für inländischeStreubesitzdividenden wegen der Kaskadeneffekte aufdie Altersversorgung in Deutschland nicht zumutbar ist.
Wir sagen deswegen ganz klar: Die Erhaltung derSteuerfreiheit für inländische Streubesitzdividenden istder richtige Weg. Wir legen einen Gesetzentwurf vorund werden jetzt in die weitere Beratung gehen. Sie kön-nen sich da gerne mit einbringen. Wir werden eine An-hörung durchführen. Sie können auch eigene Vorschlägemachen. Aber uns die Dinge, die Sie schon damals fürfalsch gehalten haben,
heute mit inbrünstiger Überzeugung vorzutragen, über-zeugt uns nicht. Deswegen schlage ich vor: Wenn Sie esmit der Verschonung von Business Angels und Start-upsernst meinen, dann schließen Sie sich diesem Gesetzent-wurf an. Dann haben wir eine gute Lösung für unserLand.Ich bin überzeugt, dass diese Form der Steuerpolitikim Sinne einer nachhaltigen Haushaltspolitik ist: Es istder richtige Weg, nicht nur fiskalisch zu denken, sondernauch an die Unternehmen, die hier etwas aufbauen underreichen wollen. Es ist der richtige Weg, um Investitio-nen nicht aus unserem Land zu vertreiben, sondern sieanzuziehen und so die Attraktivität des Standorts zu er-halten.
Wir haben in den vergangenen Jahren gezeigt, dass so-lide Haushalte ohne Steuererhöhungen möglich sind.Deswegen sollten Sie sich diesem Vorschlag anschlie-ßen. Es ist der richtige Weg, gerade auch in der laufen-den Krise.
Vielen Dank.
Die Rede der Kollegin Dr. Barbara Höll nehmen wirzu Protokoll.1)Nun hat der Kollege Dr. Thomas Gambke für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Vorfelddieser Plenardebatte gab es die Frage, warum wir denndiese Debatte nicht zu Protokoll nehmen. Es ist schonein bisschen anders, als es Herr Kollege Middelberg ge-sagt hat. Er sprach von 650 Millionen Euro; das war einVerkäuferargument. Da hat sich etwas angestaut, HerrMiddelberg: Wir reden hier nach Angaben des Bundes-finanzministers über eine Summe von 3 Milliarden Euroin den nächsten beiden Jahren. Deswegen wollen wir dieDebatte nicht einfach so zu Protokoll nehmen. Alle Weltredet von der Haushaltskonsolidierung.
Da wollen wir nicht, dass eine Debatte über 3 MilliardenEuro einfach so, en passant, durch den Deutschen Bun-destag geht, auch nicht in der ersten Lesung.
Sie haben gesagt, worum es geht: Es geht um dieSteuerfreiheit von Streubesitzdividenden. In der Tat: DerGesetzgeber wollte mit der vorliegenden Regelung diesogenannte Kaskadenbesteuerung auf der Ebene des An-teilseigners und dann im Unternehmen verhindern; erwollte sie vermeiden. Diese Steuerfreiheit gilt nicht fürGesellschaften, bei denen der Anteilseigner im Auslandansässig ist. Diese Ungleichbehandlung hat der EuGH,der Europäische Gerichtshof, für nicht zulässig erklärt.So weit, so gut.Ich denke, wir sollten uns Kriterien überlegen. Ausgrüner Sicht sind das folgende:Erstens. Wir dürfen nicht zulassen, dass es zu Steuer-mindereinnahmen kommt.Zweitens. Wir wollen, dass ausländische Gesellschaf-ten nicht benachteiligt werden; aber sie dürfen auchnicht bessergestellt werden als deutsche Unternehmen.
Drittens. Wir müssen aufpassen, dass über eine solcheRegelung keine Möglichkeiten zur Steuergestaltung überdas Ausland geschaffen werden, wodurch das Steuerauf-kommen sinken würde.Der Bundesrat schlägt vor, die Steuerfreiheit vonStreubesitzdividenden aufzuheben. In der Tat würde daszu einer Kaskadenbesteuerung führen, die wir kritischsehen. Wir sehen auch kritisch, dass es zumindest ohneweitere Anpassungen negative Auswirkungen auf dieFinanzierung junger Unternehmen hätte.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Freitag, den 9. November 2012 25087
Dr. Thomas Gambke
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Keine Frage; denn bei diesen geringen Beteiligungen istes in der Tat typisch, dass Investoren ihre Investmentsganz bewusst streuen, um damit das höhere Risiko aus-zugleichen. Wenn wir den Streubesitz besteuern, dannwird die Finanzierung zumindest ohne weitere Anpas-sungsmaßnahmen erschwert. Das ist genau das Gegen-teil von dem, was wir wollen.
Das hat auch die Regierung verstanden, aber sie gehtins andere Extrem. Sie will auch ausländischen Streube-sitz steuerfrei stellen. Das führt aber zu erheblichen Ein-nahmeausfällen – ich sage es noch einmal –, kumuliertin den nächsten beiden Jahren in Höhe von 3 Milliarden.Wir stellen damit die ausländischen Unternehmen besserals inländische, weil sie keine Gewerbesteuer zahlen.Wir würden also neben den erheblichen Einnahmeaus-fällen auch einen deutlichen Anreiz zur Steuergestaltungbieten. Das können wir nicht zulassen. Wir wollen keineweiteren Anreize für Steuergestaltung schaffen.Ich plädiere dafür, einen dritten Vorschlag zu prüfen,nämlich die Schaffung einer Veranlagungsoption fürausländische Gesellschaften in Deutschland. Schon beianderen Verstößen gegen die Grundfreiheiten des Bin-nenmarktes hat Deutschland Regelungen getroffen, diees dem Ausländer erlauben, sich wie ein Inländer vollbesteuern zu lassen, zum Beispiel im Erbschaftsteuer-recht. Wir schlagen eine analoge Regelung vor, die ausunserer Sicht auch bei der Dividendenbesteuerung mög-lich wäre. In Deutschland würden die ausländischen Ge-sellschaften bei der Ausschüttung ihrer Dividenden wieInländer zur Körperschaftsteuer und zur Gewerbesteuerveranlagt. Damit würde in Deutschland für Inländer wiefür Ausländer die gleiche Steuerlast gelten.
So eben mal am Freitagnachmittag 3 Milliarden EuroEinnahmeverluste durchwinken, das können wir nichttun, auch nicht in erster Beratung, Herr Wissing.Wir wollen erstens die innovativen Unternehmen inDeutschland stärken und nicht schwächen. Wir wollenzweitens Steuerumgehungen vermeiden. Wir wollenDeutschland nicht zu einer Steueroase machen. Das sinddie Randbedingungen, die wir beachten müssen. LassenSie uns an solchen Lösungen arbeiten, aber nicht mit derjetzt vorgeschlagenen Lösung durchs Ziel gehen. Dasdarf nicht das Ergebnis sein.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/11314 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Dienstag, den 20. November 2012, 10 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.