Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichbegrüße Sie zu unserer Plenarsitzung.Bevor wir in die heutige Tagesordnung eintreten,möchte ich zunächst dem Kollegen Reinhold Sendkerzu seinem 60. Geburtstag gratulieren, den er gestern ge-feiert hat. Alle guten Wünsche im Namen des gesamtenHauses!
Nun müssen wir noch drei Wahlen durchführen:Die CDU/CSU-Fraktion schlägt vor, den KollegenDr. Michael Meister für eine weitere Amtszeit als Mit-glied des Verwaltungsrates der Kreditanstalt fürWiederaufbau zu berufen. Die SPD-Fraktion benenntfür die neue Amtsperiode erneut den Kollegen HubertusHeil als Mitglied des Verwaltungsrates. Sind Sie mit bei-den Vorschlägen einverstanden? – Das ist offensichtlichder Fall. Dann sind die Kollegen Dr. Michael Meisterund Hubertus Heil für eine weitere Amtszeit als Mitglie-der des Verwaltungsrates gewählt.Für die neue Amtszeit des Beirates beim Bundes-beauftragten für die Unterlagen des Staatssicher-heitsdienstes der ehemaligen DDR gemäß § 39 Abs. 1des Stasi-Unterlagen-Gesetzes schlägt die FDP-Fraktionvor, den Kollegen Patrick Kurth als Mitglied zu wäh-len. Darf ich auch zu diesem Vorschlag Ihr Einverständ-nis feststellen? – Das ist offensichtlich der Fall. Damitist der Kollege Kurth für die neue Amtszeit als Mitglieddes Beirates gewählt.
Schließlich schlägt die SPD-Fraktion vor, als Nach-folgerin der ausgeschiedenen Kollegin Nicolette Kressldie Kollegin Petra Hinz als stellvertretendes Mitglied inden Beirat zur Auswahl von Themen für die Sonder-postwertzeichen ohne Zuschlag beim Bundesfinanz-ministerium zu wählen.
– Ich nehme mit besonderer Erleichterung zur Kenntnis,dass Sie offenkundig auch die einschränkende Bemer-kung, dass damit kein Zuschlag verbunden ist, demütigakzeptieren. – Sind Sie mit diesem Vorschlag einverstan-den? – Das ist offensichtlich der Fall. Damit ist die Kol-legin Petra Hinz „ohne Zuschlag“ für die neue Amtszeitals Mitglied des Programmbeirates gewählt.Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundeneTagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge-führten Punkte zu erweitern:ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionender CDU/CSU und FDP:Soziale Situation der Kinder in Deutschlandverbessert in Zeiten christlich-liberaler Regie-rungspolitik
ZP 2 Wahl des Vizepräsidenten des Bundesrech-nungshofesZP 3 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. KarlLauterbach, Elke Ferner, Bärbel Bas, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPDPraxisgebühr sofort abschaffen– Drucksache 17/11192 –b) Beratung des Antrags der Abgeordneten HaraldWeinberg, Dr. Martina Bunge, Diana Golze, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKEPraxisgebühr jetzt abschaffen– Drucksache 17/11141 –c) Beratung des Antrags der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENPraxisgebühr und Zusatzbeiträge jetzt ab-schaffen– Drucksache 17/11179 –
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-fahrenErgänzung zu TOP 48Beratung des Antrags der Abgeordneten GeroldReichenbach, Michael Hartmann ,Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPDEuropäische Harmonisierung im Datenschutzauf hohem Niveau sicherstellenhier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta-ges nach Artikel 23 Absatz 3 des Grundgeset-zes i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zusam-menarbeit von Bundesregierung undDeutschem Bundestag in Angelegenheiten derEuropäischen Union– Drucksache 17/11144 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und MedienZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion derSPD:Haltung der Bundesregierung zu Äußerungendes Vizekanzlers Dr. Rösler, das Betreuungs-geld koste viel Geld, sei nicht gegenfinanziertund eine Bildungskomponente fehle völligZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-nologie zu dem Antrag der Abge-ordneten Garrelt Duin, Hubertus Heil ,Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPDChancen nutzen – Vorsorgende Wirtschafts-politik jetzt einleiten– Drucksachen 17/8346, 17/8642 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Georg NüßleinZP 7 Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Rosemarie Hein, Dr. Ilja Seifert, Diana Golze,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEGemeinsam lernen – Inklusion in der Bildungendlich umsetzen– Drucksache 17/11143 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend HaushaltsausschussAußerdem werden die Tagesordnungspunkte 4, 5, 22und 24 abgesetzt.Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-weit erforderlich, abgewichen werden.Darüber hinaus kommt es zu den in der Zusatzpunkt-liste dargestellten weiteren Änderungen des Ablaufs un-serer Tagesordnung.Schließlich darf ich noch auf mehrere nachträglicheAusschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunkt-liste aufmerksam machen:Der am 27. September 2012 überwie-sene nachfolgende Gesetzentwurf und die mit diesemverbundene Unterrichtung sollen zusätzlich dem Aus-
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zurÄnderung des Energiesteuer- und des Strom-steuergesetzes– Drucksache 17/10744, 17/10797 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GODer am 18. Oktober 2012 überwiesenenachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Aus-schuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher-schutz zur Mitberatung überwiesenwerden:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes undanderer umweltrechtlicher Vorschriften– Drucksache 17/10957 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzGibt es Widerspruch hierzu im Ganzen oder zu einereinzelnen der vorgetragenen Veränderungen? – Das istnicht der Fall. Dann ist das hiermit so beschlossen.Wir kommen nun zu unserem Zusatzpunkt 2:ZP 2 Wahl des Vizepräsidenten des Bundesrech-nungshofesNach § 5 Abs. 1 des Gesetzes über den Bundes-rechungshof wählen der Deutsche Bundestag und derBundesrat jeweils ohne Aussprache auf Vorschlag derBundesregierung den Vizepräsidenten des Bundesrech-nungshofes.Zur Wahl sind die Stimmen der Mehrheit der Mitglie-der des Bundestages, das heißt mindestens 311 Ja-Stim-men erforderlich.
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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Die Bundesregierung schlägt mit Schreiben vom24. Oktober 2012 vor, den Kollegen Christian Ahrendtzum Vizepräsidenten des Bundesrechnungshofes zuwählen.Ich gebe Ihnen einige Hinweise zum Wahlverfahren.Für die Wahl benötigen Sie Ihren blauen Wahlausweis,den Sie bitte, soweit Sie das noch nicht getan haben, Ih-rem Stimmkartenfach entnehmen. Weiterhin benötigenSie den blauen Stimmzettel mit Wahlumschlag. DieseUnterlagen erhalten Sie von den Schriftführerinnen undSchriftführern an den Ausgabetischen vor den Wahlkabi-nen. Dort zeigen Sie bitte Ihren Wahlausweis vor.Die Wahl ist geheim. Das heißt, Sie dürfen IhrenStimmzettel nur in einer der Wahlkabinen ankreuzen unddort in den Wahlumschlag legen. Andernfalls wäre dieStimmabgabe ungültig. Die Wahl kann gegebenenfallsvorschriftsmäßig wiederholt werden. Die Schriftführe-rinnen und Schriftführer bitte ich, darauf zu achten. Gül-tig sind nur Stimmzettel mit einem Kreuz bei „Ja“,„Nein“ oder „Enthalte mich“. Ungültig sind demzufolgeStimmzettel, die entweder kein Kreuz oder mehr als einKreuz, andere Namen oder Zusätze enthalten.Übergeben Sie bitte, bevor Sie den Wahlumschlag ineine der Wahlurnen werfen, Ihren Wahlausweis einemder Schriftführer an der Wahlurne. Die Abgabe desWahlausweises dient als Nachweis der Teilnahme an derWahl. Kontrollieren Sie daher, ob der Wahlausweis IhrenNamen trägt.Ich darf nun die Schriftführerinnen und Schriftführerbitten, die vorgesehenen Plätze einzunehmen und mir zusignalisieren, ob das jeweils in der erforderlichen Anzahlder Fall ist. – Links fehlt noch ein Schriftführer.Dann eröffne ich hiermit die Wahl.Haben alle Mitglieder des Hauses ihre Stimmzettelabgegeben?
– Okay.Zweiter Versuch: Haben nun alle anwesenden Mit-glieder des Bundestages ihre Stimmzettel abgegeben? –Das scheint der Fall zu sein.Dann schließe ich hiermit den Wahlgang und bitte dieSchriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-lung zu beginnen. Das Ergebnis der Wahl geben wir Ih-nen nach der Auszählung, während des nächsten Tages-ordnungspunktes, bekannt.1)Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 bauf:a) – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-nen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zu Änderungen im Be-reich der geringfügigen Beschäftigung– Drucksache 17/10773 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Arbeit und Soziales
– Drucksache 17/11174 –Berichterstattung:Abgeordneter Max Straubinger– Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung– Drucksache 17/11178 –Berichterstattung:Abgeordnete Axel E. Fischer Bettina HagedornDr. Claudia WintersteinDr. Gesine LötzschPriska Hinz
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Sabine Zimmermann, Jutta Krellmann, DianaGolze, weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKEMinijobs mit sozialversicherungspflichtigerArbeit gleichstellen– Drucksachen 17/7386, 17/11174 –Berichterstattung:Abgeordneter Max StraubingerÜber den Gesetzentwurf werden wir später nament-lich abstimmen.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 75 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-nächst dem Kollegen Karl Schiewerling für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Union und FDP legen heuteeinen Gesetzentwurf zu Änderungen im Bereich der ge-ringfügigen Beschäftigung vor.
Grund ist, dass wir seit 2003 im Bereich der geringfü-gigen Beschäftigung keine Anhebung der Geringfügig-keitsgrenze hatten und dass es um einen Inflationsaus-gleich geht, was ein Stück Gerechtigkeit zu den in dieserZeit tatsächlich stattgefundenen Reallohnsteigerungenherstellt.Meine Damen und Herren, wir wissen, dass Minijobsin der Diskussion sind. Minijobs sind nichts Neues. Vor100 Jahren, 1911, wurde in der Reichsversicherungsord-nung festgelegt, dass vorübergehende Dienstleistungenversicherungsfrei blieben. 1977 wurde zum ersten Malder Begriff „geringfügige Beschäftigung“ eingeführt. 1) Ergebnis Seite 24238 A
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1999 hatten wir die Angleichung zwischen Ost undWest. Im Rahmen dieser Angleichung war geklärt wor-den, dass die Menschen unter gleichen Bedingungen ar-beiten sollen.Die Entwicklung der Minijobs bekam allerdings ei-nen Schub, und zwar 2003, als im Rahmen der Hartz-II-Gesetze eine neue Regelung eingeführt wurde, nämlichdass man zu seiner ordentlichen sozialversicherungs-pflichtigen Beschäftigung noch einen Minijob dazu ha-ben konnte. Seitdem ist die Zahl der Minijobs explo-sionsartig auf 2,5 Millionen gestiegen.Minijobs sind geschaffen worden, um Menschen ausder Schwarzarbeit herauszuholen.
Sie sind geschaffen worden, um das einzubeziehen, wasbisher unter steuerlichen und sozialrechtlichen Gesichts-punkten nicht berücksichtigt wurde, und um den Men-schen die Möglichkeit zu geben, sich in der Sozialversi-cherung abzusichern.Unser Gesetz, dessen Entwurf Ihnen vorliegt, siehteine Erhöhung der Entgeltgrenze bei der geringfügigenBeschäftigung von 400 auf 450 Euro und beim Gleitzo-nenentgelt von 800 auf 850 Euro vor. Gleichzeitig legenwir mit diesem Gesetz fest, dass Menschen, die eine ge-ringfügige Beschäftigung ausüben, von Anfang an ren-tenversicherungspflichtig sind; das ist neu. Bisher sindsie es nicht. Bisher müssen sie ausdrücklich erklären,wenn sie es sein wollen. Mit diesem Gesetz ändern wirdie geltende Regelung. Die Betreffenden müssen aus-drücklich erklären, dass sie nicht rentenversicherungs-pflichtig sein wollen. Ich halte das für einen wichtigenSchritt im Bereich der Sozialpolitik. Ich glaube, dass wirvielen Menschen in diesem Land damit einen Gefallentun und so das Bewusstsein dafür, dass man mit einemMinijob den Schutz der Rentenversicherung bekommenkann, schärfen. Ich hoffe sehr, dass es viele Menschengibt, die die Chancen, die damit verbunden sind, tatsäch-lich erkennen und nutzen.
In Zukunft wird es so sein, dass nach einer bestimm-ten Karenzzeit der Arbeitgeber die Verantwortung dafürträgt, dass die Arbeitnehmer, die er im Rahmen eines ge-ringfügigen Beschäftigungsverhältnisses einstellt, überdie Vorteile der Rentenversicherung informiert werden. Ermuss dokumentieren, dass er die Unterlagen der Knapp-schaft ausgehändigt hat und seiner Informationspflichtnachgekommen ist. Die Vorteile der Rentenversicherungsind eindeutig. Mit der Rentenversicherungspflicht er-wirbt man schon in jungen Jahren Rentenanwartschaf-ten. Man erwirbt über diesen Weg die Möglichkeit,Schutz vor Invalidität zu bekommen. Man hat zudem einRecht auf Rehabilitation. Die sozialversicherungspflich-tige Beschäftigung eröffnet den Arbeitnehmern dieMöglichkeit, am Riester-Sparen teilzunehmen. Ich haltedas für einen wichtigen Fortschritt. In der Anhörung istdieser Schritt einhellig von allen begrüßt worden.
Wir haben heute 7,3 Millionen geringfügige Beschäf-tigungsverhältnisse. Davon üben 2,5 Millionen Beschäf-tigte die geringfügige Beschäftigung als Nebenjob aus.Das heißt, sie haben eine ordentliche sozialversiche-rungspflichtige Beschäftigung und verdienen sich da-rüber hinaus im Rahmen einer geringfügigen Beschäfti-gung Geld hinzu. Ich weiß, dass schnell gesagt wird, dassei Ausdruck purer Armut und Verelendung. Könnte essein, dass die Menschen die Freiheit, die sich hier ergibt,gerne nutzen wollen? Könnte es sein, dass sie die Mög-lichkeit nutzen wollen, sich über diesen Weg den einoder anderen Wunsch zu erfüllen? Aber es kann auchsein – das will ich nicht in Abrede stellen –, dass dieMenschen über diesen Weg die Möglichkeit haben, ihrefinanziellen Grundlagen bzw. ihr Familieneinkommenzu verbessern.Insgesamt ist festzustellen, dass von den 7,3 Millio-nen geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen etwa20 Prozent Rentnerinnen und Rentner und etwa 20 Pro-zent Jugendliche, Schüler und Studenten sind. Dasmacht deutlich, dass es gerade in diesem Bereich trotzder große Spannbreite viele Menschen gibt, die ein Inte-resse haben, dass Minijobs als gestaltende Möglichkeiterhalten bleiben.
Natürlich will ich nicht in Abrede stellen, dass MinijobsGefahren mit sich bringen, dass es Branchen gibt, dieglauben, allein über den Weg der geringfügigen Beschäf-tigungsverhältnisse ihren Betrieb aufrechtzuerhalten. Ichhalte das auch unter betrieblichen Gesichtspunkten füreinen völligen Irrglauben. Das wird nicht gut gehen. DerHandelsverband Deutschland hat uns mitgeteilt, dass nur2 000 der in den letzten Jahren entstandenen 26 000 Be-schäftigungsverhältnisse Minijobs sind; dem stehen24 000 ordentliche sozialversicherungspflichtige Be-schäftigungsverhältnisse gegenüber.
Das zeigt: Die Branche beschreitet in diesem Bereichneue Wege. Dies begrüßen wir ausdrücklich.
Ich hoffe sehr, dass die Menschen die Möglichkeitennutzen, die wir ihnen eröffnen, und dass wir sie auf ih-rem weiteren Weg in eine sozialversicherungspflichtigeBeschäftigung ein gutes Stück unterstützen. Immerhinhat ein Drittel aller Minijobber den Weg in ein sozialver-sicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis gefun-den.
– Frau Kollegin Ferner, wenn zwei Drittel den Weg dort-hin nicht gefunden haben, dann heißt das nicht, dass sieihn nicht gehen durften. Viele von ihnen wollten ihnauch nicht gehen,
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weil sie sich bewusst für diesen Schritt entschieden ha-ben.Ich hoffe sehr, dass der jetzt eingeschlagene Weg zueiner guten Entwicklung führen wird.
Wir bitten Sie um Ihre Unterstützung unseres Gesetzent-wurfs.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf der Ehrentri-
büne hat die Präsidentin des Parlaments der Republik
Island, Frau Asta Johannesdottir, mit ihrer Delega-
tion Platz genommen.
Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich
begrüße Sie im Namen des ganzen Hauses. Für Ihren
Aufenthalt in Deutschland, Ihre Besuche sowie für die
weiteren Gespräche wünschen wir Ihnen alles Gute. Wir
freuen uns über die immer enger werdenden Verbindun-
gen zwischen unseren beiden Parlamenten. Vielen Dank
für Ihr Interesse.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Anette Kramme für
die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir haben folgende Tatsache zu beobachten:In dieser Legislaturperiode wurde uns bislang von derArbeitsministerin lediglich eine Handvoll von Gesetzenvorgelegt. Jetzt aber geht es wahrlich Schlag auf Schlag,ein Gesetzentwurf jagt den anderen – zum Rentenbei-trag, zur Unfallversicherung, zu den Minijobs.
Sogar bei den Regelungen für die Bezirksschornsteinfe-ger wird an den Stellschrauben gedreht. Das artet in ge-radezu hektischen Aktionismus aus. Aber Sie wissen:Mit hektischem Aktionismus geht immer schlechte Qua-lität einher.
Man glaubt nicht, dass diese Arbeitsministerin sage undschreibe drei Jahre Zeit hatte, um über die erwähntenGesetzentwürfe nachzudenken.Heute beraten wir abschließend über das Thema Mini-jobs. Am Freitag hat Ministerin Schröder auf einer Kon-ferenz des Bundesministeriums für Familie, Senioren,Frauen und Jugend 45 Minuten über die Minijobs gespro-chen, den eigenen Gesetzentwurf jedoch noch nicht ein-mal erwähnt.Die Unionsabgeordnete Winkelmeier-Becker hat ge-sagt: Dieser Gesetzentwurf ist nicht das Konzept derUnionsfraktion. – Herr Schiewerling, bei Ihnen hat sichdas etwas anders angehört. Auf der Webseite des Fami-lienministeriums – Sie gestatten mir, dass ich zitiere –heißt es:Im Idealfall sind Minijobs ein Übergang in die so-zialversicherungspflichtige Beschäftigung. Häufigwerden sie aber diesem Anspruch nicht gerecht.… Die Attraktivität einer Beschäftigung im Mini-job … wandelt sich mit der Zeit oftmals in Ernüch-terung über Entwicklungschancen, Einkommens-perspektiven und Alterssicherungsansprüche um.Im ersten Gleichstellungsbericht der Bundesregierungaus dem Jahr 2011 heißt es, Lebensverläufe in Minijobsseien desaströs.
Meine Damen und Herren in der Union, ist das nichtziemlich eindeutig? Für Rentner und Studenten mögenMinijobs eine gewisse Attraktivität haben. Dabei wärees manchmal sinnvoller, wenn auch Studenten einer so-zialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgingen.
Aber für die meisten anderen Menschen werden Minijobszur biografischen Sackgasse. Minijobber erhalten weit-aus weniger Stundenlohn. Im Jahr 2006 waren es imDurchschnitt 9 Euro; Vollzeitbeschäftigte hatten 18 Euro.Es gibt Diskriminierung bei bezahltem Urlaub oder beimMutterschutz. Im Jahr 2004 erhielt nicht einmal jederDreizehnte Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall; vonden sozialversicherungspflichtig Beschäftigten waren esweitaus mehr. Es gibt Rentenarmut bei Frauen vor allenDingen aus dem Westen. Ich habe mir gestern die Zahlenaus der AVID-Studie herausgesucht. 50 Prozent Frauenim Westen haben im Durchschnitt sieben Jahre einen Mi-nijob in ihrer Erwerbsbiografie. Das bedeutet massiveEinbußen bei der Altersrente.
10 Prozent der Frauen üben 13, 14, 15 oder sogar16 Jahre einen Minijob aus.
Viele Frauen haben oft keine Wahl – gerade nach derBabypause –, einen anderen Job als einen Minijob zu be-kommen. Im Handel sind über viele Jahre sozialversi-cherungspflichtige Jobs vernichtet worden. Genausosieht es in der Gastronomie aus. Wenn Sie sagen, HerrSchiewerling, im Bereich des Handels habe sich etwasverändert, dann kann ich nicht nachvollziehen, dass dieZahl der Minijobs dennoch weiter ansteigt.
All diese Probleme kommen aber in Ihrem Gesetzent-wurf nicht vor. Sie machen zweierlei: Sie nehmen eine
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Anette Kramme
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Ausweitung der Minijobgrenzen vor und sorgen damitfür eine Verfestigung dieser katastrophalen Beschäfti-gungsform. Sie sagen, es solle eine Versicherungspflichtmit der Möglichkeit des Opt-out geben, schreiben abergleichzeitig, dass diese Möglichkeit so gut wie gar nichtin Anspruch genommen werden wird.
Die Erhöhung der Schwellenwerte ermöglicht es nochleichter, normale Jobs in Minijobs zu zerlegen.
Es geht angeblich um eine Anpassung an die allgemeineEinkommensentwicklung. Aber der Durchschnittsver-dienst liegt nur bei 220 Euro. Es ist eine Illusion, davonauszugehen, dass Arbeitgeber die Stundenlöhne erhöhenwerden, und auch Minijobber wollen tatsächlich höhereStundenzahlen haben; wir haben dies erst in der Sach-verständigenanhörung vernommen. Tatsächlich wollensie circa 20 Stunden und nicht lediglich 12 Stunden inder Woche arbeiten.Wir brauchen etwas anderes. Wir brauchen eineRückführung der Minijobs.
Es geht im Prinzip um Folgendes: Wir brauchen eineÄnderung des Teilzeit- und Befristungsgesetzes, sodassTeilzeitbeschäftigung auch befristet ausgeübt werdenkann und Frauen so wieder einer regulären Vollzeitbe-schäftigung nachgehen können. Es gibt im Teilzeit- undBefristungsgesetz einen Rechtsanspruch auf Aufsto-ckung der Arbeitszeit. Leider kennt niemand diesen An-spruch; vielleicht müssen wir ihn noch genauer und bes-ser formulieren, damit sich daraus mehr Chancenergeben.Wir sollten überlegen, das Nachweisgesetz zu ändern,weil gerade Minijobber häufig keine Arbeitsverträge be-kommen. Wir sollten überlegen, dies – genauso wie imBerufsausbildungsgesetz – strafbewehrt zu gestalten,also Verstöße mit einer Geldbuße zu belegen.
Wir sollten, damit die Hürde bei 400 auf 401 Euro leich-ter überwunden wird, über die Einführung einer Gleit-zeitzonenregelung nachdenken, wie es beispielsweisedas Institut Arbeit und Qualifikation vorsieht.Meine Damen und Herren, zuallerletzt sei noch etwaszur Rentenversicherung gesagt: Ihre angebliche Absi-cherung verkommt zur Marginalie. Ihr Tiger ist nicht nurzahnlos, er ist ein pazifistischer Vegetarier.In diesem Sinne herzlichen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Johannes Vogel für
die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Entgegen dem, was hier jetzt wieder von der Oppositionbehauptet wurde, sind Minijobs ein Teil des erfolgrei-chen deutschen Arbeitsmarkts, der von vielen Menschengebraucht und gewollt wird. Das werden Sie nicht weg-diskutieren können.
Das ist so, weil Minijobs Menschen in ganz unterschied-lichen Lebenssituationen die Möglichkeit geben, sichunkompliziert etwas dazuzuverdienen. Da sind in der Tatdie Studenten. Ich kenne das aus eigener Erfahrung:Auch ich habe als Schüler und Student schon im Minijobdazuverdient. So ist es auch heute. So sind heute Mini-jobber zum Beispiel in großer Zahl Menschen wie eineStudentin, die nebenher kellnert, um sich das Studium zufinanzieren.Minijobs sind aber noch mehr. Sie eröffnen zum Bei-spiel einem Feuerwehrmann die Möglichkeit, am Wo-chenende im Cateringservice noch tätig zu sein und sichetwas dazuzuverdienen. Sie stellen zum Beispiel aucheine Möglichkeit für eine Seniorin dar, die im Haushaltihrer Nachbarin noch aushelfen will, dies ebenso un-kompliziert zu tun –
– weil sie es will –, um nur drei Beispiele aus meinempersönlichen Bekanntenkreis zu nennen. Weil Minijobsden Menschen diese Möglichkeiten bieten und gewolltund gebraucht werden, ist es auch richtig und nur fair,nach zehn Jahren einen Inflationsausgleich zu ermög-lichen und die Grenze auf 450 Euro anzuheben.
Es ist auch richtig, dass wir das Versicherungsprinzipin der Rentenversicherung umkehren und einen Wechselvon Opt-in zu Opt-out vornehmen. So wird dafür ge-sorgt, dass der, der sich keine Gedanken macht, automa-tisch in der Rentenversicherung abgesichert ist und zumBeispiel eine Erwerbsminderungsrente und die Riester-Förderung in Anspruch nehmen kann. Gleichzeitig wirdaber niemand, der das in seiner Lebenssituation nichtwill, gezwungen, mehr abzuführen als heute. Das ist einemaßvolle Regelung, und auch das hat uns die Anhörungam vergangenen Montag bestätigt, wie Herr KollegeSchiewerling schon gesagt hat.Schauen wir uns doch einmal an, was den Minijobsalles vorgeworfen wird – Sie haben das ja eben auchwieder ausgeführt –: Es kam eben bei Ihnen, liebe FrauKollegin Kramme, zum Beispiel die Behauptung, Mini-jobs hätten in einigen Branchen dazu geführt, dasssozialversicherungspflichtige Beschäftigung durch Mi-nijobs ersetzt wurde. Machen wir einmal einen Realitäts-test. Interessanterweise beschäftigen drei Viertel der Ar-beitgeber, die Minijobber haben, überhaupt nur dreiMinijobber. Um eine sozialversicherungspflichtigeStelle zu ersetzen, brauchten sie schon vier. Das kannalso nicht aufgehen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Folgerichtig ist in den vergangenen Jahren die sozialver-sicherungspflichtige Beschäftigung stärker gestiegen alsdie Zahl der Minijobs. Dies führt dazu, dass der Anteilder Minijobs am Arbeitsmarkt eben nicht zunimmt. WeilSie das nicht glauben, habe ich Ihnen einmal die Grafikder Minijobzentrale mitgebracht. Hier ist die Kurve desAnteils der Minijobs an der sozialversicherungspflichti-gen Beschäftigung zu sehen. Gäbe es eine Ersetzung,müsste die Kurve hochgehen; sie ist aber flach.
Das zeigt: Ersetzung sieht anders aus, sie findet einfachnicht statt.
Der zweite Vorwurf, der immer wieder erhoben wird,lautet, Minijobs würden niedrig entlohnt. Da zitiere ich,weil Sie es uns nicht glauben, einmal das StatistischeBundesamt. Ihm werden Sie ja wohl glauben und esnicht in Abrede stellen.
Es sagt uns:Für geringfügig Beschäftigte ist zu beachten, dass sieim Unterschied zu anderen Beschäftigungsformenkaum Abzüge für Lohnsteuer und Sozialversiche-rung haben. Viele geringfügig Beschäftigte stehendeshalb netto besser da, als der am Bruttoverdienstgemessene … Anteil an Niedriglohnbeziehern ver-muten lässt.
Der mittlere Nettoverdienst von Minijobbern liegt bei70 Prozent des Durchschnittsverdienstes. Die Kenner imAusschuss wissen, dass dies oberhalb der Niedriglohn-schwelle liegt. Im Klartext, auf Deutsch: Minijobs habenmit Niedriglohn im Regelfall eben nichts zu tun,
und das, obwohl Minijobs ja nun in aller Regel nicht inder Neurochirurgie angeboten werden. Das sollten Siezur Kenntnis nehmen.
Das sagt nicht die Koalition, sondern das sagt uns dasStatistische Bundesamt.Das dritte Argument, das immer genannt wird, lautet,Minijobs stellten eine Sackgasse für Frauen dar.
Damit muss man sich ernsthaft beschäftigen, weil wiralle wollen, dass der Anteil der Frauen an der Erwerbstä-tigkeit gerade in Zeiten des Fachkräftemangels hoch-geht.
Nur, stellen die Minijobs hier das Problem dar? Da mussman sich erst einmal vergegenwärtigen, dass die über-große Mehrheit der Minijobber nicht mehr als einenMinijob ausüben will; das zeigen uns alle Umfragen. Siesind in einer Lebenssituation, in der sie nur einen Mini-job wollen. Ein Drittel der Minijobber ist übrigens unter25 oder über 60 Jahre alt. Sie wollen nur einen Minijobmachen.
Die Altersgruppe der 20- bis 25-Jährigen ist unter denMinijobbern am stärksten vertreten. Das sind in der Re-gel Studenten, die nur einen Minijob machen wollen.Das dürfen Sie auch nicht vergessen, wenn Sie sich die-ses Instrument anschauen.In der Tat sind Frauen unter den Minijobbern – diegerne mehr arbeiten würden, das ist die Minderheit – inder Mehrheit; das stimmt.
Die Frage ist aber doch: Liegt das an den Minijobs, dasssie nicht mehr als einen Minijob ausüben können, ob-wohl sie mehr arbeiten wollen? Liegt das nicht an etwasanderem, Frau Kollegin Ferner, zum Beispiel daran, dasses nicht genug Betreuung gibt? Oder liegt das nicht zumBeispiel daran, dass es immer noch die Steuerklasse Vgibt?
Und sollten wir das dann nicht ändern? Da könnten wirgemeinsam agieren. Nur dafür kann der Minijob nichts.Insofern ist es falsch, dass Sie hier die Minijobs diskre-ditieren; das bringt nichts.Ich habe es Ihnen schon in erster Lesung gesagt:Wenn Ihr Auto einen Motorschaden hat und Sie es sichnicht leisten können, den Motor auszutauschen, dannwechseln Sie auch nicht das Getriebe aus. Das wäre rei-ner Aktionismus und würde nichts zur Lösung des Pro-blems beitragen. Ein solcher Aktionismus würde aberauf dem Rücken der Minijobber ausgetragen, die einenMinijob wollen und brauchen. Sie sollten mit solchenArgumenten nicht die Minijobs diskreditieren.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ich halte abschließend fest: Die Kritikpunkte betref-fend die Minijobs halten einer Überprüfung nicht stand.Sie sollten die These, auf dem deutschen Arbeitsmarktsei alles schlecht, überdenken – Sie versuchen immerwieder, dies anhand der Minijobs zu belegen – und dieDiskussion nicht auf dem Rücken der Minijobber austra-
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Johannes Vogel
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gen. Wir machen das nicht, nehmen stattdessen denüberfälligen Inflationsausgleich vor und erhöhen dieVerdienstgrenze auf 450 Euro; wir werden das machen.Ich finde es schade, dass Sie nicht zustimmen. Für die7 Millionen Minijobber draußen im Land ist es in jedemFalle das Richtige.Vielen Dank.
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile,
komme ich zu unserem Zusatzpunkt 2 zurück und gebe
Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern
ermittelte Ergebnis der Wahl des Vizepräsidenten des
Bundesrechnungshofes bekannt: abgegebene Wahlaus-
weise 561, abgegebene Stimmen 561. Davon haben mit
Ja gestimmt 449,
mit Nein haben gestimmt 55. 57 Mitglieder des Hauses
haben sich der Stimme enthalten.1) Ungültige Stimmen
hat es nicht gegeben. Damit hat der Kollege Christian
Ahrendt die erforderliche absolute Mehrheit erreicht. Ich
darf dem Kollegen Ahrendt zu seiner Wahl durch den
Deutschen Bundestag die herzlichen Glückwünsche des
Hauses aussprechen.
Das Ergebnis der Wahl werde ich der Frau Bundeskanz-
lerin und dem Herrn Präsidenten des Bundesrates zu
weiterer Veranlassung mitteilen.
Wir setzen nun die Aussprache zum Tagesordnungs-
punkt 3 fort. Nächste Rednerin ist die Kollegin Diana
Golze für die Fraktion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen undKollegen! Ich habe einmal ein paar Zeitungsüberschrif-ten mitgebracht, übrigens nicht aus der taz oder der jun-gen Welt. Zum Beispiel titelte Die Welt am 3. Oktober:„Studie: Minijobs sind ‚Falle‘ für Frauen“. Die Rheini-sche Post erklärte am gleichen Tag: „Minijobs verschär-fen den Fachkräftemangel“. Die Welt titelte am 18. Ok-tober: „DGB warnt Bundesregierung vor Ausweitungder Minijobs“. Der Stern schrieb: „Zahl der Zweitjobsverdoppelt – Regierung meint: Kein Anlass zur Sorge“.Im Internetportal Telepolis ist gar vom „gescheitertenArbeitsmodell Minijob“ die Rede. Ich finde, das sindkeine guten Schlagzeilen für einen Gesetzentwurf derRegierung, den sie doch als so wichtig erachtet und inden höchsten Tönen lobt.Worüber reden wir also? Wir sprechen über 7 Millio-nen Menschen, die in Minijobs beschäftigt sind, davon4,8 Millionen ausschließlich in einem Minijob. Fast einehalbe Million davon, 477 000, muss ihren Minijoblohnmit Hartz-IV-Leistungen aufstocken. Die Mehrheit derMinijobbenden sind Frauen. Sie arbeiten als Reinigungs-kräfte, in der Gastronomie, in Hotels, im Einzelhandelund zunehmend auch in Gesundheitsberufen.Die Koalitionsfraktionen wollen nun die Verdienst-grenze bei der geringfügigen Beschäftigung anheben.Aber ich sage: Das ist die falsche Medizin.
Denn nicht die Löhne der Minijobbenden werden stei-gen, sondern die Zahl der Minijobs wird zunehmen, mitall den Problemen, die damit einhergehen. Seit der Re-form im Jahr 2003 unter Rot-Grün haben sich die Pro-bleme verschärft, und zwar unter allen Regierungskon-stellationen. Ich möchte auf drei Schwerpunkte derFehlentwicklungen eingehen.Erstens. Minijobs bedeuten organisiertes Lohndum-ping; denn sie werden fast immer unterhalb der Niedrig-lohnschwelle entlohnt. Laut Angaben des StatistischenBundesamtes werden mehr als 80 Prozent der Minijob-ber unterhalb der Niedriglohnschwelle entlohnt, HerrVogel.
Schon jetzt ist das Verhältnis von Minijobs zu sozialver-sicherungspflichtiger Beschäftigung eins zu fünf. Wennbereits 20 Prozent der Beschäftigungsverhältnisse Mini-jobs sind, sollte dies Anlass zu großer Sorge sein überden Verfall der regulären Strukturen am Arbeitsmarkt.
Es hat sich ein subventionierter Parallelarbeitsmarktgebildet, der dringend abgeschafft werden muss.
Was macht die Regierung? Frau von der Leyen weitetdas Problem durch die vorgesehene Neuregelung aus,statt es zu bekämpfen. Das ist mir vor allem deshalb einRätsel, weil sie in Talkshows immer mit sorgenvollemGesicht sagt, dass man doch etwas dagegen tun müsseund dass gerade Frauen davon betroffen seien.Herr Vogel, ich möchte ihr Beispiel vom Feuerwehr-mann aufgreifen, der sich am Wochenende bei einemCateringservice etwas dazuverdient.
Mehr als 2 Millionen in Vollzeit arbeitende Menschenwie der Feuerwehrmann müssen sich nebenbei mit ei-nem Minijob etwas dazuverdienen.
Haben die alle feuchte Wände zu Hause? Können dieihre Familienmitglieder nicht mehr ertragen? Haben diezu viel Zeit? Ist das ihr Hobby?1) Anlage 2
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Diana Golze
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– Ja, sie arbeiten gerne. Ich bin mir aber sicher, dass dervon Ihnen als Beispiel genannte Feuerwehrmann gerneein Gehalt hätte, von dem er leben und mit dem er seineFamilie ernähren kann.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Feuerwehrmannals Hobby am Wochenende bei einem Cateringservicearbeitet. Seine Kinder bekommt er dann überhaupt nichtmehr zu Gesicht.Um Menschen wie dem Feuerwehrmann zu helfen,brauchen wir einen flächendeckenden gesetzlichen Min-destlohn. Nur so bekommen die Menschen ein Gehalt,von dem sie leben können. Es darf nicht sein, dass sietrotz Arbeit arm sind.
Herr Vogel, was Sie hier vortragen, ist so was von le-bensfremd. Ich bitte Sie: Sprechen Sie einmal mit IhremFeuerwehrmann!
– Das können wir gerne machen, Herr Vogel.Minijobs sind bei den Arbeitgebern nicht nur wegender niedrigen Löhne beliebt, sondern auch wegen der ge-ringen Standards, die sich eingeschliffen haben. ZumBeispiel gibt es in der Regel keine Lohnfortzahlung imKrankheitsfall. Der Mutterschutz ist nur bedingt gege-ben. Bezahlter Urlaub für Minijobbende ist die Aus-nahme und nicht die Regel. Dadurch sparen die Arbeit-geber noch mehr Kosten. Das ist zwar gesetzwidrig, aberdie Minijobber machen den Mund nicht auf, weil sie die400 Euro brauchen. Übrigens bekommen die meistennicht einmal 400 Euro. Im Durchschnitt bekommen sie260 Euro, weil die Minijobs eben so schlecht bezahltsind. Sie machen den Mund nicht auf, weil sie diesenZusatzverdienst brauchen, weil sie finanziell von ihmabhängig sind. Das darf nicht sein! Wir dürfen keine Be-schäftigten erster und zweiter Klasse in einer demokrati-schen Gesellschaft wie der unseren zulassen, und des-halb müssen Minijobs abgeschafft werden.
Zweiter Schwerpunkt. Minijobs sind aus gleichstel-lungspolitischer Sicht eine Katastrophe; denn zwei Drit-tel der Minijobbenden sind Frauen. Sie bewegen sich da-mit beruflich in einer Sackgasse mit hohen persönlichenRisiken. Selbst im Gleichstellungsbericht der Bundesre-gierung – bitte hören Sie auf Ihre Sachverständigen! –werden Minijobs als nicht mehr zeitgemäß eingeschätzt.Die Frauen verbleiben in wirtschaftlicher Abhängigkeit,entweder von ihrem Mann oder vom Jobcenter. Beidesist für Frauen nicht gerade attraktiv.
Altersarmut ist für sie vorprogrammiert. Deshalb bestehtdringender Handlungsbedarf. Die Anhebung der Ver-dienstgrenzen führt zu einer Ausweitung dieser Formprekärer Beschäftigung. Wir müssen aufhören, die Mini-jobs auszubauen; vielmehr müssen wir sie mit sozialver-sicherungspflichtiger Beschäftigung gleichsetzen.
Dritter Schwerpunkt. Minijobs bedeuten Alters-armut. Auch die Einführung einer Rentenversicherungs-pflicht für Minijobs ändert nichts daran, dass MinijobsMinilöhne bedeuten und daher Minirenten die Folgesind. Die Deutsche Rentenversicherung hat festgestellt:Derzeit wird für einen Minijob, der monatlich mit400 Euro vergütet wird – wenn denn überhaupt so vielgezahlt wird –, ein Rentenbeitrag von 3,18 Euro im Jahrerworben. Mit der neuen Regelung sind wir bei4,15 Euro – im Jahr!
Ich habe im März die Bundesregierung gefragt, wassie zu diesen Zahlen der Deutschen Rentenversicherungsagt. Mir wurde schriftlich bestätigt: Nach 45 Jahren ineinem Minijob mit 450 Euro Verdienst bekommt maneine Rente von 205,70 Euro.
Da wir wissen, dass vor allem Frauen lange in Minijobsverharren, und da wir wissen, dass die Minijobs keinSprungbrett in den ersten Arbeitsmarkt, zu einer so-zialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigung sind,wissen wir auch, auf welche Katastrophe – Altersarmutvon Frauen – wir mit diesen Minijobs zusteuern. Daskann doch wirklich nicht Ihr Ernst sein.
Daran müssen wir etwas ändern, und wir dürfen das Pro-blem nicht auch noch verschärfen.Die Koalitionsfraktionen gehen übrigens davon aus– das zeigt ihr Gesetzentwurf –, dass 90 Prozent der Mi-nijobbenden das sogenannte Opt-out-Verfahren wählenwerden, das heißt, dass sie darauf verzichten, in die Ren-tenversicherung einzuzahlen, weil sie von dem wenigen,was sie haben, nicht auch noch etwas in die Rentenversi-cherung einzahlen können.Das zeigt, dass mit diesem Vorschlag nur Sand in dieAugen gestreut wird. Das ist keine Verbesserung für dieRente. Das ist kein Ausweg aus der Altersarmut. MitMinijobs kann man keine eigenständige Altersvorsorgeaufbauen. Auch das ist ein Grund, sie abzuschaffen.
Wir müssen diese Fehlanreize beseitigen. Wir müssenMinijobs endlich mit sozialversicherungspflichtigerBeschäftigung gleichsetzen. Das entspricht auch dem
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Diana Golze
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Wunsch der Beschäftigten, gerade dem von Frauen. ZweiDrittel der minijobbenden Frauen, Herr Vogel – er ist lei-der nicht mehr da –,
wünschen sich eine längere Arbeitszeit. Das ist das Er-gebnis von Umfragen, die nicht von der Linken gemachtworden sind, sondern diese Zahlen stammen vom Statis-tischen Bundesamt.Wir fordern mehr Gleichberechtigung auf dem Ar-beitsmarkt. Wir fordern einen gesetzlichen Mindestlohn.Wir fordern, dass das Lohndumping endlich beendetwird. Es darf keine unterschiedliche Behandlung vonBeschäftigungsformen geben.
Aus der Wissenschaft gibt es dazu verschiedene Vor-schläge. Wenn wir uns in dem Ziel einig sind, dass wirkeine zweite und dritte Klasse von Beschäftigten in die-sem Land haben wollen, dann lassen Sie uns über denWeg streiten. Lassen Sie uns diese Verschärfung bei denprekären Beschäftigungsverhältnissen endlich beenden.Ich bitte Sie um Zustimmung zu unserem Antrag. Wirwerden den Gesetzentwurf natürlich ablehnen.Vielen Dank.
Brigitte Pothmer ist die nächste Rednerin für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Wirk-lichkeit weiß es jeder hier im Saal:
Die Ausweitung von Minijobs ist falsch.
Minijobs haben als Brücke in versicherungspflichtigeBeschäftigung versagt. Minijobs sorgen für lebenslangeökonomische Abhängigkeit von Frauen, entweder vonihrem Ehemann oder von staatlichen Transferleistungen.Dies ist nicht allein meine Erkenntnis. Diese Erkenntniskönnen Sie einem Gutachten entnehmen, das die Bun-desfrauenministerin in Auftrag gegeben und letzte Wo-che Freitag öffentlich vorgestellt hat.
Jetzt stellt sich natürlich die Frage: Warum finanziertdas Bundesfrauenministerium teure Gutachten aus Steu-ergeldern und ignoriert dann die Erkenntnisse, die ausdiesem Gutachten hervorgehen?
Ich frage Sie: Wo ist in dieser Debatte eigentlich dieBundesfrauenministerin?
Warum trägt sie heute hier, in dieser Debatte, die Er-kenntnisse aus diesem Gutachten nicht vor?
Sie ignoriert nicht nur die Erkenntnisse aus dem Gutach-ten, das sie selbst in Auftrag gegeben hat, nein – FrauKramme hat bereits darauf hingewiesen –, sie ignoriertauch den eigenen Gleichstellungsbericht, also denGleichstellungsbericht der Bundesregierung. In diesemGleichstellungsbericht steht: Minijobs wirken „desas-trös“ auf die Erwerbsbiografien von Frauen. Vielleichtsollten Sie, Herr Vogel, sich diese Lektüre einmal zu Ge-müte führen.
Ich finde, es ist die Aufgabe von Frau Schröder, es istdie Aufgabe der Bundesfrauenministerin, einer Politikentgegenzuwirken, die sich so negativ auf die Erwerbs-biografien von Frauen auswirkt. Dafür wird sie gut be-zahlt. Das ist ihr Job.
Aber nicht nur Frau Schröder duckt sich weg, wenn esum die Minijobs geht, auch Frau von der Leyen prakti-ziert in dieser Frage einen Totstellreflex. Frau von derLeyen, noch vor einem Jahr haben Sie der Wochenzei-tung Die Zeit ins Blatt diktiert – ich zitiere –:… ich bin eine entschiedene Gegnerin der Auswei-tung der Minijobs.
Frau von der Leyen, seit Jahren erklären Sie FrauSchröder, was in der Frauenpolitik wichtig und richtigist. Ich bin die Letzte, die behaupten würde, das sei nichtnotwendig. Aber jetzt sind Sie gefordert. Jetzt geht esum Ihren ureigenen Verantwortungsbereich. Ich finde,wenn wir heute diesen Gesetzentwurf hier verabschie-den, dann haben Sie kläglich versagt.
Die Ausweitung von Minijobs ist nicht nur frauen-politisch desaströs, sondern auch aus arbeitsmarktpoliti-scher Sicht ein kapitaler Fehler. Sie weiten damit denNiedriglohnsektor aus und treiben die Spaltung auf demArbeitsmarkt weiter voran. Außerdem wirkt – das isthier schon gesagt worden – die Ausweitung von Mini-jobs kontraproduktiv beim Kampf gegen den Fachkräfte-mangel. Sie wissen genauso gut wie ich – alle möglichenUntersuchungen zeigen das –: Frauen wollen mehr ar-beiten. Sie wollen ihr Erwerbsarbeitsvolumen ausdeh-
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Brigitte Pothmer
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nen. Frauen wollen mehr als Minijobs. Die Wirtschaftbraucht diese gut qualifizierten Frauen. Aber Minijobshalten die Frauen am Arbeitsmarkt klein.
Ihr Potenzial verkümmert. Die Qualifikationen werdenabgewertet. Nur die wenigsten schaffen den Sprung insozialversicherungspflichtige Beschäftigung und in einauskömmliches Einkommen. Ich frage Sie, Frau von derLeyen: Sieht so Ihr Kampf gegen den Fachkräftemangelaus?
Sieht so Ihr Kampf für bessere Erwerbsbiografien vonFrauen aus? Das kann nicht Ihr Ernst sein.
Außerdem – auch das ist bekannt –: Altersarmut undMinijobs gehen Hand in Hand. Sie behaupten, der Al-tersarmut den Kampf anzusagen. Die Ausweitung vonMinijobs ist die Ausweitung von Altersarmut.
So schlicht ist die Gleichung.
Dass Ihre Opt-out-Regelung daran wirklich gar nichtsändern wird, das wissen Sie. Das schreiben Sie selbst inIhrem Gesetzentwurf.
Sie schreiben: 90 Prozent werden diese Regelung nichtin Anspruch nehmen. Für diesen minimalen Effekt be-treiben Sie einen maximalen bürokratischen Aufwand.
Ich habe Ihnen das schon bei der Einbringung des Ge-setzentwurfes vorgerechnet. 787 500 Arbeitsstundenwerden in Betrieben gebraucht. Sie verbrennen in denBetrieben 22 Millionen Euro nur für den bürokratischenAufwand. Den Beschäftigten bringt das nichts.
Lieber Herr Vogel, ich habe mich einmal ein bisschenauf der Homepage der FDP getummelt.
– Ja, wir alle hier erhalten ein gutes Schmerzensgeld. Ichfinde, da muss man sich das einmal zumuten.
Sie haben dort eine Rubrik: Meilensteine zum Büro-kratieabbau. – Herr Vogel, da lacht doch die Koralle.
Das, was Sie hier mit diesem Gesetzentwurf vorlegen, istein Meilenstein für Bürokratieaufbau.
Sie stellen sich jetzt hierhin und versuchen, den Ein-druck zu erwecken, als würde ausgerechnet die FDP dasFüllhorn über die Arbeitenden, über die Armen und Ent-rechteten ausschütten. Herr Vogel, das ist zynisch. WennSie wirklich etwas für Geringverdiener tun wollten, danngäben Sie endlich Ihre Bockbeinigkeit beim gesetzlichenMindestlohn auf.
Kommen Sie nicht immer mit dem Ammenmärchen vomInflationsausgleich. Sie wissen genauso gut wie ich:Drei Viertel aller Minijobber und Minijobberinnen kom-men an die 400-Euro-Grenze überhaupt nicht heran.
Was Sie wollen, ist eine Ausweitung des Niedriglohnbe-reichs. Sie wollen mehr Niedriglohn, noch mehr Nie-driglohn und noch mehr Niedriglohn.
Das wollen wir ausdrücklich nicht.
Wir wollen mehr gute Arbeit, von der die Menschenauch leben können. Wir wollen Arbeit, die auch vor Al-tersarmut schützt. Das alles bietet Ihr Gesetzentwurfnicht. Deswegen lehnen wir ihn ab.Ich danke Ihnen.
Frau Kollegin Enkelmann will zur Geschäftsordnung
sprechen. Bitte schön.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichglaube, der Verlauf der Debatte macht eines sehr deut-lich: Es geht hier um ein wichtiges Thema, um einThema, das Millionen Frauen in diesem Land beschäf-tigt. Wir können nicht nachvollziehen, weshalb die Frau-enministerin nicht im Plenum ist.
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Dr. Dagmar Enkelmann
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Wir beantragen deswegen nach § 42 der Geschäftsord-nung die Herbeirufung der Ministerin.
Wird das Wort zur Gegenrede gegen den Geschäfts-
ordnungsantrag gewünscht? – Bitte schön, Herr Kollege
Grosse-Brömer.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich bedaure, dass zwischendurch immer wie-
der diese Spielchen gespielt werden müssen.
Auf der Regierungsbank sitzen die Ministerin für Arbeit
und Soziales und der Parlamentarische Staatssekretär
aus dem Familienministerium, Dr. Hermann Kues.
Man kann natürlich der Auffassung sein, man müsse
regelmäßig Minister herbeizitieren.
– Das ist Ihr gutes Recht. Ich appelliere ja nur, darüber
nachzudenken, ob es wirklich Sinn macht, diesen Mei-
nungsaustausch zu unterbrechen,
nur weil Ihnen eine sehr gut besetzte, fast vollständig be-
setzte Regierungsbank immer noch nicht ausreicht.
Ich lasse über den zweifellos zulässigen Geschäfts-
ordnungsantrag abstimmen. Wer dem Antrag der Frak-
tion Die Linke zustimmen will, den bitte ich um das
Handzeichen. – Wer ist dagegen? – Wer enthält sich der
Stimme? – Nach meinem Eindruck hat die Mehrheit die-
sen Antrag abgelehnt.
– Dafür ist, wie Sie wissen, nach der Geschäftsordnung
das Präsidium zuständig. Diesem Eindruck hat niemand
widersprochen. Damit ist der Antrag abgelehnt.
Wir setzen die Debatte fort. Nächster Redner ist der
Kollege Max Straubinger für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!Das zeigt sehr deutlich: Die Oppositionsfraktionen wol-len lieber Klamauk machen, als sich mit den Tatsachenauseinanderzusetzen.
Um bei den Worten von Frau Pothmer zu bleiben: Daweint die Koralle.Es geht hier nämlich um eine ganz ernste Angelegen-heit: Wollen wir die Preissteigerungsraten der vergange-nen zehn Jahre anrechnen und die Geringfügigkeits-grenze dementsprechend anheben? Frau Pothmer, IhrePartei und auch die SPD haben 2003 der Neuregelungder geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse zuge-stimmt – aber mit Begründungen, die völlig anders sindals die, die Sie heute dargelegt haben.
Insofern ist es richtig, wenn wir die Grenzen anpassenund eine Erhöhung von 400 auf 450 Euro vornehmen so-wie die Midijobgrenze von 401 auf 850 Euro ausdehnen.Dies ist sachgerecht, zumal wir es zusätzlich sozialpoli-tisch hervorragend untermauern. Kollege Schiewerlinghat bereits darauf hingewiesen, dass wir jetzt eine gene-relle Rentenversicherungspflicht einführen, aus der mansich nur per Antrag verabschieden kann. Für Rentnerin-nen und Rentner ist das auch sinnvoll. Schülern und Stu-denten würde ich eine solche Antragstellung gar nichtempfehlen, weil sie bereits mit geringsten Beiträgen An-wartschaftszeiten in der gesetzlichen Rentenversiche-rung erwerben und damit schneller die fünfjährige War-tezeit nachweisen können.Unter diesen Gesichtspunkten haben wir, glaube ich,eine großartige, auch sozialpolitisch orientierte Rege-lung in das Gesetz aufgenommen, verehrte Damen undHerren.
Von den Kolleginnen und Kollegen wurde schon dar-gelegt, was die Rentenversicherungspflicht bedeutet.Damit werden Altersrentenanwartschaften erworben.Vor allen Dingen wird auch eine Anwartschaft für Reha-leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung undfür eine Erwerbsunfähigkeitsrente erworben. Außerdemkann man dann die Riester-Rente abschließen. Darüberhinaus hat man die Möglichkeit, zusätzliche Anwart-schaftszeiten wie Zeiten für langjährig Versicherte und
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Max Straubinger
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dergleichen mehr in der Rentenversicherung nachzuwei-sen. Das zeigt sehr deutlich, dass wir damit eine gute ge-setzliche Grundlage geschaffen haben, die sich in keinerWeise von der Grundlage sozialversicherungspflichtigerBeschäftigung unterscheidet.
Herr Kollege Straubinger, darf der Kollege
Strengmann-Kuhn Ihnen eine Zwischenfrage stellen?
Gerne.
Bitte schön.
Herr Kollege Straubinger, Sie haben gerade die Be-
deutung der Rentenversicherungspflicht, des Zugangs
zur Erwerbsminderungsrente, zur Reha und zur Riester-
Rente erläutert. Nicht zu vergessen ist, falls das irgend-
wann einmal kommen sollte, der Zugang zur Zuschuss-
rente zwecks Bekämpfung der Altersarmut.
Warum führen Sie, wenn Sie das so sehen, nicht eine
Rentenversicherungspflicht für die Minijobber ein, son-
dern dieses merkwürdige Opt-out-Modell? Schließlich
gehen Sie selbst davon aus – Brigitte Pothmer hat das
eben schon beschrieben –, dass sich nur 10 Prozent für
die Rentenversicherung entscheiden werden und die
restlichen 90 Prozent dagegen. Sie haben gerade noch
einmal an die Studierenden appelliert, sich doch eben-
falls sozialversicherungspflichtig beschäftigen zu lassen.
Das ist durchaus vernünftig. Warum sind Sie dann nicht
konsequent und führen eine Rentenversicherungspflicht
für die Minijobber ein? Dann gibt es zumindest für die
entsprechenden Fälle eine Absicherung. Es bestünde so-
gar eine Absicherung gegen Altersarmut, wenn es ir-
gendwann einmal eine Zuschussrente, eine Garantie-
rente oder was auch immer gibt. Warum lassen Sie sich
da von der FDP über den Tisch ziehen? Ich weiß, dass
Sie selbst – aus den Gründen, die Sie genannt haben –
durchaus gegen das Opt-out-Modell sind.
Herr Kollege Strengmann-Kuhn, ich bin Ihnen sehrdankbar für diese Frage. Natürlich könnte man es gene-ralisieren. Dann müsste man aber auch Ausnahmen for-mulieren. Wir sind, glaube ich, beide der Meinung, dassman aktiven Rentnerinnen und Rentnern nicht zumutenkann, Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherungzahlen zu müssen. Bei Schülern, die Zeitungen, Rekla-meheftchen und dergleichen austragen, ist eine Beitrags-zahlung in meinen Augen ebenfalls nicht sinnvoll. Inso-fern müsste man bei ihnen Ausnahmen machen.Man kann sich über die Opt-out-Regelung streiten;das ist völlig klar. Meines Erachtens ist es aber eineFehlannahme – das ist auch im Gesetzentwurf der Koali-tionsfraktionen niedergeschrieben –, dass sich mögli-cherweise 90 Prozent verabschieden werden. Ich binüberzeugt, dass es weit weniger sein werden.Allerdings liegt es in der Natur der Sache, dass dieseBundesregierung und unsere Fraktionen vorsichtigschätzen. Das machen wir ja auch beim Haushalt.
– Natürlich. Wir haben in den Haushaltsgesetzen bisherimmer Schulden in einer Höhe veranschlagt, die dasüberstieg, was dann tatsächlich an Schulden aufgenom-men werden musste. – Ähnlich verfahren wir bei vielenPrognosen, bei Wirtschaftsprognosen und dergleichenmehr. Damit sind wir gut gefahren.Ich bin überzeugt, dass weit mehr als von Ihnen er-wartet die Rentenversicherungspflicht in Anspruch neh-men bzw. sich nicht daraus verabschieden werden. Wirsollten uns überraschen lassen. Mit den positiven Zah-len, die dann festzustellen sind, können wir uns nochtrefflich auseinandersetzen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich wende michgegen die Dämonisierung der Minijobs, die heute stattfin-det. Ich habe es bereits ausgeführt: Wer die Versiche-rungsfreiheit in der Rentenversicherung aufgibt, hat denVorteil, dass der pauschale Betrag in Höhe von 15 Pro-zent, den der Arbeitgeber zahlt, ihm persönlich zugerech-net wird. Wenn er das nicht tut, dann hat er persönlichnichts davon, sondern es profitiert nur die allgemeineRentenversicherung. Auch unter diesem Gesichtspunktlohnt es sich also, die Rentenversicherungsfreiheit aufzu-geben. Damit wird natürlich genauso ein Anspruch aufAltersrente begründet.Frau Kollegin Pothmer und Frau Kollegin Kramme,ob Sie 400 Euro in einem rein sozialversicherungspflich-tigen Beschäftigungsverhältnis oder in einem Minijobverdienen, ist egal. Der Rentenanspruch wird nicht hö-her, wenn wir an der beitragsbezogenen Rente festhal-ten.
Wenn ich das SPD-Rentenkonzept betrachte, das Sie zu-künftig noch überarbeiten sollten, habe ich den Ein-druck, dass sich die SPD davon verabschieden will.Auch unter diesen Gesichtspunkten lohnt es sich also,dies hier sehr sachgerecht zu beurteilen und zu betrach-ten.
Ich wende mich gegen die Dämonisierung der Mini-jobregelung, zu der es heute vor allen Dingen aus derFraktion Die Linke wieder gekommen ist. Diese ist letzt-endlich in keiner Weise mit dem Ausdruck „prekäre
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Max Straubinger
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Beschäftigung“ zu stigmatisieren. Hier gelten genau die-selben Arbeitsbedingungen: Jeder ganz normale Tarif-vertrag, die Urlaubsregelungen und die Regelungen zurLohnfortzahlung im Krankheitsfall sind einzuhalten.
Sie können nicht pauschal jedem Arbeitgeber unter-stellen, sie würden das nicht einhalten, und ständig nurMisstrauen gegenüber allen Arbeitgebern ausdrücken.Das nicht einzuhalten, wäre bei einer sozialversiche-rungspflichtigen Beschäftigung genauso möglich, indemman sagt: Ich entlohne Sie für sieben Stunden, aber zehnStunden müssen Sie arbeiten. Das wäre ganz genau das-selbe.Das, was Sie betreiben, ist unstatthaft. Sie stellen hieralle Arbeitgeber letztendlich so dar, als ob sie die Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer um ihren Lohn betrügenwürden. Das ist aber Ihre Sache. Wir machen das nichtmit, und das lassen wir auch nicht gelten.
Sie haben dann auch noch dargestellt, dass ein Mini-job bedeutet, dass man mit Hartz IV aufstocken muss.
In der Regel ist das ganz anders: Die Hartz-IV-Leistun-gen werden durch einen Minijob aufgestockt, weil durcheinen 400-Euro-Minijob 160 Euro zusätzlich verdientwerden, die nicht auf die Hartz-IV-Leistung angerechnetwerden. Das ist die Erfahrung – nicht umgekehrt. DieHartz-IV-Leistung wird aufgestockt und nicht umge-kehrt der Minijob durch eine Hartz-IV-Leistung. Hierverkennen Sie die Realität.Sie müssen noch einmal in Ihren Antrag hinein-schauen, der von Fehlinformationen nur so strotzt. Dortwird dargestellt, dass die Arbeitgeber einen Vorteil hät-ten, wenn sie Beschäftigungsverhältnisse in Form vonMinijobs einführen würden. Bei diesem Beschäftigungs-verhältnis werden die Arbeitgeber aber mit einer Pau-schale von 30 Prozent belastet, während sie nur mit20 Prozent Lohnnebenkosten belastet werden, wenn sieein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsver-hältnis anbieten.Es ist sehr deutlich, dass letztendlich sowohl die Mi-nijobber als auch die Betriebe ein Interesse an dieserForm der Beschäftigung haben können. Bei mir in derHeimat zum Beispiel wird die örtliche Tankstelle als ein-facher Familienbetrieb geführt. Der Inhaber ist froh,wenn ein Student dort ein paar Stunden lang aushilft, da-mit sich die Familie auch einmal in Ruhe einen freienSonntag gönnen kann.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Für diese Tätigkeit könnte niemals ein ganztägiges
Beschäftigungsverhältnis bzw. eine Vollzeitbeschäfti-
gung angeboten werden. Minijobs sind deshalb notwen-
dig zur Flexibilisierung und vor allen Dingen zum Abar-
beiten von Arbeitsspitzen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Beim
Herrn Präsidenten bedanke ich mich herzlich für die Ge-
duld.
Nun erhält die Kollegin Gabriele Hiller-Ohm das
Wort für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirdebattieren heute über zwei parlamentarische Initiativen,die unterschiedlicher nicht sein können. Auf der einenSeite haben wir den Gesetzentwurf von CDU/CSU undFDP zur Ausweitung der Minijobs, und auf der anderenSeite fordert die Linke die Abschaffung selbiger.
Wir haben folgende Ausgangslage: Ungefähr 7,5 Mil-lionen Menschen in Deutschland arbeiten ohne eigen-ständige Krankenversicherung, ohne vollwertige Ren-tenansprüche und ohne ein Recht auf Arbeitslosengeld I.Lohnfortzahlung bei Krankheit oder bezahlter Urlaubwerden ihnen in der Regel verwehrt. Sie verdienen, ob-wohl die meisten von ihnen eine abgeschlossene Berufs-ausbildung haben, durchschnittlich etwa 5 Euro in derStunde und 300 Euro im Monat. So, lieber Herr KollegeVogel und Herr Straubinger, sieht die Wirklichkeit aus.Wenn Sie, Herr Kollege Straubinger, in diesem Zusam-menhang von Dämonisierung sprechen, dann haben Siewirklich keine Ahnung, wie die Wirklichkeit aussieht.
Der Niedriglohnsektor weitet sich aus – durch Ihr Mi-nijobgesetz noch mehr –, und im Niedriglohnsektor wirdniedrig bezahlt. Deshalb heißt er auch so, Herr KollegeVogel. Der Übergang in existenzsichernde Beschäftigunggelingt nur selten. Die meisten dieser Beschäftigten sindFrauen, Minijobberinnen. Für Sie, liebe Kolleginnen undKollegen von Schwarz-Gelb, sind diese Minijobs ganzoffensichtlich der Hit; denn Sie wollen noch mehr davon.Deshalb schlagen Sie in Ihrem Gesetzentwurf vor, dieVerdienstgrenze von 400 auf 450 Euro für die geringfü-gig Beschäftigten anzuheben.Welche Folgen wird dieses Gesetz haben? Die Mini-jobberinnen werden nicht etwa mehr verdienen, wasvielleicht ganz gut wäre. Nein, es wird lediglich nochmehr Minijobberinnen geben.
Damit steigt der Anteil der Frauen, die entweder von ih-rem Partner oder von Sozialleistungen abhängig sind.
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Gabriele Hiller-Ohm
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Es wird im Zusammenhang mit den Minijobs viel vonder „dazuverdienenden Ehefrau“ gesprochen. Die Wirk-lichkeit ist: Nicht einmal die Hälfte aller Minijobberin-nen hat heute einen Partner, der in einem regulären Ar-beitsverhältnis steht und sie mitversorgen könnte. Alleanderen, wenn sie nicht gerade Studentinnen oder Rent-nerinnen sind, müssten eine aufstockende Sozialleistungin Anspruch nehmen; denn weder 300 noch 450 EuroMonatsgehalt sind existenzsichernd. Unser gemeinsa-mes Ziel muss doch aber die wirtschaftliche Unabhän-gigkeit von Männern und Frauen auf der Basis eines ei-genen Einkommens sein.
In unserem Unterhaltsrecht und in unserer Hinterblie-benenversorgung wird davon im Übrigen schon langeausgegangen. Davon, liebe Kolleginnen und Kollegenvon Schwarz-Gelb, lese ich in Ihrem Gesetzentwurfnichts.
Im Gegenteil: Sie halten eine Beschäftigungsform, dieeinen Partner, zumeist die Frau, in einer Zuverdiener-rolle sieht, ganz offensichtlich für zukunftsweisend.Diese Vorstellung ist zwar von vorvorgestern,
Sie halten aber daran fest und zementieren dieses Frau-enbild mit Ihrem Minijobgesetz. Ehegattensplitting unddie kostenlose Krankenmitversicherung tun ihr Übriges.Frauen werden so wichtiger Perspektiven auf dem Ar-beitsmarkt beraubt, jetzt und später. Jetzt bedeutet derMinijob Entgeltdiskriminierung, Abhängigkeit und inder Regel eine berufliche Sackgasse. Später führt er indie Altersarmut.Ich komme zu der von Ihnen vorgeschlagenen Ren-tenversicherungspflicht, die automatisch gilt, wenn dieMinijobberin nicht widerspricht. Dies macht die Sacheaber nicht leichter. Zwar rückt damit eine eigenständigeAlterssicherung näher, aber aus zwei Gründen wird siedas Problem drohender Altersarmut nicht lösen.Erstens. Der Rentenanspruch, der erworben werdenkann, ist sehr gering. Laut Rentenversicherung beträgt ermaximal 4,30 Euro pro Jahr. Erst nach etwa 200 Jahrenim Minijob würde man die Grenze der Grundsicherungim Alter erreichen.Zweitens muss davon ausgegangen werden – daswurde auch in unserer Anhörung am Montag deutlich –,dass mehr als neun von zehn geringfügig Beschäftigtennicht in die Rentenversicherung einzahlen werden.Eines steht fest: Sie, liebe Kolleginnen und Kollegenvon Schwarz-Gelb, verstehen nichts von Gerechtigkeit.
Das haben Sie inzwischen zur Genüge bewiesen, undzwar mit ihrem Betreuungsgeld, mit der Flexi-Quote undjetzt mit diesem Frauenbenachteiligungsgesetz. Sieignorieren dabei selbst knallharte Fakten Ihrer eigenenBundesregierung; es wurde schon darauf hingewiesen.Der Gleichstellungsbericht bezeichnet bereits die jetztbestehende Minijobregelung gleichstellungspolitisch alsdesaströs. Die jetzige Ausweitung setzt dem noch einsobendrauf. So viel zur Geschlechtergerechtigkeit. Aberauch volkswirtschaftlich gesehen ist diese – so wurde esin unserer Anhörung am Montag genannt – Ausweitungder „Stilllegung von Arbeitsvermögen“ nicht vertretbar.Herr Kollege Straubinger, Sie haben darauf hingewie-sen, dass sich die SPD und die Grünen 2003 für die Aus-weitung der Minijobs ausgesprochen haben. Das ist rich-tig. Ich möchte allerdings darauf hinweisen, dass wirdamals auf Ihren Druck hin im Vermittlungsausschuss sogehandelt haben. Zudem hatten wir damals eine andereArbeitsmarktsituation. Wir hatten eine sehr hohe Ar-beitslosigkeit. Auch wir hatten die Hoffnung, durch dieMinijobs eine Brücke in reguläre Beschäftigung, in denersten Arbeitsmarkt schlagen zu können. Leider hat sichdas als Illusion, als falsch erwiesen. Deshalb müssen wirnachsteuern.
Wir haben heute eine ganz andere Arbeitsmarktsitua-tion. Wir brauchen dringend Fachkräfte, liebe Kollegin-nen und Kollegen. Das diskutieren wir immer wieder.Wer nun meint, ausgerechnet mit der Ausweitung vonMinijobs Fachkräfte gewinnen zu können, hat schlicht-weg keine Ahnung vom Arbeitsmarkt.
Ich fasse zusammen:
Das muss jetzt sehr konzentriert erfolgen.
Ihr Gesetzentwurf ist inakzeptabel. Er gehört in die
Tonne.
Danke.
Sehr schön! Geht doch. – Sebastian Blumenthal ist
der nächste Redner für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man kannnur noch staunen, in welche Richtung Rot-Rot-Grün dieDebatte lenkt.Frau Kramme, Sie hatten vorhin ausgeführt, das In-strument der Minijobs sei ein katastrophales Instrument,das nun ausgeweitet werden solle.
Metadaten/Kopzeile:
24246 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Sebastian Blumenthal
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Ich frage Sie und die SPD-Fraktion: Wie stehen Siedazu, dass wir den 163 geringfügig beschäftigten Mitar-beitern bei Ihnen in der Bundestagsfraktion – ich habemir einmal angeschaut, wie viele bei Ihnen auf Basis derMinijobregelung beschäftigt sind – mit der Ausweitungder Verdienstgrenze neue Möglichkeiten eröffnen? – Siesprechen von der Ausweitung eines katastrophalen Ar-beitsmarktinstruments, arbeiten aber in Ihrer Bundes-tagsfraktion selbst mit diesem Instrument. Das ist auf garkeinen Fall glaubhaft, und das diskreditiert schon Ihreganze Argumentationsführung.
Ich komme zu den Grünen. Frau Pothmer, Ihr Bei-trag war nicht nur frei von biologischen Grundkenntnis-sen – Stichwort: Da lacht doch die Koralle –, sondernauch Sie müssen einen Widerspruch aufklären: ObwohlSie das Instrument hier sehr stark negativ dargestellthaben, sind in der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen 43 Mitarbeiter auf genau dieser Basis be-schäftigt. Ich kann Ihnen sogar noch weitere Beispielenennen, die belegen, dass in Wahlkreisbüros, in denKreisverbänden usw. sowie in weiteren Untergliederun-gen genau mit diesem Arbeitsmarktinstrument Arbeits-plätze auch im Umkreis von Bündnis 90/Die Grünen ge-schaffen werden. Ihre Argumentation ist genauso wenigglaubhaft wie die Argumentation der SPD. Ansonstenmüssten Sie ja auf dieses Instrument verzichten.
Ich komme zur Fraktion Die Linke. Frau Golze, Siehatten dem Kollegen Vogel vorhin unterstellt, er würdelebensfremd argumentieren.
Ich möchte Ihnen zurückgeben: Auch Ihre Argumenta-tion scheint realitätsfremd zu sein. In der Bundestags-fraktion Die Linke werden 67 Mitarbeiter genau auf die-ser Basis beschäftigt. Das sind mehr als 10 Prozent derMitarbeiter, die bei der Fraktion Die Linke insgesamt imEinsatz sind.Ich möchte Ihnen noch ein weiteres Beispiel nennen.
Darf die Kollegin Golze Ihnen eine Zwischenfrage
stellen, bevor Sie ein weiteres Beispiel nennen?
Bitte schön.
Sehr geehrter Herr Kollege, vielen Dank, dass Sie die
Zwischenfrage zulassen.
Ich möchte Sie einfach nur fragen, ob Sie bereit sind,
zur Kenntnis zu nehmen, dass im Gegensatz zu der
Unionsfraktion und der FDP-Fraktion – zumindest nach
meinen Informationen – bei den anderen Fraktionen
Praktikantinnen und Praktikanten, zum Beispiel auch
Studentinnen und Studenten, die innerhalb ihrer Ausbil-
dung ein Praktikum bei einem Bundestagsabgeordneten
machen, eine Aufwandsentschädigung bekommen
und dass viele meiner Kollegen – ich gehe davon aus,
dass das auch in den anderen Fraktionen so ist –
diesen Praktikantinnen und Praktikanten dafür etwas
zahlen
und dass das als ordentliches Beschäftigungsverhältnis
über die Bundestagsverwaltung abgewickelt wird.
Mich würde Ihre Meinung dazu interessieren. Ich
glaube, wenn man sich die Zahlen genauer anschaut,
zieht Ihr Argument nicht.
Vielen Dank für die Anregung, Frau Kollegin. Damitbringen Sie mich jetzt aber nicht wirklich in Verlegen-heit.
Wenn Sie suggerieren wollen, die Fraktion der FDPwürde eine solche Bezahlung nicht vornehmen,
kann ich Ihnen das Gegenteil darlegen.
Sie lösen damit auch den Widerspruch nicht auf, dass Siein Ihren Reihen mit dem Instrument der Minijobs Abge-ordnetenmitarbeiter beschäftigen. Diesen Widerspruchkonnten Sie auch in Ihrer Zwischenfrage nicht auflösen.Insofern ist das meine Antwort darauf: Wir zahlen auch,und Sie können den Widerspruch nicht auflösen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24247
Sebastian Blumenthal
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Ich komme zu einem weiteren Beispiel aus den Rei-hen der Linken, das hochinteressant ist. Sie intonierenhier immer den Grundsatz „Gleicher Lohn für gleicheArbeit“. Von einer Ihrer Landtagsfraktionen gibt es eineStellenausschreibung, die auf Basis von 450 Euro imMonat ausgeschrieben wird. Das Ganze ist als Vollzeit-stelle ausgeschrieben. Wenn wir das herunterrechnen,kommen Sie mit der Ausschreibung auf einen Stunden-lohn von 2,92 Euro.
Das sind die Ausschreibungen, die Sie veröffentlichen;uns unterstellen Sie, wir würden unlauter agieren. Auchdas ist widersprüchlich, Frau Kollegin.Das ist die Klammer um die Argumentationslinie vonRot-Rot-Grün: Sie unterstellen uns mit der Skandalisie-rung und dem Vorwurf, wir würden für prekäre Beschäf-tigungsverhältnisse sorgen,
dass wir Menschen in Situationen bringen, in denen keinvernünftiger Lohn mehr gezahlt wird. Sie selbst bietenaber in Ihrem realen Handeln genau solche Stellen an, obin der Bundestagsfraktion, in den Parteiuntergliederun-gen oder auf der Ebene der Landesparlamente.
Mit solchem Verhalten können Sie uns mit Sicherheitnicht dazu bringen, dass wir sagen, das Instrument seinicht gerechtfertigt.
Ich komme noch zu weiteren Punkten. Sie haben vonder Anhörung berichtet. Ich glaube, das waren Sie, FrauPothmer. Sie hatten aus dem Gutachten für das BMSFJzur Situation der Frauen zitiert. Meine Bitte ist: ZitierenSie dann vollständig! Ich werde jetzt das vortragen, wasSie nicht vorgetragen haben. Das Zitat aus der Studie„Frauen im Minijob“ lautet wie folgt:Diese Entwicklung hängt eng mit den sozial- undsteuerrechtlichen Regelungen für Verheiratete zu-sammen.…84 % der aktuell im Minijob pur tätigen Frauen sindverheiratet .
Vor allem folgenden Satz haben Sie vergessen:Die gelegentlich geäußerte These von der Ausbeu-tung von Frauen im Minijob durch den Arbeitgeberbestätigt sich im Horizont der subjektiven Wahr-nehmung und Erfahrungen von Frauen im Minijobpur nicht.
Sie sehen, dass wir bei allen Punkten, die Sie uns ent-gegenzustellen versucht haben, mit Fakten und nacktenZahlen dagegen argumentieren können. Wir verwahrenuns gegen die Art und Weise, wie Sie eine Skandalisie-rung dieses Instruments herbeiführen wollen.
Für uns gibt es gute Gründe, dem Gesetzentwurf zu-zustimmen. Ich denke, dass ich auf die meisten IhrerPunkte die entsprechende Antwort geben konnte.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Nächste Rednerin für die SPD-Fraktion ist die Kolle-
gin Gabriele Lösekrug-Möller.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LieberKollege Blumenthal, ich glaube, so etwas nennt manEntlastungsangriff. In der Regel gehen die schief. So wardas bei Ihnen auch.Ich werde wie die Kollegin Pothmer nicht davorzurückschrecken, heute Mittag mit Interesse auf derHomepage der FDP-Bundestagsfraktion nachzusehen.
Ich erwarte eine lückenlose Darstellung, wie Sie mitIhren Praktikanten und Mitarbeitern umgehen. Daswüssten wir jetzt alle gerne ganz genau.
Ich verstehe auch, dass Sie diesen Entlastungsangriffgestartet haben. Wir erleben ja im Deutschen Bundestagzum wiederholten Male, dass diese Regierungskoalitionwider besseres Wissen handelt. Das erste Beispiel ist dasBetreuungsgeld. Wider besseres Wissen werden Sie eseinführen.
Das zweite Beispiel ist genau das, über das wir heutediskutieren. Nach dem Gesetz der Serie fürchte ich: Sie
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24248 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Gabriele Lösekrug-Möller
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werden in den wenigen Monaten, die Sie noch Zeithaben, erneut vielfach wider besseres Wissen handeln.Wer hätte gedacht, meine Damen und Herren, dassFrauenministerin Schröder
mit der Vorstellung des Gutachtens die amtierende Ar-beits- und Sozialministerin frauenpolitisch überholenkönnte?
Ich finde, das ist ein besonderer Moment in unsererRepublik.Ich habe den großen Wunsch, dass wir in SachenMinijobs alle miteinander die rosaroten Brillen ablegen.Dann würde es allerdings kräftige Fallgeräusche in IhrenReihen geben, weil Sie im Gegensatz zu uns den Ar-beitsmarkt nicht realistisch sehen. Wenn Sie diese Bril-len abnehmen würden, könnten Sie das aber auch.
Wir diffamieren keinen Arbeitgeber, aber wir sagen:Es gibt solche und solche. Leider – das werden Sie nichtentkräften können, aber Sie haben ja gleich noch dasWort – gibt es Arbeitsverhältnisse, bei denen viele Mini-jobber ihre Rechte nicht kennen und deshalb nicht nut-zen. Das gilt für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mer, und leider, leider nutzen das auch einigeArbeitgeber aus. Dass das nicht wenige sind, das konn-ten wir bei der Anhörung am Montag erfahren.Ich zitiere aus der Stellungnahme von Frau Dr.Weinkopf in der Anhörung:Ich befürchte …, dass die Zahl der Minijobs weitersteigen wird. Durch die Anhebung der Verdienst-grenze rutschen einige hinein, die bislang sozialver-sicherungspflichtig waren. Von daher ist eine Aus-weitung zu erwarten, die dem Arbeitsmarkt ausmeiner Sicht überhaupt nicht guttut. Wir haben jetztschon einen Minijob auf etwa fünf sozialversi-cherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse. Wirerweitern also den Anteil derjenigen …, die nichtvoll in die Sozialversicherungspflicht einbezogensind …Das ist die Wahrheit; darüber reden wir hier, und Sie ge-ben Gas an dieser Stelle. Eine Regelung, über die Sieheute sagen: „90 Prozent werden sie gar nicht nutzen“,die ist ja nur 10 Prozent wert.
Deshalb frage ich mich: Warum regeln Sie das gesetzlichdann eigentlich so?
Ich finde, das heißt, Leute hinter die Fichte zu führen,und insbesondere betrifft das Frauen.Als ich mir den Gesetzentwurf ansah, dachte ich: Dasist wie bei den Berliner Hinterhöfen. Die sind ja bekanntdafür: ein schickes Vorderhaus, dann kommt ein Hinter-hof, und dann gibt es ein erstes und ein zweites Hinter-haus. Wir reden bei Minijobs im Augenblick über diesesletzte Hinterhaus.
Da gibt es keinen Aufzug nach oben, da gibt es kaumTageslicht, und – das will ich Ihnen sagen – da gibt eseben auch nicht den wunderbaren Aufstieg oder die Brü-cke, über die hier vielfach geredet wurde.Sie finden es gut, dass ein Drittel einen vermeint-lichen Übergang in den ersten Arbeitsmarkt findet. Michinteressieren die anderen zwei Drittel noch viel mehr.
Die erwarten, dass wir hier handeln, und zwar auf eineWeise, die sie unterstützt.Dass das ein Gleichstellungsproblem ist, ist heutedeutlich geworden. Ich bin mehr als betrübt darüber,dass Sie an dieser Stelle gar kein Wort darüber verlieren.Wir reden nicht über jene kleinen Arbeitsverhältnisse,die die Gattin eines gutverdienenden Ehemanns neben-her haben mag – das ist eine persönliche Lebensplanung,die jedem freisteht, die aber mancher Frau auch schonzum Verhängnis wurde –; wir reden darüber, dass Frauenund Männer in ordentlichen sozialversicherungspflichti-gen Jobs Vollzeit arbeiten. Diese Zielperspektive habenSie offenkundig aus den Augen verloren.
Das ist das eigentliche Drama, das wir heute feststellenmüssen.
Wo ich schon bei diesem Bild „Hinterhof und Hinter-haus“ bin, will ich Ihnen auch sagen: Genau deshalbhaben der DGB und die Regierung in NRW gute Über-legungen dazu angestellt, welche Lösungen wirklichzielführend sind. Darüber höre ich überhaupt nichts vonIhnen. Haben Sie sich beschäftigt
mit der Begrenzung der Wochenarbeitszeit bei Mini-jobs?
Ein interessanter Vorschlag! Haben Sie sich beschäftigtmit Gleitzonen? Ich finde, das ist ein kluger Vorschlag;er ist diskussionswürdig. Nichts höre ich davon. Deshalbbefürchte ich leider, dass Sie weiterhin einen gespalte-nen Arbeitsmarkt haben wollen und nicht davor zurück-schrecken, den Graben tiefer zu machen. Ich bedauredies sehr. Deshalb kann es keine Zustimmung geben zuIhrem Entsetzesentwurf – – Gesetzentwurf, der entsetz-lich ist.Vielen Dank.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24249
Gabriele Lösekrug-Möller
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Die Kollegin Heike Brehmer hat nun für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollenwir heute Änderungen im Bereich der geringfügigen Be-schäftigung vornehmen.Nach der Wirtschaftskrise hat sich der deutsche Ar-beitsmarkt erfolgreich entwickelt. Die gute Entwicklungder deutschen Wirtschaft hat dazu geführt, dass sichviele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer über Lohn-erhöhungen freuen können. So konnten die Renten so-wie die Sätze für das Arbeitslosengeld II angehoben unddie Rentenbeitragssätze für Arbeitnehmer gesenkt wer-den.
Wir als christlich-liberale Koalition wollen mit denÄnderungen im Bereich der geringfügig Beschäftigtender positiven Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt Rech-nung tragen. Angesichts der Lohnentwicklung derletzten Jahre sehen wir es als notwendig an, die Arbeits-entgeltgrenze von 400 auf 450 Euro anzuheben. Entspre-chend wird die Grenze für das Gleitzonenentgelt von800 auf 850 Euro angepasst.
Die vielfach von der Opposition vorgebrachte Be-hauptung, dass Minijobs sozialversicherungspflichtigeBeschäftigung verdrängen, ist bei genauer Betrachtungnicht haltbar.
Seit 2005 ist die Zahl der Minijobber lediglich um2,9 Prozent gestiegen. Im gleichen Zeitraum haben diesozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisse um9 Prozent zugelegt.Die Einführung der Minijobs im Jahr 2003 durch Rot-Grün hat zur Umwandlung der Schwarzarbeit in reguläreBeschäftigung geführt. Ein Hinweis darauf ist der starkeAufwuchs der Beschäftigungszahlen in den letzten Jah-ren. Hier zeigt sich, dass die Einführung der Minijobseine richtige Entscheidung war; denn dadurch wurdeSchwarzarbeit erfolgreich bekämpft.Minijobs eignen sich für Studenten, die sich etwas da-zuverdienen wollen, aber auch für rüstige Senioren, wel-che sich etwas zu ihrer Rente dazuverdienen wollen.In den letzten Wochen bin ich wiederholt im Wahl-kreis darauf angesprochen worden, wann wir nun end-lich die Erhöhung im Deutschen Bundestag beschließen.Viele Menschen in geringfügiger Beschäftigung erwar-ten von uns, dass die Geringfügigkeitsgrenze angehobenwird. Viele Betroffene – Frau Kramme, da gebe ich Ih-nen recht – wollen mehr verdienen und würden natürlichauch gern mehr arbeiten.Mit Blick auf die demografische Entwicklung werdenwir mit Minijobs dem Fachkräftemangel nicht begegnenkönnen. Zur Wahrheit gehört aber auch, zu sagen, dassfür viele Bürger der Minijob die einzige Möglichkeit ist,etwas Geld dazuzuverdienen. Besonders in struktur-schwachen ländlichen Regionen fehlen Vollzeitarbeits-plätze. Durch die weiten Entfernungen sind Familie undein Vollzeitjob oft nicht unter einen Hut zu bringen. DasFehlen von Kindertagesstätten und schlechte Verkehrs-anbindungen kommen in manchen Regionen noch er-schwerend dazu. Ein flexibler Minijob, mit dem man Be-ruf und Familie in Einklang bringen kann, ist für vieleeine gute Möglichkeit, um das Haushaltsbudget etwasaufzubessern.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Fakt ist, dass be-reits heute in dünn besiedelten Gebieten keine Tageszei-tung pünktlich im Briefkasten wäre oder die Tankstellenicht so lange geöffnet hätte, wenn es keine Minijobsgäbe.
Ohne die geringfügig Beschäftigten wäre vieles in unse-rem Alltag nicht möglich. Eine Dankeschön an dieserStelle einmal allen, die sich tagtäglich einbringen und ineinem Minijob eine gute Arbeit verrichten.
Mit unserem vorliegenden Gesetzentwurf zur gering-fügigen Beschäftigung wollen wir einen besseren Ein-stieg in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungenermöglichen. Minijobs sollten nur eine vorübergehendeBeschäftigungsform sein. Eine jahrelange Dauerbe-schäftigung in Minijobs führt später zu einer unzurei-chenden Altersvorsorge.
Genau deswegen wollen wir mit der beabsichtigten Neu-regelung eine Verbesserung der Rentenversicherungs-möglichkeiten für die geringfügig Beschäftigten schaf-fen.Im Zuge der Einführung der Rentenversicherungs-pflicht für geringfügig Beschäftigte, verbunden mit derOpt-out-Regelung, müssen sich die Arbeitnehmer mitder eigenen Altersvorsorge befassen. Die Arbeitnehmerkönnen so für die Zeit in geringfügiger BeschäftigungEntgeltpunkte für die Rentenversicherung sammeln undzu Anwartschaften für ihre Rente beitragen. Damit sindsie auch im Falle einer Erwerbsunfähigkeit abgesichert.
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24250 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Heike Brehmer
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Auch Riestern – Herr Schiewerling hat vorhin schon da-rauf hingewiesen – ist für die betroffene Gruppe mög-lich. Darüber hinaus sichern sich die Minijobber mit ih-ren Beiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung einenAnspruch auf Rehabilitationsmaßnahmen. Mit dieserNeuregelung wollen wir entscheidend den Versiche-rungsschutz für geringfügig Beschäftigte verbessern.Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser gemeinsamesZiel muss es sein, die gesetzlichen Rahmenbedingungenso zu setzen, dass mehr sozialversicherungspflichtigeArbeitsplätze entstehen und ein Minijob im Erwerbsle-ben nur eine Ausnahme bleibt.Die CDU/CSU lehnt den Antrag der Fraktion DieLinke ab.Ich würde Sie, meine Damen und Herren, bitten, un-serem Gesetzentwurf zuzustimmen.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Peter Tauber, auch für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir schreibenheute eine Erfolgsgeschichte fort, bei der wir – das kannman ganz offen sagen – nicht die Urheberschaft haben.Die Urheberschaft haben Sie, liebe Kolleginnen undKollegen von SPD und Grünen.
Vor diesem Hintergrund ist es schon bezeichnend, aufwelche Art und Weise Sie ein Instrument, von dem Mil-lionen Menschen in diesem Land profitieren, selbst in-frage stellen. Das zeugt von einem Selbstverständnis– damit müssen Sie am Ende des Tages klarkommen –,das sich für mich nur sehr schwer erschließt.
Wenn wir uns die Situation der Minijobber in diesemLand anschauen, dann müssen wir – da haben Sie recht –auch auf die Bereiche schauen, wo es Probleme gibt, woErwerbsbiografien entstehen, die uns nicht kalt lassenkönnen, weil sie im Zweifel zu Altersarmut führen kön-nen, wo es vor allem um die Frauen geht und um dieFrage: Gelingt es, aus einem Minijob heraus oder im An-schluss an einen Minijob
in ein vollwertiges sozialversicherungspflichtiges Be-schäftigungsverhältnis zu wechseln?Zur Wahrheit gehört es aber auch, zu sagen, dass dieLegende, die Sie hier stricken, dass wir eine Ausweitungder Minijobs wollen, nichts anderes ist als eine Legende.
Wir wollen lediglich die Rahmenbedingungen für dieMinijobber, die es gibt, verbessern. Sie wollen es ihnendagegen verwehren, an der Lohnentwicklung der letztenJahre und am wirtschaftlichen Aufschwung zu partizi-pieren, indem Sie die Minijobber in dem 400-Euro-Gettofestmauern wollen. Wir wollen, dass sie mehr bekom-men können, und zwar 450 Euro. Das haben die meistenMinijobber auch verdient. Sie müssen sich dann derFrage stellen: Was antworten Sie den Minijobbern, wennsie fragen, warum sie weiterhin 400 Euro und nicht450 Euro bekommen sollen? Darauf bin ich sehr ge-spannt.
Dass die Rede von der Ausweitung eine Legende ist,weil Sie damit unterstellen, dass es zulasten der sozial-versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissegeht, belegen schon die Zahlen. Während die Zahl derMinijobber seit Einführung nur leicht gestiegen ist, zwi-schenzeitlich sogar im ersten Quartal dieses Jahres rück-läufig war, wächst die Zahl der sozialversicherungs-pflichtigen Jobs in diesem Land überproportional. Wirhaben bei den sozialversicherungspflichtigen Beschäfti-gungsverhältnissen einen Anstieg um 9 Prozent. Dassind 2,4 Millionen.
Ehe Sie unterstellen, dass Minijobs dies verhinderten,sollten Sie lieber etwas Mathematik machen und sich nurdiese Statistik anschauen. Dann werden Sie ein bisschenschlauer.
– Schade, dass ich diesen Zwischenruf nicht verstandenhabe, Frau Kollegin.
Ich werde das mit großem Interesse im Protokoll nachle-sen. Vielleicht stellen Sie das nächste Mal eine Zwi-schenfrage.Wir müssen also mit dieser Legende aufräumen. Wirdürfen dabei die Probleme – das gestehe ich Ihnen zu –natürlich nicht aus dem Blick verlieren. Wir müssen aberauch die Fortschritte klar benennen. Das haben die Kol-leginnen und Kollegen, die hier gesprochen haben, ein-drucksvoll getan. Die Regelung, die wir jetzt bei derRentenversicherung treffen wollen, ist ein solcher Fort-schritt mit den beschriebenen Effekten.Einen Punkt muss man noch etwas näher benennen,weil er in der Debatte viel zu kurz kam: der Erfolg imKampf gegen die Schwarzarbeit.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24251
Dr. Peter Tauber
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Das betrifft gerade den Bereich der häuslichen Beschäf-tigungsverhältnisse. Schauen Sie sich doch die Wirklich-keit an. Es mag nicht in Ihr vorgeprägtes Weltbild pas-sen,
aber meistens ist die Wirklichkeit nicht so, wie man siesich wünscht.Schauen Sie sich doch an, wie viele 400-Euro-Jobs imHaushaltsbereich entstanden sind.
Diese Tätigkeiten wurden früher in Schwarzarbeit aus-geübt.
Darüber muss man reden. Es ist ein großer Erfolg, dassuns dies gelungen ist, und es ist wichtig, dass es dieseMöglichkeiten gibt.Werfen wir einen Blick auf diejenigen, die einen Mi-nijob haben. Allein in meinem Wahlkreis sind das32 000 Menschen, davon 7 000 junge Menschen, die ei-nen Minijob neben ihrem Studium, neben der Schuleoder vielleicht sogar neben der Berufsausbildung aus-üben. Diese jungen Menschen sagen möglicherweise:Das Ganze ist für mich eine tolle Chance, andere Berei-che des Arbeitslebens kennenzulernen. Das sind immer-hin 400 Euro, um die ich nicht Mama und Papa bittenmuss, sondern über die ich frei verfügen kann. – Das istfür junge Menschen viel Geld.
Insofern muss man festhalten: Es ist gut, dass es dieseJobs für junge Leute gibt, weil sie auf diese Weise ler-nen, wie unsere Arbeitswelt funktioniert, weil sie sichausprobieren können,
weil sie unterschiedliche Bereiche des Arbeitslebenskennenlernen, weil sie auch die Belastungen kennenler-nen, denen man sich im Arbeitsleben stellen muss.Wenn Sie das gleich als Ausbeutung definieren, dannhaben Sie eines nicht verstanden: Es gibt viele Men-schen, die gerne arbeiten und nicht nur deshalb neben ei-nem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsver-hältnis zusätzlich einen Minijob ausüben, weil es mitdem Gehalt nicht reicht. Das mag es auch geben.
– Das ist nicht die Regel. – Die Frage lautet aber: Wasmachen Sie mit diesen Menschen, wenn Sie ihnen den400-Euro-Job wegnehmen? Es gibt sehr viele Menschen,die sagen: Ich arbeite gerne, ich möchte gerne zusätzlichin einem anderen Bereich arbeiten, und deshalb macheich neben meinem Job noch einen Minijob. Es gibt bei-des. Es gehört zur Ehrlichkeit dazu, dass Sie endlich auf-hören, nur ein einseitiges Bild der Minijobber in diesemLand zu zeichnen.Dasselbe gilt übrigens auch für die Älteren. Natürlichgibt es auch die dramatischen Fälle, in denen die Rentenicht ausreicht und die Menschen gezwungen sind, miteinem 400-Euro-Job noch etwas hinzuzuverdienen. Esgibt jedoch sehr viele Rentnerinnen und Rentner, die sorüstig sind, dass sie noch etwas tun wollen und zum Bei-spiel mit einem 400-Euro-Job in ihrer alten Firma wei-terarbeiten.Unsere Aufgabe ist es, diese Bandbreite abzudecken.Hierum geht es, wenn wir diesen Gesetzentwurf disku-tieren. Man darf nicht pauschal sagen: Das taugt allesnichts, hier ist damals nicht ordentlich gearbeitet wor-den, wir krempeln das jetzt um. Das wäre der völlig fal-sche Ansatz bei diesem Thema.Lassen Sie mich zum Schluss noch Folgendes sagen:Wir hören, dass quer durch alle Fraktionen Praktikantenund Mitarbeiter auf 400-Euro-Basis beschäftigt werden.Das sind wohl eher junge Menschen, die neben dem Stu-dium in einer Bundestagsfraktion arbeiten oder dort einPraktikum machen und davon profitieren. Das ist ja auchin Ordnung. Das ist übrigens gängige Praxis in allenFraktionen. Es ist nun extrem unredlich von Ihnen, denKollegen von der FDP zu unterstellen, sie würden nachanderen Maßstäben verfahren, als wir das alle gemein-sam tun.
Umgekehrt müssen Sie sich die Frage gefallen lassen,ob Sie bei Ihren Praktikanten oder Mitarbeitern, die Sieauf 400-Euro-Basis beschäftigen, auch die Arbeitszeiteneinhalten.
Ich behaupte, nein.
Diese Leute werden nämlich viel länger im Büro sitzen.Den gegenteiligen Nachweis müssen Sie erbringen,wenn Sie den Kollegen von der FDP entsprechende Vor-würfe machen. Sie müssen sich an denselben Maßstäbenmessen lassen, die Sie an andere anlegen.
Das ist die Wahrheit.Als Letztes gebe ich Ihnen Folgendes mit auf denWeg: Wenn wir das nächste Mal über Minijobs diskutie-ren, dann lassen Sie sich Ihre Reden besser von IhrenMinijobbern schreiben; dabei kommt mehr rum, alswenn Sie es machen.
Danke.
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24252 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
(C)
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Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ge-
setzentwurf zu Änderungen im Bereich der geringfügi-
gen Beschäftigung.
Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt un-
ter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/11174, den Gesetzentwurf der Fraktionen der
CDU/CSU und FDP auf der Drucksache 17/10773 in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Damit ist der Gesetzentwurf in zwei-
ter Beratung angenommen.
Wir kommen nun zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Wir stimmen dabei über den
Gesetzentwurf auf Verlangen der Fraktion der SPD na-
mentlich ab. Bei der Stimmabgabe bitte ich alle Kolle-
ginnen und Kollegen sorgfältig darauf zu achten, dass
die Stimmkarten, die sie verwenden, auch Ihren Namen
tragen. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer,
die vorgesehenen Plätze einzunehmen.
Bevor ich die Abstimmung eröffne, weise ich darauf
hin, dass mir drei Erklärungen zur Abstimmung vorlie-
gen. Falls es noch weitere geben sollte, fügen wir sie wie
üblich dem Protokoll bei.
Sind alle Abstimmungsplätze von jeweils zwei
Schriftführern besetzt? – Dort ist das der Fall. Links
auch? – Dann eröffne ich die Abstimmung.
Ich stelle die obligate Frage: Haben alle anwesenden
Mitglieder an der Abstimmung teilgenommen? – Aha,
da kommt noch jemand.
Ich glaube, jetzt haben alle an der Abstimmung teilge-
nommen. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte
die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Aus-
zählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung
wird Ihnen später bekannt gegeben.1)
Wir setzen jetzt die Abstimmungen fort. Zunächst zur
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und
Soziales zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem
Titel „Minijobs mit sozialversicherungspflichtiger Ar-
beit gleichstellen“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buch-
stabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/11174, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/7386 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung?
– Ich bitte darum, sich an der Abstimmung zu beteiligen.
Wie ist es bei der CDU/CSU? Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung?
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU und
FDP gegen die Stimmen von SPD und Linken bei Ent-
haltung der Grünen angenommen.
Ich rufe die Zusatzpunkte 3 a bis 3 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl
Lauterbach, Elke Ferner, Bärbel Bas, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Praxisgebühr sofort abschaffen
– Drucksache 17/11192 –
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Weinberg, Dr. Martina Bunge, Diana Golze, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Praxisgebühr jetzt abschaffen
– Drucksache 17/11141 –
c) Beratung des Antrags der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Praxisgebühr und Zusatzbeiträge jetzt ab-
schaffen
– Drucksache 17/11179 –
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen verlangt, über
ihren Antrag in der Sache namentlich abzustimmen.
Diese namentliche Abstimmung werden wir aber nur
durchführen, wenn nicht, wie von den Koalitionsfraktio-
nen beantragt, zuvor die Ausschussüberweisung be-
schlossen wird.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das beschlos-
sen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Karl
Lauterbach für die SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen undKollegen! Die Praxisgebühr wurde in der Großen Koali-tion eingeführt. Mit ihr waren damals drei Hoffnungenverbunden: Wir wollten damals die Anzahl überflüssigerArztbesuche reduzieren, wir wollten die Anzahl unnöti-ger Facharztbesuche ohne vorherigen Hausarztbesuch re-duzieren, und wir wollten mehr Kostenbewusstsein beiden Patienten säen.Der Erfinder der Praxisgebühr ist heute nicht bei uns;er verantwortet sich in München. Das ist Horst Seehofergewesen. Ich erlaube hier ausdrücklich dem ZDF die Be-richterstattung über diesen Punkt.
Horst Seehofer hat damals im Vermittlungsausschuss– ich sage dies deshalb, weil man das selten hört – darum 1) Ergebnis Seite 24254 A
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24253
Dr. Karl Lauterbach
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(B)
gebeten, dass die Praxisgebühr eingeführt wird. Er wardamals in einem regelrechten Zuzahlungsrausch und for-derte, die Praxisgebühr bei jedem Arztbesuch zu erhe-ben. Wir haben damals als SPD verhindern können, dassdie Praxisgebühr bei jedem Arztbesuch gezahlt werdenmuss. Wir haben – so sage ich es einmal – dasSchlimmste verhindert. Aber der Erfinder der Praxisge-bühr – Unehre, wem Unehre gebührt – war HorstSeehofer.
Unsere damaligen Bedenken haben sich bestätigt: DieZahl der Arztbesuche ist gestiegen, sie ist nicht zurück-gegangen. Auch die Zahl unnötiger Facharztbesucheohne steuernde Wirkung hat zugenommen. Das Kosten-bewusstsein bei den Patienten ist nicht besser geworden.Wir haben mehr Bürokratie in den Praxen; die Ärzte leh-nen daher die Praxisgebühr zu Recht ab. Alte undKranke fühlen sich diskriminiert. Sie fragen sich: Wes-halb müssen wir dieses Sonderopfer erbringen, währenddie Krankenkassen fast 30 Milliarden Euro Überschusserwirtschaften?Die Praxisgebühr gehört somit abgeschafft; das isteine richtige Entscheidung. Dies bleibt auch dann einerichtige Entscheidung, wenn sich die FDP dafür einsetzt.Nicht alles, was die FDP für richtig hält, ist automatischfalsch.
Hier sind wir mit der FDP in einem Boot. Die Praxisge-bühr muss ersatzlos gestrichen werden.
Unsere Sorge ist – ich will es gleich auf den Punktbringen –, dass die unstrittig unsinnige Praxisgebührdurch ein noch unsinnigeres Betreuungsgeld ersetztwird. Das ist unsere Sorge. Wir wissen alle: Es ist einKuhhandel in Vorbereitung, der als solcher noch ver-deckt werden soll. Das gelingt aber, ehrlich gesagt, rechtschlecht. Die Praxisgebühr, die aus Perspektive der FDPunsinnig ist, soll gegen die Einführung des Betreuungs-geldes eingetauscht werden, das aus Sicht der FDP eben-falls unsinnig ist. Der Vizekanzler und FDP-VorsitzendeRösler trug vor, das Betreuungsgeld koste viel Geld, seinicht gegenfinanziert und eine Bildungskomponentefehle völlig. Da muss man sagen: Chapeau, Herr Rösler!Damit haben Sie es auf den Punkt gebracht. Dann ist esaber völlig unklar, weshalb Herr Brüderle darauf hin-weist, dass das unsinnige Betreuungsgeld jetzt einge-führt werden soll.Der Eindruck, der sich hier aufdrängt, ist: Die Praxis-gebühr schadet in erster Linie Alten und Kranken; siesoll jetzt durch ein Betreuungsgeld ersetzt werden, wel-ches in erster Linie Kindern schadet. Ich sage: Das istder Tiefpunkt des schwarz-gelben Regierungshand-werks, wenn man hier noch von „Handwerk“ zu spre-chen wagt.
Hier wird Murks gegen Murks getauscht. Seien wir dochehrlich: Hier wird ein Murks zugelassen, damit ein ande-rer Murks abgeschafft werden kann. Es wird fürDeutschland nichts erreicht. Es ist unklar, was dem Landmehr schadet: der abgeschaffte Murks oder der neu ein-geführte Murks. Insofern ist die Regierungskoalitionhier in einen Kuhhandel verwickelt, der zum Schluss al-len Beteiligten schadet.Vizekanzler Rösler wurde vom ParlamentarischenGeschäftsführer Oppermann als „Umfaller“ bezeichnet.Ich muss sagen: Besser kann man es nicht ausdrücken;es ist tatsächlich so. Vizekanzler Rösler hat sich selbstfrüher einmal als „Bambus im Sturm“ bezeichnet. Wennich ehrlich sein soll: Er erinnert heute eher an einen ein-geknickten Strohhalm als an einen Bambus im Sturm.
Wir haben der FDP und auch der Union heute ein fai-res Angebot zu machen. Das faire Angebot ist Folgen-des: Wir haben unseren Antrag modifiziert. Wir verzich-ten auf jedes Beiwerk. Mit unserem heutigen Antrag gibtes die Abschaffung der Praxisgebühr pur, ohne jedesBeiwerk, keine anderen Inhalte.
Das heißt: Wenn es die FDP ehrlich meint, dann kann sieheute mit uns abstimmen. Ein Kuhhandel ist bei unsnicht nötig. Bei uns bekommen Sie die sinnvolle Ab-schaffung der Praxisgebühr, ohne dass Sie dafür einemanderen Unsinn zustimmen müssen.Die Bundeskanzlerin, die gerade gekommen ist, er-weckt den Eindruck, als ob sie dies alles nichts angehe.Tatsache ist aber, dass der Murks, der hier getauschtwird, zum Schluss auch in ihrer Verantwortung liegt. Da-her ist es nicht unwichtig, was wir hier beschließen. Diewichtigen Entscheidungen, die im Ausland für unserLand zu treffen sind, ersetzen kein aktives Regierungs-handeln, das unsere Kinder und die alten und krankenMenschen im Land betrifft. Daher möchte ich appellie-ren, diese Debatte ernst genug zu nehmen.Wir bringen heute unseren Antrag ein, mit dem diePraxisgebühr abgeschafft werden kann, ohne dass sichjemand verbiegen muss, ohne Kuhhandel. Es ist eineehrliche Abschaffung. Meine sehr verehrten Kollegenvon der FDP, hier können Sie einmal Ehrlichkeit undRückgrat zeigen.
Sie können zeigen, dass Sie nicht nur Taktiker und Strate-gen sind, dass Sie es ernst meinen, dass Sie nicht zum Ver-druss beitragen. Denn genau diese Kuhhandel, die zulas-ten der Menschen gehen, führen zu Politikverdrossenheit.Das ist der Grund, weshalb Sie in Umfragen bei 3 Prozentliegen und die Union in keiner Großstadt mehr ernst ge-nommen wird und keine Wahl mehr gewinnen kann.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
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24254 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, zwischendurchgebe ich das von den Schriftführerinnen und Schriftfüh-rern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstim-mung über den von den Fraktionen der CDU/CSU undFDP eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu Ände-rungen im Bereich der geringfügigen Beschäftigungbekannt: abgegebene Stimmen 583. Mit Ja haben ge-stimmt 315, mit Nein haben gestimmt 268, Enthaltungenkeine. Der Gesetzentwurf ist damit angenommen.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 580;davonja: 314nein: 266JaCDU/CSUIlse AignerPeter AltmaierPeter AumerThomas BareißNorbert BarthleGünter BaumannManfred Behrens
Veronika BellmannDr. Christoph BergnerPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerDr. Maria BöhmerWolfgang Börnsen
Wolfgang BosbachNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexander DobrindtThomas DörflingerMarie-Luise DöttDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachDirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachHerbert FrankenhauserDr. Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserErich G. FritzDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelIngo GädechensDr. Peter GauweilerDr. Thomas GebhartNorbert GeisAlois GerigEberhard GiengerMichael GlosJosef GöppelPeter GötzDr. Wolfgang GötzerUte GranoldReinhard GrindelHermann GröheMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundMonika GrüttersOlav GuttingFlorian HahnDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilFrank HeinrichRudolf HenkeMichael HennrichAnsgar HevelingErnst HinskenPeter HintzeChristian HirteRobert HochbaumKarl HolmeierFranz-Josef HolzenkampJoachim HörsterAnette HübingerHubert HüppeDieter JasperDr. Franz Josef JungAndreas Jung
Dr. Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterAlois KarlBernhard Kaster
Volker KauderDr. Stefan KaufmannRoderich KiesewetterEwa KlamtVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenManfred KolbeDr. Rolf KoschorrekHartmut KoschykThomas KossendeyMichael KretschmerGunther KrichbaumDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Hermann KuesGünter LachDr. Karl A. Lamers
Andreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeDr. Max LehmerPaul LehriederDr. Ursula von der LeyenIngbert LiebingMatthias LietzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsDr. Jan-Marco LuczakDaniela LudwigDr. Michael LutherKarin MaagDr. Thomas de MaizièreHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Dr. Michael MeisterDr. Angela MerkelMaria MichalkDr. Mathias MiddelbergPhilipp MißfelderDietrich MonstadtMarlene MortlerDr. Gerd MüllerStefan Müller
Dr. Philipp MurmannBernd Neumann
Michaela NollDr. Georg NüßleinFranz ObermeierEduard OswaldHenning OtteDr. Michael PaulRita PawelskiUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferBeatrix PhilippRonald PofallaChristoph PolandRuprecht PolenzEckhard PolsThomas RachelDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergKatherina Reiche
Lothar RiebsamenJosef RiefKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckErwin RüddelAlbert Rupprecht
Anita Schäfer
Dr. Wolfgang SchäubleDr. Annette SchavanDr. Andreas ScheuerKarl SchiewerlingNorbert SchindlerTankred SchipanskiGeorg SchirmbeckChristian Schmidt
Patrick SchniederNadine Schön
Dr. Kristina SchröderBernhard Schulte-DrüggelteUwe Schummer
Detlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertJohannes SinghammerJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelErika SteinbachChristian Freiherr von StettenDieter StierGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerKarin StrenzThomas Strobl
Lena StrothmannMichael StübgenDr. Peter TauberAntje TillmannDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzVolkmar Vogel
Stefanie VogelsangAndrea Astrid VoßhoffDr. Johann WadephulMarco WanderwitzKai WegnerMarcus Weinberg
Peter Weiß
Sabine Weiss
Karl-Georg WellmannPeter WichtelAnnette Widmann-MauzKlaus-Peter Willsch
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24255
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Elisabeth Winkelmeier-BeckerDagmar G. WöhrlDr. Matthias ZimmerWolfgang ZöllerWilli ZylajewFDPJens AckermannChristian AhrendtChristine Aschenberg-DugnusDaniel Bahr
Florian BernschneiderSebastian BlumenthalClaudia BögelNicole Bracht-BendtKlaus BreilRainer BrüderleAngelika BrunkhorstMarco BuschmannSylvia CanelHelga DaubReiner DeutschmannBijan Djir-SaraiPatrick DöringMechthild DyckmansHans-Werner EhrenbergRainer ErdelJörg van EssenUlrike FlachOtto FrickeDr. Edmund Peter GeisenDr. Wolfgang GerhardtHans-Michael GoldmannHeinz GolombeckJoachim Günther
Dr. Christel Happach-KasanHeinz-Peter HausteinManuel HöferlinElke HoffBirgit HomburgerHeiner KampMichael KauchDr. Lutz KnopekPascal KoberDr. Heinrich L. KolbGudrun KoppDr. h. c. Jürgen KoppelinSebastian KörberHolger KrestelPatrick Kurth
Heinz LanfermannSibylle LaurischkHarald LeibrechtSabine Leutheusser-SchnarrenbergerLars LindemannDr. Martin Lindner
Michael Link
Dr. Erwin LotterOliver LuksicHorst MeierhoferPatrick MeinhardtGabriele MolitorJan MückePetra Müller
Burkhardt Müller-SönksenDr. Martin Neumann
Dirk NiebelHans-Joachim Otto
Cornelia PieperGisela PiltzJörg von PolheimDr. Birgit ReinemundDr. Peter RöhlingerDr. Stefan RuppertBjörn SängerFrank SchäfflerChristoph SchnurrJimmy SchulzMarina SchusterDr. Erik SchweickertWerner SimmlingJudith SkudelnyDr. Hermann Otto SolmsJoachim SpatzDr. Max StadlerTorsten StaffeldtDr. Rainer StinnerStephan ThomaeManfred TodtenhausenFlorian ToncarSerkan TörenJohannes Vogel
Dr. Daniel VolkDr. Guido WesterwelleDr. Claudia WintersteinDr. Volker WissingHartfrid Wolff
NeinSPDIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeinz-Joachim BarchmannDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsKlaus BarthelSören BartolBärbel BasSabine Bätzing-LichtenthälerUwe BeckmeyerLothar Binding
Gerd BollmannKlaus BrandnerWilli BraseBernhard Brinkmann
Marco BülowUlla BurchardtMartin BurkertPetra CroneDr. Peter DanckertElvira Drobinski-WeißSebastian EdathyIngo EgloffSiegmund EhrmannPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerElke FernerGabriele FograscherDr. Edgar FrankeDagmar FreitagMichael GerdesMartin GersterIris GleickeGünter GloserUlrike GottschalckAngelika Graf
Gabriele GronebergMichael GroßWolfgang GunkelHans-Joachim HackerBettina HagedornKlaus HagemannMichael Hartmann
Hubertus Heil
Wolfgang HellmichRolf HempelmannGustav HerzogGabriele Hiller-OhmPetra Hinz
Frank Hofmann
Dr. Eva HöglChristel HummeJosip JuratovicOliver KaczmarekJohannes KahrsDr. h. c. Susanne KastnerUlrich KelberLars KlingbeilHans-Ulrich KloseDr. Bärbel KoflerDaniela Kolbe
Fritz Rudolf KörperAnette KrammeAngelika Krüger-LeißnerUte KumpfChristine LambrechtChristian Lange
Dr. Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerKirsten LühmannCaren MarksKatja MastHilde MattheisPetra Merkel
Ullrich MeßmerDr. Matthias MierschFranz MünteferingDr. Rolf MützenichDietmar NietanThomas OppermannHolger OrtelAydan ÖzoğuzHeinz PaulaJohannes PflugJoachim PoßDr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeMechthild RawertStefan RebmannGerold ReichenbachDr. Carola ReimannSönke RixRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannKarin Roth
Michael Roth
Marlene Rupprecht
Annette SawadeAnton SchaafAxel Schäfer
Bernd ScheelenMarianne Schieder
Werner Schieder
Ulla Schmidt
Carsten Schneider
Swen Schulz
Ewald SchurerFrank SchwabeDr. Martin SchwanholzRolf SchwanitzStefan SchwartzeRita Schwarzelühr-SutterDr. Carsten SielingSonja SteffenPeer SteinbrückDr. Frank-Walter SteinmeierChristoph SträsserKerstin TackDr. h. c. Wolfgang ThierseFranz ThönnesWolfgang TiefenseeRüdiger VeitUte VogtDr. Marlies VolkmerAndrea WickleinHeidemarie Wieczorek-ZeulDr. Dieter WiefelspützWaltraud Wolff
Uta ZapfManfred ZöllmerBrigitte ZypriesDIE LINKEJan van AkenAgnes AlpersDr. Dietmar BartschHerbert BehrensKarin BinderMatthias W. BirkwaldHeidrun BluhmSteffen BockhahnChristine BuchholzEva Bulling-SchröterDr. Martina BungeRoland ClausSevim DağdelenHeidrun DittrichWerner DreibusDr. Dagmar EnkelmannKlaus ErnstWolfgang GehrckeNicole GohlkeDiana GolzeAnnette GrothDr. Gregor GysiHeike HänselDr. Rosemarie Hein
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24256 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Dr. Barbara HöllAndrej HunkoUlla JelpkeDr. Lukrezia JochimsenKatja KippingHarald KochJan KorteJutta KrellmannKatrin KunertCaren LaySabine LeidigRalph LenkertMichael LeutertStefan LiebichUlla LötzerDr. Gesine LötzschThomas LutzeUlrich MaurerCornelia MöhringKornelia MöllerNiema MovassatWolfgang NeškovićThomas NordPetra PauJens PetermannRichard PitterleYvonne PloetzPaul Schäfer
Michael SchlechtDr. Ilja SeifertKathrin Senger-SchäferRaju SharmaDr. Petra SitteKersten SteinkeSabine StüberDr. Kirsten TackmannFrank TempelAlexander UlrichKathrin VoglerJohanna VoßHalina WawzyniakHarald WeinbergKatrin WernerJörn WunderlichBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKerstin AndreaeMarieluise Beck
Volker Beck
Cornelia BehmBirgitt BenderAgnes BruggerViola von Cramon-TaubadelEkin DeligözKatja DörnerHarald EbnerHans-Josef FellDr. Thomas GambkeKai GehringKatrin Göring-EckardtBritta HaßelmannBettina HerlitziusPriska Hinz
Dr. Anton HofreiterBärbel HöhnIngrid HönlingerThilo HoppeUwe KekeritzKatja KeulMemet KilicSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkUte KoczyTom KoenigsSylvia Kotting-UhlOliver KrischerAgnes KrumwiedeStephan KühnRenate KünastMarkus KurthUndine Kurth
Monika LazarDr. Tobias LindnerNicole MaischJerzy MontagKerstin Müller
Beate Müller-GemmekeOmid NouripourFriedrich OstendorffDr. Hermann E. OttLisa PausBrigitte PothmerTabea RößnerClaudia Roth
Krista SagerManuel SarrazinDr. Gerhard SchickDr. Frithjof SchmidtUlrich SchneiderDorothea SteinerDr. Wolfgang Strengmann-KuhnHans-Christian StröbeleDr. Harald TerpeMarkus TresselJürgen TrittinDaniela WagnerBeate Walter-RosenheimerArfst Wagner
Wolfgang WielandDr. Valerie WilmsWir fahren in der Diskussion zum jetzigen Tagesord-nungspunkt fort. Ich erteile Johannes Singhammer fürdie CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Herr Lauterbach, Ihnen von der Opposition geht esnicht um die Praxisgebühr. Es geht Ihnen auch nicht umdie Sorgen der Patientinnen und Patienten.
Ihnen geht es um ein schräges, taktisches Spielchen.
Sie hoffen und glauben, dass Sie mit Ihrem Antrag dieKoalition in Bedrängnis bringen könnten.
Lassen Sie mich eines sagen: Ihr schiefer Winkelzugist zum Misserfolg verdammt. Warum? Weil er den Cha-rakter einer unfreiwilligen Vorlage hat.
Sie können über die Abschaffung der Praxisgebühr unddie Verringerung der Überschüsse der gesetzlichenKrankenversicherung nur sprechen, weil wir die histo-risch einmalige Situation von gefüllten Kassen im Ge-sundheitsfonds und bei den Krankenkassen haben.
Dieses historisch Einmalige, das hat diese Koalition ge-schafft, weil wir die richtigen Rahmenbedingungen ge-setzt und eisenharte Sparmaßnahmen verfügt haben.
Das war nicht planlos, sondern planvoll.
Im vergangenen Jahr sind allein bei den Arzneimitteln1,1 Milliarden Euro eingespart worden. Das ist derGrund für die jetzige komfortable Situation. Viele erin-nern sich noch: Vor nicht weniger als zwei Jahren habenwir diskutiert: Wie können wir das sich abzeichnendeDefizit von 11 Milliarden Euro vermeiden? Wie könnenwir das schwarze Loch im Bereich Finanzen beseitigen?Heute führen wir eine Diskussion, die im DeutschenBundestag in den vergangenen Jahrzehnten so nochnicht geführt worden ist: Wie gehen wir mit Überschüs-sen im Fonds, mit Reserven bei den Kassen um? Wassoll mit diesen Überschüssen geschehen?
Eine solche Diskussion ist für uns komfortabel, sie istangenehm, und wir werden dafür sorgen, dass uns dieÜberschüsse nicht zerrinnen, sondern dass der Aspektder Sicherheit bei der gesetzlichen Krankenversicherunggewahrt wird.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24257
Johannes Singhammer
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Zur Praxisgebühr. Sie ist natürlich auch zum Zweckder Einnahmegewinnung eingeführt worden. In den ver-gangenen Jahren – darauf hat der Kollege Zöller immerwieder hingewiesen – hat die Praxisgebühr 16 Milliar-den Euro eingebracht.
– Frau Ferner, Sie kommen mir gerade recht. Sie habenIhren Antrag ursprünglich überschrieben mit: „Hausärz-tinnen und Hausärzte stärken“. So haben Sie Ihren An-trag ursprünglich genannt.
Nun haben Sie ihn wieder beseitigt. Das ist auch gutso.
Denn die Praxisgebühr hat insbesondere bei den soge-nannten Hausarztverträgen zu einer Steuerungswirkunggeführt. Viele Hausarztverträge sind deshalb angestrebtworden und haben sich deshalb als attraktiv erwiesen,weil ein Bestandteil vieler dieser Verträge war, dass diePraxisgebühr in diesem Komplettpaket nicht mehr ent-halten ist. Wenn jetzt die Praxisgebühr abgeschafft wird,dann bedeutet das eine massive Verringerung der Attrak-tivität von Hausarztverträgen. Insofern ist es richtig, dassSie Ihren ursprünglichen Antragstext leicht verändert ha-ben. Ich kann Ihnen nur sagen: Machen Sie weiter so!Ich darf daran erinnern – Sie haben das so beiläufigerwähnt –: Die Praxisgebühr ist in der Zeit der rot-grü-nen Koalition beschlossen worden,
mit Zustimmung der Union. Ja, so war es.
2009 – auch das kann ich Ihnen nicht ersparen – hat diefrühere Gesundheitsministerin Ulla Schmidt – nicht2004, sondern 2009 – erklärt: Im Gegensatz zu Ländern,wo Patienten bei jedem Arztbesuch zuzahlen müssen, seidie Praxisgebühr moderat und sozial ausgewogen. Siesagte: „Wir planen keine Erhöhung, aber auch keineRücknahme.“ Das war vor drei Jahren. Ich stelle fest:Die politische Halbwertszeit von derartigen Bekundun-gen beträgt bei den Sozialdemokraten genau drei Jahre.
Was machen Sie nach der Bundestagswahl als Nächs-tes? Wie werden Sie Ihre Meinung wieder geändert ha-ben?
Ich sage Ihnen: Wichtiger als all diese Diskussionenist für die Patientinnen und Patienten, dass sie jederzeitund überall in unserem Land eine qualitätsvolle gesund-heitliche Versorgung erhalten.
Das interessiert die Menschen draußen. Sie wollen, dasses in der Stadt und auf dem Land gleichermaßen einequalitativ gute Versorgung gibt.
Deshalb fördern wir die Struktur der Gesundheitsversor-gung gleichmäßig und bewerten auch die Gesundheits-versorgung als eine Strukturleistung.
Das wird auch künftig nicht ohne Mehrausgaben zubewältigen sein. Wir haben mit Maßnahmen zur Steige-rung der Attraktivität des ländlichen Raumes begonnen,damit sich mehr Ärzte im ländlichen Raum niederlassen.Mit 120 Millionen Euro wollen wir die Feiertags- undNotdienste der Apotheken im ländlichen Raum honorie-ren. Damit stärken wir die Struktur in den ländlichen Re-gionen. Wir werden die Strukturleistung, die das Ge-sundheitswesen darstellt, weiterhin unterstützen. Dennder Ausbau der Verkehrsinfrastruktur und des schnellenInternets im ländlichen Raum kann keine positive Wir-kung entfalten, wenn in den ländlichen Regionen keineausreichende qualitätsvolle Gesundheitsversorgung vor-handen ist. Dann werden alle anderen Strukturmaßnah-men nichts nützen. Deshalb nehmen wir nochmals Geldin die Hand. Deshalb setzen wir hier einen Schwerpunkt.
Darum sage ich Ihnen: Lasst uns darüber diskutieren.Lasst uns den Menschen die Sicherheit geben, dass dieVersorgung auch weiterhin garantiert ist, und lasst unsnicht mit schrägen taktischen Spielchen, die erkennbarund durchschaubar sind, die Menschen verunsichern.
Wir machen eine nachhaltige Gesundheitspolitik auf ei-ner gesicherten finanziellen Basis. Diese Politik wird dieKoalition in den verbleibenden Monaten dieser Legis-laturperiode und in der nächsten Legislaturperiode fort-setzen.
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Das Wort hat nun Dietmar Bartsch für die Fraktion
Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol-lege Singhammer, mich hat gewundert, dass Sie allenhier unterstellen, dass es ihnen nur um Taktik geht. Wasglauben Sie eigentlich, was die Leute, die uns hier zu-hören, denken? Einigen von ihnen, die heute noch diePraxisgebühr zahlen müssen, fällt es vielleicht wirklichschwer, sie zu bezahlen.
Lassen Sie uns doch einmal über die Sache sprechen,darüber, worum es hier geht, über die Anträge der Oppo-sition. Lassen Sie uns beleuchten, ob die Abschaffungder Praxisgebühr machbar ist oder ob das nicht machbarist. Die Linke hat schon vor längerer Zeit einen solchenAntrag gestellt.
Sie haben im Ausschuss verhindert, dass dieser Antragauf die Tagesordnung gekommen ist.
In diesem Sinne: Lieber Karl Lauterbach, die Linke hatdamals ein ehrliches Angebot unterbreitet, dem die SPDhätte zustimmen können.
Eines ist doch ganz klar: Die Praxisgebühr ist unso-zial, die Praxisgebühr ist überflüssig, und die Praxisge-bühr gefährdet letztlich die Gesundheit. Wir haben schonbei der Einführung gesagt, dass wir dagegen sind. Seitlangem versuchen wir, die Praxisgebühr abzuschaffen.Jetzt gibt es einen großen Wettlauf: Die Grünen sind fürdie Abschaffung. Die Sozialdemokraten sind für die Ab-schaffung. Heute habe ich gelesen, dass das rot-grüneNordrhein-Westfalen die Abschaffung im Bundesrat be-antragen will. Die FDP ist für die Abschaffung derPraxisgebühr. Selbst bei der Union gibt es viele, die diePraxisgebühr abschaffen wollen. Eigentlich könnten wirheute ruhig abstimmen und die Praxisgebühr schlicht ab-schaffen.
Schauen Sie, es ist doch so: Auf der Gesundheitsmi-nisterkonferenz haben sich elf Länder dafür ausgespro-chen, dass die Praxisgebühr abgeschafft wird. Dasschwarz-gelb regierte Hessen ist dafür. Das zeigt dochganz klar: Das sollten wir machen. Warum machen wirdas nicht? Aus einem Grund: Im Koalitionsausschuss– da wird wie auf einem Basar oder bei einem Kuhhan-del verhandelt – steht die Praxisgebühr mit auf der Ta-gesordnung. Das kann doch wohl nicht wahr sein! Wiewollen Sie den Menschen erklären, dass das die Politikhier im Bundestag ist?
Ich will aber auch daran erinnern – das ist schon ge-sagt worden; das sollten wir alle nicht vergessen –, wanndie Praxisgebühr eingeführt worden ist. Das war 2004.Das hat Rot-Grün im Rahmen des GKV-Modernisie-rungsgesetzes gemacht, mit Zustimmung der CDU/CSU.Das war im Rahmen der Agenda 2010. Es ging darum,die Lohnnebenkosten zu senken, die Krankenversiche-rungsbeiträge zu senken und eine Steuerungswirkung zuentfalten. Die Praxisgebühr war Teil eines Pakets.Ich will den Anlass nutzen, um zu sagen, was allesdamals von Rot-Grün beschlossen worden ist. Es wur-den ja nicht nur die 10 Euro pro Quartal beschlossen. Eswurden eine Zuzahlung von 10 Prozent zu Arznei- undHilfsmitteln und bei einem Krankenhausaufenthalt anden ersten 28 Tagen 10 Euro pro Tag beschlossen. Es istbeschlossen worden, dass die Kosten für nicht verschrei-bungspflichtige Arzneimittel und die Fahrtkosten zurambulanten Behandlung komplett von den Patientinnenund Patienten getragen werden müssen. Das Entbin-dungs- und das Sterbegeld sind gestrichen worden. DieBelastungsobergrenze für Zuzahlungen ist auf 2 Prozentdes jährlichen Bruttoeinkommens erhöht worden. Dasalles ist damals von Rot-Grün im Rahmen der Agenda2010 zulasten der Patientinnen und Patienten beschlos-sen worden.Die Praxisgebühr – das ist sonnenklar; ich glaube, dagibt es Konsens hier im Haus – hat ihre Ziele nicht er-reicht. Die Steuerungswirkung ist nicht eingetreten. Wirkönnen feststellen, dass es insgesamt nicht wenigerArztbesuche gibt. Es gibt sogar mehr Arztbesuche. Abereinige Versicherte verzichten deswegen auf Arztbesu-che. Das sind nicht wir Bundestagsabgeordnete und an-dere Gutverdienende. Wer verzichtet darauf? Die Ge-ringverdienenden sowie Rentnerinnen und Rentner.
Der Verzicht auf Arztbesuche führt zur Verschleppungvon Krankheiten und hat negative Folgen für die Ge-sundheit. Letztlich führt dies sogar zu Zusatzkosten. Ei-nige Versicherte gehen oft zum Arzt, aber gerade die so-zial Schwächeren verzichten auf Arztbesuche.
Dazu kommt der bürokratische Aufwand; das wissenwir alle. Auch die FDP weist darauf hin. Die Bürokratie-kosten für Arztpraxen betragen 360 Millionen Euro.Dieses Geld steht für die Patientinnen und Patientenletztlich nicht zur Verfügung. Die zusätzlichen Einnah-men betragen nicht 8 Milliarden Euro. Es sind nichteinmal 2 Milliarden Euro pro Jahr. Wenn man diese Ein-nahmen einmal in Relation zu den Einnahmen des Ge-sundheitsfonds betrachtet – diese liegen bei ungefähr180, 190 Milliarden Euro –, dann sieht man, dass sie
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Dr. Dietmar Bartsch
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circa 1 Prozent der Einnahmen des Gesundheitsfondsausmachen. Das hat die Praxisgebühr eingebracht.Noch einmal: Die anderen Maßnahmen haben für diePatientinnen und Patienten insgesamt zusätzliche Belas-tungen in Höhe von 46 Milliarden Euro gebracht. DasErgebnis ist – dies verkünden Sie jetzt mit großemStolz –: Die Krankenversicherungen haben einen Über-schuss von über 20 Milliarden Euro. Ich finde, dass esnicht in Ordnung ist, wenn auf der einen Seite die Kran-kenkassen einen Überschuss von 20 Milliarden Euro ha-ben und auf der anderen Seite die Ärmsten der Bevölke-rung eine Praxisgebühr zahlen müssen. Das ist nichtakzeptabel.
Im Übrigen gibt es auch bei den Kassen sehr wohldifferenzierte Sichtweisen. Es ist nicht so, dass alle Kas-sen das ganz toll finden. Es ist im Übrigen auch eineschreiende Ungerechtigkeit, dass 9 Millionen Privatver-sicherte diese Gebühr nicht zahlen. Dies ist eine Zwei-klassenmedizin.
Nun möchte ich einen Satz zur SPD sagen. Man kannes ja nett ausdrücken, lieber Karl Lauterbach, und es eineWeiterentwicklung von Positionen nennen und von Er-kenntniszuwachs sprechen. Eines allerdings geht nicht:dass sich die SPD in dieser Frage als Speerspitze der Be-wegung geriert. Das ist sie nicht.
Es gibt nämlich eine andere Fraktion, die die Abschaf-fung der Praxisgebühr seit vielen Jahren fordert.Ich finde es zwar gut, dass sich Ihre Position verän-dert hat; letztlich müssen wir aber auf etwas anderesdrängen. Wir brauchen eine solidarische Bürgerversiche-rung, damit wir diesen Bereich insgesamt verändern.Nicht nur die Praxisgebühr muss weg. Die Beitragsbe-messungsgrenze muss natürlich auch aufgehoben wer-den. Wir müssen Beamte, Abgeordnete und Selbststän-dige in das allgemeine System einzahlen lassen. Dannwerden wir dieses Problem lösen können.Wir als Linke haben eine Studie anfertigen lassen. DieErgebnisse dieser Studie sind sonnenklar. Ähnliche Er-kenntnisse gibt es auch bei den Sozialdemokraten. Ak-tuell liegen die Beiträge bei 15,5 Prozent, nicht einmalparitätisch zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf-geteilt. Wir wollen eine Bürgerversicherung mit einemBeitrag in Höhe von 10,5 Prozent, wobei beide, Ar-beitgeber und Arbeitnehmer, 5,25 Prozent übernehmen.Dann könnten wir alle Zuzahlungen abschaffen, wirkönnten die Praxisgebühr abschaffen, und wir könntendas Ganze finanzieren. Das wäre der Weg; das wärewirklich eine große Lösung.
Es ist natürlich interessant, dass auch Sie das wollen.Wir alle wissen, dass die Privatversicherungen im Nie-dergang sind. Das wird sich so ergeben.
– Nur zu, ich bin ja für die Bürgerversicherung. Sie müs-sen mir aber eines erklären: Wenn Sie wirklich für dieBürgerversicherung sind, dann müsste doch für Sie – an-ders als für Ihren Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück –die FDP ein Albtraumpartner sein; denn die wollen dasnicht.
Die Linke wäre der Traumpartner; denn wir wollen eineBürgerversicherung. Lassen Sie uns das doch gemein-sam machen. Das wäre eine vernünftige Variante. Wirsollten darüber nachdenken, hier einen großen Schnitt zumachen, und nicht nur kurzfristig handeln.Sie haben jetzt gesagt, dass Sie einen Antrag vorle-gen, in dem Sie ausschließlich die Abschaffung der Pra-xisgebühr fordern. Ich sage Ihnen: Wir werden IhremAntrag bei allen Differenzen – die Linke verhält sich daein bisschen anders –, zustimmen. Die Grünen haben ei-nen Antrag gestellt. Ich sage ganz klar: Die Fraktion DieLinke stimmt diesem Antrag zu. Die FDP ist für die Ab-schaffung der Praxisgebühr. Es könnte heute eine ganzeinfache Angelegenheit sein: Wir stimmen ab, und wirschaffen die Praxisgebühr ab. Ich glaube, im Lande wür-den sich ganz viele darüber freuen.Ganz nebenbei: Es wäre ein Gewinn für die Demo-kratie, wenn wir einmal außerhalb dieser Basarhandlun-gen und außerhalb von Anrufen und Ähnlichem etwasim Bundestag klärten, wovon die Mehrheit des Hausesüberzeugt ist. Die Mehrheit hält die Einführung der Pra-xisgebühr für einen großen Fehler, weil alles das, wasman sich davon erwartet hat, nicht eingetroffen ist. Wirsollten endlich eine Entscheidung treffen, die im Sinneder Ärztinnen und Ärzte, im Sinne der Patientinnen undPatienten, im Sinne der Krankenkassen, also im Sinneder Mehrheit in diesem Lande ist.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Heinz Lanfermann für die FDP-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Da-men und Herren! Wir haben hier schon eine Vielzahl vonDebatten zur Gesundheitspolitik erlebt. Mit einer ganzenReihe von Gesetzen haben wir die Finanzen wieder inOrdnung gebracht. Wir haben den Arzneimittelmarkt völ-lig neu organisiert, wir haben das GKV-Versorgungs-strukturgesetz durchs Parlament gebracht, das insbeson-
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24260 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Heinz Lanfermann
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dere für den ländlichen Raum viele Verbesserungenbringt. Zuletzt haben wir das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz beschlossen, von dem insbesondere Menschen mitDemenz profitieren.Wir kümmern uns um eine Verbesserung der gesund-heitlichen Versorgung, die schon sehr gut ist in diesemLande. Das, was noch verbessert werden kann, gehender liberale Gesundheitsminister und die Gesundheits-politiker von CDU/CSU und FDP gemeinsam an.
„Worum geht es heute?“, wird sich mancher Zu-schauer fragen. Angeblich geht es um die Praxisgebühr;doch das stimmt so nicht ganz.Herr Kollege Lauterbach, Sie haben versucht, sich inein fremdes Boot zu setzen. Als Kuckucksei werden Siebei uns nicht unterkommen. Sie wollen gerne teilhabenan einer Diskussion, die in den letzten anderthalb Jahrenin der Hauptsache von der FDP angestoßen wurde.
Es geht darum, Ideen zu entwickeln, gute Gründe vorzu-tragen, sich aber auch Argumente anzuhören, die dage-gen sprechen könnten. In dieser Debatte befinden wiruns im Übrigen noch.Indem hier Anträge gestellt werden, die aus Versatz-stücken früherer Anträge bestehen, wird in der Öffent-lichkeit der Eindruck erweckt, die Opposition würde ander Mitarbeit gehindert. Damit muss ich aufräumen. Wirwären ganz im Gegenteil froh, wenn aus der Oppositionkonstruktive Vorschläge kämen und die Debatte mit unswirklich geführt würde.Die drei Anträge der einzelnen Oppositionsfraktio-nen, die heute wieder neue Anträge gestellt haben, sindim Plenum bereits ausführlich behandelt worden. Wie essich gehört – so werden wir es auch heute halten –, ha-ben wir die Anträge an den Gesundheitsausschuss über-wiesen. Im Ausschuss sind die Anträge auf die Tages-ordnung gesetzt und aufgerufen worden. Über die Sachesprechen wollten die Oppositionsfraktionen nicht. Siewollten, dass möglichst schnell abgestimmt wird, damitdie Anträge wieder ins Plenum gehen. So wiederholtsich ein seltsames Schauspiel im Gesundheitsausschuss,über das man hier durchaus einmal berichten sollte: Ichhabe im Ausschuss mehrfach den Antrag gestellt, dasswir diskutieren, man aber bitte darauf Rücksicht nehmenmöge, dass innerhalb der Koalition eine diesbezüglicheDiskussion läuft. Wir wollen, wie es im Koalitionsver-trag steht, prüfen, ob die Praxisgebühr sinnvoller und un-bürokratischer erhoben werden kann. Das hängt zusam-men mit der generellen Frage – auch das ist keinGeheimnis –, welche Steuerungsinstrumente es denn ge-ben könnte, die womöglich sinnvoller sind als die Pra-xisgebühr, über die zumindest die Mehrheit der Betrach-ter sagt, dass sie ihre Lenkungsfunktion nicht oderjedenfalls nicht sehr gut erfüllt. Das haben Sie leidernicht wahrgenommen. Das heißt, dieser Tagesordnungs-punkt wird seit mehreren Sitzungswochen jedes Mal imAusschuss auf die Tagesordnung gesetzt und von derVorsitzenden aufgerufen; aber es meldet sich aus der Op-position niemand zu Wort, um entsprechende Beiträgevorzubringen. Das Einzige, was Sie wollen, ist, dass ab-gestimmt wird. Wir sagen: Wir haben hier noch Bera-tungsbedarf untereinander.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, danke. – Diese Beratung führen wir, und wirsind kurz vor dem Ziel, zusammen eine vernünftige Lö-sung zu erarbeiten. Das können Sie übrigens alles denTageszeitungen entnehmen, weil darüber auch genügendgeschrieben und gesprochen wird.Deswegen verwahre ich mich in aller Form gegendas, was Herr Bartsch gesagt hat. Ich bedaure übrigens,dass weder der Kollege Weinberg noch die KolleginBunge dazu reden, die sich tatsächlich schon seit länge-rem mit diesem Thema beschäftigen.
Immer dann, wenn es angeblich wichtig wird, sprechenandere aus der Fraktion. Die Kollegin Bender hat das mitdem Kollegen Kuhn auch erlebt. Die Stuttgarter Wählerhaben sie jetzt davon erlöst, sodass das hier nicht mehrvorkommen wird.Ich habe hier mit Erstaunen festgestellt, dass Sie ge-sagt haben, wir hätten das von der Tagesordnung abge-setzt, Herr Bartsch. Das stimmt so nicht. Es ist niemalsim Gesundheitsausschuss von der Tagesordnung abge-setzt worden. Sie haben nur die Gelegenheit zur Diskus-sion erst gar nicht wahrgenommen. Ich möchte Sie dochbitten, dass Sie da bei der Wahrheit bleiben.Meine Damen und Herren, wir haben erlebt, dass dieSPD einen Antrag gestellt hat. Herr Lauterbach hat dannversucht, uns einzuladen. Sie haben aber in der Tat ge-trickst. Zuerst haben Sie einen Antrag verschickt, in demes hauptsächlich um das Hausarztmodell ging, weil Siees hier wieder heimlich auf die Tagesordnung bringenwollten. In allerletzter Minute haben Sie dann gemerkt,dass das vielleicht nicht ganz passt. Der KollegeSinghammer hat schon einiges dazu gesagt. Deswegenhaben Sie Ihren Antrag schnell noch abgeändert und aufdie Praxisgebühr beschränkt.Ich sage Ihnen in aller Offenheit: Es gibt gute Gründe,zu diskutieren. Wir haben über die Steuerungswirkungzu sprechen. Wir haben über die Finanzwirkung zu spre-chen. Wir haben über die Konstruktion zu sprechen. EinInkasso für Dritte ist nämlich immer eine unglücklicheKonstruktion. Die Ärzte haben ja niemals die Praxisge-bühr für sich eingetrieben, sondern das immer für dieKrankenkassen getan. Zuerst haben sie sogar noch Ver-luste damit gemacht, weil sie hinter Geld herlaufenmussten, was dann noch mehr Geld gekostet hat. Außer-dem gibt es Bürokratiekosten.
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Heinz Lanfermann
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Wir haben uns bereits Gedanken darüber gemacht.Bis hin zur Kanzlerin haben wir erreicht, dass jetzt da-rüber nachgedacht wird. Wir stehen kurz vor einem, wieich glaube, erfolgreichen Ende.Liebe Kollegen, deswegen appelliere ich an Sie: Las-sen Sie uns das Ganze weiter im Ausschuss beraten – da,wo es hingehört.
Das Wort hat nun Birgitt Bender für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jetzt re-den wir einmal nicht über Geschäftsordnung und Gedan-ken, sondern über die Politik, die diese Regierungmacht.
Nach acht Jahren Geltung der Praxisgebühr kann manganz nüchtern feststellen: Die Praxisgebühr ist ein büro-kratisches Ärgernis in den Praxen und ein soziales Är-gernis im Hinblick auf Arme und Kranke, die – Überfor-derungsklausel hin oder her – deswegen Arztbesuchehinausschieben. Das können wir nicht wollen. Deswegengibt es gute Gründe, die Praxisgebühr abzuschaffen.
Wir stellen auch fest: Im Gesundheitsfonds ist im Mo-ment – auch unter Beachtung der notwendigen Rückla-gen – genügend Geld, um die Abschaffung der Praxisge-bühr zweieinhalb Jahre lang zu finanzieren. Also sprichteigentlich alles dafür, es zu tun.Wir stellen nun aber fest: In der Regierung gibt es ei-nen Kuhhandel. Die FDP hat jetzt ein Thema entdeckt,das „Entlastung der Versicherten“ heißt. Entlastung derVersicherten? Geht es Ihnen wirklich darum? Was dür-fen wir denn allen Berichten entnehmen? Die FDP istjetzt bereit, einer schuldenfinanzierten Ausgabe von1,5 Milliarden Euro zuzustimmen – das sogenannte Be-treuungsgeld; der Sache nach nichts anderes als eineFernhalteprämie für Kinder aus der Kita; mithin 1,5 Mil-liarden Euro Schulden dafür, dass Kinder aus armen Fa-milien weniger Chancen auf Förderung haben, als sie inder Kita hätten.
Die FDP weiß sogar, dass das so ist, und hat es auchgesagt. Sie ist aber bereit, das dafür mitzumachen, dasses 2 Milliarden Euro weniger bei der Praxisgebühr gibt.Das nennen Sie Entlastung? Das ist doch lächerlich. Dasist ein politischer Kuhhandel. Er stinkt zum Himmel.Dafür kann man Sie in keiner Weise loben.
Sie haben aber Gelegenheit, heute unseren Anträgenhier zuzustimmen. In diesem Zusammenhang muss mannoch einmal sagen, worum es bei der Praxisgebühr auchgeht. Ich habe gesagt, dass im Moment im Gesundheits-fonds genügend Geld vorhanden ist, um ihre Abschaf-fung zu finanzieren. Dass Geld vorhanden ist, ist abernicht das Ergebnis guter Politik. Warum haben wir dennÜberschüsse im Gesundheitsfonds? Warum haben wirÜberschüsse bei den Kassen? Weil Sie, aufbauend aufden Vorarbeiten der Großen Koalition, ein Modell ge-schaffen haben, bei dem es nicht nur einen Einheitsbei-trag gibt, sondern auch eine Unterfinanzierung der Kas-sen, die sich das Geld über einen Zusatzbeitrag holensollen.Schwarz-Gelb hat diesen von Beschäftigten und Ar-beitgebern zu zahlenden Beitrag eingefroren. Sie wollen,dass in Zukunft nur noch die Versicherten für die Bewäl-tigung jeglicher Kostensteigerung im Gesundheitswesenzuständig sind. Weil Sie aber Angst vor Ihrer eigenenCourage hatten, haben Sie den einheitlichen Beitragssatzgeschwind noch einmal erhöht. Deswegen ist so vielGeld im Gesundheitsfonds.Weil die Kassen Angst vor dem Zusatzbeitrag hatten,haben sie das Geld die ganze Zeit festgehalten, keinGeld für neue Versorgungsmodelle ausgegeben und beider Reha gespart. Das Ganze ist eine Innovationsbremseim Gesundheitswesen par excellence.
Sozial ist daran überhaupt nichts. Wenn es nämlichkeinen Regierungswechsel gäbe, dann würde die Ab-schaffung der Praxisgebühr mittelfristig natürlich wiederzu Zusatzbeiträgen führen. Sie würden mit den Versi-cherten also „Linke Tasche – rechte Tasche“ spielen. Ge-nau das wollen wir verhindern.
Wir wollen, dass das Gesundheitswesen wieder ge-scheit finanziert ist. Der Weg dahin ist die Bürgerversi-cherung.Als Erstes müssen die Kassen wieder entscheidenkönnen, welche Beiträge sie erheben. Dann werden etli-che die Beiträge senken, und das Geld geht direkt in dieTaschen der Versicherten.Abgeschafft werden müssen dabei die Zusatzbeiträge,und abgeschafft wird dabei auch die Praxisgebühr. Mit-telfristig wird sie durch die Bürgerversicherung finan-ziert, wodurch es zu größerer Solidarität und mehr Ein-nahmen kommt. Das muss die Perspektive sein – undkein Kuhhandel, bei dem man noch Geld dafür heraus-wirft, die sozialen Chancen Benachteiligter noch weiterzu vermindern. Das kann es nicht sein.
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Das Wort hat nun Jens Spahn für die CDU/CSU-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichfinde es wichtig, sich angesichts der Debatte noch ein-mal in Erinnerung zu rufen, warum wir überhaupt in derLage sind, eine solche Debatte zu führen,
und dass es eigentlich ein Novum in der längeren, jünge-ren deutschen Krankenversicherungsgeschichte ist, dasswir mittlerweile seit Wochen öffentlich an vielen Stellendarüber reden, wie wir mit Rücklagen in der gesetzli-chen Krankenversicherung umgehen.Über Jahrzehnte wurde immer darüber gesprochen,wie wir mit Defiziten umgehen und dass wir im Gesund-heitswesen Kostendämpfung betreiben müssen. Unsereerfolgreiche Politik hat uns dahin gebracht, dass wir inden sozialen Sicherungssystemen Rücklagen haben. Ichfinde, das gehört am Anfang einer solchen Debatte ersteinmal entsprechend gewürdigt.
Diese Rücklagen haben für sich genommen tatsäch-lich große Formen angenommen. Sie betragen im Ge-sundheitsfonds 10 Milliarden Euro. Bei einzelnen Kas-sen sind es noch einmal Rücklagen in Höhe von14 Milliarden Euro. Das muss man übrigens bitte wirk-lich differenzieren, Herr Kollege Lauterbach; das kön-nen Sie nicht einfach zusammenzählen. Das heißt also,einzelne Kassen haben sehr hohe Rücklagen, währendandere auch heute noch Zusatzbeiträge erheben. Ge-nauso wie es früher Unterschiede beim Beitragssatz gab,gibt es heute Unterschiede in der Finanzsituation derKassen. Die einen schütten Prämien aus, andere müssenZusatzbeiträge erheben. Das ist gelebter Preiswettbe-werb.Die Summen sind für sich genommen natürlich hoch.10 Milliarden Euro: Das ist und bleibt eine Menge Geld.Zur Wahrheit gehört aber auch, zu sagen: Bei Gesamt-ausgaben für die gesetzliche Krankenversicherung imnächsten Jahr von 190 Milliarden Euro reichen 10 Mil-liarden Euro nicht einmal, um sie einen halben Monatlang zu finanzieren. Auch das müssen wir in der Debatteeinmal deutlich machen: Es sind Rücklagen da, und esist gut, dass es Rücklagen gibt, aber wir sollten es aucheinmal ertragen, diese Rücklagen zu behalten, für denFall, dass wieder schlechtere Zeiten kommen. Dafürwerben wir in der Union jedenfalls massiv.
Rücklagen auch einmal ertragen und erhalten zu kön-nen und in der Politik nicht gleich wieder Debatten da-rüber führen zu müssen, wie wir Rücklagen möglichstschnell wieder ausgeben können, ist wichtig und im Üb-rigen insbesondere auch im Interesse von Patientinnenund Patienten;
denn zum einen kann uns keiner garantieren, dass diegute wirtschaftliche Lage in einer Zeit, in der es in fastallen Ländern auf der Welt wirtschaftlich nicht ganz sogut läuft, für uns, die Exportnation Deutschland, weiter-hin so bestehen bleibt, und zum anderen erwartet unseine demografische Veränderung – wir werden wenigerund älter –, die sich natürlich auch im Gesundheitswesenund bei der Bekämpfung und Behandlung von Krankhei-ten bemerkbar machen wird.Deswegen ist es im Interesse von Patientinnen undPatienten, aber auch von denjenigen, die im Gesund-heitswesen tätig sind, dass wir einmal drei, vier, fünf,sechs Jahre lang und idealerweise noch länger Stabilitätin der gesetzlichen Krankenversicherung haben.
Dafür sind Rücklagen gut. Deswegen wollen wir gernevon diesen Rücklagen möglichst viel erhalten.
– Das gilt im Übrigen auch für die Rente. Darauf weiseich hin, weil Sie hier immer „Rente“ schreien. Ja, wirsenken den Beitragssatz in der Rentenversicherung, aberes bleiben selbst nach der Senkung des Beitragssatzesnoch 20 Milliarden Euro an Rücklagen in der Rentenver-sicherung übrig.
Das heißt, auch dort betreiben wir Vorsorge für schlech-tere Zeiten. Auch dort wollen wir Geld zurücklegen,weil das eben im Interesse derjenigen ist, die damit viel-leicht dieses Jahr nichts zu tun haben, aber in drei, vieroder fünf Jahren mit diesem sozialen Sicherungssystemumgehen müssen.Ein anderer Punkt ist die Praxisgebühr und IhreFrage, Herr Lauterbach: Wer hat sie denn eigentlich ein-geführt? Wissen Sie, das ist das grundsätzliche Problemjenseits der Praxisgebühr, das Sie bzw. Rot-Grün mitdem haben, was Sie im Übrigen zusammen mit uns anvielen Stellen, auch in der Opposition, eine verantwor-tungsvolle Rolle übernehmend, unter dem Oberbegriff„Agenda 2010“ beschlossen haben. Es ging um die Ge-sundheitsreform, eine Rentenreform, eine Steuerreform,die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe,Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt.Genau diese Maßnahmen, vor sechs, sieben, acht Jah-ren beschlossen, haben den deutschen Aufschwung, denwir heute haben, das zweite große deutsche Wirtschafts-wunder, erst möglich gemacht. Wir stehen heute wirt-schaftlich so gut da wie nie zuvor, im Grunde genommenseit vielen Jahrzehnten. Wir haben in vielen Regionendes Landes Vollbeschäftigung. Wir haben in Deutsch-land so viele Menschen in Beschäftigung wie noch nie
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Jens Spahn
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zuvor. Das hat mit den Reformen vor sechs, sieben, achtJahren zu tun. Sie schämen sich aber für das, was Sie ge-tan haben. Deswegen stellen die Menschen diesen positi-ven Kontext zwischen „Es wurden Reformen gemacht“und „Diese Reformen haben Erfolg gehabt“ nicht her,weil Sie sich ständig populistisch in die Büsche schla-gen. Das ist an dieser Stelle ein grundsätzliches Problem.
Die Praxisgebühr ist ein Ausfluss dieses grundsätz-lichen Problems. Ulla Schmidt ist gerade schon zitiertworden. Sie hat sich zu Recht bis 2009 – heute traut siesich wahrscheinlich nicht mehr, das zu sagen, weil dasbei Ihnen nicht mehr angesagt ist – dazu bekannt. Wirhaben die Zuzahlungen gemeinsam eingeführt: Zuzah-lungen als Steuerungselement,
aber auch als eine Form von Solidarität desjenigen, derauf eines der besten Gesundheitswesen der Welt zählenkann. Herr Bartsch, Sie sollten nicht so unehrlich daher-reden, wie Sie das gerade gemacht haben.
Wir haben für die sogenannte Chronikerregelung ge-sorgt: Ein chronisch Kranker muss nicht mehr als 1 Pro-zent seines Einkommens für die Praxisgebühr aufwen-den.
– Frau Ferner, ich glaube, wir haben diese Regelunggemeinsam eingeführt. Sie stehen zwar nicht mehr dazu.Dafür schreien Sie ganz schön laut herum.
Von den allgemein Versicherten muss niemand mehr als2 Prozent seines Einkommens dafür aufwenden. Dasheißt, dass Geringverdiener, dass chronisch Krankedurch Zuzahlungen natürlich nicht überfordert werden.Wir haben das bewusst sozial ausgewogen.
Deswegen muss jemand, der beispielsweise nur1 000 Euro im Monat hat, niemals mehr als 10 Euro imMonat für Zuzahlungen oder für die Praxisgebühr ausge-ben und kann gleichzeitig darauf hoffen, dass eines derbesten Gesundheitswesen der Welt mit guten Leistungenin jeder Lebenslage und bei jeder Erkrankung, egal wieteuer die Behandlung ist, für ihn zur Verfügung steht.Auch das ist eine Form von Solidarität.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Lauterbach?
Jederzeit mit Freude.
Vielen Dank. – Sie haben gerade den Kollegen
Bartsch gemaßregelt,
er hätte fälschlicherweise die Chronikerregelung kriti-
siert, die Sie eingeführt hätten. Ist es richtig, dass die
Union damals gegen die Einführung der Chronikerrege-
lung gewesen ist? Ist es richtig, dass Sie in der letzten
Legislaturperiode die bestehende Chronikerregelung, die
Sie sich gerade noch selbst zugeschrieben haben, ab-
schaffen wollten?
Es ist erst einmal richtig, wie ich das schon festge-stellt habe, dass wir die Chronikerregelung vor acht Jah-ren gemeinsam eingeführt haben.
– Sie müssen einmal differenziert debattieren lernen,finde ich manchmal.
– Sie machen das immer mit dem Vorschlaghammer.
– Nein, ein chronisch Kranker ist nicht per se sozialschwach.
Es gibt Millionäre mit Diabetes. Auch in diesem Landgibt es sie.
Deswegen haben wir einmal gesagt: Lasst uns doch ein-mal schauen, ob die Chronikerregelung nicht zu weitgefasst ist; denn darüber, dass wir den Millionär mit Dia-betes nur 1 Prozent und nicht 2 Prozent seines Einkom-mens zuzahlen lassen, kann man einmal reden.
Dass aber diejenigen, die nur ein geringes Einkommenhaben, insbesondere dann, wenn sie chronisch kranksind und regelmäßig Medikamente brauchen, natürlichnicht überfordert werden dürfen,
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Jens Spahn
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und dass es dafür natürlich eine prozentuale Begrenzungbraucht, haben wir nie infrage gestellt. Das ist sogar eineelementare Regelung eines fairen, eines gerechten Sys-tems. Wir wollen allerdings dieses Instrument zielgenaubei denen einsetzen, die ein geringes Einkommen haben.Heute profitieren aber auch viele davon, die gut verdie-nen. Wir wollen es gerechter machen, und wenn es da-rum geht, sind wir jederzeit dabei.
Ich bleibe dabei: Die Praxisgebühr als Form der Zu-zahlung ist grundsätzlich auch eine Form von Solidari-tät. Das heißt, wenn ich Krebs habe, wenn ich MultipleSklerose habe, wenn ich Parkinson habe, kann ich damitrechnen, dass mir eines der besten Gesundheitssystemeder Welt zur Verfügung steht und dass mir von der Soli-dargemeinschaft geholfen wird. Im Rahmen dessen, wasich leisten kann, und unter Berücksichtigung von Ein-kommensgrenzen bringe ich mich aber auch ein. Ichglaube – das erlebt man auch in zahlreichen Veranstal-tungen –, viele Menschen sind genau dazu bereit.Wir haben aber auch gesagt – es ist richtig, darüber zudiskutieren –, dass man die hohen Rücklagen auch dazunutzen kann, die Bürgerinnen und Bürger moderat zuentlasten. Der größte Teil sollte aber für schlechte Zeitenzurückgelegt werden. Gleichzeitig können wir in der ge-setzlichen Krankenversicherung eine moderate Entlas-tung vornehmen in einer Phase, in der es sinnvoll ist, Im-pulse für wirtschaftliches Wachstum im nächsten Jahr zusetzen. Darüber reden wir gerade in der Großen Koali-tion.
– Das war ein klassischer Freud’scher Versprecher. Ichmeinte natürlich unsere großartige Koalition. Ich mussteheute so oft unsere gemeinsamen Beschlüsse loben, dassich gedanklich in der falschen Richtung unterwegs war.Diese großartige Koalition diskutiert darüber, wie wirdie Rücklage im Bestand sichern können, aber gleichzei-tig zu moderaten vernünftigen Entlastungen für die Men-schen im Lande kommen können. Glauben Sie mir, wirwerden auch zu einem guten Kompromiss kommen.Eines wird aber zu keinem Zeitpunkt passieren. Daskann ich Ihnen versprechen. Wir werden nicht um derbilligen Überschrift willen – das ist genau das, was Siemit der Debatte heute Morgen bezwecken wollen –
und um des Populismus willen politisch aktiv werden.Ob es die Rente mit 67 ist, ob es die Praxisgebühr istoder ob es um höhere Steuern geht, Sie schlagen sich beialldem in die Büsche und laufen weg vor dem, was Sieeinmal gemeinsam mit uns beschlossen haben. Sie lau-fen außerdem weg vor dem, was die Basis für den gro-ßen wirtschaftlichen Erfolg war, den wir heute zu ver-zeichnen haben.Mit uns wird es das nicht geben. Wir werden verant-wortungsvoll und vor allem auch über den Wahltaghinaus planen und zudem mit den Finanzen in der ge-setzlichen Krankenversicherung vernünftig umgehen.Das jedenfalls kann ich Ihnen versprechen.
Das Wort hat nun Edgar Franke für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In be-stimmten Medien in Deutschland liest man manchmaljede gängige Geschichtsfälschung. Wenn man heute deneinen oder anderen Redner gehört hat, so konnte manden Eindruck gewinnen, dass das ein bisschen in dieseRichtung ging. Es wurde gesagt, Rot-Grün mit der Ge-sundheitsministerin Ulla Schmidt wollte 2003 bzw.2004 diese Praxisgebühr. Richtig ist vielmehr, HerrSinghammer: Die jetzige Praxisgebühr ist von CDU undCSU durchgesetzt worden.
CDU und CSU wollten im Rahmen der Erarbeitung desGesundheitsmodernisierungsgesetzes diese Praxisge-bühr. Rot-Grün hatte aber damals im Bundesrat nicht dieMehrheit.Ich erinnere daran, dass die Union damals 10 Prozentder Behandlungskosten als Selbstbeteiligung und 5 Eurofür jeden Arztbesuch forderte. Das ist die historischeWahrheit, Herr Singhammer. Das darf man nicht verges-sen.
Herr Seehofer hat einmal von der schönsten Nachtseines Lebens mit Ulla Schmidt gesprochen. In dieserschönsten Nacht wurde ein Kompromiss vereinbart. DerKompromiss war die Praxisgebühr von 10 Euro.Herr Spahn, ich habe vorhin noch persönlich mit UllaSchmidt gesprochen.
Sie hat gesagt, man habe dem Kompromiss nur zuge-stimmt, um weitergehende Zuzahlungen zu verhindern.Das ist etwas ganz anderes als das, was Sie gesagt haben.Rot-Grün wollte nämlich Praxisgebühren geradebeim Hausarzt und insbesondere bei den Standardfach-ärzten verhindern. Wir wollten lediglich eine Gebühr fürden Besuch bei teuren Fachärzten, um unnötige Appara-temedizin und unnötige Kosten zu verhindern. DieseRichtung hat Rot-Grün damals in der Gesundheitspolitikeingeschlagen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Wir wollten nämlich gerade das Facharzt-Hopping ver-meiden und Kosten einsparen und effizienter gestalten.Viele Geschichtsfälschungen – ich habe es ebenschon erwähnt – gingen hier weiter. Man muss deshalbfragen: Warum diskutieren wir die Abschaffung der Pra-
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Dr. Edgar Franke
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xisgebühr? Es ist richtig: Wir haben 20 Milliarden EuroÜberschüsse bei der gesetzlichen Krankenversicherungund im Gesundheitsfonds. Aber diese Überschüsse ha-ben wir auch deshalb, weil diese Regierung nicht richtigrechnen kann. Die Beiträge sind nämlich viel zu hoch.Die FDP wollte immer „Mehr Netto vom Brutto“, aberwas hat sie gemacht? Sie haben die Beiträge zur Kran-kenversicherung erhöht. Das ist auch eine Wahrheit.
Den Versicherten ist somit Geld vorenthalten worden.Herr Spahn hat angesprochen, warum wir so gute Be-schäftigungszahlen haben. Es ist richtig, Herr Spahn:Wir haben so gute Beschäftigungszahlen, weil unter Rot-Grün Strukturreformen realisiert worden sind.
Wir haben den Reformstau unter Kohl aufgelöst. So wirddie Katze bunt; so ist die Wahrheit, mein sehr verehrterHerr Spahn.Was erleben wir heute? Chaotische Zustände in derRegierungskoalition.
Was will die Regierung? Zur Abschaffung der Praxisge-bühr hört man das eine oder das andere. Wollen Sie dieBeiträge senken? Wollen Sie am Einheitsbeitragssatzfesthalten? Frau Bender hat zu Recht darauf hingewie-sen. Über die Beitragssatzautonomie wäre nachzuden-ken. Wollen Sie die Rücklage als Finanzpolster? KeinMensch weiß so richtig, was diese Regierung will.
Mein geschätzter Kollege Lauterbach hat schon ge-sagt: Der Geburtshelfer der Praxisgebühr, CSU-ChefSeehofer, will die Beibehaltung. Auch der geschätzteKollege Singhammer hat in der Rheinischen Post aus-drücklich gesagt:Die CSU in Berlin ist weiter der Meinung, dass diePraxisgebühr ihre Berechtigung hat.Söder will die Abschaffung. Hasselfeldt will die Sen-kung. Frau Bundeskanzlerin Merkel war ein bisschendagegen und lässt jetzt durch ihren Regierungssprechererklären, dass sie ein bisschen dafür sei. HerrLanfermann hat sich eben selber zitiert. Er sagt in jederAusschusssitzung treuherzig, dass noch Beratungsbedarfbesteht. Die FDP hat noch keine konkrete Position.
Wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, wissen, glaubeich, wie es geht. Wir wollen die Krankenversicherungentlasten. Ich darf noch einmal die drei Punkte nennen,die für unseren Antrag „Praxisgebühr sofort abschaffen“sprechen.Erstens. Allen ist klar, dass die Praxisgebühr keineSteuerungswirkung mehr hat. Sie ist lediglich ein Finan-zierungsinstrument.Zweitens. Die Kranken und Einkommensschwachenwerden durch die Praxisgebühr einseitig besonders be-lastet.Drittens – das darf man nicht vergessen, und das mussman hier noch einmal ausdrücklich sagen – hat die Pra-xisgebühr zu erheblichen Bürokratie- und Verwaltungs-kosten geführt. Der Normenkontrollrat hat festgestellt,dass 300 Millionen Euro Bürokratiekosten für den Ein-behalt und die Dokumentation anfallen. Auch das sprichtganz klar dafür, die Praxisgebühr abzuschaffen.Der Zoff in der Koalition um die Praxisgebühr zeigterneut die Zerrissenheit von Schwarz-Gelb. Er zeigt mirvor allen Dingen auch, dass es in der Sozialpolitik kei-nen Konsens zwischen CDU/CSU und FDP mehr gibt.Die SPD ist für die Abschaffung der Praxisgebühr.Noch einmal: Sie belastet einseitig die Einkommens-schwachen und Kranken. Die erhoffte Lenkungswirkunghin zu den Hausärzten ist ausgeblieben. Es ist lediglichBürokratie erzeugt worden.Ich kann nur an die Vertreter der Koalition appellie-ren, dass sie mit uns für die Abschaffung der Praxis-gebühr stimmen. Ich hoffe, dass Sie, liebe Kolleginnenund Kollegen, auch einmal etwas Vernünftiges machen.Machen Sie etwas Vernünftiges: Stimmen Sie einfachfür unseren Antrag!Danke schön.
Das Wort hat nun Christine Aschenberg-Dugnus für
die FDP-Fraktion.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Meine Damen und Herren! Bevor ich aufunser eigentliches Thema komme, möchte ich – wie derKollege Spahn es getan hat – auf unsere gute Finanzsi-tuation eingehen; das ist nämlich das Positive, das wirhaben. Ich kann nur sagen: Sie hätten sich zu rot-grünenRegierungszeiten darüber gefreut, aber Sie haben nichtim Traum daran gedacht, dass einmal eine Zeit kommenwürde – zu Ihrer Zeit war das nämlich nie der Fall –, inder die Kassen und der Fonds so gut dastehen würdenwie jetzt.
Das kann man den Menschen draußen gar nicht oft ge-nug sagen.Wir haben hier gute Politik abgeliefert. Unser Minis-ter Daniel Bahr macht gute Politik. Nur deswegen stehenwir überhaupt hier, um dieses Thema zu debattieren.
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Christine Aschenberg-Dugnus
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Nun komme ich zum eigentlichen Thema. LieberKollege Franke, ich schätze Sie als Mensch ja sehr, abernach dem, was Sie eben zum Thema Geschichtsfäl-schung gesagt haben, muss ich Ihnen raten: Sie solltensich mal an die eigene Nase fassen. Das war schon eineNummer aus dem Tollhaus: Rot-Grün als Regierung istvon der Opposition genötigt worden, bestimmte Dingezu verabschieden. – Das können Sie hier doch keinemerzählen und draußen auch keinem erzählen.
Wenn ich mir einmal Ihren Antrag anschaue, sehe ich:Da steht: „die von CDU/CSU … durchgesetzte Praxisge-bühr“. In dem gesamten Antrag wird so getan, als wärenSie von der SPD überhaupt nicht daran beteiligt gewe-sen.
Wem wollen Sie draußen eigentlich Sand in die Augenstreuen? Damit lassen wir Sie nicht durchkommen!
Die Öffentlichkeit weiß, dass Sie es waren, die die Pra-xisgebühr installiert haben.
Wir haben eben vom Kollegen Singhammer gehört– vielen Dank dafür! –, dass Frau Schmidt noch im Jahr2009 gesagt hat, sie ist für die Beibehaltung der Praxis-gebühr; sie möchte sie nicht abschaffen.
Genau vor diesem Hintergrund müssen wir den Antragder SPD sehen.Sie schreiben dann noch, wir als FDP würden nur öf-fentlich so tun, als wollten wir die Praxisgebühr abschaf-fen.
Das empfinde ich persönlich als Frechheit. Sie werfenuns Täuschung vor.
Sie sind die Pharisäer, die hier etwas behaupten, aber IhrAgieren in der Vergangenheit war völlig anders.
Sie machen die taktischen Spielchen hier, und dazu kannich nur sagen: Wir werden diese taktischen Spielchenaufdecken.
Die Bevölkerung wird mitbekommen, dass das zu über-haupt nichts führt.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich würde gerne weitermachen.
Meine Damen und Herren, die Koalition braucht IhreAnträge nicht, um gute Gesundheitspolitik mit Augen-maß zu machen.
Das schaffen wir auch ohne die Opposition.Ich muss sagen: Ja, natürlich, wir haben in der Koali-tion unterschiedliche Auffassungen. Das ist so in einerDemokratie. Das können einige hier im Hause vielleichtnicht so nachvollziehen,
aber das ist so.Es wird jetzt gesagt, man mache uns ein faires Ange-bot. Ich empfinde das nicht als faires Angebot; das istein unmoralisches Angebot.
Wir gehen nicht fremd.
Wir werden die Sache mit unserem Koalitionspartner re-geln, meine Damen und Herren.
Der Kollege Lanfermann hatte vollkommen recht. Esgeht Ihnen gar nicht um eine sachliche Diskussion; esgeht Ihnen darum, hier Schaufensteranträge zu stellen.Sie haben gemerkt: Aha, es steht auf einmal eine Eini-gung kurz bevor. Da müssen wir aber schnell noch ein-mal unsere Spielchen hier im Plenum treiben.
Das ist der Hintergrund dieser Debatte, die wir hierheute zum x-ten Male führen.
Ich sage Ihnen: Das machen wir nicht mit.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24267
Christine Aschenberg-Dugnus
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Wir werden in der Koalition weiter beraten. Wir wer-den im Ausschuss weiter beraten. Wir werden gemein-sam zu einem guten Ergebnis kommen.
– Das ist nichts Neues; das machen wir in der Koalitionschon von Anfang an so, meine Damen und Herren. –Ich kann der Öffentlichkeit immer nur sagen: Ihre Spiel-chen, vor allen Dingen die der SPD, machen wir nichtmit. Ich nehme da Sie von den Grünen aus, weil Ihr An-trag anders aussieht. Sie haben Ihren Antrag heute Vor-mittag noch einmal geändert.
Bei Ihnen – das muss ich jetzt wirklich sagen – geht esauch noch um andere Dinge. Aber bei Ihnen von derSPD ist es wirklich so, dass ich sage: Da sitzen die Pha-risäer im Plenum.
Das müssen wir ganz klar aufzeigen. Das machen wirnicht mit. Wir werden uns in der Koalition einigen.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Karin Maag für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirhaben das heute schon mehrfach gehört: Die Debattewird offensichtlich nur deshalb geführt, weil die Opposi-tion meint, sie könne einen Keil zwischen Union undFDP treiben.
Ich bin mir sehr sicher: Das wird ihr nicht gelingen.Der fundamentale Unterschied zwischen Ihnen unduns ist: Wir, Union und FDP, ringen mit Argumenten inder Sache. Die Opposition insgesamt hingegen streitetausschließlich um ihr Führungspersonal. Wir diskutierenzuerst und stimmen dann ab. Offensichtlich ist es bei Ih-nen genau umgekehrt. Auch den Versicherten, liebe Kol-leginnen und Kollegen von der SPD, nützt diese Debattenichts.Die Zuzahlungen – das muss man einfach einmal sa-gen – sind eine wichtige Einnahmequelle für die Kassen,und sie entlasten die Beitragszahler.
– Nein, liebe Frau Kollegin. Die dauerhaft fehlendenEinnahmen müssen ja irgendwo ausgeglichen werden.
Ich habe von Ihnen noch nicht gehört, dass Sie irgendwoweniger Ausgaben vorsehen wollen. Dies geht nur überandere Einnahmearten, und dafür kämen wieder die Bei-tragszahler infrage.
Insofern halte ich von Ihren Anträgen nichts.
– Ich komme dazu, Frau Ferner.Diese Debatte hat natürlich etwas Gutes – jetzt sindwir bei den Überschüssen –: Sie ist doch ein Kompli-ment an die Leistung von Union und FDP.
Uns ist es gelungen, die Finanzierung in der GKV si-cherzustellen, und zwar ohne Leistungseinschränkungund vielen Unkenrufen zum Trotz. Es wurde immer ge-schrien: Priorisierung, Rationierung! – Wir sichern einedauerhafte, gute Versorgung für unsere Patienten und fürdie Versicherten. Das ist doch ein Wert. Darauf könnenwir aufbauen.
Klar ist – Sie selbst haben es gesagt –: Im Momentgeht es den meisten – ich betone: den meisten – Kassengut. Wenn wir das weiterhin gewährleisten wollen, brau-chen wir eine verlässliche Finanzierung. Wir wollen,dass sich die Menschen weiterhin darauf verlassen kön-nen, in jeder Lebenssituation eine medizinische Versor-gung auf höchstem Niveau zu bekommen. Aber das kos-tet. Dafür wurde mit der Praxisgebühr nicht nurPreisbewusstsein geschaffen, sondern vor allen Dingenein stabilisierendes Element der Finanzierung, und dasist mir wichtig.Wir wissen, dass Wirtschaftswachstum nicht von Gottgegeben ist. Die Liquiditätsreserve über die Mindestre-serve hinaus – wir reden hier von 25 Prozent, also einemViertel einer durchschnittlichen Monatsausgabe; wir re-den hier nicht über Vermögen – ist deshalb ökonomischsinnvoll und vor allem auch wieder im Interesse der Ver-sicherten.Meine Damen und Herren insbesondere von den Lin-ken, würden wir die Praxisgebühr oder die Zuzahlungeninsgesamt abschaffen, wie Sie es fordern, dann hätten
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Karin Maag
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uns in den letzten 8 Jahren – das bezieht sich jetzt auf diePraxisgebühr – 16 Milliarden Euro im System gefehlt.Jedes Jahr waren das 2 Milliarden Euro aufgrund derPraxisgebühr. Wenn wir die Zuzahlungen insgesamt ab-schaffen, fehlen jährlich 5 Milliarden Euro in den Kas-sen. Das würde übrigens einer dauerhaften Erhöhung derKassenbeiträge um 0,5 Beitragssatzpunkte entsprechen.Ohne Ausgleich würde jede kleine Delle in der Konjunk-tur zu einem Zusatzbeitrag führen. Insofern ist das einvöllig sinnloses Unterfangen.Auch über die Mär davon, dass sich Arztbesuche– diese haben insbesondere Sie wieder vorgebracht – einTeil der Bevölkerung nicht leisten kann, haben wir schongesprochen. Die Überforderungsklausel gilt. Es gibt sie,und niemand will sie abschaffen.2003 wurde unter anderem als Ziel eine Stärkung derEigenverantwortung der Versicherten genannt. LieberHerr Lanfermann, die Eigenverantwortung ist Ihr Thema.Deswegen wäre es mir schon wichtig, dass Sie zuhören.Danke. – Es geht um Leistung gegen Kostenbeteiligung.Damit sollte bei den Versicherten ein Gefühl für Preissen-sibilität und Ressourcenverantwortlichkeit geschaffenwerden. Das hat wenig mit einer dauerhaften steuerlichenEntlastung zu tun, die Sie, liebe Kollegen von Rot-Grün,im Bundesrat nachhaltig blockieren.Mit der Praxisgebühr, die einmal im Quartal anfällt,ist diese Selbstbeteiligung sehr moderat ausgefallen. Dasist mir wichtig, weil rund 20 Prozent der Versicherten80 Prozent der Kosten tragen. Ähnlich wie bei der Rentealimentieren doch hier innerhalb des Systems die Jünge-ren die Älteren und die eher Gesunden die eher Kranken.
Ohne die Praxisgebühr würde dieser Transfergedankenoch mehr ausgeweitet. Mit welchen Argumenten wen-den Sie sich gegen den Verzicht auf weitere Zuzahlun-gen? Wo ist hier die Grenze; bei den Krankenhäusern, inden Apotheken usw.? Ich jedenfalls will den Gedankender Eigenverantwortung nicht ohne Not aufgeben.Jetzt noch ein Satz zur Steuerungswirkung. LieberKollege Franke, das Gesetz ist nicht im Vermittlungsaus-schuss entstanden. Bei aller Liebe, Sie waren an der Re-gierung.
Das nur als Hinweis. Die Debatte wird vor allen Dingenauf der Basis von Untersuchungen zur Häufigkeit vonArztbesuchen geführt.
– Ich habe den Vermittlungsausschuss angeführt, unddort ist das Gesetz nicht entstanden.
– Liebe Frau Ferner, das nächste Mal lassen Sie sich vonIhrer Fraktion Redezeit geben, und dann können Sie al-les, was Sie jetzt so vor sich – schwäbisch gesagt – brud-deln, ordentlich vortragen.
– Frau Ferner, machen Sie einfach einen Punkt und halb-lang.Wir reden jetzt über die Steuerungswirkung. Tatsacheist, dass diese Debatte vor allem auf der Basis von Un-tersuchungen zur Häufigkeit der Arztbesuche geführtwird. Richtig ist, dass es im Durchschnitt 17 Kontakteim Jahr sind. Richtig ist aber auch, dass 16 Prozent derPatienten für 50 Prozent der Kontakte zuständig sind.Ich habe schon in der letzten Debatte darauf verwiesen,dass es immer noch eine ordentliche und gute Steue-rungswirkung gibt, dass die Praxisgebühr vor allem dieHinwendung der Patienten zu Selektivverträgen, zuHausarztverträgen und damit zu den Hausärzten fördert.Es gibt entsprechende Modelle, zum Beispiel der Bar-mer GEK und vieler Betriebskrankenkassen. Ich nenneals Beispiel für eine gute Steuerungswirkung die Zuzah-lungen im Generikamarkt. Erst das In-Aussicht-Stellendes Verzichts auf die Gebühr veranlasst viele Patientendazu, sich in die Verträge einzuschreiben. Ohne Praxis-gebühr werden wir wieder das Facharzthopping erleben.
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Wir werden ohne Not wieder volle Notfallambulan-
zen am Wochenende haben. Und die sinnvolle Stärkung
der Hausärzte im System können wir wieder zu den Ak-
ten legen. Genau deshalb werden wir ohne Ihre Hilfe in-
nerhalb der Koalition das Notwendige überlegen und zu
guten und richtigen Entscheidungen kommen.
Vielen Dank.
Das Wort hat nun Steffen-Claudio Lemme für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Herr Minister Bahr!Frau Staatssekretärin Widmann-Mauz! Frau Flach!Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Praxisgebühr“: Al-lein der Name ist irrsinnig. Eine Gebühr, wie man siesonst vielleicht von Parkgebühren oder den unsäglichenStudiengebühren kennt, zu entrichten, um im Krank-heitsfall behandelt zu werden, widerspricht dem sozialenund solidarischen Grundgedanken der gesetzlichen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24269
Steffen-Claudio Lemme
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Krankenversicherung. Kurzum: Die Praxisgebühr gehörtabgeschafft.
Auch darum, weil sich der erhoffte Nutzen nicht gezeigthat: Weder konnte die Anzahl der Arztbesuche signifikantgesenkt noch die hausarztzentrierte Versorgung gestärktwerden. Noch immer sind die Deutschen Spitzenreiter inden Wartezimmern mit durchschnittlich 17 Arztbesuchenpro Jahr gegenüber nur 6 Arztbesuchen in den Niederlan-den. Die Praxisgebühr verursacht zusätzliche Kosten fürdie Versicherten ohne zusätzlichen Nutzen. Eigentlich istes noch schlimmer; denn es entstehen zusätzliche Kostenbei geringerem Nutzen für die Versicherten, da die Pra-xisgebühr manchen Kranken davon abgehalten hat, zumArzt zu gehen. Das macht nicht nur aus gesundheitsöko-nomischer Sicht absolut keinen Sinn, nein. Da müsstedoch selbst bei Schwarz-Gelb der Groschen fallen. Statt-dessen spielen Sie die Praxisgebühr gegen das Betreu-ungsgeld aus.Um eines an dieser Stelle klipp und klar zu sagen: WirSozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind gegendie Praxisgebühr und gegen das Betreuungsgeld.
Ich finde es moralisch verwerflich, dass Sie Ihre Zanke-reien auf dem Rücken der emanzipierten Familien aus-tragen; denn mit dem Betreuungsgeld kommen wir wie-der in der Steinzeit an.
Ich weiß nicht, ob es Ihnen entgangen ist: FührendeÖkonominnen und Ökonomen, Soziologinnen und So-ziologen, Juristinnen und Juristen sagen Ihnen: StoppenSie das Betreuungsgeld! – Aber auf diesem Ohr moder-ner wissenschaftlicher Erkenntnisse scheint die Bundes-regierung taub zu sein.
Doch zurück zur Praxisgebühr. Die Abschaffungkommt den Patientinnen und Patienten in vielerlei Hin-sicht zugute. Wir kommen damit der paritätischen Finan-zierung wieder ein Stück näher. Betrachtet man die Fi-nanzierung des Gesundheitssystems, stellt man fest, dassder Anteil der sogenannten Out-of-Pocket-Zahlungen,also der Zuzahlungen, die von den Patientinnen und Pa-tienten direkt aus der eigenen Tasche geleistet werdenmüssen, bereits im Jahr 2009 bei 13 Prozent lag.Die Daten von der Organisation für wirtschaftlicheZusammenarbeit und Entwicklung, kurz OECD, zeigendarüber hinaus, dass der Anteil der Selbstbeteiligungzwischen den Jahren 2000 und 2009 in nicht unerhebli-chem Maße gestiegen ist. Das bedeutet eine stetige Zu-nahme und einseitige finanzielle Belastung der Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem Land; denndie Arbeitgeber sind hier ja fein raus.Besonders hervorzuheben ist die Tatsache, dass derAnteil der Selbstbeteiligung im Durchschnitt allerOECD-Mitgliedstaaten gesunken ist. Deutschland stehtmit der Privatisierung von Gesundheitskosten und derIndividualisierung von gesundheitlichen Risiken im in-ternationalen Vergleich fast alleine da.Was sind die Folgen? Wir haben: die Praxisgebühr inHöhe von 10 Euro pro Quartal, Zuzahlungen zu Medika-menten und Hilfs- und Heilmitteln, 10 Euro pro Kalen-dertag im Krankenhaus – und das bis zu 28 Tagen – undnoch vieles mehr. Wie sollen sich das Alleinerziehendeoder Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit gerin-gem Einkommen leisten, wie beispielsweise im Osten,wo das Lohnniveau spürbar unter dem der westdeut-schen Bundesländer liegt? Da tun die 10 Euro Praxisge-bühr deutlich mehr weh.Ihre Reaktion darauf fällt eindeutig aus. Sie gehentrotz Krankheit entweder gar nicht zum Arzt, oder abersie schieben den Arztbesuch ins nächste Quartal, um fürdas auslaufende Quartal die Praxisgebühr zu sparen. Dasist aber nicht nur schlecht für die Kranken, sondern führtauch für uns alle zu weiter steigenden Kosten.Gewerkschaften, Patientenorganisationen, Sozial- undWohlfahrtsverbände weisen seit längerem auf die negati-ven Steuerungseffekte der Praxisgebühr hin und betonendabei die Verschärfung der sozialen und gesundheitlichenUngleichheit in Deutschland. Wir müssen endlich han-deln. Die Praxisgebühr muss weg!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Hausärztinnen undHausärzte sind wichtige Akteure in der Versorgungsland-schaft. Leider wird ihnen bislang noch nicht der Stellen-wert beigemessen, den sie verdienen. Ihre Funktion wirdunterschätzt. Durch die Praxisgebühr war beabsichtigt,dass die Hausärztinnen und Hausärzte die Patientinnenund Patienten durch das ambulante Versorgungssystemnavigieren und damit als Lotsen fungieren. Auch diesererhoffte Effekt ist nicht eingetreten. Die Hausärztinnenund Hausärzte leiden noch immer unter einem schlechtenImage, auch bei den Medizinstudenten.Im Vergleich zu anderen Facharztgruppen verdienenHausärzte deutlich weniger, und ihre Arbeit ist noch nichtso hoch angesehen wie beispielsweise die eines Kardio-logen. Dabei müsste den Hausärztinnen und Hausärztenin einer immer älter werdenden Gesellschaft eine Schlüs-selfunktion zukommen. Doch der Hausärztemangel ist inmanchen Regionen Deutschlands fatal.Lassen Sie mich kurz zusammenfassen: Die Praxisge-bühr hat in keinster Weise dazu geführt, positive Effekteim deutschen Gesundheitssystem hervorzurufen. Im Ge-genteil: Sie hat einen Beitrag zur sozialen und gesund-heitlichen Ungleichheit geleistet. Ihre Abschaffung istüberfällig. Daher bitte ich Sie um breite Zustimmung zuunserem Antrag, die Praxisgebühr abzuschaffen.Vielen Dank.
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24270 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
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Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich Kol-
legen Rudolf Henke für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren!Im Alter, bei Krankheit oder in anderen schwieri-gen Lebenssituationen kann es für jeden von unsMomente geben, in denen wir auf die Solidaritätder anderen angewiesen sind. Diese Solidarität un-ter veränderten ökonomischen Bedingungen in ei-ner globalisierten Welt, aber auch angesichts derveränderten demographischen Entwicklung zu ge-währleisten ist unsere Aufgabe. Dass wir alleglücklicherweise immer älter werden und die Le-benserwartung steigt, auf der anderen Seite aber zuwenig Kinder geboren werden, ist die größte He-rausforderung des 21. Jahrhunderts.Das waren Worte aus der Debatte vom 9. September2003, vorgetragen von der damaligen Bundesgesund-heitsministerin Ulla Schmidt. Im Anschluss daran wurdeim Deutschen Bundestag die Einführung der Praxisge-bühr als Teil eines Sanierungskonzepts für die sozialenVersicherungssysteme beschlossen. Es ist im Protokollregistriert: „Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/Die Grünen“. Wenn ich das Gleiche sage, hätte ich jetztgern den gleichen Beifall.
Aber Sie haben sich ja von Ihrer damaligen Haltungabgewendet. Sie nennen die Praxisgebühr heute ja sogar„irrsinnig“.
Sie erwecken den Anschein, es sei moralisch verwerf-lich, was damals Ihre eigene Politik war,
und Sie stellen sich hin und tun so, als wäre das imGrunde gänzlich unehrenhaft.
Sie bringen drei Argumente. Das erste lautet, die Pra-xisgebühr ist unwirksam; das zweite lautet, sie ist unso-zial, und das dritte lautet, sie ist unnötig. Mit allen dreiArgumenten möchte ich mich auseinandersetzen.Zur Frage der Wirksamkeit. Wenn man sich das me-thodisch einmal genau anguckt, merkt man: Es ist ja einesuperkomische Konstruktion, zu sagen: Weil nach derEinführung der Kassengebühr die Arztbesuche trotzdemangestiegen sind, ist das der Beweis dafür, dass die Kas-sengebühr auf Arztbesuche keinen Einfluss hatte; sie hatbei der Steuerungswirkung versagt. – Das ist relativ al-bern. Denn es kann ja dafür, warum die Zahl der Arztbe-suche steigt, eine Begründung geben, die gar nichts mitder Kassengebühr zu tun hat. Dann hat die Kassenge-bühr trotzdem eine Wirkung, die darin liegt, dass sie ei-nen Anstieg, der darüber läge, dämpft. Ich halte das je-denfalls für methodisch genauso gut belegt, genauso gutvertretbar wie die Aussage, sie sei unwirksam.
Im Übrigen möchte ich aus einem Interview mit derdamals immer noch amtierenden Bundesgesundheits-ministerin Ulla Schmidt mit der Welt online aus demJahr 2004 zitieren, wo sie erklärt hat:Sie bringt jedes Jahr 1,5 Milliarden Euro. Sie warein Kompromiss. … Sie ist nicht beliebt, aber dieMehrheit der Versicherten hat sie akzeptiert. …Es stimmt, dass die Praxisgebühr mittlerweile nureine geringe Lenkungswirkung hat. Aber sie isteine Form der Zuzahlung und bringt eine Mengenotwendiger Einnahmen.So weit Ulla Schmidt, die ja zu Ihren Reihen gehört –egal, worüber Sie, Herr Franke, mit ihr telefoniert haben.Das müsste dann ja im Gegensatz zu dem stehen, was sienoch 2004 der Öffentlichkeit gegenüber erklärt hat.
Dann zu der Frage, ob die Praxisgebühr denn unsozialist. Es ist ja schon viel darüber gesprochen worden, dassZuzahlungen nicht einen Wert von 1 Prozent oder 2 Pro-zent des Jahreseinkommens überschreiten können. Aberich glaube, es gibt noch einen zweiten Punkt. Worummachen sich die Menschen Sorgen, wenn sie über dieSozialkassen in Deutschland sprechen und nachdenken?Sie machen sich Sorgen darum, dass die Finanzkraft dersozialen Kassen angesichts der demografischen Ent-wicklung, angesichts des medizinischen Fortschritts, an-gesichts berechtigter Erwartungen an Lohnerhöhungenbei den Beschäftigten im Gesundheitswesen möglicher-weise nicht reichen könnte, um die Versicherungsver-sprechen einzulösen.Das Wichtigste, was wir für Patientinnen und Patien-ten in Deutschland tun können – noch wichtiger viel-leicht als all das, was wir mit dem Patientenrechtegesetzbewirken, jedenfalls aber zusätzlich nötig –, ist, dass wirdie Finanzkraft der gesetzlichen Krankenkassen so starkmachen, dass sich jeder, der heute in dieses System hi-neinkommt, darauf verlassen kann, dass dieses Systemauch dann, wenn er älter ist, finanziell tragfähig seinwird. Dies erfordert natürlich, dass man sich auf die gro-ßen Risiken konzentriert und sie zuverlässig absichert.Wo ist denn dann das Problem für jemanden, der durch-schnittlich verdient, eine Eigenbeteiligung von 10 Eurozu leisten? Im Übrigen, verehrte SPD-Kollegen, wollenSie ja auch gar keine Abschaffung der übrigen Zuzah-lungen, jedenfalls jetzt nicht, oder Sie machen die Ab-schaffung der Praxisgebühr zu einem Schritt auf demWeg dazu.Dritte Bemerkung: Die Praxisgebühr ist unnötig. – Ja,es ist wahr und mit Recht betont worden, dass die Koali-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24271
Rudolf Henke
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tion erreicht hat, dass die Finanzlage der gesetzlichenKrankenkassen unendlich viel besser ist, als sie es früherwar.
Die Koalition hat dies erreicht, weil die Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmer in den Betrieben die Grundlagedafür erwirtschaftet haben und weil wir auf einenWachstumspfad zurückgekehrt sind, der heute zu Re-kordzahlen an sozialversicherungspflichtig Beschäftig-ten geführt hat.
Das ist eine Leistung, die uns diese Situation erst ermög-licht.Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, in meiner Hei-matstadt Aachen, in meinem Wahlkreis kämpfen jetztzur Stunde 600 Arbeiter der Firma Bombardier um ihreArbeitsplätze, weil das Unternehmen angekündigt hat,600 Stellen zu streichen und das Werk, das 174 Jahre altist, zu schließen, da man angeblich in einem wachsendenMarkt für Ausrüstungsinvestitionen bei der Bahn keineAufträge mehr bekommt. In einer Situation, wo das auchanderswo eintreten kann, soll ich mich jetzt hierher stel-len und sagen: „Wir sind sicher, dass das Geld, das inden Kassen ist, für alle reicht, um in Zukunft die Sozial-versicherungsaufgaben zu finanzieren“, und ich soll aufEinnahmen in Höhe von 1,5 oder 1,6 Milliarden Euroverzichten?
Das ist kurzsichtig, das geht in meiner Wahrnehmungweit über das hinaus, was Sie an Prognosekraft aufbrin-gen können. Deswegen sage ich: Die Finanzkraft der so-zialen Kassen zu erhalten, ist für deren Verlässlichkeitund für die Gültigkeit des Versicherungsversprechensviel wichtiger als die Frage, ob wir jetzt den Ärzten oderden Versicherten gefallen und Applaus dafür bekommen,dass wir uns für die Abschaffung der Praxisgebühr ein-setzen.Zum Schluss noch eine letzte Bemerkung. LieberHerr Kollege Lauterbach, Sie haben Horst Seehofer alsErfinder der Kassengebühr angegriffen. Ich weiß nicht,ob er das war; ich war nicht dabei, ich kann das nicht sa-gen.
Sie haben dazu gesagt: Unehre, wem Unehre gebührt. –Herr Lauterbach, wenn das der Stil der Debatte ist,
dass Sie, wenn jemand eine neue Idee hat und sie vor-trägt, anschließend sagen: Ich bin derjenige, der hier dieSchulnote verteilt, der ihn moralisch abwertet und derdann erklärt, wer eine neue Idee hat, verdient das Urteil„Unehre, wem Unehre gebührt“, dann machen Sie parla-mentarische Debatte im Sachkern unmöglich und sorgendafür, dass nur noch populistisch und polemisch gestrit-ten werden kann. Das dürfen wir uns nicht gefallen las-sen.
Ich schließe die Aussprache.Die Fraktionen der SPD, der Linken und von Bünd-nis 90/Die Grünen wünschen die Abstimmung ihrerAnträge auf Drucksachen 17/11192, 17/11141 und17/11179 in der Sache. Die Fraktionen von CDU/CSUund FDP wünschen jeweils Überweisung, und zwar fe-derführend an den Ausschuss für Gesundheit. Die An-träge auf den Drucksachen 17/11192 und 17/11179 sol-len darüber hinaus mitberatend an den Ausschuss fürWirtschaft und Technologie, den Ausschuss für Arbeitund Soziales sowie an den Haushaltsausschuss überwie-sen werden.Nach ständiger Übung stimmen wir zuerst über dieAnträge auf Ausschussüberweisung ab. Ich frage des-halb: Wer stimmt für die beantragten Überweisungen? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen?
– Es besteht Uneinigkeit im Präsidium. Ich wiederholedie Abstimmung.
Wer stimmt für die Überweisungen? – Wer stimmt dage-gen? –
Enthaltungen? – Es herrscht Uneinigkeit. Sie kennen dasVerfahren: Es folgt jetzt ein Hammelsprung.
Ich bitte Sie also, den Plenarsaal zu verlassen und danndurch die entsprechenden Türen – Ja, Nein, Enthaltung –den Plenarsaal wieder zu betreten.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf Sie bitten,den Plenarsaal zu verlassen, damit wir eine ordnungs-gemäße Durchführung des Hammelsprungs garantierenkönnen.Ich habe den Eindruck, alle Kolleginnen und Kolle-gen haben den Plenarsaal verlassen, sodass wir jetzt mitder Abstimmung beginnen können. Die Abstimmung isteröffnet.
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24272 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Darf ich fragen, ob alle werten Abgeordneten den Ple-narsaal wieder betreten haben? – Das ist der Fall. Ichschließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerin-nen und Schriftführer, mir das Ergebnis zu übermitteln.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich teile Ihnen dasvon den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelteErgebnis der Abstimmung mit – Sie wissen, es geht umdie Frage der Überweisung an die Ausschüsse –: Mit Jahaben gestimmt 297, mit Nein 225, Enthaltungen keine.
Damit sind die Überweisungen so beschlossen. Dasheißt, wir stimmen heute nicht in der Sache über die An-träge ab; daher entfällt auch die namentliche Abstim-mung.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe die Tages-ordnungspunkte 48 a bis 48 h sowie Zusatzpunkt 4 auf:48 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zurÄnderung des Auswandererschutzgesetzes– Drucksache 17/11047 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Innenausschussb) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpas-sung der Vorschriften des Internationalen Pri-vatrechts an die Verordnung Nr. 1259/2010 und zur Änderung anderer Vorschriftendes Internationalen Privatrechts– Drucksache 17/11049 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschussc) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Vor-schlägen für einen Beschluss des Rates überdie Unterzeichnung und für einen Beschlussdes Rates über den Abschluss des Abkommenszwischen der Europäischen Union und derSchweizerischen Eidgenossenschaft über dieZusammenarbeit bei der Anwendung ihresWettbewerbsrechts– Drucksache 17/11050 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Rechtsausschussd) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des AZR-Gesetzes– Drucksache 17/11051 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss Rechtsausschusse) Erste Beratung des von der Bundesregierung einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Interna-tionalen Übereinkommen von 2004 zur Kon-trolle und Behandlung von Ballastwasser undSedimenten von Schiffen
– Drucksache 17/11052 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheitf) Beratung des Antrags der Abgeordneten OliverKrischer, Ute Koczy, Beate Walter-Rosenheimer,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENTransparenz bei Steinkohleimporten– Drucksache 17/10845 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungg) Beratung des Antrags der Abgeordneten BeateWalter-Rosenheimer, Dr. Thomas Gambke, IngridHönlinger, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENErleichterungen für Klein- und Kleinstkapi-talgesellschaften bei der Offenlegung der Jah-resabschlüsse– Drucksache 17/11027 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologieh) Beratung des Antrags der Abgeordneten StephanKühn, Renate Künast, Dr. Anton Hofreiter, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENAufsichtsrat neu besetzen, Geschäftsführerentlassen und den Flughafen Berlin-Branden-burg skandalfrei fertigstellen– Drucksache 17/11168 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für TourismusZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten GeroldReichenbach, Michael Hartmann ,Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPDEuropäische Harmonisierung im Datenschutzauf hohem Niveau sicherstellenhier: Stellungnahme des Deutschen Bundes-tages nach Artikel 23 Absatz 3 des Grund-gesetzes i. V. m. § 10 des Gesetzes über dieZusammenarbeit von Bundesregierung undDeutschem Bundestag in Angelegenheiten derEuropäischen Union– Drucksache 17/11144 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24273
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und MedienEs handelt sich um Überweisungen im vereinfach-ten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 49 abis 49 l. Es handelt sich um die Beschlussfassung zuVorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.Tagesordnungspunkt 49 a:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzesüber die weitere Bereinigung von Übergangs-recht aus dem Einigungsvertrag– Drucksache 17/10755 –Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses
– Drucksache 17/11092 –Berichterstattung:Abgeordnete Marco WanderwitzSonja SteffenMarco BuschmannJens PetermannIngrid HönlingerDer Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 17/11092, den Gesetzentwurfder Bundesregierung auf Drucksache 17/10755 in derAusschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, diedem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmenwollen, um das Handzeichen. – Was ist mit der FDP undden Grünen? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Be-ratung mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD, Linkenund FDP bei Enthaltung der Grünen angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen?
– Die Lücke ist geschlossen. Das Haus stimmt zu beiEnthaltung der Grünen.Tagesordnungspunkt 49 b:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzesüber die Feststellung des Wirtschaftsplans desERP-Sondervermögens für das Jahr 2013
– Drucksache 17/10915 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
– Drucksache 17/11165 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Heinz RiesenhuberDer Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-sache 17/11165, den Gesetzentwurf der Bundesregie-rung auf Drucksache 17/10915 anzunehmen. Ich bittediejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera-tung einstimmig angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist damit in dritter Lesung einstimmig angenom-men.Tagesordnungspunkt 49 c:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Durchführung der Verordnung
Nr. 1177/2010 des Europäischen Parlamentsund des Rates vom 24. November 2010 überdie Fahrgastrechte im See- und Binnenschiffs-verkehr sowie zur Änderung des Luftver-kehrsgesetzes– Drucksache 17/10958 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
– Drucksache 17/11181 –Berichterstattung:Abgeordneter Thomas LutzeDer Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick-lung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/11181, den Gesetzentwurf der Bundesre-gierung auf Drucksache 17/10958 anzunehmen. Ich bittediejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera-tung mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionenbei Enthaltung der drei Oppositionsfraktionen angenom-men.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie inder zweiten Beratung angenommen.
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24274 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Tagesordnungspunkt 49 d:– Zweite Beratung und Schlussabstimmung des vonder Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei-nes Gesetzes zu dem Abkommen vom 23. April2012 zwischen der Bundesrepublik Deutsch-land und dem Großherzogtum Luxemburgzur Vermeidung der Doppelbesteuerung undzur Verhinderung der Steuerhinterziehung aufdem Gebiet der Steuern vom Einkommen undvom Vermögen– Drucksache 17/10751 –– Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszu dem Abkommen vom 12. April 2012 zwi-schen der Bundesrepublik Deutschland unddem Königreich der Niederlande zur Vermei-dung der Doppelbesteuerung und zur Verhin-derung der Steuerverkürzung auf dem Gebietder Steuern vom Einkommen– Drucksache 17/10752 –Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-schusses
– Drucksache 17/11106 –Berichterstattung:Abgeordnete Manfred KolbeLothar Binding
Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe aseiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11106,den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Druck-sache 17/10751 anzunehmen.Zweite Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDPgegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der Grü-nen angenommen.Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seinerBeschlussempfehlung auf Drucksache 17/11106, den Ge-setzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/10752anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-wurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen vonCDU/CSU, SPD und FDP bei Enthaltung von Linkenund Grünen angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zu-stimmen will, möge sich erheben. – Wer stimmt dage-gen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit dengleichen Mehrheitsverhältnissen wie in der zweiten Be-ratung angenommen.Tagesordnungspunkt 49 e:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verkehr, Bau undStadtentwicklung
– zu dem Antrag der Abgeordneten SörenBartol, Uwe Beckmeyer, Martin Burkert, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der SPDKlimagerechte Stadtpolitik – Potentialenutzen, soziale Gerechtigkeit garantieren,wirtschaftliche Entwicklung unterstützen– zu dem Antrag der Abgeordneten BettinaHerlitzius, Daniela Wagner, Stephan Kühn,weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKlimaschutz in der Stadt– zu dem Antrag der Abgeordneten DanielaWagner, Bettina Herlitzius, Ingrid Nestle, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENEnergieeffizienz und Klimaschutz im Ge-bäudebereich– Drucksachen 17/7023, 17/5368, 17/5778,17/8384 –Berichterstattung:Abgeordneter Peter GötzDer Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick-lung empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussemp-fehlung auf Drucksache 17/8384 die Ablehnung des An-trags der SPD-Fraktion auf Drucksache 17/7023 mit demTitel „Klimagerechte Stadtpolitik – Potentiale nutzen,soziale Gerechtigkeit garantieren, wirtschaftliche Ent-wicklung unterstützen“. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der bei-den Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der dreiOppositionsfraktionen angenommen.Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss dieAblehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen auf Drucksache 17/5368 mit dem Titel „Klima-schutz in der Stadt“. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der bei-den Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Linkenund Grünen bei Enthaltung der SPD angenommen.Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-stabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung desAntrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-sache 17/5778 mit dem Titel „Energieeffizienz und Kli-maschutz im Gebäudebereich“. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-men der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmender Grünen bei Enthaltung von SPD und Linken ange-nommen.Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen desPetitionsausschusses.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24275
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Tagesordnungspunkt 49 f:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 480 zu Petitionen– Drucksache 17/11020 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 480 ist einstimmig an-genommen.Tagesordnungspunkt 49 g:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 481 zu Petitionen– Drucksache 17/11021 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 481 ist einstimmig an-genommen.Tagesordnungspunkt 49 h:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 482 zu Petitionen– Drucksache 17/11022 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 482 ist einstimmig an-genommen.Tagesordnungspunkt 49 i:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 483 zu Petitionen– Drucksache 17/11023 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 483 ist mit den Stim-men von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmenvon Linken und Grünen angenommen.Tagesordnungspunkt 49 j:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 484 zu Petitionen– Drucksache 17/11024 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 484 ist mit den Stim-men von CDU/CSU, FDP und Linken gegen die Stim-men von SPD und Grünen angenommen.Tagesordnungspunkt 49 k:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 485 zu Petitionen– Drucksache 17/11025 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 485 ist mit den Stim-men von CDU/CSU, FDP und Grünen gegen die Stim-men von SPD und Linken angenommen.Tagesordnungspunkt 49 l:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 486 zu Petitionen– Drucksache 17/11026 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Sammelübersicht 486 ist mit den Stimmen derbeiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der dreiOppositionsfraktionen angenommen.Ich rufe nun den Zusatzpunkt 5 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion der SPDHaltung der Bundesregierung zu Äußerungendes Vizekanzlers Dr. Rösler, das Betreuungs-geld koste viel Geld, sei nicht gegenfinanziertund eine Bildungskomponente fehle völlig
Ich eröffne die Aussprache und erteile Frank-WalterSteinmeier für die SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Das … Betreuungsgeld kostet viel Geld, ist nichtgegenfinanziert und eine Bildungskomponente fehltvöllig.
Ich muss Ihnen offen und ehrlich sagen: Ich hatte bishernicht viel Gelegenheit, Übereinstimmung mit HerrnRösler zu suchen, aber hier hat er recht.
Ich finde es schön, dass im Laufe der Zeit Entwick-lung möglich ist. Sie begreifen jetzt, was Opposition,Wissenschaft, Verfassungsjuristen, Kinderschutzbund,Migrantenverbände, Gewerkschaften, Arbeitgeber,Evangelische Kirche und vor allen Dingen die großeMehrheit der Bevölkerung schon seit langem wissen:Das Betreuungsgeld ist Geldverschwendung, setzt völligfalsche Anreize, taugt nichts und muss vom Tisch.
Vor ziemlich genau einem Jahr habe ich hier auchzum Betreuungsgeld geredet. Dass das Thema noch im-mer „hängt“, hat natürlich Gründe. Wenn Sie in der Ko-alition davon überzeugt wären, dass das Betreuungsgeld
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24276 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Dr. Frank-Walter Steinmeier
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wirklich das Richtige ist, dann hätten Sie es längst um-gesetzt. Was Sie, meine Damen und Herren von den Ko-alitionsfraktionen, in Wahrheit beunruhigt,
ist, dass Sie in diesem Falle nicht nur Kritik aus der Op-position bekommen, sondern dass die Verständnislosig-keit in den eigenen Reihen von Monat zu Monat wächst.Viele Ihrer Kolleginnen und Kollegen von FDP undCDU glauben selbst nicht an dieses Instrument. Sie habenaber nicht die Kraft – und das ist das Entscheidende –, ausder wachsenden Verständnislosigkeit in den eigenen Rei-hen die richtigen Schlüsse zu ziehen. Sie lassen dieDinge treiben und hoffen auf Ermüdung der Öffentlich-keit bei diesem Thema. Genau das werden wir Ihnenaber nicht durchgehen lassen.
Dass ich mich zu diesem Thema nach einem Jahr hierim Bundestag wieder zu Wort melde, hat nichts damit zutun, dass ich das Betreuungsgeld für eine der vielen nichtfinanzierten sinnlosen Maßnahmen zur Klientelbefriedi-gung halte, sondern weil ich noch immer – heute sogarimmer mehr – der Meinung bin, dass Sie in unserem Bil-dungssystem an einer verhängnisvoll falschen Weichen-stellung arbeiten. Die Tragweite dessen, was Sie hierjetzt auf den Weg schicken wollen, erkennen Sie bei Ih-rem koalitionären Tunnelblick inzwischen gar nichtmehr.
Sie müssen sich doch über eines im klaren sein: Siekönnen in der nächsten Woche im Koalitionsausschussirgendeinen krummen Kompromiss zurechtzimmern,den der Finanzminister am Ende bezahlt und der Ihnenin der Koalition vielleicht über die nächsten vier Wochenhilft. Es bleibt aber bei der Wahrheit, die ich vor einemJahr von diesem Pult aus auch schon gesagt habe: Das,was Sie hier vorbereiten, ist eine bildungspolitische Ka-tastrophe. Ein anderes Wort habe ich dafür nicht zur Ver-fügung.
Was immer Sie in der Koalitionsküche jetzt zusam-menbrutzeln: Sie verantworten am Ende einen grundle-gend falschen Anreiz, nämlich eine Prämie dafür, dassKinder zu Hause bleiben. Viele von Ihnen wissen ver-mutlich, was Sie damit anrichten: Gerade viele der Kin-der, die wir viel mehr in öffentlichen Betreuungseinrich-tungen sehen möchten, gerade viele der Kinder, die erstdurch die Betreuung in öffentlichen Einrichtungen über-haupt eine Chance im Bildungssystem bekommen, ge-rade auch viele Kinder aus Familien mit Migrationshin-tergrund, die eine möglichst frühzeitige Sprachförderungerhalten müssen, werden durch Ihre Prämie und IhrenFehlanreiz zu Hause bleiben. Sie wissen das, machen esaber trotzdem. Das ist das Verantwortungslose.
Ich meine, wir müssen familienpolitisch argumentie-ren. Aber auch ökonomisch verstehe ich Sie nicht, ge-rade diese Koalition nicht, gerade wenn Sie, wie vielevon Ihnen, bei der letzten BDA-Jahrestagung geredetund gehört haben, was Ihnen die Unternehmer in diesemLande berichten, nämlich von ihrer Sorge um den Man-gel an Arbeitskräften. Nun besteht aber die Hälfte dergut ausgebildeten jungen Menschen in diesem Lande ausFrauen. Deren Erwerbstätigkeit – daran haben wir einInteresse – müssen wir fördern und nicht behindern.
Aber es scheint so zu sein, dass Ideologie oder Koali-tionsarithmetik auch die einfachsten Gesetze der Logikaußer Kraft setzen.Vor einem Jahr kam ich aus einem Gespräch mit denkommunalen Spitzenverbänden zu der Debatte zum Be-treuungsgeld hierher. Zufälligerweise hat ein solchesTreffen gerade gestern wieder stattgefunden. Ich will Ih-nen noch einmal sagen: Die Botschaft, die von unserenKommunen kommt, ist immer noch dieselbe. Sie istganz einfach und klar: Hört damit auf, Geld auszugeben,damit Kinder zu Hause bleiben! Ganz im Gegenteil: Je-der Euro, jeder Cent, der für diesen Unsinn verschleudertwird, der wird für den Kitaausbau dringend gebraucht. –Recht haben die kommunalen Spitzenverbände!
Deshalb zum Schluss. Mit Verlaub: Alle Argumenteliegen auf dem Tisch, aber sie sind eben nicht auf IhrerSeite. Auf Ihrer Seite ist der ominöse Koalitionsfrieden.Nicht aber dem sind Sie mit Ihrem Mandat verpflichtet,sondern dem Wohl von Familien und der Zukunft derKinder hier in Deutschland. Deshalb muss das Betreu-ungsgeld vom Tisch.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Kollege Dr. Frank-Walter Steinmeier. –Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist un-ser Kollege Markus Grübel. Bitte schön, KollegeMarkus Grübel.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24277
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Die kommen noch. – Herr Präsident! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Wir haben hier im Deutschen Bun-destag schon eine sehr seltsame Opposition. Wenn dasThema Betreuungsgeld auf der regulären Tagesordnungdes Bundestages steht, dann verweigert sich die Opposi-tion, dann versucht die Opposition mit allen Verfahrens-tricks, auch mit schlechten, die Debatte hier im Parla-ment zu verhindern.
Wenn dieses Thema in einer Woche einmal nicht auf derTagesordnung steht, dann können wir uns blind daraufverlassen, dass es dazu eine Aktuelle Stunde gibt. Ichkann die Zahl der Aktuellen Stunden zum Betreuungs-geld schon nicht mehr zählen.
Ich habe die Hoffnung aufgegeben, dass wir Sie nochdurch Sachargumente überzeugen können.Aber zur Sache. Zur Grundsatzfrage hat der Vorsit-zende der FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag,Rainer Brüderle, gestern alles gesagt. Herr Brüderle hatnoch einmal betont, dass er zum Betreuungsgeld steht.
Ich zitiere: Wir sind vertragstreu, das ist vereinbart.
Das sagt Rainer Brüderle. Wir werden in naher Zukunftden Gesetzentwurf hier im Deutschen Bundestag zu ei-nem guten Abschluss bringen.
Es wird noch ein paar Änderungen geben, zum BeispielWahlleistungen für eine kapitalgedeckte Rente, oder dieFDP hat noch Wünsche für eine Bildungskomponente,aber im Kern wird es beim vereinbarten Betreuungsgeldbleiben.
Um was geht es beim Betreuungsgeld? Bund, Länderund Gemeinden fördern jeden Platz für jedes Kind unterdrei Jahren mit 900 bis 1 000 Euro im Monat. Eltern, diedie Betreuung selbst organisieren oder eine Betreuung,die nicht öffentlich gefördert wird, in Anspruch nehmen,sollen künftig 150 Euro im Monat erhalten. Als Aner-kennung für ihre Betreuungsleistung, aber auch alsUnterstützung für die selbstorganisierte Betreuung, dienicht staatlich gefördert wird,
fördern Bund, Länder und Gemeinden jeden Platz für ei-nen unter Dreijährigen mit 900 Euro bis 1 000 Euro imMonat. Dabei geht es um ein- oder zweijährige Kinder.
Meine Damen und Herren, wir wollen die Wahlfrei-heit. Dazu gehört einerseits das Betreuungsgeld und an-dererseits der massive Ausbau der Kinderbetreuungs-plätze auch für die unter Dreijährigen. Noch nie wurdenin Deutschland so viele Betreuungsplätze für unter Drei-jährige geschaffen wie in den letzten drei Jahren.
Noch nie wurde so viel Bundesgeld eingesetzt, umBetreuungsplätze zu schaffen. In den letzten drei Jahrenhaben wir 4 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Invielen Ländern sind diese Mittel jetzt aufgebraucht. Da-rum haben wir jetzt zusätzliche Mittel, nämlich 580 Mil-lionen Euro, für zusätzliche 30 000 Betreuungsplätze be-reitgestellt.Was machen nun aber manche Länder bzw. die Län-der? Sie blockieren, weil sie nicht regelmäßig berichtenwollen, wie viele Betreuungsplätze zur Verfügung ste-hen. Diese Zahl brauchen wir aber, um garantieren zukönnen, dass wir im August 2013 auch wirklich denRechtsanspruch erfüllen können.Ich kann mich noch gut an das Tagesbetreuungsaus-baugesetz erinnern – Herr Steinmeier; Frau Künast, Siereden nachher –, das von Rot-Grün auf den Weg ge-bracht worden ist. Dabei sind auch Milliarden eingesetztworden. Ich habe aber noch keinen SPD-Bürgermeisterund noch keinen SPD-Kämmerer gefunden, der mir ge-sagt hat: Das Geld ist in meiner Kommune angekom-men.Das haben wir beim Kinderförderungsgesetz bessergemacht. Damals haben wir gemeinsam regiert. Wir ha-ben gesagt: Es muss nachweisbar sein, dass die Kom-mune das Geld bekommt, die tatsächlich Betreuungs-plätze für unter Dreijährige schafft. – Heute kann jederim Haushaltsplan seiner Gemeinde nachlesen, zu wel-chem Anteil der Bund beispielsweise einen Neubau be-zuschusst und wie hoch die laufende Förderung des Bun-des ist. Dabei können sich die Kommunen auf den Bundverlassen.
Diese guten Erfahrungen wollen Sie jetzt wieder auf-geben. Insbesondere die rot-grün regierten Länder wol-len das ändern und das Geld wieder in ihre Taschen lei-ten. Deshalb haben wir die Sorge, dass nur wenig odergar nichts bei den Kommunen ankommt. Dabei machenwir nicht mit.
Meine Damen und Herren, schauen wir doch einmalauf den Ausbauzustand. Wer hat sich in den letzten Jah-
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Markus Grübel
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ren angestrengt? Es gibt eine neue Studie vom Deut-schen Jugendinstitut. Danach ist der Fehlbedarf in einemSPD-regierten Land am größten, nämlich in Bremen.Dann folgt Nordrhein-Westfalen. Im Osten ist der Fehl-bedarf in Mecklenburg-Vorpommern am größten. Werist denn dort Sozialministerin? Das ist doch eine von derSPD,
die hier immer dicke Backen macht, es aber nicht hinbe-kommt.
Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen stehen bes-ser da. Deshalb kann man wirklich sagen, dass die Vo-raussetzungen ähnlich sind.
Schauen wir doch einmal in den Westen. Wer hat imWesten den geringsten Fehlbedarf? Dies ist der FreistaatBayern.
Bayern ist für das Betreuungsgeld, tut aber etwas für denAusbau der Betreuung der unter Dreijährigen und ist da-bei vorbildlich. Bayern hat sich wirklich angestrengt.
Bei dieser Lage sollten Sie Ihre Länder beeinflussen,dass sie die 580 Millionen Euro für die 30 000 neuenBetreuungsplätze nehmen, nicht weiter blockieren undihrer Berichtspflicht nachkommen.
Vielleicht ist der wirkliche Grund für die heutige Ak-tuelle Stunde, von diesem Problem und von Ihrem eige-nen Versagen abzulenken. Dabei machen wir aber nichtmit.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Kollege Markus Grübel. – Nächster
Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion
Die Linke unser Kollege Dr. Gregor Gysi. Bitte schön,
Kollege Dr. Gregor Gysi.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich be-schäftige mich jetzt einmal mit dem Frauenbild der Män-ner der CDU/CSU. Ich kenne Ihr Frauenbild. Sie stellensich Frauen so vor: Frauen sitzen zu Hause, betreuen,versorgen und erziehen die Kinder. Dann machen sie dieWohnung sauber. Dann kümmern sie sich um die Wä-sche aller Familienmitglieder. Dann bügeln sie die Hem-den des Ehemannes. Dann gehen sie einkaufen. Dannstellen sie ihrem Mann die Puschen hin, damit er abendsbequem vor dem Fernseher sitzen kann.
Ich sage Ihnen aber: Dieses Frauenbild ist so etwasvon veraltet, dass ich mich wundere, dass FrauHasselfeldt in der CSU nicht darum kämpft, dass dasendlich einmal überwunden wird.
Davon gibt es auch eine Folge: In Ihrer Fraktion gibt eswenig Frauen, nämlich nur 18,98 Prozent. In unsererFraktion gibt es mehr Frauen als Männer, nämlich55,2 Prozent. Erreichen Sie das erst einmal.
Ich weiß natürlich auch, dass es Frauen gibt, die einesolche Rolle übernehmen und sich sogar darin wohlfüh-len. Ich habe vor ihnen auch vollen Respekt. Aber dasheißt nicht, dass man das politisch als Bundestag nochfinanziell fördern und unterstützen muss. Ganz im Ge-genteil: Wenn man die Gleichstellung der Geschlechtererreichen will, muss man zumindest in der CDU/CSUerst einmal das Bild der Männer von den Frauen grund-sätzlich ändern.
Es gibt wissenschaftliche Untersuchungen, die ein-deutig beweisen, dass es ein großer Vorteil für Kinderist, wenn sie Kindertageseinrichtungen aufsuchen.
Warum nehmen Sie sie nicht zur Kenntnis? Die Kinderlernen von anderen Kindern. Sie lernen auch sozial. Dasgilt übrigens nicht nur für Kinder von Alleinerziehen-den, sondern gerade auch für Kinder aus betuchten Ver-hältnissen. Sie lernen dann nämlich auch den Umgangmit anderen Verhältnissen und werden wieder natürli-cher, als sie es von zu Hause mitbekommen haben.
In der Schule zeigt sich, dass diese Kinder, die vorherKindertagesstätten besucht haben, aufgeschlossener sindund leichter den Lehrstoff erfassen als jene Kinder, dienur zu Hause waren.
Nach den Kindertagesstätten müsste der Besuch einerGanztagsschule beginnen, und zwar auch deshalb, weiles den Kindern hilft und gleichzeitig ermöglicht, dass
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Dr. Gregor Gysi
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Frauen und Männer sich gleichberechtigt beruflich ent-wickeln können.
Es gibt eine Studie, die Folgendes besagt – ich zitierewörtlich –:Besonders für die Kinder von Alleinerziehendenhat die Ganztagsbetreuung einen positiven Effekt.Ihre Schulleistungen lassen sich durch die Betreu-ung signifikant verbessern.Dann wird in der Studie Folgendes festgestellt: Der An-teil der Kinder von Alleinerziehenden an Gymnasienwürde von 36 auf 62 Prozent steigen, wenn alle Kinderdiese Angebote hätten und auch wahrnehmen könnten.Mit Ihrem Geld wollen Sie genau das verhindern. Er-klären Sie doch einmal den Kindern, was Sie damit ei-gentlich anrichten.
– Ja, natürlich. Sie wollen ja dann bezahlen, wenn dieEltern die Kinder nicht dort hinschicken. Damit richtenSie sich geradezu an die ärmeren Eltern, nach demMotto: Wenn ihr Knete haben wollt, dann bringt eureKinder nicht in die Kindertageseinrichtungen. – Ich bitteSie, das ist 19. Jahrhundert. Das hat mit dem 21. Jahr-hundert nichts mehr zu tun.
Übrigens haben die Kindertageseinrichtungen im Os-ten einen Vorsprung. Warum können wir das nicht inganz Deutschland einführen? Man kann doch auch ein-mal einen Vorsprung im Osten für ganz Deutschland nut-zen. Was spricht eigentlich dagegen?
– Ja, da reagieren Sie sofort arrogant. Das ist eine völligeFehlleistung. Schauen Sie sich einmal die Studien etc.zur beruflichen Entwicklung von Frauen aus dem Ostenan! Wenn Sie das nicht zur Kenntnis nehmen, dann hilftes nichts. Es tut mir leid: Dann bleiben Sie im KaltenKrieg stecken.
Ab 1. August gibt es einen Rechtsanspruch auf Kin-derbetreuungsstellen. Vielen Kommunen fehlt aber dasGeld. Warum geben Sie das für diesen Unsinn vorgese-hene Geld nicht den Kommunen, um die Kinderbetreu-ungsstellen zu finanzieren? Sie haben von Bayern undvielen anderen Ländern gesprochen, die auf den Auswegsetzen, eine Mutter zu finden, die mehrere Kinder be-treut. Das ist natürlich nur die halbe Miete.
Eine Kindertageseinrichtung mit hochqualifiziertem Per-sonal ist wesentlich besser. Das müssen wir übrigensauch erreichen, und zwar verstärkt.
Also: Ich halte von diesem Zwischenweg relativ wenig.Nun sage ich Ihnen – auch an die Adresse der FDP –:Das Geschacher in der Koalition ist nicht nachvollzieh-bar. Ich frage Sie von der FDP: Was hat ein ohnehinnicht zu rechtfertigender Zuschuss zur privaten Pflege-versicherung mit dem Betreuungsgeld zu tun? Was hatdie Berücksichtigung von Rentenpunkten für Frauen, dievor 1992 Kinder zur Welt gebracht haben, mit dem Be-treuungsgeld zu tun? Was hat die Verpflichtung zurWahrnehmung von Vorsorgeuntersuchungen von Kin-dern mit dem Betreuungsgeld zu tun? Was hat ein soge-nanntes Bildungssparen für Kinder – fragen Sie das malHerrn Brüderle! – mit dem Betreuungsgeld zu tun?Was ist das für ein Kuhhandel, den Sie organisieren?71 Prozent aller Befragten in Deutschland wollen keinBetreuungsgeld, übrigens auch 62 Prozent aller Anhän-gerinnen und Anhänger der CDU. Das sollten Sie beden-ken.Deshalb sage ich Ihnen: Lassen Sie diesen Blödsinn,diesen Rückfall in ein völlig antiquiertes Frauenbild undins 19. Jahrhundert! Das brauchen wir nicht. Wir brau-chen dieses Geld dringend für die Kinderbetreuungsstel-len.
Vielen Dank, Kollege Dr. Gregor Gysi. – Nächster
Redner für die Fraktion der FDP, unser Kollege Patrick
Meinhardt. Bitte schön, Kollege Patrick Meinhardt.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Herr Steinmeier, ich darf einmal zitieren:Ab 2013 soll für diejenigen Eltern, die ihre Kindervon ein bis drei Jahren nicht in Einrichtungen be-treuen lassen wollen oder können, eine monatlicheZahlung eingeführtwerden.So beschlossen bei der Änderung des Sozialgesetzbuchsdurch die Große Koalition – mit Ihrer Stimme, HerrSteinmeier.
An dieser Stelle muss man einmal sehr deutlich sa-gen: Stehen Sie zu dem, was Sie in der Vergangenheit indas Sozialgesetzbuch hineingeschrieben haben!
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24280 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Patrick Meinhardt
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Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen, HerrSteinmeier.
Fühlten Sie sich dem Koalitionsfrieden oder fühlten Siesich dem deutschen Volk verpflichtet?Aus dem gleichen Jahr darf ich den KollegenSteinbrück zitieren. Da kam die Meldung über die Ti-cker: Koalition konnte sich einigen. „Das Veto des Fi-nanzministers ist weg“, sagte die damalige Ministerinvon der Leyen. – Was sagte Herr Steinbrück dazu, zudiesem Betreuungsgeldkompromiss? – „Es sei ein ver-nünftiger Kompromiss.“ Damit sind Sie als Sozialdemo-kraten aus der Debatte herausgekommen. Stellen Siesich doch Ihrer eigenen Verantwortung und schlagen Siesich hier nicht in die Büsche!
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir haben einwichtiges Datum; das ist der 1. August nächsten Jahres.Alle Anstrengungen müssen darauf hinauslaufen, denAusbau der Krippenplätze genau so umzusetzen, wie erverabschiedet worden ist. Diese Bundesregierung stelltdie Mittel hierfür in vollem Umfang zur Verfügung. Sielegt noch einmal 580 Millionen Euro obendrauf.
Deswegen: Kümmern Sie sich darum, dass Ihre Landes-regierungen diese Mittel abrufen, die Auszahlung nichtblockieren, sondern den Weg freimachen, sodass wir am1. August kommenden Jahres auch das erreichen, waswir in diesem Land gesellschaftspolitisch erreichen wol-len.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir habeneine ganze Reihe von Herausforderungen, die wir indiese Diskussion um die Frage des Betreuungsgeldes,die Frage der richtigen Familienpolitik und die Frage derrichtigen gesellschaftspolitischen Schwerpunkte mithineinbringen wollen. Logischerweise – das gehört zueiner Koalition – gibt es bei Wegen zu einem Ziel unter-schiedliche Akzentuierungen und auch eine Diskussiondarüber, wie die Ausgestaltung optimal laufen soll.Als FDP-Bundestagsfraktion haben wir klare Akzentein der Debatte gesetzt. Zum Ersten geht es darum, dasswir so schnell wie möglich eine schwarze Null im Bun-deshaushalt wollen;
das hat für uns oberste Priorität. Wir wollen erreichen,dass eine solide Finanzierung sichergestellt ist; denneine solide Haushaltspolitik ist die beste Generationen-politik.
Zum Zweiten – das ist für uns der zentrale Punkt –:Wir wollen als Liberale und wir wollen auch in dieserRegierungskoalition ein bildungspolitisches Signal set-zen.
Es geht um eine starke Bildungskomponente, wie es derBundesvorsitzende der Freien Demokratischen Parteiformuliert hat. Es geht darum, für die Kinder Bildungs-chancen für die Zukunft zu eröffnen.
Deswegen ist das Ziel der Liberalen, in dieser Debatte,in dieser gesellschaftspolitisch wichtigen Debatte, einkluges Zeichen für ein intelligentes Bildungssparen zusetzen.
Bildungspolitische Fragestellungen an dieser Stelle zudiskutieren, ist aus liberaler Sicht der richtige Ansatz-punkt.
Monat für Monat sind hier Möglichkeiten gegeben,die wir im Koalitionsvertrag auch schon angedeutet undaufgetan haben, nämlich beispielsweise über ein Bil-dungskonto, über einen Bildungsbonus Schwerpunkte zusetzen. Das wäre der Einstieg in ein modernes und sozialgerechtes Bildungssparen. Unser Ziel ist es, dass wir indieser gesellschaftspolitischen Debatte einen starkenAkzent, ein starkes Zeichen für die Bildung setzen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesem Zusam-menhang ist es auch wichtig und gut, dass das Bundes-wirtschaftsministerium ein Gutachten zur Zukunft desVermögensbildungsgesetzes in Auftrag gegeben hat,
um zu schauen, auf welche Art und Weise wir Vermö-gensbildung über die Frage des Bildungssparens und dieFrage der stärkeren Akzentuierung hier miteinander er-reichen können.
Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Es lohntsich, in diesem Hohen Hause darum zu streiten, wie wirZukunftschancen für Kinder verbessern können. Eslohnt sich, auch darum zu streiten, wie wir einen Bil-dungsbonus schaffen können. Es lohnt sich mit Sicher-heit, darum zu streiten, wie wir die Bildungschancen in
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24281
Patrick Meinhardt
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diesem Land noch weiter erhöhen können. Das ist dieDebatte, die wir hier auch führen müssen.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Kollege Patrick Meinhardt. – Nächste
Rednerin in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin Renate Künast.
Bitte schön, Frau Kollegin Renate Künast.
Danke. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren!Ich will einmal sagen: Bisher habe ich kein entscheiden-des Argument für das Betreuungsgeld gehört.
Mein letzter Vorredner, Herr Meinhardt, hat gesagt, daswichtigste Datum im nächsten Jahr sei der August 2013,wenn es den Rechtsanspruch gibt. Ich habe eher den Ein-druck: Bei Ihnen ist das wichtigste Datum der 1. Aprilnächsten Jahres; denn so agieren Sie.
Anders kann ich das nicht verstehen; denn mit dem1. April verbindet man doch immer einen Aprilscherz.
Was soll man denn davon halten: Herr Rösler läuft he-rum und kritisiert zu Recht: Das Betreuungsgeld ist zuteuer. Es ist ein falsches Instrument. Es ist nicht gegen-finanziert und hat keine bildungspolitische Komponente. –Da denken wir schon: Wow! Endlich legt sich jetzt dieFDP einmal ins Zeug – ganz modern – und tut etwas fürdie Kinder und für die Frauen. – Kurz danach kommtHerr Brüderle, springt Rösler in den Nacken und sagt:Nein, wir sind vertragstreu. – Dann gilt wieder das.Herr Meinhardt hat gerade hier am Redepult einendoppelten Rittberger zur Aufführung gebracht und ge-sagt:
Beide haben recht. Wir sind vertragstreu. – Dann kommtmit Bildungssparen sozusagen die bildungspolitischeKomponente ins Spiel. Wollen Sie uns und auch dieFrauen in diesem Land eigentlich veräppeln?
Wer über Bildung redet, weiß: Auf den Anfangkommt es an. Wollen Sie uns jetzt erzählen, dass einKind das erste, zweite, dritte, vierte Lebensjahr zu Hausebleiben soll, obwohl es auf den Anfang ankommt, umBildung zu erleben – wir wissen, der Kindergarten hateinen Bildungsauftrag –,
und dass man mit 100 oder 150 Euro für Bildungssparenfür später vorsorgen soll?Sie müssen wissen: Die Entscheidung darüber, obsich ein Kind auf seinem Schulweg tapfer und mutigzum Beispiel zum Abitur und um zu studieren auf denWeg macht, wird nicht dadurch gefällt, dass man sicher-heitshalber schon im Kindesalter Bildungssparen für dasStudium macht. Vielmehr wird dies dadurch entschie-den, dass dieses Kind seine Kompetenzen und Möglich-keiten kennenlernt und ausleben und entwickeln kann.Und da gehen Sie wieder nicht ran! Insofern: VergessenSie Ihr Bildungssparen an dieser Stelle!
– Über das Bildungssparen können wir gerne diskutie-ren. Aber vorher machen wir das Betreuungsgeld nicht.Dann würde Bildungssparen Sinn machen.
Das alles ist doch von vorgestern und keine Antwortauf die Frage, die die meisten Eltern haben, die sagen,sie seien hinsichtlich der Vereinbarkeit von Beruf undFamilie aufgerieben.Der Bedarf an Krippenplätzen steigt immer noch wei-ter. In manchen Kommunen liegt er schon heute bei über50 Prozent. Viele Väter wollen gerne weniger erwerbstä-tig und Frauen mehr erwerbstätig sein. Für solche Dingemuss man doch einen familienpolitischen und bildungs-politischen Rahmen schaffen. Aber ich habe den Ein-druck: Hier sollen nicht die Familien gerettet werden,sondern hier soll die Koalition gerettet werden, weil Siesich gerade noch durchmauscheln wollen.
Das ist nichts als ein Versuch, irgendwie davon abzulen-ken, dass die Aufgaben für den August 2013 in Bezugauf den Rechtsanspruch nicht realisiert werden können.Der nationale Bildungsbericht, von Frau Schavan inAuftrag gegeben, hat vor der Leistung Betreuungsgeldgewarnt. Bei den Empfehlungen aus Europa für unserenHaushalt wird gesagt: keine steuerlichen finanziellenAnreize dieser Art für das Zuhausebleiben.Die Mehrheit der Eltern will das Betreuungsgeldnicht. Selbst der Sozialdienst katholischer Frauen inBayern will das Elterngeld nicht.
– Betreuungsgeld. Entschuldigung. – Alle wollen an die-ser Stelle eine bessere Infrastruktur mit mehr Personalund individueller Förderung.Dann frage ich mich noch, warum Sie und Frau vonder Leyen an dieser Stelle so gern von einer drohendenAltersarmut der Frauen reden. Sie bekämpfen doch dieAltersarmut der Frauen nicht damit, dass Sie ihnen heute100 oder 150 Euro geben. Vor drei, vier Wochen solltedas noch sein, damit die Frauen ihre Altersvorsorge be-
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Renate Künast
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zahlen können. Aber auch das ist offensichtlich schonwieder vergessen.
Was soll denn sein? – Die Frauen brauchen eine echteWahlfreiheit. Das heißt, es muss mehr Kindergarten-plätze geben, und es muss irgendwann einmal einenRechtsanspruch auf einen Ganztagskindergartenplatz ge-ben.
Nur so funktioniert das.Wir müssen für Frauen auf dem Arbeitsmarkt nochviel mehr erreichen, zum Beispiel die Schließung derLohnlücke und einen Mindestlohn. Was ich bei Ihnenkritisiere, ist ganz klar: Nach Ihrer Vorstellung soll mitdem Betreuungsgeld die Erziehungsleistung gesetzlichanerkannt werden. Aber am Ende bekommen auch die,die gar nicht erziehen, sondern die 100 oder 150 Euro alsTaschengeld für das Au-pair-Mädchen nehmen, dasGeld. Was wollen Sie denn nun: eine Erziehungsleistungan dieser Stelle rechtfertigen oder einen Bildungsauftragwahrnehmen?Mein letzter Gedanke in meiner Rede gilt Ihnen,Herrn Grübel. Herr Grübel, Sie haben sich hier durch dasThema gegrübelt. Sie haben gesagt, Sie würden den Län-dern 580 Millionen Euro zusätzlich geben. Sie habenaber nicht gesagt, dass die 580 Millionen Euro von denBundesländern kofinanziert werden sollen und es eineregelmäßige Berichtspflicht geben soll.
Ausgemacht war an dieser Stelle: Länder und Kommu-nen übernehmen die Personalkosten, während der Bundeine einmalige finanzielle Leistung als Investition er-bringt. Sie haben nicht die Wahrheit gesagt. Sie gebenden Kommunen nicht das Unterstützungsgeld, sondernstattdessen das Betreuungsgeld.
Das lehnen wir ab. Im Notfall schaffen wir es im nächs-ten Jahr wieder ab.
Vielen Dank, Frau Kollegin Renate Künast. – Nächs-
ter Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kol-
lege Norbert Geis.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Liebe Frau Künast, Sie bringen eini-ges durcheinander. Sie verwechseln nicht nur das Be-treuungs- mit dem Elterngeld, sondern Sie unterscheidenauch nicht zwischen Krippe und Kindergarten.
Die Krippe betreut Kinder in den ersten drei Jahren, unddann beginnt der Kindergarten. Wir alle sind dafür, dassmöglichst viele Kinder in den Kindergarten gehen. Wirstimmen mit Ihnen darin überein, dass die Kinder ab die-sem Alter in den Kindergarten kommen sollen, damit de-ren Kommunikationsfähigkeit wächst. Das wollen wirgenauso wie Sie.
Sie dürfen uns das Gegenteil nicht vorwerfen.In dieser Debatte ist nichts Neues hervorgebrachtworden, und es wird auch nichts Neues hervorgebracht.
Wir reden hier im Parlament zum siebten oder achtenMal über das Betreuungsgeld. Sieben oder acht Mal sinddieselben Argumente vorgetragen worden. Um was gehtes Ihnen eigentlich? Es geht Ihnen gar nicht mehr um dieArgumente, sondern darum, aus einer vielleicht koali-tionsinternen Meinungsverschiedenheit Kapital für Ihreeigene Partei zu schlagen.
– Darum geht es nicht. Es geht Ihnen nicht um die Kin-der. – Es geht Ihnen ganz billig um einen Vorteil für Ihreeigene Partei. Den brauchen Sie natürlich auch, weil Siesonst keinen bekommen.
– Lassen Sie mich doch einmal ausreden!Ich will Ihnen sagen, was ich am Betreuungsgeld kri-tisiere. Ich kritisiere am Betreuungsgeld die Bezeich-nung. Früher haben wir dazu Erziehungsgeld gesagt. Eswurde zwei Jahre das Erziehungsgeld und in einigenBundesländern ab dem dritten Jahr das Landeserzie-hungsgeld gezahlt. Das gab es beispielsweise in Bayern,Baden-Württemberg, Thüringen und Sachsen. Wir habenes damals Erziehungsgeld genannt. Es geht hier schließ-lich um Erziehung. Es geht darum, dass durch diesesGeld die Erziehungsleistung der Eltern unterstützt wird.Dazu hat der Staat nach Art. 6 Grundgesetz eine Ver-pflichtung. Er muss die Erziehungsleistung der Elternunterstützen.
– Aller Eltern. – Deswegen sollten wir es nicht Betreu-ungsgeld nennen; denn es geht nicht um Betreuung, son-dern um Erziehung. Eine bessere Bezeichnung wäre alsoErziehungsgeld.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24283
Norbert Geis
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Herr Steinmeier und viele andere haben vorgetragen,dass Kinder, wenn sie in den ersten drei Jahren bei ihrenEltern bleiben und daheim erzogen werden,
einen Nachteil gegenüber Kindern haben, die eine Kitabesucht haben.
– Okay, ich nehme Ihre Korrektur entgegen. – Das kannauch nicht richtig sein. Aber es wird so verstanden. Eskann nicht sein, dass Sie die Erziehung durch die Eltern,die Mutter oder den Vater, disqualifizieren.
Das kann doch nicht sein. Damit will ich aber nicht sa-gen, dass die Eltern, die ihr Kind in die Kita geben, nichtin gleichem Maße Nähe und Bindung zum Kind auf-bauen können. Ich gehe davon aus, dass dies ebenfallsder Fall ist.
– Nein, ich sage das nicht. Aber ich sage Ihnen: Sie kön-nen auch nicht das Gegenteil behaupten, nämlich dassein Kind einen Nachteil hätte, wenn es nicht in die Kitakommt.
Das ist weit hergeholt und völlig falsch.Des Weiteren wird immer wieder behauptet – auchvon Ihnen, Herr Steinmeier –, das Betreuungsgeld seiverfassungswidrig.
Das kann ich nun überhaupt nicht nachvollziehen. Wasgeschieht denn hier? Meine sehr verehrten Damen undHerren von der SPD, im Jahr 2008 haben Sie zuge-stimmt, dass die Erziehungsleistungen der Eltern unter-stützt werden sollen. Das sollte zum einen durch die Ki-tas erfolgen; hier sind wir voll bei Ihnen. Hierfür hat derStaat bereits über 4 Milliarden Euro geleistet. Es sind dieSPD-regierten Länder, die ihre Leistung noch nicht er-bracht haben. Das müssen Sie sich vorhalten lassen.Zum anderen sollte eine Unterstützung durch das Be-treuungsgeld erfolgen. Das haben Sie im Jahr 2008 sel-ber so entschieden. Sie haben mit uns entschieden, dassder Staat die Unterstützung der Erziehungsleistungen aufzweierlei Weise vornehmen kann
– nein, ich will Ihnen nur die Wahrheit sagen –, nämlichauf der einen Seite durch die Kita als Sachleistung undauf der anderen Seite durch das Betreuungsgeld alsGeldleistung. Was soll daran verfassungswidrig sein?Wir geben den Eltern Wahlfreiheit. Wir sagen ihnen: Ihrkönnt wählen, ob ihr euer Kind in die Kita gebt oder obihr das Betreuungsgeld nehmt. – Eine solche Wahlfrei-heit kann doch nicht verfassungswidrig sein. So etwaskann doch nur einem seltsam gewundenen juristischenHirn einfallen. Damit können Sie bei uns nicht anlanden.Ich möchte einen weiteren Punkt hervorheben. DerStaat wird meiner Meinung nach in eine Gerechtigkeits-lücke geraten, wenn er nur die Eltern unterstützt, die ihrKind in die Kita geben. Das sind ja maximal 40 Prozentder Eltern. 60 Prozent der Eltern, die ihr Kind in den ers-ten drei Jahren daheim erziehen wollen, soll der Staatnicht unterstützen? Das führt meiner Meinung nach zueiner Gerechtigkeitslücke.
Das können wir so nicht stehen lassen.Bitte werfen Sie einen kurzen Blick zu unseren Nach-barn in Frankreich. Dort werden die Kinder landesweitzu maximal 15 Prozent in die Krippe gebracht, 25 Pro-zent gehen zur Tagesmutter. Frankreich zahlt aber eineinkommensabhängiges Betreuungsgeld von 300 bis500 Euro. Ähnlich verhält es sich in Skandinavien. InNorwegen werden einkommensabhängig pro Monat undKind mindestens 300 Euro als Betreuungsgeld gezahlt.
In Schweden wird es ähnlich gehandhabt. Nur wir sindwieder einmal klüger. Wir sollten etwas bescheidenersein und uns lieber ein Beispiel an unseren Nachbarnnehmen.
Vielleicht kommen Sie dann auf andere Ideen.Danke schön.
Vielen Dank, Kollege Norbert Geis. – Nächste Red-
nerin für die Fraktion der Sozialdemokraten ist unsere
Kollegin Caren Marks. Bitte schön, Frau Kollegin Caren
Marks.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-nen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren!Herr Geis, wenn Ihre Argumentation so überzeugendwäre, dann hätte das vielleicht auch zu einer erneutenAufstellung in Ihrem Wahlkreis geführt. Das sei nur ne-benbei bemerkt.
Herr Meinhardt, das ist doch der verzweifelte Versuchder FDP, sich hier einen schlanken Fuß zu machen.
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24284 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Caren Marks
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Im KiföG steht ausdrücklich, dass das Betreuungsgeld2013 eingeführt werden soll. Das heißt, diejenigen, diejetzt regieren, kommen nicht aus der Verantwortung he-raus.
Wer den Gesetzentwurf zum Betreuungsgeld einbringtund verabschiedet, der ist dafür verantwortlich.
Frau von der Leyen, die im Übrigen genauso wie dieSPD immer ganz klar gegen das Betreuungsgeld war, hates nicht vermocht, die CSU im Zaum zu halten und zuverhindern, dass das Betreuungsgeld im KiföG aufge-nommen wird. Hätten wir in dem Gesetzentwurf nichtdie unverbindliche Sollbestimmung aufgenommen, hätteder Bund damals nicht den gesamten U-3-Ausbau voran-gebracht und 4 Milliarden Euro bereitgestellt. Es ginguns um die Kinder und die Familien; das war wichtiger.Jetzt liegt es alleine an Ihnen, die Einführung des Be-treuungsgeldes scheitern zu lassen. Aus dieser Nummerkommen Sie als FDP nicht heraus; das sage ich Ihnen.
Wer die Debatte über das Betreuungsgeld in den ver-gangenen Monaten verfolgt hat, dem wird sicherlich auf-gefallen sein, dass sich die Regierungskoalition stets umdie Beantwortung einer ganz entscheidenden Frage he-rumdrückt: Wer soll das bezahlen? Der FDP – genauergesagt: dem FDP-Vorsitzenden und Vizekanzler Rösler –fällt auf einmal ein, dass die Regierungskoalition hieraufja noch eine Antwort schuldig ist. Plötzlich stellt er dasBetreuungsgeld unter Finanzierungsvorbehalt.
Ist das vielleicht ein Versuch, sich – auch in den eigenenReihen – als Hardliner zu profilieren, Herr Rösler? Wa-rum Sie nicht schon von Anfang an auf die Finanzierungdes Betreuungsgeldes gepocht haben – gerade bei einemderart umstrittenen Gesetzentwurf –, findet meine Frak-tion wirklich mehr als rätselhaft. Wir haben immer da-rauf gedrängt, Ross und Reiter bei der Finanzierung zunennen.Dann kommt wenige Tage nach Ihnen, Herr Rösler,Ihr Fraktionsvorsitzender Brüderle als Versöhner um dieEcke gebogen und sagt: Das Betreuungsgeld wird vonder FDP mitgetragen.
Meine Herren von der FDP, welches Wort gilt denn nun?Auch die Berliner Zeitung spricht bereits von einer De-batte in der FDP, die verzweifelte Formen angenommenhabe. Aber der Gipfel in dieser Debatte ist, dass die CSUöffentlich ein Finanzierungskonzept ablehnt. So siehtFrau Hasselfeldt – so in öffentlichen Erklärungen –keine Notwendigkeit einer Gegenfinanzierung. SolideHaushaltspolitik, meine Kolleginnen und Kollegen vonSchwarz-Gelb, geht definitiv anders. Wo kommen wirhin, wenn die Bundesregierung in Zukunft nicht mehrverpflichtet ist, zu sagen, woher das Geld für ein neuespolitisches und vor allem unsinniges Vorhaben kommt?Zu Recht gibt es große Befürchtungen, dass vor allem imBereich des Bundesfamilienministeriums wirklich herbeEinschnitte drohen. Kürzungen zulasten von Familien,Kindern, Jugendlichen und Älteren – so wird das Gegen-finanzierungskonzept zum Betreuungsgeld aussehen.Das geht auf Kosten der Familien, für die Sie angeblichmit dem Betreuungsgeld Politik machen wollen.Meine Kolleginnen und Kollegen, Fakt ist: Das ge-plante Betreuungsgeld ist wirklich nichts anderes als derverzweifelte Versuch der CSU, die Kosten für ein baye-risches Wahlversprechen dem Bund aufs Auge zu drü-cken.
Ihnen lassen wir das nicht durchgehen.
Das ist die Wahrheit, der Sie sich, meine Damen undHerren von der Regierungskoalition, stellen müssen unddie nun endlich auch dem kleinen Koalitionspartner, zu-mindest dem Vizekanzler, zu dämmern scheint.Meine Damen und Herren von der Koalition, jenseitsder Finanzierungsfrage ist noch etwas ganz andereswichtig: Die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bür-ger und die große Mehrheit der Familien in unseremLand verstehen nicht, warum Sie so vehement dieses Be-treuungsgeld durchdrücken wollen. Erst recht durch-schaut wirklich niemand mehr die Vorschläge, die wieTennisbälle aus einer Ballmaschine auf uns niederpras-seln. Mal soll das Betreuungsgeld an alle ausgezahltwerden, dann wieder nur an bestimmte Gruppen, abernicht an Empfängerinnen und Empfänger von Transfer-leistungen. Dann kommt ein neuer Vorschlag: Empfän-gerinnen und Empfänger von Arbeitslosengeld II sollenvielleicht doch das Betreuungsgeld bekommen, aber na-türlich nicht bar, sondern quasi als Gutschein. Mal for-dern Sie, das Betreuungsgeld an die Wahrnehmung vonVorsorgeuntersuchungen zu knüpfen, dann wieder nicht.Ein anderes Mal verknüpfen Sie es mit der Praxisgebühr.Ich fürchte, Schwarz-Gelb blickt hier selbst nicht mehrdurch.Für meine Fraktion und für die Menschen wird dieseDiskussion von Tag zu Tag absurder. Wir bleiben bei un-serer klaren Haltung: Das Betreuungsgeld ist und bleibtUnsinn, egal wie es ausgestaltet wird. Es schadet demAusbau der frühkindlichen Bildung und Betreuung. Eskonterkariert Bildungs-, Gleichstellungs- und Sozial-politik.
Es widerspricht einer modernen Familienpolitik, wieübrigens auch vier ehemalige Familienministerinnen,darunter auch zwei aus den Reihen der Union, öffentlichdeutlich gesagt haben. Vielleicht denken Sie einmal da-rüber nach.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24285
Caren Marks
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Wir appellieren erneut an Sie, insbesondere an Sie,Herr Rösler, den Vizekanzler: Stehen Sie als FDP zu Ih-rem Wort! Stehen Sie als FDP-Vorsitzender zu IhremWort! Lassen Sie die Finger von diesem Vorhaben! Eswird uns gesellschaftspolitisch um Jahre zurückwerfen.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Kollegin Caren Marks. – Nächster Red-
ner für die Fraktion der FDP ist unser Kollege Florian
Toncar. Bitte, Kollege Toncar.
Danke schön, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Ich habe Verständnis dafür, dass wir heuteeine Aktuelle Stunde zu diesem Thema haben, auchwenn es eigentlich in fast jeder Woche der letzten Mo-nate dazu eine Debatte gegeben hat; aber es ist ja auchein kontroverses Thema. Neue Argumente hat die heu-tige Debatte nicht hervorgebracht; das muss man auchsagen. Frau Kollegin Marks, ich glaube, dass Sie nichtverstanden haben oder nicht verstehen wollten, dass esnicht darum geht, dass sich irgendjemand in der Koali-tion um die Verantwortung für das Betreuungsgeld drü-cken möchte. Vielmehr verantworten alle, die darüber zubeschließen haben, das, was letztlich beschlossen wird.Das war und ist so.
Aber worum es natürlich schon geht, ist die Frage Ihrereigenen Glaubwürdigkeit, und das hat der KollegeMeinhardt thematisiert. Ich halte es für nicht besondersglaubwürdig, dass diejenigen, die schon einmal eineBarleistung akzeptiert hatten – das Wort „Zahlung“ stehtin Ihrem Konzept von 2008 –,
nun die Allerersten sind, die solche Aktuellen Stundenbeantragen. Darum geht es und nicht um die Frage derVerantwortung der Regierungskoalition.
Der Bundeswirtschaftsminister Dr. Rösler hat am ver-gangenen Sonntag nochmals auf zwei Sachargumentehingewiesen, die es zu berücksichtigen gilt. Es geht umdie Frage, wie man das Betreuungsgeld so ausgestaltenkann, dass es bildungspolitisch die richtigen Folgen zei-tigt, dass es eine Bildungskomponente gibt, und um dieFrage, wie wir es in Zeiten abkühlender Konjunktur mitdem Ziel der Haushaltskonsolidierung vereinbaren kön-nen.
Das sind berechtigte Argumente. Sie sind im Übrigennicht zum ersten Mal geäußert worden. Sie wurden vonmeiner Fraktion hier immer wieder vorgetragen. Das istnichts Neues; aber es bleibt natürlich richtig, dies auchso zu sagen.
Über diese Fragen wird jetzt gesprochen. Es wird inden nächsten Wochen darüber Gespräche geben,
und wenn es etwas gibt, was entscheidungsfähig ist,
dann wird es hier im Deutschen Bundestag vorgelegt.Die FDP ist vertragstreu; aber Gründlichkeit geht unsvor Schnelligkeit. Es kann keine Rede davon sein, dasshier etwas durchgedrückt wird, wie Sie gesagt haben,Frau Kollegin. Ganz im Gegenteil: Es wird gründlichdiskutiert, und der Vizekanzler hat dazu berechtigte An-merkungen gemacht.
Sie haben aber auch zur Kenntnis zu nehmen, dassdiese Koalition in dieser Wahlperiode viele echte Ver-besserungen für Familien bereits beschlossen hat, unddas übrigens in einer sehr angespannten finanziellen Si-tuation. Ich will darauf noch einmal hinweisen, weil ichglaube, dass die Debatte einen falschen Eindruck er-weckt, wenn hier immer nur über ein Thema diskutiertwird und viele Verbesserungen für Familien und im Bil-dungsbereich in den letzten Jahren völlig ignoriert wer-den. Die Familien sind von dieser Koalition steuerlichentlastet worden; das Kindergeld ist erhöht worden. Wirhaben beschlossen, in vier Jahren 12 Milliarden Euro zu-sätzlich für Bildung und Forschung auszugeben. Das istetwas, wovon Familien sehr profitieren, gerade auch imBereich der frühkindlichen Bildung.Wir haben beispielsweise 300 Millionen Euro dafürzur Verfügung gestellt, dass es in den Kindertagesstätteneine qualifizierte Sprachförderung durch zusätzlichesPersonal gibt, damit unter drei Jahre alte Kinder, dienicht ausreichend Deutsch können, dort Deutsch lernen.Dies kostet übrigens die Kommunen keinen einzigenEuro; das zahlt alles der Bund. Das heißt, wir habennicht nur in die Quantität, also in Betreuungsplätze, son-dern auch in die Qualität der Betreuung, in die Bildungin den Kindertageseinrichtungen investiert. Die Ange-bote vor Ort werden hervorragend angenommen, unddas zeigt auch, dass man im Bereich der frühkindlichenBildung wirklich etwas getan hat.
Wir haben in diesem Jahr beschlossen, dass der Bundnochmals 580 Millionen Euro für zusätzliche Plätze bei
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24286 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Florian Toncar
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der Kinderbetreuung ausgibt. Früher haben alle dreistaatlichen Ebenen ihren Anteil geleistet und sich betei-ligt, also auch Länder und Kommunen. Jetzt füllt derBund die Lücke und stellt die zusätzlichen Mittel alleinbereit.
Ich würde von Ihnen gern einmal wissen, was Sie dazusagen, dass die Länder nicht eine ähnliche Verpflichtungwie der Bund übernommen haben. Wenn die Länder diesgetan hätten, wären wir weiter, was die Zahl der Betreu-ungsplätze angeht. Dann hätten wir mehr Geld zur Ver-fügung, um die frühkindliche Bildung zu verbessern. Dasind Sie wiederum aus der Debatte ausgestiegen. IhreLänder haben da nichts gemacht, und auch darauf mussman an dieser Stelle einmal hinweisen.Wir haben dafür gesorgt, dass der Bund über das hi-naus, was bereits den Kommunen zugesagt wurde, Ver-pflichtungen bei den Betriebskosten der Kitas übernimmt,weil es eben nicht reicht, nur Gebäude herzustellen undauszustatten und Plätze zu schaffen. Schließlich habendie Kommunen Folgekosten zu tragen. Auch da engagie-ren wir uns stärker, als es ursprünglich im Jahr 2007 zu-gesagt worden war.Diese Koalition kümmert sich also um frühkindlicheBildung. Sie nimmt dafür auch eine ganze Menge Geldin die Hand. Auch das soll heute erwähnt werden.
Ganz allgemein will ich darauf hinweisen, dass wirauch in Zeiten der Schuldenbremse die Kommunen inDeutschland um über 4 Milliarden Euro jährlich entlas-ten, weil wir wissen, dass sie gerade wegen dieser Mam-mutaufgabe, dieser riesigen Aufgabe des Kinderbetreu-ungsausbaus, mit den herkömmlichen finanziellenMitteln alleine nicht klargekommen wären. Wir werden– aufwachsend in den nächsten Jahren – über 4 Milliar-den Euro zur Verfügung stellen und so den Kommunenzusätzlichen Spielraum verschaffen. Sie wissen genausogut wie wir, dass Kommunen besonders stark in Bildunginvestieren, dass also eine Entlastung der Kommunenimmer direkte Folgen für die Qualität der Bildungsarbeitvor Ort hat. Wir tun etwas für die frühkindliche Bildung.Alle anderslautenden Behauptungen gehen an den Tatsa-chen vorbei. Wir werden uns deswegen in dieser Frageüber Lösungen verständigen, aber ansonsten unserenKurs weiterverfolgen.Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Toncar. – Nächster Redner für
die Fraktion der Sozialdemokraten ist unser Kollege
Rolf Schwanitz. Bitte schön, Kollege Rolf Schwanitz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol-lege Geis, nach Ihrem ergreifenden Bekenntnis, dass wiralle dafür sind, dass möglichst viele Kinder im Alter vonunter drei Jahren in die Kindertagesstätten gehen,
will ich auf den Zusammenhang zwischen Kitaausbauund Betreuungsgeld hinweisen. Ich will dazu einfach ausdem Gesetzentwurf zitieren, den die Regierung im Kabi-nett beschlossen hat. Da heißt es nämlich zum Betreu-ungsgeld:Es schließt die verbliebene Lücke im Angebotstaatlicher Förder- und Betreuungsangebote fürKinder bis zum dritten Lebensjahr.Das Betreuungsgeld soll den Bedarf im Kitabereich ver-ringern. Darum geht es, meine Damen und Herren; dasist der Zusammenhang.
Sie wissen das und schreiben das sogar in den Gesetzent-wurf. Das geht schon knapp an Heuchelei vorbei.Ich will etwas zur Finanzierung dieses Rückschrittspro-jekts sagen, weil sie mich als Haushälter natürlich ganzbesonders berührt. Das Betreuungsgeld ist im Haushalts-entwurf 2013 mit 300 Millionen Euro etatisiert, im Fa-milienetat als gesetzliche Leistung ausgewiesen. Ichhabe die Ministerin bei den Berichterstattergesprächengefragt: Wie sieht denn die Gegenfinanzierung aus? DieMinisterin hat in der ihr eigenen schmallippigen Art ge-sagt: Herr Schwanitz, Sie sehen doch, dass dies nicht mitMitteln aus meinem Etat gegenfinanziert wird. – Das istrichtig. Aber richtig ist auch, dass es 2013 über die Net-tokreditaufnahme finanziert wird. Ich halte also zunächsteinmal für das Jahr 2013 fest: Das, was Sie als 300-Mil-lionen-Euro-Block für das Betreuungsgeld in den Haus-halt eingestellt haben, muss auf Pump, über neue Schul-den, finanziert werden. Sie finanzieren das zulasten derkünftigen Generationen, die das mit Zinsen und Zinses-zinsen zurückzuzahlen haben, meine Damen und Herren.
Das dicke Ende kommt erst noch; denn bei vollerHaushaltswirkung im Jahr 2014 sind es 1,1 MilliardenEuro. 2015 wären es – wenn der Wähler Sie im nächstenJahr gewähren ließe – 1,2 Milliarden Euro, die hierfinanziert werden müssten, und das alles unter den Vor-gaben der Schuldenbremse. Es geht also nicht, dass Siehier den Notausgang für Helden nutzen, nach demMotto: Wir machen mal neue Schulden. – Dieser Betragvon 1,2 Milliarden Euro muss durch Kürzungen in glei-cher Größenordnung direkt gegenfinanziert werden; da-rum geht es.Nun habe ich aufmerksam gehört, was Sie, Herr FDP-Generalsekretär Döring, gestern Morgen im Deutsch-landfunk gesagt haben. Sie haben auf die Frage, wo die1,2 Milliarden Euro eigentlich eingespart werden sollen,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24287
Rolf Schwanitz
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gesagt: Dort, wo es eingeführt wird, also im Familien-etat.
Er hat gleich zwei Tipps hinterhergeschoben und gesagt:Da gibt es ja die familienpolitischen Leistungen und diekinderpolitischen Leistungen.Die inhaltliche, politische Seite – es ist rückschrittli-che Politik, ein Rückfall in das 19. Jahrhundert – ist daseine. Das andere ist, dass es faktisch einen Kahlschlagbei den familienpolitischen Leistungen geben muss, da-mit diese Vergangenheitspolitik finanziert werden kann.
Ich will einmal die Dimensionen ins Verhältnis setzen.Die Zuschüsse für Gleichstellungspolitik, Familien undÄltere, die aus dem Familienetat von Frau Schröder auf-gebracht werden, haben ein Volumen von 37 MillionenEuro. Das sind schlappe 3 Prozent dessen, was Sie fürdas Betreuungsgeld aufbringen und an anderer Stellekürzen müssten.
Wo wollen Sie denn da eigentlich kürzen? Das würdemich einmal interessieren, Herr Döring. Der Kinder- undJugendplan, das zentrale Förderinstrument im Familien-etat für die Kinder- und Jugendpolitik in Deutschland,hat ein Volumen von knapp 150 Millionen Euro. Dassind 12 Prozent dessen, was Sie für das Betreuungsgeldkürzen müssten. Was wollen Sie denn eigentlich kürzen,Herr Döring? Das würde mich schon einmal interessie-ren.
Nein, dieser Irrsinn, meine Damen und Herren, mussgestoppt werden. Hier wird faktisch – ich bin fest davonüberzeugt, dass das in den Hinterzimmern der Koalitionschon längst diskutiert wird – der Kahlschlag einer zeit-gemäßen Familienpolitik erwogen und vorbereitet, nurdamit die CSU ihren Fetisch bekommt. Das ist die Situa-tion.
Die eigentliche Schuld liegt nicht bei Frau Schröder– mit Verlaub, von Frau Schröder erwarte ich an dieserStelle nichts mehr –,
sondern bei der Bundeskanzlerin. In dieser Bundesregie-rung wird nicht geführt. In dieser wunderbaren schwarz-gelben Koalition kann sich jeder austoben, wie er will:vom kleinen liberalen Hanswurst bis zum Politiker ausbajuwarischen Ländern mit verstaubten Vorstellungenvon vorgestern.
Man wolle Nachteile vom deutschen Volk abwenden, hatFrau Merkel gesagt. Dieses Schauspiel muss nächstesJahr beendet werden.Herzlichen Dank.
Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist für die
Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin Daniela
Ludwig. Bitte schön, Kollegin Daniela Ludwig.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen undKollegen! Frau Marks, zu Ihrer Rede möchte ich eigent-lich gar nichts sagen, außer vielleicht zu Ihrer allererstenÄußerung.
– Ja, das sehen Ihre Kollegen selber so, dass man Siebesser nicht kommentieren sollte.
Wenn Ihnen gar nichts mehr einfällt – Ihre Taktik ken-nen wir aus den letzten Aktuellen Stunden –, dann müs-sen Sie offenbar gegenüber jemandem aus meiner Kolle-genschaft – in diesem Fall gegenüber Herrn Geis –persönlich und diffamierend werden. Das möchte ich andieser Stelle in aller Deutlichkeit zurückweisen.
Man muss andere Meinungen aushalten können, ohnegleich unter die Gürtellinie zu schlagen. Vielleicht neh-men Sie sich das beim nächsten Mal mehr zu Herzen.
Lieber Herr Steinmeier, Sie sagen, es sei eine bil-dungspolitische Katastrophe,
wenn Eltern ihre Kinder im Alter von ein oder zwei Jah-ren selbst betreuen wollen.
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Daniela Ludwig
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– Hätten Sie diesen Unsinn nicht gesagt, dann bräuchteich ihn nicht zu zitieren.
Herr Steinmeier, Sie sagen, es sei eine bildungspolitischeKatastrophe,
wenn Eltern eine andere Betreuung als eine staatlicheKrippe für ihre ein- und zweijährigen Kinder in An-spruch nehmen wollten.
Herr Steinmeier, Sie sagen, es sei eine bildungspolitischeKatastrophe,
wenn Eltern frei und individuell entscheiden, was sie mitihren Kleinst- und Kleinkindern im Hinblick auf die Be-treuung machen wollen.
Das ist peinlich. Schämen Sie sich!
– Ich fürchte, Sie verstehen es nicht.
Ich gestehe Ihnen aber eines zu: Zumindest haben Sieseit der letzten Aktuellen Stunde zum Betreuungsgeld, inder Sie gesprochen haben, den Unterschied zwischenKrippe und Kindergarten gelernt. Das muss man bei Ih-nen schon als Fortschritt bezeichnen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, was ist ei-gentlich so schwierig daran, zu akzeptieren, dass Eltern,wenn sie ein sehr kleines Kind haben, frei darüber ent-scheiden wollen, ob und in welche Betreuung sie ihrKind geben wollen? Was ist eigentlich so schwierig da-ran, anzuerkennen, dass es neben einer massiven, gutenund richtigen Förderung von Kinderkrippen von staatli-cher Seite andere Möglichkeiten einer Kleinst- undKleinkindbetreuung geben kann und dass diese mit ei-nem ohnehin ausgesprochen geringen Betrag von100 bzw. 150 Euro ein Stück weit unterstützt werdensollen? Was spricht eigentlich dagegen?
Worauf gründet sich eigentlich Ihr ständig vorgetragenesMisstrauen gegenüber Eltern? Sie behaupten: Wenn je-mand nicht genug Einkommen hat, nicht mindestensAbitur oder die deutsche Staatsbürgerschaft vorweisenkann, dann kann er darüber nicht verantwortungsbe-wusst entscheiden. Das verstehe ich nicht.
Ich habe es heute leider wieder nicht verstanden. Nocheinmal: Wir vertrauen Eltern, wir misstrauen ihnennicht.
Deswegen können wir mit ausgesprochen gutem Gewis-sen hinter dem Konzept des Betreuungsgeldes stehen.Die FDP will noch eine Bildungskomponente ein-bauen. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Da es um ein- oderzweijährige Kinder geht, bin ich gespannt, was Sie vor-schlagen wollen, aber ich bin offen für alles.
Wir können aber nicht darüber reden, dass es dieMehrheit der linken Seite dieses Hauses als schlecht an-sieht, wenn Kinder im Alter von einem Jahr zu Hausebleiben und erst in den Kindergarten gehen, wenn siedrei Jahre alt sind. In Bayern haben wir eine 99-prozen-tige Abdeckung mit Kindergartenplätzen. Ich glaube,den bayerischen Kindern geht es gut. Wer möchte, dasssein Kind in eine Krippe geht, findet in Bayern in quanti-tativer und qualitativer Hinsicht die besten Vorausset-zungen. Unser Haushalt ist so gesund, dass wir uns einenordentlichen Krippenausbau locker leisten können.
Nächste Rednerin ist für die Fraktion der Sozialdemo-
kraten unsere Kollegin Marianne Schieder. Bitte schön,
Frau Kollegin Marianne Schieder.
Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Ich hatte das große Glück, auf einem OberpfälzerBauernhof groß werden zu dürfen, zusammen mit Ge-schwistern und in einer ganz typischen bäuerlichenGroßfamilie, vor allen Dingen aber mit einer Großmut-
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Marianne Schieder
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ter, die für nahezu alle Lebenssituationen die richtige Le-bensweisheit parat hatte. Kurz, knapp, prägnant und sehrbildhaft wurde die Sache auf den Punkt gebracht. Einedieser Lebensweisheiten passt so gut zu dieser wirklichunsäglichen Diskussion über das Betreuungsgeld, dassich sie Ihnen nicht vorenthalten möchte. Immer dann,wenn wir Kinder unsere Aufgaben so gar nicht auf dieReihe gebracht haben und wenn das Ergebnis alles an-dere als zufriedenstellend war, sagte unsere Oma – siesagte es natürlich auf Oberpfälzisch –: Du bist wia dasöll Schneinda, der hot gsagt, des gibt se scho mi’mBiegln’, wäi a kennt hot, dass a an seina Hosn desHosndial hint und niat vorn eingnaht hot.
Da ich natürlich wusste, dass ein Großteil der Kolle-ginnen und Kollegen unsere wunderbare Sprache nichtkann, habe ich auch die Übersetzung dabei. Also, meineOma hätte auf Hochdeutsch gesagt: Du bist wie jenerSchneidermeister, der bei näherer Betrachtung der vonihm genähten Hose leider feststellen musste, dass er denReißverschluss, der zum Öffnen derselbigen Hose ge-braucht wird, am Hinterteil angebracht hatte und ebennicht vorn. Der sagte dann: Ja, das wird sich schon ge-ben beim Bügeln.
Ich glaube, ich brauche nicht zu erklären, dass diesemguten Schneidermeister das Bügeln nicht helfen wird. Soist es auch mit den Vorstellungen der Bundesregierungzum Betreuungsgeld: Man kann die Sache drehen undwenden, wie man will – das ganze Ding ist von Grundauf eine Fehlkonstruktion.
Es ist rückwärtsgewandt und absolut nicht geeignet, sei-nen Zweck zu erfüllen. Ganz bestimmt ist es absolut un-geeignet, um jungen Menschen die zu Recht eingefor-derte Unterstützung bei ihrer Erziehungsleistungzukommen zu lassen.Nun werden Sie nicht müde, zu betonen – Frau Raabhat es gerade wieder gesagt –, das Betreuungsgeld müssekommen, weil die Leistung der Eltern, die ihre Kinder zuHause erziehen, honoriert werden müsse. Ja, was meinenSie denn, was Eltern tun, deren Kinder vier oder achtStunden in der Krippe sind? Der Tag hat 24 Stunden undnicht 8 Stunden! Diese Eltern erziehen ihre Kinder ge-nauso zu Hause.
Übrigens, lesen Sie doch einmal Ihren Gesetzentwurf.Da ist von der Betreuung durch die Eltern keine Rede.
Da geht es einzig und allein darum: Wird eine Kita auf-gesucht oder nicht? Dort heißt es wörtlich: Anspruch aufBetreuungsgeld hat, wer „für das Kind keine dauerhaftedurch öffentliche Sach- und Personalkostenzuschüssegeförderte Kinderbetreuung, insbesondere keine Betreu-ung in Tageseinrichtungen“ in Anspruch nimmt.
Ferner heißt es in der Begründung: Für den Bezugvon Betreuungsgeld ist es nicht relevant, „in welchemUmfang die Eltern erwerbstätig sind“, und es ist nichtnötig, dass die Eltern für die Betreuung ihre Berufstätig-keit reduzieren.
Das heißt de facto: Wie und wo das Kind betreut wird,ist egal. Für den Bezug ist einzig und allein wichtig, dassdas Kind nicht in einer Kita betreut wird.
Kolleginnen und Kollegen, das kann doch nicht Ihr Ernstsein. Das kann doch nicht Ihre Vorstellung von mög-lichst guter frühkindlicher Bildung sein.Alle Welt erkennt inzwischen die enorme Bedeutungder frühkindlichen Bildung. Überall wird heftig darüberdiskutiert, wie man das Wissen über die frühkindlicheBildung besser in die Köpfe der Eltern bringen kann.Überall wird darüber diskutiert, wie man die Ausbildungder Erzieherinnen und Erzieher noch besser gestaltenkann. Die Kommunen investieren landauf, landab ingute Kitas, weil sie deren Bedeutung für die Entwick-lung der Kinder kennen. Dennoch kommen Sie daherund wollen einen Gesetzentwurf durchdrücken, in demsteht: Liebe Eltern, wichtig ist, dass Sie keine Kita inAnspruch nehmen. Dann sparen Sie nicht nur Geld, son-dern bekommen von uns auch noch Geld bar auf dieHand. – Das hat mit Familien- und Kinderfreundlichkeitnichts zu tun.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CSU, seienSie zumindest ehrlich: In Wahrheit hoffen Sie doch, dassSie sich mit dem Betreuungsgeld darüber hinwegrettenkönnen, dass am 1. August 2013 in Bayern bei weitemnicht genügend Kitaplätze vorhanden sein werden, umden Rechtsanspruch zu erfüllen.
Sie alle kennen die Zahlen zum Stand des Aufbaus derU-3-Betreuung: Mecklenburg-Vorpommern 52 Prozent,Bayern 21 Prozent.
Ich komme zurück auf meine Großmutter, Herr Kol-lege, und appelliere an Sie, liebe Kolleginnen und Kolle-gen von CDU/CSU und FDP: Versuchen Sie, sich nichtlänger einzureden, dass dieser Murks von Gesetzentwurfnoch zu retten ist. Schmeißen Sie das Ding weg! Denn eswird nichts mehr.
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– Ja. – Der FDP möchte ich einen Spruch eines berühm-ten bayerischen Volksschauspielers mit auf den Weg ge-ben, einen Spruch von Karl Valentin.
Er hat einmal gesagt: „Mögen hätt ich schon wollen,aber dürfen hab ich mich nicht getraut.“
Trauen Sie sich, zu dürfen, und versenken Sie mit unsdiesen Gesetzentwurf.Vielen Dank.
Frau Kollegin Marianne Schieder, ich hätte Ihnen
gern noch einen Zeitzuschlag für die Übersetzung gege-
ben; aber Sie haben dies nicht benötigt.
Nächster und letzter Redner in dieser Aktuellen
Stunde ist Kollege Dr. Peter Tauber für die Fraktion der
CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eigentlichkann man über die Frage, ob man neben den jeweils mitknapp 1 000 Euro von der Solidargemeinschaft finan-zierten Krippen- und Kitaplätzen einen Ausgleich für dieEltern, die dieses Angebot nicht in Anspruch nehmenwollen, schaffen will, ganz rational und ruhig diskutie-ren. Rein theoretisch kann man nach einer sehr ruhigenund besonnenen Überlegung oder Debatte zu dem Er-gebnis kommen: Na ja, vielleicht wollen wir das Geld andieser Stelle nicht investieren. Ich sage Ihnen ganz ehr-lich, dass ich diese Diskussion mit mir selbst und mitFreunden und Kollegen immer wieder geführt habe undführe. Ich sage Ihnen aber auch ganz ehrlich: Ich brau-che nur eine einzige Debatte mit Ihnen in diesem Haus,und ich weiß, dass ich dafür stimmen werde.
Dies mache ich aus einem einfachen Grund; mankann es in zwei Sätzen zusammenfassen. Herr Präsident,ich zitiere aus dem Kurznachrichtendienst Twitter. Dorthat jemand die Debatte und Ihre Wortbeiträge mit einemschönen Satz in 140 Zeichen zusammengefasst: „Ah!SPD, Grüne und Linke heute wieder so: ‚Eltern schadenihren Kindern.‘“ Das ist die Quintessenz Ihrer Aussagen.
Sie wollen eben nicht das, was wir wollen. Wir wollen,dass beides gleichberechtigt akzeptiert und wertge-schätzt wird. Wir wollen auch, dass es gute, qualifizierteBetreuung für unter Dreijährige gibt.Ein kleiner Hinweis an die Kollegen von den Grünen:Ich hätte mich hier lieber mit Frau Dörner gestritten.Auch sie ist eine sehr große Gegnerin des Betreuungs-geldes; aber sie kennt sich zumindest in der Sache, in derMaterie aus, nicht wie Frau Künast, die über Vierjährigeund über Bildung schwadroniert.
Über Vierjährige reden wir nicht. Wir sprechen überKinder, die jünger als 36 Monate sind. Sie erwecken denEindruck, dass wir über Bildungspolitik reden und dasses darum gehe, 15 Monate alten Kindern frühkindlichesEnglisch beizubringen. Das ist sehr weit weg von derLebenswirklichkeit. Es ist fast unerträglich, was Sie hiervon sich geben. Für wie dumm halten Sie die Menschen?
Natürlich geht es auch um Bildung, aber um eine an-dere Art von Bildung. Es geht um Zuwendung, Liebeund Betreuung,
und zwar sowohl in der Krippe als auch zu Hause. Sieunterstellen permanent, dass es eine große Zahl von El-tern in diesem Land gibt, die das nicht leisten.
Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Das ist der erstePunkt.
Lesen Sie einmal in den Protokollen Ihre Reden dazu inden letzten Debatten nach. Dann werden Sie das feststel-len.Man kann zu dem Ergebnis kommen: Ja, wir wolleneinen solchen Ausgleich, ein solches Angebot für die El-tern schaffen, die ihr 15 Monate altes Kind noch nicht ineine Krippe geben wollen, die es vielleicht erst mit dreiJahren in den Kindergarten geben wollen. Das ist derGegenstand dieser Aktuellen Stunde. Die spannendeFrage ist: Auf welche Art und Weise wird das organi-siert, was ist die Grundlage, wie sieht das genaue Modellaus?Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Es ist gar nicht schlimm,dass wir mit den Kollegen der FDP über den richtigenWeg streiten. Das hat einen einfachen Grund: Nicht dieKollegen der FDP haben das erfunden, Sie haben das mituns erfunden.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24291
Dr. Peter Tauber
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– Sie können dazwischenrufen und das abstreiten, so vielSie wollen, Frau Marks. Ich bin Ihre Zwischenrufe ge-wöhnt.Im Bundesgesetzblatt, Jahrgang 2008, Teil I, Nr. 57,ausgegeben zu Bonn am 15. Dezember 2008, steht– Herr Präsident, mit Ihrer Erlaubnis zitiere ich –:Ab 2013 soll für diejenigen Eltern, die ihre Kindervon ein bis drei Jahren nicht in Einrichtungen be-treuen lassen wollen oder können, eine monatlicheZahlung eingeführtwerden.
Dieses Gesetz hat die Große Koalition beschlossen, Siehaben das mit beschlossen. Unter dem Gesetz steht– vielleicht ist das der Grund, warum er in der Debatteheute nicht da ist – zum Beispiel der Name PeerSteinbrück.Bis zum Beschluss des Gesetzes in diesem HohenHause, aber auch darüber hinaus werden Sie in zweiPunkten Ihre Ansichten ändern müssen:Erstens. Das Misstrauen, das Sie Eltern entgegenbrin-gen, die sich dafür entscheiden, keinen Krippenplatz inAnspruch zu nehmen, müssen Sie ablegen. Dieses Miss-trauen ist eine Unverschämtheit.
Zweitens. Sie müssen anerkennen – wir tun das; dasist der große Unterschied zwischen Ihnen und uns; des-wegen sind wir in der Debatte sehr viel sachlicher undruhiger als Sie –, dass manche Eltern, auch wenn es guteBetreuungseinrichtungen gibt,
diese Einrichtungen erst später in Anspruch nehmenwollen. Ich finde, diese Eltern müssen Wahlfreiheit ha-ben, und wir müssen ihnen die Wahl erleichtern.
In Wahrheit ist es doch so: Weil es Ihrem Gesell-schaftsmodell entspricht, wollen Sie alle Kinder in dieKrippe zwingen. Von der Lufthoheit über den Kinderbet-ten träumen die Sozis schon immer. Die wollen Sie jetzterringen. Da machen wir nicht mit.Herzlichen Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der KollegeDr. Peter Tauber war der letzte Redner in unserer Ak-tuellen Stunde.
Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 c auf:a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Festsetzung der Beitragssätze in der ge-setzlichen Rentenversicherung für das Jahr2013
– Drucksachen 17/10743, 17/11059 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Arbeit und Soziales
– Drucksache 17/11175 –Berichterstattung:Abgeordneter Matthias W. Birkwald– Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung– Drucksache 17/11177 –Berichterstattung:Abgeordnete Axel E. Fischer Bettina HagedornDr. Claudia WintersteinDr. Gesine LötzschPriska Hinz
b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-neten Anton Schaaf, Anette Kramme, PetraErnstberger, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Ge-setzes über die Schaffung eines Demographie-Fonds in der gesetzlichen Rentenversicherungzur Stabilisierung der Beitragssatzentwick-lung
– Drucksache 17/10775 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Arbeit und Soziales
– Drucksache 17/11175 –Berichterstattung:Abgeordneter Matthias W. Birkwaldc) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
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24292 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Vizepräsident Eduard Oswald
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– zu dem Antrag der Abgeordneten Matthias W.Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKERentenbeiträge nicht absenken – Spielräumefür Leistungsverbesserungen nutzen– zu dem Antrag der AbgeordnetenDr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, KerstinAndreae, Markus Kurth, weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NENBeitragssätze nachhaltig stabilisieren, Er-werbsminderungsrente verbessern, Reha-Budget angemessen ausgestalten– Drucksachen 17/10779, 17/11010, 17/11175 –Berichterstattung:Abgeordneter Matthias W. BirkwaldNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Sie sind da-mit einverstanden. Dann ist das so beschlossen.Erster Redner in unserer Aussprache ist der KollegePeter Weiß für die Fraktion der CDU/CSU. Bitte schön,Kollege Peter Weiß.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Im deutschen Rentenrecht steht eine eindeutige undklare Formulierung – ich zitiere –:Der Beitragssatz in der allgemeinen Rentenversi-cherung ist vom 1. Januar eines Jahres an zu verän-dern, wenn am 31. Dezember dieses Jahres bei Bei-behaltung des bisherigen Beitragssatzes die Mittelder Nachhaltigkeitsrücklage … das 1,5fache der …Ausgaben für einen Kalendermonat … voraussicht-lich übersteigen.Nach Feststellung des unabhängigen Schätzerkreises fürdie Rentenversicherung, der Mitte dieses Monats getagthat, bedeutet diese gesetzliche Bestimmung, dass derBeitragssatz in der gesetzlichen Rentenversicherungzum 1. Januar 2013 auf 18,9 Prozent gesenkt werdenmuss.Das Gesetz ist eindeutig
und lässt keine andere Entscheidung zu.
Die Bundesregierung und das Parlament sind gehalten,die Gesetze zu achten. Deswegen entspricht das, was wirheute beschließen, schlichtweg dem, was im Gesetzsteht. Es ist auch richtig, dass Regierung und DeutscherBundestag das tun, was ihnen gesetzlich vorgegeben ist.
Weil in dieser Debatte vonseiten der Opposition ande-res vorgetragen wird, noch der freundliche Hinweis:Diese Gesetzesformulierung ist im Jahr 2001 so von derdamaligen rot-grünen Koalition hier im Deutschen Bun-destag beschlossen worden. Deswegen ist es umso ver-wunderlicher, dass die damaligen Regierungsparteiendiese Gesetzesbestimmung offensichtlich nicht mehrkennen oder kennen wollen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es ist ein erfreu-licher Tag, da wir über die Möglichkeit einer Beitrags-senkung sprechen können. Der Unterschied zur Zeit vonRot-Grün ist, dass die Rentenkasse damals ins Minusfiel. Erstmals musste der Bundesfinanzminister der Ren-tenkasse mit einem staatlichen Zuschuss aushelfen, da-mit Renten ausbezahlt werden konnten.
Heute haben wir eine Rücklage in der Rentenkasse; wirhaben ein Plus in der Rentenkasse. Insofern ist es einegute Nachricht für die Rentnerinnen und Rentner inDeutschland, dass die Rente nicht auf Pump ausgezahltwerden muss, sondern aus einer prall gefüllten Renten-kasse ausgezahlt werden kann. Das ist eine tolle Leis-tung.
Nun ist es sehr verwunderlich, dass der Vorschlag ge-macht wird, wir sollten diese Absenkung gar nicht vor-nehmen. Das hat zwei unterschiedliche Folgen. Die ersteFolge ist: Eine Beitragssenkung führt automatisch dazu– so die Rentenformel, die Rot-Grün ebenfalls beschlos-sen hat –, dass die Rentenerhöhung der Rentnerinnenund Rentner zum 1. Juli höher ausfällt. In diesem Jahrhat dies ungefähr 0,4 Prozentpunkte zusätzliche Renten-erhöhung ausgemacht, im nächsten Jahr würde es vo-raussichtlich 0,9 Prozentpunkte zusätzliche Rentenerhö-hung ausmachen.
Wenn die Opposition heute beantragt, die Beitragsab-senkung nicht zu beschließen, dann soll ebendiese Op-position den deutschen Rentnerinnen und Rentnern bitteauch erklären, warum sie ihnen eine Rentenerhöhungvorenthalten will. Wir wollen ein Plus für die Rentnerin-nen und Rentner.
Richtig ist, dass zu Zeiten, als Helmut Kohl undNorbert Blüm noch die Verantwortung für die deutsche
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24293
Peter Weiß
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Rentenversicherung als Regierungschef und Bundes-arbeitsminister getragen haben, in der Rentenversiche-rung eine höhere Rücklage gebildet werden konnte. Ichfinde es schon ein wenig verwunderlich, dass bei denSozialdemokraten und den Grünen offensichtlich dieMeinung vorherrscht, Helmut Kohl und Norbert Blümseien Sozialdemokraten gewesen. Mitnichten!
Natürlich kann man auch dafür plädieren, zum altenRecht zurückzukehren. Der Punkt ist nur der – das ist dergroße Unterschied –: Die Rentenpläne, die von der Op-position vorgelegt werden, zeigen uns, dass es den Op-positionsfraktionen gar nicht darum geht, noch mehrRücklage in der Rente zu ermöglichen. Vielmehr wollensie Geld ausgeben.
Wenn ich die Rücklage aber verjubeln will, dann habeich für die Rentenversicherung nichts gewonnen, son-dern werde sie auf alle Zeit mit höheren Belastungenversehen
und künftig immer höhere Beiträge der Beitragszahlerin-nen und Beitragszahler erheben müssen.
Es gibt keinen ungeschickteren Augenblick als denheutigen, mehr Rücklage in der Rentenversicherung zufordern. Warum? Die Rentenversicherung sollte ihr Geldin unser aller Interesse und im Interesse der Rentnerin-nen und Renten gut anlegen können. Bei den niedrigenZinssätzen, die die Rentenversicherung wegen der stren-gen Vorschriften,
die wir ihr machen, derzeit erzielt, liegt sie allerdings un-terhalb der Inflationsrate. Insofern ist der heutige Zeit-punkt der ungeschickteste Zeitpunkt, einen solchen An-trag zu stellen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, esgibt einen grundlegenden Unterschied zwischen den Op-positionsfraktionen und den Regierungsfraktionen.
Für eine sichere Rente unserer Rentnerinnen undRentner und auch für Rentensteigerungen sorgt nur einesolide, vor allem eine auf solider Finanzierung aufbau-ende Rentenpolitik. Was die Opposition vorlegt, istkeine solide Rentenpolitik, sondern bedeutet zusätzlicheAusgaben zulasten der nächsten Generationen. Weiter-hin gilt: Eine sichere Rente ist ein Markenzeichen derRegierungskoalition aus CDU/CSU und FDP. Dazu ste-hen wir. Das zeigt auch die heutige Verabschiedung die-ses Gesetzentwurfs.Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Peter Weiß. – Nächster Redner
ist unser Kollege Anton Schaaf für die Fraktion der So-
zialdemokraten. Bitte schön, Kollege Anton Schaaf.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Peter Weiß, das war gerade wirklich abenteuerlich.Heute Morgen stand hier die Koalition, diskutierte überdie Gesundheitspolitik und die Praxisgebühr
und sagte: Wir müssen das Geld im Bereich der Gesund-heitspolitik zusammenhalten, und wir müssen sparsamdamit umgehen. Deswegen wollen wir die Praxisgebührnicht abschaffen, sondern wir wollen Rücklagen bilden,damit wir die Leute auch in Zukunft sicher versorgenkönnen. – Das war das Argument heute Morgen.Jetzt argumentieren Sie genau gegenteilig. Wir wollendiese Rücklage behalten, damit die Rente sicher bleibt.Sie sagen: Lasst uns die Nachhaltigkeitsrücklage wiederauf 0,2 Monatsausgaben senken; das Geld gehört ande-ren. – Nein, wir wollen Sicherheit bezogen auf die Ren-tenkasse. Deswegen fordern wir, die Beiträge jetzt nichtzu senken. Damit stehen wir übrigens nicht allein. Ge-meinsam mit den Gewerkschaften und den Sozialver-bänden sagen wir: Lasst die Finger davon.
Ihre Argumentation lautet: Im Gesetz steht, dass derBeitragssatz gesenkt werden muss. Ja, das steht im Ge-setz. Aber wir sind der Gesetzgeber. Wir können Gesetzeverändern.
Wir haben Ihnen einen Gesetzentwurf vorgelegt, überden heute ebenfalls abgestimmt wird, den Sie aber ab-lehnen. Offensichtlich sind Sie nur noch Vollzugsbeamteund nicht mehr Gesetzgeber in diesem Land, Herr PeterWeiß. So habe ich zumindest Ihre Argumentation hierverstanden.
Man muss sich einmal anhören, was Sie beim ThemaRente noch vorhaben. Die Ministerin war beim Thema
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24294 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Anton Schaaf
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„Rente“ in dieser Legislaturperiode ein Totalausfall; daslässt sich ja nun konstatieren. Mit ihrer Zuschussrente istsie voll vor die Wand gefahren. Von ihren Plänen istnichts mehr übrig. Uns werfen Sie vor, immer mehr Geldausgeben zu wollen, weswegen wir die Rücklage behal-ten und die Beiträge nicht senken wollten. Diesen Vor-wurf kann man von mir aus erheben.
Aber Sie selber verweisen beispielsweise darauf, dassSie in Bezug auf die Kindererziehungszeiten von Eltern,deren Kinder vor 1992 geboren sind, etwas machen wol-len. Das kostet übrigens viel Geld. Wenn ich mir ansehe,was dabei herauskommt, dann muss ich sagen, dass Siedie Menschen ganz gewaltig hinter die Fichte führen. Siewollen nämlich nicht allen, deren Kinder vor 1992 gebo-ren worden sind, sondern nur denen, die neu in Rente ge-hen, einen halben und nicht etwa einen ganzen Entgelt-punkt gewähren. Diejenigen, die schon jetzt in Rentesind, bekommen gar nichts. Mit solchen Regelungenführen Sie die Menschen hinter die Fichte, meine Damenund Herren von der Koalition. Eine Reform in dieser Artund Weise geht nicht. Sie wollten sogar die Zuschuss-rente – verfassungswidrig – über Beiträge finanzieren;sie wollten einen Griff in die Rentenkasse vornehmen.Daneben philosophieren Sie jetzt über die Erwerbs-minderungsrente. Ich sage Ihnen: Ja, da muss man etwasmachen. Sie wollen aber – das habe ich in der Zeitunggelesen – erst ab dem Jahre 2030 1 Milliarde Euro zu-sätzlich für Verbesserungen bei der Erwerbsminderungs-rente einsetzen. Das, was Sie hier veranstalten wollen,ist geradezu lächerlich. Lassen Sie es lieber sein. Ab2013 werden wir einige Korrekturen vornehmen, auchwas die Rentenpolitik angeht.Ich sage Ihnen auch: Wenn wir wollen, dass ein höhe-res Renteneintrittsalter für die allermeisten Menschen indiesem Lande, die schwer und hart arbeiten, akzeptabelwird, dann müssen wir die notwendigen Voraussetzun-gen dafür schaffen. Dafür muss man Geld in die Handnehmen. Die Erwerbsminderungsrente ist dabei ein zen-traler Punkt. Die Abschläge müssen weg, und die Zu-rechnungszeit muss heraufgesetzt werden. Ansonstenwird die Rente mit 67 von den Menschen, die in diesemLande hart arbeiten, nie akzeptiert. Man muss das alsoschon im Zusammenhang sehen.
Dafür nehmen wir Geld in die Hand, wenn wir wiederdie Verantwortung in diesem Land bekommen haben.Schauen Sie sich an, was die geplante Beitragssen-kung für einen durchschnittlichen Arbeitnehmer bringt:etwa das, was die berühmte Maß Bier kostet. Eine MaßBier mag in Bayern eine besondere Einheit sein. Für dierestliche Republik spielt es aber überhaupt keine Rolle,ob man eine Maß Bier mehr oder weniger hat.
Die Menschen wollen Sicherheit und nicht 8 Euro mehrin der Tasche. Das Ganze nützt ja letzten Endes übrigensnur Gutverdienern und Durchschnittsverdienern. Wennman sich Niedrigverdiener anschaut, dann sieht man,dass bei ihnen durch eine Rentenbeitragssenkung nur2 bis 4 Euro übrig bleiben.Schaut man sich unseren Gesetzentwurf an, dannsieht man, dass es möglich ist, Gesetze zu ändern. Manhat sich an den Begrifflichkeiten ein wenig gestört. Ichkann das nachvollziehen, wenn von Begriffen wie De-mografiereserve gesprochen wird. Wenn man diesen Ge-setzentwurf zur Rentenpolitik isoliert betrachtet, ist essogar berechtigt, das so zu sehen. Aber wenn man ihn ineinem größeren Zusammenhang sieht, Stichwort „Ein-führung einer Erwerbstätigenversicherung“, dann er-kennt man, dass aus Ihrem Vorwurf ein Schuh wird.Mich selber stört diese Begrifflichkeit an dieser Stellepersönlich nicht; aber ich kann nachvollziehen, dass sichandere daran stören. Allerdings muss man das im Kon-text sehen, und dann macht es wieder Sinn, darüber zudiskutieren.Wenn wir jetzt den Rentenbeitragssatz bei 19,6 Pro-zent belassen würden, dann wäre es so, dass wir bis Endedes Jahrzehnts eine Ansparphase hätten und bis zum Jahr2025 den Beitragssatz ohne Mehrausgaben nicht anhe-ben müssten. Das wäre Ausdruck von Verlässlichkeit.Auch für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wäredas verlässlich. Aber diese Verlässlichkeit wollen Sienicht.
Ich sage Ihnen, was dabei herauskommen wird – dasärgert mich dabei maßlos –, wenn der Rentenbeitragssatzjetzt auf 18,9 Prozent gesenkt wird: Am Ende dieses Jahr-zehnts wird der Beitragssatz sprunghaft ansteigen müs-sen. Ich hoffe, dass Sie dann nicht in der Verantwortungsind. Aber wenn ja, dann müssten Sie auch rechtfertigen,warum man so große Sprünge in der Rentenversicherungzulässt. Ich finde solche großen Sprünge unzulässig.Jemand muss mir einmal erklären: Was ergibt sichdann im Zusammenhang mit der Schuldenbremse?Wenn die Konjunktur schwächelt und die Einnahmender Rentenversicherung nachlassen und Sie keinen Kre-dit an die Rentenkasse wegen der Schuldenbremse aus-zahlen können, was ist dann? Dann muss man die Bei-träge erhöhen. Davon werden Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer unmittelbar betroffen sein. Das ist das,was dabei herauskommen wird.Zu den Erziehungszeiten habe ich bereits etwas ge-sagt.Sie wollen nun doch so etwas Ähnliches wie eine Zu-schussrente einführen, sagen das aber nicht mehr. Das istauch nicht mehr durchsetzbar; dieses Thema ist durch.Dabei wollen Sie Menschen, die lange gearbeitet haben,über das jetzige Rentensystem mit einer Rente nachMindestentgeltpunkten helfen. Da bin ich sofort bei Ih-nen, absolut und ohne jeden Zweifel.Was ich aber auf keinen Fall mitmachen werde – dassage ich den Menschen im Lande ganz laut –: Diese Ko-alition will mit dieser Lösung vor allen Dingen die Ver-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24295
Anton Schaaf
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sicherungswirtschaft in Deutschland stärken. Sie sagen:Voraussetzung dafür, dass wir das machen, ist die Be-schäftigungszeit; aber einen Freibetrag gibt es nur beiRiester-Rente oder einer betrieblichen Altersvorsorge,also einer kapitalgedeckte Altersvorsorge. Ich sage Ih-nen: Das ist eine massive Ungleichbehandlung gegen-über allen anderen Sparformen, übrigens auch gegen-über der Rentenversicherung. So kann man mit demThema aus meiner Sicht nicht umgehen. Wir schlagenetwas anderes vor, nämlich dass ausschließlich die Be-schäftigungszeiten dazu berechtigen, eine auf 850 Euroaufgestockte Rente in Anspruch zu nehmen.
Es war einmal ein Reisender in Österreich unterwegs,der aus seiner Reise einen Reisebericht gemacht hat. Da-bei war er auch im Stubaital gewesen. Die Menschendort hat er folgendermaßen beschrieben: ein kleines, lis-tiges Bergvolk, das sich im Wesentlichen durch Jodelnverständigt.
Klein sind Sie in der Rentenpolitik, weil Sie nichtsauf die Reihe bekommen haben. Listig sind Sie, wennSie die Menschen mit Ihren Modellen hinter die Fichteführen. Jodeln kann wohl der eine oder andere bei Ihnen,aber eines ist völlig klar: Die Politik von Ihnen verstehtkein Mensch.
Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP unser
Kollege Dr. Heinrich Kolb. Bitte schön, Kollege
Dr. Heinrich Kolb.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Toni Schaaf, das war ja eine Reise quer durch den
Garten der Rentenpolitik mit anekdotischen Anwandlun-
gen. Wenn man so redet, dann meidet man damit das
Kernthema der Debatte. Insofern will ich gerne auf das
zurückverweisen, worüber wir heute reden, nämlich da-
rüber, dass es in Deutschland möglich ist, in krisenhaften
Zeiten eine kräftige Rentenbeitragssenkung vorzuneh-
men. Das ist alles andere als selbstverständlich; das ist
vielmehr der Erfolg der guten Politik dieser Bundesre-
gierung. Das will ich hier zu Beginn meiner Rede sehr
deutlich feststellen.
Wenn wir es nämlich nicht geschafft hätten durch die
Nutzung eines ganzen Repertoires von Beschäftigungs-
formen einen zahlenmäßigen Höchststand an sozialver-
sicherungspflichtiger Beschäftigung in Deutschland zu
erreichen – darüber haben wir hier öfters debattiert –,
dann hätten wir überhaupt nicht die Spielräume, um
heute diese Rentenbeitragssatzsenkung zu beschließen.
Wenn Sie so wollen, ist das ein Luxusproblem, um das
uns ganz Europa beneidet. Ich bin sicher, die SPD hätte
jede Woche ein Freudenfeuer angezündet, wenn sie an-
nähernd solche Zahlen vorzuweisen gehabt hätte.
Der zweite Punkt. Die Nachhaltigkeitsrücklage ist ein
Liquiditätspuffer, der unterjährige Schwankungen, auch
kurzfristige konjunkturelle Schwankungen, ausgleichen
soll; sie ist nicht mehr und nicht weniger. Deswegen ist
es gut, das auch der Höhe nach zu bemessen. Ich will
diejenigen, die immer noch so ein bisschen den Julius-
turm aus den frühen Adenauer-Zeiten im Hinterkopf ha-
ben, darauf hinweisen: In heutigen Werten war der Juli-
usturm nicht viel höher als die Nachhaltigkeitsrücklage,
die wir trotz Senkung des Rentenbeitragssatzes am Ende
des Jahres 2013 voraussichtlich haben werden, nämlich
knapp 30 Milliarden Euro. Das ist die Wahrheit, und das
muss man hier auch einmal sagen.
Sie sagen: Gesetze kann man ändern. Ich finde aber,
seine Überzeugungen sollte man nicht unbedingt ändern,
jedenfalls nicht ohne Not. Deswegen muss man noch
einmal darauf hinweisen: Es gab Zeiten, in denen die
SPD in diesem Haus über die Notwendigkeit gesprochen
hat, die Lohnnebenkosten zu begrenzen. Als im Jahr
2001 die Automatik eingeführt wurde, dass die Beiträge
gesenkt werden, wenn die Nachhaltigkeitsrücklage ein
bestimmtes Maß überschreitet, hieß es damals von Rot-
Grün, konkret von Arbeitsminister Walter Riester: Die
Stabilisierung des Beitragssatzes zur gesetzlichen Ren-
tenversicherung wendet den Anstieg der Lohnnebenkos-
ten ab. Dies hat eine stabilisierende Wirkung auf die Ent-
wicklung des Preisniveaus. Die Lohnkosten sind eine
wichtige Einflussgröße für das Preisniveau. – Die Parla-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das erhöhtunsere Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt. Dasstärkt das Wirtschaftswachstum und hilft, dass neue Jobsentstehen.Das war die SPD des Jahres 2001. Leider klingt dasim Jahr 2012 ganz anders. Für uns ist es aber unverän-dert wichtig, dass wir mit der Absenkung des Rentenbei-tragssatzes in einer Schlüsselsituation der konjunkturel-len Entwicklung einen Wachstumsimpuls dadurchgeben, dass wir die Beitragszahlerinnen und Beitrags-zahler um knapp 7 Milliarden Euro entlasten. Diesenkönnte man verstärken, wenn Sie im Bundesrat endlichIhre Blockadehaltung gegenüber der Beseitigung derkalten Progression aufgeben würden. Dies sind jeweilscirca 6,5 Milliarden Euro, also 13 Milliarden Euro ins-gesamt. Das würde nicht einfach in der Volkswirtschaftverpuffen, sondern uns helfen, Beschäftigung auf hohemNiveau in Deutschland zu stabilisieren.
Es ist schon gesagt worden, dass viele von dieser Sen-kung profitieren. Deswegen kann ich Ihre Verbohrtheitauch gar nicht verstehen. Der Bundeshaushalt profitiertin doppelter Weise, nämlich durch einen niedrigerenBundeszuschuss, aber auch durch höhere Steuereinnah-men, weil die steuerlich absetzbaren Rentenversiche-
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24296 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Dr. Heinrich L. Kolb
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rungsbeiträge niedriger ausfallen werden. Die Haushaltevon Bund, Ländern und Kommunen profitieren bei derVergütung der Arbeit ihrer Angestellten davon. Vor allenDingen profitieren aber die Rentner.
Ich halte es auch für außerordentlich wichtig, dass wirnicht durch dauerndes Herumfummeln an den Stell-schrauben der Rentenpolitik das Vertrauen in die Ren-tenversicherung beschädigen. Vielmehr müssen wir denRentnern das Zeichen geben: Wir halten an der Rentenfor-mel und an den Stellschrauben der Rentenversicherungauch dann fest, wenn dies zu euren Gunsten wirkt. – Des-wegen muss der Beitragssatz heute gesenkt werden,liebe Kolleginnen und Kollegen.
In der Anhörung ist sehr deutlich geworden, dass einDemografiefonds, wie ihn sich die SPD vorstellt, nichtfunktioniert. Die Sachverständigen haben das sehr deut-lich gesagt. Wenn es einen Peak bei der Beitragssatzent-wicklung geben würde, dann könnte man diesen tunneln.Wir steuern aber auf ein Plateau zu. Deshalb kann mannicht, indem man über wenige Jahre hinweg Beiträge an-spart, eine Entwicklung aushebeln, die unvermeidlichansteht. Auch wenn der Beitragssatz nicht gesenkt wer-den würde, muss der Beitragssatz ab 2020, spätestens ab2025 angehoben werden, weil die demografische Ent-wicklung nun einmal so ist, wie sie ist, weil die Men-schen in unserem Land länger leben und weil der Anteilder Menschen im Alter von mehr als 65 Jahren steigt.Diese Grundgesetze kann man nicht aushebeln. Die Ein-richtung eines Demografiefonds heißt für Sie: Es soll einbisschen Geld zurückgelegt werden, damit man sichmöglicherweise ein paar Wünsche erfüllen kann. – Ichbin aber sicher, Sie werden überhaupt nicht in die Situa-tion kommen, dass das am Ende möglich wäre.
Wenn Sie noch ein bisschen Verantwortung für dieArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschlandempfinden, lieber Toni Schaaf, liebe Kolleginnen undKollegen von der SPD – früher sind Sie ja immer ange-treten, Politik für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mer in Deutschland zu machen –,
dann können Sie heute nicht wirklich den Menschendiese Entlastung verweigern, so wie Sie bisher ihnenschon die steuerliche Entlastung im Zusammenhang mitder kalten Progression verweigert haben. Es handelt sichhier nicht um Menschen, deren Einkommen an der Bei-tragsbemessungsgrenze liegt oder darüber hinausgeht.Diese Menschen spüren diese Entlastung überhauptnicht. Sondern es handelt sich um Menschen mit einemkleinen oder mittleren Einkommen, die das, was sie andieser Stelle erhalten, unmittelbar zu Konsumzweckenverwenden können und teilweise auch verwenden müs-sen. Diese Entlastung sollten wir den Menschen geben.Das ist mein Plädoyer, und darum bitte ich Sie alle.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Frak-
tion Die Linke unser Kollege Matthias W. Birkwald.
Bitte schön, Kollege Matthias W. Birkwald.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Herr Kolb, es gibt für Regierungsparteien nichtsSchöneres, als mit Geschenken in den Wahlkampf zu ge-hen.
Genau das machen CDU/CSU und FDP, wenn sie jetztdie Beitragssätze von 19,6 auf 18,9 Prozent senken wol-len.Manchmal bleibt von Geschenken wenig übrig, wennman sie erst einmal ausgepackt hat. Genau so ist es mitder Rentenbeitragssenkung: mit viel Tamtam verpackt,aber letztendlich doch nur Kleinkram und obendreinauch noch vergiftet. Ein solches Geschenk lehnen wirab.
Eine Dachdeckergesellin erhält nach zweijähriger Tä-tigkeit ein Tarifgehalt von 2 707 Euro brutto im Monat.Wenn der Beitragssatz um 0,7 Prozentpunkte gesenktwird, muss sie knapp 9,50 Euro weniger Beitrag in dieRentenkasse zahlen. Das heißt in Köln-Lindenthal: inder Mittagspause einmal Currywurst mit Pommes undzwei Mineralwasser.
Ein Kölner Friseur mit Tarifgehalt müsste da schon aufdie Currywurst verzichten und sich auf Pommes undKakao beschränken. Denn bei einem Bruttomonatsver-dienst von 1 326 Euro kommen bei der von den Christ-demokraten und den Liberalen gewollten Beitragssen-kung nur noch 4,60 Euro bei ihm an. Dabei wird abereines vergessen: Diese mit großer Geste verteilte kleineGabe führt dazu, dass die Menschen im Alter nochschlechter vor Altersarmut geschützt sein werden.
Sie, meine Damen und Herren von den Koalitions-fraktionen, beschenken heute die Menschen mit Curry-wurst und Pommes, die sich diese Beschäftigten morgen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24297
Matthias W. Birkwald
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als Rentnerinnen und Rentner nicht mehr werden leistenkönnen. Ihre Rentenpolitik, Herr Kolb – vor allem dieRente erst ab 67 und die Absenkung des Rentenni-veaus –, wird am Ende zu Rentenkürzungen führen. Ge-nau das müssen Sie den Menschen aber auch sagen. Hö-ren Sie auf, die Menschen an der Nase herumzuführen!
Sagen Sie ihnen, dass das bisschen mehr Netto vomBrutto heute zu mehr Altersarmut morgen und übermor-gen führen wird! Seien Sie einfach ehrlich! Oder nochbesser: Ziehen Sie den Gesetzentwurf zurück!
Herr Kollege Birkwald, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Dr. Kolb?
Gerne.
Bitte schön, Kollege Dr. Kolb.
Herr Kollege Birkwald, wären Sie bereit, mir zuzu-
stimmen,
dass die erworbenen Rentenanwartschaften in einem
Jahr nicht von der Höhe des in diesem Jahr geltenden
Rentenbeitragssatzes abhängen, sondern allein vom Ver-
hältnis des verbeitragten Entgeltes eines Versicherten
zum Durchschnittsentgelt in diesem Jahr, dass also der,
der genau das Durchschnittsentgelt verdient, einen Ent-
geltpunkt bekommt? Dieser Entgeltpunkt ist aktuell
28,07 Euro wert, und zwar unabhängig von dem Beitrag,
den man dafür bezahlt.
Wären Sie auch bereit, mir zuzustimmen, dass nie-
mand, nicht einmal ein Matthias Birkwald, heute voraus-
sehen kann, wie hoch der Rentenwert im Jahr 2030 sein
wird, dass es jedenfalls keinen Automatismus gibt, dass
das Nettostandardrentenniveau vor Steuern auf 43 Pro-
zent absinkt, sondern dass wir derzeit eine deutlich güns-
tigere Entwicklung haben? Wären Sie bereit, mir in die-
sen Punkten zuzustimmen?
Herr Kollege Kolb, Sie haben das gestern im Aus-schuss schon einmal versucht.
Ich will Ihnen gerne sagen, dass Sie gerade am SchlussIhrer Frage den wesentlichen Punkt genannt haben: IhrePolitik ist es, das Rentenniveau abzusenken.
Ob am Schluss 43 Prozent oder 44,5 Prozent heraus-kommen – all das sichert deutlich nicht mehr den Le-bensstandard.
Es ist deutlich weniger als heute, wo das Rentenniveaubei knapp 50 Prozent liegt. Gerade diejenigen, dieDurchschnittseinkommen oder niedrigere Einkommenhaben, schicken Sie damit in die Altersarmut. Das hatMinisterin von der Leyen – das habe ich ausdrücklichgewürdigt – mit ihrer Schocktabelle in der Bild am Sonn-tag deutlich gemacht.Wenn Sie an der Rentenformel nichts ändern und dieKürzungsfaktoren nicht streichen, dann werden die Ren-ten weiter absinken und dann werden Sie damit Millio-nen Menschen in die Altersarmut treiben. Daran führtkein Weg vorbei.
Meine Damen und Herren, wer jetzt den Rentenbei-trag senkt, tut nichts dafür, dass die Rente zum Lebenreicht. Das habe ich gerade noch einmal erläutert. DieRente muss wieder den Lebensstandard sichern, und siemuss vor Altersarmut schützen. Mit der ständigen Bei-tragssatzsenkerei ist das nicht zu machen, Herr Kolb.Das sollten Sie nicht behaupten. Das sind wenige Euroim nächsten und übernächsten Jahr, aber auf Dauer gehtdas Rentenniveau herunter, und damit ist das die falschePolitik.
Der DGB hat erkannt, dass die Beitragssatzsenkereinichts nützt, und die CDU/CSU hat das auch verstanden;bei der FDP bin ich mir jetzt nicht so sicher. Aber den-noch wollen Sie das Problem verschlimmern. Auch dieSPD tut, bisher jedenfalls, nichts gegen den freien Falldes Rentenniveaus. Die Kollegin Pothmer von den Grü-nen findet sogar die Absenkung des Rentenniveaus aufbis zu 43 Prozent richtig. Das Motto bei mehreren imHause lautet also: Hauptsache, die Rentenbeiträge stei-gen nicht zu sehr. Das bedeutet dann aber, dass die Ar-beitgeberinnen und Arbeitgeber ordentlich entlastet blei-ben und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer privatvorsorgen sollen. Wer das nicht schafft, wird in dieGrundsicherung abgeschoben. – Das ist zynisch, das istunverantwortlich, und da macht die Linke aus gutenGründen nicht mit.
Meine Damen und Herren, die Rentenversicherunghat kürzlich auf das besonders hohe Armutsrisiko für Er-
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24298 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Matthias W. Birkwald
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werbsgeminderte hingewiesen. Wer im Jahr 2000 in einevolle Erwerbsminderungsrente ging, erhielt im Durch-schnitt, Herr Kolb, 738 Euro. Im vorigen Jahr waren esnoch 634 Euro, also 104 Euro weniger. Wenn die KölnerDachdeckerin vor ihrem 63. Geburtstag erkrankt undnicht mehr arbeiten kann, wird ihr die Rente um bis zu10,8 Prozent gekürzt werden. Diese ungerechten Ab-schläge zu streichen, würde die Betroffenen im Durch-schnitt immerhin aus der Grundsicherungsbürokratie he-rausholen. Das wäre zwar noch lange nicht genug, aberes wäre ein erster wichtiger Schritt. Und er ist finanzier-bar! Die Abschläge abzuschaffen, würde bis zum Jahr2030 insgesamt circa 4,6 Milliarden Euro kosten. Durchdie Beitragssatzsenkung gehen der Rentenkasse 8 Mil-liarden Euro verloren – jedes Jahr.Meine Damen und Herren, niemand wird freiwilligkrank, und deshalb müssen die Abschläge in der Er-werbsminderungsrente gestrichen werden. Das wäre lo-cker zu finanzieren.Herzlichen Dank.
Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn. Bitte schön, Kollege
Dr. Strengmann-Kuhn.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Damen und Herren auf den Tribünen und vor den
Fernsehschirmen! Was wir jetzt hier erleben, ist eine
reine Showveranstaltung der schwarz-gelben Koalition.
Eigentlich ist es völlig unnötig, hierzu einen Gesetzent-
wurf vorzulegen. Peter Weiß hat vorhin selber gesagt: Es
gibt ein Gesetz, und es ist ein reiner Automatismus, der
jetzt abläuft. Das hätte man normalerweise einfach per
Verordnung machen können. Das haben viele von den
Sachverständigen in ihren schriftlichen Stellungnahmen
zu der Anhörung am Montag auch geschrieben und ihr
Befremden darüber bekundet, dass überhaupt ein Ge-
setzentwurf vorgelegt wird; man hätte es über eine Ver-
ordnung machen müssen und können.
Man brauchte einfach eine Bühne, um sich hinzustellen
und zu sagen: Wir tun Tolles für die armen Rentnerinnen
und Rentner
und für die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler. Ich
glaube, dass diese Show nicht aufgeht.
– Aber jetzt kommt erst mal eine Zwischenfrage des
Kollegen Peter Weiß.
Ja. Da Sie die schon zugelassen haben und der Präsi-
dent damit einverstanden ist, sage ich: Bitte schön. Es ist
ja gut, wenn das alles so läuft.
Verehrter Herr Kollege Strengmann-Kuhn, Sie habenmit Ihrem Hinweis recht: Man kann es auch per Rechts-verordnung machen. – Bedeutet die Tatsache, dass Siegleich zu Beginn Ihrer Rede dieses Thema ansprechen,dass die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sich wünscht,dass man kein Gesetz macht, sondern eine Rechtsverord-nung, und dass dann, wenn eine solche Rechtsverordnungvorgelegt würde, die Grünen den Landesregierungen, andenen sie beteiligt sind, empfehlen, im Bundesrat dieserRechtsverordnung mit Freude zuzustimmen?
Vielen Dank für die Frage; denn jetzt kann ich aus-führlich auf das eingehen, was Sie in Ihrer Rede gesagthaben.Die Regelungen zur Obergrenze und Untergrenze ha-ben ja wir unter Rot-Grün im Gesetz eingeführt.
Nun ist das zehn Jahre her. Nach zehn Jahren kann mansich die Lage durchaus neu anschauen und überlegen, obdie Ober- und Untergrenze, die wir damals festgelegt ha-ben, heutzutage noch Sinn machen.
Dazu kann ich sowohl die Sachverständigen aus derAnhörung zitieren als auch einige Kolleginnen und Kol-legen aus Ihrer eigenen Fraktion, die durchaus auch hierim Plenarsaal schon gesagt haben, dass man darübernachdenken könnte, die Obergrenze von 1,5 Monatsaus-gaben zu erhöhen, nämlich auf zwei Monatsausgaben,wie ein Sachverständiger gesagt hat, oder auf drei Mo-natsausgaben, was Herr Schiewerling ins Spiel gebrachthat. Die meisten Sachverständigen waren bezüglich derUntergrenze der Meinung, man sollte nicht auf 0,2 Mo-natsausgaben, sondern auf 0,5 Monatsausgaben gehen,damit die Rücklage nicht komplett abgesenkt wird. DieDebatte darüber sollten wir hier sehr sachlich führen.Wenn man das gemacht hätte, dann wäre man nicht un-bedingt zu dem Ergebnis gekommen, dass es tatsächlichsinnvoll ist, jetzt die Beiträge zu senken.Wir beide waren gestern bei einer Veranstaltung derAWO, auf der Sie selbst gesagt haben, Sie hätten durch-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24299
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
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aus Sympathie für den Vorschlag, die Beiträge jetzt nichtzu senken, sondern sie langfristig konstant zu halten.
Ihr macht jetzt aber keinen Dialog!
Ich sage: Herzlichen Glückwunsch! Genau das bean-
tragen wir. In Ihrer Rede gerade haben Sie aber gesagt,
die Beiträge nicht zu senken, mache wenig Sinn, weil die
Renditen auf dem Finanzmarkt im Moment zu gering
sind. Wir finden, das ist nicht so ein starkes Argument.
Wir wollen vielmehr langfristig konstante Beitragssätze
und sie jetzt nicht senken.
– Die Antwort auf die Frage habe ich im Prinzip gege-
ben.
Sie haben ja gefragt, was wir den Bundesländern raten
würden. Wir würden ihnen raten, der Verordnung nicht
zuzustimmen. Vielmehr wäre jetzt die Gelegenheit, das
Gesetz im Rahmen der ganzen Debatten zu verändern,
die wir ohnehin über die Rente führen und in der die
Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen nach wie
vor überhaupt nichts vorlegen, außer dieses eine Gesetz,
das eigentlich unnötig wäre, weil man dies als Verord-
nung machen könnte, und das Schornsteinfegergesetz,
bei dem wir als Parlament gezwungen sind, etwas zu
machen. Auch da haben Sie reagiert, weil Sie den Geset-
zen und Gerichtsurteilen nicht widersprechen wollen.
Insofern ist das, was Sie hier machen, wieder einmal
großartig. Eigentlich sind Sie bei der Rentenpolitik völ-
lig blank. Da hat der Kollege Schaaf – er hat das gerade
schon angesprochen – völlig recht: Da passiert nichts.
Das alles, was hier wieder einmal stattfindet, ist nichts
anderes als eine große Rentenshow von Frau von der
Leyen.
Warum wir der Meinung sind, dass die Rentenbei-
träge jetzt nicht gesenkt werden sollen, habe ich eben
schon angedeutet, nämlich weil das ein sehr kurzsichti-
ges Vorgehen ist. In der Tat ist es meines Erachtens kein
Zufall, dass die Rentenbeiträge kurz vor der Bundestags-
wahl gesenkt werden sollen. Das hat natürlich etwas mit
Wahlkampf zu tun.
Auch intern gab es bei Ihnen eine Diskussion darüber, ob
man nicht besser andere Wege geht. Aber das macht sich
vielleicht ganz gut; denn schließlich ist das insbesondere
für die FDP der letzte Strohhalm, vielleicht doch noch
dazu zu kommen, mehr – wie hieß es doch gleich? –
Netto vom Brutto hinzubekommen.
Das ist aber sehr kurzfristig gedacht. Die meisten Bürge-
rinnen und Bürger durchschauen das. Zumindest diejeni-
gen, mit denen ich rede, fragen: Was soll das, jetzt die
Rentenbeiträge zu senken, wenn sie in wenigen Jahren
wieder steigen und wir dann wieder mehr zahlen müs-
sen?
Es ist in der Tat eine Frage der Generationengerech-
tigkeit, ob wir es hinbekommen, die Beiträge dauerhaft
konstant zu halten. Da gehen wir auch konform mit der
Debatte über die Krankenversicherungsbeiträge. Auch
da ist unsere Position, dass wir sagen: Man muss die
Beiträge in der Krankenversicherung durch eine Bürger-
versicherung dauerhaft und nachhaltig niedrig halten.
Langfristig müssen wir das auch bei der Rente hinbe-
kommen, um stabile Beitragssätze mit einem vernünfti-
gen Rentenniveau zu gewährleisten.
Sie sagen weiterhin, es mache keinen Sinn, so wie
SPD und Linke es vorschlagen, die Obergrenze bei der
Nachhaltigkeitsrücklage komplett abzuschaffen und das
Geld auf dem Kapitalmarkt anzulegen. Richtig! Deswe-
gen sagen wir, dass man das Geld teilweise verwenden
sollte, nicht um einen Tunnel zu bohren, sondern um von
der jetzigen Beitragssenkung zur Beitragssteigerung eine
Brücke zu schaffen. Dann könnte man die Beiträge auf
der einen Seite längerfristig konstant halten und auf der
anderen Seite gemäßigte Leistungsverbesserungen durch-
führen. Von Vervespern oder Verschleudern zu reden,
wenn wir fordern, Verbesserungen bei der Erwerbsmin-
derungsrente vorzunehmen und das Rehabudget bedarfs-
gerecht auszustatten, finde ich wirklich hanebüchen.
Unsere Position ist: keine Beitragssatzsenkung jetzt,
stabile Beitragssätze in der Zukunft – das ist generatio-
nengerecht –
und Leistungsverbesserung insbesondere für diejenigen,
die aus gesundheitlichen Gründen eine Erwerbsminde-
rungsrente beziehen. Für diese müsste es möglich sein,
ohne Abschläge in Rente zu gehen.
Bevor Sie mit einem neuen Gedanken beginnen,schauen Sie bitte schnell einmal auf die Uhr.
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Ich habe keinen neuen Gedanken mehr, sondern willnur noch sagen: Noch ein Jahr geht diese schwarz-gelbeShow weiter. Danach machen wir wieder eine nachhal-tige, solide Rentenpolitik.
Nächster und letzter Redner in unserer Aussprache ist
für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Paul Lehrieder.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposi-
tionsfraktionen, sofern Sie es vergessen haben, rufe ich
Ihnen gerne in Erinnerung, dass wir mit der Absenkung
des Beitragssatzes zum 1. Januar 2013 auf 18,9 Prozent
in der gesetzlichen Rentenversicherung und auf 25,1 Pro-
zent in der knappschaftlichen Rentenversicherung gel-
tendem Recht folgen; Recht aus rot-grüner Zeit. Das will
ich noch einmal ausdrücklich betonen.
Lieber Anton Schaaf, wenn ich deine Währungsein-
heit von einem Maß Bier nehme, dann sind das jetzt fünf
kleine Kölsch. Die 10,50 Euro, über die wir reden, sind
sehr wohl keine Peanuts.
– Herr Präsident, ich brauche jetzt erst einmal wieder die
Aufmerksamkeit der SPD.
Lieber Kollege Schaaf, wenn Sie im selben Atemzug die
heute Morgen diskutierte Praxisgebühr anführen, so ge-
bietet es die Ehrlichkeit, zu sagen, dass die Praxisgebühr
mit 10 Euro einmal im Quartal anfällt. Die Entlastung,
die wir heute vornehmen, beträgt bei einem Durch-
schnittseinkommen jeden Monat immerhin 10,50 Euro.
Das heißt, wir entlasten um dreimal so viel, wie die Pra-
xisgebühr maximal bringen könnte.
So gesehen handelt es sich keinesfalls um Kleinkram,
wie Sie ausgeführt haben. Zur Währungseinheit Curry-
wurst, Herr Kollege Birkwald, fällt mir momentan auch
nichts ein.
Nach § 158 SGB VI ist der Beitragssatz zu Beginn ei-
nes Jahres zu senken, wenn die Mittel der Nachhaltig-
keitsrücklage zum Ende des Jahres – –
– Herr Präsident, ich bin selbstverständlich bereit, die
Frage des Kollegen Schaaf anzunehmen.
Alles läuft gut. Hier sieht man auch das gute kollegi-
ale Verhältnis im Ausschuss. Bitte schön.
In der Tat, es ist ein sehr gutes kollegiales Verhältnis.
Deswegen werde ich den Kollegen Lehrieder auch nicht
bitten, zu jodeln, sondern bitte ihn, mir Folgendes zu be-
antworten: Heute Morgen beim Thema Gesundheit war
die Argumentation, man müsse die Kasse beieinander-
halten und sparsam mit dem Geld umgehen und dürfe
deswegen die Praxisgebühr nicht abschaffen. Gilt bei der
Rentenkasse nicht das gleiche Argument, und zwar im
Hinblick auf die Schuldengrenze, die wir im Grundge-
setz vereinbart haben, und im Hinblick darauf, dass es
vielleicht einmal schlechtere Zeiten geben könnte und
wir damit eine schlechtere Einnahmesituation haben
könnten? Sie haben dabei auch nicht berücksichtigt, was
die Sachverständigen zur Obergrenze gesagt haben. Das
Gleiche gilt auch für die Untergrenze. Hier wurde ge-
sagt, man solle eine Rücklage von 0,5 Monatsausgaben
halten. All das ist überhaupt nicht berücksichtigt wor-
den. Hier geht es nur darum, einen maximalen Effekt ge-
genüber der Bevölkerung zu erreichen. Das habe ich
schon im Zusammenhang mit der Praxisgebühr moniert.
Lieber Kollege Anton Schaaf, jodeln und Schuhplatt-ler tanzen werde ich hier nicht. Da kann ich Sie beruhi-gen.
Ich komme aus Franken. Da ist es nicht üblich, Schuh-plattler zu tanzen. Wir haben andere, gleichwohl schöneTänze. Den Gefallen werde ich Ihnen aber nicht tun.Sie haben ausgeführt: Wir entlasten die Mitbürgerin-nen und Mitbürger; dabei müssen wir aber auch die Kas-sen zusammenhalten. Das ist auch der Kern dessen, wasdie Sachverständigen am Montag ausgeführt haben.Die Demografierücklage, die immer angesprochenwird und für die ich am Anfang zugegebenermaßen einhohes Maß an Sympathie hatte – wir lassen das Geld an-sparen, weil wir es in den nächsten Jahren brauchen –,wird eben nicht so lange reichen, wie es für eine nach-haltige Senkung der Beiträge notwendig wäre.
Die Demografierücklage beträgt maximal etwas über80 Milliarden Euro. Wir hätten in den Wahljahren 2017eine Rücklage von etwa 79 Milliarden Euro und 2021
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24301
Paul Lehrieder
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von etwa 80 Milliarden Euro, wenn wir auf die Absen-kung verzichten. Auch das gehört zur Wahrheit. Dasheißt, die Chance, dass wir diese Demografierücklagezweckmäßig verwenden, ist außerordentlich gering.Zur Frage der Verwendung der Demografierücklageim Umlageverfahren: Die Beträge, die hier aufgebautwerden, sind, wenn wir die Gesamtsumme, die für dieRenten ausgegeben werden, ansehen, relativ bescheiden.Das war die Aussage der Sachverständigen am vergan-genen Montag. Im Übrigen ist dies auch nur ein tempo-räres Problem, worauf schon hingewiesen wurde. DieDemografierücklage ist, wenn wir diese Berechnungennehmen, spätestens im Jahr 2024, 2025 verbraucht.Dann gehen wir in das normale Verfahren hinein. 2030liegen alle Schätzungen zu den Beitragssätzen, HerrKollege Schaaf, bei 21,8 bzw. 21,9 Prozent, also knappunter der 22-Prozent-Grenze. Wir reden hier also übereinen ganz bescheidenen Zeitraum.Deshalb ist die Gefahr groß – auch darauf müssen wirachten –, dass wir im Hinblick auf die derzeit günstigeFinanzierung – –
– Aufstehen bitte, ich bin noch nicht fertig. Herr Präsi-dent, kann er sich wieder hinstellen? Ich bin noch bei derBeantwortung.
Braucht ihr jetzt doch einen Präsidenten dazu? Vorher
ging es ohne.
Es geht um die Beantwortung der Frage, was mit dem
Geld zu geschehen hat.
Wenn Leistungen ausgebaut werden, haben diese
Leistungen finanzielle Folgen, die weit über das Jahr
2024 hinausgehen und die dann ohnehin schwierige
Finanzierung der Rentenversicherung weiter erschwe-
ren. Deshalb kann man davor nur warnen, lieber Anton
Schaaf.
Das Geld, das sich heute in der Rücklage befindet, ha-
ben die jetzigen Beitragszahler aufgebracht. Genau de-
nen steht das Geld auch zu. Deshalb sind wir der Auffas-
sung – im Übrigen ähnlich wie die Große Koalition beim
Thema Arbeitslosenversicherung –, dass die Beiträge in
den sozialen Sicherungssystemen da abgesenkt werden
sollten, wo man die Menschen entlasten kann. Eine Ent-
lastung der kleinen Bürger und der Arbeitnehmer war
früher auch Augenmerk der SPD. Ich würde mir wün-
schen, dass Sie in diesem Verfahren wieder einer Entlas-
tung zustimmen könnten.
Jetzt bin ich fertig, Herr Präsident.
Jawohl. Damit darf sich der Kollege wieder setzen.
Unter Anwendung des gesetzlichen Anpassungs-mechanismus sowie auf der Grundlage der Ergebnisseder turnusgemäßen Einschätzung der Rentenfinanzendurch den Rentenversicherungsschätzerkreis, verbun-den mit der guten wirtschaftlichen Entwicklung, ergibtsich die Absenkung des Beitragssatzes auf 18,9 Prozent.Lieber Herr Kollege Schaaf, es ist längst nicht so,dass wir diesen Zeitpunkt beeinflussen können. Schönwäre es ja. Es ist Zufall, dass uns jetzt die gut laufendeKonjunktur ein Dreivierteljahr vor der nächsten Wahldie Möglichkeit gibt, diese Absenkung vorzunehmen.
Das liegt aber daran, dass in Deutschland die Arbeitge-berverbände und die Gewerkschaften die Krise gut über-standen haben, im Übrigen auch mit gemeinsam hier indiesem Hause entwickelten Szenarien, zum Beispiel derVerlängerung des Kurzarbeitergeldes usw. Das heißt:Wir befinden uns derzeit in der günstigen Situation – an-ders als alle Länder um uns herum –, dass wir Absen-kungen in den Sozialabgabebereichen vornehmen kön-nen. Das sollten wir tun. Das sind wir unseren Bürgerinnenund Bürgern schuldig.Lieber Anton Schaaf, wenn Sie Ihren Beitrag zur Ent-lastung der Bürgerinnen und Bürger leisten wollen, dannbitte ich Sie höflich: Sprechen Sie mit Ihren Ministerprä-sidenten, damit sie die Blockade im Bundesrat gegen dieAbsenkung der Steuertarife, gegen die Verbesserungenim Bereich der kalten Progression endlich aufgeben.Dann können wir die kleinen und mittleren Bürger nochbesser entlasten.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Absen-kung des Beitragssatzes führt im Jahr 2013 zu einerdeutlichen Erhöhung der verfügbaren Einkommen derArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Die Interessender Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit kleinenEinkommen sind in dieser christlich-liberalen Koalitiongut aufbewahrt. Wir sind die Anwälte der kleinen Leute.
Das führt zu einer spürbaren Entlastung der Arbeitneh-mer und Unternehmen in Höhe von etwa 3,2 MilliardenEuro. Hiermit werden deutliche Impulse für die gesamt-wirtschaftliche Entwicklung und positive Signale aufdem Arbeitsmarkt gesetzt.Des Weiteren profitieren auch die Rentnerinnen undRentner davon; denn die Senkung des Rentenbeitragssat-zes zum 1. Januar 2013 wirkt sich auch auf die Renten-anpassungsformel aus und somit steigernd auf die Ren-tenanpassung zum 1. Juli 2014. Die Renten werden dem-nach in den nächsten beiden Jahren um 1,3 Prozent stei-gen. Neben der normalen Erhöhung erhält ein Rentnermit einer Rente von etwa 1 000 Euro im Monat durch die
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24302 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Paul Lehrieder
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Absenkung der Beitragssätze zur Rentenversicherung imMonat circa 13 Euro zusätzlich.
Es gehört zur Generationengerechtigkeit dazu, dass dieMenschen, die unser Land aufgebaut haben, jetzt auchvon einer Entlastung profitieren können.
Wie Sie sehen, steht die Beitragssatzsenkung – andersals von Ihnen behauptet –, keineswegs im Widerspruchzu unserem Ziel der Vermeidung von Altersarmut.Schließlich leisten wir einen weiteren wichtigen Bei-trag zur Konsolidierung der öffentlichen Haushalte vonBund, Ländern und Kommunen; denn die Anpassungdes Beitragssatzes bedeutet zugleich eine Entlastung umetwa 1,6 Milliarden Euro für den Bund, um 80 MillionenEuro für die Länder und um 150 Millionen Euro für dieKommunen, also insgesamt um 1,9 Milliarden Euro. Al-lein der Bundeszuschuss zur Rentenversicherung sinktum 1,1 Milliarden Euro.Wir entlasten die Länder, wir entlasten die Kommu-nen, nicht nur im SGB-XII-Bereich, über den wirnächste Sitzungswoche reden werden, sondern auchdurch die Absenkung der Rentenbeiträge. Ich stelle fest:Die Interessen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer,aber auch der Kommunen sind in dieser christlich-libera-len Koalition in guten Händen.
Im Übrigen, meine sehr geehrten Damen und Herrenauf der linken Seite des Hohen Hauses, hat die Sachver-ständigenanhörung am vergangenen Montag doch ganzklar und deutlich gezeigt, dass Ihre Vorhaben nicht dasGeringste mit Nachhaltigkeit zu tun haben. Im Gegen-teil: Ihre Forderungen würden in den nächsten Jahrzehn-ten unweigerlich zu Kostenexplosionen führen, die nichtzu verantworten wären. Über den Leistungsausbau habeich vorhin bereits ausgeführt.Der Verzicht auf die Absenkung der Beitragssätze zurgesetzlichen Rentenversicherung und damit der Aufbaueiner sogenannten Demografiereserve würde lediglichzu einer zeitlichen Verschiebung der Beitragssatzerhö-hung ab 2025 führen.
Ich habe es bereits ausgeführt: Von den Sachverständi-gen wurde das Problem des Tunnels unter einem Plateauangesprochen. Sie können sich unschwer vorstellen:Wenn Sie unter einem Plateau einen Tunnel bauen, kön-nen Sie sehr lange bohren, Sie werden das Ende aber nieerreichen.Genau in diese Richtung dürfen wir uns nicht bewe-gen. Deshalb ist die Absenkung richtig. Deshalb bitte ichSie: Helfen Sie mit, für die Bezieher von kleinen undmittleren Einkommen in Deutschland etwas Gutes zutun. Stimmen Sie für unsere Anträge.Danke schön.
Das war eine punktgenaue Landung, Herr KollegePaul Lehrieder. – Ich schließe nun die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Festset-zung der Beitragssätze in der gesetzlichen Rentenver-sicherung für das Jahr 2013. Der Ausschuss für Arbeit undSoziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 17/11175, den Gesetzent-wurf der Bundesregierung auf Drucksachen 17/10743und 17/11059 in der Ausschussfassung anzuneh-men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in derAusschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-chen. – Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmtdagegen? – Das sind die drei Oppositionsfraktionen.Enthaltungen? – Keine. Der Gesetzentwurf ist damit inzweiter Beratung angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben.– Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dage-gen? – Das sind die drei Oppositionsfraktionen. Enthal-tungen? – Keine. Somit ist der Gesetzentwurf angenom-men.Tagesordnungspunkt 7 b, Abstimmung über den Ge-setzentwurf der Fraktion der Sozialdemokraten über dieSchaffung eines Demographie-Fonds in der gesetzlichenRentenversicherung zur Stabilisierung der Beitragssatz-entwicklung. Der Ausschuss für Arbeit und Sozialesempfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 17/11175, den Gesetzentwurf derSPD auf Drucksache 17/10775 abzulehnen. Ich bitte die-jenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, umdas Handzeichen. – Das ist die Fraktion der Sozialdemo-kraten. Wer stimmt dagegen? – Das sind die Koalitions-fraktionen und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.Enthaltungen? – Die Fraktion Die Linke. Der Gesetzent-wurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfälltnach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.Tagesordnungspunkt 7 c. Wir setzen die Abstimmun-gen zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses fürArbeit und Soziales auf Drucksache 17/11175 fort. DerAusschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Be-schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-tion Die Linke auf Drucksache 17/10779 mit dem Titel„Rentenbeiträge nicht absenken – Spielräume für Leis-tungsverbesserungen nutzen“. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktionenund die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Gegenprobe! –Fraktion Die Linke. Enthaltungen? – Fraktion der So-zialdemokraten. Die Beschlussempfehlung ist angenom-men.Unter Buchstabe d empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenauf Drucksache 17/11010 mit dem Titel „Beitragssätze
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24303
Vizepräsident Eduard Oswald
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nachhaltig stabilisieren, Erwerbsminderungsrente ver-bessern, Reha-Budget angemessen ausgestalten“. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind dieKoalitionsfraktionen und die Linksfraktion. Gegen-probe! – Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? – DieSozialdemokraten. Die Beschlussempfehlung ist ange-nommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta
Krellmann, Sabine Zimmermann, Dr. Martina
Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Psychische Belastungen in der Arbeitswelt re-
duzieren
– Drucksache 17/11042 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate
Müller-Gemmeke, Markus Kurth, Brigitte
Pothmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Psychische Gefährdungen mindern – Alters-
und alternsgerecht arbeiten
– Drucksache 17/10867 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Verabredet ist, hierzu eine halbe Stunde zu debattie-
ren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann
ist das so beschlossen.
Ich gebe das Wort der Kollegin Jutta Krellmann für
die Fraktion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wachsen-der Leistungsdruck prägt immer mehr die Arbeitswelt indieser Gesellschaft. Die Zunahme von Arbeitsstress hatgravierende gesundheitliche Folgen für Millionen vonMenschen. Der jährliche Fehlzeiten-Report der AOK be-legt, dass die Zahl der Krankheitstage wegen psychi-scher Belastungen von 1994 bis heute um 120 Prozentgestiegen ist. Psychische Erkrankungen sind in Deutsch-land mittlerweile die Hauptursache für Frühverrentun-gen.Die Bundesregierung hat dieses Thema neuerdingsfür sich entdeckt. Die Gründe für wachsenden Arbeits-stress sind aber eigentlich schon lange bekannt:Die erste und wichtigste Ursache in diesem Zusam-menhang ist die Verdichtung von Arbeit. Die meistenBeschäftigten müssen heute mehr Arbeit in derselbenZeit leisten als vor wenigen Jahren. Krankenhäuser sindmittlerweile ein sehr gutes Beispiel dafür. So wurde inder Berliner Charité jahrelang Personal gekürzt. Jetzt isteine einzelne Pflegerin in der Nachtschicht für die Pflegevon 31 Patienten verantwortlich. Das ist Akkord imKrankenhaus, das verursacht Stress. Einen solchen Jobmacht man nicht nur wegen des Geldes, sondern auchaus sozialem Engagement und aus Liebe zu den Men-schen.Zweitens führt die zunehmende Entgrenzung von Ar-beit zu Stress. Viele Beschäftigte können sich nicht mehrausreichend von der Arbeit erholen. Der Achtstundentagist für sie längst Vergangenheit. Unbezahlte Mehrarbeitnimmt breitflächig zu.Drittens führt die Zunahme von unsicheren Arbeits-verhältnissen zu wachsendem Stress in vielen Unterneh-men. Befristete Arbeitsverhältnisse nehmen seit einigenJahren kontinuierlich zu, gleichzeitig Leiharbeit undWerkverträge. All dies zwingt Beschäftigte zum häufige-ren Wechsel ihres Arbeitsplatzes, was auch wieder Stressbedeutet. Dies bedeutet auch größeren Konkurrenzdruckin den Belegschaften. Die Politik der Bundesregierunghat diese Entwicklung gefördert ebenso wie zuvor dieAgenda 2010 von Rot-Grün.Die Linke will mit drei gesetzlichen Maßnahmen denStress am Arbeitsplatz verringern:Erstens. Wir wollen den Arbeitsschutz verbessern.Konkret heißt dies: Wir unterstützen die Forderung meinerGewerkschaft, der IG Metall, nach einer Anti-Stress-Verordnung. Damit werden im betrieblichen Arbeits-schutz verbindliche Standards zur Prüfung von Stressbe-lastungen verankert.Zweitens. Wir wollen die Arbeitszeiten klarer regeln.Die gesetzliche Höchstarbeitszeit muss auf 40 Stundenverringert werden,
und Überstunden müssen stärker begrenzt werden. Frei-zeit muss Freizeit bleiben.
Drittens. Wir wollen die Einflussmöglichkeiten derBeschäftigten auf die Organisation der Arbeitsprozesseim Betrieb deutlich verbessern. Dies bedeutet: Beschäf-tigten und ihren Betriebsräten muss Einfluss auf die Per-sonalausstattung ihres Arbeitsbereichs gegeben werden,um die gestellten Anforderungen erfüllen zu können. Siemüssen an diesen Entscheidungen beteiligt werden. Siebrauchen Vetorechte gegen den Einsatz von Leiharbeitund Werkverträgen, wenn Stammbeschäftigte ersetztwerden sollen.
All diese Maßnahmen hätte die Bundesregierunglängst anpacken können, wenn sie dieses Thema ernstgenommen hätte. Stattdessen hat sie jahrelang von flexi-bler Arbeit geschwärmt und dabei billigend in Kauf ge-
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Jutta Krellmann
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nommen, dass private Unternehmen ihre Gewinne aufKosten der Gesundheit ihrer jeweiligen Beschäftigten er-höhen. Damit muss Schluss sein.
Die Bedürfnisse der Beschäftigten müssen Vorfahrt be-kommen vor den Profitinteressen der Unternehmen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Matthias Zimmer für
die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
richtig, Frau Krellmann: Die Verdichtung von Arbeit ist
in der Tat zu einem Problem geworden. Auch die Tat-
sache, dass wir die Arbeitseffizienz in den letzten Jahren
in einem erheblich höheren Maße steigern konnten als
die Materialeffizienz und die Energieeffizienz, spricht
sicherlich nicht für Nachhaltigkeit. Arbeit nur als einen
Produktionsfaktor zu sehen und sie nur als Human Re-
source zu bezeichnen, entspricht aus unserer Sicht nicht
der Personalität der Arbeit, die zum Ausdruck kommen
sollte. Es überrascht dann nicht, dass 67 Prozent der
Menschen in ständiger Hektik und Unruhe die größten
Auslöser von Stress sehen und dass die Weltgesundheits-
organisation beruflichen Stress zu einer der größten Ge-
sundheitsgefahren des 21. Jahrhunderts erklärt hat.
Nun hat die IG Metall – die Kollegin Krellmann hat
das erwähnt – eine Anti-Stress-Verordnung vorgelegt.
Ein wenig aufbauend auf der Anti-Stress-Verordnung,
diskutieren wir heute einen Antrag der Linken und einen
Antrag der Grünen. Mir ist bei der Lektüre sowohl der
Anti-Stress-Verordnung als auch der beiden Anträge
nicht so ganz klar geworden, ob es tatsächlich richtig ist,
die psychischen Belastungen im Arbeitsleben vorrangig
über gesetzliche Maßnahmen oder über Verordnungen
zu regeln. Ich glaube, uns tut es gut, dass wir erst einmal
vornehmlich in die Betriebe hineinschauen. Dabei geht
es für mich im Wesentlichen um vier zentrale Punkte:
Erstens. Der Erhalt der psychischen Gesundheit von
Beschäftigten muss zur Selbstverständlichkeit in jeder
Unternehmenskultur werden. Die besten Lösungen können
partnerschaftlich zwischen Arbeitgebern und Arbeitneh-
mern gefunden werden. Dabei sollen sie von Kranken-
kassen, Rentenversicherungen, Werks- und Betriebs-
ärzten, Arbeitgeberverbänden, Gewerkschaften, Innungen
und Kammern Unterstützung erhalten. Das entspricht
dem Prinzip der Subsidiarität.
Zweitens. Wir sollten einen gesamtgesellschaftlichen
Prozess initiieren, damit psychische Erkrankungen, vor
allen Dingen Depressionen, enttabuisiert werden, damit
Erkrankungen dieser Art und Weise nicht als Schwach-
heit oder Mangel ausgelegt werden, sondern als etwas,
das jedem Arbeitnehmer passieren kann. Wir müssen
also darangehen, diese Dinge zu enttabuisieren und ein
Klima der Wertschätzung zu erreichen.
Drittens. Wir müssen auch darangehen, eine genaue
Diagnostik und Klassifikation des Begriffes „Burn-out“
zu erreichen. Ich habe manchmal den Eindruck, dass der
Begriff „Burn-out“ ein bisschen den Stellenwert des Be-
griffes der Hysterie im 19. Jahrhundert hat: Man klebt
das Label auf unterschiedlichste Symptome, ohne genau
zu wissen, was man damit letztendlich meint.
Ich bin der Meinung, eine geeignete wissenschaftliche
Begründung, Diagnostik und Therapie von Burn-out
wäre hier ausgesprochen hilfreich.
Viertens. Last, not least bin auch ich der Überzeu-
gung, dass eine stärkere Beteiligung der Arbeitnehmer
– über eine Kapitalbeteiligung, eine Prozessbeteiligung
oder andere Formen der Beteiligung – ebenfalls hilfreich
ist, wenn es darum geht, die psychischen Belastungen
am Arbeitsplatz deutlich zu senken.
Meine Damen und Herren, große Entwürfe treffen auf
konkrete Lebenswelten. Wir können natürlich ganz prak-
tisch etwas tun; denn wir sind als Bundestagsabgeord-
nete auch Arbeitgeber. Und wir alle sind vorbildliche
Arbeitgeber.
Wir rufen unsere Mitarbeiter nie am Wochenende oder
abends, nach Feierabend, an.
Wir bestehen natürlich darauf, dass keiner der Mitarbei-
ter länger als 40 Stunden arbeitet, und sind natürlich der
Meinung, dass die Tätigkeit unserer Mitarbeiter, wie es
die Anti-Stress-Verordnung der IG Metall vorsieht, „der
Gesundheit zuträglich“ ist. Oder nicht?
Nur selten finden gegenteilige Erfahrungen den Weg
in die Presse. Das zeigt aber auch, wie schwierig der
Umgang mit diesem Themenfeld ist. Letztendlich, denke
ich, fangen die Veränderungen bei uns an. Wenn wir ver-
nünftig sind, wenn wir vernünftig mit unseren Mitarbei-
terinnen und Mitarbeitern umgehen, dann brauchen wir
keine Gesetze. Wenn wir nicht vernünftig sind, dann hel-
fen keine Gesetze.
Vielen Dank.
Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Josip
Juratovic.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Schon seit Jahrzehnten wird über das Projekt„Humanisierung der Arbeit“ diskutiert. Als ehemaliger
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Josip Juratovic
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Betriebsrat war ich mit dabei, wenn es darum ging, dieArbeitswelt an die Bedürfnisse der Arbeitnehmer anzu-passen. Das Ziel ist es, die Arbeitswelt so zu gestalten,dass Arbeit nicht krank macht.Die Humanisierung der Arbeitswelt ist ein immer-währendes Thema. Während der Industrialisierung ginges darum, schwere körperliche Arbeit zu vereinfachen.Später mussten in der Industrie die Taktzeiten arbeitneh-merfreundlich gestaltet werden. Das Problem ist jedoch,dass die Arbeitswelt insgesamt nicht unbedingt humanergeworden ist. Die Probleme haben sich nur verlagert undhaben ein anderes Gesicht als früher. Heute ist es in Be-zug auf die Humanisierung der Arbeitswelt die großeAufgabe, darauf zu achten, psychische Belastungen zuvermeiden.Die Belastungen in unserer Arbeitswelt haben sichzwar verändert, aber es sind Belastungen geblieben. DasProblem ist, dass die Belastungen heute nicht mehr aufden ersten Blick zu erkennen sind. Früher war es offen-sichtlich, dass es Probleme mit dem Rücken gibt, wennman permanent über Kopf arbeiten muss. Heute sind dieBelastungen subtiler, wenn Arbeitnehmer viel Stress ha-ben.Viele Unternehmen operieren heute nur noch nachreiner Wachstumslogik und schauen nur auf die kurzfris-tige Rendite. Es wird großer Druck auf die Mitarbeiterausgeübt, die sich ständigen Optimierungsprozessenausgesetzt sehen. Diese Leistungsverdichtung bedeutetfür viele Arbeitnehmer Stress. Zudem bestimmen mo-derne Informations- und Kommunikationsmedien diemeisten Bereiche unserer Arbeit. Technische Innovatio-nen führen zu immer schnelleren Veränderungen. DasWissen, das man gestern noch brauchte, ist heute schonnichts mehr wert. Die Arbeitnehmer brauchen immermehr Flexibilität und Lernbereitschaft.Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch die Entwick-lung von prekärer Arbeit hat Einfluss auf Stress in derArbeitswelt. Wenn ein Arbeitnehmer weiß, dass er be-fristet, über Leiharbeit oder auf der Grundlage einesWerkvertrags arbeitet, lebt er in der ständiger Unsicher-heit in Bezug auf seinen Arbeitsplatz. Er kann seineZukunft nicht planen, geschweige denn eine Familiegründen. Zudem will er dauernd Höchstleistungen voll-bringen, um eventuell vom Unternehmen übernommenzu werden.Außerdem hat in vielen Berufen die Arbeitszeit zuge-nommen. Im Sommer veröffentlichte das StatistischeBundesamt Daten zur Qualität der Arbeit. Seit Mitte der90er-Jahre ist die Wochenarbeitszeit um etwa 40 Minu-ten angestiegen, ein Viertel der Beschäftigten arbeitetauch samstags – in den 90er-Jahren waren es nur18,8 Prozent –, und immer mehr Beschäftigte arbeitennachts. Die Zahlen belegen, dass die Arbeitnehmer im-mer flexibler werden müssen, um ihre Arbeit zu erfüllen.All diese Trends zeigen, dass sich unsere Arbeitsweltverändert hat. Mit diesen Veränderungen kommen neueHerausforderungen auf uns zu, auf die wir reagierenmüssen. Wir brauchen neue Regelungen im Arbeits- undGesundheitsschutz, um auf die steigenden psychischenBelastungen zu reagieren. Im Arbeitsschutz ist allesMögliche detailliert geregelt; ich denke zum Beispiel andie Biostoffverordnung. Eine Verordnung im Bereich derpsychischen Belastungen fehlt jedoch. Wir brauchendringend eine Anti-Stress-Verordnung, um diese Rege-lungslücke zu schließen.
Die Gestaltung unserer Arbeitswelt und die konkretenArbeitsbedingungen müssen stärker in den politischenFokus rücken. Zu oft wird der Arbeits- und Gesundheits-schutz in die technische Ecke von DIN-Normen und Ver-ordnungen gedrängt. Wir brauchen hier mehr politischeGestaltung im Sinne der Humanisierung der Arbeitswelt.
Darüber hinaus müssen wir sicherstellen, dass die Ar-beitsschutzaufsicht gut und effektiv arbeiten kann. Ichappelliere an die Länder, die Personalsituation zu verbes-sern. Zudem müssen wir uns dafür starkmachen, dassGefährdungsbeurteilungen häufiger genutzt werden. DerArbeits- und Gesundheitsschutz hängt davon ab, dassbekannt ist, welche Belastungen der jeweilige Arbeits-platz beinhaltet. Diese Gefährdungsbeurteilungen müs-sen auch alterssensibel durchgeführt werden. Wir müssendringend dafür sorgen, dass alle Betriebe Gefährdungs-beurteilungen erstellen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch im BereichArbeitszeit müssen wir Lösungen finden. Wir müssen re-geln, bis wann ein Mitarbeiter für den Arbeitgeber er-reichbar sein muss. Oft machen sich die Mitarbeiter auchselbst oder untereinander Druck und arbeiten deshalb beiProjektarbeiten mit kurzen Fristen abends und nachtsweiter. Hier müssen auch die Unternehmen handeln;denn kein Arbeitgeber kann ein Interesse daran haben,dass sein Mitarbeiter aufgrund überlanger Arbeitszeitennach ein paar Jahren ein Burn-out-Syndrom hat. UnsereFachkräfte dürfen nicht durch enorm lange Arbeitszeitenund eine enorme Arbeitsbelastung verbraten werden.Dies ist auch ein entscheidender Punkt im Zusam-menhang mit dem Thema „Vereinbarkeit von Familieund Beruf“. Wenn die Arbeitszeiten nicht so geregeltsind, dass Zeit für die Familie bleibt, bringt das allesnichts. Unser Ziel im Bereich des Arbeits- und Gesund-heitsschutzes muss sein, möglichst viele psychische Be-lastungen präventiv zu verhindern.
Wir müssen die Arbeitswelt so gestalten, dass psychi-sche Belastungen erst gar nicht entstehen.
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24306 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Josip Juratovic
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An einem besseren Arbeits- und Gesundheitsschutzsollten alle in unserer Gesellschaft ein Interesse haben:die Arbeitnehmer, damit sie nicht krank werden, die Ar-beitgeber, damit ihre Arbeitnehmer nicht aufgrund vonKrankheit fehlen, und der Staat, weil wir damit Kostenfür unser Gesundheitssystem vermeiden.Es ist dringend notwendig, dass im Bereich der psy-chischen Belastungen endlich konkret etwas geschieht.Bisher fällt Ministerin von der Leyen vor allem dadurchauf, dass sie medienwirksam Regelungen für die Er-reichbarkeit über das Smartphone fordert. Konkret aberpassiert nichts. Zur Anti-Stress-Verordnung sagt unsereMinisterin zum Beispiel nichts. Herr Zimmer, Sie habenhier hervorragend analysiert. Ich wünsche Ihnen vielGlück bei der Erstellung eines entsprechenden Antragsbzw. Gesetzentwurfs.
Wir müssen das neue Ziel der psychischen Gesund-heit in der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrate-gie stärker nutzen. Es reicht nicht, warme Worte an diePresse zu richten. Die Bundesregierung muss endlich ge-setzlich handeln; denn viele Arbeitgeber handeln nichtaus Eigeninteresse, sondern nur, wenn sie dazu ver-pflichtet sind, wie Studien belegen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Arbeits- undGesundheitsschutz ist entscheidend für die Lebensquali-tät in unserem Land. Arbeit darf nicht krank machen,insbesondere nicht psychisch. Wir müssen Arbeit so ge-stalten, dass die Menschen ihr Leben genießen könnenund genug Freizeit und Zeit für ihre Familie haben. Wirbrauchen gute und gesunde Arbeit, um die Lebensquali-tät in unserem Land zu steigern. Die SPD wird in dennächsten Wochen einen umfassenden Antrag zur Moder-nisierung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes vorle-gen.In diesem Sinne: Vielen Dank für Ihre Aufmerksam-keit.
Pascal Kober hat das Wort für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!In den beiden Anträgen von Linken und Grünen, die wirheute beraten, wird ein durchaus wichtiges Thema auf-gegriffen: die psychische Gesundheit am Arbeitsplatz.Dieses Thema ist wichtig. Dieses Thema hat die Regie-rungskoalition allerdings schon etwas früher erkannt alsSie. Sie hat schon im Koalitionsvertrag vor drei Jahrenvereinbart, eine umfassende Präventionsstrategie zu er-arbeiten. Diese Strategie ist gründlich ausgearbeitet wor-den; die Arbeiten stehen kurz vor ihrem Abschluss.
Parallel dazu wurden vonseiten der christlich-libera-len Regierungskoalition entscheidende Schritte zur För-derung der psychischen Gesundheit am Arbeitsplatz un-ternommen. So hat das Bundesgesundheitsministeriumdie Kampagne „Unternehmen unternehmen Gesundheit“im Jahr 2011 gestartet. Ziel dieser Kampagne ist es vorallem, die Zahl von kleinen und mittleren Unternehmenzu erhöhen, die sich aktiv im Bereich der betrieblichenGesundheitsförderung engagieren. So gibt es auf derHomepage des Bundesministeriums für Gesundheit eineSammlung von hundert vorbildlichen Projekten derKrankenkassen, die den kleinen und mittleren Unterneh-men als Ideenbörse dienen können.
Der demografische Wandel und der damit einherge-hende Fachkräftemangel werden dazu führen, dass dasThema der psychischen Gesundheit und die Notwendig-keit, die Gesundheit von Mitarbeiterinnen und Mitarbei-tern zu fördern, bei der Gestaltung des Arbeitsplatzesund der Arbeitsabläufe in den Unternehmen in Zukunftnoch mehr in den Vordergrund gerückt werden.Klar ist aber auch, dass die Zahl der psychisch be-dingten Krankheiten in den vergangenen Jahren zuge-nommen hat. 2010 verursachten psychische Erkrankun-gen 53,5 Millionen Krankheitstage; das sind 80 Prozentmehr als 1997. Mittlerweile sind fast 40 Prozent derNeuzugänge bei Frühverrentungen darauf zurückzufüh-ren. Ich denke, dass man aber auch genau prüfen muss,inwieweit die zunehmende Zahl wirklich auf steigendeErkrankungsfälle zurückzuführen ist und nicht zum Teilauch auf verbesserte Diagnosemöglichkeiten.Peter Weiß hat gestern in der Ausschusssitzung fol-gendes Beispiel genannt: Was früher vielleicht als einRückenleiden diagnostiziert wurde, aber in Wahrheiteine psychische Erkrankung war, kann und wird mittler-weile als solche diagnostiziert. Es ist gut, dass dasThema enttabuisiert wurde und man sich nicht mehr fürpsychische Erkrankungen schämen muss.
Gerade im Bereich des Sports gibt es prominente Bei-spiele wie den Skispringer Sven Hannawald oder denFußballtrainer Ralf Rangnick, die durch ihr öffentlichesBekenntnis zu ihrer Burn-out-Erkrankung Verständnisund gesteigerte Aufmerksamkeit für das Thema erzeugthaben. Das ist gut.Nicht nur das Bundesgesundheitsministerium hat be-reits entsprechende Maßnahmen auf den Weg gebracht,sondern auch das Bundesministerium für Arbeit und So-ziales hat Programme aufgelegt und arbeitet tatkräftigdaran. So hat es beispielsweise die Gemeinsame Deut-sche Arbeitsschutzstrategie von Bund, Ländern und
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24307
Pascal Kober
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Kommunen fortgeführt, die nun das Thema „Schutz undStärkung der Gesundheit bei arbeitsbedingter psychi-scher Belastung“ zu einem der drei Schwerpunktthemenfür das Jahr 2013 erklärt hat.Bereits im Frühjahr dieses Jahres hatte das BMAS ei-nen Expertenworkshop organisiert, um den gegenwärti-gen Forschungsstand zum Thema „Psychische Erkran-kungen in der Arbeitswelt“ zu erheben, und darauffolgend weitere Forschungsvorhaben zum Schließen vonwissenschaftlich-medizinischen Erkenntnislücken in die-sem Bereich in Auftrag gegeben. Das ist nur ein kleinerTeil der Maßnahmen dieser christlich-liberalen Bundes-regierung. Sie sehen daran, wie wichtig uns dieses Themaist.Die Maßnahmen, die die Linken und die Grünen inihren Anträgen vorschlagen, gehen am Ziel weit vorbei.
So will die Linke ein Vetorecht für Betriebs- und Perso-nalräte beim Einsatz von Zeitarbeit oder Werkverträgen.In anderen Anträgen, die Sie schon in den Bundestageingebracht haben, fordern Sie gar das Verbot dieser bei-den Instrumente der Arbeitsteilung.
Dies würde jedoch die psychische Gesundheit nicht er-höhen, sondern bedeuten, dass viele Menschen ihren Ar-beitsplatz verlieren würden,
mit allen negativen Auswirkungen, die Arbeitslosigkeitauf das psychische Befinden eines Menschen hat.
Psychische Gesundheit am Arbeitsplatz zu fördern, istgut und wichtig, aber dies sollte nicht auf Kosten des Ar-beitsplatzes geschehen.
Die Kolleginnen und Kollegen der Grünen stellen inihrem Antrag ähnliche Forderungen; damit gehen Siedas Thema von der falschen Seite an. Sie fordern in Ih-rem Antrag einen gesetzlichen flächendeckenden Min-destlohn sowie die Einschränkung von Zeitarbeit und be-fristeter Beschäftigung. Auch hier kann ich Ihnen nurentgegnen, dass diese Maßnahmen mehr Menschen indie Arbeitslosigkeit bringen würden. Daher können wirdem auf gar keinen Fall zustimmen.
Ziel muss es sein, die Gesundheit der Menschen am Ar-beitsplatz zu fördern, aber nicht auf Kosten der Arbeits-plätze.Zum Abschluss, lieber Herr Ernst, möchte ich nocheinen anderen Aspekt einbringen. Ich halte es für einenein wenig verengten Blickwinkel, wenn man das Thema„psychische Erkrankungen“ nur auf der Ebene der Ar-beitswelt betrachtet. Uns allen muss doch klar sein, dassArbeit nur ein Teil des Lebens ist. Auch die privaten Le-bensumstände haben Auswirkungen auf das psychischeBefinden eines Menschen und können Ursache vonKrankheiten sein. Jemand, der frisch verliebt ist, ist ge-wöhnlich in besserer Stimmung als jemand nach einerTrennung. Wem gerade ein Kind geboren worden ist,dem geht es besser als jemandem nach einem Trauerfallin der Familie. Entsprechend werden dann auch Belas-tungen am Arbeitsplatz unterschiedlich wahrgenommenund wirken sich entsprechend unterschiedlich auf denEinzelnen aus. Ich möchte uns daher davor warnen, dasThema ausschließlich aufseiten der Arbeitswelt anzuge-hen.
Auch andere gesellschaftliche Bereiche wie beispiels-weise die Schule – auch Schülerinnen und Schüler sindpsychischen Belastungen ausgesetzt – gehören in denBlickwinkel der gesellschaftlichen Debatte über diesesThema.
Psychische Erkrankungen können mannigfaltige Ursa-chen haben, deren wir uns als Gesellschaft insgesamt an-nehmen müssen. Diese Regierungskoalition hat dasThema angepackt. Wir werden den Menschen zur Seitestehen und diese gesellschaftliche Debatte gemeinsamführen.Vielen Dank.
Das Wort hat Beate Müller-Gemmeke für Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Gute und gesunde Arbeitsbedingun-gen sind eine Zukunftsinvestition, die sich für alle lohnt:für die Betriebe, für den öffentlichen Dienst und ins-besondere für die Beschäftigten. Schlechte Arbeits-bedingungen machen hingegen krank.Heute sind – das wurde schon gesagt – die psychi-schen Belastungen mit 37 Prozent die Hauptursache fürFrühverrentungen. Wer zu früh in Rente geht, bekommtweniger Geld; in der Folge droht Altersarmut. DiesesProblem hat inzwischen auch die Ministerin entdeckt.Mit ihrer Zuschussrente hat sie allerdings nur die Symp-tome im Blick.Entscheidend sind jedoch die Ursachen. Wer Alters-armut bekämpfen will, der muss auch dafür sorgen, dassdie Menschen gesund bis zur Rente arbeiten können.
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24308 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Beate Müller-Gemmeke
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Gestern haben wir zum ersten Mal im Ausschuss überdieses Thema diskutiert. Unstrittig war, dass die Zahl derKrankheitstage aufgrund von psychischen Belastungenvon Jahr zur Jahr zunimmt. Die vagen Lösungsansätzewaren für mich aber nicht überzeugend. Es ging umdeklaratorische Klarstellung, um Sensibilisierung. Dasalles hat sich sehr unverbindlich angehört. Das ist mirschlichtweg zu wenig.
Was wir brauchen, sind konkrete Werkzeuge, die wirden Betrieben an die Hand geben können. Notwendigsind klare Definitionen und Vorgaben. Die Betriebe müs-sen wissen, wann und wie psychische Gefährdungen amArbeitsplatz entstehen und wie sie, zum Beispiel beiSchichtarbeit oder bei Taktarbeit, vermieden werdenkönnen. Die Betriebe müssen wissen: Was bewirkt Mob-bing? Wo liegen die Grenzen bei der Rufbereitschaft?Wo liegen die Grenzen bei Arbeitsverdichtung undMehrarbeit? Betriebswirtschaftliche Ziele und die Leis-tungsfähigkeit der Menschen müssen schlicht zusam-menpassen.Geht es um den Lärmschutz oder um giftige Chemi-kalien, dann existieren Verordnungen. Für den Bereichder psychischen Belastungen fehlen aber entsprechendeRegelungen. Das ist nicht akzeptabel. Der Schutz vorpsychischen Gefährdungen und Stress am Arbeitsplatzmuss im System der Arbeitsschutzgesetze konkretisiertwerden. Deshalb fordern auch wir mit unserem Antrag,dass endlich eine Anti-Stress-Verordnung auf den Weggebracht wird.
Das reicht aber nicht. Die Arbeitsbedingungen müs-sen auch alters- und alternsgerecht ausgestaltet werden.Zentral dafür sind die Gefährdungsbeurteilungen; siemüssen zukünftig verbindlich durchgeführt werden, undzwar auch altersbezogen. Hier greift der Antrag derLinken zu kurz. Notwendig sind Arbeitsbedingungen,die dem jeweiligen Alter der Beschäftigten angemessensind und perspektivisch das gesamte Erwerbsleben imBlick haben.Dem Arbeitsschutz fehlt bisher auch eine Geschlech-terperspektive; denn was für Männer akzeptabel ist,muss noch lange nicht für Frauen gesundheitsförderlichsein. Gerade wenn es um arbeitsbedingte psychischeBelastungen geht, sind Frauen doppelt so stark betroffenwie Männer. Das liegt zum einen daran, dass einbeträchtlicher Anteil der Frauen in prekären Jobs arbei-tet. Andererseits ist es auch ein Indiz dafür, dass inDeutschland die angebliche Vereinbarkeit von Familieund Beruf immer noch auf Kosten von Frauen geht.Sehr geehrte Regierungsfraktionen, bei diesemThema geht es um die Gesundheit und die Lebensquali-tät der Beschäftigten. Psychische Erkrankungen sindschrecklich; denn sie isolieren die Menschen und belas-ten zugleich die gesamte Familie. Nehmen Sie diesesThema bitte endlich ernst!Aber es geht auch um die Betriebe; denn nur mit einertragfähigen Arbeitskultur, die Jungen und Älterenebenso wie Männern und Frauen gleichermaßen gerechtwird, sind der demografische Wandel und der drohendeFachkräftemangel in den Betrieben zu bewältigen. Neh-men Sie sich des Themas an, machen Sie sich zusammenmit den Sozialpartnern auf den Weg. Wir brauchen einealters- und alternsgerechte Arbeitswelt.Vielen Dank.
Es spricht jetzt der Kollege Ulrich Lange für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Wir haben – ich glaube, da sind wir uns in diesemHause einig – das Problem sehr wohl als drängendesProblem erkannt. Liebe Kollegin Krellmann, allzu oftstimme ich Ihnen ja nicht zu, aber ich bedanke mich fürden Hinweis, dass sich die Bundesregierung diesesThemas angenommen hat. Das sehen wir durchaus alspositives Zeichen von Ihrer Seite für unsere Arbeit.Herzlichen Dank dafür.Ich will nicht alle Zahlen wiederholen, die wir jetztschon gehört haben, beispielsweise wie viel Prozent derFrühverrentungen aus psychischer Erkrankung resultie-ren und in welchem Maße dieses Krankheitsbild in derArbeitswelt auftritt.Kollege Kober hat, glaube ich, sehr richtig ausge-führt, dass wir es hier mit einer multikausalen Kette zutun haben, die zu diesen Erkrankungen führt. Auch dieEntstigmatisierung, eine bessere Kenntnis über dieseErkrankungen und natürlich auch das offene Umgehender Betroffenen selber mit dieser Krankheit führen dazu,dass man diesem Krankheitsbild heute anders entgegen-tritt.Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, mit denEingangssätzen genug des Lobes von mir. Die Vor-schläge, die Sie machen, halten wir in Gänze für nichtzielführend; ich erwähne beispielhaft das individuelleVetorecht, eine Kommission zur Umsetzung des Arbeits-schutzgesetzes, Meldepflicht.Wir haben durchaus Vertrauen in unsere Unterneh-men, in unsere Unternehmer und Unternehmerinnen,dass das Arbeitsschutzgesetz in den Betrieben angewen-det wird. Man sollte hier nicht immer das Negativ-beispiel nennen, auf das schwarze Schaf abzielen. In vie-len Betrieben wird mit den Arbeitnehmervertretungenzusammen sehr wohl, sehr gut und sehr konstruktiv andiesem Thema gearbeitet.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24309
Ulrich Lange
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Ich möchte auch ausdrücklich unterstreichen, dass ichdavon überzeugt bin, dass wir ein sehr gutes Arbeitszeit-gesetz haben und wir hier nicht über das Arbeitszeit-gesetz, Kollegin Krellmann, eingreifen sollten.Zum Betriebsverfassungsgesetz. Mit dieser Keule,mit der Sie schlagen, sind Sie bei einem alten Thema.Immer dann, wenn wir hier irgendetwas diskutieren,wollen Sie über das Betriebsverfassungsrecht Dinge re-geln, womit letztlich die Systematik dieses Gesetzes unddas Grundverständnis über die Stellung unserer Betriebeverändert würden. Sie wollen ein Mitbestimmungsrechtbei wirtschaftlichen Fragen und bei der strategischenAusrichtung.
Das betrifft nicht die Frage der psychischen Belastungam Arbeitsplatz, sondern zielt in Richtung einer grund-sätzlichen Veränderung unserer Wirtschaftsstruktur, dieSie damit erreichen wollen.
Solche Gesetze, liebe Kolleginnen und Kollegen,brauchen wir mit Sicherheit nicht. Vielmehr brauchenwir das Verständnis in den Betrieben.Ich will auf die Vorschläge der Grünen auch nur miteinem Satz eingehen: Es geht nicht darum, dem Problemmit mehr Verordnungen oder mehr Bürokratie, sondernmit konkreten Ansätzen in den Betrieben zu begegnen.Ich glaube, dass unsere Bundesregierung hier mitzahlreichen Initiativen über die Häuser hinweg auf demrichtigen Weg ist: ob es um die Initiative Neue Qualitätder Arbeit – hier schon mehrfach besprochen – geht, obes die Initiativen für mehr Familienfreundlichkeit undflexiblere Arbeitszeiten sind, ob es mit dem Ausbau vonKitas um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf geht, obes um die Initiative „Unternehmen unternehmen Gesund-heit“ aus dem Gesundheitsministerium für die betrieblicheGesundheitsförderung oder ob es um die schon genannteKoordinationsplattform Nationale Arbeitsschutzkonfe-renz geht.
Insgesamt gesehen sind wir hier auf einem gutenWeg, weil wir alle wissen, dass wir dem Problem nurüber eine ressortübergreifende Strategie
begegnen können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir von der Koali-tion wollen, dass der Erhalt der psychischen Gesundheitvon Beschäftigten Teil einer jeden Unternehmenskultur– ich unterstreiche das Wort „Unternehmenskultur“ –
und Teil unserer Gesellschaft wird und dass wir mitdiesem Thema offen umgehen. Helfen wir zusammen.Dann werden wir dieses Problem auch in den Griffbekommen.
Danke schön.
Herr Ernst hätte Ihnen gerne eine Frage gestellt, aberdas möchten Sie wohl nicht mehr zulassen.Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 17/11042 und 17/10867 an dieAusschüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tagesordnungfinden. – Damit sind Sie einverstanden. Das ist dann sobeschlossen.Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 9 auf:– Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszu dem Abkommen vom 21. September 2011zwischen der Bundesrepublik Deutschlandund der Schweizerischen Eidgenossenschaftüber Zusammenarbeit in den Bereichen Steu-ern und Finanzmarkt in der Fassung vom5. April 2012– Drucksache 17/10059 –Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-schusses
– Drucksache 17/11093 –Berichterstattung:Abgeordnete Olav GuttingMartin GersterHolger KrestelDr. Barbara HöllDr. Thomas Gambke– Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung– Drucksache 17/11096 –Berichterstattung:Abgeordnete Norbert BarthleCarsten Schneider Otto FrickeDr. Gesine LötzschPriska Hinz
Hierzu liegen ein Entschließungsantrag der Fraktionder SPD und ein solcher der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen vor. Am Ende der Beratung werden wir über die-sen Gesetzentwurf namentlich abstimmen.
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24310 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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Es ist vorgesehen, eine Dreiviertelstunde zu debattie-ren. – Dazu sehe und höre ich ebenfalls keinen Wider-spruch.Ich eröffne die Aussprache und gebe dem KollegenOlav Gutting für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen!Meine Herren! Wir stimmen heute über den Gesetzent-wurf zum Deutsch-Schweizer Abkommen über dieZusammenarbeit im Bereich Steuern ab.In den Beratungen wurde immer wieder der Vorwurferhoben, dieses Abkommen sei ungerecht; vor allemseien die Steuersätze zu gering. Allerdings ist dieseBehauptung bei nüchterner Betrachtung nicht haltbar.Die Steuersätze liegen im Bereich zwischen 21 und41 Prozent. Diese beziehen sich wohlgemerkt auf dasKapitalvermögen, also nicht auf die Erträge, sondern aufdie Substanz, und zwar auch dann, wenn die Steueran-sprüche eigentlich bereits verjährt wären.Natürlich kann man sich bei einem solchen Abkom-men immer wieder Einzelfälle in der Theorie denken,bei denen man auf individuelle Steuersätze kommt, diein der Tat nicht ganz befriedigen können. Man muss aberimmer bedenken: Wir haben es hier mit einem Abkom-men zu tun, das nicht im luftleeren Raum entstanden ist,sondern zwischen zwei souveränen Staaten ausgehandeltwurde.
Wie immer bei Verhandlungen zwischen gleichstarken Partnern gibt es nicht nur Weiß und Schwarz,sondern Kompromisse. Kompromisse bedeuten auchGrautöne. Es ist eben nicht so, dass wir uns in der Regie-rungskoalition das einfach nur ausgedacht und aufge-schrieben haben, sondern das, was heute vorliegt, ist dasErgebnis von langwierigen, zähen, am Ende aber erfolg-reichen Verhandlungen mit der Schweiz.
Wir werden jetzt gleich in der weiteren Debatte erle-ben, wie die Opposition über dieses Abkommen her-zieht. In dieser Diskussion muss man deshalb schonauch einmal erwähnen, dass die rot-grüne Bundesregie-rung, als sie noch in Amt und Würden war, ein Steuer-amnestiegesetz vorgelegt hat, mit dem den Steuersün-dern weltweit ein Discountsteuersatz von 15 Prozent undStraffreiheit angeboten wurden. Wir sprechen heute überein Abkommen mit Steuersätzen, die fast dreimal sohoch liegen wie der von Ihnen mit 15 Prozent gesetzteStandard. Hier muss man sich schon einmal überlegen,ob man sich an der einen oder anderen Stelle vielleichtein bisschen zurücknehmen sollte.Wie immer in der Politik muss man sich, wenn manKompromisse eingehen muss, die Frage stellen: Wie istdie Situation jetzt und heute, und wie ist sie mit diesemAbkommen in der Zukunft?
Die Situation jetzt ist die: Die Besteuerung von deut-schem Vermögen in der Schweiz erfolgt nur auf freiwil-liger Basis oder eben aufgrund von Zufallserkenntnissenim Zusammenhang mit den Ankäufen von Steuer-CDs.Ich glaube, damit werden wir dem Gleichheitsgrundsatznicht gerecht. Ich denke, wir sind uns in diesem Hausezumindest diesbezüglich einig, dass das nicht demGrundsatz gleicher Besteuerung entspricht.Dass das Modell der CD-Ankäufe auch in Zukunftnicht funktioniert, sollte eigentlich bei allen hier Kon-sens sein.
Diese CD-Ankäufe können kein Zukunftsmodell sein.
Nun zum Vergleich mit der Situation in der Zukunft:Mit diesem Steuerabkommen ist zukünftig sichergestellt,dass die Besteuerung erstmals überhaupt in einer gleich-mäßigen Weise durchgeführt wird.
Die Steuer auf die Geldanlagen in der Schweiz bildet inZukunft genau das ab, was auch in Deutschland durch-geführt wird, nämlich die anonyme Quellenbesteuerung.Genau das Gleiche, was wir in Deutschland haben, wer-den wir zukünftig auch in der Schweiz haben. Diese ano-nyme Quellenbesteuerung wurde im Übrigen von einemFinanzminister der SPD, Ihrem heutigen Kanzlerkandi-daten, eingeführt. Es tut mir leid: Ich kann nicht erken-nen, dass das, was in Deutschland rechtmäßig ist, in derSchweiz unrechtmäßig sein soll.Zu der Höhe der Einnahmen. Nun, was die Höhe derEinnahmen aus diesem Abkommen anbelangt, da be-steht zugegebenermaßen ein gewisses Maß an Unsicher-heit. Wenn wir die exakte Summe dessen kennen wür-den, was in der Schweiz an unversteuerten Vermögenliegt, dann bräuchten wir dieses Abkommen nicht. Wirwissen es nicht. Trotzdem halte ich es für plausibel, fürnachvollziehbar und realistisch, dass wir mit Einnahmenvon circa 10 Milliarden Euro für die Nachversteuerungrechnen können und danach dann jährlich mit einemAufkommen in Höhe eines dreistelligen Millionenbetra-ges;
das ist Geld, das unsere Kommunen und die Länder drin-gend brauchen.Ich weiß wirklich nicht, wie Sie von der Oppositionsich das vorstellen. Was sind denn die Alternativen zudiesem Abkommen?
Ist es denn etwa gerecht, dass wir es mit dem Ankaufvon CDs vom Zufall abhängig machen, ob eine Besteue-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24311
Olav Gutting
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rung von Vermögensanlagen in der Schweiz stattfindetoder nicht? Ich glaube das nicht. Bei denjenigen, die un-ehrlich sind und die nicht durch Zufall erwischt werden,verjähren nämlich zwischenzeitlich die Steueransprüchemunter weiter, Jahr für Jahr. Mit jedem Jahr, in dem die-ses Steuerabkommen von Ihnen aus parteitaktischen Grün-den blockiert wird, verliert der deutsche Staat, verlierendie deutschen Bürgerinnen und Bürger Steueransprücheim Milliardenbereich.
Wenn Sie weiter im Bundesrat blockieren, wie Sie dasschon angekündigt haben, dann werden Sie auf abseh-bare Zeit gar nichts haben.
Wer die Stimmung in der Schweiz aufmerksam verfolgthat, dem dürfte nicht entgangen sein, dass es keine neuenVerhandlungen geben wird. Die Schweiz wird sich ebennichts diktieren lassen. Ihre Ministerpräsidenten Beckund Kretschmann waren erst vor kurzem in der Schweiz.Seit sie dort waren und die Lage sondiert haben, ist esum sie relativ still geworden.Ich kann Ihnen abschließend nur raten: Erkennen Siean, dass wir heute mit diesem Abkommen einen Zwi-schenschritt erreicht haben. Das ist nicht das Abkommenfür alle Zeiten, sondern das ist die Basis für weitere Ver-handlungen, die wir heute abschließen können.
Erlauben Sie mir noch eine Empfehlung zum Ab-schluss an Sie in der Opposition.
Herr Kollege.
Ich möchte Ihnen raten: Klettern Sie nicht allzu hoch
auf die Bäume; denn Sie werden bei diesem Abkommen
ziemlich bald wieder heruntersteigen müssen.
Für die SPD-Fraktion hat Joachim Poß jetzt das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Stimmung in der Schweiz war jedenfalls nach derersten Paraphierung des Abkommens glänzend. Da ha-ben die Champagnerkorken geknallt, Herr Kollege Gutting.
Das hatte seine Gründe:
Ihr Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hat sichnämlich mit diesem Abkommen zum Komplizen einerfragwürdigen Weißgeldstrategie der Schweiz und derSchweizer Banken gemacht.
Auch nach intensiven Beratungen, Gesprächen mitPraktikern, Finanzbeamten, Kriminalbeamten, nach derAnhörung der Sachverständigen ist die Beurteilung derSPD eindeutig: Dieses Abkommen muss aus Gründender Steuergerechtigkeit und aus vielen anderen Gründenabgelehnt werden.
Es bringt für den deutschen Rechtsstaat und die ehrli-chen deutschen Steuerzahler mehr Nachteile als Vorteile.
Das kann belegt werden.
Dieser Vorgang ist im Übrigen, Herr Kauder, für michein Präzedenzfall, wie ernst es diese Bundesregierung imKampf gegen die Steueroasen meint,
die auszutrocknen Sie bei den G-20-Konferenzen ver-sprochen haben.
Mit bilateralen Abkommen dieser Qualität kommt mannicht gegen die Steueroasen und deren Wirksamkeit an.
Dieses Abkommen würde eine wirksame europäischeStrategie gegen Steuerhinterziehung auf Jahre verzö-gern, wenn nicht ganz unterlaufen. Dieses Abkommenist deshalb ein Hindernis im weiteren Kampf gegen dieSteueroasen.
– Herr Kollege Michelbach, Sie kennen sich in der Ge-schäftswelt doch gut aus.
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24312 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Joachim Poß
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Mit dem vorliegenden Abkommen werden auch zu-künftig unversteuerte Gelder aus Deutschland unent-deckt in die Schweiz fließen.
Die mit dem Abkommen verbundene Legalisierungvon Steuerkriminalität bei fortbestehender Anonymitätkönnen wir nicht akzeptieren. Kollege Gutting, das istder Unterschied. Was zu Zeiten von Hans Eichel ge-macht wurde, war von den Steuersätzen her bescheiden,wie Sie es zu Recht geschildert haben. Die Betreffendenmussten aber, anders als beim vorliegenden Abkommen,sozusagen die Hosen herunterlassen. Die Anonymitätwurde aufgehoben. Sie wollten in die Steuerehrlichkeitzurück. Nach Ihren Vorstellungen können sie jedoch inder Steuerunehrlichkeit verbleiben. Es sind nicht nurSteuersünder, sondern auch Kriminelle ganz anderer Art,die im Schutz der Anonymität verbleiben wollen.
Die USA geben sich mit diesen Qualitäten und Stan-dards nicht zufrieden. In diesem Fall sollten wir denUSA beipflichten, was deren Standards angeht. Die USAgeben sich jedenfalls nicht mit der Anonymität zufrie-den.Es gibt eine Alternative – warum beschreiten Sienicht diesen Weg, Herr Schäuble? –, die besser ist undfür die Sie – dies gilt für die gesamte Koalition – eigent-lich kämpfen müssten. Das ist der umfassende automati-sche Informationsaustausch, der auch die Aufdeckungunbekannter Steuerfälle ermöglicht.Herr Schäuble, Sie haben aber von vornherein dasZiel verfolgt, überhaupt zu einem Abkommen zu gelan-gen. Deshalb haben Sie die Position der Schweizer Re-gierung und der Schweizer Banken weitgehend über-nommen.
Deutschland ist der wichtigste Wirtschaftspartner derSchweiz.
Daher frage ich: Vor diesem Hintergrund sollte nichtmehr zu erreichen gewesen sein? Die Schweiz verfolgtdoch eigene Interessen. Sie will auch bei uns wirtschaft-lich tätig sein, wie sie auch in den USA wirtschaftlich tä-tig sein will. Darauf haben die USA Bezug genommen.Es gibt auch keine Entwicklungen in neuerer Zeit, diedas Abkommen akzeptabler machen würden. Weder dasvon Ihnen gefeierte neue DoppelbesteuerungsabkommenDeutschlands mit Singapur, das im Übrigen noch garnicht unterzeichnet worden ist, noch die mögliche Zulas-sung von Gruppenanfragen durch die Schweiz behebendie großen Lücken im vorliegenden Abkommen.
Was sind also die Hauptpunkte, die einzuwendensind? Die Legalisierung der Steuerhinterziehung beifortbestehender Anonymität ist ein ganz wichtigerPunkt. Die pauschale Einmalzahlung hebt im Kern aufdie über die Jahre unversteuerten Kapitalerträge ab undberücksichtigt deshalb nicht wirklich, dass die in derSchweiz angelegten und jetzt nachversteuerten Vermö-gen oftmals bereits das Ergebnis von Steuerhinterzie-hung sind. Das ist ein Sachverhalt, den der nordrhein-westfälische Finanzminister zu Recht stark betont.
Dies alles ist und bleibt ein Schlag ins Gesicht allerSteuerehrlichen.
Vermögenswerte können trotz Abkommen über Fami-lienstiftungen, Trusts oder Schließfächer anstelle vonKonten und Depots leicht und legal der Besteuerung ent-zogen werden. Steuerpflichtige können ihre Konten undDepots bis zum Jahresanfang 2013 auflösen und die Ver-mögenswerte unerkannt und sanktionslos aus der Schweizin Drittländer abziehen. Insofern ist das vorliegende Ab-kommen wie ein Schweizer Käse.Wie so die 10 Milliarden Euro, von denen oft dieRede ist, für den deutschen Fiskus zustande kommensollen, mit denen Sie werben, das weiß allein der liebeGott. Belastbar sind diese Zahlen jedenfalls nicht. Dasalles spricht dafür, dass wir dieses Abkommen im Deut-schen Bundestag ablehnen. Meine Parteifreunde und, ichdenke, auch die Parteifreunde der Grünen werden dasauch im Bundesrat machen.
Das Wort hat der Kollege Dr. Volker Wissing für die
FDP-Fraktion.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Lieber Kollege Poß, ich finde es nichtschlimm, dass Sie die Meinung vertreten, die Sie hiervorhin kundgetan haben. Schlimm finde ich aber, dassSie das wider besseres Wissen tun.
Dieses Abkommen regelt zwei Bereiche: zum einengeht es um die Altfälle, und zum anderen schafft es eineLösung für die Zukunft.Es ist nicht richtig, dass bei den Altfällen nur die Ka-pitalerträge besteuert werden, sondern es wird die ge-samte Vermögenssubstanz, das heißt die Summe, die
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Dr. Volker Wissing
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sich auf dem Konto befindet, in vollem Umfang besteu-ert, also das gesamte Anlagevermögen und die Kapital-erträge.
Das wissen Sie auch. Dass Sie das Gegenteil behauptethaben, finde ich nicht in Ordnung; denn die Menschenwollen zu Recht, dass wir mit dem Thema Steuerhinter-ziehung und der Bekämpfung von Steuerhinterziehungseriös und sachlich umgehen.Wer wider besseres Wissen behauptet, nach dem Ab-kommen würden nur Kapitalerträge, aber keine Vermö-genssubstanz besteuert, der leistet keinen Beitrag zursachlichen Auseinandersetzung mit dem wirklich erns-ten Problem.
Herr Kollege Poß, Sie haben eben gesagt, es gebeeine Alternative auch für die Altfälle, indem man übereinen vollständigen Informationsaustausch mit derSchweiz verhandelt.
Sie wissen, dass auch das nicht wahr ist; denn dieSchweiz ist ein Rechtsstaat wie die BundesrepublikDeutschland auch. Wir haben eine Verfassung, die ver-bietet, dass man Gesetze rückwirkend ändern kann. Die-ses Prinzip des Rückwirkungsverbotes nach unseremdeutschen Grundgesetz nehmen wir alle im DeutschenBundestag sehr ernst.Ich finde, es ist eine Frage des Respekts vor Abgeord-neten anderer Parlamente, in diesem Fall vor denSchweizer Kollegen, anzuerkennen, dass sie das Rück-wirkungsverbot in ihrer Verfassung ebenso ernst nehmenwie wir. Deswegen sagen wir ganz klar: Es ist nichtwahr, dass es eine Alternative für die Altfälle gibt. DasRückwirkungsverbot gilt in Deutschland wie in derSchweiz. Deswegen sollten Sie sich endlich von IhrerScheinlösung verabschieden und sich den konkretenProblemen zuwenden. Sie haben keine Lösung für dieAltfälle – wir haben heute eine in Gesetzesform.
Auch das verbale Aufrüsten gegenüber der Schweiz,dass man die Kavallerie dorthin schicken will oder dieSchweiz in die Nähe der Kriminalität rückt,
wie Sie es eben gemacht haben – Sie haben gesagt, dieSchweiz verfolge mit ihrer Weißgeldstrategie irgendwel-che kriminellen Ziele und man mache sich zum Kompli-zen; das alles waren Ihre Worte –, ist kein seriöser Bei-trag zur Lösung des ernsten Problems der Steuerhinter-ziehung; denn Sie wissen, dass das alles nicht wahr ist.Was das Problem in der Zukunft angeht, ist in demAbkommen klar geregelt, dass die Kapitalerträge in derSchweiz in Zukunft ebenso besteuert werden wie inDeutschland. Jetzt muss ich alle Bürgerinnen und Bürgerfragen: Finden Sie es gerecht, dass man auf Kapitaler-träge in der Schweiz genauso viel Steuern zahlt wie inDeutschland? Wir finden das gerecht, und deswegenwollen wir dieses Gesetz.
Warum sind Sie dagegen? Wenn Sie dazu etwas ge-sagt hätten, wären wir einen Schritt weiter; denn dieAnonymität gilt bei den Kapitalerträgen in Deutschlandgenauso wie in der Schweiz.
Also gibt es auch da keinen Unterschied. Deswegen soll-ten wir, finde ich, den Menschen sagen, dass dieses Ab-kommen ein Problem löst, und zwar mit maximaler Ge-rechtigkeit: gleiches Steuerrecht für Deutsche in derSchweiz wie in Deutschland. Was will man denn nochmehr erreichen? Warum wollen Sie denn die Kavallerieausrücken lassen, wenn Ihnen so ein gutes Abkommenvorliegt?
Deswegen: Wir brauchen dieses Abkommen. Ichfinde es hervorragend, dass Sie, Herr Minister Schäuble,in Verhandlungen mit der Schweiz auch erreicht haben,dass es Gruppenanfragen gibt, dass für die Zukunft mehrKontrollmöglichkeiten geschaffen werden und dassSteuerhinterziehung über die Schweiz der Vergangenheitangehört, sobald dieses Abkommen in Kraft tritt. Das istauch Ihr Verdienst. Wir wissen, dass Sie sich sehr darumbemüht haben. Deswegen auch ein ganz herzliches Dan-keschön vom Deutschen Bundestag an Sie persönlich,Herr Minister Schäuble, für dieses hervorragende Ver-handlungsergebnis im Sinne der Steuergerechtigkeit.
Meine Damen und Herren, die Steuerhinterziehung istnicht nur ein Problem mit der Schweiz, sondern auch mitanderen Ländern. Dass Sie, Herr Minister Schäuble,auch mit anderen Steueroasen auf der Welt Gesprächeführen, um das System der Steuerhinterziehung durchmangelnden Informationsaustausch und fehlende Steuer-abkommen systematisch zu schließen, sind wir denMenschen schuldig, die in Deutschland ehrlich ihreSteuern zahlen. Fair ist ein Staat nur dann, wenn ergleichmäßig Steuern erhebt.Jetzt komme ich zu Ihren Steuer-CDs. Sie sagen ge-nauso wie wir: Der Staat soll seinen Steueranspruchgleichmäßig durchsetzen. Die Frage ist aber: Schafftman das mit ordentlichem Recht und guten Gesetzen wiemit dem Gesetzentwurf, den wir vorgelegt haben,
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Dr. Volker Wissing
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oder schafft man das durch Kooperation mit Kriminel-len, die in ihren Heimatländern gegen Datenschutzbe-stimmungen und ihre arbeitsrechtlichen Pflichten versto-ßen und Daten von Bürgerinnen und Bürgern entwenden,um sie an den deutschen Staat zu veräußern?Nun können wir lange diskutieren, ob solche Daten-ankäufe nach deutschem Recht möglich sind oder nichtmöglich sind. Wir können lange darüber diskutieren, obdas im Strafprozess verwertbar ist oder nicht. Die Recht-sprechung des Bundesgerichtshofs spricht dafür, dass eseine Verwertbarkeit gibt. Aber was Sie nicht wegdisku-tieren können, ist, dass es eines Rechtsstaats – für michist und bleibt die Bundesrepublik Deutschland einRechtsstaat – unwürdig ist, den eigenen Steueranspruchnur durchsetzen zu können, indem man mit Kriminellenin anderen Staaten kooperiert.
Was Sie den Menschen, die in Deutschland ehrlichSteuern zahlen, auch sagen müssen, ist, dass das Geld,das Sie den Datendieben in der Schweiz bezahlen, vonden deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern er-wirtschaftet werden muss.
Ich bin nicht der Meinung, dass die Deutschen Steuernzahlen sollen, damit der Staat mit den SteuereinnahmenKriminelle im Ausland finanziert, sondern ich erwarteein konsistentes, rechtsstaatlich einwandfreies Steuer-recht und saubere Doppelbesteuerungsabkommen, damitOrdnung und Recht und Klarheit und Fairness und Ge-rechtigkeit im Steuersystem herrschen.
Das ist ein gutes Abkommen, weil es ein Beitrag zurechtsstaatlichem Steuervollzug ist.
Es ist ein gutes Abkommen, weil es die Altfälle abarbei-tet und besteuert und dabei die Möglichkeiten maximalausschöpft. Und es ist ein gerechtes und gutes Abkom-men, weil für die Zukunft gleiches Steuerrecht für Deut-sche in der Schweiz wie in Deutschland gilt. Deswegenfinde ich es richtig, wenn Kollege Gutting sagt: RüstenSie bei diesem Thema ab! Hören Sie auf, den Menschenzu erklären, dass es eine Alternative gibt! Diese Alterna-tive wird von Ihnen schlicht und einfach nur erfunden.Sagen Sie den Menschen doch die Wahrheit, nämlichdass man mit den Altfällen nicht mehr anders umgehenkann als so und dass die Alternative zu diesem Abkom-men keine gerechtere Besteuerung ist –
Herr Kollege.
– ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin –, son-
dern dass die Alternative zu diesem Abkommen die Ver-
jährung für alle Zeit ist! Das ist die ungerechteste Va-
riante gegenüber den ehrlichen Steuerzahlerinnen und
Steuerzahlern.
Deswegen: Denken Sie noch einmal darüber nach!
Stimmen Sie dem Abkommen zu! Es ist das beste, was
mit der Schweiz jemals ausgehandelt worden ist.
Die Kollegin Dr. Barbara Höll hat jetzt das Wort für
die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Wissing, das war ja mal wieder ein Tiefpunkt.
Wenn man seine Politik ständig als alternativlos darstelltund Alternativen nicht mehr wahrnimmt, ist man in derPolitik wirklich überflüssig; denn Politik ist der Kampfum Alternativen, um verschiedene Lösungsmöglichkei-ten.
Herr Schäuble erklärte vorgestern, der weitere Ankaufvon Steuer-CDs sei keine Alternative zu einer vernünfti-gen gesetzlichen Regelung. Ich finde, dem kann man zu-stimmen. Hätten Sie doch eine vernünftige Regelung vor-gelegt! Aber Ihr Vorschlag ist einfach ein Geschenk fürSteuerbetrüger, für die Schweizer Finanzindustrie undeine Einladung zu organisierter Steuerkriminalität, und eswiderspricht dem, was wir hier in Sachen Schwarzgeld-bekämpfung versucht haben. Das ist ein Schlag gegen alldiese Bemühungen.
Sie sagen einfach: Entweder dieses schlechte Abkom-men oder gar keines. – Nein, die Alternative ist: entwe-der ein Abkommen oder automatischer Informationsaus-tausch.
Um das einmal zu erklären: Der automatische Informa-tionsaustausch ist das effektivste Mittel, um Steuerhin-terziehung wirklich zu bekämpfen. Das heißt einfach,dass zwischen den Ländern vereinbart wird, dass steuer-relevante Daten wie Person, Vermögenswerte, Erträge,Kontodaten automatisch zwischen den Finanzbehördender Länder ausgetauscht werden.Wenn Sie jetzt dieses Abkommen beschließen, ver-hindern Sie vor allem auf internationaler Ebene und inder EU den weiteren Kampf um diesen automatischenInformationsaustausch; und das ist ein großer Skandal.
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Dr. Barbara Höll
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Es ist doch völlig klar: Wir sind die größte Volkswirt-schaft in Europa. Wenn wir jetzt hier klein beigeben, hatkein anderes Land in der Europäischen Union überhauptnur den Hauch einer Chance, mit der Schweiz einen au-tomatischen Informationsaustausch zu vereinbaren.Dass es anders geht, das haben die USA bewiesen.
Da gelten jetzt solche Bedingungen, dass de facto ein au-tomatischer Informationsaustausch besteht. Es geht alsoanders.Es ist nachgewiesen, dass heute schon zum BeispielÖsterreich mit Hinweis auf die Unterzeichnung des Ab-kommens Deutschland/Schweiz sagt: Wir werden uns ander weiteren Erarbeitung der europäischen Zinsrichtlinie– hin zum automatischen Informationsaustausch – nichtmehr beteiligen. – Damit behindern Sie wirklich denKampf gegen Steuerhinterziehung. Das wirft uns umJahre zurück. Auch das ist ein Grund, warum wir diesesAbkommen ablehnen.
Wenn Sie sich einigermaßen bemüht hätten, hätte sichdas auch in der Anhörung im Finanzausschuss wider-spiegeln müssen. Sie haben zu der Anhörung im Finanz-ausschuss interessanterweise vor allem Vertreter derSchweizer Finanzindustrie eingeladen, nämlich vonUBS, SwissBanking und dem Eidgenössischen Finanz-departement.
Frau Höll, Herr Wissing würde Ihnen gerne eine Zwi-
schenfrage stellen.
Ja.
Bitte schön.
Frau Kollegin, Sie haben eben gesagt, dass die
Schweiz mit den USA einen automatischen Informa-
tionsaustausch vereinbart hat.
Nein.
In der Öffentlichkeit wird immer wieder behauptet,
mit den USA seien weitergehende Informationsabkom-
men getroffen worden als mit der Bundesrepublik
Deutschland.
Nun hat der Finanzausschuss eine Anhörung mit vie-
len Sachverständigen durchgeführt. Sind Sie bereit, zur
Kenntnis zu nehmen, dass alle Sachverständigen gegen-
über dem Deutschen Bundestag bestätigt haben, dass das
Abkommen mit den USA, was den Datenaustausch an-
geht, nicht über das hinausgeht, was wir zwischen
Deutschland und der Schweiz ausgehandelt haben?
Danke für die Frage. – Nach den weiteren Beratungenim Finanzausschuss habe ich sowieso den Eindruck,dass wir in verschiedenen Anhörungen saßen; davon ein-mal ganz abgesehen.
Klar ist: Ich habe hier nicht gesagt, dass ein automati-scher Informationsaustausch vereinbart wurde. Ich habesoeben gesagt, dass die Kriterien für die Auskünfte mas-siv abgesenkt wurden. Dadurch wird faktisch erzwun-gen, dass es zu einem Informationsaustausch kommt, derzwar noch kein automatischer Informationsaustausch ist,der aber kurz davor ist, einer zu sein. Und das, finde ich,kann man auch tatsächlich zur Kenntnis nehmen.Wir sollten uns wirklich einmal mit den Meinungender Sachverständigen in der Anhörung beschäftigen. Ichhabe mir extra einmal einige Zitate herausgesucht. HerrThomas Eigenthaler von der Deutschen Steuergewerk-schaft sagte – Zitat –: „Wir lehnen das Abkommen ab.“Er verweist auf Art. 108 des Grundgesetzes mit der ent-sprechenden Vorschrift, wonach für den Vollzug vonSteuergesetzen nun einmal die Finanzbehörden zustän-dig sind. Das gilt ja wohl noch. Aber was machen Sie indem Abkommen? Sie übertragen die definitive Besteue-rung, die abschließende Besteuerung an Banken in derSchweiz, Banken, die jahrelang mit dem Geschäftsmo-dell „Schweizer Bankgeheimnis“ Geld verdient haben.
Sie haben jetzt auf einmal das Grundvertrauen, dassdiese Banken die Vorreiter bei der Bekämpfung derSteuerhinterziehung sind. Das ist doch einfach Augenwi-scherei.
Herr Eigenthaler kritisiert das geplante Verbot von CD-Käufen, weil er sagt: Das ist natürlich eine massive Be-hinderung der Steuerfahnder.Die vereinbarte Zahl von 1 300 Anfragen, die diedeutschen Finanzbehörden innerhalb von zwei Jahren andie Schweizer stellen dürfen, ist einfach aus der Luft ge-griffen. Das wird kein wirksames, effektives Mittel sein.Ich verweise auf Markus Meinzer vom Netzwerk fürSteuergerechtigkeit. Er verwies auf die Behinderung derEU-Zinsrichtlinie, weil sich, wie ich es eben gesagthabe, Österreich und Luxemburg schon jetzt darauf be-rufen, dass Deutschland dieses Steuerabkommen ab-schließen will. Er hat auch auf den hohen Verwaltungs-aufwand verwiesen, der mit dem Abkommen verbundenist, weil in weiteren Verhandlungen die Staaten jeweils
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bilaterale Abkommen abschließen müssen, wenn eskeine EU-einheitliche Zinsrichtlinie gibt.Professor Grinberg von der Georgetown Universitysagte, die Ratifizierung des Abkommens sei ein Rück-schlag für die deutschen Bemühungen, die Steuerfluchtdeutscher Staatsbürger mittels ausländischer Konten zubekämpfen.Das alles sind Aussagen der Sachverständigen.Sebastian Fiedler vom Bund Deutscher Kriminalbe-amter hatte eine klar ablehnende Haltung. Das muss icheinfach zitieren:Es führt dazu, dass diese Gelder nach wie voranonym bleiben. Und das ist im Grunde das, wasuns in der Tat sehr schockiert hat. … Wir erkenneneine gewisse Beratungsresistenz der Bundesregie-rung.
„Gewisse Beratungsresistenz“ – das ist sehr freund-lich formuliert. Aber klar ist – darauf hat er hingewie-sen –, dass alles das, was intern auf Selbstregulierungs-maßnahmen hinausläuft, immer nur ein Feigenblatt ist.Die Schweizer Banken haben im Rahmen ihrer Bera-tung Bürgerinnen und Bürger angeschrieben, die bei ih-nen Konten haben, dass sie das Geld pauschal nachver-steuern können und dafür anonym bleiben. Das heißt,das ist wirklich ein Ablasshandel. Also, ich habe krimi-nelle Energie entwickelt – – Ich nicht!
Wenn man kriminelle Energie entwickelt hat und Geldschwarz in die Schweiz verbracht hat, besteht nun dieMöglichkeit einer pauschalen Nachbesteuerung mit21 Prozent. Das wird bei den meisten zum Tragen kom-men. Das ist oftmals weniger, als man bei einer norma-len Besteuerung zahlen müsste. Hinzu kommt: Ichbleibe anonym. Ich entziehe mich dem Zugriff für diesekriminellen Handlungen und bekomme einen Persil-schein. Ich frage mich wirklich, wo wir leben. HerrWissing, Sie haben eben die Rechtsstaatlichkeit hochge-halten. Das hat nichts mit Rechtsstaatlichkeit zu tun.
Das zu der Nachbesteuerung.Wir lehnen natürlich auch ab, dass Sie nichts tun, umMöglichkeiten für zukünftige Steuerhinterziehungen, diedie Schweizer Banken schon wieder aufgezeigt haben,zu beseitigen. Wenn man einen Trust oder eine Stiftungin Luxemburg oder Liechtenstein gründet und diese voneiner Schweizer Bank verwalten lässt, dann bleibt es da-bei, dass dem Staat das Geld entzogen wird.
Frau Kollegin.
Mein letzter Satz. – Wir reden hier über Bürgerinnen
und Bürger, die über sehr hohe Einkommen verfügen
und sich ihrer Pflicht entziehen, entsprechend ihrer wirt-
schaftlichen Leistungsfähigkeit etwas zum Gemeinwe-
sen beizutragen.
Frau Kollegin.
Ich frage mich, warum Sie dafür so viel Kraft aufwen-
den. Wir lehnen das Abkommen konsequent ab.
Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort der KollegeDr. Gerhard Schick.
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Dieses Abkommen geht sowohl beim Umgangmit der Vergangenheit als auch beim Weg in die Zukunftin die falsche Richtung.
Was die Vergangenheit angeht: Es ermöglicht eineAmnestie ohne Aufdeckung; das heißt, es wird einMantel des Schweigens nicht nur über die Steuerhinter-ziehung, sondern auch über damit verbundene Straftatengelegt, weshalb nicht nur die Steuerbehörden, sondernauch Experten aus dem Bereich der Justizverwaltung sa-gen: Das darf nicht passieren.Was die Zukunft betrifft: Es wird mit der Abgeltung-steuer etwas festgelegt, was schon in Deutschland unge-recht ist. Ist es denn gerecht, dass man Kapitalerträge,die insbesondere Menschen mit sehr hohen Einkommenhaben, mit einem niedrigeren Satz besteuert als Arbeits-erträge? Nein, das ist ungerecht, und es wäre falsch, dasüber das Schweizer Steuerabkommen für die Zukunftfestzuschreiben.
Stellen wir einmal die Frage: Wem nützt eigentlichdas Abkommen? Wie ist die Situation mit und wie ist dieSituation ohne Abkommen? Es ist interessant, welcheEinschätzungen wir aus der Schweiz erhalten können.Ich zitiere aus dem Tagesspiegel vom 10. Oktober denLeiter des German Tax and Legal Center der KPMG AGin Zürich: Ohne Steuerabkommen wird der Druck aufSteuerhinterzieher in der Schweiz größer werden. – Ichzitiere Herrn Odier, den Präsidenten der Schweizeri-schen Bankiervereinigung:Sollte das Abkommen scheitern, „müssten die Kun-den mit erhöhter Unsicherheit rechnen. …“
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Dr. Gerhard Schick
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Ja, dieses Abkommen schafft Sicherheit für Steuerhin-terzieher statt Unsicherheit. Und das ist falsch.
Sie verwirklichen im Endeffekt die Strategie derSchweizerischen Bankiervereinigung. Angesichts desDrucks, der nach der Aufdeckung der skandalösen Steu-erhinterziehungsfälle aufgebaut worden ist, hat man inder Schweiz überlegt: Wie können wir diesem Druckstandhalten? Was können wir dem entgegensetzen? –Die Idee war: Wir schaffen eine Abgeltungsteuer. Siekönnen das sehr genau in der Publikation der Schweize-rischen Bankiervereinigung, Faktenblatt Steuerabkom-men 2012, nachlesen. Dort heißt es:Um das zu verhindern, hat die Schweiz ein eigen-ständiges Gegenkonzept entwickelt: die Abgel-tungssteuer.Es soll damit genau das erreicht werden, was nicht imInteresse aller ehrlichen Steuerzahler sein kann. Ich zi-tiere wieder:Das bewahrt die Privatsphäre der Bankkunden.Also das Bankgeheimnis.Und da machen wir Grüne nicht mit; denn nur die Of-fenlegung gegenüber dem Finanzamt stellt sicher, dasses eine faire Besteuerung für alle gibt.
Das Schöne ist: Sie haben uns ja demonstriert, wemdieses Abkommen nutzt. Von den 18 Sachverständigen,die Stellung genommen haben, hat sich die Mehrheit ge-gen dieses Abkommen ausgesprochen – und das, obwohlSie die Mehrheit benennen konnten –, und nur eine Min-derheit von sieben Sachverständigen war dafür. Von diesensieben kamen vier aus der Schweiz.
Und welche Sachverständigen aus der Schweiz warendas? Das war zunächst ein Vertreter der UBS, des größ-ten Vermögensverwalters, der mit üblen Steuerhinterzie-hungsfällen und Fällen von Beihilfe zur Steuerhinterzie-hung in den USA, in Frankreich, in der Schweiz und inDeutschland in Verbindung gebracht wird. Das war dieCredit Suisse, das waren die Schweizerische Bankierver-einigung sowie ein Vertreter der Schweizer Regierung.Das sind die Sachverständigen, die der Meinung sind,dass dieses Steuerabkommen gut sein soll.
Ich glaube, das ist Beweis genug.
Interessant ist auch, wen Sie befragt haben: Von16 Fragen der Koalitionsfraktionen gingen 10 Fragen andie Vertreter aus der Schweiz, die in ihren Antworten he-rausgearbeitet haben, dass dieses Abkommen nicht denehrlichen deutschen Steuerbürgern nutzt.
Danke, dass Sie das so deutlich gemacht haben.
Ich will noch einen weiteren Punkt ansprechen, dersehr wichtig ist, wenn man das Wesen der Steuerhinter-ziehung erfassen will. Ein Großteil der Steuerhinter-ziehung läuft heute nicht mehr so wie früher ab, dasseinfach jemand mit einem Köfferchen eine Grenze über-quert – also bilateral –,
sondern es handelt sich häufig um Konstruktionen, diemehrere Staaten berühren. Mal sind es die Schweiz undLiechtenstein, mal sind es die Schweiz und Panama etc.Deswegen muss jeder rein bilaterale Ansatz zwangsläu-fig zu Problemen führen.Deswegen ist es ein strategischer Fehler, HerrSchäuble, dass Sie die jahrelange produktive Zusam-menarbeit zwischen Deutschland und Frankreich aufdiesem Gebiet beendet haben, die Ihre beiden Amtsvor-gänger erfolgreich betrieben haben – im Rahmen der Eu-ropäischen Union durch das Vorantreiben der Zinssteu-errichtlinie und im Rahmen der OECD –, und uns jetztauf einem bilateralen Weg in die Sackgasse führen.
Ich zitiere dafür den Vertreter aus den USA, der beider Anhörung dabei war:Für Deutschland und die EU insgesamt wird es …schwieriger werden, Druck auf andere Rechtsge-biete auszuüben, sich am automatischen Informa-tionsaustausch zu beteiligen, sobald Deutschlandmit der Schweiz eine anonyme Abgeltungssteuervereinbart hat.
Herr Kollege!
Das zeigt genau: Der von Ihnen gewählte bilaterale
Ansatz führt in die Irre. Wir brauchen einen europäi-
schen Ansatz gegen die Steuerhinterziehung.
Das Wort für die Bundesregierung ergreift der Bun-desminister Dr. Wolfgang Schäuble.
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Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-zen:Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Ich möchte zunächst darum bitten, dass wir in einer Zeit,in der in Europa vielfältige Diskussionen geführt wer-den, in der Art, wie wir unsere nationalen politischenDebatten führen, immer daran denken, dass unsere Part-ner in Europa einen Anspruch darauf haben, dass wir mitRespekt über sie reden.
Es schadet Deutschland und es schadet Europa,
wenn wir bloß aus innenpolitischen Gründen in einerWeise über andere reden, die unerträglich ist.Ich möchte gerne eine zweite Bemerkung machen.Herr Kollege Schick, man kann ja unterschiedlicherMeinung sein, ob man die geltende deutsche Steuerge-setzgebung, also das System der Kapitalertragsbesteue-rung mit der definitiven Abgeltungsteuer, für richtig hältoder nicht. Ich glaube, Sie haben das damals nicht fürrichtig gehalten. Das ist Ihr gutes Recht. Das Gesetzträgt allerdings die Unterschrift des damaligen Finanz-ministers, und das war Herr Steinbrück. Wir haben demGesetz auch zugestimmt; es ist in Kraft.Mit diesem Abkommen – wenn es in Kraft tritt – stel-len wir sicher, dass Kapitalanlagen von deutschen Steuer-flüchtigen in der Schweiz genauso steuerlich behandeltwerden, wie wenn sie in Deutschland angelegt wordenwären. Etwas anderes kann man nicht machen.
Die Behauptung also, wir würden durch das Abkommenmit der Schweiz etwas anderes schaffen, ist Unsinn. Dasist nun wirklich unterhalb dessen, was man als Niveauparlamentarischer Auseinandersetzung akzeptieren sollte.Wir schaffen damit die Möglichkeit, und die SchweizerBanken machen dann dasselbe, was die deutschen Ban-ken auch machen. Das muss auch der Vorsitzende einerGewerkschaft einsehen. Ob ihm das passt oder nicht, isteine andere Frage; aber in Deutschland ist es mit Spar-kassen und Banken genauso.
Deswegen ist das ein Abkommen für die Zukunft; essei denn, man sagt, das deutsche Gesetz sei falsch. Dasdarf man aber nicht der Schweiz vorwerfen, sondern dasist unsere deutsche Verantwortung. Wir können jederzeitneue Gesetze machen; daran haben wir ja keinen Man-gel. Aber solange das betreffende deutsche Gesetz sogilt, müssen wir dafür sorgen, dass es gesetzmäßig voll-zogen wird, nicht allein durch Zufallsfunde, womöglichin der Zusammenarbeit mit mehr oder weniger Kriminel-len, sondern durch einen verwaltungsmäßigen, einenordnungsgemäßen rechtsstaatlichen Vollzug. Dies sichertdas Abkommen mit der Schweiz für die Zukunft.
Das ist der erste Punkt. Daran können Sie überhauptnicht rütteln.Es entspricht im Übrigen dem Informationsaustausch.Dazu haben wir den OECD-Standard mit der Schweiz javereinbart. Das ist alles international; das sind die multi-lateralen Bemühungen. Sie werfen die Dinge völligdurcheinander.
Die zweite Bemerkung bezieht sich auf die Vergan-genheit. Liebe Kolleginnen und Kollegen, man musseinfach zur Kenntnis nehmen – der Kollege Wissing hates gesagt –: Belastende Gesetze können nach unseremVerfassungsverständnis rückwirkend nicht eingeführtwerden. Angesichts dessen, was für uns gilt, müssen wirdoch respektieren, dass es in der Schweiz nicht andersist. Die Schweiz hat ein Bankgeheimnis; es ist integralerBestandteil der Schweizer Rechtsordnung seit 70 odermehr Jahren. Wenn dies so ist, dann kann man für dieVergangenheit nicht erreichen, dass die Schweiz diesrückwirkend ändert. Das wäre bei uns verfassungswid-rig, und das ist es in der Schweiz auch. Daher sollte mandie Schweiz deswegen nicht beschimpfen, sondern mansollte sich anschauen, welche Lösung wir mit derSchweiz verhandelt haben.Zwei Möglichkeiten hat der Steuerpflichtige, und dasteilen ihm die Banken auch mit. Entweder kann er eineMitteilung seines Finanzamts bringen, dass er seine steuer-lichen Pflichten erfüllt hat, oder der Bestand seines Ver-mögens – Herr Kollege Poß, Sie sollten schon zwischenErträgen und Vermögensbestand unterscheiden –
wird mit einem Pauschalsatz an Steuer belegt. Jetzt sageich Ihnen, wie er sich berechnet. Wenn ein Vermögenschon seit zehn Jahren in der Schweiz liegt, dann – esmag wie auch immer entstanden sein – sind die steuer-und strafrechtlichen Ansprüche verjährt. Diese Verjäh-rung kann auch rückwirkend nicht aufgehoben werden.Auch das ist ein festes Verfassungsprinzip.58 Prozent aller Konten und Depots in der Schweizbestehen seit mehr als zehn Jahren. Dies sage ich, damitwir wissen, wovon wir reden. Daher können steuerlichalso nur diejenigen Erträge von Belang sein, die in die-sen zehn Jahren angefallen sind und zu besteuern sind.Dafür gilt ein Satz von 21 Prozent auf die Summe, aufdie Substanz des Kapitals. Das ist ein höherer Satz, alsman ihn bei einer Regelbesteuerung erzielt. Deswegengehen alle davon aus – Schweizer Banken haben ja Un-tersuchungen dazu durchgeführt –, dass in mehr als90 Prozent aller Fälle die Durchführung der Regel-besteuerung für den Steuerpflichtigen günstiger ist. Dasist aber der Sinn einer Pauschalregelung. Wenn Sie100 Prozent erreichen wollen, bekommen Sie keine Pau-schalregelung zustande.Was ist mit den Vermögen, die in den letzten zehnJahren angewachsen sind oder überhaupt erst in den letz-ten zehn Jahren in die Schweiz verbracht worden sind?
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Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
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Dort wird ein höherer Prozentsatz auf das Kapital erho-ben, aus genau diesem Grund, damit man nämlich auchden Teil erfasst, der möglicherweise in der Substanz derBesteuerung liegt. Es kann auch die Erbschaftsteuer ge-wesen sein, die hinterzogen wurde.Wir haben noch gar nicht darüber diskutiert, dass inder Zukunft, wenn der Steuerpflichtige verstirbt, ent-weder die Erbschaftsbesteuerung regulär durchgeführtwird oder der höchstmögliche Erbschaftsteuersatz von50 Prozent von der Schweizer Bank abgeführt wird.
Meine Damen und Herren, was wollen wir denn eigent-lich mehr?
Wenn dies nicht der Fall ist, dann beendet die SchweizerBank ihre Geschäftsbeziehung mit dem Kunden. DieSchweiz teilt uns mit, wohin die Vermögen verlagertwerden, damit wir mit den betreffenden Ländern Kon-takt aufnehmen können. Sie haben ja diese sogenannteAbschleichbewegung in den letzten Monaten zum gro-ßen Thema gemacht. Inzwischen haben wir uns belehrenlassen: Nur bei 0,5 Prozent der Vermögenswerte sind inden letzten Monaten Konten aufgelöst worden. Das istder ganz normale Schwund; bei jeder Bank werden im-mer mal Konten aufgelöst. Also kann davon überhauptkeine Rede sein. Darüber hinaus bekommen wir die Ant-wort, in welche Länder es abfließt, sodass wir in Zukunftauch die entsprechenden Möglichkeiten haben.Das Abkommen ist – auch diese wahrheitswidrigeBehauptung darf hier nicht unwidersprochen stehen blei-ben – von der Kommission der Europäischen Union ge-prüft und für gut befunden worden. Es gibt keine Ein-wendungen aus dem europäischen Recht heraus. Dasheißt, Sie reden wider besseres Wissen, meine Damenund Herren, und verunsichern die Menschen.
Die Alternative zu diesem Abkommen ist, dass dieSteueransprüche verjähren. Die Verjährungsfrist beträgtin aller Regel zehn Jahre. Da 58 Prozent aller Depotsund Konten bereits länger als zehn Jahre bestehen, mussjedermann wissen: Das meiste wird in kurzer Zeit ver-jährt sein. Entweder wird dieses Abkommen zum 1. Ja-nuar 2013 in Kraft treten, oder wir werden kein Abkom-men haben. Dann wird weiterhin ein Zustand bestehen,in dem wir die Besteuerung von Einkünften, die deutscheSteuerpflichtige aus Kapitalvermögen in der Schweizhaben, von Zufallsfunden und von der Zusammenarbeitmit mehr oder weniger rechtsstaatlich einwandfreien Per-sönlichkeiten abhängig machen. Das kann doch nicht imSinne einer gesetzmäßig handelnden Verwaltung sein.Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, sage ichmit allem Ernst und in aller Ernsthaftigkeit: Wenn wir un-sere Verantwortung für einen gerechten Vollzug der deut-schen Steuergesetze einigermaßen wahrnehmen wollen,dann erfüllen wir mit diesem Abkommen unsere Pflicht.Deswegen werbe ich um Ihre Zustimmung zu diesemAbkommen.
Hören Sie auf, aus vordergründigen parteistrategischenÜberlegungen Unbehagen gegen Banken, Steuerhinter-ziehung und was weiß ich zu schüren!
– Nein, nein, ich habe doch gar nichts dagegen. Ich sagenur: Wenn Sie Steuerhinterziehung bekämpfen wollen,müssen Sie dieses Abkommen in Kraft setzen.
Anderenfalls laden Sie die Verantwortung dafür auf sich,dass wir auch weiterhin auf Zufallsfunde angewiesensind und unserer Verpflichtung, für die Gleichmäßigkeitder Besteuerung und die Rechtsstaatlichkeit des Gesetzes-vollzugs zu sorgen, nicht gerecht werden.Dieses Abkommen wird zum 1. Januar in Kraft treten,oder es wird gescheitert sein. Sie werden in absehbarerZeit kein anderes Abkommen bekommen. Sie werdenals Alternative zu diesem Abkommen haben, dass dieSteueransprüche verjähren.Das Bundesfinanzministerium hat nie von 10 Milliar-den Euro gesprochen; davon haben wir überhaupt nichtsgesagt.
– Nein, ich erkläre es Ihnen doch. Herr Kollege Poß, ichkann es Ihnen genau erklären. Wir haben mit derSchweiz verabredet, dass die Schweizer Banken bei Ab-schluss des Abkommens eine anzurechnende Vorauszah-lung, die gilt und definitiv ist, von 2 Milliarden SchweizerFranken leisten werden. Großbritannien hat ein ähnlichesAbkommen mit der Schweiz. Großbritannien bekommteine Vorauszahlung Schweizer Banken in Höhe von500 Millionen Schweizer Franken. In Großbritannien hatman eine bestimmte Summe, die man dort aus der rück-wirkenden Besteuerung erwartet, in den Haushalt einge-stellt. Wenn man die britischen Zahlen mit vier multipli-ziert, was nach der Logik einigermaßen richtig seinkönnte, dann kommt man auf einen Betrag, Herr KollegePoß, der größer als 10 Milliarden Euro ist. Nur dies ha-ben wir gesagt. Wir selber haben nichts anderes als die2 Milliarden Schweizer Franken in unsere Planungeneingestellt. Alles andere warten wir ab.Aber darüber hinaus ist klar: Für die Zukunft werdenwir die normalen Kapitalertragsteuern aus der Schweizgenauso abgeführt bekommen, wie wir sie auch vondeutschen Banken bekommen. Wenn Sie das Abkom-men scheitern lassen, dann werden wir auch für die Zu-kunft allenfalls auf Zufallsfunde angewiesen sein. Dasist nicht zu verantworten. Deswegen werbe ich mit allemErnst und in aller Sachlichkeit um Ihre Zustimmung zudiesem Abkommen.
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Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Jürgen Trittin.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber
Herr Schäuble, ich habe mich gemeldet, weil Sie davon
gesprochen haben, man solle mit seinen Nachbarn re-
spektvoll umgehen. Ich rate sehr dazu. Aber dazu passt
es nicht, dass Sie diejenigen, die sich in Deutschland da-
rum bemühen, Steuerhinterziehung zu verfolgen, zum
Beispiel den nordrhein-westfälischen Finanzminister,
hier in Ihrer Rede klandestin und hintenherum der Zu-
sammenarbeit mit Kriminellen bezichtigen. Das ist keine
Zusammenarbeit mit Kriminellen, sondern Strafverfol-
gung.
Wenn Sie sich heute hier einer Garantiesumme von
2 Milliarden Euro rühmen, dann muss ich Sie darauf hin-
weisen, dass diejenigen, die Sie der Zusammenarbeit mit
Kriminellen zeihen, durch den Ankauf von Steuer-CDs
mittlerweile fast das Doppelte für den deutschen Steuer-
zahler hereingeholt haben. Das sollte Ihnen zu denken
geben.
Sie haben schon 2009 einer Bundesregierung ange-
hört. Im Jahre 2009 war die Bundesregierung beim G-20-
Gipfel in London vertreten. Sie haben ein Schlusskom-
muniqué verabschiedet. Darin steht wörtlich: „Die Ära
des Bankgeheimnisses ist vorbei.“ Aber das Abkommen,
das Sie heute vorlegen, ist nichts anderes, als eine über-
lebte Ära mit aller Gewalt in die Zukunft zu retten.
Ich sage Ihnen eines: Sie überantworten den Vollzug
deutscher Steuergesetze Banken wie der UBS und der
Credit Suisse, die in diversen Verfahren in den USA, in
Frankreich und auch in Deutschland der Beihilfe zur
Steuerhinterziehung nicht nur bezichtigt, sondern auch
überführt worden sind. Was ist das für eine Vorstellung
von Rechtsstaatlichkeit, Herr Minister?
Bis heute habe ich gedacht, Sie wären ein großer
Europäer.
Aber Ihre Haltung, mit der Schweiz ein bilaterales Ab-
kommen abzuschließen, führt dazu, dass die Umsetzung
der europäischen Zinssteuerrichtlinie von Österreich und
Luxemburg mehr und mehr infrage gestellt wird.
Sie sagen, man solle respektvoll mit den Nachbarn
umgehen. Auch ich bin der Auffassung, dass man re-
spektvoll mit der Schweiz umgehen sollte. Aber mit ei-
nem sollte man keinen Schindluder treiben: mit der
Freundschaft und der guten Nachbarschaft zu Frank-
reich. Was Sie mit diesem bilateralen Abkommen ange-
fangen haben, ist eine Absage an Europa. Das ist nicht
im Interesse der Bundesrepublik Deutschland und nicht
im Interesse von Europa.
Der Herr Bundesminister zur Antwort.Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-zen:Herr Kollege Trittin, ich habe eine lange parlamenta-rische Erfahrung und habe meine Vorstellungen vomSinn der parlamentarischen Kurzintervention und davon,was nicht ihr Sinn ist. Ich weiß auch, dass es zurzeit inParteien Mitgliederbefragungen und Ähnliches gibt.Aber lassen wir das einmal dahingestellt,
obwohl ich mir nicht ganz sicher bin, ob man das unbe-dingt miteinander vermischen sollte.
– Herr Kollege Trittin, wissen Sie: Ich bin vom Inhalt Ih-rer Ausführungen wenig beeindruckt. Jeder hat gehört,was Sie hier gesagt haben. Jeder hat auch gehört, was Sievorher gesagt haben.Ich habe gesagt, dass es besser ist, wir setzen denVollzug unserer Gesetze durch, die wir verabschiedet ha-ben, die aber von Ihrer Fraktion infrage gestellt werden;denn Ihr Kollege hat gesagt, es sei ganz schlimm, dasswir eine Abgeltungsteuer, die Kapitalertragsteuer, haben.Herr Kollege Trittin, das ist aber geltendes Recht. DiesesGesetz ist vom Deutschen Bundestag mit Zustimmungdes Bundesrats so beschlossen worden. Es ist in Kraft; esgilt.Da wir nun verpflichtet sind, den rechtmäßigen Voll-zug, die Steuergerechtigkeit sicherzustellen, ist es rich-tig, dafür zu sorgen, dass dieses Gesetz auch auf Steuer-pflichtige, die ihr Kapitalvermögen in der Schweizhaben, angewandt wird. Dies sichert dieses Abkommen,und wenn das Abkommen nicht zustande kommt, dannist der Vollzug der Gesetze in der Schweiz nicht sicher-gestellt. Dann ist man – auch das habe ich gesagt – aufZufallsfunde und auf eine entsprechende Zusammenar-beit angewiesen. Ich habe nicht irgendeinen Kollegender Zusammenarbeit mit Kriminellen bezichtigt, sondernich habe gesagt: Wir sind beim Vollzug der Gesetze.Ich habe an solchen Entscheidungen, Daten anzukau-fen, mitgewirkt. Aber das ist die schlechtere Lösung.Herr Kollege Trittin, die bessere Lösung ist, dass wir unsbemühen, durch Gesetze und Verträge sicherzustellen,dass Regeln allgemein und rechtsstaatlich einwandfreiangewandt werden. Wenn Sie dagegen sind, dann ist das
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24321
Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
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Ihre Position. Ich rate jedem, die Position der Bundesre-gierung und der Koalition einzunehmen.Herzlichen Dank.
Martin Gerster hat jetzt das Wort für die SPD-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrter Herr Bundesminister Schäuble, Sie habendavon gesprochen, dass wir respektvoll mit der Schweizumgehen sollen. Wir gehen respektvoll mit der Schweizum. Ich glaube nicht, dass der Konflikt zwischen derSchweiz und Deutschland besteht. Die Konfliktlinie istvielmehr eine ganz andere. Da gibt es auf der einen Seitedie ehrlichen Steuerzahler bei uns, die ihren Beitrag zueinem funktionierenden Gemeinwesen leisten. Da gibtes auf der anderen Seite die Steuerkriminellen und ihreHintermänner und zuweilen eben auch die SchweizerKreditinstitute, die einen Beitrag dazu leisten, dass Steu-erhinterziehung überhaupt stattfinden kann. Das ist dochdie Konfliktlinie.
Sie mahnen einen respektvollen Umgang an. Ich sageIhnen: Auch die Sachverständigen im Finanzausschussund auch unsere Beamten, die sich äußern und ihre Mei-nung kundtun, haben einen Anspruch darauf, fair und re-spektvoll behandelt zu werden. Aber was wir in der An-hörung und anschließend auch in den Beratungen imFinanzausschuss erlebt haben, ist alles andere als re-spektvoll gewesen; denn dort wurden die Sachverständi-gen, die Kriminalbeamten und die Steuerbeamten vonden Regierungsfraktionen diskreditiert.
In dem Bericht des Finanzausschusses, Frau Vorsit-zende Reinemund, heißt es:In der Anhörung zum Gesetzentwurf habe es auch– so sagen es Union und FDP –kritische Stimmen gegeben.– Immerhin, Sie gestehen das wenigstens ein.Dies sei z. B. bei Vertretern der Steuergewerkschaftund dem Bund Deutscher Kriminalbeamter aus de-ren Perspektive auch zu erwarten gewesen. Ein ent-sprechendes Abkommen mit der Schweiz führe zueiner Aufgabenminderung bei diesen Gruppen, wasderen kritische Haltung selbstverständlich mache.Es ist unglaublich, wie die Regierungsfraktionen, wieSchwarz-Gelb die eigenen Beamtinnen und Beamtenund ihre sachkundige Meinung diskreditieren. Das darfdoch wohl nicht wahr sein!
Warum soll es zu einer Aufgabenminderung kom-men? Sie haben doch selbst die Bedingungen mit ausge-handelt, die dazu führen, dass sie enorme Einschränkun-gen bei der Ermittlung von Steuerhinterziehung in Kaufnehmen müssen. Das ist doch die Wahrheit. Deshalb warim Finanzausschuss von den Sachverständigen eine der-art kritische Meinung zu hören.Nächster Punkt. Auch wir Parlamentarier, HerrMinister Schäuble, haben einen Anspruch auf respekt-vollen und ehrlichen Umgang. Ich wundere mich sehr,wie hier mit Zahlen gespielt wird. Kurz vor der Land-tagswahl in Nordrhein-Westfalen haben wir gehört, wasdiese Steuerabkommen für unsere Kassen bringen sol-len.
Es wurde für jedes Bundesland detailliert aufgelistet,wie hoch die Mehreinnahmen wären. Als wir im Finanz-ausschuss nachgefragt haben, sagte StaatssekretärKoschyk, eine Berechnung sei überhaupt nicht möglich.Zwischendurch hören wir wieder, dass es 10 MilliardenEuro Steuereinnahmen sind und dass wir Sozialdemo-kraten darauf doch nicht verzichten könnten,
weil wir inzwischen in so vielen Bundesländern regierenwürden. Ich kann nur sagen: Gut, dass wir Sozialdemo-kraten wieder in so vielen Bundesländern regieren. HerrSchäuble, mit solchen Zahlenbeispielen können Sie unsjedenfalls nicht davon überzeugen, diesem Steuerab-kommen zuzustimmen.
Wesentliche Gründe dafür, warum wir dem Abkom-men nicht zustimmen können, sind, dass die Anonymitätder Steuerhinterzieher gewahrt bleibt, dass es sanktions-los bleibt und dass man bis zum Ende des Jahres nochZeit hat, seine Gelder in andere Steueroasen zu verschie-ben. Das ist das sogenannte Abschleichen.Herr Schäuble, Sie haben gesagt – ich habe es miraufgeschrieben –, Sie hätten sich beraten lassen. Ichfrage mich: Von wem haben Sie sich beraten lassen unddiese Zahl, 0,5 Prozent, erfahren? Das würden wir schonsehr gerne wissen. Wir haben den Eindruck, dass Sie indieser ganzen Angelegenheit die falschen Berater haben.
Anders kann man gar nicht auf die Idee kommen – auchmit Blick auf die Zukunft Europas –, ein solches Steuer-abkommen abschließen zu wollen.
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Martin Gerster
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Für die SPD bleiben unter dem Strich viele Gründe,warum wir dieses Steuerabkommen ablehnen. Ich kannnur hoffen – das sage ich auch im Namen meiner Frak-tion –, dass sich im Bundesrat keine Mehrheit für diesesSteuerabkommen findet.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Ab-
kommen vom 21. September 2011 mit der Schweizeri-
schen Eidgenossenschaft über Zusammenarbeit in den
Bereichen Steuern und Finanzmarkt in der Fassung vom
5. April 2012. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11093, den
Gesetzentwurf auf Drucksache 17/10059 anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter
Beratung bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktio-
nen angenommen. Die Oppositionsfraktionen haben da-
gegen gestimmt. Enthaltungen gab es keine.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wir stimmen über den Gesetz-
entwurf auf Verlangen der Fraktionen der SPD, der Lin-
ken und des Bündnisses 90/Die Grünen namentlich ab.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. Fehlen noch Schrift-
führerinnen oder Schriftführer? – Das scheint nicht der
Fall zu sein. Dann eröffne ich die Abstimmung.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das trotz um-
fassender Möglichkeiten und eigenem Bemühen seine
Stimme bis jetzt noch nicht abgeben konnte? – Das
scheint nicht der Fall zu sein. Dann schließe ich die Ab-
stimmung.1)
Ich bitte Sie herzlich, die Gänge zu räumen und Ihre
Plätze wieder einzunehmen, damit wir in der Beratung
fortfahren können. Vielleicht hilft es, wenn ich Ihnen
mitteile, dass wir noch einige namentliche Abstimmun-
gen vor uns haben und dass sich durch den relativ gro-
ßen Zeitverzug die Abendtermine verschieben können.
Wir setzen jetzt die Abstimmungen fort. Wir kommen
zu den Entschließungsanträgen.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak-
tion der SPD auf Drucksache 17/11152? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag
ist bei Zustimmung durch die einbringende Fraktion ab-
gelehnt. Enthalten haben sich Linke und Bündnis 90/Die
Grünen. Die Koalitionsfraktionen haben dagegen ge-
stimmt.
Entschließungsantrag von Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 17/11153. Wer stimmt dafür? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Dieser Entschlie-
ßungsantrag ist ebenfalls abgelehnt bei Zustimmung
durch die einbringende Fraktion und die Linke. Die SPD
hat sich enthalten. Die Koalitionsfraktionen haben dage-
gen gestimmt.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 sowie Zu-
satzpunkt 6 auf:
8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Andreae, Dr. Tobias Lindner, Beate Walter-
Rosenheimer, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Wirtschaft im Umbruch – Wandel ökologisch,
sozial und europäisch gestalten
– Drucksache 17/11162 –
ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie zu dem Antrag der Abge-
ordneten Garrelt Duin, Hubertus Heil ,
Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Chancen nutzen – Vorsorgende Wirtschafts-
politik jetzt einleiten
– Drucksachen 17/8346, 17/8642 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Georg Nüßlein
Es ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debat-
tieren. Damit sind Sie einverstanden? – Dann verfahren
wir so.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der
Kollegin Kerstin Andreae für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ludwig Erhard hat gesagt: Wirtschaft ist zu 50 ProzentPsychologie. – Dieser Satz wird von Wirtschaftsminis-tern und von der FDP gerne zitiert. Meinetwegen, dannist es halt zu 50 Prozent Psychologie, aber dann entfallenimmer noch 50 Prozent darauf, etwas zu tun. Das Ein-zige, was man bei diesem Wirtschaftsminister und dieserKoalition im Bereich der Wirtschaftspolitik erkennenkann, ist 100 Prozent Stillstand:
keine steuerliche Forschungsförderung, kein bessererZugang zu Wagniskapital. Der Bürokratieabbau stockt.Seit Juli 2011 sind rund 1,1 Milliarden Euro Bürokratie-kosten durch neue Gesetze entstanden.Eines dieser neuen Gesetze umfasste im Übrigen dievon uns unterstützte Anerkennung ausländischer Berufs-abschlüsse. Dieses Gesetz gilt seit April dieses Jahres. 1) Ergebnis Seite 24325 A
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24323
Kerstin Andreae
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Sie waren damals davon ausgegangen, dass ungefähr300 000 Menschen von diesem Gesetz profitieren wer-den. Seit Inkrafttreten des Gesetzes sind 270 Personenzusätzlich in Deutschland angekommen, so die Zahlendes DIHK.
Wenn Sie bei diesem Tempo bleiben, brauchen Sie noch625 Jahre, um die Zahl 300 000 zu erreichen. ErzählenSie mir nicht, dass Sie hier kraftvoll gegen den Fachkräf-temangel und für die Erleichterung bei der Zuwanderunghandeln.
Vor einem Jahr hat die Zeitschrift Cicero den Wirt-schaftsminister Rösler zu einem der Absteiger des Jahreserklärt. Die Überschrift dieses Artikels war: „Keine ein-zige große Idee“. Ich hatte damals gehofft, dass viel-leicht etwas passieren wird. Wenn ich mir aber anschaue,was dann wirtschaftspolitisch geschehen ist, muss ich inder Tat sagen: Da gibt es keine einzige große Idee. Sieruhen sich auf dem Argument mit der Psychologie aus,haben aber keine Vorstellung davon, wo und wie wirweitermachen sollten. Sie haben keine große Idee.Ökologische Modernisierung kann die industrielle Er-folgsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland wer-den; das wäre eine große Idee.
Darum geht es in dem Antrag, den wir Ihnen heute vor-legen. Die Wirtschaft steht vor einem tiefgreifendenWandel, sie befindet sich im Umbruch. Ein Wirtschafts-minister muss diesen Umbruch zum einen erkennen – ermuss ihn zum Teil auch einfordern –, zum anderen musser ihn begleiten, ihn in allen Bereichen durchdeklinieren.Dann nimmt ein Wirtschaftsminister seine Aufgabewahr.Zurück zur Ökologie. Traditionelles Wirtschaften mitdiesem gigantischen Rohstoffhunger, mit diesem gigan-tischen Energiehunger ist nicht zukunftsfähig. Den Zah-len für die EU 27 können Sie entnehmen, dass wir einAußenhandelsdefizit in Höhe von 120 Milliarden Eurohaben, auch aufgrund der Importe von Rohstoffen. Wirsind auf dem falschen Pfad. Wir verbrauchen zu viel.Wir brauchen eine Antwort darauf, wie wir von diesemfalschen Wirtschaftsmodell wegkommen.
Sie kennen den Kampf des Wirtschaftsministers ge-gen die Energieeffizienzrichtlinie. Wir müssen aber end-lich eine Strategie entwickeln, wie wir im Bereich Roh-stoffeffizienz, im Bereich Energieeffizienz und imBereich Einsparungen wirklich vorangehen können, unddies nicht etwa nur deswegen, weil Rohstoffe und Ener-gie so teuer geworden sind, sondern weil dies wirtschaft-liche Perspektiven und Chancen für neue Jobs bietet.Von einem Wirtschaftsminister hätte ich erwartet, dass ereine große Idee entwickelt, wie wir dieses Land zu-kunftsfähig aufstellen. Aber hier herrscht bei Ihnen ab-solute Fehlanzeige.Wir werden immer weniger innovativ. Wenn Sie sichden Innovationsindikator anschauen, können Sie genauerkennen: Deutschland rutscht ab. Uns fehlen die Ideen,die Innovationen, uns fehlt kraftvolles Handeln, obwohlwir vorangehen und große Ideen entwickeln müssen. Sieziehen sich immer darauf zurück, Wirtschaft sei zu50 Prozent Psychologie. Das ist viel zu wenig. Diesegroße Idee, die ich geschildert habe, scheint leider vielzu groß für Sie zu sein.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich möchte zuerst auf Frau Andreae eingehen. Wenn ichdas richtig gesehen habe, wird unsere erfolgreiche Re-gierungsarbeit in Ihrem Antrag als „Stillstandspolitik“bezeichnet.
Was verstehen Sie unter Stillstand? Verstehen Sie un-ter Stillstand, dass wir in den letzten Jahren die höchstenWachstumsraten der Wirtschaft seit der Wiedervereini-gung hatten? Ist Stillstand, dass wir mit 41,5 MillionenMenschen die höchste Beschäftigungsquote in Deutsch-land überhaupt haben? Ist Stillstand, dass wir die ge-ringste Jugendarbeitslosigkeit in Europa haben? Ist Still-stand, dass die Erwerbsbeteiligung der 55- bis 64-Jährigen in den letzten zehn Jahren von 38 Prozent auf60 Prozent gestiegen ist? Ist Stillstand, dass wir diehöchsten F-und-E-Ausgaben in der Geschichte der Bun-desrepublik haben? Liebe Frau Andreae, da muss einervon uns etwas falsch verstanden haben. Eine solche Be-deutung des Begriffes „Stillstand“ finden Sie im Dudennicht.
Wenn man sich genau anschaut, was Sie in Ihrem An-trag fordern, findet man viele gute Dinge; da will ich garnicht widersprechen. Sie fordern zum Beispiel, dass derZugang zu Wagniskapital erleichtert wird. Diese Auffas-sung teilen wir. Mit dem Haushaltsentwurf wollen wirerreichen, dass für die nächsten vier Jahre eine Wagnis-kapitalförderung von 150 Millionen Euro bereitgestelltwird. Gefördert werden private Investoren. InsbesondereBusiness Angels und jungen innovativen Unternehmensoll Beteiligungskapital zur Verfügung gestellt werden.
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24324 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Dr. Joachim Pfeiffer
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Insoweit haben wir die Dinge schon gemacht, bevor SieIhren Antrag geschrieben haben.Dann sprechen Sie viel von Binnenmarkt, von Kauf-kraft und davon, was man da alles stärken sollte. Sie ha-ben in den nächsten Tagen und Wochen noch Gelegen-heit dazu, sich zu beweisen und genau dies mit unsgemeinsam zu tun. Wir haben verabschiedet, dass derGrundfreibetrag im nächsten Jahr erhöht werden soll.Wir haben verabschiedet, dass die Menschen in diesemLand von den Lohnerhöhungen auch etwas spüren sol-len, indem die kalte Progression, letztlich die kalte Ent-eignung, abgemildert wird. Der entsprechende Gesetz-entwurf liegt im Bundesrat. Sie können dafür sorgen,dass nicht nur Baden-Württemberg, sondern der Bundes-rat insgesamt zustimmt. Dann haben wir eine effektiveSteuerentlastung der kleinen und mittleren Leistungsträ-ger und eine größere Wirksamkeit des Inflationsaus-gleichs.
Sie sprechen über den Abbau von Bürokratie. Auchda können wir gemeinsam viel erreichen. Wir haben aufden Weg gebracht, dass die steuerlichen Aufbewah-rungsfristen in einem ersten Schritt auf acht Jahre, dannauf sieben Jahre und in einer längeren Perspektive auffünf Jahre verkürzt werden.
Das ist das größte Bürokratieabbauprogramm, das mansich für die Freien Berufe, für das Handwerk und für denMittelstand vorstellen kann. Es entfaltet auch eine psy-chologische Wirkung. Wir freuen uns daher auf Ihre Zu-stimmung zum Jahressteuergesetz, das demnächst imBundesrat zur Abstimmung ansteht.Sie fordern im energetischen Bereich Nachhaltigkeitund andere Dinge mehr. Auch da können Sie mitmachen,indem Sie damit aufhören – ihre Verweigerung könnenwir nicht mehr länger akzeptieren –, die steuerliche Ab-zugsfähigkeit der energetischen Sanierung im Bundesratzu blockieren. Dies tun Sie seit knapp eineinhalb Jahren,obwohl Sie im letzten Jahr zusammen mit den Bundes-ländern dem Energieprogramm zugestimmt haben. Des-halb werden wir jetzt im Interesse der energetischen Sa-nierung, im Interesse der von Ihnen angesprochenenNachhaltigkeit Ersatzmaßnahmen auf den Weg bringen.Wir werden andere Möglichkeiten schaffen, durch diewir diese Zielgruppe erreichen. Dies wird leider nichtmit steuerlichen Entlastungen und der Schaffung vonAbzugsmöglichkeiten verbunden sein, weil Sie es ver-hindern. Das müssen Sie den Menschen draußen sagen.
Sie sprechen auch den Arbeitsmarkt an. Da hätten Sieheute schon – ein paar Tagesordnungspunkte zuvor,nämlich bei der Erhöhung der Grenze für Minijobs von400 auf 450 Euro – Gelegenheit gehabt, Nägel mit Köp-fen zu machen. Ihre Redner haben aber nicht nur dage-gen gesprochen, sondern Ihre Fraktion hat heute dage-gen gestimmt, dass die Minijob-Beschäftigten einenInflationsausgleich bekommen. Sie haben dagegen ge-stimmt, dass sie einen Reallohnzuwachs von 400 auf450 Euro erfahren. Sie haben dagegen gestimmt, dasszukünftig eine Erhöhung der sozialen Sicherheit durcheine automatische Rentenversicherungspflicht erreichtwerden kann. Sie haben für mehr Schwarzarbeit ge-stimmt, indem Sie dies alles abgelehnt haben. Das ist fürmich nicht die Beschäftigungs- und Arbeitsförderung,die ich mir vorstelle und die Sie in Ihrem Antrag mit vie-len wolkigen Worten beschreiben.
Sie haben bei einem der vorherigen Tagesordnungs-punkte gegen eine Senkung der Rentenbeiträge ge-stimmt. Dabei ist das im Bereich der Sozialversicherungdas größte Programm zur Stärkung des Binnenkonsums,das wir für das nächste Jahr auf den Weg bringen kön-nen. Die Menschen, die arbeiten und in die Rentenversi-cherung einzahlen, müssen weniger Beiträge zahlen undhaben dadurch mehr Geld zur Verfügung. Sie könnenentweder konsumieren oder vielleicht auch entsprechendprivat vorsorgen. Aber Sie sind dagegen.Sie sind auch gegen höhere Rentenerhöhungen. Einkomplizierter Mechanismus, den Sie kennen, FrauAndreae, führt nämlich dazu, dass die Renten im nächs-ten Jahr sogar überproportional steigen.
Aber dieses Signal für mehr Binnenkonsum, Wachstumund Beschäftigung, das mit Blick auf Europa wichtig ist,geht von Ihnen nicht aus.
Sie unterstellen uns – damit komme ich zumSchluss – Engstirnigkeit. Dabei haben Sie anscheinendwenig von Technologieoffenheit gehört. Sie sprechenviel von Nachhaltigkeit – ich hätte es zählen können,habe aber irgendwann aufgehört –, von Zukunftstechno-logien, von Nanotechnologie, Biotechnologie und Gen-technologie. Andere Begriffe finden wir in Ihrem Antragfür Wachstum und Beschäftigung aber nicht.Insofern kann ich nur feststellen und zum AbschlussChurchill zitieren – das darf ich noch schnell machen –:
Sie kommen jetzt schon zum zweiten Mal zum Ab-
schluss.
Es gibt Leute, die halten Unternehmer für einenräudigen Wolf, den man totschlagen müsse, anderemeinen, der Unternehmer sei eine Kuh, die man un-unterbrochen melken kann. Nur ganz wenige sehenin ihm das Pferd, das den Karren zieht.Wir sehen das Pferd, das den Karren zieht.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24325
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Herr Kollege.
Die ganz Linken wissen nicht, was sie sehen, und Sie
sind wohl irgendwo dazwischen.
Vielen Dank.
Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, gebe ich Ih-nen das von den Schriftführerinnen und Schriftführernermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmungzum Entwurf des Gesetzes zum Abkommen mit derSchweiz auf den Drucksachen 17/10059 und 17/11093bekannt: abgegebene Stimmen 569. Mit Ja haben ge-stimmt 312 Kolleginnen und Kollegen,
mit Nein haben gestimmt 256, und es gab 1 Enthaltung.Damit ist der Gesetzentwurf angenommen.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 568;davonja: 311nein: 256enthalten: 1JaCDU/CSUIlse AignerPeter AltmaierPeter AumerThomas BareißNorbert BarthleGünter BaumannManfred Behrens
Veronika BellmannDr. Christoph BergnerPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserDr. Maria BöhmerWolfgang Börnsen
Norbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexander DobrindtMarie-Luise DöttDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachHartwig Fischer
Dirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachHerbert FrankenhauserDr. Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserErich G. FritzDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelIngo GädechensDr. Peter GauweilerDr. Thomas GebhartNorbert GeisAlois GerigEberhard GiengerMichael GlosJosef GöppelPeter GötzDr. Wolfgang GötzerUte GranoldReinhard GrindelHermann GröheMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundMonika GrüttersOlav GuttingFlorian HahnDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilFrank HeinrichRudolf HenkeMichael HennrichAnsgar HevelingErnst HinskenPeter HintzeChristian HirteRobert HochbaumKarl HolmeierFranz-Josef HolzenkampJoachim HörsterAnette HübingerHubert HüppeDieter JasperDr. Franz Josef JungAndreas Jung
Dr. Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterAlois KarlBernhard Kaster
Volker KauderDr. Stefan KaufmannRoderich KiesewetterEwa KlamtVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenManfred KolbeDr. Rolf KoschorrekHartmut KoschykThomas KossendeyMichael KretschmerGunther KrichbaumDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Hermann KuesGünter LachDr. Karl A. Lamers
Andreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeDr. Max LehmerPaul LehriederDr. Ursula von der LeyenIngbert LiebingMatthias LietzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsDr. Jan-Marco LuczakDaniela LudwigDr. Michael LutherKarin MaagDr. Thomas de MaizièreHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Dr. Michael MeisterMaria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergPhilipp MißfelderDietrich MonstadtMarlene MortlerDr. Gerd MüllerStefan Müller
Dr. Philipp MurmannMichaela NollDr. Georg NüßleinFranz ObermeierEduard OswaldHenning OtteDr. Michael PaulRita PawelskiUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferBeatrix PhilippRonald PofallaRuprecht PolenzEckhard PolsThomas RachelDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergKatherina Reiche
Lothar RiebsamenJosef RiefKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckErwin RüddelAlbert Rupprecht
Anita Schäfer
Dr. Wolfgang SchäubleDr. Andreas ScheuerKarl SchiewerlingNorbert SchindlerTankred SchipanskiGeorg SchirmbeckChristian Schmidt
Patrick SchniederDr. Andreas SchockenhoffNadine Schön
Dr. Kristina SchröderBernhard Schulte-DrüggelteUwe Schummer
Detlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertJohannes SinghammerJens SpahnCarola Stauche
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24326 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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Dr. Frank SteffelErika SteinbachChristian Freiherr von StettenDieter StierGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerKarin StrenzThomas Strobl
Lena StrothmannMichael StübgenDr. Peter TauberAntje TillmannDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzVolkmar Vogel
Stefanie VogelsangAndrea Astrid VoßhoffDr. Johann WadephulMarco WanderwitzKai WegnerMarcus Weinberg
Peter Weiß
Sabine Weiss
Karl-Georg WellmannPeter WichtelAnnette Widmann-MauzKlaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerDagmar G. WöhrlDr. Matthias ZimmerWolfgang ZöllerWilli ZylajewFDPJens AckermannChristian AhrendtChristine Aschenberg-DugnusDaniel Bahr
Florian BernschneiderSebastian BlumenthalClaudia BögelNicole Bracht-BendtKlaus BreilRainer BrüderleAngelika BrunkhorstMarco BuschmannSylvia CanelHelga DaubReiner DeutschmannBijan Djir-SaraiPatrick DöringMechthild DyckmansHans-Werner EhrenbergRainer ErdelJörg van EssenUlrike FlachOtto FrickeDr. Edmund Peter GeisenDr. Wolfgang GerhardtHans-Michael GoldmannHeinz GolombeckJoachim Günther
Dr. Christel Happach-KasanHeinz-Peter HausteinManuel HöferlinElke HoffBirgit HomburgerHeiner KampMichael KauchDr. Lutz KnopekPascal KoberDr. Heinrich L. KolbGudrun KoppDr. h. c. Jürgen KoppelinSebastian KörberHolger KrestelPatrick Kurth
Sibylle LaurischkHarald LeibrechtSabine Leutheusser-SchnarrenbergerLars LindemannDr. Martin Lindner
Michael Link
Dr. Erwin LotterOliver LuksicHorst MeierhoferPatrick MeinhardtGabriele MolitorJan MückePetra Müller
Burkhardt Müller-SönksenDr. Martin Neumann
Dirk NiebelHans-Joachim Otto
Cornelia PieperGisela PiltzJörg von PolheimDr. Birgit ReinemundDr. Peter RöhlingerDr. Stefan RuppertBjörn SängerFrank SchäfflerChristoph SchnurrJimmy SchulzMarina SchusterDr. Erik SchweickertWerner SimmlingJudith SkudelnyDr. Hermann Otto SolmsJoachim SpatzDr. Max StadlerTorsten StaffeldtDr. Rainer StinnerStephan ThomaeManfred TodtenhausenFlorian ToncarSerkan TörenJohannes Vogel
Dr. Daniel VolkDr. Guido WesterwelleDr. Claudia WintersteinDr. Volker WissingHartfrid Wolff
NeinSPDIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeinz-Joachim BarchmannDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsKlaus BarthelSören BartolBärbel BasSabine Bätzing-LichtenthälerUwe BeckmeyerLothar Binding
Gerd BollmannKlaus BrandnerWilli BraseEdelgard BulmahnMarco BülowUlla BurchardtMartin BurkertPetra CroneDr. Peter DanckertMartin DörmannElvira Drobinski-WeißSebastian EdathyIngo EgloffSiegmund EhrmannDr. h. c. Gernot ErlerPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerElke FernerGabriele FograscherDr. Edgar FrankeDagmar FreitagMichael GerdesMartin GersterIris GleickeGünter GloserUlrike GottschalckAngelika Graf
Gabriele GronebergMichael GroßWolfgang GunkelHans-Joachim HackerBettina HagedornKlaus HagemannMichael Hartmann
Hubertus Heil
Wolfgang HellmichRolf HempelmannGustav HerzogGabriele Hiller-OhmPetra Hinz
Frank Hofmann
Dr. Eva HöglChristel HummeJosip JuratovicOliver KaczmarekJohannes KahrsDr. h. c. Susanne KastnerUlrich KelberLars KlingbeilDr. Bärbel KoflerDaniela Kolbe
Fritz Rudolf KörperAnette KrammeAngelika Krüger-LeißnerChristine LambrechtChristian Lange
Dr. Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerKirsten LühmannCaren MarksKatja MastHilde MattheisUllrich MeßmerDr. Matthias MierschFranz MünteferingDr. Rolf MützenichAndrea NahlesDietmar NietanThomas OppermannHolger OrtelAydan ÖzoğuzHeinz PaulaJohannes PflugJoachim PoßDr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeMechthild RawertStefan RebmannGerold ReichenbachDr. Carola ReimannSönke RixRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannMichael Roth
Marlene Rupprecht
Annette SawadeAnton SchaafAxel Schäfer
Bernd ScheelenMarianne Schieder
Werner Schieder
Ulla Schmidt
Carsten Schneider
Swen Schulz
Ewald SchurerDr. Martin SchwanholzRolf SchwanitzStefan SchwartzeRita Schwarzelühr-SutterDr. Carsten SielingSonja SteffenPeer SteinbrückDr. Frank-Walter SteinmeierChristoph SträsserKerstin TackDr. h. c. Wolfgang ThierseFranz ThönnesWolfgang TiefenseeRüdiger VeitUte VogtDr. Marlies VolkmerAndrea WickleinHeidemarie Wieczorek-ZeulDr. Dieter WiefelspützWaltraud Wolff
Uta ZapfManfred ZöllmerBrigitte Zypries
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24327
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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DIE LINKEJan van AkenAgnes AlpersDr. Dietmar BartschKarin BinderHeidrun BluhmSteffen BockhahnChristine BuchholzEva Bulling-SchröterDr. Martina BungeRoland ClausSevim DağdelenHeidrun DittrichWerner DreibusKlaus ErnstWolfgang GehrckeNicole GohlkeDiana GolzeAnnette GrothDr. Gregor GysiHeike HänselDr. Rosemarie HeinDr. Barbara HöllAndrej HunkoUlla JelpkeDr. Lukrezia JochimsenKatja KippingJan KorteKatrin KunertCaren LaySabine LeidigRalph LenkertStefan LiebichUlla LötzerDr. Gesine LötzschThomas LutzeUlrich MaurerCornelia MöhringKornelia MöllerNiema MovassatWolfgang NeškovićThomas NordPetra PauJens PetermannRichard PitterleYvonne PloetzPaul Schäfer
Michael SchlechtDr. Ilja SeifertKathrin Senger-SchäferRaju SharmaDr. Petra SitteKersten SteinkeSabine StüberFrank TempelDr. Axel TroostKathrin VoglerHalina WawzyniakHarald WeinbergKatrin WernerJörn WunderlichBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKerstin AndreaeMarieluise Beck
Volker Beck
Cornelia BehmBirgitt BenderAgnes BruggerViola von Cramon-TaubadelEkin DeligözKatja DörnerHarald EbnerHans-Josef FellDr. Thomas GambkeKai GehringKatrin Göring-EckardtBritta HaßelmannBettina HerlitziusPriska Hinz
Dr. Anton HofreiterIngrid HönlingerThilo HoppeUwe KekeritzKatja KeulMemet KilicSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkUte KoczyTom KoenigsSylvia Kotting-UhlOliver KrischerAgnes KrumwiedeStephan KühnRenate KünastMarkus KurthUndine Kurth
Monika LazarDr. Tobias LindnerNicole MaischJerzy MontagKerstin Müller
Beate Müller-GemmekeDr. Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffDr. Hermann OttLisa PausBrigitte PothmerTabea RößnerClaudia Roth
Krista SagerManuel SarrazinDr. Gerhard SchickDr. Frithjof SchmidtUlrich SchneiderDorothea SteinerDr. Wolfgang Strengmann-KuhnHans-Christian StröbeleDr. Harald TerpeMarkus TresselJürgen TrittinDaniela WagnerBeate Walter-RosenheimerArfst Wagner
Wolfgang WielandDr. Valerie WilmsEnthaltenSPDHans-Ulrich KloseWir kommen zurück zu unserer Debatte, und ich gebedas Wort dem Kollegen Ingo Egloff für die SPD-Frak-tion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Herr Pfeiffer, Sie haben hier eben versucht,deutlich zu machen, dass es keinen Stillstand in derWirtschaftspolitik gibt. Wenn Sie aber mit den Betroffe-nen reden, beispielsweise mit der Energiewirtschaft oderder Industrie, dann erzählen sie Ihnen etwas ganz ande-res. Sie haben nämlich das Gefühl, dass Sie sowohl inder Energiepolitik als auch in der Industriepolitik keinenPlan haben, wo es hingehen soll. Sie, die Sie sich immerso gerieren, als seien Sie die Parteien der Wirtschaft,sind an dieser Stelle eine einzige Enttäuschung für diedeutsche Wirtschaft.
Sie stellen sich hier hin und sagen, das Steuergesetz,das im Bundesrat liegt, würde die kalte Progression be-seitigen. Wenn Sie die kalte Progression wirklich beseiti-gen wollen, dann müssen Sie 30 Milliarden Euro in dieHand nehmen. Dieses Geld haben Sie bzw. hat dieserStaat nicht, um es in die Hand zu nehmen.Sie haben weiße Salbe verteilt, nur um Ihren Koali-tionspartner zu beruhigen. Sie wissen selber, dass dieje-nigen, die ein kleines Einkommen haben, nur so viel vondieser Steuerreform profitieren, dass sie sich davon eineCurrywurst kaufen können, aber nur dann, wenn sie zweiMonate lang sparen. Das bewirkt das Gesetz, das imBundesrat liegt.
Lassen Sie uns zu dem Antrag der Grünen zurück-kommen. Ich meine, der Antrag weist in die richtigeRichtung. Ich finde es gut, dass wir hier die Gelegenheithaben, einmal grundsätzlicher über die Frage zu disku-tieren, in welche Richtung sich die Wirtschaft in diesemLand, aber auch in Europa entwickeln soll.Ich will hier nicht alle Bereiche aufgreifen. Das wäreviel zu viel; dazu reicht die Zeit nicht. Ein paar Sachenmöchte ich aber herausgreifen.Es ist kein Geheimnis, dass wir in vielen Bereichenmit den Grünen übereinstimmen, wie zum Beispiel inder Kritik an der nicht erfolgenden Energiewende durchdie Regierung. Wir Sozialdemokraten sind der Meinung,dass die Bundesregierung die Energiewende endlich alsnationale Aufgabe begreifen muss und dass man nicht
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Ingo Egloff
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dabei stehen bleiben und darauf hoffen darf, dass derMarkt es regeln wird. Der Markt wird es nämlich nichtalleine regeln. Das sehen wir im Moment.
Wir möchten, dass es einen nationalen Ausbauplangibt, und es wäre auch wünschenswert, wenn es einestaatliche Beteiligung an den Netzgesellschaften gäbe,die sich dieser Energiewende dann auch annähmen.Damit, dass Sie nach dem beschlossenen Atomaus-stieg ein Jahr lang nichts getan und bis zum heutigen Tagnoch nichts umgesetzt haben, obwohl zum Beispiel dasKonzept für den Anschluss von Offshoreanlagen seitMärz abgestimmt vorliegt, zeigen Sie nur eines: Sie ha-ben die Tragweite unserer gemeinsamen Entscheidung,aus der Atomenergie und mittelfristig aus der fossilenEnergieerzeugung auszusteigen, nicht begriffen. Siewollen das wichtigste Industrieland Europas energiemä-ßig umsteuern, aber Sie haben keinen tragfähigen Plan.Das ist weder zukunftsgerichtet noch nachhaltig.
Allerdings teilen wir auch nicht die pauschale Kritikan der Ausnahme bestimmter Branchen bei den Netzlei-tungsgebühren. Wir sind jedoch der Auffassung, dass dieAusnahmen, die die Regierung hier beschlossen hat, soausgeweitet worden sind, dass die Akzeptanz in der Be-völkerung leidet. Trotzdem sind wir der Auffassung,dass es richtig ist, energieintensive Industriebetriebe aus-zunehmen, die für die Wertschöpfungsketten in diesemLand wichtig sind und sonst nicht konkurrenzfähig wä-ren; denn wir wollen die ganzen Wertschöpfungskettenhier in Deutschland. Wir wollen die Grundstoffindustriein Deutschland; denn wir wollen hier nicht abhängig seinvon anderen. Auch das ist ein Gesichtspunkt der Nach-haltigkeit in der Wirtschaft.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,auch wenn wir viele Ihrer Forderungen teilen und siehier zum Teil ja schon selbst in Antragsform eingebrachthaben, drückt Ihr Antrag an einigen Stellen etwas aus,was zumindest mir nicht gefällt.Natürlich brauchen wir Forschungsförderung für denMittelstand. Ich finde es aber auch nicht schlimm, dassein Großkonzern Forschungsförderung erhält, wenn erdamit etwas Vernünftiges macht.Die Stärke der deutschen Wirtschaft ist es, dass wireinerseits große Konzerne von Weltrang haben, anderer-seits aber auch viele Mittelständler, zum Teil auch sol-che, die als Hidden Champions auf dem Weltmarkt sehrerfolgreich sind. Deshalb möchte ich an dieser Stellekeinen Unterschied machen; denn nur gemeinsam ist derExporterfolg der deutschen Wirtschaft, ist das Aus-schöpfen ihres Innovationspotenzials möglich.Die SPD begrüßt ausdrücklich die Reindustrialisie-rungsstrategie der Europäischen Union. Wir wollen einEuropa, das wieder Vorreiter bei Wettbewerbsfähigkeitund Innovation wird. Wir wollen Produkte, die dem Zielder Ressourcenschonung und dem Klimaschutz ver-pflichtet sind. Wir wollen die Abhängigkeit von fossilenEnergieträgern überwinden. Aber wir wollen im Ver-gleich zu anderen Gegenden der Welt auch konkurrenz-fähig sein.
– Darauf warten wir schon lange, Herr Breil.
– Schön wäre das ja. – Deshalb müssen wir europäischeLeitmärkte definieren, in denen wir erfolgreich sind, wowir in der Lage sind, auf dem Weltmarkt mitzuhalten.Wir müssen eine gemeinsame europäische Industriepoli-tik formulieren. Leitmärkte sind unserer Meinung nachzum Beispiel der Maschinenbau, der in Europa 10 Pro-zent der industriellen Wertschöpfung ausmacht und indem in Deutschland 870 000 Menschen beschäftigt sind,die Luft- und Raumfahrtindustrie, die mit Airbus undEADS jetzt schon ein Beispiel europäischer Industrie-kooperation ist.Wir dürfen auch die Automobilindustrie nicht aus denAugen verlieren, nicht nur, weil in Deutschland jedersiebte Arbeitsplatz an dieser Branche hängt, sondernauch, weil sich die Menschen in ihrer Mobilität nichtwerden einschränken lassen. Im Gegenteil: Auch in an-deren Gegenden der Welt wird das Automobil eine zu-nehmende Rolle spielen. Deshalb brauchen wir im Ge-samtinteresse des Klimaschutzes innovative Technikenwie Brennstoffzellen und Elektromobilität. Deshalbbrauchen wir hier auch die Forschung in der deutschenIndustrie. Deswegen sollten wir auch die Automobil-industrie als einen der Leitmärkte ansehen.
Davon profitiert der Klimaschutz in der gesamtenWelt. Wir brauchen innovative Bahntechniken, und auchder Bereich der Chemie- und Pharmaindustrie gehört zuden sektoralen Leitmärkten, die für ein hohes Innova-tionspotenzial stehen.Eine zukünftige europäische Innovationsstrategie be-nötigt neue Breitbandnetze. Hier steht Deutschland imVergleich zu anderen europäischen Ländern auf einemhinteren Platz, was den Ausbau angeht.
Kommunikationsmöglichkeiten sind heute, insbesonderefür Mittelständler in ländlichen Regionen, der Schlüsselzum Erfolg. Der Ausbau der europäischen Breitband-netze, der Energienetze und der Bahnverbindungen istein Baustein zum Erfolg der europäischen Reindustriali-sierungspolitik.Dieser Aspekt der europäischen Industriepolitik, liebeKolleginnen und Kollegen der Grünen, ist, auch wennSie das in Ihrem Beitrag, Frau Andreae, angesprochen
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Ingo Egloff
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haben, in Ihrem Antrag, ich nenne es einmal so: ein biss-chen unterbelichtet. Industrie ist unseres Erachtens nichtalte Wirtschaft. Industrielle Beschäftigung und Wert-schöpfung haben dazu geführt, dass Deutschland besserdurch die Krise gekommen ist als andere Länder.
Industrielle Innovation ist auch der Schlüssel zum Er-folg bei Ressourceneinsparung und Energieeffizienz undkann mit dazu beitragen, die Klimaschutzziele weltweitzu befördern. Das ist eine echte Win-win-Situation.Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, die Wirt-schaft nachhaltiger und klimafreundlicher zu gestalten.Diese Debatte lohnt. Insofern kann das nur ein ersterAuftakt sein.Vielen Dank.
Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Dr. Martin
Lindner das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Lie-ber Herr Kollege Egloff, aus Ihren Worten und auch ausIhrem Gesicht sprachen so deutlich wie nie zuvor dieganze Frustration, Depression und Traurigkeit der Oppo-sition, dass es Deutschland in wirtschaftlicher Hinsichtso gut wie nie zuvor gegangen ist.
Nie so wenig Arbeitslosigkeit, nie so viel Zuwachs,gerade im Binnenbereich, aber auch im Export, Lohnzu-wächse, wie wir heute gelesen haben, gerade im unterenSegment: Es macht Sie wirklich traurig, dass Sie keinenwirklichen Ansatzpunkt für Ihre Kritik haben, sondernsich an so einem lächerlichen Hokuspokus abarbeitenund solchen Schimären nachjagen, wie Sie das geradegetan haben.Dem schließt sich auch dieser Antrag an. Frau Kolle-gin Andreae, Sie wollten mit den Forderungen Ihres An-trags die Wirtschaftskraft stärken. Sie beginnen mit ei-nem ökologischen Umbau. Statt zu sagen: „Wir könnenan der einen oder anderen Stelle etwas weiterentwickeln,was in diesem Land erfolgreich ist“, wollen Sie gleichumbauen. In Wahrheit wollen Sie nicht einen wirtschaft-lichen Umbau, einen ökologischen Umbau haben, son-dern einen wirtschaftlichen Abbau bewirken. Das ist derzentrale Punkt Ihres Antrags.
Sie schreiben zum Beispiel davon, umweltschädlicheSubventionen abbauen zu wollen. In diesem Zusammen-hang wagen Sie es, uns den Begriff „Lobbypolitik“ vor-zuhalten. Wenn wir auf der anderen Seite hier Debattenüber die Energiepolitik führen, haben Sie überhaupt keinProblem damit, dass aus der Opposition von SPD undGrünen gleich drei Eurosolar-Lobbyisten aufmarschie-ren und deutlich machen, dass sie gar keine Volksvertre-ter sind, sondern pure Lobbyisten in diesen Fragen.Dann sollten Sie sich mit diesen Worten wirklich deut-lich zurückhalten. Das sage ich Ihnen an dieser Stelleganz deutlich.
Außerdem wollen Sie nachhaltige Finanzmärkteschaffen. Dabei wollen Sie eine „Größenbremse für Ban-ken einführen“. Herrschaften, wie viele Großbanken ha-ben wir denn eigentlich in Deutschland? 80 Prozent derdeutschen Banken sind Genossenschaftsbanken, Spar-kassen oder Landesbanken, an denen der Staat beteiligtist.
Hinzu kommt die teilverstaatlichte Commerzbank. Dannbleiben noch 20 Prozent übrig. Die Hälfte davon sindKleinstbanken oder private Banken. Dann gibt es nochdie Deutsche Bank. Dann schreiben Sie doch gleich inIhren Antrag hinein, dass Sie das einzige große deutscheBankinstitut auch noch abschaffen wollen. Für eineVolkswirtschaft mit dieser Bedeutung ist dies aber deut-lich zu wenig. Es geht nicht nur mit Sparkassen und Re-gionalbanken, meine Damen und Herren. Das sage ichIhnen an dieser Stelle auch ganz deutlich.
Ihr Antrag enthält aber auch gute Ansätze. Dabeimöchte ich mich dem Kollegen Pfeiffer anschließen. MitIhrer Forderung nach einer steuerlichen Forschungsför-derung und einem besseren Zugang zu Wagniskapitalkämpfen Sie mit uns gemeinsam dafür, dass wir Spiel-räume erarbeiten, dass wir an anderen Stellen kürzenkönnen, um diese wichtigen Projekte durchsetzen zukönnen.
Dabei kann man auch etwas gemeinsam machen. Dazulade ich Sie ein.
Das geht aber natürlich nicht mit solchen Schaufens-teranträgen.
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Dr. Martin Lindner
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Wenn Sie es mit diesem Antrag ernst meinten, dann wür-den Sie darauf hinwirken, dass dieser Antrag im Aus-schuss beraten wird. Aber einen so umfangreichen An-trag hier vorzustellen und zur sofortigen Abstimmung zustellen, zeigt, dass Sie gar keine ernsthafte Debatte füh-ren wollen, sondern dass Sie hier irgendetwas für IhreKlientel machen wollen. Mit seriöser Politik hat das abernichts zu tun.
Es fehlen zentrale Punkte und Punkte, denen Sie sichin Ihrer Partei stellen müssen.
Erstens meine ich damit die Infrastrukturprojekte. Dabeimüssen Sie sich einmal zu Projekten bekennen – auchwenn die Kugeln pfeifen –, die für die Fortentwicklungund den Bestand dieser Industriegesellschaft eminentsind. Das sind Projekte im Straßenverkehr, im Schienen-verkehr und im Flugverkehr.Wenn Sie der Meinung sind, es müsse überall restrik-tiv und einschränkend vorgegangen werden – hier keineStartbahn, da keine Schienen, hier keine Autobahnver-bindung, wobei Sie wegen 2 Kilometern Autobahn sogareine Koalition nicht eingehen –, dann erklären Sie dochbitte auf der anderen Seite den Leuten, dass die Realisie-rung dieser ökologischen Politik mit erheblichen unddramatischen Einbußen des Wohlstands dieses Landeseinhergeht.Sagen Sie den Leuten, dass heute in einem Super-markt etwa 10 000 Produkte verfügbar sind. Sagen Sieihnen, dass in den 70er- und 80er-Jahren noch 700 bis800 Produkte verfügbar waren. Sagen Sie ihnen, dass essich nur noch Bestverdiener leisten können, in Feinkost-läden einzukaufen, wenn Sie das realisieren, was Sierealisieren wollen, Normalbürger an diesen Wohlstands-errungenschaften aber nicht mehr teilhaben. Sagen Sieden Leuten, dass Fliegen dann nur noch für Topverdie-ner möglich ist, wie dies in den 50er- und 60er-Jahrender Fall war. Sagen Sie ihnen, dass Mallorca dann nichtmehr drin ist. Sagen Sie den Leuten die Wahrheit. Diesist manchmal besser, als es in Ihrem Soziologendeutschimmer wieder zu verklausulieren.
Worauf Ihr Ansinnen hinausläuft und was Ihre wich-tigsten Fragen sind, das erwähnen Sie am Anfang IhresAntrags – dies ist der ökologische Umbau – sowie amEnde Ihres Antrags. Am Ende Ihres Antrags fallen abernur noch Schlüsselworte, die Sie für wichtig halten, dieaber nichts mit Wirtschaftspolitik zu tun haben: Gleich-stellungsgesetz für die Privatwirtschaft, Geschlechter-quote, Benachteiligungen, Mindestlohn, Mitbestimmungund Equal Pay. In irgendwelchen sozialpolitischen An-trägen mag das alles richtig sein. Sie erheben aber hierden Anspruch, Wirtschaftspolitik zu betreiben. Das hatmit Wirtschaftspolitik aber nichts zu tun. Das ist eine ArtAntimaterie zur Wirtschaftspolitik, meine Damen undHerren.
Das lehnen wir ab. Mit uns wird es kein Programmgeben, das absichtlich zu Rezession in diesem Landführt. Davon haben wir eine durchaus andere Vorstel-lung.Der letzte Punkt: Wenn Sie wirklich einen Eindruckdavon bekommen wollen, was die Menschen in den klei-nen Betrieben, den Familienbetrieben zurzeit bedrückt,dann reden Sie mit ihnen über Ihre LieblingsprojekteVermögensteuer und Vermögensabgabe. Dann kriegenSie einen Eindruck davon, was gerade Familienunter-nehmen, Schlosserbetriebe, Schreinerbetriebe und an-dere Handwerke davon halten, weil sie genau wissen– das können Sie gerade in Frankreich studieren –: Werglaubt und postuliert, er würde den Reichen ans Fell ge-hen, wie Herr Hollande in unserem Nachbarland, derkriegt aus der Millionärsteuer einen Ertrag von 250 Mil-lionen Euro. Die Leute lesen das, und sie wissen genau,dass es bei solchen Sachen nicht um Millionäre geht,sondern dass einem ganz normalen Mittelständler undder Mittelschicht das Fell über die Ohren gezogen wer-den soll. Darum geht es, und darüber werden wir auchim kommenden Jahr die Auseinandersetzung sehr inten-siv führen, meine Damen und Herren.Wir stehen für Fortschritt. Wir stehen für Wachstum.Wir wollen, dass Deutschland weiter stark bleibt. Siehaben genau das Gegenteil vor. Dagegen werden wirkämpfen.Herzlichen Dank.
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der
Kollegin Kerstin Andreae vom Bündnis 90/Die Grünen
das Wort.
– Das ist richtig. Ich habe schon gesprochen. Aber ichmuss einen Punkt weit von mir weisen.Sie hatten den Herrn Kollegen Egloff angesprochen,es dann aber auf die Opposition insgesamt bezogen. Siehaben gesagt, die Opposition würde sich freuen, wenn esder Wirtschaft und den Menschen schlecht geht. Dasfinde ich unglaublich. Wir alle sind Parlamentarier undnehmen unsere Verantwortung und unsere Arbeit sehrernst. Eine Hauptaufgabe unserer Arbeit ist, dass wirversuchen, zum Besten der Menschen, der Wirtschaft,der Gesellschaft und der Umwelt zu handeln. Genau diestun wir und nehmen es für uns in Anspruch.Deswegen bin ich erstens überhaupt nicht bereit undweise es auf das Vehementeste von mir, wenn Sie uns inder Opposition alleine oder in Gänze vorwerfen, dass
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Kerstin Andreae
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wir uns freuen würden, wenn es irgendjemandemschlecht geht, um dann unsere Politik erklären zu kön-nen. Das weise ich auf das Allerschärfste von mir.
Zweitens will ich Ihnen sagen: Es ist doch nicht un-sere Erfindung, dass wir uns in einem Strukturwandelbefinden und dass diese Regierung keine Antworten aufdiesen Strukturwandel hat. Der Ifo-Index ist zum sechs-ten Mal in Folge gefallen. Die DIHK-Unternehmensum-frage belegt verschlechterte Geschäftsaussichten. DieHerbstprognose aus dem Hause Ihres Wirtschaftsminis-ters Rösler musste wiederum nach unten korrigiert wer-den. Entschuldigung, hat das die Opposition erfunden,oder sind das Zahlen aus Studien und Untersuchungenoder aus dem Wirtschaftsministerium? Es sind Belegedafür, dass sich der Wind dreht.Wir fordern ein, dass Sie auf diesen Wandel reagie-ren, aber das tun Sie nicht. Das werfen wir Ihnen vor.Das hat überhaupt nichts mit Freude über irgendetwas zutun, sondern das ist eine klare Analyse und Einforderungvon Handeln.Danke schön.
Herr Kollege Lindner zur Erwiderung.
Frau Kollegin Andreae, ich unterstelle weder Ihnen
noch der gesamten Opposition, dass Sie sich freuen wür-
den, wenn es Menschen schlechter geht.
– Nein. Das müssen Sie im Protokoll nachlesen. Dann
werden Sie sehen, dass ich sagte: Ihre Verzweiflung da-
rüber, dass Sie keinen richtigen Ansatz finden, dieser
Regierung wirtschaftspolitisches Versagen vorzuwerfen,
ist Ihr Problem. Wir haben jeden Tag Zahlen, von denen
Sie, als Sie regierten, geträumt hätten.
Sie hatten maximale Arbeitslosigkeit. Sie hatten maxi-
male Inflation. Das ist das, was Sie als rot-grüne Bun-
desregierung seinerzeit zusammengebracht oder auch
zusammengestümpert haben.
Natürlich verzweifeln Sie daran, dass selbst in einer
Abschwungphase, die eine ganz normale zyklische
Entwicklung darstellt, Erfolgsmeldungen kommen, etwa
dass Deutschland einer der attraktivsten Investitions-
standorte geworden ist und dass es in einem wachsenden
Prozess auch gelungen ist, beispielsweise Exportdefizite,
die wir im europäischen Bereich haben, im außereuropä-
ischen Bereich auszugleichen. Das sind Erfolgsmeldun-
gen. Ich rede nicht von Gutachten. Sie finden immer ein
paar griesgrämige Gutachten zu allem.
Sie müssen sich vielmehr an die volkswirtschaftlichen
Daten und an die echten Fakten und Zahlen halten statt
an das, was Ihnen Ihre Hausgutachter aufgeschrieben
haben. Das ist der entscheidende Punkt.
Sie müssen versuchen, in einer solchen Phase etwas
konstruktiver an die Dinge heranzugehen. Dass Sie jedes
Mal repetieren, dass die SPD ihren Anteil hatte, 2002
und 2003, als sie allmählich ihre Agenda-Politik machte,
ist schon peinlich. Es sind zehn Jahre verstrichen, und
jetzt – daran verzweifeln Sie natürlich – kriegen Sie
nichts mehr zustande. Jetzt machen Sie genau das
Gegenteil der Agenda-Politik. Sie wollen all das wieder
abräumen, was damals mit eine Ursache für die heutige
Situation gelegt hat. Sie sagen immer wieder: Das alles
hat mit der schwarz-gelben Regierung nichts zu tun. Das
waren alles wir, 2003. – Dass Sie es damals in den 50er-
Jahren des letzten Jahrhunderts mit Ihren programmati-
schen Entwicklungen waren, die die Grundlagen gelegt
haben, das werden Sie uns demnächst auch noch vorhal-
ten.
Die Wahrheit ist doch, dass es, seitdem diese Regie-
rung im Amt ist, Deutschland in wirtschaftlicher Hin-
sicht gut geht. Ich lade Sie herzlich ein, mit uns um noch
bessere Lösungen zu ringen – wie beispielsweise bei der
steuerlichen Forschungsförderung oder beim Wagnis-
kapital. Aber lassen Sie dieses lächerliche und unglaub-
würdige Kassandragerufe! Das hat keinen Sinn. Das
glaubt Ihnen auch keiner. Versuchen Sie, Ihre wirt-
schaftsfeindliche Politik im Zaum zu halten! Sie stellen
auf der einen Seite einen Kandidaten auf,
der meint, mit Wirtschaftspolitik reüssieren zu können,
und auf der anderen Seite machen Sie genau das Gegen-
teil. Versuchen Sie erst einmal, Kandidat und Programm
zusammenzubringen! Dann reden wir hier über vernünf-
tige Programme weiter.
Herzlichen Dank.
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort die Kol-legin Ulla Lötzer.
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Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Ach, wis-
sen Sie, Herr Lindner, mit den Exporterfolgen heften Sie
sich vor allem die Ergebnisse der Wirtschaftspolitik der
Regierungen Chinas, Lateinamerikas und anderer Staa-
ten als Ihre Erfolge an die Brust. Wenn der Abschwung
kommt, dann waren es wahrscheinlich die Märkte oder
sonst wer, aber nicht Sie. So simpel geht es einfach
nicht.
Frau Andreae, Sie haben recht, wenn Sie – im Gegen-
satz zu Herrn Lindner – sagen, dass wir einen grundle-
genden Wandel der Wirtschaft brauchen. Dazu gehören
auch Verteilungsgerechtigkeit und Chancengerechtigkeit
für alle; so schreiben Sie. Die Art, wie und was wir
arbeiten und wie wir wirtschaften, muss sich ändern. Na-
türlich brauchen wir auch, Herr Egloff, Maßnahmen zur
Stabilisierung der wirtschaftlichen Lage.
Herr Pfeiffer und Herr Lindner, genauso richtig ist,
dass Sie in dieser Hinsicht restlos versagen. „Stagna-
tion“ oder „Stillstand“ wäre ja noch ein Lob für das, was
Sie tun. Auf alle Herausforderungen hat Ihr Wirtschafts-
minister, Herr Rösler, nur eine Antwort: „Der Markt
wird es richten“, statt den Wandel in Industrie und
Dienstleistungsbereich tatsächlich politisch zu gestalten.
Armut und Armutslöhne werden von Ihnen zemen-
tiert und ausgeweitet. Das und nichts anderes haben die
Debatten über Minijobs und Rente gezeigt. Sie blockie-
ren die Energiewende, weil Sie die Kosten für die Ver-
braucherinnen und Verbraucher hochtreiben und die
Hand über die großen Vier halten, statt dezentrale Ener-
gieerzeugung, kleine und mittlere Ansätze, Genossen-
schaften und anderes zu stützen.
Frau Andreae, auch wenn wir viele Forderungen und
Aspekte in dem von Ihnen vorgelegten Antrag teilen,
muss ich ein paar Tropfen Wasser in den Wein gießen.
Das betrifft vor allem: Gute Arbeit für alle. „Nach
30 Jahren Deregulierung liegt der Arbeitsmarkt in totaler
Unordnung, prekäre Beschäftigung und der Niedriglohn-
sektor nehmen zu“, schreibt der DGB in seinem Papier.
Sie aber weigern sich nach wie vor, den Bruch mit der
Agenda 2010 zu vollziehen.
Es war Ihre Politik, die zur Ausweitung von Niedriglöh-
nen, Leiharbeit und Minijobs geführt hat.
Hartz IV hat Armut und Zukunftsängste vorangetrieben.
Bis heute verweigern Sie die Rücknahme der Rente mit 67,
obwohl das Rentenkürzungen und Altersarmut voran-
treibt. Angstfreiheit im Wandel sieht anders aus.
Statt immer mehr Reichtum für wenige wollen wir ein
gutes Leben für alle.
Das geht nur mit Umverteilung von Vermögen, Arbeit
und Einkommen.
Auf europäischer Ebene stützen SPD und Grüne die
Bundesregierung bei ihren Kürzungsprogrammen, die
die Menschen in Armut und Massenarbeitslosigkeit
treiben und die Krise verschärfen. Ein ökologisches
Investitionsprogramm für Europa ist richtig, aber nicht
zusätzlich zu Kürzungsprogrammen, sondern statt
Kürzungsprogrammen.
Gerade für Europa wären Festlegungen für einen neuen
sozialen Ausgleich und soziale Grundrechte wichtig.
Das fehlt mir bei Ihnen leider völlig.
Bei Herrn Lindner bleibt die Demokratie vor den
Werkstoren stehen. Das hat er mit dem, was alles seiner
Meinung nach nicht zur Wirtschaftspolitik gehört, deut-
lich gemacht.
Frau Andreae, ich meine, auch bei Ihnen kommt die
Frage der Demokratisierung von Wirtschaft und Gesell-
schaft zu kurz. Sie sagen zwar, die betriebliche Mitbe-
stimmung müsse gestärkt werden. Ich glaube aber, das
reicht nicht aus. Für die große Idee eines großen
Wandels braucht man viele Ideen zur direkten Bürger-
und Bürgerinnenbeteiligung und zur Ausweitung von
Demokratie innerhalb und außerhalb des Betriebs und
auch gegenüber der Wirtschaft.
Bei diesen Punkten müssen Sie noch nachsitzen. Erst
dann wird aus dem Wandel tatsächlich ein grundsätzli-
cher sozialer und ökologischer Erneuerungswandel.
Danke für die Aufmerksamkeit.
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich das Wort dem Kollegen Andreas Lämmel von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Wenn man sich den Antrag anschaut, dann stelltman fest, dass das im ersten Moment ganz gut klingt.Die Überschrift ist wie immer gut designt. Aber beimgenaueren Hinschauen fällt sofort auf: viele Zustandsbe-schreibungen, langatmig geschrieben, Allgemeinplätze,die jeden Tag in jeder Zeitung zu lesen sind.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24333
Andreas G. Lämmel
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Sie zählen eine Menge Dinge auf, Frau Andreae, dielängst erledigt sind.
Ich stelle mir manchmal die Frage, ob Sie im Wirt-schaftsausschuss gar nicht anwesend sind, ob Sie denDiskussionen dort nicht folgen können
oder ob Sie vielleicht die Beschlüsse, die wir im Wirt-schaftsausschuss schon gefasst haben, überhaupt nichtverinnerlicht haben.
Ein weiterer Punkt fällt mir bei den Grünen immermehr auf, nämlich dass Sie sich immer weiter von demThema soziale Marktwirtschaft verabschieden. Ihnengeht es im Wesentlichen um staatlichen Dirigismus, umPlanwirtschaft und vor allen Dingen um die Gängelungder Unternehmen hier in Deutschland.
Von unternehmerischer Freiheit, unternehmerischer Mo-tivation und den Fähigkeiten deutscher Unternehmerkann ich in Ihrem Antrag nichts lesen.
Eine Überraschung gibt es trotzdem, Frau Andreae,nämlich weil in Ihrem Antrag steht – das habe ich vonIhnen noch nie gehört –: „Es gibt keine gute oderschlechte Industrie.“ Das ist ja einmal eine neue Er-kenntnis. Das ist richtig toll.
Denn wir haben früher immer genau gehört: Sie unter-scheiden zwischen den Guten und den Schlechten. DieSchlechten müssen weg, damit im Prinzip die Guten üb-rig bleiben.
Die chemische Industrie, die Automobilindustrie undvor allem die Grundstoffindustrie waren für Sie ständigrote Tücher.Wenn man diesen Absatz weiterliest, kommt derentlarvende Satz: „Diese klassische Klientelpolitik aufDruck einflussreicher Lobbys geht zu Lasten unsererZukunft.“ Ich erinnere mich noch genau an die Diskus-sionen über das Erneuerbare-Energien-Gesetz, FrauAndreae, in der die Lobbyisten der Solarindustrie, derWindindustrie und weiterer Bereiche aufmarschiertenund die Novellierung des Erneuerbare-Energien-Geset-zes verhindert haben. Selbst in Ihrer Partei und auch beider SPD ist man doch mittlerweile schon längst so weit,zu erkennen, dass das EEG so, wie wir es heute haben, indie Irre führt und klar zulasten der Zukunft geht, weil esden Menschen enorme finanzielle Mittel aus der Taschezieht.
Nun noch zu einigen konkreten Punkten: Das ThemaRessourceneffizienz ist kein Thema, das die Grünen indie politische Diskussion geworfen haben, sondernRessourceneffizienz bewegt uns alle. Aber da fordernSie wieder die Handhabe des Staates. Sie wollenVerbrauchsobergrenzen einführen. Sie wollen eine Preis-gestaltung für Energie und Rohstoffe in Form einer so-zial-ökologischen Steuerreform.Sie sollten gelegentlich wieder einmal ein Unterneh-men besuchen und nachschauen, was deutsche Unter-nehmer selbst unternehmen, um hohen Rohstoffpreisenund hohen Energiekosten zu begegnen. Sie setzen näm-lich von selbst auf Ressourceneffizienz und Energieeffi-zienz. Als Staat muss man die Wirtschaft nicht ständigmit neuen Verordnungen und Gängelungen dahin brin-gen, sondern jeder Unternehmer, der im globalen Wett-bewerb überleben will, muss das von sich aus machen.Deswegen brauchen wir die Anträge der Grünen dazunicht.Sie haben auch die Rohstoffstrategie der Bundes-regierung überhaupt nicht gelesen und haben auch nichtverstanden, worum es in der Rohstoffstrategie überhauptgeht.Dann zum Thema Innovationen: Das ist das wich-tigste Feld für die deutsche Wirtschaft; denn ohne Inno-vationen wird man im globalen Wettkampf nicht beste-hen können. Sie kritisieren in Ihrem Antrag, dass kleineund mittlere Unternehmen von der Förderung nicht pro-fitieren. Wo sind wir denn? Sie haben offensichtlich dieHaushaltsverhandlungen in der letzten Woche nicht mit-bekommen. Dass Sie gegen den Haushalt und damitauch gegen die Mittel für kleine und mittlere Unterneh-men gestimmt haben, sei einmal dahingestellt. Offen-sichtlich haben Sie aber nicht mitbekommen, was sich inden letzten Jahren getan hat. Es gibt das Zentrale Inno-vationsprogramm Mittelstand. Es geht hier nicht um dieGroßindustrie, wie Sie es in Ihrem Antrag suggerieren.Wenn Sie mit Unternehmern sprechen, dann stellen Siefest, dass alle sagen, dass das Programm, das nach demKonjunkturpaket II auf ganz Deutschland ausgeweitetwurde, das unbürokratischste und das technologie-offenste ist, das es bisher in der BundesrepublikDeutschland gegeben hat. Dies ist doch ein toller Erfolg.Schauen wir uns einmal die Zahlen an. Seit 2005,Frau Andreae, seit die Grünen also in die Opposition ge-gangen sind – das hat sich offensichtlich positiv ausge-wirkt –, haben sich die Fördermittel, die direkt an dieKMU gegangen sind, mehr als verdoppelt, von einstmals400 Millionen Euro auf über 1 Milliarde Euro. DiesesGeld wurde in Innovationen, neue Produkte und neueVerfahren gesteckt.Meine Damen und Herren, der Antrag, in dem dieGrünen uns suggerieren wollen, dass sie etwas von Wirt-
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24334 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Andreas G. Lämmel
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schaftspolitik verstehen, ist ein Rohrkrepierer; das mussman so sagen. Er ist das Papier nicht wert, auf dem ergeschrieben steht.
Hätten Sie sich das geschenkt, hätten Sie dem DeutschenBundestag mindestens 50 Kilo Papier erspart und hättendamit zur Ressourcenschonung in der Welt beigetragen.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/11162
mit dem Titel „Wirtschaft im Umbruch – Wandel ökolo-
gisch, sozial und europäisch gestalten“. Wer stimmt für
diesen Antrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der
Antrag ist abgelehnt mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen und der Fraktion Die Linke bei Zustimmung
von Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der SPD.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Techno-
logie zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel
„Chancen nutzen – Vorsorgende Wirtschaftspolitik jetzt
einleiten“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/8642, den Antrag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/8346 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-
empfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Ko-
alitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke gegen die
Stimmen der SPD-Fraktion bei Enthaltung von Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Stärkung der deutschen Finanzaufsicht
– Drucksachen 17/10040, 17/10252 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses
– Drucksache 17/11119 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Ralph Brinkhaus
Manfred Zöllmer
Björn Sänger
Dr. Gerhard Schick
Hierzu liegen ein Änderungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen sowie ein Entschließungsantrag
der Fraktion der SPD vor. Über den Gesetzentwurf wer-
den wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Peter Aumer von der CDU/CSU-Frak-
tion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Mit dem vorliegenden Gesetzent-wurf, den wir heute in zweiter und dritter Lesung ab-schließend beraten, kommen wir ein großes Stück in Sa-chen Stärkung unseres Finanzsystems und der Ver-braucherschutzinteressen in der Bundesrepublik Deutsch-land voran.
Die Finanzkrise hat uns deutlich gemacht, dass das Auf-sichts- und Regulierungssystem in Deutschland, inEuropa und in der Welt nicht ausreichend war; dennFehlentwicklungen und systemische Risiken wurden zuspät oder gar nicht erkannt. Wir von der christlich-libera-len Koalition haben uns daher seit Ausbruch der Kriseumfangreich mit der Stabilisierung, der Regulierung undder Aufsicht über die Finanzmärkte auseinandergesetzt.In dieser Legislaturperiode haben wir hier im DeutschenBundestag bereits knapp 20 Gesetze zur Bändigung undRegulierung des Banken- und Finanzsektors auf denWeg gebracht.
– Ich komme gleich noch zu Ihnen. – Neun weitere Ge-setze sind in Arbeit und stehen kurz vor dem Abschluss.Auf europäischer Ebene kommen etwa 70 Gesetzesini-tiativen seit Anfang der Krise hinzu.Angesichts des Einwurfs der SPD-Kollegin, es habealles nichts genutzt, komme ich auf den Vorschlag IhresKanzlerkandidaten zu sprechen, der ein fulminantesKonzept der Finanzmarktregulierung angekündigt hat.Was sich jedoch dahinter verbirgt, ist eine Blase vonMaßnahmen, die bereits umgesetzt sind oder die sich aufdeutscher oder europäischer Ebene in der Umsetzung be-finden.
Ich glaube, hier sollte sich die SPD zurückhalten. Wenndas alles ist, was Ihr Kanzlerkandidat in petto hat, dannkann ich nur sagen: Armes Deutschland!
Die christlich-liberale Koalition arbeitet verlässlichan einer an Stabilität orientierten Finanzmarktregulie-rung und vor allem daran, dass die Finanzmarktregulie-rung nach den Grundsätzen der sozialen Marktwirtschaftfunktioniert. Unser Bundesminister Wolfgang Schäubleist ein verlässlicher Partner für eine effektive und strin-gente Regulierung der Finanzmärkte. Vor kurzem hat erbei einem Interview mit einer Zeitung Folgendes gesagt:
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Peter Aumer
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… ganz ohne Regeln und Grenzen geht es auch mitFinanzmärkten nicht. Die zerstören sich selbst,wenn sie keine Grenzen haben.Das ist in der sozialen Marktwirtschaft unsere Aufgabe:Regelungen auf den Weg zu bringen und Grenzen zu set-zen, in denen sich die Banken und Kreditinstitute bewe-gen können.
Mit dem Gesetz, dessen Entwurf vorliegt, stärken wirdie deutsche Finanzaufsicht und setzen weiterhin eineneffektiven Regulierungsrahmen für die Finanzmärkte. Indiesem Gesetzentwurf werden verschiedene Punkte ab-gearbeitet. Die Verbesserung der Aufsichtsstruktur istdabei ein wesentlicher Aspekt. Mit einem Ausschuss fürFinanzstabilität, der eingerichtet werden soll und deranalog zu dem auf europäischer Ebene tätigen Aus-schuss für Systemrisiken arbeitet, versuchen wir, ge-meinsam die makroprudenzielle Aufsicht zu verbessern,die Stabilität des Finanzsystems zu überwachen undrechtzeitig vor Gefahren betreffend die Finanzmärkte zuwarnen.Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Bezahlungsstruk-tur der BaFin. Auch hier halten wir es für wichtig,marktorientiert zu arbeiten und die Beamtinnen und Be-amten entsprechend zu entlohnen.Ich habe es bereits angesprochen: Auch der Verbrau-cherschutz findet seine Berücksichtigung in diesem Ge-setzentwurf. So soll ein Verbraucherbeirat installiertwerden. Erstmals wird auch ein Beschwerdeverfahren indas Gesetz aufgenommen, das die Beziehungen zwi-schen Kunden und Verbraucherschutzorganisationen re-gelt.Das Gesetz zur Stärkung der deutschen Finanzauf-sicht zeigt, dass die christlich-liberale Koalition die Leh-ren aus der Finanzmarktkrise gezogen und eine effektiveund schlagkräftige Aufsicht und Regulierung auf denWeg gebracht hat. Deutschland leistet damit einen wich-tigen Beitrag zur Regulierung der Finanzmärkte auf eu-ropäischer und internationaler Ebene.Ich habe ein weiteres Zitat von unserem Bundes-finanzminister gelesen, das mir sehr gut gefallen hat; esentstammt einer Rede, die er bei einem Kongress desHandelsblatts gehalten hat. Dieses Zitat zeigt fünf we-sentliche Punkte auf, die für die Finanzmarktregulierungwichtig sind. All diese Punkte, meine sehr geehrten Da-men und Herren der Opposition, haben wir umgesetzt.Sie sollten dazu beitragen, dass wir hier gemeinsam vo-rankommen. Die fünf Punkte lauten:Wir wollen die Transparenz der Märkte und Pro-dukte erhöhen. Wir wollen der Haftung wieder Gel-tung verschaffen. Wir wollen die Verursacher anden Kosten der Krise beteiligen. Wir wollen dasFinanzsystem insgesamt krisenfester machen. Undwir wollen fünftens eine durchsetzungsstärkereAufsicht.Dies haben wir versprochen, und das halten wir nunmit dem vorliegenden Gesetzentwurf. Deswegen bitteich Sie, dem Gesetzentwurf zuzustimmen, sodass wir inDeutschland weiterhin den Herausforderungen derFinanzmarktregulierung begegnen können.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die SPD-Fraktion sprich jetzt der Kollege
Manfred Zöllmer.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lieber Herr Aumer, im vierten Jahr der Krise sollte es ei-gentlich ein bisschen mehr als nur ein „Wir wollen“ sein.
Da sollte man dann schon auf die Ergebnisse schauen.Letzte Woche gab es im Europäischen Rat eine Ver-ständigung, einen rechtlichen Rahmen für eine europäi-sche Finanzaufsicht bis zum Ende dieses Jahres aufzu-stellen. Dann soll im Laufe des nächsten Jahres dieBankenaufsicht auf europäischer Ebene stufenweise inBetrieb genommen werden.Jetzt lassen Sie uns einmal gemeinsam einen Blickauf den vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Re-form der deutschen Finanzaufsicht werfen. Es soll zum1. Januar 2013 in Kraft treten, also zu einem Zeitpunkt,da es bereits einen Rechtsrahmen für eine europäischeAufsichtsstruktur gibt. Wir sollen also nach dem Willender Koalition die deutsche Finanzaufsicht reformieren,die im nächsten Jahr auf die europäische Ebene verlagertwird. Mit Verlaub, ich weiß wirklich nicht, was das soll.Wir werden, nein, wir müssen deshalb den vorliegendenGesetzentwurf ablehnen, denn mit diesem Gesetzent-wurf wird das Thema, um das es geht, eindeutig verfehlt.
Wir haben deshalb in unserem Entschließungsantrag ge-fordert, diesen Gesetzentwurf zurückzuziehen und sichintensiv um eine vernünftige europäische Lösung zukümmern.
Das ist auch wirklich notwendig. Aber die Koalitions-fraktionen sind offensichtlich nicht bereit, diesemThema die nötige Aufmerksamkeit zu widmen. Wir ha-ben das mit dem Entschließungsantrag erlebt, der aus derHüfte gekommen, hier vorgelegt und dann verabschiedetworden ist.
– Herr Kollege Brinkhaus, für das, was Sie unter „tref-fen“ verstehen, habe ich zwei gute Beispiele. Schauenwir doch nur einmal Ihren Antrag zur europäischen Ban-
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Manfred Zöllmer
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kenunion an. Was steht darin? Sie fordern die Bundesre-gierung auf, dafür zu sorgen, dass es einen Zugriff, eineRegulierung auf europäischer Ebene nur bei den großen,international tätigen Banken gibt. Jetzt blicken wir ein-fach auf die letzte Woche zurück. Was hat denn dieKanzlerin vereinbart? Sie finden in dieser Vereinbarungnichts von einer Beschränkung. Es ist völlig klar, dassdie EZB in Zukunft Zugriff auf über 6 000 europäischeBanken hat. So viel vielleicht zum Schießen und Treffenaus der Hüfte. Leider haben Sie danebengeschossen.
Die Bundeskanzlerin hat sich nicht durchsetzen können,und das wird natürlich ganz erhebliche Auswirkungenauf die deutsche Aufsichtsstruktur haben. Wie, wissenwir noch nicht genau. Aber gerade deshalb macht es jakeinen Sinn, jetzt in einem Gesetzentwurf Regelungenfür eine Struktur zu treffen, die wir überhaupt nicht ken-nen.Dann gibt es einen weiteren Punkt. Sie haben gefor-dert, dass nach wirksamer Einführung der Bankenauf-sicht sich die Banken beim ESM nur dann refinanzierenkönnen, wenn sie sozusagen besenrein sind, wenn siekeine Schulden haben. Dies wird – wenn ich mir die Er-gebnisse vom letzten Donnerstag anschaue – ebenfallsnicht der Fall sein.
Dann lesen wir die Presse und sehen: Herr Brüderle
bewertet das als „ein gutes Ergebnis für die Bundes-regierung“. Herr Brinkhaus, ich frage Sie: Wenn das eingutes Ergebnis ist, wie sieht dann eigentlich ein schlech-tes Ergebnis aus?
Hier versucht Herr Brüderle, einfach nur schönzureden,was eine eindeutige Niederlage für die Koalitionsfraktio-nen ist. Schauen Sie noch einmal in Ihren Antrag!Ein weiterer Punkt, warum wir den Gesetzentwurf ab-lehnen müssen, ist Ihr Umgang mit dem Verbraucher-schutz. Herr Aumer, es ist nicht so, dass Sie hier, bezo-gen auf den Verbraucherschutz, neue Standards setzen.Sie weigern sich, den kollektiven Verbraucherschutz ex-plizit als Aufsichtsziel für die BaFin gesetzlich zu veran-kern. Daran wird deutlich, wie Sie Verbraucherschutzbewerten, nämlich als etwas, was völlig nachrangig ist.Dies können und wollen wir angesichts der Ereignisse,die wir alle gemeinsam beklagen, nicht akzeptieren.
Zusammenfassend kann man nur sagen: Thema ver-fehlt, zur Strafe bitte einen neuen Gesetzentwurf vorle-gen!
Für die FDP-Fraktion spricht jetzt der Kollege Björn
Sänger.
Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Während derFinanzkrise haben wir festgestellt: Das Vertrauen istweg, und an Kontrolle mangelte es. Deshalb hat dieseRegierungskoalition schon zu Beginn ihrer Tätigkeit imKoalitionsvertrag festgelegt, dass wir die nationaleFinanzaussicht reformieren wollen. Wir hatten hierursprünglich eine andere Lösung vorgesehen; das istrichtig. Aber der Erkenntnisgewinn hat dann schlussend-lich zu einer guten Lösung geführt; diese liegt vor.Herr Zöllmer, man kann natürlich darüber streiten, obes Sinn macht, so lange abzuwarten, bis auf EU-Ebeneirgendetwas reguliert wird. Aber ich sage Ihnen eines:Es wird auch in Zukunft eine nationale Aufsicht geben,und da ist es doch besser – zumindest aus unserer Sicht –,wenn die nationale Aufsicht gut aufgestellt ist. Mögli-cherweise ist die Lösung, die wir heute höchstwahr-scheinlich mit großer Mehrheit beschließen werden, eineBlaupause für eine europäische Regelung; es wäre nichtdas erste Mal.
Während der Finanzkrise sind einige Probleme offen-bar geworden: Wir haben Mängel bei der Verzahnungder makro- und der mikroprudenziellen Aufsicht festge-stellt. Die Globalsicht und die Unternehmenssicht müs-sen zusammengeführt werden. Das tun wir mit dem Aus-schuss für Finanzstabilität. Wir institutionalisieren dieZusammenarbeit von BaFin und Bundesbank und gebender Bundesbank hier auch neue Analysetools an dieHand, wobei uns an dieser Stelle auch wichtig ist – ichbetone dies noch einmal –, dass zunächst auf entspre-chende Daten zugegriffen wird, die schon vorhandensind, und die Bundesbank hier nicht wahllos weitere Da-ten zum Beispiel bei Versicherungsunternehmen erhebt.Wir haben im Ausschuss für Finanzstabilität – auchdas ist uns wichtig – alle drei Säulen der Finanzbranche,also Wertpapiere, Versicherung und Banken, erfasst, so-dass wir hier wirklich eine umfassende Finanzstabilitätsicherstellen können.Des Weiteren haben wir die Unabhängigkeit der Auf-sicht klargestellt, indem wir den Verwaltungsrat entspre-chend reformieren und dort die Lobbyverbände heraus-nehmen. Wir beseitigen damit ein Konstrukt, HerrZöllmer, für das Ihr Finanzminister Hans Eichel verant-wortlich ist. Man kann natürlich sagen: Wer die Chosebezahlt, der soll auch im Verwaltungsrat mitbestimmen.Aber mir persönlich ist nicht bekannt, dass der ADAC inirgendeinem Verwaltungsrat des TÜV sitzt, und dieAutofahrer zahlen die entsprechenden Überwachungsge-bühren auch vollkommen allein. Es sieht einfachschlecht aus, wenn die Finanzlobby hier im Verwal-tungsrat vertreten ist. Dies haben wir geregelt, indem wir
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Björn Sänger
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die zehn bislang von den Verbänden benannten Vertreterauf sechs unabhängige Vertreter zurückfahren. Drei sol-len auf Vorschlag der betreffenden Verbände – hier istwichtig, dass alle drei Säulen berücksichtigt werden –hineinkommen und weitere drei über ein Anhörungs-recht.
– Nein, es kommen unabhängige Experten hinein. Aberman hört natürlich die entsprechenden Branchenver-bände an, ob diese Experten auch über ausreichendExpertise verfügen. Das ist im Verwaltungshandelnvollkommen normal.Des Weiteren haben wir den Verbraucherschutz ge-stärkt, indem wir ein Beschwerdeverfahren institutiona-lisiert und einen Verbraucherbeirat eingerichtet haben.Damit geben wir der BaFin Möglichkeiten an die Hand,strukturelle Defizite im Finanzvertrieb zu erkennen;denn die BaFin ist dafür da, strukturelle Defizite undProbleme, die möglicherweise institutionalisiert sind, zuerkennen. Die Aufgabe der BaFin ist es nicht, eine ArtFinanz-Stasi zu sein, die Produkten und einzelnen Bera-tern hinterherläuft, um Einzelfallentscheidungen zu tref-fen. Dafür ist sie personell auch gar nicht aufgestellt.Wir wissen, dass derzeit eine Menge Stellen nicht be-setzt sind. Wir ändern die Besoldung, um marktfähig zuwerden.Ich fasse zusammen: Wir haben die Zusammenarbeitzwischen BaFin und Bundesbank institutionalisiert. Wirhaben damit eine strukturelle Qualitätsverbesserung inder Allfinanzaufsicht in Deutschland erreicht und stabili-sieren damit das System.Wir stärken des Weiteren die Unabhängigkeit derBaFin, indem wir die Lobbyverbände aus dem Verwal-tungsrat herausnehmen. Das steigert das Vertrauen in dieAufsicht in Deutschland. Wir stärken den Verbraucher-schutz durch entsprechende Beschwerderechte und einenVerbraucherbeirat.Meine sehr geehrten Damen und Herren, dieser Ge-setzentwurf ist ein weiterer Beleg dafür, dass die Bun-desregierung alles dafür tut, dass wir hier in Deutschlandein stabiles Finanzsystem haben und die Trümmer ausrot-grüner Vergangenheit, die wir vorgefunden haben,beseitigen. Dieses Gesetz ist vorbildlich. Dem kann manzustimmen.Herzlichen Dank.
Jetzt hat das Wort der Kollege Dr. Axel Troost von
der Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Diejenigen, die sich vielleicht nicht mit dem Thema aus-kennen, merken, dass wir hier heute eine Paralleldiskus-sion führen. Eine Diskussion dreht sich um den Gesetz-entwurf, der schon seit Mitte des Jahres diskutiert wird,aber jetzt in vielen Bereichen obsolet geworden ist, weileine Bankenunion geschaffen werden soll, eine andersar-tige europäische Bankenaufsicht. Wir führen hier eineDebatte über drei Vorlagen und somit drei unterschiedli-che Diskussionen.Ich will zuerst etwas zur Frage der Bankenunion sa-gen. Gestern war Herr Draghi zu Besuch, und ich habeihn gefragt – leider habe ich keine Antwort bekommen –,ob er ernsthaft glaubt, dass die Europäische Zentralbank6 000 bis 8 000 europäische Banken beaufsichtigenkann. Das kann sie nicht – das ist völlig klar –, abertrotzdem fährt der Zug im Augenblick immer noch indiese Richtung. In der Tat ist nicht erkennbar, dass sichdie Bundesregierung diesem Prozess wirklich wider-setzt. Im Augenblick sieht es so aus, als ob zum 1. Ja-nuar 2013 zuerst nur die systemrelevanten Banken dransind und danach, bis Ende nächsten Jahres, eben anderehinzukommen sollen. Das ist für uns völlig inakzeptabel.
Ich will in diesem Zusammenhang nur einmal daraufhinweisen: Wir in Deutschland waren und sind stolz aufdie Allfinanzaufsicht, aber sehen da noch Schwierigkei-ten. Wir brauchen eine Organisationsuntersuchung beider BaFin, weil wir wissen, dass die Verschränkungenzwischen Banken und Versicherungen immer noch nichtgenug in den Blick genommen werden, dass es da nochFehler gibt. Wenn man all dies in einem europäischenProzess zur EZB verlagert, haben wir wieder nur eineBankenaufsicht und nicht mehr die Allfinanzaufsicht.Das wäre ein Riesenproblem; das ist für meine Begriffenicht akzeptabel.
Ein zweiter Punkt, der ganz wichtig ist, betrifft nichtdie Organisation, sondern den Inhalt der Aufsicht. Dastellen wir fest, dass der Inhalt der Aufsicht vor demHintergrund dessen, was notwendig wäre, nach wie vorvöllig unzureichend ist. Der ganze Bereich der Schatten-banken, also derjenigen Institute, die über Geld in Billio-nenhöhe verfügen, aber nicht dem Kreditwesengesetzunterworfen sind, wird nach wie vor nicht kontrolliert.Geschäftsmodelle von Banken werden nach wie vornicht zur Disposition gestellt. Das bleibt völlig unzurei-chend und kann aus unserer Sicht so nicht bleiben, son-dern muss unbedingt angegangen werden.Der letzte Punkt betrifft den Änderungsantrag derGrünen, dem wir zustimmen werden, und die Frage desVerbraucherschutzes. Ich muss sagen: Ich halte es schonfür eine Zumutung, dass die FDP von einer Finanz-Stasispricht, wenn man versucht, Zockerprodukte, die nachwie vor auf dem Markt sind, auszumachen und zu ver-bieten.Das, was von der Bundesregierung vorgelegt wird,sorgt für einen sehr schwachen finanziellen Verbraucher-schutz; es entspricht bei weitem nicht dem, worüber dis-kutiert wurde. Wir haben gesagt: Wir brauchen eine ArtFinanzwächter, die gemeinsam mit Vertretern des Ver-
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Dr. Axel Troost
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braucherschutzes die Märkte beobachten. Wir brauchenletztlich so etwas wie einen Finanz-TÜV. Dann brauchenwir nämlich auch keine sogenannte Finanz-Stasi. DennFinanz-TÜV heißt in diesem Fall: Es gibt nur Geschäfts-modelle und Produkte, die vorher genehmigt wordensind. Nicht alles ist so lange erlaubt, bis es irgendwanneinmal verboten ist, und bevor wir überhaupt ein ent-sprechendes Gesetz verabschieden können, habenAnwaltskanzleien schon wieder ein Alternativprodukterfunden.Das alles wird mit diesem Gesetz nicht geregelt. Inso-fern ist zu befürchten, dass in den nächsten Wochen nochsehr viel Hektik auf uns zukommt, wenn es um die euro-päische Ebene geht. Mit diesem Gesetz wird man demaber noch nicht einmal in Ansätzen gerecht.Danke schön.
Für Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der KollegeDr. Gerhard Schick.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Beiwenigen Gesetzentwürfen der Bundesregierung ist derUnterschied zwischen dem, was einmal gesagt wordenist, und dem, was jetzt auf dem Tisch liegt, so groß wiehier; ich finde es gut, dass Kollege Sänger das offen an-gesprochen hat. Ich will klarmachen, was das bedeutet.In sehr vielen Debatten zur Finanzkrise über Monateund Jahre hinweg hat die FDP-Fraktion behauptet, dassdie Arbeitsteilung zwischen BaFin und Bundesbank, wiesie unter Rot-Grün entstanden ist, ein großes Defizitdarstellt. Nach einem Prozess des Nachdenkens stellenSie fest, dass wir damals die richtige Struktur geschaffenhaben, und deswegen wollen Sie sie beibehalten. Dasmuss einmal festgehalten werden.
Weil die Zeit knapp ist, möchte ich auf die für unszentrale Schwäche des Gesetzentwurfes eingehen, ob-wohl es viele andere Punkte gibt, die wir im Ausschussebenfalls thematisiert haben. Es geht um die Frage: Istdie Finanzaufsicht in Deutschland nur dafür da, sich umdie Stabilität der Institute zu kümmern? Sollte ihre zen-trale Aufgabe nicht auch darin bestehen, die Kunden alsGruppe vor Fehlverhalten von Banken, Versicherungenund Fonds zu schützen? Was macht die Koalition? Völ-lige Fehlanzeige!Lassen Sie mich durch zwei, drei internationale Ver-gleiche deutlich machen, was passiert. In Frankreichnutzt die Finanzaufsichtsbehörde das Beschwerdema-nagement aktiv, um herauszufinden, was los ist. InDeutschland lässt man diesen Bereich verkümmern, manstreicht sogar noch Stellen. In Großbritannien wird eineneue Finanzaufsichtsbehörde, die Financial ConductAuthority, geschaffen, die die Erlaubnis hat, Finanzpro-dukte zu verbieten und sofort vom Markt zu nehmen.Genau das wäre auch in Deutschland nötig, aber daswollen Sie nicht.
Die SEC in den USA kann Sammelklagen initiieren. Siekann die Finanzinstitute auch dazu zwingen, Schadener-satz an die Anleger zu zahlen, zum Beispiel für Zertifi-kate, die die Citibank vertrieben hat. Warum erhält nichtauch eine Aufsichtsbehörde in Deutschland die Möglich-keit, die Kunden so zu schützen, wie das in anderen Län-dern der Fall ist? Warum muss es so sein, dass der Anle-ger, der Kunde auf dem Finanzmarkt in Deutschland soviel schlechter geschützt ist als in anderen Ländern? Dassehen wir nicht ein.
Wir haben in die Beratungen im Ausschuss einenÄnderungsantrag zum Gesetzentwurf eingebracht, derzum Ziel hat, das Aufgabenfeld der Aufsicht zu erwei-tern. Die BaFin soll auch für Kundinnen und Kundenzuständig sein. Sie haben das abgelehnt. Da sieht man,bei wem in diesem Haus Kundinnen und Kunden in gu-ten Händen sind, nämlich beim Bündnis 90/Die Grünenund nicht bei dieser Koalition.
Jetzt legen wir Ihnen einen Änderungsantrag vor.Kollege Sänger hat gesagt: Vertrauen ist gut, Kontrolleist besser. – Zu Beginn dieser Legislaturperiode hat dieMinisterin für Ankündigungen und leere Drohungen,Ilse Aigner, viel über Testkäufe gesprochen. Sie habendas sogar in den Haushaltsplan der BaFin eingestellt.Auf Kleine Anfragen konnten wir erfahren, was SieGroßartiges vorhaben. Auch die Sprecherin des Finanz-ministeriums hat 2010 noch gesagt: Das bereiten wirganz konkret vor. – Inzwischen ist keine Rede mehr da-von. Auch die Haushaltsansätze enthalten keine entspre-chende Position. Als es um die Kontrolle der Beratungs-qualität ging, haben Sie den Mund sehr voll genommen.Sie liefern aber nichts. Deswegen legen wir Ihnen jetzteinen Änderungsantrag vor, der die gesetzliche Grund-lage für Testkäufe schaffen soll. Wir intendieren damitnicht, den Berater zu kontrollieren. Das Entscheidendeist, dass wir falsche Vertriebsstrukturen und provisions-orientierte Fehlberatung beseitigen. Die BaFin soll dieMöglichkeit bekommen, das zu unterbinden, weilFalschberatung die Kundinnen und Kunden in Deutsch-land jedes Jahr Milliarden kostet. Das muss beendet wer-den.Danke.
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Das Wort hat jetzt der Kollege Ralph Brinkhaus von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir ver-abschieden hier heute ein Gesetz, mit dem die Aufsichts-strukturen und der Verbraucherschutz in Deutschland ver-bessert werden.
Mit diesem Gesetz werden übrigens auch – darüber hatbisher noch keiner gesprochen – die Vergütungsstruktu-ren innerhalb der BaFin verbessert,
damit wir gute Leute für diese Arbeit finden und die gu-ten Leute, die dort arbeiten, gehalten werden können.
Dieser Gesetzentwurf wurde von der Opposition kriti-siert. Ich fange mit dem Kollegen Zöllmer an, der sichein bisschen widersprochen hat. Er hat gesagt: Warummacht ihr dieses Gesetz eigentlich? Auf europäischerEbene passiert da doch so viel. – Okay. Das würde aberbedeuten: keine Verbesserung der Vergütungsstrukturbei der BaFin und kein verbesserter Verbraucherschutz.Dann würden wir auch nicht so etwas Sinnvolles wie denStabilitätsrat einführen, der hier in Deutschland schauensoll, ob es systemische Risiken gibt – Stichwort „Immo-bilienblase“ –, ob es Probleme bei Versicherungen, Bau-sparkassen oder mit Mittelstandskrediten gibt. HerrZöllmer, ich hielte das für fahrlässig.Zweiter Punkt. Es wird kritisiert, dass wir uns von derursprünglichen Ankündigung, eine integrierte Aufsichtbei einem Institut anzusiedeln, also eine Art Kombina-tion aus Bundesbank und BaFin einzurichten, verab-schiedet haben. Das ist richtig. Das war ein langer Er-kenntnisprozess. Durch all die Probleme, die jetztdadurch auf uns zukommen, dass bei der EZB genau dasgemacht werden soll – es geht um die Trennung vonGeldpolitik und Aufsicht; damit sind Fragen der Unab-hängigkeit und der Abgrenzung verbunden –, sind wirdoch eigentlich nur bestätigt worden. Viele Problemesind also nicht gelöst, und deswegen lösen wir die Pro-bleme, die wir hier in Deutschland lösen können, undzwar jetzt sofort. Genau das machen wir mit diesem Ge-setzentwurf.
Dann wurde das Thema Verbraucherschutz angespro-chen. Wir werden gleich feststellen, dass es diesbezüg-lich einen kleinen Wertungswiderspruch zwischen HerrnZöllmer, der dieses Gesetz nicht haben will, und FrauTack gibt – sie wird nach mir für die SPD sprechen –, diesagt: Wir brauchen noch viel mehr Verbraucherschutz imRahmen der BaFin.Der Kollege Schick hat angeführt, dass es klasse in-ternationale Beispiele gibt, beispielsweise die FinancialConduct Authority, die zeigt, wie in Großbritannien Ver-braucherschutz gemacht wird. Im Handelsblatt steht indieser Woche ein schönes Zitat des designierten Chefsder Financial Conduct Authority: Wir sorgen dafür, dassdie richtigen Finanzinstitute die richtigen Produkte überdie richtigen Vertriebswege an die richtigen Kunden ver-kaufen. – Da kann ich nur noch brechen. Das ist eine un-glaubliche Geschichte. Das ist totalitärer Paternalismus.Das ist ein Rückfall in sozialistische Zeiten. Heuteschreiben sie uns vor, welche Finanzprodukte richtigsind, morgen schreiben Sie uns vor, was wir zu essen ha-ben, und übermorgen, was wir zu reden haben. Das wer-den wir nicht dulden.
Man muss doch einmal schauen, was für ein Menschen-bild dahintersteht. Das ist nicht unser Menschenbild.Wenn man dann noch so tut, lieber Kollege Schick,als wenn in den Bereichen Verbraucherschutz und Auf-sicht nichts gemacht worden wäre, dann zeigt das nur,dass die Grünen nicht wahrgenommen haben, was in denletzten drei Jahren gemacht worden ist. In den letztendrei Jahren ist nämlich eine ganze Menge gemacht wor-den.Wenn Sie dann auch noch behaupten, dass der kollek-tive Verbraucherschutz bei der Bundesanstalt für Finanz-dienstleistungsaufsicht nicht verankert ist, dann zeugtdas schlichtweg von einer Fehlwahrnehmung. Die Bundes-anstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht hat das öffent-liche Interesse zu wahren. Das ist kollektiver Verbrau-cherschutz. Insofern ist dieses Gesetz eine Klarstellung,eine Erweiterung und gut und richtig.
Die ganze Diskussion, die wir über diesen Gesetzent-wurf führen, zeigt das ganze Elend der Opposition in denletzten drei Jahren. Es wird nur kritisiert, nach mehr Da-ten gefragt, genörgelt, problematisiert und gesagt, wor-über man sonst noch alles diskutieren könnte. In derZeit, in der Sie sich hier am Herumnörgeln ergötzt ha-ben, haben wir Folgendes gemacht: Wir haben europäi-sches Recht umgesetzt, und wir haben viele deutscheGesetze auf den Weg gebracht.Nur eine kleine Auswahl dessen, was wir gemacht ha-ben: Wir haben die Vergütungsstrukturen reguliert; dahaben wir geliefert. Regulierung der Ratingagenturen:Da haben wir geliefert. Regulierung der Großkredite: Dahaben wir geliefert. Regulierung der Verbriefungen: Dahaben wir geliefert. Regulierung des grauen Kapital-markts: Auch da haben wir geliefert. Neuordnung dernationalen Finanzaufsicht: Da haben wir geliefert. Neu-ordnung der europäischen Finanzaufsicht: Auch da ha-ben wir geliefert. Bankenrestrukturierungsgesetz: Da ha-ben wir geliefert, und zwar als erstes Land in Europa undin der Welt.
Beteiligung der Banken an den Kosten der Krise: Werhat die Bankenabgabe eingeführt? Wir waren es. Wir ha-ben reguliert. Wir haben geliefert.
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24340 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Ralph Brinkhaus
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Wir können die Liste noch weiterführen. Neuordnungder Eigenkapital- und Liquiditätsregeln für Banken: Wirhaben geliefert. Wir warten auf die europäische Umset-zung. Das Zeug steht auf der Rampe und muss nur abge-holt werden.
Neuordnung der Versicherungsaufsicht, Solvency II:Auch dazu haben wir einen Gesetzentwurf vorgelegt undwarten auf die europäische Endfassung von Regelungen.Auch da haben wir geliefert. Auch das steht auf derRampe und kann abgeholt werden. Auch da haben wirgeliefert.
Das Ganze geht noch weiter. Denn wir haben nichtnur geliefert, sondern wir sind auch in der Produktion.
Wir werden nächste Woche einen Vorschlag zur Umset-zung der europäischen Richtlinie zur stärkeren Regulie-rung der OTC-Derivatemärkte vorlegen, dieses großenFinanzmarktbereiches, der uns allen so viel Sorgen be-reitet. Nächste Woche ist die erste Lesung. Auch da wer-den wir liefern.
Hochfrequenzhandel: Das ganze Projekt wird nochvor der Winterpause von uns vorgelegt werden. Auch dawerden wir liefern. Regulierung der alternativen Invest-mentfonds: Auch da werden wir liefern. Auch da wirdetwas vorgelegt werden. Ich könnte die Liste noch stun-denlang weiterführen.Fakt ist: Wir haben bei der Finanzmarktregulierunggeliefert, und zwar nicht nur heute mit diesem Gesetz-entwurf, sondern auch schon in der Vergangenheit. Ihrgroßer Regulierer, der hier in den letzten drei Jahrenkaum vertreten war – ich sehe ihn auch gerade jetztnicht; wahrscheinlich ist er wieder anderweitig unter-wegs –, führt nur große Worte im Mund.Insofern kann ich nur zu einem auffordern: NörgelnSie nicht an diesem Gesetzentwurf herum! Machen Siees besser oder stimmen Sie heute zu!Danke schön.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Kerstin Tack von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Herr Brinkhaus, Ihre Rede war relativ laut. Da Sievon Elend gesprochen haben: Ja, auch das war relativelend.
Ich will sagen: Sie haben völlig recht. Ich betrachtedas, was wir hier heute beschließen sollen, aus verbrau-cherpolitischer Sicht. Es entspricht, wenn man Ihnen undder FDP glauben soll, nicht einmal ansatzweise dem,was Frau Aigner als Ministerin und die Kollegen aus derRegierungskoalition versprochen haben, als sie im Koali-tionsvertrag eine effizientere Aufsicht angemahnt haben.Wir wollen, dass Verbraucherschutz explizit als Ziel derFinanzaufsicht festgeschrieben wird. Wir wollen nicht,dass er nur in der Begründung eines Gesetzentwurfessteht, sondern wir wollen, dass er als Ziel in einem Ge-setz festgeschrieben wird.
Herr Schick, machen Sie es nicht zum Alleinstel-lungsmerkmal der Grünen.
– Okay. – Dieses Ziel muss fest definiert werden. DieseAuffassung eint uns;
daher sollten wir uns nicht gegenseitig die Show stehlen.
Wir in der Opposition sind uns sehr einig, dass diesesZiel festgeschrieben werden muss.Wir sind uns auch sehr einig in dem Punkt, dass wirdie Finanzaufsicht dadurch stärken können, dass wir ihreinen Finanzmarktwächter zur Verfügung stellen. Esgeht um die Stärkung der Verbraucherzentralen, die ge-nau das tun sollen, was sie am besten können: Sie sollenberaten. Sie sollen zusammentragen. Sie sollen informie-ren. Sie sollen aber ihre Erkenntnisse auch an die Auf-sichtsbehörden geben können, damit Aufsichtsbehördentätig werden müssen.
Genau dafür treten wir ein. Wir sehen, dass die BaFinauch im Interesse des Verbraucherschutzes tätig werdenmuss. Wir sind uns sicher – zumindest in den Opposi-tionsreihen –, dass ein Finanzmarktwächter eine sinn-volle, hilfreiche und gelingende Ergänzung zur staatlichenMarktaufsicht ist.
Der Verbraucherbeirat, der hier schon mehrfach posi-tiv erwähnt wurde, wird ausschließlich in der Gesetzes-begründung genannt und hat keinerlei Rechte, weder In-formations- noch Anhörungsrechte. Wir wollen mehr.
Ferner wollen wir, dass die blinden Flecken endlichbeseitigt werden. Wir wollen, dass alle, auch die freienFinanzvermittler und künftig auch die Honorarberater,unter die Aufsicht der BaFin fallen. Auch das wäre in Ih-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24341
Kerstin Tack
(C)
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rem Sinne, würden Sie Ihren Koalitionsvertrag ernstnehmen.
Zur Frage von Testkäufern wurde von der Grünen-Fraktion ein eigener Antrag eingebracht. Auch wir wol-len Testkäufer, und wir stehen damit nicht allein: NochAnfang des Jahres hat die Verbraucherministerin, FrauAigner, landauf, landab gefordert, dass die BaFin Test-käuferinnen und Testkäufer einsetzt.
Bis heute gibt es solche Testkäufer nicht. Die Ministerinkann sich nicht verteidigen: Sie ist nicht da. Heute würdesie wahrscheinlich anders reden. Aber das war ihre For-derung, diese Forderung hat sie Anfang des Jahres ge-stellt. Heute will die Koalition davon nichts mehr wis-sen. Auch das hat etwas mit Elend zu tun.
Sehr geehrte Damen und Herren, wenn wir heute die-sen Gesetzentwurf ablehnen, dann hat das viele Gründe,nicht nur den Verbraucherschutzgrund. Es hat explizitauch den Grund, dass wir aus Europa etwas zu erwartenhaben. Wir regeln besser dann, wenn wir wissen, was aufuns zukommt.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Stärkung der deutschen Finanzaufsicht.
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/11119, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung, Drucksachen 17/10040 und
10252, in der Ausschussfassung anzunehmen.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/11172 vor, über
den wir zuerst abstimmen. Zu diesem Änderungsantrag
hat die Fraktion der Grünen namentliche Abstimmung
beantragt. Anders als ursprünglich aufgeführt, ist der
Antrag auf namentliche Abstimmung zum Änderungsan-
trag der Grünen gestellt worden.
Damit es hier keine Missverständnisse gibt, sage ich
es noch einmal: Wir stimmen in namentlicher Abstim-
mung über den Änderungsantrag der Grünen ab. Das
heißt, Sie müssen anders abstimmen, als es ursprünglich
vorgesehen war.
Damit das ganz klar ist, wiederhole ich es zum dritten
Mal: Es gibt einen Änderungsantrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
hat beantragt, dass über ihren Änderungsantrag nament-
lich abgestimmt wird. Das heißt, wer für den Änderungs-
antrag der Grünen ist, muss mit Blau stimmen, wer dage-
gen ist, muss mit Rot stimmen. Ich hoffe, dass es jetzt
jeder verstanden hat. Auf Wunsch würde ich es auch ein
viertes Mal wiederholen.
Sind die Schriftführerinnen und Schriftführer auf ih-
ren Plätzen? – Ich eröffne die Abstimmung und bitte, die
Stimmkarten einzuwerfen.
Haben alle Kolleginnen und Kollegen ihre Stimmkar-
ten eingeworfen, oder gibt es Kolleginnen und Kollegen,
die das noch nicht getan haben oder die noch Entschei-
dungshilfe benötigen? – Nein. Wenn alle Kolleginnen
und Kollegen ihre Karten eingeworfen haben, dann
schließe ich den Wahlgang.
Bevor wir fortfahren können, müssen wir selbstver-
ständlich das Ergebnis abwarten. Ich möchte gleich da-
rauf hinweisen, dass wir nachher über den Gesetzent-
wurf nicht namentlich abstimmen, sondern, wie üblich,
durch Handzeichen und in dritter Lesung durch Erheben
vom Platz.
Ich unterbreche die Sitzung, bis das Ergebnis der na-
mentlichen Abstimmung vorliegt.
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, Platz zu neh-men.Ich gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen undSchriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichenAbstimmung zu dem Änderungsantrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen zu dem Entwurf eines Gesetzeszur Stärkung der deutschen Finanzaufsicht bekannt: ab-gegebene Stimmen 560. Mit Ja haben gestimmt 123, mitNein haben gestimmt 313, Enthaltungen 124. Der Ände-rungsantrag ist abgelehnt.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 558;davonja: 123nein: 311enthalten: 124JaSPDUlla BurchardtDIE LINKEJan van AkenAgnes AlpersDr. Dietmar BartschKarin BinderHeidrun BluhmSteffen BockhahnChristine BuchholzEva Bulling-SchröterDr. Martina BungeRoland ClausSevim DağdelenHeidrun DittrichWerner DreibusKlaus ErnstWolfgang GehrckeNicole GohlkeDiana GolzeAnnette GrothDr. Gregor GysiHeike HänselDr. Rosemarie HeinDr. Barbara HöllAndrej HunkoUlla JelpkeDr. Lukrezia JochimsenKatja KippingHarald KochJan KorteKatrin KunertCaren LaySabine LeidigStefan LiebichUlla LötzerDr. Gesine LötzschThomas LutzeUlrich MaurerCornelia Möhring
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24342 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Kornelia MöllerNiema MovassatWolfgang NeškovićThomas NordPetra PauJens PetermannRichard PitterleYvonne PloetzPaul Schäfer
Michael SchlechtDr. Ilja SeifertKathrin Senger-SchäferRaju SharmaDr. Petra SitteKersten SteinkeSabine StüberFrank TempelDr. Axel TroostKathrin VoglerHalina WawzyniakHarald WeinbergKatrin WernerJörn WunderlichBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKerstin AndreaeMarieluise Beck
Volker Beck
Birgitt BenderAgnes BruggerEkin DeligözKatja DörnerHarald EbnerHans-Josef FellDr. Thomas GambkeKai GehringKatrin Göring-EckardtBritta HaßelmannBettina HerlitziusPriska Hinz
Dr. Anton HofreiterIngrid HönlingerThilo HoppeUwe KekeritzKatja KeulMemet KilicSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkUte KoczyTom KoenigsSylvia Kotting-UhlOliver KrischerAgnes KrumwiedeStephan KühnRenate KünastMarkus KurthUndine Kurth
Monika LazarDr. Tobias LindnerNicole MaischJerzy MontagKerstin Müller
Beate Müller-GemmekeDr. Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffDr. Hermann E. OttLisa PausBrigitte PothmerTabea RößnerClaudia Roth
Krista SagerManuel SarrazinDr. Gerhard SchickDr. Frithjof SchmidtUlrich SchneiderDorothea SteinerDr. Wolfgang Strengmann-KuhnHans-Christian StröbeleDr. Harald TerpeMarkus TresselJürgen TrittinDaniela WagnerBeate Walter-RosenheimerArfst Wagner
Wolfgang WielandDr. Valerie WilmsNeinCDU/CSUPeter AltmaierPeter AumerThomas BareißNorbert BarthleGünter BaumannManfred Behrens
Veronika BellmannDr. Christoph BergnerPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserDr. Maria BöhmerWolfgang Börnsen
Norbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexander DobrindtMarie-Luise DöttDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachHartwig Fischer
Dirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachHerbert FrankenhauserDr. Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserErich G. FritzDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelIngo GädechensDr. Peter GauweilerDr. Thomas GebhartNorbert GeisAlois GerigEberhard GiengerMichael GlosJosef GöppelPeter GötzDr. Wolfgang GötzerUte GranoldReinhard GrindelHermann GröheMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundMonika GrüttersOlav GuttingFlorian HahnDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilFrank HeinrichRudolf HenkeMichael HennrichAnsgar HevelingErnst HinskenPeter HintzeChristian HirteRobert HochbaumKarl HolmeierFranz-Josef HolzenkampJoachim HörsterAnette HübingerHubert HüppeDieter JasperDr. Franz Josef JungAndreas Jung
Dr. Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterAlois KarlBernhard Kaster
Volker KauderDr. Stefan KaufmannRoderich KiesewetterEwa KlamtVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenManfred KolbeDr. Rolf KoschorrekHartmut KoschykThomas KossendeyMichael KretschmerGunther KrichbaumDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Hermann KuesGünter LachDr. Karl A. Lamers
Andreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeDr. Max LehmerPaul LehriederDr. Ursula von der LeyenIngbert LiebingMatthias LietzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsDr. Jan-Marco LuczakDaniela LudwigDr. Michael LutherKarin MaagDr. Thomas de MaizièreHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Dr. Michael MeisterMaria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergPhilipp MißfelderDietrich MonstadtMarlene MortlerDr. Gerd MüllerStefan Müller
Dr. Philipp MurmannBernd Neumann
Michaela NollDr. Georg NüßleinFranz ObermeierEduard OswaldHenning OtteDr. Michael PaulRita PawelskiUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferBeatrix PhilippRonald PofallaRuprecht PolenzEckhard PolsThomas RachelDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergKatherina Reiche
Lothar RiebsamenJosef RiefKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckErwin RüddelAlbert Rupprecht
Anita Schäfer
Dr. Wolfgang SchäubleDr. Annette SchavanDr. Andreas ScheuerKarl SchiewerlingNorbert SchindlerTankred SchipanskiGeorg SchirmbeckChristian Schmidt
Patrick Schnieder
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24343
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(C)
(B)
Dr. Andreas SchockenhoffNadine Schön
Dr. Kristina SchröderBernhard Schulte-DrüggelteUwe Schummer
Detlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertJohannes SinghammerJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelErika SteinbachChristian Freiherr von StettenDieter StierGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerKarin StrenzThomas Strobl
Lena StrothmannMichael StübgenDr. Peter TauberAntje TillmannDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzVolkmar Vogel
Stefanie VogelsangAndrea Astrid VoßhoffDr. Johann WadephulMarco WanderwitzKai WegnerMarcus Weinberg
Peter Weiß
Sabine Weiss
Karl-Georg WellmannPeter WichtelAnnette Widmann-MauzKlaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerDagmar G. WöhrlDr. Matthias ZimmerWolfgang ZöllerWilli ZylajewSPDRolf HempelmannFDPJens AckermannChristian AhrendtChristine Aschenberg-DugnusDaniel Bahr
Florian BernschneiderSebastian BlumenthalClaudia BögelNicole Bracht-BendtKlaus BreilRainer BrüderleAngelika BrunkhorstMarco BuschmannSylvia CanelHelga DaubReiner DeutschmannBijan Djir-SaraiPatrick DöringMechthild DyckmansHans-Werner EhrenbergRainer ErdelJörg van EssenUlrike FlachOtto FrickeDr. Edmund Peter GeisenDr. Wolfgang GerhardtHans-Michael GoldmannHeinz GolombeckJoachim Günther
Dr. Christel Happach-KasanHeinz-Peter HausteinManuel HöferlinElke HoffBirgit HomburgerHeiner KampMichael KauchDr. Lutz KnopekPascal KoberDr. Heinrich L. KolbGudrun KoppDr. h. c. Jürgen KoppelinSebastian KörberHolger KrestelPatrick Kurth
Sibylle LaurischkHarald LeibrechtSabine Leutheusser-SchnarrenbergerLars LindemannDr. Martin Lindner
Michael Link
Dr. Erwin LotterOliver LuksicHorst MeierhoferPatrick MeinhardtGabriele MolitorJan MückePetra Müller
Burkhardt Müller-SönksenDirk NiebelHans-Joachim Otto
Gisela PiltzJörg von PolheimDr. Birgit ReinemundDr. Peter RöhlingerDr. Stefan RuppertBjörn SängerFrank SchäfflerChristoph SchnurrJimmy SchulzMarina SchusterDr. Erik SchweickertWerner SimmlingJudith SkudelnyDr. Hermann Otto SolmsJoachim SpatzDr. Max StadlerTorsten StaffeldtDr. Rainer StinnerStephan ThomaeManfred TodtenhausenFlorian ToncarSerkan TörenJohannes Vogel
Dr. Daniel VolkDr. Guido WesterwelleDr. Claudia WintersteinDr. Volker WissingHartfrid Wolff
EnthaltenSPDIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeinz-Joachim BarchmannDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsSören BartolBärbel BasSabine Bätzing-LichtenthälerUwe BeckmeyerLothar Binding
Gerd BollmannKlaus BrandnerWilli BraseEdelgard BulmahnMarco BülowMartin BurkertPetra CroneDr. Peter DanckertMartin DörmannElvira Drobinski-WeißSebastian EdathyIngo EgloffSiegmund EhrmannPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerGabriele FograscherDagmar FreitagMichael GerdesMartin GersterIris GleickeGünter GloserUlrike GottschalckAngelika Graf
Gabriele GronebergMichael GroßWolfgang GunkelHans-Joachim HackerBettina HagedornKlaus HagemannMichael Hartmann
Wolfgang HellmichGustav HerzogGabriele Hiller-OhmPetra Hinz
Frank Hofmann
Dr. Eva HöglChristel HummeJosip JuratovicOliver KaczmarekJohannes KahrsDr. h. c. Susanne KastnerUlrich KelberLars KlingbeilHans-Ulrich KloseDr. Bärbel KoflerDaniela Kolbe
Fritz Rudolf KörperAnette KrammeAngelika Krüger-LeißnerUte KumpfChristine LambrechtChristian Lange
Dr. Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerKirsten LühmannCaren MarksKatja MastHilde MattheisUllrich MeßmerDr. Matthias MierschFranz MünteferingDr. Rolf MützenichAndrea NahlesDietmar NietanHolger OrtelHeinz PaulaJohannes PflugJoachim PoßDr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeMechthild RawertStefan RebmannGerold ReichenbachDr. Carola ReimannSönke RixRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannMichael Roth
Marlene Rupprecht
Annette SawadeAnton SchaafAxel Schäfer
Bernd ScheelenMarianne Schieder
Werner Schieder
Ulla Schmidt
Carsten Schneider
Swen Schulz
Ewald SchurerDr. Martin SchwanholzRolf SchwanitzStefan SchwartzeRita Schwarzelühr-SutterDr. Carsten SielingSonja SteffenPeer SteinbrückChristoph SträsserKerstin TackDr. h. c. Wolfgang ThierseFranz ThönnesRüdiger VeitUte VogtDr. Marlies VolkmerAndrea WickleinHeidemarie Wieczorek-ZeulDr. Dieter WiefelspützWaltraud Wolff
Uta ZapfManfred ZöllmerBrigitte ZypriesDIE LINKERalph Lenkert
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24344 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Wir kommen nun zum Gesetzentwurf in der Aus-schussfassung. Wer dem Gesetzentwurf zustimmen will,den bitte ich um sein Handzeichen. – Gegenstimmen? –Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Bera-tung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Ge-genstimmen von SPD und Grünen und Enthaltung derFraktion Die Linke angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zu-stimmen will, möge sich erheben. – Gegenstimmen? –Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit gleichemStimmenergebnis angenommen.Wir setzen die Abstimmungen fort und kommen zudem Entschließungsantrag der SPD auf Drucksa-che 17/11173. Wer stimmt für diesen Entschließungsan-trag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – DerEntschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koali-tionsfraktionen abgelehnt, gegen die Stimmen der SPD-Fraktion und bei Enthaltung der Linken und der Grünen.Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 10 auf:Beratung der Antwort der Bundesregierung aufdie Große Anfrage der Abgeordneten UweBeckmeyer, Sören Bartol, Martin Burkert, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der SPDZukunft des Mautkonzeptes in Deutschland– Drucksachen 17/9623, 17/11098 –Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Ge-genstimmen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be-schlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner dem Kollegen Uwe Beckmeyer von der SPD-Frak-tion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Der Sinn dieser Großen Anfrage der SPD-Bundes-tagsfraktion war es, etwas über die Pläne der amtieren-den Bundesregierung zur Zukunft des Mautkonzeptes inErfahrung zu bringen. Uns liegt nach sechs Monaten desWartens jetzt eine Antwort vor. Ich hoffe nur, dass sieauch der Bundesverkehrsminister als Person gelesen hat.In der Rubrik „Neues aus dem Sommerloch“ sind Sie,Herr Minister, mit verschiedensten Initiativen fest ge-bucht. Aber diesmal, denke ich, geht es um den jährli-chen Ruf der CSU nach Einführung einer Pkw-Maut,dem, so erscheint es mir, mit der Antwort der Bundes-regierung zumindest für diese Legislaturperiode endgül-tig eine Absage erteilt wird.Es wird auch mit einer zweiten Mär aufgeräumt, dieSie immer wieder in die deutschen Lande streuen, nachder Melodie: Hätten wir doch eine Vignette, könnten wirfür eine Kompensation für inländische Autofahrer sor-gen. Auch da heißt es in der Antwort der Bundesregie-rung – nicht Ihres Hauses, sondern der gesamtenBundesregierung –, dass dies einen Verstoß gegen daseuroparechtliche Diskriminierungsverbot darstellen könnte.Um es einmal klarzustellen: Auch hier haben Sie einekurzfristige mediale Lufthoheit gehabt; aber verantwort-liche Politik sieht anders aus. Ich denke, eine verant-wortliche Politik kümmert sich um die Finanzierung derInfrastruktur in Deutschland. Das aber vermissen wir beiIhnen.
Beenden Sie diese Geisterdebatten; sonst werden Sie ir-gendwann einmal der letzte Pkw-Maut-Dino.Was ich gut finde – allerdings nicht unter dem Ge-sichtspunkt, dass Sie sich hier ein Hintertürchen offen-halten –, ist, wenn Sie sagen: In meinem Hause gibt eskeine Denkverbote. – Ich bin der Meinung: Das ist schoneinmal gut. Entweder muss der Minister denken oder dasHaus. Aber wenn Sie Aufträge erteilen, dann bitte ichum Folgendes:Erstens. Lassen Sie doch einmal darüber nachdenken,wie Sie die teilweise selbst verursachten enormen Min-dereinnahmen durch das Mautmoratorium abstellen. DieAddition der Mindereinnahmen von 2009 bis Mitte 2012betragen überschlägig mehr als 500 Millionen Euro.Hier ist Handlungsbedarf, Herr Minister. Darauf kommeich noch zurück.Zweitens. Lassen Sie doch bitte einmal darüber nach-denken, wie Sie eine Lkw-Maut auf allen Bundes-, Lan-des- und Gemeindestraßen mit welchem technischen,mit welchem elektronischen System, ob nun mit TollCollect oder nicht, realisieren können.Drittens. Lassen Sie doch einmal darüber nachden-ken, mit welchen rechtlichen Vereinbarungen Sie nachAugust 2015 mit Toll Collect oder anderen weiterarbei-ten wollen.Viertens. Lassen Sie doch einmal darüber nachdenken,wie Sie und vor allem wann Sie endlich die durch die EU-Wegekostenrichtlinie empfohlene Anrechnung externerKosten des Straßengüterverkehrs auch in Deutschland imRahmen der Nutzerfinanzierung einführen wollen. Aus-weislich der Antwort der Bundesregierung auf die GroßeAnfrage haben Sie über all das bisher nicht nachgedacht.Denn auf unsere Frage, ob eine mögliche „Anlastung ex-terner Kosten des Verkehrs Teil der Vertragsverhandlun-gen mit der Mautbetreiberfirma“ war, antwortet die Bun-desregierung mit einem schlichten Nein.Was mich beim Lesen Ihrer Antworten fassungslosgemacht hat, ist, dass Sie überhaupt keine Prognosezah-len haben, was denn wäre, wenn zum Beispiel alle Stra-ßen bemautet werden. Dazu gibt es in Ihrem Haus keineZahlen. Ich finde das abenteuerlich. Ich muss ganz ehr-lich sagen: So wird die Fortentwicklung des Mautsys-tems von Ihnen ausgebremst. Wenn Sie am Ende dieserLegislaturperiode abtreten, sind das vier verlorene Jahre.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich kommezum Schluss. Ich möchte an dieser Stelle die Koalition
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24345
Uwe Beckmeyer
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wirklich darum bitten, im letzten Jahr vielleicht noch einwenig Kraft aufzubringen, um bei der Frage der Infra-strukturfinanzierung endlich in die Spur zu kommen.Die Ausweitung der Maut, ob auf andere Fahrzeugklas-sen oder andere Strecken, ist bei Ihnen nicht gut aufge-hoben. Die entsprechenden Voraussetzungen hierzu er-füllen Sie nicht. Die Koalition hat die Fortentwicklungdes Mautsystems offenkundig gar nicht auf der Agenda.Außerdem haben Sie keine Prognosen zur Mautauswei-tung, kein Konzept und keine Idee für Kostengerechtig-keit. Damit haben Sie im Grunde die Zukunftsfragendieser Republik in diesem Themenfeld missachtet. Grei-fen Sie dem Minister endlich ins Steuer, sofern Sie dasnoch können! Ansonsten fährt der Minister weiter in diefalsche Richtung.Der ADAC spottet: Populismus bayerischer Provinz-politik. – Das ist das Ergebnis und die Summe dessen,was wir hier erfahren haben.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Kollege Karl Holmeier von der
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Zunächst möchte ich betonen, dass im ersten Absatz derVorbemerkung der Großen Anfrage der SPD absolut zu-treffende Feststellungen getroffen werden. Die deutscheVerkehrspolitik steht vor gewaltigen Herausforderungen,vor allem bei der Straßeninfrastruktur. Dies haben wirallerdings schon zu Beginn der Legislaturperiode er-kannt. Hierzu hätten wir keine Große Anfrage der SPDgebraucht.
So heißt es bereits im christlich-liberalen Koalitions-vertrag:Erhalt sowie Neu- und Ausbau der Verkehrsinfra-struktur sind weit hinter dem Bedarf zurückgeblie-ben.Wir meinen damit die Zeit, in der die SPD Regierungs-verantwortung trug. Sie ziehen daher falsche Schlussfol-gerungen in Ihrer Großen Anfrage, werte Kolleginnenund Kollegen der SPD.
Es war Ihre Politik, die die heutigen Engpässe verursachthat. Es war die Politik der SPD-Verkehrsminister, die esüber zehn Jahre hinweg versäumt haben, sich um den Er-halt der Bundesstraßen, der Bundesautobahnen und derzahlreichen Brücken zu kümmern. Der CSU-Verkehrs-minister Dr. Peter Ramsauer muss heute die Suppe aus-löffeln, die die SPD ihm eingebrockt hat.
Doch anstatt sich in Ihrer Großen Anfrage wenigstensin großer Demut zu üben, schieben Sie die Schuld ein-fach auf die Bundesregierung. So einfach geht es nicht,meine sehr verehrten Damen und Herren. Schuld an derMisere ist nicht das Mautmoratorium. Schuld ist alleindie SPD.
Um eines klarzustellen: Die christlich-liberale Koali-tion steht hinter dem Mautmoratorium; denn wir habeneine gesamtstaatliche Verantwortung gegenüber demSpeditionsgewerbe in Deutschland. Die deutschen Spe-diteure sind einem ungeheuer harten internationalenWettbewerb ausgesetzt. Ihre Gewinnmargen sind mini-mal. Spielraum gibt es kaum. Wir alle in unserem Landsind auf die deutschen Spediteure angewiesen, um dieWirtschaft und die Bevölkerung mit Gütern zu versor-gen. Die christlich-liberale Koalition hat deshalb be-schlossen, die Lkw-Maut nicht weiter zu erhöhen.Wenn Sie sich anschauen, wie sich das Mautmorato-rium auf die Einnahmesituation des Bundes ausgewirkthat, so werden auch Sie erkennen, dass darin mit Sicher-heit nicht der Grund liegt für den schlechten Zustand derStraßen und Brücken in Deutschland.Klar ist: Wir haben eindeutig zu wenig Geld für neueInvestitionen.
– Ich sage es Ihnen gleich. – Deshalb haben die Ver-kehrspolitiker der Koalition bereits im vergangenen Jahreine zusätzliche Milliarde erkämpft,
und auch für das kommende Jahr 2013 bin ich sehr zu-versichtlich. Mit dem Finanzierungskreislauf Straße ha-ben wir außerdem einen historisch wichtigen Schritt fürmehr Unabhängigkeit im Verkehrsetat getan. Einen wei-teren wichtigen Schritt, meine sehr verehrten Damenund Herren, könnten wir gehen, wenn wir uns auf ein-heitliche europäische Regelungen einschließlich der Ein-führung einer Pkw-Maut in Form einer Vignette verstän-digen könnten.Sie sehen, dass die christlich-liberale Koalition dieProbleme anpackt und Minister Ramsauer die richtigenAntworten darauf hat. Hätten die SPD-Verkehrsministerseinerzeit ebenso beherzt gehandelt, dann stünden wirheute besser da. Das steht eindeutig fest. Wären dieSPD-Verkehrsminister seinerzeit nicht so viele grenz-überschreitende Verpflichtungen eingegangen, so hättenauch wir heute mehr Geld für den Straßenbau. Und hättesich der SPD-Verkehrsminister Stolpe seinerzeit nur halbso viele Gedanken über die Ausgestaltung des Betreiber-vertrages mit Toll Collect gemacht wie Sie in Ihrer Gro-ßen Anfrage, liebe Kolleginnen und Kollegen, dann
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24346 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Karl Holmeier
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müssten wir heute nicht in zwei Schiedsverfahren übermehrere Milliarden Euro streiten.
Herr Kollege Holmeier, erlauben Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Pronold?
Gerne.
Bitte schön.
Herr Kollege Holmeier, Sie haben gerade wieder für
die schwarz-gelbe Koalition proklamiert, dass Sie an der
Einführung einer Pkw-Maut festhalten wollen. Wird
diese Regierung, die die Antworten zu dem vorliegenden
Fragenkatalog gegeben hat, von Ihnen noch getragen,
und können Sie mir sagen, welche Antwort unter
Punkt 87 auf die Frage steht, ob diese Regierung die Ein-
führung einer Pkw-Maut verfolgt?
Die Regierung wird von mir und natürlich von uns al-
len bestens getragen.
Ziel ist, insgesamt mehr Geld für Verkehrsprojekte im
Bereich Straße zu bekommen. Dabei ist die Vignette ir-
gendwann eine Alternative.
– Ich habe sie gelesen.
Ich sage nochmals zur Klarstellung: Die Schiedsver-
fahren gibt es nur deshalb, weil Herr Stolpe als Ver-
kehrsminister dilettantisch verhandelt hat, weil er keine
klaren und eindeutigen vertraglichen Regelungen für den
Fall der verspäteten Einführung der Lkw-Maut getroffen
hat,
und weil er und seine SPD sich von Toll Collect über den
Tisch haben ziehen lassen.
Wenn ich mir die Fragen in der Großen Anfrage so
durchlese, komme ich zu dem Schluss, dass sich ein
SPD-Verkehrsminister jederzeit wieder über den Tisch
ziehen lassen würde. Mit Ihren Fragen, warum man jetzt
eigentlich einen Beratervertrag für die Maut 2015
braucht und was ein solches Beraterteam eigentlich ma-
chen soll, geben Sie klar zu erkennen, dass Ihnen die Be-
deutung einer rechtssicheren Vertragsgestaltung immer
noch nicht bewusst ist.
Dazu kann ich nur sagen: Große Ahnungslosigkeit in der
Großen Anfrage der SPD.
Nur gut, meine sehr verehrten Damen und Herren der
Opposition, dass Sie auch im nächsten Jahr nach der
Bundestagswahl wieder auf der Oppositionsbank sitzen
werden. So kann Minister Ramsauer einen ordentlichen
neuen Betreibervertrag aushandeln. Ich sage Ihnen im
Voraus: Damit wird die Maut 2015 ein Erfolg.
Danke schön.
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort die Kol-
legin Sabine Leidig.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Ich bin ein bisschen unzufrieden mit dieser Großen An-frage, weil sie vor allen Dingen darauf fokussiert, wieman den Güterverkehr am Rollen halten kann. Ichglaube, dass ein großer Teil der Güterverkehre überhauptnichts mehr mit dem Wohlstand und der Lebensqualitätder Bevölkerung zu tun hat.
Ein großer Teil findet zwischen einzelnen Betriebsteilengroßer Firmen statt. Ein anderer Teil entfällt auf denAustausch von Waren derselben Qualität: Milcherzeug-nisse im Wert von 5 Milliarden Euro werden eingeführt;gleichzeitig werden Milcherzeugnisse im Wert von4 Milliarden Euro ausgeführt. Alles findet mit Lkw statt.Das ist nichts, was wir wünschenswert finden.
Die Lkw-Kolonnen sind eine Last. Heutzutage fühlt sichmehr als die Hälfte der Bevölkerung durch Verkehrslärmund Folgen des Güterverkehrs beeinträchtigt.Die Maut ist bei weitem nicht hoch genug – das istvöllig klar –, und das sagen selbst die Studien aus demVerkehrsministerium. Heute werden 18 Cent pro Kilo-meter auf der Autobahn bezahlt. Allein die Wegekosten,also die Kosten für Bau und Erhalt von Straßen, betragen30 Cent pro Kilometer. Wir fordern, dass die Maut sofortauf diese Höhe angehoben und auch auf die Bundesstra-ßen ausgedehnt wird; das ist das Mindeste.
Aber eigentlich geht es darum, die Maut für Lkw sozu erhöhen, dass schrittweise wirklich die gesellschaftli-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24347
Sabine Leidig
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chen Folgekosten damit bezahlt werden können. Worumgeht es dabei? Es geht um Unfälle, um Luft-, Boden-und Wasserverschmutzung, um Lärmerkrankungen, umKlimaschäden. Das alles kostet nicht nur Lebensqualität,sondern das kostet auch Geld, das die ganze Gesellschaftaufbringen muss. Die EU-Kommission hat Szenarienentwickelt. In einem Szenario hat sie nur einen kleinenTeil dieser Folgekosten einbezogen. Schon dann, wennman nur diesen kleinen Teil einbezieht, müsste die Stra-ßennutzungsgebühr verdoppelt werden.Interessant ist, dass die Transportgewerbetreibendenauf ihrem Gipfel vor zwei Wochen selbst gesagt haben,dass es kein Problem ist, die Maut zu erhöhen, dass mandann eben die Kosten auf diejenigen überwälzen muss,die den Gewinn davon haben.Die EU-Kommission hat auch ein Maximumszenarioaufgestellt, und das finde ich ganz bemerkenswert: Darinsind unter anderem auch die Staukosten berücksichtigt.Dabei kommt die EU-Kommission zu dem Ergebnis,dass nicht 18 Cent pro Kilometer der angemessene Preiswäre, der für die Lkw entrichtet werden müsste, sondern3 Euro pro Kilometer.Es ist so, dass bis zu dieser Summe gesellschaftlichdraufgelegt wird, und das ist eine ziemlich unmittelbareSubvention der Global Player.
Schauen wir uns einmal an – auch das hat die EU-Kom-mission in ihrer Studie gemacht –, wie es sich in Europaausgleichen würde, wenn man die Maut tatsächlich an-heben würde: Einnahmen würden natürlich vor allenDingen dort anfallen, wo viel Lkw-Verkehr durch-rauscht, nämlich in Deutschland, in Frankreich, in derSchweiz, in Österreich, eben in den Ländern, die zentralliegen. Wenn man dann gegenrechnet, was die eigenenVerkehrsunternehmen in anderen Ländern zahlen müss-ten, kommt man zu dem Ergebnis, dass 20 bis 23 Mil-liarden Euro jährlich zusätzlich in den Bundeshaushaltfließen würden.Ich fände es wirklich gut, wenn die Bundesregierungsich mit entsprechenden Plänen beschäftigen würde. Da-mit könnte sie die Tradition der früheren Verkehrsminis-ter brechen und einen neuen Weg einschlagen. Es gehtdarum, einen Plan zu machen, wie man tatsächlich zu ei-ner solchen Anrechnung der gesellschaftlichen Kostenkommt. Mit den Einnahmen würden wir zum Beispielsolche Unternehmen fördern, denen es gelingt, Wert-schöpfungs- und Lieferketten zu organisieren, die mitmöglichst wenig Transporten und möglichst wenig Ma-terialaufwand die Güterversorgung sicherstellen.In diesem Sinne: Weniger Verkehr ist mehr.
Jetzt hat das Wort der Kollege Oliver Luksic von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirwollen vor der Bundestagswahl Klarheit schaffen unddie Mauthöheverordnung verabschieden. Die Zukunftder Lkw-Maut hängt natürlich vom Wegekostengutach-ten ab, das erst im nächsten Frühjahr vorliegen wird.
Dann werden wir hier wie immer besonnen handeln.Was haben wir bis jetzt getan?
Seit Einführung der Maut flossen die Einnahmen nicht inden Ausbau und den Erhalt der Verkehrsinfrastruktur.Weniger als 10 Prozent wurden reinvestiert. Erst diechristlich-liberale Bundesregierung hat der undurchsich-tigen Verteilung der Mautmittel ein Ende gesetzt. Einge-führt haben wir den Finanzierungskreislauf Straße
und dafür gesorgt, dass das Aufkommen auch wirklichfür die Bundesfernstraßen verwendet wird. Das ist einErfolgsmodell. Wir haben die unter Rot-Grün einge-führte Zweckentfremdung von Mautmitteln und damitauch die Mautlüge endlich beendet, liebe Kolleginnenund Kollegen.
Das Mautmoratorium – Kollege Holmeier hat es zuRecht angesprochen – ist richtig und wichtig. Es schafftVertrauen und Verlässlichkeit für den Mittelstand, fürdas Transportgewerbe. Deswegen werden wir es bis zumEnde der Legislaturperiode auch dabei belassen.Liebe Kollegin Leidig, Sie fordern die Internalisie-rung externer Kosten. Dabei dürfen Sie aber nicht nurdie Maut sehen; Sie müssen auch sehen, dass der Staatnoch zahlreiche andere Steuereinnahmen aus dem Ver-kehrsbereich hat: Mineralölsteuer, Kfz-Steuer, Versiche-rungsteuern. Das blenden Sie jedes Mal aus, wenn Sieüber die Maut reden.
Wir ruhen uns nicht darauf aus. Wie gesagt: Wir wer-den das Thema Mauthöheverordnung angehen. Das ist inder Tat ein Unterschied zwischen uns und Ihnen: Wirwollen keine zusätzlichen Belastungen für das Logistik-gewerbe, für den Mittelstand. Wir wollen auch nicht, wieSie, die Ausweitung der Maut auf kleinere Fahrzeuge,weil das den Mittelstand belasten würde. Deswegen istdas unserer Meinung nach der falsche Weg, den wirnicht mitgehen, Herr Kollege Beckmeyer.
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24348 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Oliver Luksic
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Wir werden hingegen Anreize für den Einsatz vonschadstoffarmen Euro-6-Lkw setzen. Das wird ein wich-tiges Thema sein, das wir im nächsten Jahr angehen.
Widmen wir uns nun einmal dem, was Sie alles, auchin Anträgen, im Verkehrsausschuss gefordert haben, wasaber unserer Meinung nach so nicht geht:Es kann doch nicht sein, dass wir den Menschen im-mer mehr in die Taschen greifen. Wir müssen einmal se-hen, dass wir ein Steueraufkommen aus dem Verkehrs-bereich haben, das mittlerweile bei 53 Milliarden Euroliegt. Deswegen wird die FDP-Bundestagsfraktion einePkw-Maut, die einfach eine weitere Belastung darstellt,nicht unterstützen.
Sie wollen mit Ihren Anträgen die Citymaut einfüh-ren. Sie wollen eine Verkehrsinfrastrukturabgabe, eineLogistikabgabe, die Erhöhung der Kfz-Steuer und dieAusweitung der Lkw-Maut. Was Sie dabei aber unter-schlagen? Diese Kosten würden dann natürlich an dieVerbraucher weitergegeben, weil alle Produkte teurerwerden.
Ihre Anträge – wir haben es einmal zusammengerechnet– bedeuten 6,5 Milliarden Euro Mehrbelastung ohne jeg-liche Gegenfinanzierung. Das ist keine solide Politik, dieSie im Verkehrsbereich machen. Deswegen lehnen wirdas ab, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Wir werden in dieser Legislaturperiode keine Pkw-Maut beschließen. Das steht nicht im Koalitionsvertrag.Aber wir werden natürlich dafür sorgen, dass wir dievorhandenen Mittel priorisieren.
Wir werden die private Beteiligung von Unternehmenverstärken. Wir wollen Planungs- und Genehmigungs-verfahren verbessern, damit wir für einen Euro mehr ge-baut bekommen. Wir werden uns im Haushaltsverfahrenauch dafür einsetzen, mehr Geld für den Verkehrsinves-titionshaushalt zu bekommen.Wie gesagt: Wir werden nächstes Jahr noch einmalüber das Thema Lkw-Maut diskutieren.
Dann wird es letzten Endes hier noch einmal zur Debattekommen.Es gibt aber einen großen Unterschied zwischen unsund Ihnen: Wir setzen auf eine solide, nachhaltige undfinanzierte Verkehrspolitik.
Sie hingegen wollen weitere Belastungen für die Bürge-rinnen und Bürger, für den Mittelstand sowie für das Ge-werbe, und das ist mit dieser Koalition nicht zu machen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Anton Hofreiter von derFraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Lieber Kollege Luksic, Sie haben gesagt, dassdie Logistikabgabe, die ein sehr modernes Instrumentwar, das von Rot-Grün eingeführt worden ist, nichtberücksichtigt habe, dass es inzwischen moderne Logis-tikketten gibt. Das heißt, Güter werden nicht entwederauf der Schiene, auf der Straße oder auf dem Seewegtransportiert, sondern in der Regel gibt es Logistikketten.Weiterhin haben Sie davon gesprochen, dass die Ver-wendung der Mautmittel unklar und intransparent war.
Nun: 51 Prozent sind für die Straße verwendet worden,38 Prozent für die Schiene und 11 Prozent für die Was-serstraße. Es mag sein, dass das intransparent ist. Aber,wenn wir einmal ehrlich sind, ist das gar nicht so kom-plex.
Was haben Sie stattdessen gemacht? Sie setzen jetztdie Mauteinnahmen nur noch für den VerkehrsträgerStraße ein.
Ist das wirklich ein modernes Logistikkonzept, das einerder größten Exportnationen der Welt angemessen ist? Istdas wirklich angemessen für ein Land, das so stark vonExport und Import abhängig ist, das so stark davon ab-hängig ist, dass wir die Verkehrsinfrastruktur zukunfts-fähig machen? Nein, das ist es natürlich nicht.
Schauen wir uns einmal an, was Sie des Weiterennoch gemacht haben. Sie beklagen jedes Mal wortreich,dass die Einnahmen, dass die Gelder nicht ausreichen,um die Verkehrsinfrastruktur auszubauen. Rot-Grün hat
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Dr. Anton Hofreiter
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einen guten Einnahmetopf geschaffen. Und was habenSie als Erstes gemacht? – Sie haben beschlossen, dassdieser Einnahmetopf nicht mehr wachsen darf. Warumbeklagen Sie dann das Ganze? Wie passt das zusammen?Sie sprechen auch gerne davon, dass das Ganze ent-sprechend marktwirtschaftlich organisiert werden muss.Das ist sicher klug und richtig. Aber Marktwirtschaftfunktioniert nur dann richtig klug, wenn die Preise dieWahrheit sagen. Die Preise sagen eben nicht die Wahr-heit und können damit kein vernünftiges Signal an dieMärkte geben, wenn ein Teil der Kosten von der Allge-meinheit übernommen wird. Und es ist völlig unstrittig,dass ein Teil der Kosten von der Allgemeinheit über-nommen wird. Das hat zur Folge, dass der Mitteleinsatzineffizient wird. Das haben Sie noch verschärft. Neben-bei bemerkt – wenn ich es mir gestatten darf – finde iches lustig, dass ausgerechnet die Linksfraktion in demFall so sehr für ein rein marktwirtschaftliches Instrumentstreitet. Aber wie gesagt, man darf dazulernen.
Schauen wir uns einmal die Debatte insgesamt an:Der Kollege von der FDP sprach davon, dass es keinePkw-Maut geben wird. Der Kollege der CSU, der dergleichen Partei wie der Minister angehört, sprach vonder Pkw-Maut. Auch der Minister sprach des Öfteren da-von. Es heißt ja, es gebe keine Denkverbote im Ministe-rium. Fragt man jedoch das Verkehrsministerium: „Plantdie Bundesregierung noch in dieser Legislaturperiode,die Einführung einer Pkw-Maut in Deutschland prüfenzu lassen?“,
bekommt man die Antwort: Nein. Warum reden Sie dannimmer davon?
Warum beklagen Sie dann immer die nicht vorhandenenFinanzen? Warum reden Sie immer davon, dass die Ös-terreicher endlich bei uns zahlen sollen? Irgendetwasstimmt hier nicht zwischen Worten und Taten.Was brauchen wir? Wir brauchen endlich eine mo-derne Verkehrspolitik, die erkennt, dass es nicht genügt,Umgehungsstraßen zu eröffnen – allerdings gibt es im-mer weniger neue Umgehungsstraßen – und sich dabeifeiern zu lassen. Wir brauchen eine moderne Verkehrs-politik, die insbesondere die Kosten des Güterverkehrsvernünftig einbezieht, die die externen Kosten vernünf-tig einbezieht, damit die Marktwirtschaft funktioniertund für Logistikketten zukünftig entsprechend aufeinan-der abgestimmte Konzepte angeboten werden. Davonkonnten wir leider bis jetzt sehr wenig erkennen.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Steffen Bilger von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Zunächst herzlichen Dank an die SPD-Fraktion, dass Sieuns mit Ihrer 87 Einzelfragen umfassenden GroßenAnfrage ein umfassendes Nachschlagewerk zur Lkw-Maut in Deutschland verschafft hat.
Danke aber auch dafür, dass Sie der Bundesregierungdamit die Gelegenheit gegeben haben,
aufzuzeigen, wie gut wir in der Koalition in der Ver-kehrspolitik arbeiten.
Der Titel der Großen Anfrage der Sozialdemokratenlautet: „Zukunft des Mautkonzeptes in Deutschland“.Nach der Lektüre der Antwort wird klar: Mit uns hat dasdeutsche Mautkonzept eine Zukunft.
Sie geben uns Gelegenheit, dies noch einmal zu verdeut-lichen.Zunächst will ich festhalten: Die Mautausweitung aufvierspurige Bundesstraßen stellt eine gute Regelung dar.Die Ausdehnung des Streckennetzes war schon langeangedacht, selbst von der SPD bei der Einführung desSystems. Es waren die in der Antwort beschriebenentechnischen Probleme, die einer schnelleren Einführungim Wege standen. Daran hat die Bundesregierung keineSchuld. Die Bundesregierung hat aber durch geschickteVerhandlungen mit dem Betreiber eine realistische Re-gelung gefunden, trotz der Differenzen wegen desSchiedsverfahrens.
Außerdem ist es richtig und wichtig, dass der Bundverschiedene Optionen für die Zukunft des Lkw-Maut-systems für die Zeit nach 2015 ergebnisoffen prüft. EinSchnellschuss oder eine Vorfestlegung würde hier nie-mandem nutzen.Steigende Mauteinnahmen sind gut und wichtig. Siesind dringend nötig, um unsere Infrastruktur funktions-fähig zu erhalten.
Dabei sollte uns aber auch wichtig sein, und das sollteman noch einmal verdeutlichen: Es geht um Arbeits-
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Steffen Bilger
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plätze, es geht um den Logistikstandort Deutschland,und es geht nicht zuletzt um Kosten, die an die Verbrau-cher weitergegeben werden, wenn wir leichtfertig überMauterhöhung diskutieren, ohne die Risiken abzuwägen.Ich denke, dass wir bisher einen guten Mittelweg gefun-den haben, den es auch weiter zu beschreiten gilt.Meine Damen und Herren, ich finde es etwas merk-würdig, dass die SPD mit ihrer Großen Anfrage ver-sucht, Kritik an der Bundesregierung zu üben, ohne an-scheinend selbst zu merken, woher die Grundproblemebeim Mautkonzept kommen. Wenn damals unter einemSPD-Bundesverkehrsminister sauber gearbeitet wordenwäre, würde es heute dieses Schiedsverfahren mitseinem ungewissen Ausgang und seinen exorbitantenKosten vermutlich gar nicht geben.
Fast 100 Millionen Euro wurden bisher schon für diesesMautschiedsverfahren ausgegeben. Damit hätte man et-liche Umgehungsstraßen bauen können.
Ich will aber nicht nur sagen, was schlecht war bei derSPD, sondern auch, was gut läuft im Mautsystem. Ins-gesamt pflegen wir ja doch ein konstruktives Miteinan-der. Die Antwort der Bundesregierung zeigt deutlich,dass das System funktioniert. Auf Mautausweichver-kehre entfallen lediglich 4 Prozent, und der Anteil derMautpreller liegt gerade einmal bei unter 1 Prozent mitsinkender Tendenz.
An dieser Stelle möchte ich auch die Leistung von TollCollect durchaus anerkennen, denn das System funktio-niert mittlerweile technisch gut.Doch – das ist in den bisherigen Reden schon ange-klungen – es geht nicht nur um die Lkw-Maut, sondernes geht auch allgemein um das Stichwort „Nutzerfinan-zierung“. Beinahe im Wochenrhythmus stellt eine derOppositionsfraktionen der Bundesregierung eine Fragezum Thema Pkw-Maut. Die Antwort ist, wie vorhin be-reits gesagt wurde, immer dieselbe: keine Denkverbote,steht zurzeit aber nicht auf der Tagesordnung. So ist es,und so ist es auch in Ordnung,
auch wenn wir uns im Süden – das heißt, auch der grüneMinisterpräsident in Baden-Württemberg – durchausvorstellen können, eine Maut- oder Vignettenlösung ein-zuführen.Wir haben in den letzten Wochen wieder gehört, wieunterfinanziert die Straße ist: In der Finanzplanung bis2016 fehlen 1,7 Milliarden Euro für laufende Vorhaben.Dazu gibt es für 7 Milliarden Euro baureife und planfest-gestellte, also demnächst baureife Projekte. Darin sinddie üblichen Kostensteigerungen noch nicht einmalenthalten. Pro Mobilität schreibt dazu: „Vor allemMenschen in Baden-Württemberg, Bayern und Hessenwarten auf die Lösungen ihrer Verkehrsprobleme.“ Wirreden hier nicht von Wunschstraßen regionaler Vertreter,sondern von für die Wirtschaft lebenswichtigen Bundes-fernstraßen und von Umgehungsstraßen, die die Men-schen von Lärm und Abgasen entlasten.Allein mit Priorisierungen, Effizienzsteigerungen undähnlichen – durchaus auch wichtigen – Maßnahmenkommen wir nicht weiter. Deswegen: Unsere Auffas-sung zu diesem Thema als CDUler aus Baden-Württem-berg ist klar: Es muss auch weiterhin Spielraum fürNeubaumaßnahmen geben. Da unterscheiden wir unsvon dem grün-roten Weg. Und wie gesagt: Um mehrGeld für die Infrastruktur zur Verfügung stellen zu kön-nen, darf es keine Denkverbote geben.Ich möchte an dieser Stelle noch einmal daran erin-nern, dass nach dem ursprünglichen Konzept der SPDein Mehr an Mauteinnahmen noch nicht einmal demVerkehrshaushalt zugutegekommen wäre.
Es war – das wurde vorhin schon gesagt – Bundesver-kehrsminister Dr. Peter Ramsauer, der den Finanzie-rungskreislauf Straße eingeführt hat. Und noch einmal inaller Deutlichkeit, weil es, wie ich immer wieder fest-stelle, viele Bürger gar nicht mitbekommen haben: Mitt-lerweile kommen die Lkw-Mauteinnahmen direkt derStraßeninfrastruktur zugute. So muss es auch sein.
Vorhin wurde es bereits angesprochen, und Sie stellenjetzt auch die Frage: Was ist mit der Schiene, und was istmit der Wasserstraße? Selbstverständlich erfolgt dieFinanzierung hierfür weiterhin aus dem Haushalt.Nicht zuletzt: Es waren die Koalitionsfraktionen unddiese unionsgeführte Bundesregierung, die mit dem In-frastrukturbeschleunigungsprogramm den Mut aufbrach-ten, 1 Milliarde Euro zusätzlich in die Hand zu nehmen –ein Vielfaches von dem also, was durch die von der SPDbeklagten Mautmindereinnahmen hereingekommen wäre.Das nenne ich Prioritätensetzung.Lassen Sie uns weiter darüber diskutieren, wie dieMittel sinnvoll eingesetzt werden und wie es uns gelin-gen kann, insgesamt mehr Geld für die Verkehrsinfra-struktur zur Verfügung zu haben.Vielen Dank.
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkterteile ich das Wort dem Kollegen Florian Pronold vonder SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich habe drei Minuten Redezeit.
Wenn ich alle Ankündigungen von Herrn Ramsauer zur
Einführung einer Pkw-Maut aus den letzten vier Jahren
hier vorlesen wollte – ich habe sie hier einmal ausge-
druckt –, würde das allein 30 Minuten dauern.
Wir erleben hier ein Schauspiel, bei dem die schwarz-
gelbe Koalition in gewohnter Einigkeit auftritt. Der eine
sagt: Wir sind geschlossen für die Einführung der Pkw-
Maut. Der andere sagt: Nein, wir werden sie nicht ein-
führen. Der Dritte sagt: Es gibt keine Denkverbote; viel-
leicht sprechen wir einmal in der nächsten Wahlperiode
darüber, wenn wir nicht mehr regieren. Was ergibt denn
das für ein Bild? Die Bundesregierung sagt nüchtern und
knapp in der Antwort auf unsere Frage 87: Es wird in
dieser Wahlperiode keine Pkw-Maut geben.
Da frage ich mich: Was hat denn dieser Minister drei
Jahre lang gemacht? Warum debattiert er denn über die
Pkw-Maut, wenn sie zum Schluss sowieso nicht kommt?
Ich frage mich auch, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der CSU, warum Sie die Menschen im Rahmen der
Propaganda auf Ihrem Parteitag und der Anträge, die Sie
dort verabschieden, belügen.
7. Oktober 2011, Beschluss des CSU-Parteitages zur
Einführung der Pkw-Maut mit einem ganz spannenden
letzten Absatz, in dem nämlich steht: Die deutschen Au-
tofahrer sollen nicht an den Kosten der Pkw-Maut betei-
ligt werden, sondern sie sollen durch andere Maßnah-
men entlastet werden.
Wenn das so ist, dann stellt sich erst einmal die Frage:
Woher kommt denn das Mehr an Geld für die Infrastruk-
tur? Die ausländischen Autofahrer, die 7 Prozent der Au-
tofahrer insgesamt ausmachen, können es nicht sein;
denn eine Erhebung der Pkw-Maut bei diesen würde ge-
rade einmal die Einführungskosten erbringen.
Dann lesen wir in der Antwort der Bundesregierung
auf Frage 86 der Großen Anfrage, dass dies europarecht-
lich gar nicht zulässig ist, was übrigens CSU-Abgeord-
nete schon vor diesem Beschluss des Parteitages vom
Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages
bescheinigt bekommen haben. Trotzdem lügen Sie die
Menschen an und sagen, das koste die deutschen Auto-
fahrer nichts, das zahlten bloß die Ausländer, und be-
schließen das mit dem stellvertretenden Parteivorsitzen-
den der CSU und Bundesverkehrsminister auf Ihrem
Parteitag. Das ist Lügen par excellence.
Dann können wir uns noch über die hier vorgebrach-
ten Wehklagen über das fehlende Geld unterhalten. Der
Kollege Beckmeyer hat schon auf Folgendes hingewie-
sen: Wenn Sie sagen, dass schon mit 100 Millionen Euro
eine Menge Umgehungsstraßen gebaut werden können,
was könnte dann mit den 500 Millionen Euro gebaut
werden, die uns zusätzlich zur Verfügung stünden, wenn
Sie das mit der Lkw-Maut unter Ihrer Verantwortung
richtig gemacht hätten? 500 Millionen sind uns durch
die Lappen gegangen. Das sind fünfmal so viele Umge-
hungsstraßen.
Da Sie beklagen, dass auch ansonsten Geld für den
Verkehrshaushalt fehlt, sage ich Ihnen eines: 1,5 Milliar-
den Euro haben Sie jedes Jahr im Haushalt aus dem Be-
reich des Verkehrs, über die Luftverkehrsteuer und über
die Bahndividende, mehr eingenommen. So gut wie
nichts davon ist für die Verkehrsinfrastruktur ausgege-
ben worden. Da helfen auch keine verkehrsträgereigenen
Finanzierungskreisläufe. Es ist zu wenig Geld vorhan-
den.
Wissen Sie, was das Schlimme ist? Schlimm ist nicht,
dass Herr Ramsauer Ankündigungen macht und sie nicht
einhält. Das Schlimme ist, dass dies drei verlorene Jahre
für die Infrastruktur, für die Zukunft von Deutschland,
für Wachstum und Arbeitsplätze waren.
Ich schließe die Aussprache.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b auf:a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Jahres-steuergesetzes 2013– Drucksachen 17/10000, 17/10604 –Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-schusses
– Drucksachen 17/11190, 17/11220 –Berichterstattung:Abgeordnete Olav GuttingLothar Binding Dr. Daniel VolkLisa Paus– Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung– Drucksache 17/11191 –Berichterstattung:Abgeordnete Norbert BarthleCarsten Schneider Otto FrickeDr. Gesine LötzschPriska Hinz
b) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung des Versicherungsteuergesetzes
– Drucksachen 17/10039, 17/10424 –
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-schusses
– Drucksachen 17/11183, 17/11219 –Berichterstattung:Abgeordnete Patricia LipsSabine Bätzing-LichtenthälerDr. Daniel VolkLisa Paus– Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung– Drucksache 17/11187 –Berichterstattung:Abgeordnete Norbert BarthleCarsten Schneider Otto FrickeDr. Gesine LötzschPriska Hinz
Zu dem Jahressteuergesetz 2013 liegen ein Ände-rungsantrag der Fraktion der SPD, ein Änderungsantragder Fraktion Die Linke, zwei Änderungsanträge derFraktion Bündnis 90/Die Grünen sowie ein Entschlie-ßungsantrag der Fraktion der SPD vor. Über den Ände-rungsantrag der Fraktion der SPD und über einen Ände-rungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenwerden wir später namentlich abstimmen.Zu dem Verkehrsteueränderungsgesetz liegt ein Än-derungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-derspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be-schlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner das Wort dem Kollegen Olav Gutting von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Inzweiter und dritter Lesung behandeln wir heute einenGesetzentwurf, der es schon aufgrund seines Umfangs insich hat.
Zusammen mit den Empfehlungen des Bundesrates wa-ren es über 200 steuerrechtliche Maßnahmen, über diewir zu beraten hatten.Wie immer enthält das Jahressteuergesetz neben einerVielzahl von technischen und redaktionellen Änderun-gen auch eine Reihe von politisch bedeutsamen Rege-lungen und Maßnahmen. Ein Beispiel dafür ist die Ver-kürzung der Aufbewahrungsfristen für Steuerunterlagen.Im Interesse des Bürokratieabbaus, den diese Koalitionkonsequent durchführt, werden die bisherigen Aufbe-wahrungsfristen von zehn Jahre in einem ersten Schrittauf acht Jahre abgesenkt und in einem weiteren Schrittab dem Jahr 2015 auf sieben Jahre verkürzt. Der Nor-menkontrollrat, der sich diese Sache angeschaut hat, be-stätigt uns hierfür eine Kostenersparnis bei den Bürokra-tiekosten von circa 2,5 Milliarden Euro.Mit unserem Jahressteuergesetz 2013 bauen wir auchdie steuerlichen Wettbewerbsnachteile für Elektro- undHybridfahrzeuge ab. Wir wollen Deutschland bis zumJahr 2020 zu einem Leitmarkt und zu einem Leitanbieterfür Elektromobilität entwickeln.
Zukünftig wird deshalb der Listenpreis als Besteue-rungsgrundlage für die 1-Prozent-Regelung bei denDienstwagen um die Kosten des Batteriesystems gemin-dert.Ebenfalls bedeutsam in diesem Gesetz ist, dass wirdie ursprünglich vorgesehene Besteuerung von Reservis-tenbezügen nicht umsetzen. Wir wollen hiermit noch-mals unterstreichen, dass wir die Bezüge bei den Reser-visten wie bisher komplett steuerfrei belassen. Wirhalten dies auch angesichts der besonderen Belastungvon Reservisten, die ihr Berufsleben für die Wehrübun-gen und -einsätze unterbrechen, für mehr als gerechtfer-tigt.
Die Kritik der gewerblichen Bildungsträger, die durcheine Umsatzsteuerfreiheit den Vorsteuerabzug verlierenwürden, haben wir aufgegriffen und den in vielen Ge-sprächen vorgetragenen Befürchtungen der Volkshoch-schulen und der privaten Musik-, Tanz- und Ballettschu-len zum Verlust ihrer bisherigen UmsatzsteuerfreiheitRechnung getragen.Mit dem Jahressteuergesetz versuchen wir auch im-mer, missbräuchlichen Gestaltungen, das heißt Gestal-tungen mit dem Ziel der legalen Steuervermeidung, ei-nen Riegel vorzuschieben. Bei diesen Steuervermei-dungsmodellen, die immer wieder auftauchen, ist es jaoft so wie bei Hase und Igel: Kaum haben wir ein Steu-ersparmodell vom Markt genommen, tauchen bereits an-dere kreative Modelle am Steuersparhorizont auf. Des-wegen ist es wichtig, dass wir hier immer auf Zack sindund rechtzeitig gegensteuern.In letzter Zeit hat sich hier ein Modell etabliert, dasdie arbeitsplatzerhaltende Privilegierung von Betriebs-vermögen beim Betriebsübergang ausnutzt. Es ist dasvereinzelte Phänomen der sogenannten Cash-Gesell-schaften, mit denen Barvermögen über eine Gesellschaftals Vehikel quasi steuerfrei auf die nächste Generationgeschleust wird. Wir brauchen hier eine angemesseneRegelung, welche diese missbräuchliche Gestaltung ver-hindert. Aber wir müssen gleichzeitig aufpassen, dasswir bei einer solchen Regelung nicht den Betrieben undUnternehmen in unserem Land die Liquidität entziehen.Deswegen ist der zu diesem Bereich vorliegende Vor-schlag der Opposition und des Bundesrates nicht taug-lich; er schüttet das Kind mit dem Bade aus und gefähr-det damit viele Arbeitsplätze beim Betriebsübergang.Wir werden – das haben wir zugesagt – noch einmal ein-gehend prüfen, wie wir das Gestaltungsmodell der Cash-
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Olav Gutting
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Gesellschaften trennscharf austrocknen können. Schnell-schüsse sind allerdings bei der Vielzahl der hier auf demSpiel stehenden Arbeitsplätze und der Vielzahl der steuer-ehrlichen Betriebe und Unternehmen in unserem Landenicht angezeigt.
Dass es uns ernst ist mit dem Ziel, Modelle zur Steu-ervermeidung auszuschalten und zu unterbinden, zeigtsich auch an der Tatsache, dass wir mit unserem Jahres-steuergesetz 2013 den sogenannten Goldfinger-Model-len einen Riegel vorschieben, bei denen ausländischeRohstoffhandelsgesellschaften genutzt werden, um überden negativen Progressionsvorbehalt und das DBA-Ab-kommen eine Steuerminderung hinzubekommen. Dieswird zukünftig nicht mehr möglich sein. Wir wollen indieser Regierungskoalition – darin sind wir uns einig –missbräuchliche Steuergestaltungen ausschalten. Es gehthier genauso um Gerechtigkeit wie heute Nachmittagbeim Schweizer Steuerabkommen; wir wollen, dass derSteuerehrliche keine Nachteile hat.
Mit Blick auf dieses große Gesetzeswerk – ich habees vorhin gesagt: über 200 zu beratende Änderungen –bedanke ich mich abschließend bei den Berichterstatternder Koalition, aber auch der Opposition für die immergute, faire und zielorientierte Zusammenarbeit. In diesenDank beziehe ich auch die Mitarbeiterinnen und Mitar-beiter des BMF und des Finanzausschusses ein, die sichim Zusammenhang mit diesem Gesetzgebungsverfahrenteilweise weit über die normalen Dienstzeiten hinauseingesetzt haben. Dafür mein Dankeschön!Jetzt ist es so weit, dass wir diesem Gesetz nach die-ser Debatte zustimmen können. Es ist ein Omnibusge-setz, und es braucht freie Fahrt.
Das Wort erhält nun der Kollege Lothar Binding für
die SPD-Fraktion.
Schönen Dank, Herr Präsident. – Sehr verehrte Da-men und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirhaben vorhin in einer feurigen Rede von HerrnBrinkhaus gehört: Die Koalition liefert.
Das ist klar. Man sollte natürlich bei jeder Lieferung gu-cken, ob die Produkte nicht faul sind, ob sie nicht defekt,unvollständig oder alt sind.
Da muss man immer ein bisschen genauer hingucken.Ich möchte vorab sagen: Den Dank, den Herr Guttingformuliert hat, nehmen wir an; denn wir haben uns wirk-lich angestrengt, gut zu beraten. Dem Lob an die Verwal-tung und die Mitarbeiter schließen wir uns an, weil siesehr viel arbeiten mussten und gute Vorlagen gemachthaben.Wir spüren aber doch: Es kommt in dieser Legislatur-periode eine gewisse Endzeitstimmung auf. Das erkenntman daran, dass in einer Wahnsinnshektik unendlichviele Anträge sehr kurzfristig eingebracht wurden. Manerkennt, dass noch der letzte Spiegelstrich der Koali-tionsvereinbarung eilfertig in ein Gesetz gegossen wer-den muss, und dann vergisst man natürlich wichtigeDinge.Sie werden zum Beispiel erleben, dass Baden-Würt-temberg den Vermittlungsausschuss anruft, weil Rege-lungen fehlen, um die ungerechte Besteuerung beigleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften zu been-den. Das ist auch sinnvoll; denn es ist an der Zeit, dassdas geregelt wird.
Dazu stellen die Grünen einen Antrag, wir stellen einenAntrag. Da merkt man: Das Gesetz ist einfach nicht zeit-gemäß.Es gibt noch andere Dinge, die man jetzt hätte korri-gieren müssen. So stellen wir etwa einen Antrag auf Ab-schaffung der Sondervergünstigungen für Hotels.
Auch das hätte man jetzt korrigieren müssen. Sie allewissen, dass dies falsch war. Man kann erkennen, dassdas Nähen mit heißer Nadel nicht immer dazu führt, dassdie Lieferung am Ende gut ist.Es ist sogar so, dass die Regierung mitunter Dingeversucht hat, die vernünftig sind, nämlich entlang derEU-rechtlichen Vorgaben Dinge zu regeln und derRechtsprechung Genüge zu leisten. Es kamen, der Hek-tik geschuldet, teilweise schlechte Regelungen heraus:Die Volkshochschulen, die Musikschulen und natürlichdie Vereine – auf sie komme ich gleich zurück – musstensich aufregen, weil die neuen Regelungen für sie eineextreme Verteuerung bedeutet hätten. Man muss sagen,dass es bei der Beratung des Entwurfes ungefähr so lief:Man entwickelt eilfertig schlechte Regelungen, kämpftdann eine ganze Weile erfolgreich gegen sich selbst,streicht diese Regelungen wieder und verkauft das dannals großen Erfolg für die Bürger.
Aber diesen Umweg hätte man sich vielleicht auch spa-ren können.Ich will es nur an einem Beispiel deutlich machen. Dagab es eine Regelung zu den Vereinen; ich nenne einmaldie DLRG. Wir wissen, der Verfassungsschutz arbeitetimmer hundertprozentig korrekt – das erleben wir geradean allen Ecken und Enden –; aber trotzdem könnte einIrrtum passieren. Wenn jetzt so ein Verein irrtümlich im
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Lothar Binding
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Verfassungsschutzbericht erwähnt worden wäre, hättedas dazu geführt, dass er die Gemeinnützigkeit verlorenhätte, und zwar ohne dass der Verein die Chance gehabthätte, das zu korrigieren und zu widerlegen. Das heißt,man wollte den Vereinen sogar den Rechtsweg, den Wegdes Widerspruchs abschneiden. Wie kann man dennsolch eine Regelung treffen? Wir sind froh, dass Sieauch da den Kampf gegen sich selbst gewonnen habenund das wieder herausgenommen haben.
Es ist natürlich völlig klar, dass sich dann auch der Pari-tätische Gesamtverband aufregt; denn er hatte großeSorge, was das tatsächlich bedeuten würde.Wenn man ein bisschen genauer hinschaut, dannmerkt man: Dinge, die man heute hätte regeln können,sind zum Teil sehr feingliedrig. Ich nenne das Beispielder Probleme mit den Selbsthilfeeinrichtungen der Pfar-rerschaft. Das ist etwas Kompliziertes; man muss da-rüber genau nachdenken. Aber diese Probleme sind garnicht angepackt worden. Warum? Man war zu eilig, zuhektisch, zu wenig problemorientiert. Man hat zu starkauf das Liefern geachtet, aber nicht auf die Qualität.
Die SPD stellt auch Anträge mit der Ausrichtung,Steuerschlupflöcher zu schließen. Ich will, weil meineRedezeit zu Ende ist, es nur kurz erwähnen: Wenn manerkennt, dass mit dem Kauf oder Verkauf einer Aktie1,5 Milliarden Euro Steuern gespart werden können, underkennt, dass da im Umwandlungssteuerrecht ein Pro-blem besteht, dies aber im Jahressteuergesetz 2013 nichtanpackt, dann frage ich mich: Was ist das eigentlich füreine Gesamtlieferung?Ich würde sagen: Wir kleben auf die Lieferung: Re-turn to Sender. Das wäre eine ganz gute Sache. Deshalblehnen wir das Gesetz ab.
Der Kollege Daniel Volk ist für die FDP-Fraktion der
nächste Redner.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Herr Kollege Binding, was Sie ge-rade dargestellt haben bezüglich des Jahressteuergeset-zes – das ist ja eigentlich Ihr großes Lieblingsprojekt;Sie sagen immer, wir bräuchten diese Jahressteuerge-setze –, entspricht in keiner Weise der Realität.
Sie wissen ganz genau, dass ein Jahressteuergesetz imWesentlichen dadurch entsteht, dass Vorschläge aus derVerwaltung, aus den Finanzämtern und von den Bundes-ländern in einem Gesetzentwurf zusammengefasst wer-den. Dieser wird dann dem Parlament vorgelegt. Es istein ganz normaler Vorgang, dass in einem solchen Ge-setzentwurf Punkte geändert oder gestrichen werden.Das so auszulegen, als habe die Koalition intern mit-einander gerungen, ist abwegig.
Das ist jenseits der Realität, Herr Kollege Binding, unddas wissen Sie selber ganz genau.
Im Zuge dieses Tagesordnungspunktes beraten wirnicht nur das Jahressteuergesetz, sondern auch das Ver-kehrsteueränderungsgesetz. Ich möchte zunächst daraufhinweisen, dass wir als Koalition in diesem Verkehrsteu-eränderungsgesetz – im Wesentlichen betreffend dasVersicherungsteuergesetz, aber auch das Kraftfahrzeug-steuergesetz – zusätzlich eine Regelung aufgenommenhaben, die der Tatsache, dass die zu beobachtenden Wet-terextreme immer stärker zunehmen, gerecht wird. Dasvorliegende Gesetz ist eben auf der Höhe der Zeit. Es istuns gelungen, die sogenannte Hagelversicherung fürLandwirte und Gärtnereien zu einer Mehrgefahrenversi-cherung auszuweiten, in die auch Elementarschäden wieStarkfrost oder Überschwemmungen aufgenommen wer-den. Das ist ein Verdienst dieser Koalition. Wir als Ko-alition helfen denjenigen, die durch Wetterextreme be-einträchtigt werden.
Kollege Binding, in Bezug auf das Jahressteuergesetzhaben Sie die Thematik angesprochen, wie wir mit mut-maßlich verfassungsfeindlichen Organisationen im Steu-errecht umgehen sollten. Der Vorschlag, der uns vorge-legt wurde – übrigens unterstützt vom Bundesrat, demauch Rot und Grün angehören –, hätte faktisch zu einerVerkürzung der Rechtsweggarantie geführt. Deswegenhaben gerade wir als FDP gesagt, dass wir es nicht inOrdnung finden, eine solche Verkürzung der Rechtsweg-garantie vorzunehmen; denn der Rechtsstaat ist nur dannein starker Rechtsstaat, wenn er wirklich allen dieselbeRechtsschutz- und Rechtsweggarantie gewährt. Die vonder Verwaltung vorgeschlagene Regelung war mit unsnicht zu machen. Wir haben die entsprechenden Punktewieder aus dem Entwurf herausgestrichen. Das ist eingutes Signal für den deutschen Rechtsstaat.
Zum Bereich der privaten Bildungsanbieter, aber auchder Volkshochschulen. Ja, die Regelung, die diesbezüg-lich von der Verwaltung vorgeschlagen wurde, hat zu ei-
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Dr. Daniel Volk
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ner erheblichen Unruhe bei den Betroffenen geführt. Wirhaben die Bedenken aufgenommen, weil wir finden,dass Bildung nicht der Sicherung der Steuereinnahmendient; vielmehr dient Bildung der Zukunft unseres Lan-des. Deswegen haben wir uns dafür eingesetzt, dass dieUmsatzsteuerfreiheit im Zusammenhang mit Bildungs-angeboten bestehen bleibt.
Man muss bedenken: Wir mussten aufgrund europäi-scher Vorgaben eine Umsatzsteuerregelung im Hinblickauf Kunst- und Sammlergegenstände vornehmen. Wirals Koalition haben uns dafür eingesetzt, dass für dieseSteuerpflichtigen, für Galeristen, Münzsammler undBriefmarkensammler, eine bürokratiefreie, pragmatischeRegelung eingeführt werden wird. Wir können also sa-gen, dass europäische Vorgaben von uns im Parlamentumgesetzt werden. Allerdings berücksichtigen wir dabeidie Bedenken, die Sorgen und die Nöte der Steuerpflich-tigen. Auch das ist eine gute Nachricht für die Betroffe-nen.
Der Entwurf des Jahressteuergesetzes 2013 umfasstviele Punkte. Es ist immer eine Herausforderung, einensolchen Entwurf in allen Einzelpunkten zu beraten. DieKoalitionsfraktionen haben die Beratungen im Finanz-ausschuss verantwortungsvoll und im Interesse der Steu-erpflichtigen geführt. Wir legen heute ein Jahressteuer-gesetz zur Beschlussfassung vor, das eine bürokratiefreieund für die Steuerpflichtigen günstige Anwendung derdort vorgesehenen Regelungen ermöglicht.Abschließend möchte ich noch einen entscheidendenPunkt erwähnen, die Verkürzung der Aufbewahrungs-fristen. Mit der Verkürzung der Aufbewahrungsfristensetzen wir ein Projekt dieser Koalition fort: die Sicher-stellung der Durchführung einer zeitnahen Betriebsprü-fung. Ein wesentlicher Aspekt beim Bürokratieabbau istnämlich, dass steuerpflichtige Unternehmen so schnellwie möglich durch eine zeitnahe BetriebsprüfungRechtssicherheit bekommen. Aus diesem Grund ist dieVerkürzung der Aufbewahrungsfristen ein ganz ent-scheidender Punkt in diesem Jahressteuergesetz.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Barbara Höll für
die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Auch ich möchte mich für den Dank, den Herr Guttingausgesprochen hat, bedanken, kann ihn aber nicht zu-rückgeben. Nach allen Beratungen, in denen wir wirklichentgegenkommend waren, und vor der letzten Beratungwar klar: Es ist, wie es ist. Wir haben Fachgespräche ge-führt. Die meisten Abgeordneten hatten ihre Vorberei-tung für die Ausschusssitzung am Mittwoch bereits amDienstagabend beendet. Dann kam das böse Erwachenam Mittwochvormittag: 37 Änderungsanträge – ich wie-derhole: 37 –
hat die Koalition am späten Dienstagabend in die Bürosgemailt. Das ist keine Grundlage für eine ordentlicheBeratung, noch dazu, wenn wir zwei Gesetze ändern, diesehr viele technische Details enthalten. Das heißt füruns, dass wir alles kontrollieren müssen, um feststellenzu können, was sich tatsächlich hinter den Änderungenverbirgt.
Das ist keine gute parlamentarische Arbeit. Das zeigt,dass Sie sich selbst und das, was Sie tun, nicht mehrernst nehmen.Wir begrüßen, dass Sie einige Teile herausgenommenhaben. An dieser Stelle kann man sagen: Okay, die Bera-tungen haben wenigstens ein bisschen gewirkt. Sieschlagen aber auch Änderungen vor, die wir nicht begrü-ßen können. Fangen wir doch einmal mit den Aufbewah-rungsfristen an, Herr Volk. Sie verkürzen jetzt also dieAufbewahrungsfrist und sagen großartig: Das soll Ein-sparungen von über 1 Milliarde Euro bringen. Es wurdeübrigens nie gesagt, warum das eine Einsparung bringensoll. Ich meine, dass es ganz egal ist, ob die Akten oderCDs ein Jahr länger oder kürzer im Keller liegen. Mirhat sich bis heute nicht erschlossen, wieso dadurch Bü-rokratiekosten eingespart werden.
Sie sagen, es solle dann zu zeitnahen Betriebsprüfungenkommen. Haben Sie das Personal in den Finanzämterndenn entsprechend aufgestockt? Wurde veranlasst, dassdas personell unterfüttert wird?
Und wie sieht das eigentlich mit dem Strafrecht aus?Welche Regelungen haben wir da? Ich sage: Diese Ver-kürzung der Aufbewahrungsfristen kann dazu führen,dass der Steuervollzug nicht mehr ordentlich kontrolliertwerden kann. Das lehnen wir natürlich ab.
Sie haben gesagt – das ist richtig –, dass die Extremis-musklausel herausgenommen wurde. Wir haben Ihnendazu einen Änderungsantrag vorgelegt. Man muss sicheinmal anschauen, was in der Abgabenordnung zur Ge-währung von Vergünstigungen für gemeinnützige Ver-eine steht: Die Vereine dürfen dem Gedanken der Völ-kerverständigung nicht zuwiderhandeln. Rassistischeund gegen den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzesgerichtete Bestrebungen sollen natürlich nicht steuerlichgefördert werden. Bisher ist das von den Finanzämtern
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Dr. Barbara Höll
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ordentlich überprüft worden. Es hätte weder dieser Re-gelung jetzt bedurft noch der Änderung der Abgabenord-nung 2009. Sie drücken hier wieder unter dem diffusenBegriff des Extremismus einen Allgemeinverdacht ge-gen viele engagierte Personen aus, die aktiv gegenrechtsextremistisches Denken in Deutschland wirken.Sich dann auch noch auf den Verfassungsschutz zu beru-fen,
das spricht den Vorgängen hier und dem Engagement derMenschen Hohn.
Dazu, dass Sie daran gedacht haben, eine solche Unge-hörigkeit vorzusehen, fehlen einem die Worte.Ich möchte kurz noch etwas zur Änderung des Ver-kehrsteuergesetzes sagen. Dass auch die Hagelversiche-rung für landwirtschaftliche Betriebe der ermäßigtenBesteuerung unterliegen soll, das begrüßen wir. Im Ge-setzentwurf ist aber auch – das präsentieren Sie als Er-folg, Herr Gutting – die steuerliche Bevorzugung, dieSubventionierung – sprich: auf Kosten der Allgemein-heit – von Elektroautos vorgesehen. Das ist klimapoli-tisch aber völlig kurzfristig gedacht. Denn erstens blei-ben Sie damit bei der Förderung des Individualverkehrs,und zweitens wissen wir nicht – wir wissen es vor allemaufgrund Ihrer Energiepolitik nicht –, wie der Strom er-zeugt wird, den die Elektroautos verbrauchen. Bleibt esbei Kohle, oder ist es tatsächlich grüner Strom? Dannkönnte man eventuell darüber nachdenken. Nein, diesmüssen wir anders anpacken. Wenn wir subventionieren,dann nachhaltig. Dann müssten wir zum Beispiel etwasim Bereich des öffentlichen Personennahverkehrs tun.Ich bedaure es sehr, dass Sie auch den Empfehlungendes Bundesrates nicht vollständig gefolgt sind. Das trifft,wie Kollege Binding schon sagte, unter anderem denEvangelischen Pfarrverein. Da gibt es die Einrichtungeiner solidarischen Selbsthilfe hinsichtlich der Kranken-versicherung. Hierzu streichen Sie jetzt Regelungen.Diese Organisationen wissen nicht, wie es weitergehensoll. Da fehlen sogar mir als Atheistin die Worte.Wir können diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen.Wir unterstützen die Vorschläge der SPD und der Grü-nen – dies wären sinnvolle Ergänzungen – zur steuerli-chen Gleichstellung der Eingetragenen Lebenspartner-schaften –
Frau Kollegin.
– und zur Rücknahme der steuerlichen Bevorzugung
bei den Hotelübernachtungen, also der Regelung, in de-
ren Rahmen Sie eine einseitige Bevorzugung Ihrer
Klientel vorgenommen haben. Wir unterstützen diese
Änderungsanträge, aber dem Gesetzentwurf stimmen
wir nicht zu.
Lisa Paus ist die nächste Rednerin für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am Endedes Tages waren es 36 Änderungsanträge von Schwarz-Gelb.
Aber eine Änderung durfte einfach nicht dabei sein: dievollständige Gleichstellung der Eingetragenen Le-benspartnerschaften im Steuerrecht, vor allem nicht beider Einkommensteuer. Dabei hat das höchste Gericht indiesem Lande in den vergangenen zehn Jahren jedes Malund ohne Ausnahme festgestellt, dass die steuerliche Un-gleichbehandlung von Lebenspartnerschaften im Ver-gleich zu Ehen verfassungswidrig ist. Mittlerweile ge-währen 14 Bundesländer Rechtsschutz in der Frage dereinkommensteuerlichen Gleichstellung, nur die schwarz-gelb geführten Länder Bayern und Sachsen tun es nicht.So geht eine vermeintlich bürgerliche Regierung mit ih-ren Bürgern und mit den Bürgerrechten in diesem Landum. Das ist absurd.
Wir geben Ihnen heute noch eine letzte Gelegenheit,das zu korrigieren. Stimmen Sie unserem Änderungsan-trag zu, in dem gefordert wird, die Gleichstellung end-lich vollständig herzustellen.
Man muss bei diesem Gesetz absurderweise begrü-ßen, was nicht darin steht. Sie von der Koalition wolltenernsthaft Babyschwimmkurse besteuern, weil – Zitat –bei unter Dreijährigen gar nicht von einer Bildungsleis-tung gesprochen werden kann – Zitat Ende.
Dies entspricht der Linie der FamilienministerinSchröder. Dazu fällt mir nur eines ein: das Betreuungs-geld.
Das Gleiche gilt für die Umsatzsteuerpraxis bei Mu-sik-, Tanz- und Ballettschulen und anderen Bildungsträ-gern. Diese wollten Sie ändern und damit deren Existenzgefährden.
Diesen Quatsch lassen Sie jetzt sein. Auch darüber sindwir froh. – Herr Volk, Sie wissen, dass ich recht habe.
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Lisa Paus
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Sie wollten den Verfassungsschutz künftig entschei-den lassen, welche Organisation gemeinnützig ist undwelche nicht.
Der Verfassungsschutz zeigt aktuell in einem wirklicherschreckenden Ausmaß, dass er so jedenfalls überhauptnicht funktioniert. Auch hier sind Sie zurückgerudert,und auch darüber sind wir froh.
Dennoch konnten Sie nicht aus Ihrer Haut, auch andiesem Jahressteuergesetz war wieder die Mövenpick-Koalition zugange. Mit der Verabschiedung dieses Ge-setzes werden – dafür haben Sie sich selber gelobt – dieAufbewahrungsfristen für Unternehmen verkürzt. Ichfrage die Koalition: Wenn Belege nach sieben Jahrenvernichtet werden dürfen, wie soll dann die Steuerfahn-dung, wie gesetzlich vorgeschrieben, Steuerhinterzie-hung noch bis zu zehn Jahre zurückverfolgen können?Die Betriebsprüfer der Finanzämter sind doch schonjetzt am Limit. Die Verkürzung der Frist für die Akten-aufbewahrung wird deswegen gerade nicht dazu führen,dass die Unternehmen schneller geprüft werden, sonderndazu, dass deutlich weniger Unternehmen geprüft wer-den. 1 Milliarde Euro weniger an Einnahmen erwartendie Länder. Einladung zum Steuerbetrug; ich sage: Dasist absurd.
Auch bei der Erbschaftsteuer laden Sie weiter zumMissbrauch ein. Allein durch die Wahl der Rechtsformkann man steuerlich profitieren. Der Bundesfinanzhof– nicht die Grünen – hat Ihnen ins Stammbuch geschrie-ben, dass Ihre Reform verfassungswidrig ist. Wasbraucht es noch, dass Sie endlich aufwachen? Ohne eineÄnderung bleibt es weiterhin möglich, dass zumBeispiel von einem 73-Millionen-Euro-Geschenk vonAnteilen an einem Medienunternehmen kein einzigerEuro Schenkungsteuer hängen bleibt. Meine Damen undHerren, das müssen wir dringend ändern.
Auch was die Energiewende angeht, ist bei IhnenFehlanzeige. Wir alle wissen, dass nur CO2-arme, sprit-sparende, saubere Autos eine Zukunft haben. Wie dieseAutos genau aussehen werden, wissen wir heute nochnicht. Gerade deswegen ist eine technologieneutrale För-derung für den Durchbruch emissionsarmer Fahrzeugeim Massengeschäft so wichtig. Das wissen selbst Sie,muss ich konzedieren – bis vor einer Woche jedenfalls.In Ihren Beschlüssen der ganzen letzten Jahre stand, dassAutos mit einem CO2-Ausstoß von weniger als50 Gramm pro Kilometer keine Kfz-Steuer zahlen müs-sen. Wir wollten mehr; aber Sie ersetzen jetzt selbstdiese Position durch ein Placebo mit der Überschrift„Elektromobilität“. Auch das ist absurd.
Wir haben dazu Änderungsanträge gestellt. Damit ha-ben Sie jetzt eine letzte Chance, alles auszubessern. Soll-ten Sie diese Chance nicht wahrnehmen, müssen wir Ih-ren Gesetzentwurf leider ablehnen.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun die Kollegin
Patricia Lips das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Es geht heute Abend um zwei große Gesetzes-pakete: zum einen um das Jahressteuergesetz und zumanderen um ein Gesetzespaket, das Änderungen bei derVersicherungsteuer und bei der Kraftfahrzeugsteuerbringt; im Folgenden möchte ich mich ein Stück weit da-rauf beschränken.Um was geht es uns grundsätzlich? Es geht uns ummehr Klarheit bei den Kriterien und damit verbunden umgrößere Rechtssicherheit sowie um den Abbau von Bü-rokratie und die Erhöhung der Transparenz. Hinzukommt – wir hörten es bereits; ich komme noch einmaldarauf zurück –, dass Elektrofahrzeuge statt fünf Jahrenun zehn Jahre von der Steuer befreit werden.Zur Änderung der Versicherungsteuer. Wir begrüßenausdrücklich Punkte wie die Anhebung von Schwellen-werten, die Zusammenfassung von Zeiträumen zurVeranlagung, die Möglichkeit der elektronischen An-meldung und vieles andere mehr; ich möchte hier nur ei-nige Beispiele nennen.An anderen Punkten kamen die Koalitionsfraktionenim Zuge der Beratungen zu inhaltlich durchaus abwei-chenden Beurteilungen bzw. zu Ergänzungen. Aus Zeit-gründen möchte ich hier nur zwei Schwerpunkte nennen:In dem Entwurf war ursprünglich vorgesehen, dass künf-tig auch die verwirklichten Selbstbehalte bei der Kfz-Haftpflichtversicherung der Besteuerung unterliegensollen. Dies würde zwangsläufig zu einer Neukalkula-tion unzähliger Verträge führen und dazu, dass nun wirk-lich jeder Schadensfall, der über den Selbstbehalt gere-gelt wurde, gemeldet werden müsste. Deswegen habenwir diese Regelung wieder aus dem Entwurf heraus-genommen.
Eine wichtige Neuerung – wir hörten das bereits inAnklängen – gibt es hingegen in Ergänzung zum Gesetzfür die deutschen Landwirte. Dabei geht es um die soge-nannte Mehrgefahrenversicherung. Hagel ist eine dergrößten Gefahren für die Landwirtschaft. Deshalb giltbereits seit 1922 ein besonderer Steuersatz für die Hagel-versicherung. Weitere Elementarschäden wie Frost,
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Patricia Lips
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Starkregen und Überschwemmungen – wir alle kennensie aus unseren Regionen –, die bisher mit dem regulärenSteuersatz belegt waren, werden nun dem Hagel gleich-gesetzt und gemeinsam mit dem besonderen Steuersatzin Höhe von 0,3 Promille auf die Versicherungssummebelegt.Wir kommen damit einer Entwicklung entgegen, diesich seit Jahren im Zuge des Klimawandels bemerkbarmacht. Gleichzeitig streben wir als Finanzpolitiker aberauch noch eine Entlastung für die Allgemeinheit an. DerAbschluss von Mehrgefahrenversicherungen wird at-traktiver als bisher, sodass bei einer Verwirklichung desRisikos, also im Schadensfall, weniger die Steuerzahlerund vermehrt Versicherungen für den Schaden aufzu-kommen haben. Das ist in mehrerer Hinsicht ein ganzwichtiger Baustein in diesem Gesetz.
Darüber hinaus war es uns wichtig, dass in manchenBereichen verstärkt für Planungssicherheit gesorgt wird.Dies gilt beispielsweise für die Versicherung von Wind-kraftanlagen im Offshorebereich, der nun – analog denAnlagen an Land – durch das Gesetz ebenfalls der Versi-cherungsteuer unterliegt. Hier haben wir durch eineleichte Zeitverzögerung mit Inkrafttreten ab 2014 fürPlanungssicherheit gesorgt.Kommen wir noch einmal zur Kfz-Besteuerung. ImRahmen des Gesamtprogramms „Elektromobilität“ wol-len wir in der Tat alle Elektrofahrzeuge statt für bisherfünf nun für zehn Jahre steuerfrei stellen. Neben immermehr privaten Nutzern setzen auch Fahrzeugflotten dieseFahrzeuge ein. Diese Entwicklung wollen wir verstärktfördern. Wir haben es heute Abend schon gehört: Es istder zweite Baustein – neben einem anderen im Jahres-steuergesetz –, durch den wir für die E-Mobilität eineweitere Förderung vorsehen. Die Förderung der Elektro-mobilität ist eine Richtung im Gesamtprogramm, die zubegrüßen ist; auch das war uns wichtig. Es sind am heu-tigen Abend also zwei Maßnahmen zu nennen, durch diediese Technik weiter gefördert wird.
Nun kann man diese Steuerbefreiung – Frau Paus hates angesprochen – natürlich auf weitere emissionsarmeFahrzeuge ausdehnen. Ein entsprechender Änderungsan-trag liegt vor. Auch die Stellungnahme des Bundesratessieht dies vor. Ich will an dieser Stelle auch nicht dieFormulierung im Regierungsprogramm – Elektromobili-tät – verschweigen. Ich sage aber auch: Wir haben 2009die Kfz-Steuer neu geregelt und den Schwerpunkt dabeiauf den CO2-Ausstoß gelegt. Seit dieser Zeit sind10 Millionen Fahrzeuge neu zugelassen worden, die die-ser Regelung unterliegen. Wir haben die Situation, dassHybridfahrzeuge und erdgasbetriebene Fahrzeuge invielen Fällen wegen des Bezuges auf den CO2-Ausstoßbereits heute steuerfrei sind. Es bleibt lediglich dieMindestbelastung beim Hubraum. Das sind in der Regel20 bis 40 Euro im Jahr. Die können wir jetzt auch nochstreichen. Ich persönlich glaube als Finanzpolitiker abernicht, dass wir damit einen noch größeren Anreiz setzen,als wir ihn bisher an dieser Stelle schon haben. Wirhaben den richtigen Weg eingeschlagen.Ich möchte zum Abschluss noch einen Punkt erwäh-nen. Wir werden aus dem Kfz-Steuergesetz auch eineRegelung herausnehmen. Da geht es um den Bestand derAltfahrzeuge, die ab 2013 ebenfalls unter diese Neurege-lung hätten fallen sollen. Wir mussten feststellen, dass eskeine geeignete und rechtssichere Messtechnik gibt. Wirreden hier über Millionen von Fahrzeugen. Machen wiruns nichts vor: Für die meisten wäre das wahrscheinlich– das liegt in der Natur der Sache – mit einer leichtenSteuererhöhung verbunden. Hier rate ich dringend, die-ses Vorhaben erst in Gang zu setzen, wenn wir dieseRechtssicherheit haben. Das hat nichts mit Verweige-rungshaltung oder Ähnlichem zu tun. Das ist nichtschön. Aber wir haben es zu akzeptieren. Von daher wer-den wir diese Regelung im Kfz-Steuergesetz streichen.Das gehört zur Aufrichtigkeit und zur Transparenz desGesetzes. Es wäre nur Augenwischerei, etwas darin zulassen, was an dieser Stelle dann doch nicht in Kraft tre-ten kann.Ich darf mich sehr herzlich für die Aufmerksamkeitbedanken und bitte um Zustimmung.
Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist
die Kollegin Sabine Bätzing-Lichtenthäler für die SPD-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Vorredner haben die Gesetzentwürfeinhaltlich schon zusammengefasst. Deshalb will ich nurnoch einige Worte zum Verfahren sagen: So geht esnicht!
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungs-koalition, wundern Sie sich wirklich, dass die MenschenIhre Politik nicht mehr verstehen? Wie soll man auch nureinem Bürger sinnvoll erklären, dass Sie nicht nur imEntwurf des Jahressteuergesetzes 2013, sondern auch imEntwurf des Verkehrsteueränderungsgesetzes fast allesgestrichen haben, was ursprünglich enthalten war, undjetzt wesentliche Änderungen aufgenommen haben, dievorher überhaupt nicht erwähnt waren? Und das alles ineinem Gesetz, das Sie als ein Gesetz zur Klarstellungvon Dingen bezeichnet haben, die eigentlich ganz klarsind und jetzt nicht mehr klargestellt werden müssen,weil sie so klar sind. Ich verstehe das nicht mehr.Was ist eigentlich los bei Ihnen?
War der Gesetzentwurf der Bundesregierung von An-fang an so schlecht, dass von ihm nichts übrig blieb,oder war er gut und zielführend, aber Sie trauen sich nur
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Sabine Bätzing-Lichtenthäler
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nicht, ihn umzusetzen, weil Sie schon in den Wahl-kampfmodus geschaltet haben und wieder einmal Steu-ergeschenke verteilen wollen?
Das Ministerium wollte noch sachlich und fachlicharbeiten, aber Ihre Botschaft an das BMF war klar:Unbequeme steuerpolitische Vorhaben sind in dieserWahlperiode nicht mehr gefragt.
Für Sie zählt nur noch Wahlkampf, und deshalb geht esans Geschenkeverteilen.Dieser Verdacht wird auch noch durch das Steuerge-schenk an die Landwirte – Stichwort „Mehrgefahrenver-sicherung“ – gestärkt. Es kann sich nur um ein Geschenkhandeln; denn wenn man die Gegenäußerung der Bun-desregierung zur Stellungnahme des Bundesrates liest,dann sieht man, dass die Bundesregierung darauf hin-weist, dass diese Ausweitung abzulehnen ist, da es sichum eine neue Subvention handelt, die erstens nicht mitdem Ziel der Haushaltskonsolidierung vereinbar sei undzweitens neue Begehrlichkeiten wecke. Nun denn, wiedem auch sein mag, ob Unfähigkeit der Bundesregierungoder Geschenke vor der Bundestagswahl: Beides ist fürSie peinlich.
Es ist aber nicht nur peinlich. Darüber hinaus entstehtauch ein Schaden für das parlamentarische System,
wenn 37 Änderungsanträge nicht vollständig beratenwerden können, weil sie erst, wie zur Umsatzsteuerneu-regelung für den Kunsthandel, wenige Stunden oder, wiezur Versicherungsteuer bei Elementarschäden, sogar nurwenige Sekunden – jawohl: Sekunden! – vor derabschließenden Beratung in den Finanzausschuss einge-bracht werden.Sie wissen, dass das peinlich ist. Nicht umsonst habenSie die Debatten im Ausschuss nach Möglichkeit verkür-zen wollen und für die nicht ganz unwichtigen ThemenJahressteuergesetz 2013 und Verkehrsteueränderungs-gesetz nur eine gemeinsame Plenardebatte von geradeeinmal 30 Minuten angesetzt.
Sie hoffen wohl insgeheim, dass so niemand merkt, dassSie beispielsweise davor zurückgeschreckt sind, europa-rechtskonforme Regelungen für die Umsatzbesteuerungvon Bildungsleistungen zu schaffen.Tja, und beim Kunsthandel haben Sie uns auch nochIhre Arbeit machen lassen; denn ohne unseren Entschlie-ßungsantrag und unseren Hinweis darauf, dass das Ver-tragsverletzungsverfahren der EU bei Ihrer Untätigkeitfortgesetzt wird, wären Sie davon überrascht worden,und Deutschland hätte eine empfindliche Strafe erhalten.Warum das alles? Nur weil Sie schon im Wahlkampf-modus sind. Dabei, liebe Kolleginnen und Kollegen vonSchwarz-Gelb, werden Sie noch ein knappes Jahr arbei-ten müssen. Aber keine Sorge, danach entlasten wir Sieund übernehmen gerne Ihre Regierungsgeschäfte.Danke.
Bevor wir zur Abstimmung über den von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurf eines Jahressteuer-
gesetzes 2013 kommen, weise ich darauf hin, dass mir
dazu eine Reihe von schriftlichen Erklärungen zur
Abstimmung von einer weiter wachsenden Zahl von
Kolleginnen und Kollegen vorliegt, die wir alle dem
Protokoll beifügen.1)
Der Kollege Volker Beck hat um das Wort für eine
mündliche Erklärung zur Abstimmung gebeten.
– Auch das bewegt sich völlig im Rahmen unserer Ge-
schäftsordnung. – Dafür darf ich um Aufmerksamkeit
bitten. Anschließend treten wir in die Abstimmung ein.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ichmöchte Ihnen erklären, warum ich und auch andereGrüne, die eigentlich keine Fans des Ehegattensplittingssind, sagen: Ja, wir wollen eine Gleichstellung für Ein-getragene Lebenspartnerschaften im jetzigen Einkom-mensteuerrecht. Dort findet sich nun einmal das Ehe-gattensplitting. Deshalb heißt es für uns: Übertragungdes Ehegattensplittings auf Eingetragene Lebenspartner-schaften, solange es existiert.Ich bin da ganz bei Philipp Rösler, der sagt:Gerade bei der Einkommensteuer ist der jetzigeRechtszustand verfassungsrechtlich bedenklich:Lebenspartner haben alle Unterhalts- und Ein-standspflichten, aber keine Anerkennung bei derSteuer.Da hat er recht. Das muss sich ändern. Dafür bietet dieheutige Entscheidung die Gelegenheit.
Das Bundesverfassungsgericht hat uns nun in vierEntscheidungen, bei der Hinterbliebenenversorgung undbei zwei steuerrechtlichen Entscheidungen, auf den Weggegeben, dass der bloße Verweis auf das Schutzgebot derEhe keine Rechtfertigung für eine Ungleichbehandlungzwischen Eingetragener Partnerschaft und Ehe darstellt.Es hat ferner ausgeführt – ich zitiere –:Ein Grund für die Unterscheidung von Ehe und ein-getragener Lebenspartnerschaft kann nicht … daringesehen werden, dass typischerweise bei Eheleu-1) Anlagen 4 bis 10
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Volker Beck
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ten … aufgrund von Kindererziehung ein andererVersorgungsbedarf bestünde als bei Lebenspart-nern … Nicht in jeder Ehe –– so das Bundesverfassungsgericht –gibt es Kinder. Es ist auch nicht jede Ehe auf Kin-der ausgerichtet. Ebenso wenig kann unterstelltwerden, dass in Ehen eine Rollenverteilung besteht,bei der einer der beiden Ehegatten deutlich wenigerberufsorientiert wäre.Das Bundesverfassungsgericht sagt auch: Die Rechts-folgen gründen im Wesentlichen auf der Unterhalts-pflicht. – Das ist auch bei allen einkommensteuerrechtli-chen Privilegierungen so, wie bei der Grunderwerbsteuerund wie beim Erbschaftsteuerrecht, was das Hohe Hausals Gesetzgeber inzwischen leidvoll anerkannt hat, nach-dem das Bundesverfassungsgericht es darüber belehrthat.Wir hatten eine umfangreiche Debatte. Aus allenFraktionen des Hohen Hauses gab es in der Sommer-pause Unterstützung für die Gleichstellung der Le-benspartnerschaft mit der Ehe im Steuerrecht. FrauLeutheusser-Schnarrenberger hat in einem Brief anHerrn Schäuble geschrieben, eine entsprechende Geset-zesänderung könne durch das Jahressteuergesetz 2013erreicht werden.
Patrick Döring hat gesagt:Wir wollen diskriminierende Tatbestände im Steu-errecht abbauen. Dazu gehört für die FDP, dass wirjetzt schnell die Frage des Ehegattensplittings auchfür eingetragene Lebenspartnerschaften im nächs-ten Jahressteuergesetz klären.Das war am 26. August dieses Jahres. Das nächste Jahres-steuergesetz liegt heute auf dem Tisch.Herr Mücke hat gesagt, was passiert, wenn diese Re-gelung nicht kommt:Wenn die CSU das Ehegattensplitting für Le-benspartnerschaften blockiert, obwohl eine Gleich-stellung im Koalitionsvertrag vereinbart ist, werdenFDP-Abgeordnete dem Betreuungsgeld nicht zu-stimmen, obwohl auch das im Koalitionsvertragvereinbart worden ist.Da bin ich einmal gespannt.Gleichstellung, gleiche Rechte, Respekt vor allenBürgerinnen und Bürgern sind kein Thema für Koali-tionsschacher. Das ist ein verfassungsrechtliches Gebot.Stimmen Sie unserem Antrag zu. Dann können Sie die-ses verfassungsrechtliche Gebot heute umsetzen.
Ab dem ersten Tag der Lebenspartnerschaft mussGleichberechtigung gelten.
Das erwarten die Menschen draußen im Land; zu Recht –und das gebietet die Verfassung!
Nun hat auch der Kollege Michael Kauch um die
Möglichkeit gebeten, eine mündliche Erklärung abzuge-
ben. Ich mache aber schon jetzt darauf aufmerksam:
Falls noch weitere Kolleginnen und Kollegen auf einen
ähnlichen Einfall kommen sollten, werde ich sie nach
der namentlichen Abstimmung aufrufen.
Herr Kollege Kauch.
Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Beck, ichmöchte Ihnen erläutern, warum meiner Kenntnis nachacht Kollegen der FDP-Bundestagsfraktion diesem An-trag zustimmen und sich drei enthalten werden.
Ich möchte Ihnen aber sehr deutlich sagen, KollegeBeck: Das, was in dieser Koalition vereinbart ist, was indieser Koalition durchgesetzt und entschieden wird,überlassen Sie den Koalitionsfraktionen.
Das klären wir intern. Dafür brauchen wir Ihre Nachhilfenicht, lieber Kollege Beck.
Deshalb gilt, meine Damen und Herren: Wer gleichePflichten hat, muss auch gleiche Rechte haben. Eingetra-gene Lebenspartner haben wechselseitig die gleichenUnterhalts- und Einstandspflichten wie Ehegatten. Des-halb sind sie auch im Steuerrecht entsprechend anzuer-kennen.Ich sage Ihnen ein Beispiel. Ich lebe in einer Eingetra-genen Lebenspartnerschaft. Wenn mein Partner seineArbeit verlieren würde und ich einstandspflichtig bin,dann kann ich laut heute geltendem Steuerrecht etwa8 000 Euro steuerlich geltend machen, wenn der Le-benspartner quasi auf Hartz IV angewiesen ist.Es ist aber so, dass Unterhaltspflichten über Hartz IVhinausgehen. Meine Unterhaltspflicht gegenüber mei-nem Lebenspartner entspricht der Höhe des Lebensstan-dards in der Partnerschaft. Das ist genauso wie bei denvielen Kolleginnen und Kollegen, die verheiratet sind.Deshalb ist es aus meiner Sicht eine Frage der politi-schen Fairness, aber auch eine Frage der verfassungs-rechtlich gebotenen Gleichbehandlung, an dieser Stelleendlich das zu tun, was im Übrigen das Verfassungsge-richt angemahnt hat.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24361
Michael Kauch
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In seiner Entscheidung zur Erbschaftsteuer aus demJahr 2010 stellt das Bundesverfassungsgericht fest:Geht jedoch die Förderung der Ehe mit einer Be-nachteiligung anderer Lebensformen einher, ob-gleich diese nach dem geregelten Lebenssachver-halt und den mit der Normierung verfolgten Zielender Ehe vergleichbar sind, rechtfertigt die bloßeVerweisung auf das Schutzgebot der Ehe eine sol-che Differenzierung nicht …Welches Schutzgebot wird denn an dieser Stelle nor-miert? Normiert ist hier, dass Unterhalts- und Einstands-pflichten in einer Ehe – und aus unserer Sicht eben auchin einer Lebenspartnerschaft – sich widerspiegeln müs-sen in der steuerlichen Leistungsfähigkeit dieser Partner.Das ist aber kein Instrument, um Kinder zu fördern.Kollegin Reiche hat im Sommer eine solche Argumenta-tion verfolgt. Diese ist aus meiner Sicht aber verfehlt;
denn das Ehegattensplitting kommt auch den Kollegin-nen und Kollegen hier im Haus sowie den Bürgerinnenund Bürgern im Land zugute, die – gewollt oder unge-wollt – keine Kinder haben. Umgekehrt zeugt das fol-gende Beispiel von einer besonders fragwürdigen Artvon Familienpolitik: Mit mir befreundete lesbische ein-getragene Lebenspartner, die zwei Kinder in ihrer Bezie-hung aufziehen, können sich nicht dazu entscheiden,dass eine der Partnerinnen zu Hause bleibt, weil es fi-nanziell keine Entsprechung im Steuerrecht gibt und siedeshalb wie Fremde besteuert werden. Wenn man derAuffassung ist, dass es Wahlfreiheit für die Betreuungvon Kindern geben muss, dann muss man sich fragen, obdas die richtigen Anreizstrukturen sind.
Meine Damen und Herren, deshalb ist das für uns einegrundsätzliche Frage, eine Frage von Bürger- und Men-schenrechten. Deshalb werden wir hier – wohl wissend,dass der große Teil unserer Fraktion sich nachvollzieh-barerweise an den Koalitionsvertrag und die darin fest-gelegten nicht wechselnden Mehrheiten halten wird –anders stimmen als die Mehrheit unserer Fraktion. Wirwürden uns freuen, wenn alle Kolleginnen und Kolle-gen, die sich auf den Koalitionsvertrag berufen, diesendann auch in allen seinen Teilen ernst nehmen.Vielen Dank.
Wir kommen nun zu den Abstimmungen.Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf den Drucksachen 17/11190 und 17/11220,den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Druck-sachen 17/10000 und 17/10604 in der Ausschussfassunganzunehmen. Hierzu liegen vier Änderungsanträge vor,über die wir zuerst abstimmen. Über zwei Änderungsan-träge werden wir namentlich abstimmen.Wir kommen zunächst zu den namentlichen Abstim-mungen.Wir beginnen mit dem Änderungsantrag der Fraktionder SPD auf der Drucksache 17/11193, über den wir aufVerlangen der Fraktion der SPD namentlich abstimmen.Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, dievorgesehenen Plätze einzunehmen.Sind alle Plätze an den Urnen besetzt? – Das ist derFall. Dann eröffne ich die Abstimmung.Ist noch ein Abgeordneter im Saal anwesend, derseine Stimmkarte für die erste namentliche Abstimmungzum Jahressteuergesetz nicht abgegeben hat? – Das istnicht der Fall. Dann schließe ich die erste namentlicheAbstimmung.1)Wir kommen nun zu dem Änderungsantrag der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/11196,über den wir auf Verlangen derselben Fraktion nament-lich abstimmen.Ich bitte, die Urnen auszuwechseln und mir zu signa-lisieren, ob es losgehen kann. – Das sieht jetzt ganz soaus. Dann eröffne ich die namentliche Abstimmung überden Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen.Ist mein Eindruck richtig, dass nun alle Anwesendenihre Stimmkarte abgegeben haben? Es kennt auch keinereinen, der eigentlich hätte hier sein müssen und seineStimmkarte noch nicht abgegeben hat? – Das ist beruhi-gend. Dann schließe ich auch die zweite namentlicheAbstimmung.2)Wir kommen nun zur Abstimmung über zwei weitereÄnderungsanträge.Zunächst zur Abstimmung über den Änderungsantragder Fraktion Die Linke auf der Drucksache 17/11194.Wer möchte für diesen Änderungsantrag stimmen? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Ände-rungsantrag ist abgelehnt.Ich rufe den Änderungsantrag der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen auf der Drucksache 17/11195 auf.Wer stimmt diesem Änderungsantrag zu? – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Auch dieser Änderungsan-trag ist abgelehnt.Bis zum Vorliegen der Ergebnisse der namentlichenAbstimmungen unterbreche ich die Sitzung, weil wir dieSchlussabstimmung natürlich erst in Kenntnis der Er-gebnisse der namentlichen Abstimmungen über die Än-derungsanträge durchführen können, und melde michnach Vorliegen der Ergebnisse wieder zu Wort.Die Sitzung ist unterbrochen.
1) Ergebnis Seite 24362 C2) Ergebnis Seite 24364 C
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24362 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, die unterbrocheneSitzung ist wieder eröffnet.Ich habe zwei gute Nachrichten: Die erste Auszäh-lung ist erfolgt – und auch die zweite.
Zunächst gebe ich das von den Schriftführerinnen undSchriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichenAbstimmung über den Änderungsantrag der SPD-Frak-tion in der zweiten Beratung des Gesetzentwurfs derBundesregierung zum Jahressteuergesetz 2013 bekannt:abgegebene Stimmen 550. Mit Ja haben gestimmt 244,mit Nein haben 306 Kolleginnen und Kollegen ge-stimmt. Enthaltungen gab es keine. Damit ist der Ände-rungsantrag abgelehnt.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 550;davonja: 244nein: 306JaSPDIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeinz-Joachim BarchmannDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsSören BartolBärbel BasSabine Bätzing-LichtenthälerUwe BeckmeyerLothar Binding
Gerd BollmannKlaus BrandnerWilli BraseBernhard Brinkmann
Edelgard BulmahnMarco BülowUlla BurchardtMartin BurkertPetra CroneDr. Peter DanckertMartin DörmannElvira Drobinski-WeißSebastian EdathyIngo EgloffSiegmund EhrmannPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerGabriele FograscherDr. Edgar FrankeMichael GerdesMartin GersterIris GleickeGünter GloserUlrike GottschalckAngelika Graf
Gabriele GronebergMichael GroßWolfgang GunkelHans-Joachim HackerBettina HagedornKlaus HagemannMichael Hartmann
Wolfgang HellmichRolf HempelmannGustav HerzogGabriele Hiller-OhmPetra Hinz
Frank Hofmann
Dr. Eva HöglChristel HummeJosip JuratovicOliver KaczmarekJohannes KahrsDr. h. c. Susanne KastnerUlrich KelberLars KlingbeilDr. Bärbel KoflerDaniela Kolbe
Fritz Rudolf KörperAnette KrammeAngelika Krüger-LeißnerChristine LambrechtChristian Lange
Dr. Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerKirsten LühmannCaren MarksKatja MastHilde MattheisPetra Merkel
Ullrich MeßmerDr. Matthias MierschFranz MünteferingDr. Rolf MützenichAndrea NahlesDietmar NietanThomas OppermannHolger OrtelHeinz PaulaJohannes PflugJoachim PoßDr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeMechthild RawertStefan RebmannGerold ReichenbachDr. Carola ReimannSönke RixRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannMichael Roth
Annette SawadeAnton SchaafAxel Schäfer
Bernd ScheelenMarianne Schieder
Werner Schieder
Carsten Schneider
Swen Schulz
Ewald SchurerDr. Martin SchwanholzRolf SchwanitzStefan SchwartzeRita Schwarzelühr-SutterDr. Carsten SielingSonja SteffenPeer SteinbrückChristoph SträsserKerstin TackDr. h. c. Wolfgang ThierseFranz ThönnesRüdiger VeitUte VogtDr. Marlies VolkmerAndrea WickleinHeidemarie Wieczorek-ZeulDr. Dieter WiefelspützWaltraud Wolff
Uta ZapfManfred ZöllmerBrigitte ZypriesDIE LINKEJan van AkenAgnes AlpersDr. Dietmar BartschKarin BinderHeidrun BluhmSteffen BockhahnChristine BuchholzEva Bulling-SchröterDr. Martina BungeRoland ClausSevim DağdelenHeidrun DittrichWerner DreibusKlaus ErnstWolfgang GehrckeNicole GohlkeDiana GolzeAnnette GrothHeike HänselDr. Rosemarie HeinDr. Barbara HöllAndrej HunkoUlla JelpkeDr. Lukrezia JochimsenKatja KippingHarald KochJan KorteKatrin KunertCaren LaySabine LeidigRalph LenkertStefan LiebichUlla LötzerDr. Gesine LötzschThomas LutzeUlrich MaurerCornelia MöhringKornelia MöllerNiema MovassatWolfgang NeškovićThomas NordPetra PauJens PetermannRichard PitterleYvonne PloetzPaul Schäfer
Michael SchlechtDr. Ilja SeifertKathrin Senger-SchäferRaju SharmaDr. Petra SitteKersten SteinkeSabine StüberFrank TempelDr. Axel TroostKathrin VoglerHalina WawzyniakHarald WeinbergKatrin WernerJörn WunderlichBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKerstin AndreaeMarieluise Beck
Volker Beck
Birgitt BenderAgnes BruggerEkin DeligözKatja DörnerHarald EbnerHans-Josef FellDr. Thomas GambkeKai GehringKatrin Göring-EckardtBritta HaßelmannBettina HerlitziusPriska Hinz
Dr. Anton HofreiterIngrid Hönlinger
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24363
Präsident Dr. Norbert Lammert
(C)
(B)
Thilo HoppeUwe KekeritzKatja KeulMemet KilicSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkUte KoczyTom KoenigsSylvia Kotting-UhlOliver KrischerAgnes KrumwiedeStephan KühnRenate KünastMarkus KurthUndine Kurth
Monika LazarDr. Tobias LindnerJerzy MontagBeate Müller-GemmekeDr. Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffDr. Hermann OttLisa PausBrigitte PothmerTabea RößnerClaudia Roth
Krista SagerManuel SarrazinDr. Gerhard SchickDr. Frithjof SchmidtUlrich SchneiderDorothea SteinerDr. Wolfgang Strengmann-KuhnHans-Christian StröbeleDr. Harald TerpeMarkus TresselJürgen TrittinDaniela WagnerBeate Walter-RosenheimerArfst Wagner
Wolfgang WielandDr. Valerie WilmsNeinCDU/CSUPeter AumerThomas BareißNorbert BarthleGünter BaumannManfred Behrens
Veronika BellmannDr. Christoph BergnerPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserDr. Maria BöhmerWolfgang Börnsen
Norbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexander DobrindtMarie-Luise DöttDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachHartwig Fischer
Dirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachHerbert FrankenhauserDr. Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserErich G. FritzDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelIngo GädechensDr. Peter GauweilerDr. Thomas GebhartNorbert GeisAlois GerigEberhard GiengerMichael GlosJosef GöppelPeter GötzDr. Wolfgang GötzerUte GranoldReinhard GrindelHermann GröheMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundMonika GrüttersOlav GuttingFlorian HahnDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilFrank HeinrichRudolf HenkeMichael HennrichAnsgar HevelingErnst HinskenPeter HintzeChristian HirteRobert HochbaumKarl HolmeierFranz-Josef HolzenkampJoachim HörsterAnette HübingerHubert HüppeDieter JasperDr. Franz Josef JungAndreas Jung
Dr. Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterAlois KarlBernhard KasterVolker KauderDr. Stefan KaufmannRoderich KiesewetterEwa KlamtVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenManfred KolbeDr. Rolf KoschorrekHartmut KoschykThomas KossendeyMichael KretschmerGunther KrichbaumDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Hermann KuesGünter LachDr. Karl A. Lamers
Andreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeDr. Max LehmerPaul LehriederDr. Ursula von der LeyenIngbert LiebingMatthias LietzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsDr. Jan-Marco LuczakDaniela LudwigDr. Michael LutherKarin MaagDr. Thomas de MaizièreHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Dr. Michael MeisterMaria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergPhilipp MißfelderDietrich MonstadtMarlene MortlerDr. Gerd MüllerStefan Müller
Dr. Philipp MurmannMichaela NollDr. Georg NüßleinFranz ObermeierEduard OswaldHenning OtteDr. Michael PaulRita PawelskiUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferBeatrix PhilippRonald PofallaRuprecht PolenzEckhard PolsThomas RachelDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergKatherina Reiche
Lothar RiebsamenJosef RiefKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckErwin RüddelAlbert Rupprecht
Anita Schäfer
Dr. Wolfgang SchäubleDr. Annette SchavanDr. Andreas ScheuerKarl SchiewerlingNorbert SchindlerTankred SchipanskiGeorg SchirmbeckChristian Schmidt
Patrick SchniederDr. Andreas SchockenhoffNadine Schön
Dr. Kristina SchröderBernhard Schulte-DrüggelteUwe Schummer
Detlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertJohannes SinghammerJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelErika SteinbachChristian Freiherr von StettenDieter StierGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerKarin StrenzThomas Strobl
Lena StrothmannMichael StübgenDr. Peter TauberAntje TillmannDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzVolkmar Vogel
Stefanie VogelsangAndrea Astrid VoßhoffDr. Johann WadephulMarco WanderwitzKai WegnerMarcus Weinberg
Peter Weiß
Sabine Weiss
Karl-Georg WellmannPeter WichtelAnnette Widmann-MauzKlaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerDagmar G. WöhrlDr. Matthias ZimmerWolfgang ZöllerWilli Zylajew
Metadaten/Kopzeile:
24364 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Präsident Dr. Norbert Lammert
(C)
(B)
FDPJens AckermannChristian AhrendtChristine Aschenberg-DugnusDaniel Bahr
Florian BernschneiderSebastian BlumenthalClaudia BögelNicole Bracht-BendtKlaus BreilRainer BrüderleAngelika BrunkhorstMarco BuschmannSylvia CanelHelga DaubReiner DeutschmannBijan Djir-SaraiPatrick DöringMechthild DyckmansHans-Werner EhrenbergRainer ErdelJörg van EssenUlrike FlachOtto FrickeDr. Edmund Peter GeisenDr. Wolfgang GerhardtHans-Michael GoldmannHeinz GolombeckJoachim Günther
Dr. Christel Happach-KasanHeinz-Peter HausteinManuel HöferlinElke HoffBirgit HomburgerHeiner KampMichael KauchDr. Lutz KnopekPascal KoberDr. Heinrich L. KolbGudrun KoppDr. h. c. Jürgen KoppelinSebastian KörberHolger KrestelPatrick Kurth
Sibylle LaurischkHarald LeibrechtSabine Leutheusser-SchnarrenbergerLars LindemannDr. Martin Lindner
Michael Link
Dr. Erwin LotterOliver LuksicHorst MeierhoferPatrick MeinhardtGabriele MolitorJan MückePetra Müller
Burkhardt Müller-SönksenDirk NiebelHans-Joachim Otto
Gisela PiltzJörg von PolheimDr. Birgit ReinemundDr. Peter RöhlingerDr. Stefan RuppertBjörn SängerFrank SchäfflerChristoph SchnurrJimmy SchulzMarina SchusterDr. Erik SchweickertWerner SimmlingJudith SkudelnyDr. Hermann Otto SolmsJoachim SpatzDr. Max StadlerTorsten StaffeldtDr. Rainer StinnerStephan ThomaeManfred TodtenhausenFlorian ToncarSerkan TörenJohannes Vogel
Dr. Daniel VolkDr. Claudia WintersteinDr. Volker WissingHartfrid Wolff
Nun gebe ich zum Änderungsantrag von Bündnis 90/Die Grünen das von den Schriftführerinnen und Schrift-führern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstim-mung bekannt: Es hat wiederum 550 abgegebene Stim-men gegeben. Diesem Antrag haben 253 Kolleginnenund Kollegen zugestimmt. Mit Nein haben 288 ge-stimmt. 9 haben sich der Stimme enthalten. Damit istauch dieser Änderungsantrag abgelehnt.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 550;davonja: 253nein: 288enthalten: 9JaSPDIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeinz-Joachim BarchmannDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsSören BartolBärbel BasSabine Bätzing-LichtenthälerUwe BeckmeyerLothar Binding
Gerd BollmannKlaus BrandnerWilli BraseBernhard Brinkmann
Edelgard BulmahnMarco BülowUlla BurchardtMartin BurkertPetra CroneDr. Peter DanckertMartin DörmannElvira Drobinski-WeißSebastian EdathyIngo EgloffSiegmund EhrmannPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerGabriele FograscherDr. Edgar FrankeMichael GerdesMartin GersterIris GleickeGünter GloserUlrike GottschalckAngelika Graf
Gabriele GronebergMichael GroßWolfgang GunkelHans-Joachim HackerBettina HagedornKlaus HagemannMichael Hartmann
Wolfgang HellmichRolf HempelmannGustav HerzogGabriele Hiller-OhmPetra Hinz
Frank Hofmann
Dr. Eva HöglChristel HummeJosip JuratovicOliver KaczmarekJohannes KahrsDr. h. c. Susanne KastnerUlrich KelberLars KlingbeilDr. Bärbel KoflerDaniela Kolbe
Fritz Rudolf KörperAnette KrammeAngelika Krüger-LeißnerChristine LambrechtChristian Lange
Dr. Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerKirsten LühmannCaren MarksKatja MastHilde MattheisPetra Merkel
Ullrich MeßmerDr. Matthias MierschFranz MünteferingDr. Rolf MützenichAndrea NahlesDietmar NietanThomas OppermannHolger OrtelHeinz PaulaJohannes PflugJoachim PoßDr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeMechthild RawertStefan RebmannGerold ReichenbachDr. Carola ReimannSönke RixRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannMichael Roth
Annette SawadeAnton SchaafAxel Schäfer
Bernd ScheelenMarianne Schieder
Werner Schieder
Carsten Schneider
Swen Schulz
Ewald SchurerDr. Martin SchwanholzRolf SchwanitzStefan SchwartzeRita Schwarzelühr-SutterDr. Carsten SielingSonja SteffenPeer SteinbrückChristoph SträsserKerstin TackDr. h. c. Wolfgang ThierseFranz ThönnesRüdiger VeitUte VogtDr. Marlies VolkmerAndrea WickleinHeidemarie Wieczorek-ZeulDr. Dieter WiefelspützWaltraud Wolff
Uta ZapfManfred ZöllmerBrigitte Zypries
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24365
Präsident Dr. Norbert Lammert
(C)
(B)
FDPSylvia CanelMichael KauchDr. h. c. Jürgen KoppelinSebastian KörberOliver LuksicPatrick MeinhardtJan MückeDr. Peter RöhlingerMarina SchusterDIE LINKEJan van AkenAgnes AlpersDr. Dietmar BartschKarin BinderHeidrun BluhmSteffen BockhahnChristine BuchholzEva Bulling-SchröterDr. Martina BungeRoland ClausSevim DağdelenHeidrun DittrichWerner DreibusKlaus ErnstWolfgang GehrckeNicole GohlkeDiana GolzeAnnette GrothHeike HänselDr. Rosemarie HeinDr. Barbara HöllAndrej HunkoUlla JelpkeDr. Lukrezia JochimsenKatja KippingHarald KochJan KorteKatrin KunertCaren LaySabine LeidigRalph LenkertStefan LiebichUlla LötzerDr. Gesine LötzschThomas LutzeUlrich MaurerCornelia MöhringKornelia MöllerNiema MovassatWolfgang NeškovićThomas NordPetra PauJens PetermannRichard PitterleYvonne PloetzPaul Schäfer
Michael SchlechtDr. Ilja SeifertKathrin Senger-SchäferRaju SharmaDr. Petra SitteKersten SteinkeSabine StüberFrank TempelDr. Axel TroostKathrin VoglerHalina WawzyniakHarald WeinbergKatrin WernerJörn WunderlichBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKerstin AndreaeMarieluise Beck
Volker Beck
Birgitt BenderAgnes BruggerEkin DeligözKatja DörnerHarald EbnerHans-Josef FellDr. Thomas GambkeKai GehringKatrin Göring-EckardtBritta HaßelmannBettina HerlitziusPriska Hinz
Dr. Anton HofreiterIngrid HönlingerThilo HoppeUwe KekeritzKatja KeulMemet KilicSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkUte KoczyTom KoenigsSylvia Kotting-UhlOliver KrischerAgnes KrumwiedeStephan KühnRenate KünastMarkus KurthUndine Kurth
Monika LazarDr. Tobias LindnerJerzy MontagBeate Müller-GemmekeDr. Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffDr. Hermann E. OttLisa PausBrigitte PothmerTabea RößnerClaudia Roth
Krista SagerManuel SarrazinDr. Gerhard SchickDr. Frithjof SchmidtUlrich SchneiderDorothea SteinerDr. Wolfgang Strengmann-KuhnHans-Christian StröbeleDr. Harald TerpeMarkus TresselJürgen TrittinDaniela WagnerBeate Walter-RosenheimerArfst Wagner
Wolfgang WielandDr. Valerie WilmsNeinCDU/CSUPeter AumerThomas BareißNorbert BarthleGünter BaumannManfred Behrens
Veronika BellmannDr. Christoph BergnerPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserDr. Maria BöhmerWolfgang Börnsen
Norbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexander DobrindtMarie-Luise DöttDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachHartwig Fischer
Dirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachHerbert FrankenhauserDr. Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserErich G. FritzDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelIngo GädechensDr. Peter GauweilerDr. Thomas GebhartNorbert GeisAlois GerigEberhard GiengerMichael GlosJosef GöppelPeter GötzDr. Wolfgang GötzerUte GranoldReinhard GrindelHermann GröheMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundMonika GrüttersOlav GuttingFlorian HahnDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilFrank HeinrichRudolf HenkeMichael HennrichAnsgar HevelingErnst HinskenPeter HintzeChristian HirteRobert HochbaumKarl HolmeierFranz-Josef HolzenkampJoachim HörsterAnette HübingerHubert HüppeDieter JasperDr. Franz Josef JungAndreas Jung
Dr. Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterAlois KarlBernhard Kaster
Volker KauderRoderich KiesewetterEwa KlamtVolkmar KleinAxel KnoerigJens KoeppenManfred KolbeDr. Rolf KoschorrekHartmut KoschykThomas KossendeyMichael KretschmerGunther KrichbaumDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Hermann KuesGünter LachDr. Karl A. Lamers
Andreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeDr. Max LehmerPaul LehriederDr. Ursula von der LeyenIngbert LiebingMatthias LietzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsDaniela LudwigDr. Michael LutherKarin MaagDr. Thomas de MaizièreHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Dr. Michael MeisterMaria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachDr. Mathias Middelberg
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24366 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Präsident Dr. Norbert Lammert
(C)
(B)
Philipp MißfelderDietrich MonstadtMarlene MortlerDr. Gerd MüllerStefan Müller
Dr. Philipp MurmannMichaela NollDr. Georg NüßleinFranz ObermeierEduard OswaldHenning OtteDr. Michael PaulRita PawelskiUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferBeatrix PhilippRonald PofallaRuprecht PolenzEckhard PolsThomas RachelDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergKatherina Reiche
Lothar RiebsamenJosef RiefKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckErwin RüddelAlbert Rupprecht
Anita Schäfer
Dr. Wolfgang SchäubleDr. Annette SchavanDr. Andreas ScheuerKarl SchiewerlingNorbert SchindlerTankred SchipanskiGeorg SchirmbeckChristian Schmidt
Patrick SchniederDr. Andreas SchockenhoffNadine Schön
Dr. Kristina SchröderBernhard Schulte-DrüggelteUwe Schummer
Detlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertJohannes SinghammerJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelErika SteinbachChristian Freiherr von StettenDieter StierGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerKarin StrenzThomas Strobl
Lena StrothmannMichael StübgenDr. Peter TauberAntje TillmannDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzVolkmar Vogel
Stefanie VogelsangAndrea Astrid VoßhoffDr. Johann WadephulMarco WanderwitzKai WegnerMarcus Weinberg
Peter Weiß
Sabine Weiss
Karl-Georg WellmannPeter WichtelAnnette Widmann-MauzKlaus-Peter WillschDagmar G. WöhrlDr. Matthias ZimmerWolfgang ZöllerWilli ZylajewFDPJens AckermannChristian AhrendtDaniel Bahr
Florian BernschneiderSebastian BlumenthalClaudia BögelNicole Bracht-BendtKlaus BreilRainer BrüderleAngelika BrunkhorstMarco BuschmannHelga DaubReiner DeutschmannBijan Djir-SaraiPatrick DöringMechthild DyckmansHans-Werner EhrenbergRainer ErdelJörg van EssenUlrike FlachOtto FrickeDr. Edmund Peter GeisenHans-Michael GoldmannHeinz GolombeckJoachim Günther
Dr. Christel Happach-KasanHeinz-Peter HausteinManuel HöferlinElke HoffBirgit HomburgerHeiner KampDr. Lutz KnopekPascal KoberDr. Heinrich L. KolbGudrun KoppHolger KrestelPatrick Kurth
Sibylle LaurischkHarald LeibrechtSabine Leutheusser-SchnarrenbergerDr. Martin Lindner
Michael Link
Dr. Erwin LotterHorst MeierhoferGabriele MolitorPetra Müller
Burkhardt Müller-SönksenDirk NiebelHans-Joachim Otto
Gisela PiltzJörg von PolheimDr. Stefan RuppertBjörn SängerFrank SchäfflerChristoph SchnurrJimmy SchulzDr. Erik SchweickertWerner SimmlingJudith SkudelnyDr. Hermann Otto SolmsJoachim SpatzDr. Max StadlerTorsten StaffeldtDr. Rainer StinnerStephan ThomaeFlorian ToncarSerkan TörenJohannes Vogel
Dr. Claudia WintersteinDr. Volker WissingHartfrid Wolff
EnthaltenCDU/CSUDr. Stefan KaufmannJürgen KlimkeDr. Jan-Marco LuczakElisabeth Winkelmeier-BeckerFDPChristine Aschenberg-DugnusLars LindemannDr. Birgit ReinemundManfred TodtenhausenDr. Daniel VolkIch bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf inder Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung ange-nommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich von ihren Plätzenzu erheben. Das macht einen guten Eindruck. – Werstimmt dagegen? – Möchte sich jemand enthalten? – Da-mit ist der Gesetzentwurf mehrheitlich angenommen.Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent-schließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache17/11197. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Ent-schließungsantrag ist abgelehnt.Tagesordnungspunkt 15 b. Hier geht es um die Abstim-mung über den von der Bundesregierung eingebrachtenEntwurf eines Verkehrsteueränderungsgesetzes. DerFinanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf den Drucksachen 17/11183 und 17/11219, denGesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksa-chen 17/10039 und 17/10424 in der Ausschussfassunganzunehmen.Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen vor, über den wir zuerst abstimmen.Wer stimmt diesem Änderungsantrag auf Drucksache17/11198 zu? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Damit ist der Änderungsantrag abgelehnt.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24367
Präsident Dr. Norbert Lammert
(C)
(B)
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf inder Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? –Der Gesetzentwurf ist mit erkennbar ausreichenderMehrheit angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten JosipJuratovic, Anette Kramme, Hubertus Heil
, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPDNeue Chancen für Menschen mit Migrations-hintergrund am Arbeitsmarkt– Drucksache 17/9974 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Also können wir so verfahren.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-nächst dem Kollegen Juratovic für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wenn wir hier über Integration debattieren,sind das oft eher abstrakte Debatten, wie zum Beispielzum Jubiläum des Anwerbeabkommens mit der Türkei.Genauso oft reden wir über Integration im Zusammen-hang mit Sprache und Bildung.Integration ist jedoch viel mehr. Wir müssen konkretwerden und sagen, was Integration tatsächlich bedeutet.Integration fängt immer mit einem Zugehörigkeitsgefühlan. Man muss ganz konkret erleben, dass man dazuge-hört und dass man in der Gesellschaft akzeptiert, respek-tiert und gebraucht wird.
Daher ist Integration immer etwas, was von beiden Sei-ten geleistet werden muss: von denen, die zu uns kom-men, aber auch von der Aufnahmegesellschaft.Aus meiner Zeit am Fließband weiß ich, wie wichtigder Arbeitsplatz ist, damit Integration gelingt. Wir habenmit Kollegen aus mehr als 50 Nationen zusammengear-beitet. Viele von meinen Kollegen haben am FließbandDeutsch gelernt. Durch unsere gemeinsamen Aufgabenund unsere gemeinsamen Ziele haben wir uns als Teamgefühlt. Wir haben uns mit unserem Betrieb identifiziertund hatten ein Zugehörigkeitsgefühl.Unser Ziel muss sein, dass sich alle Menschen in un-serem Land – ob mit oder ohne Migrationshintergrund –mit unserem Land und seiner Vielfalt identifizieren.
Aus meiner persönlichen Erfahrung weiß ich, dass wireine gute und funktionierende Integration in den Arbeits-markt brauchen, um Integration in der gesamten Gesell-schaft erfolgreich gestalten zu können.Vor diesem Hintergrund beraten wir heute einen An-trag der SPD-Fraktion zu neuen Chancen für Menschenmit Migrationshintergrund auf dem Arbeitsmarkt. Dennleider hat die Integration auf dem Arbeitsmarkt nichtüberall so erfolgreich geklappt wie bei mir im Betrieb.Das beweisen zahlreiche Statistiken und Studien. SeitJahren ist die Arbeitslosigkeit unter Ausländern, alsoMenschen ohne deutschen Pass, doppelt so hoch wie vonDeutschen.Im Jahr 2008 hatten 37,5 Prozent der 25- bis 34-Jähri-gen mit Migrationshintergrund keinen beruflichen Ab-schluss. Bei den jungen Menschen ohne Migrationshin-tergrund waren das „nur“ 10,8 Prozent. Jugendliche mitMigrationshintergrund haben bei gleichen Qualifikatio-nen geringere Chancen auf einen Ausbildungsplatz alsdeutschstämmige Jugendliche. In der Weiterbildungwerden weniger Menschen mit Migrationshintergrundberücksichtigt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt mehrereGründe, warum wir daran etwas ändern müssen.Erstens. Natürlich muss jeder Einzelne, der hier beiuns lebt, eine Chance auf Integration haben. Dazu gehörtvor allem die Integration auf dem Arbeitsmarkt. Das istauch eine entscheidende Frage der Würde jedes Einzel-nen.
Denn niemand will auf staatliche Almosen angewiesensein.Zweitens. Für unseren Staat ist es aus ganz rationalenGründen wichtig, dass möglichst alle Menschen in denArbeitsmarkt integriert sind. Es gibt eine Studie, die dieKosten der Nichtintegration berechnet hat. Das Institutfür Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hat dazu die feh-lenden Einnahmen durch Steuern und Abgaben sowiedie höheren Ausgaben der sozialen Sicherungssystemeberechnet. Diese Studie zeigt: Es lohnt sich auch finan-ziell, sich für die Integration in den Arbeitsmarkt einzu-setzen; denn dadurch kann der Staat später eine ganzeMenge Geld sparen.Drittens. Für unsere Wirtschaft ist es wichtig, dassMenschen mit Migrationshintergrund auf unserem Ar-beitsmarkt aktiv sind. Wir diskutieren hier seit langemüber die Fachkräfteentwicklung in unserem Land. Wiralle wissen, dass wir nur dann genügend Fachkräfte ha-
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24368 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Josip Juratovic
(C)
(B)
ben, wenn wir alle Menschen in unserem Land in denArbeitsmarkt integrieren.
Unsere Wirtschaft kann es sich nicht leisten, hier einegroße Gruppe an Menschen auszuschließen. Deshalbzähle ich darauf, bei der Integration in den Arbeitsmarktauch tatkräftige Unterstützung aus der Wirtschaft zu be-kommen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Gespräch vor al-lem mit Jugendlichen, die einen ausländisch klingendenNamen haben, erfahre ich immer wieder von Diskrimi-nierungen. Die Uni Konstanz hat in einer Studie nachge-wiesen, dass Menschen mit ausländisch klingendem Na-men bei Bewerbungen diskriminiert werden. Deswegenist es eine zentrale Forderung in unserem Antrag, Diskri-minierungen abzubauen.
Ein entscheidender Punkt dafür sind anonyme Bewer-bungen. Wenn die Personalabteilung am Anfang aus-schließlich die Qualifikation begutachtet, sortiert sienicht bewusst oder unbewusst die Menschen mit auslän-disch klingendem Namen aus. In einem Modellprojekthat sich gezeigt, dass anonyme Bewerbungen denjenigenMenschen nutzen, die derzeit am Arbeitsmarkt nicht soviele Chancen haben, vor allem ältere Arbeitnehmer undMenschen mit Migrationshintergrund. Vom Ergebnis desModellprojekts waren auch die Arbeitgeber selbst über-rascht. Sie haben zugegeben, dass unterschwellig Diskri-minierung stattfand, die durch anonyme Bewerbungenverhindert wird. Diese Studie sollte uns Ansporn genugsein, bundesweit anonyme Bewerbungen einzuführen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen die Ar-beitsmarktpolitik stärker darauf ausrichten, dass Men-schen mit Migrationshintergrund von den Maßnahmenerreicht werden. Bei der Arbeitsförderung muss die För-derung von Menschen mit Migrationshintergrund zumSchwerpunkt werden. Wir brauchen ein Arbeitsmarkt-programm „Perspektive MigraPlus“ ähnlich der „Per-spektive 50plus“.Mir persönlich ist es besonders wichtig, auch dasSchicksal derjenigen zu betonen, die in Deutschland nurmit Duldung leben. Dahinter stehen viele persönlicheSchicksale, die Menschen in ihren Heimatländern durch-gemacht haben. Hier in Deutschland wird ihnen zu langeder Zugang zum Arbeitsmarkt verwehrt.
Wir brauchen eine gesetzliche Klarstellung, dass Gedul-dete mit Arbeitserlaubnis von den Agenturen für Arbeitund Jobcentern beraten werden müssen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, das sind nur einigeder Forderungen, die in unserem Antrag enthalten sind.Wir haben sorgfältig und durchdacht aufgelistet, welcheÄnderungen wir brauchen, damit Menschen mit Migra-tionshintergrund mehr Chancen auf dem Arbeitsmarkthaben. Leider herrscht vonseiten der Bundesregierungziemlicher Stillstand, was konkrete Maßnahmen angeht.Es reicht nicht aus, nur anlässlich von Migrationsgipfelnschöne Worte zu finden; vielmehr müssen wir endlichkonkret handeln.
Integration ist ein gegenseitiger Prozess, ein Gebenund ein Nehmen. Zu Recht erwarten wir von den Mi-granten, dass sie sich bemühen und uns etwas geben.Aber gerade wir von der Politik müssen auch etwas ge-ben, nämlich reale Chancen auf unserem Arbeitsmarkt.Schließlich sind all die Menschen, von denen ich hierspreche, Steuerzahler, wenn auch oft ohne Stimmrechtbei Wahlen. Wir müssen Integration leben und sie imAlltag und im Arbeitsmarkt umsetzen. Dazu brauchenwir die Maßnahmen aus unserem SPD-Antrag.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ulrich Lange ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DerAntrag der SPD, lieber Kollege Juratovic, beinhaltet ei-nen großen Strauß von vielen Maßnahmen, die wir an di-versen und unterschiedlichsten Stellen hier bereits disku-tiert haben, letztmalig im Mai zu dem Thema „Chancenfür Fachkräfte“. Ich gebe Ihnen aber durchaus recht, dassdas Thema „Migration in der Arbeitswelt“ ebenfalls einesolche Debatte wie die heutige rechtfertigt. Aber wirwissen um diese Problematik. Man sieht auch in demNationalen Aktionsplan Integration, den die Bundesre-gierung Ende Januar 2012 vorgestellt hat, dass wir unsbewusst und konsequent dieser Aufgabe annehmen undsie als Kernaufgabe verstehen.Zweifellos ist es richtig, dass insbesondere jugendli-che Ausländerinnen und Ausländer eine deutlich höhereArbeitslosigkeit als Deutsche haben. Ich bin aber, lieberKollege, mit einer Aussage nicht ganz einverstanden,und das sage ich hier auch sehr deutlich: Dies ist nicht inerster Linie eine Frage des Passes. Das möchte ich hierschon angemerkt haben.
– Die Einbürgerung erleichtert ihn; aber es ist nicht eineFrage des Passes an sich. Das wollte ich schon richtigge-stellt haben.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24369
(C)
(B)
Es ist vielmehr – das erlaube ich mir hier schon auch zusagen, lieber Kollege – auch eine Frage der Sprachbe-herrschung, der Möglichkeit des Zugangs zu Bildungund auch der Eltern, die die Kinder dann an die Spracheund an die Bildung heranführen müssen. Ich glaube, dassdies der Schwerpunkt unserer Aufgabe sein sollte.Vor diesem Hintergrund hat die Bundesregierung stra-tegische Ziele formuliert. Ein Ziel ist natürlich, die Qua-lifizierung durch interkulturelle und migrationsspezifi-sche Qualifizierung des Beratungspersonals zu erhöhen,die betriebliche Integration zu verbessern und die vonmir bereits angesprochene Fachkräftebasis zu sichern.Mit einer Vielzahl von Programmen und Maßnahmen– ich glaube, hier haben wir in den letzten Monaten undJahren gehandelt – sind wir arbeitsmarktpolitisch aktivgeworden. Das Ministerium für Arbeit und Soziales hatseit Mitte 2011 durch das Förderprogramm „Integrationdurch Qualifizierung“ gemeinsam mit dem Bundes-ministerium für Bildung und Forschung und der Bundes-agentur für Arbeit eine bundesweite sichtbare Strukturregionaler Netzwerke aufbauen können. Das sind sicher-lich wichtige und entscheidende Schritte. Das IQ willHandlungsansätze entwickeln; es will helfen, Abschlüsseanzuerkennen und die Verfahrenssituation transparentdarzustellen.Auch heute agieren viele Bundesinstitutionen schonsehr realitätsnah und sehr eng an der Problematik. Ichnenne das Beispiel Berlin mit dem „Tag der Migration“.Hier sind auch wieder das Jobcenter, die Ausländerbe-hörde und viele andere zusammen auf einer Plattform,um Erfahrungen auszutauschen und Möglichkeiten aus-zuloten.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben imHerbst 2011 ein Fachkräftekonzept beschlossen und dortauch eine Bedeutungsreihenfolge festgelegt, nämlichheimisches Potenzial vor Zuwanderung. Hier gehören,lieber Kollege Juratovic, die Menschen mit Migrations-hintergrund in unserem Land zum heimischen Potenzial,das wir auf jeden Fall stärker und noch besser schöpfenund ausnutzen müssen.
Sie sehen also an einigen Beispielen, die ich hier auf-gezeigt habe, dass wir uns der Problematik annehmen,dass wir die Problematik erkannt haben und dass wir un-ter Federführung unseres Ministeriums und unsererMinisterin Ursula von der Leyen gute Schritte vorange-kommen sind. Ich kann nur appellieren: Unterstützen Sieuns gemeinsam auf diesem Weg, damit wir die Poten-ziale heben und damit wir die Arbeitswelt zugunsten derMenschen mit Migrationshintergrund offener machenkönnen.Herzlichen Dank.
Die Kollegin Dağdelen ist die nächste Rednerin für
die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Herr Lange, ich muss doch schon sehr bitten. Siehaben gesagt, es ist nicht nur der Pass. Nein, es geht umdie Situation, dass allein der Name bereits ausreicht. DerKollege führt in dem vorgelegten Antrag ja aus, dass eseine Studie der Institute zur Zukunft der Arbeit gibt, diebelegt, dass Menschen mit Migrationshintergrund, dieeinen türkischen Namen aufweisen, bei Bewerbungsver-fahren allein aufgrund des Namens trotz gleicher odersogar besserer Qualifikation als Menschen ohne Migra-tionshintergrund deutlich weniger zu Vorstellungsge-sprächen eingeladen werden. Deshalb bitte ich Sie: Se-hen Sie endlich die Realität in Deutschland! Es gibtDiskriminierung. Diese Diskriminierung ist auch struk-turell, und deshalb muss sie auch beendet werden. Des-halb appelliere ich an Sie.
Ich begrüße insoweit für meine Fraktion den Antrag,stellt er doch schon auf die Verbesserung der Situationfür Menschen mit Migrationshintergrund ab. Wenn mandie letzten Jahre im Deutschen Bundestag Revue passie-ren lässt, muss man sich fragen, warum Sie von der SPDjetzt eigentlich das fordern, was Sie unter Rot-Grün oderauch Schwarz-Rot, das heißt in sage und schreibe elf Re-gierungsjahren, immer wieder verhindert haben. Warumhaben Sie das damals nicht gemacht?
Es geht um Maßnahmen, die schon seit Jahren von unsgefordert werden: Schaffung eines Zugang zum Arbeits-markt, Einführung eines anonymisierten Bewerbungs-verfahrens, Anerkennung von Berufsabschlüssen, die imHerkunftsland erworben worden sind. Noch vor ein paarJahren, als Sie an der Regierung waren, haben Sie unsereAnträge abgelehnt, in denen die Anerkennung ausländi-scher Berufsabschlüsse gefordert wurde. Ich finde esdaher nicht besonders seriös, diese Anträge jetzt zukopieren und vorzulegen.
Ich finde, ein Rückblick schadet nicht. Der KollegeJuratovic sagt, Menschen mit Migrationshintergrundbrauchten reale Chancen am Arbeitsmarkt. Schauen wiruns doch die Situation dieser Menschen an. Meine Da-men und Herren, ihre Situation ist unerträglich. Ich weißdas sehr genau, weil ich mit diesen Menschen aufge-wachsen bin; ich bin ein Mensch mit Migrationshinter-grund und erfahre es tagtäglich, wenn die Menschen zumir kommen und sich über ihre Situation beschweren.
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Sevim Dağdelen
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Man muss in diesem Zusammenhang auch überHartz IV und die Agenda 2010 sprechen.
Hartz IV war und ist das größte Enteignungs- undDequalifizierungsprojekt in diesem Land, gerade imHinblick auf Menschen mit Migrationshintergrund. Zueiner möglichen Revision findet sich in Ihrem Antragselbstverständlich nichts. Ursache und Wirkung sindklar: Jahre-, nein jahrzehntelang sind Menschen mitMigrationshintergrund im Bildungs- und Ausbildungs-bereich dequalifiziert worden. Sie wurden von Qualifi-zierungs- und Weiterbildungsmaßnahmen ausgegrenztund auf dem Arbeitsmarkt diskriminiert. Ich fordere Sieauf, allein deshalb noch einmal über die Hartz-IV-Gesetzgebung nachzudenken. Denken Sie vielleicht nurfünf Minuten darüber nach, anstatt sich hier aufzuregen.Es ist natürlich so, dass Hartz IV die Menschen bedrohtund sie enteignet.Das betrifft insbesondere Migrantinnen und Migran-ten, weil sie überproportional von Arbeitslosigkeit be-troffen sind. Sie sind auch von einer Gesetzgebung imNiedriglohnbereich überproportional betroffen, die Leih-arbeit im heutigen Ausmaß erst möglich gemacht hat. Datragen Sie Mitverantwortung. Deshalb appelliere ich anSie: Denken Sie darüber nach, anstatt in nassforscherSteinbrück-Manier auch noch Hartz IV und dieAgenda 2010 zu bejubeln.
– Nein, das ist nicht billig; das ist die Wahrheit. WennSie ein Stück weit Glaubwürdigkeit gewinnen wollen,auch bei Menschen mit Migrationshintergrund, dannsollten Sie sich hier nicht über jene beschweren, die überdie unerträgliche Wirklichkeit in diesem Land berichten,sondern dann sollten Sie einmal nur fünf Minuten diesenMenschen zuhören und zur Kenntnis nehmen, was siefordern.
Diese fünf Minuten haben wir nicht mehr.
Diese Menschen fordern ein Verbot der Leiharbeit,
einen gesetzlichen Mindestlohn und die Zurücknahme
von Hartz IV. Darüber sollten Sie sich einmal Gedanken
machen.
Für die FDP-Fraktion ist der Kollege Johannes Vogel
der nächste Redner.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lieber Kollege Juratovic! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen von den Sozialdemokraten! Ihr Antrag zeigt, dasswir uns gemeinsam um das Thema „Zuwanderung undIntegration“ bemühen. Ich glaube, wir alle sind uns imZiel einig. Weil Deutschland ein Einwanderungsland istund übrigens eine jahrhundertelange Erfolgsgeschichteder Einwanderung vorzuweisen hat, ist es richtig, dasswir diesen Weg weitergehen. Dazu gehört es, sich Ge-danken zu machen, wie wir die Integration verbessernkönnen. Dazu gehört aber auch, klar zu sagen, dass wirzusätzliche Einwanderung in Deutschland wollen, unddazu gehört, ein klares Signal zu setzen. Wir wollenweiterhin ein Einwanderungsland sein. Wir wollen anunseren Grenzen kein Schild „Warnung vor dem bissi-gen Hund“ aufstellen. Wir wollen vielmehr einen rotenTeppich ausrollen,
gerade weil wir vor dem Hintergrund des Fachkräfte-mangels im Wettbewerb um die klugen Köpfe noch bes-ser werden müssen; wir müssen sie nach Deutschlandholen. Zu diesem Ziel bekennen wir uns in der Koalitionganz eindeutig.
Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass wir die Zu-wanderungsregeln gerade vereinfacht haben. Frau Kolle-gin Dağdelen, Sie haben das gerade in Zweifel gezogen.Wir haben diesen Sommer die Zuwanderungshürdenmassiv gesenkt. So haben wir zum Beispiel mit breiterZustimmung dieses Hauses – es gab auch Zustimmungvonseiten der SPD-Fraktion; darüber habe ich mich sehrgefreut – ein Visum zur Arbeitsuche eingeführt und da-mit endlich für einen Paradigmenwechsel im BereichZuwanderung gesorgt. Ich glaube, dazu bekennen wiruns alle.Auch auf die Frage, wie wir eine bessere Integrationder Menschen mit Migrationshintergrund, die bereitshier leben, gewährleisten können, gibt das Gesetz zurAnerkennung im Ausland erworbener Berufs-abschlüsse, das wir in dieser Legislaturperiode auf denWeg gebracht haben, eine Antwort. Es gibt eine Dreimo-natsfrist, innerhalb der ein solches Verfahren durch-geführt werden muss. Wir haben weiterhin festgelegt,dass es ein einheitliches Verfahren gibt. All das zeigt,dass wir uns den Herausforderungen stellen.Lieber Kollege Juratovic, die Anerkennung vonBerufsabschlüssen halte ich übrigens für die zentraleHerausforderung, vor der wir stehen, wenn es um diebessere Integration von Menschen mit Migrationshinter-grund auf dem Arbeitsmarkt geht. Sie sehen: Über dasZiel sind wir uns einig, aber an den zentralen Stell-schrauben drehen wir bereits. Dieser Aufgabe stellen wiruns als Koalition sehr erfolgreich.
Es gab eine Diskussion darüber, ob Deutschland dieAusstrahlung hat, ein Einwanderungsland zu sein. Ichwürde mich freuen, wenn wir die Opposition – das istSevim Dağdelen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24371
Johannes Vogel
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insbesondere an die Adresse der Sozialdemokraten ge-richtet – bei der Verfolgung dieses Ziels an unserer Seitehätten. Lieber Kollege Juratovic, ich weiß, dass Sie sichschon lange mit diesem Thema beschäftigen und absolutglaubwürdig sind. Ich habe mich im Zuge der Diskus-sion über die Öffnung des Arbeitsmarktes für Bürger derneuen EU-Mitgliedstaaten im Mai 2011 teilweise schongewundert, dass ich auch aus den Reihen Ihrer FraktionTöne gehört habe,
die – ich will es einmal zurückhaltend formulieren – mirnicht den Eindruck vermittelt haben, dass Sie uns dabeivorangebracht haben, ein Klima zu schaffen, das geeig-net ist, den neuen Mitbürgern zu vermitteln, dass sieunsere Gesellschaft bereichern. Dabei macht Vielfaltunsere Gesellschaft reicher, gerade auf dem Arbeits-markt.Damals wurde laut das alte Lied gesungen: Moment!Wir öffnen unseren Arbeitsmarkt. Da könnten ja neueMitbürger aus anderen Mitgliedstaaten der EU kommen.Das ist eine Bedrohung. Das macht auf dem Arbeits-markt alles schlechter. – Ich freue mich, dass wir dasjetzt von den Sozialdemokraten nicht mehr hören. Aberzur Wahrheit gehört, festzuhalten, dass wir in dieserLegislaturperiode leider solche Töne aus Ihrer Fraktiongehört haben. Ich finde es gut, dass das jetzt offenbar einEnde hat.
Lassen Sie mich konkret werden und über die zentra-len Stellschrauben sprechen. Ich habe eben ausgeführt,welcher Punkte wir uns mit zwei wegweisenden Geset-zen sehr erfolgreich angenommen haben. Die KolleginDağdelen hat eben kritisiert, dass Sie Dinge fordern, dieSie, als Sie selber in Regierungsverantwortung waren,nicht umgesetzt haben. Politik braucht zwar Symbole,aber an ein oder zwei Stellen empfinde ich Ihren Antrag,zumindest was den ersten Anschein angeht, als Symbol-politik. Diese brauchen wir in aller Regel nicht.Ich gebe Ihnen dazu Beispiele. Sie fordern denRechtsanspruch auf Nachholen eines Schulabschlusses.Dabei gibt es den schon, und zwar im Dritten Sozialge-setzbuch.
Sie fordern weiterhin, die berufliche Deutschförderungdurch die Bundesagentur für Arbeit zu stärken. SchauenSie sich an, wie die konkreten Hinweise für die einzel-nen Vermittlerinnen und Vermittler in der Arbeitsagenturund in den Jobcentern lauten. Daran wird deutlich, dassauf die Beseitigung von sprachlichen Defiziten explizitWert gelegt und auf die Fördermöglichkeiten im Zusam-menhang mit dem Erlernen der Sprache hingewiesenwird. Das findet also bereits im Rahmen der Bundes-agentur für Arbeit statt.
Auch in Bezug auf die Qualifizierung ist festzustel-len, dass wir gerade durch die Reform der arbeitsmarkt-politischen Instrumente die Möglichkeiten zur Qualifi-zierung massiv ausgeweitet haben. Kollege Zimmer, dermit mir für dieses Gesetzgebungsverfahren aufseiten derKoalition zuständig war, nickt. Wir haben für einenParadigmenwechsel gesorgt, damit noch mehr imBereich Qualifikation möglich wird.
– Frau Kollegin Kramme, ich habe diesen Sommer inmeinem Wahlkreis zum Beispiel einen jungen Manngetroffen, der jetzt die Möglichkeit einer beruflichenWeiterqualifikation bekommen hat.
Vor April 2011 wäre er durch das Raster gefallen, erhätte gar nicht die Möglichkeit gehabt, sich zu qualifi-zieren. Die Möglichkeit, dass alle Mitarbeiter in kleinenund mittleren Unternehmen jetzt gefördert werden, ha-ben nicht Sie geschaffen, sondern wir haben sie eröffnet.
Lassen Sie mich ein letztes Beispiel für Ihre Symbol-politik anführen. Sie fordern, dass die Zentrale Aus-lands- und Fachvermittlung der BA ihren Schwerpunktnicht nur auf Akademiker legen sollte. Auch das findetschon statt. Es werden nicht nur Akademiker angewor-ben; vielmehr werden jene Menschen angeworben, diederzeit auf dem Arbeitsmarkt benötigt werden, aktuellzum Beispiel im Pflegebereich. So lassen sich mehrereBeispiele dafür finden, dass Sie in Ihrem Antrag Dingefordern, die in der Realität bereits umgesetzt werden. Ichfinde: Eine solche Symbolpolitik hat das Thema nichtverdient.Vielleicht können wir darüber bei der Beratung desAntrags im Ausschuss vertieft diskutieren und uns dannauch fragen, ob wir diesen Antrag wirklich brauchen, umhinsichtlich der besseren Integration von Menschen mitMigrationshintergrund voranzukommen.
Ich habe daran aus den genannten Gründen meine Zwei-fel. Dass wir uns über das Ziel einig sind, will ich aus-drücklich begrüßen. Ich freue mich, wenn wir mit Ihnen,den Oppositionsfraktionen, weitere Schritte in dieseRichtung gehen können.Vielen Dank.
Der Kollege Kilic ist der nächste Redner für die Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Beteiligung am Arbeitsleben hat eine zen-
trale Bedeutung für die soziale Teilhabe; denn am Ar-
beitsplatz knüpft man Kontakte und erfährt Wertschät-
zung. So findet Integration im Alltag statt. Jedoch
werden Menschen mit Migrationshintergrund am
Arbeitsmarkt in hohem Maße diskriminiert. Zu diesem
Ergebnis kommen gleich mehrere wissenschaftliche
Studien, unter anderem eine des Bundesinstituts für
Berufsbildung. In dem Bericht wird dargelegt, dass
Benachteiligungen wegen der ethnischen Herkunft in
Deutschland leider weit verbreitet sind. Von einer Dis-
kriminierung auf dem Arbeitsmarkt sind nicht nur Men-
schen mit Migrationshintergrund betroffen. Frauen und
ältere Menschen haben es ähnlich schwer. Am schwers-
ten haben es Menschen, bei denen diese Faktoren auf-
einandertreffen.
Ich bekomme zahlreiche E-Mails von verzweifelten
arbeitsuchenden Migranten. Zuletzt hat mich ein Hoch-
schulabsolvent mit hervorragendem Abschluss kontak-
tiert. Er hat schon über hundert Bewerbungen verschickt,
jedoch keine einzige Einladung zu einem Vorstellungs-
gespräch erhalten. Seine Ex-Kommilitonen mit schlech-
terem Abschluss, aber deutschem Namen sind dagegen
mit Jobs versorgt. Ein Blick in den öffentlichen Dienst
offenbart das Ausmaß dieser Diskriminierung. Dort
erwartet Sie die größte Parallelgesellschaft in Deutsch-
land. Kaum Angestellte mit ausländisch klingenden
Namen sind dort anzutreffen. Dabei müssen gerade
staatliche Stellen mit gutem Beispiel vorangehen.
Neben den Diskriminierungen gibt es drei weitere
Hauptgründe für die schlechte Lage der Migranten am
Arbeitsmarkt: erstens Chancenungleichheit im Bildungs-
system; zweitens hohe Hürden bei der Einbürgerung und
eine unzureichende Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis;
drittens die noch immer mangelnde Anerkennung von
ausländischen Abschlüssen. Das sollte auch der Bundes-
regierung klar sein. Sie reagiert jedoch zu zögerlich. Sie
muss die Grundvoraussetzungen dafür schaffen, dass auf
dem Arbeitsmarkt alle gleich behandelt werden.
Anonyme Bewerbungen können präventiv gegen
Diskriminierungen wirken. Das beweist auch ein Pilot-
projekt der Antidiskriminierungsstelle des Bundes.
Durch anonyme Bewerbungen wird der Fokus auf die
Qualifikation der Bewerber gelenkt. Deshalb erwarte ich
von der Bundesregierung ein stärkeres Engagement auf
diesem Gebiet.
Die staatlichen Einrichtungen sollten mit einer neuen
Einstellungspolitik ein Vorbild für den privaten Sektor
sein. Sie sollen folgende zwei Eigenschaften als Plus-
punkte werten: erstens interkulturelle Kompetenz und
zweitens zusätzliche Muttersprachen. Diese Fähigkeiten
verdienen eine positive Berücksichtigung bei der Ein-
stellungspolitik.
Einen besonderen Handlungsbedarf sehe ich bei der
Arbeitsverwaltung. Die Jobvermittler müssen interkultu-
rell geschult und die Arbeitsagenturen mit der Migrati-
onsberatung vernetzt werden. Da haben wir noch großen
Nachholbedarf – leider.
Der SPD-Antrag enthält konstruktive Vorschläge zur
Weiterentwicklung bestehender Ansätze. Im Kern lese
ich ihn jedoch nicht als Grundsatzkritik am schwarz-
gelben Regierungshandeln. Deshalb nehmen wir den
SPD-Antrag als Verbesserungsansatz wahr.
Um den Missstand endlich zu beenden, soll die
Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorlegen und ent-
sprechende Initiativen starten. Ich fordere von ihr vor al-
lem ein systematisches Engagement gegen Diskriminie-
rungen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Uwe Schummer, CDU/CSU-Fraktion.
Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren!Die duale Ausbildung in Deutschland hat an sich schoneine sehr starke Integrationskraft. Das Lernen in der Pra-xis für die Praxis sorgt dafür, dass Menschen frühzeitigeine Chance haben, nach der Ausbildung in einen Berufeinzusteigen und so ihr Leben zu bestreiten und ihre Fa-milie zu ernähren. Wir haben in Deutschland auch auf-grund der dualen Ausbildung eine Jugendarbeitslosigkeit– dies bezieht sich auf junge Menschen bis 25 Jahre –von nur 7,9 Prozent. In der Europäischen Union liegt dieJugendarbeitslosigkeit im Schnitt bei 22,4 Prozent, inGriechenland und Spanien liegt sie über 50 Prozent. Dasheißt, dort, wo es viele Arbeitsplätze gibt, wo es Ausbil-dungsplätze gibt, gelingt auch Integration besser. In die-sem Bereich hat die christlich-liberale Koalition einenwesentlichen Meilenstein gesetzt.
Das Bundesinstitut für Berufsbildung in Bonn hat2010 in einer Schülerbefragung herausgefunden, dass78 Prozent der Jugendlichen mit Migrationshintergrundeine duale Ausbildung wollen. Eine Erhebung in 2011hatte ergeben – auch das müssen wir zur Kenntnis neh-men –, dass 38 Prozent der 25- bis 34-Jährigen mit Mi-grationshintergrund keinen beruflichen Abschluss hatten.Das sind gescheiterte Biografien. Diese gibt es, unab-hängig davon, wer gerade an der Regierung ist. Wirmüssen gemeinsam Konzepte entwickeln, die langfristig
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24373
Uwe Schummer
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und dauerhaft eine zweite oder sogar dritte Chance zurIntegration ermöglichen.Entscheidend ist: Gut hilft, wer früh hilft. Ein wichti-ges Programm betrifft die Stärkung der Sprachkompe-tenz, nämlich die Offensive „Frühe Chancen“ des Fami-lienministeriums. Im Rahmen dieses Programms werden400 Millionen Euro in 4 000 Kitas in Schwerpunktberei-chen investiert, damit Halbtagskräfte, die sich um einegezielte Sprachförderung der Kinder in der Kita küm-mern, mit 25 000 Euro im Jahr finanziert werden kön-nen. So haben diese Kinder später in der Schule bessereChancen, und sie können einen Abschluss machen.Ein ganz wichtiger Erfolg der Bundesregierung ist derAbbau der Zahl der Altbewerber. Altbewerber sind dieMenschen, die zwölf Jahre nach Beendigung der Schul-zeit noch keinen Ausbildungsplatz haben. Vor einigenJahren gab es noch 380 000 Altbewerber. Nach dem ak-tuellen Berufsbildungsbericht liegt die Zahl der Altbe-werber derzeit bei 175 000. Das heißt, der Berg der Alt-bewerber wurde abgebaut; ihre Zahl wurde um circa200 000 reduziert. Auch hier ist ein Stück weit einezweite Chance ermöglicht worden.
Spannend ist die Initiative der christlich-liberalen Ko-alition – diese gab es auch schon in der Großen Koali-tion –, in deren Rahmen in Moscheen über Ausbildungs-möglichkeiten informiert wird. Wir gehen natürlich auchdorthin, wo es bestimmte Problemkreise gibt. Wir bin-den auch die Imame ein. In meiner Heimatstadt Willicham Niederrhein gibt es eine Vereinbarung der Stadt mitder Moschee bzw. den Imamen, dass auf Deutsch gepre-digt wird und dass nach dem Freitagsgebet Informations-veranstaltungen stattfinden, auf denen die Bedeutung derdualen Ausbildung für Jungen und für Mädchen darge-stellt wird. Dort wird auch konkret geholfen, wenn Hilfebeim Einstieg in die Erwerbstätigkeit notwendig ist. Die-ses Miteinander und Füreinander in den Moscheen isteine ganz wichtige Aktion, die wir mitfinanzieren undmit unterstützen. Dabei wird Menschen konkret gehol-fen, nicht mit Phrasen und mit großen Ideologien, son-dern mit sehr konkreten Aktivitäten.
Entscheidend für eine erfolgreiche Berufsbiografie isteine frühzeitige und erweiterte Berufsorientierung. Überdas Konzept der Bildungsketten haben wir mit dafür ge-sorgt, dass ab dem siebten Schuljahr, also drei Jahre vorder Entlassung aus der allgemeinbildenden Schule, einePotenzialanalyse in den Schulen stattfindet. Man kannspäter in überbetrieblichen Werkstätten verschiedeneBerufsfamilien kennenlernen, zum Beispiel Arbeiten mitHolz und Metall, Hauswirtschaft, Gartenbau und Ge-sundheitswesen. Man kann herausfinden, wo die eigenenPotenziale liegen, die man später bei der Berufstätigkeiteinbringen kann. Nach einem Profiling können konkretebetriebliche Praktika in dem ausgewählten Berufsfeldorganisiert werden.Da, wo nach wie vor besonderer Hilfebedarf bestehtund wo die Eltern ein Stück weit überfordert sind, finan-zieren wir auch aus Bundesmitteln bis zu 3 000 Berufs-einstiegsbegleiter, die 30 000 jungen Menschen eine zu-sätzliche Hilfe bieten, ihnen nicht nur in der Schule undbei der Bewerbung zur Seite stehen, sondern auch nochim ersten Ausbildungsjahr. Das ist konkrete menschlicheHilfe, mit der wir Menschen den Einstieg in die Er-werbstätigkeit erleichtern können.Der Antrag der SPD ist in einigen Punkten spannend,aber zum Teil veraltet. Kollege Vogel hat geschildert,dass viele Anliegen, um die es geht, von der Regierungbzw. von der christlich-liberalen Koalition längst umge-setzt worden sind.Ein Beispiel ist das Gesetz für die Anerkennung imAusland erworbener Berufsqualifikationen. Wir hattengestern ein Gespräch mit den Kammern, in dem uns mit-geteilt wurde, dass allein über die IHK schon mehr als1 400 entsprechende Anträge bearbeitet worden sind. ImHandwerk gibt es weitere Aktivitäten. Ein Problem ha-ben wir allerdings bei diesem Gesetz, das am 1. Aprildieses Jahres in Kraft getreten ist: Die Länder ziehennicht in dem Maße mit, wie es sein müsste. In vielen Fäl-len geht es um Hochschulabsolventen, aber die Hoch-schule ist Ländersache.Es gibt ein Land, in dem, seitdem die Bundesregie-rung das Anerkennungsgesetz auf den Weg gebracht hat,noch überhaupt nichts passiert ist, nämlich Baden-Würt-temberg. Da wäre meine Bitte, Herr Kilic, den Minister-präsidenten, der ja von den Grünen gestellt wird, sozusa-gen zum Laufen zu bringen, damit endlich auch indiesem Bereich Anerkennung stattfinden kann.
Bei aller Kritik, bei allem, was wir noch leisten müs-sen, möchte ich sagen: Die OECD hat 2009 festgestellt,dass es arbeitswillige Einwanderer in Deutschland leich-ter haben als in den meisten anderen Industriestaaten,und hat darauf verwiesen, dass jeder fünfte Firmengrün-der in Deutschland ausländische Wurzeln hat. Das istPotenzial, das wir weiter schöpfen wollen.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufder Drucksache 17/9974 an die in der Tagesordnungaufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Dazu gibt eskeinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so be-schlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf:a) – Zweite und dritte Beratung des von den Frak-tionen der CDU/CSU und FDP eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Änderung undVereinfachung der Unternehmensbesteuerungund des steuerlichen Reisekostenrechts– Drucksache 17/10774 –
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-schusses
– Drucksachen 17/11180, 17/11217 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Mathias MiddelbergLothar Binding
– Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung– Drucksache 17/11189 –Berichterstattung:Abgeordnete Norbert BarthleCarsten Schneider Otto FrickeDr. Gesine LötzschPriska Hinz
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Finanzausschusses zudem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll,Richard Pitterle, Dr. Axel Troost, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion DIE LINKEVerlustverrechnung einschränken – Steuerein-nahmen sicherstellen– Drucksachen 17/5525, 17/11180 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Mathias MiddelbergLothar Binding
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist auchfür diese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. –Das ist offensichtlich einvernehmlich und damit so be-schlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort demKollegen Mathias Middelberg für die CDU/CSU-Frak-tion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Es ist sehr schade, dass sich die Opposi-tion nicht dazu durchringen konnte, diesem guten Gesetzzuzustimmen.
Ich finde, es ist wirklich ein gelungenes Gesetz. Es be-steht aus drei Teilen: Reisekostenrecht, Organschaft,Verlustrücktrag.Erster Punkt. Gerade bei den Reisekosten kann manzu Vereinfachungen kommen. Die Dinge, die wir imReisekostenrecht erreicht haben, machen dieses Gesetzzu einem der wichtigsten Steuervereinfachungsgesetzedieser Legislaturperiode.
Hier wurden dramatische Vereinfachungen für die Bür-ger erreicht. Deswegen ist es sehr bedauerlich, dass sichdie Opposition nicht durchringen will, diesem Gesetzzuzustimmen.Wir machen im Reisekostenrecht einige wichtigeSchritte. Bisher sind Verpflegungsmehraufwendungen indrei Stufen abzurechnen; da kommt es auf Mindestabwe-senheitszeiten und Ähnliches an. Das wird in Zukunftsehr viel einfacher, weil wir bei Verpflegungsmehrauf-wendungen nur noch zwei Stufen haben werden. Das er-leichtert sowohl die Angabe von Reisekosten als auchdie Prüfung von Reisekostenabrechnungen.In Zukunft wird auch nicht mehr darüber gestrittenwerden, welche der verschiedenen Tätigkeitsstätten ei-nes Arbeitnehmers die Haupttätigkeitsstätte darstellt.Stattdessen wird einfach eine Tätigkeitsstätte zur regel-mäßigen Tätigkeitsstätte erklärt.Darüber finden dann keine weiteren Streitigkeiten undAuseinandersetzungen mehr statt. Es muss auch nicht27-mal geprüft werden. Es ist also eine klare Regelung,die man eigentlich nur begrüßen kann.Auch bei der doppelten Haushaltsführung kommenwir zu deutlichen Verbesserungen. Da gab es bisher ei-nen riesigen Verwaltungsaufwand, weil Einzelbelegebeigebracht werden mussten. Vergleichsmieten, Durch-schnittsmieten und Ähnliches mehr mussten ermitteltwerden. Hier kommen wir zur Ansetzung von Pauschbe-trägen. Demnächst können im Rahmen der doppeltenHaushaltsführung für Wohnung und Unterkunftskostenbis zu 1 000 Euro angesetzt werden. Das ist eine deutli-che Vereinfachung und Verbesserung des gesamten Ver-fahrens.
Ich sage es noch einmal: Durch diese Regelungenwerden 35 Millionen Menschen von unnützer Bürokra-tie, von unnützem Aufwand entlastet. Neben denjenigen,die diese Reisekostenabrechnungen zu erstellen haben,gibt es aber auch diejenigen, die diesen Kram prüfenmüssen. Das ist aus meiner Sicht, wie gesagt, eines derwichtigsten Vereinfachungsgesetze dieser Legislaturpe-riode.Zweiter Punkt: Organschaft. Wenn man das Stichworthört, könnte man denken, dass es irgendetwas mit Unter-leibsproblemen zu tun hat. Es geht aber nicht darum,sondern es geht um verbundene Unternehmen, die mitei-nander sogenannte Organschaftsverträge abschließen,also beispielsweise um eine Mutter- und eine Tochterge-sellschaft in einem Konzern, die einen sogenannten Er-gebnisabführungsvertrag abschließen. Da hat es in derVergangenheit immer wieder große Probleme mit derRechtsprechung gegeben, die diese Verträge kassiert hat,weil irgendwelche kleinen formalen Fehler in den Ver-trägen enthalten waren oder weil es kleine Fehler bei derAbwicklung dieser Verträge gegeben hat.Diese Regelung haben wir jetzt deutlich vereinfacht.Die Organschaft ist jetzt sehr viel rechtssicherer, als siefrüher war. Das war das Petitum aus dem Bereich derWirtschaft. Es ist in zunehmendem Maße auch für im-mer mehr kleine und mittlere Unternehmen in Deutsch-land wichtig, gerade auch für die, die dieses Land inno-
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Dr. Mathias Middelberg
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vativ vorantreiben und international verwoben sind, dasssie sich fest darauf verlassen können, dass ihre Unter-nehmensverträge, die Verbundverträge, wirklich rechts-sicher sind und einer Prüfung standhalten. Deswegensage ich: Ich finde, auch das ist ein ganz gewaltiger Fort-schritt für den Wirtschaftsstandort Deutschland.
Dritter Punkt: der Verlustrücktrag. Damit erfüllen wireine Konvergenzforderung aus dem deutsch-französi-schen Grünbuch für Unternehmensbesteuerung. Im Üb-rigen schaffen wir mehr Liquidität für den Mittelstand.Eines aber ist mir besonders wichtig – das möchte ichmit einer allgemeinen Bemerkung verbinden, weil wir jaauch noch über den Antrag der Linken diskutieren wol-len –: Die Verlustverrechnung in Deutschland einzu-schränken, hielte ich für einen ganz schweren Fehler;denn wir müssen daran denken, dass unser Unterneh-menssteuerrecht international wettbewerbsfähig seinmuss. Wir können uns hier keine völlig anderen Regelnerlauben als in anderen Ländern, und in anderen europäi-schen Ländern sind Unternehmensverluste natürlich mitGewinnen verrechenbar. Alles andere wäre auch völligschwachsinnig und würde nicht dem Grundsatz der Be-steuerung nach Leistungsfähigkeit entsprechen.Wenn man zum Beispiel ein Auto bauen will, mussman dieses Auto erst einmal entwickeln. Man mussPläne und Zeichnungen machen und Forschung betrei-ben. Man muss einen Prototyp bauen und damit arbeiten.Das heißt, man hat über drei, vier und noch mehr Jahreerst einmal einen großen Entwicklungsaufwand. Mansammelt Verluste. Die Verluste in diesen Jahren mussman später mit Gewinnen verrechnen können. Deswe-gen sind Verlustvortrag und Verlustrücktrag in einemvernünftigen Unternehmenssteuerrecht eigentlich eineSelbstverständlichkeit.Wir meinen, dass das Steuerrecht in Deutschland mitden drei Punkten, die ich genannt habe, weiter optimiertwird. Wir werden, was das Unternehmenssteuerrecht an-geht, noch stabiler und noch wettbewerbsfähiger. Mitden Änderungen bei den Reisekosten tun wir ganz vielfür die normalen Menschen in diesem Land, die beruf-lich auf Reisen sind, ob als Handwerker, als Monteure,als Kurierfahrer oder in allen möglichen Varianten vonDienstfahrten. Das, finde ich, ist ein ganz gewichtigerBeitrag. Wie gesagt, ich bedaure, dass Sie dem Ihre Zu-stimmung verweigern wollen.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Lothar Binding für
die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich willin einer freien Form des Zitats den Kollegen Middelbergzitieren: Es ist sehr schade, dass sich die Regierungsko-alition nicht hat durchringen können, auf einen richtiggravierenden Fehler in diesem Gesetzentwurf zu ver-zichten. – Das ist ungefähr so, als wenn der Kellner ei-nen schönen Orangensaft bringt und kurz bevor er denGast erreicht noch ein Tropfen Arsen hineinkommt. Manwürde ihn nicht trinken. So ist es uns jetzt auch ergan-gen.
Das ist auch ein wenig der Hektik geschuldet, die wir er-leben.Ich will es Ihnen ehrlich sagen: Wir finden fast dengesamten Gesetzentwurf sehr gut, und wir hatten unsvorgenommen, zuzustimmen. Leider ist aber zwei Tagevor der Abschlussberatung im Finanzausschuss etwaspassiert, weswegen wir nicht zustimmen können.Ich finde, man kann ruhig noch einmal sagen, wie to-lerant die Opposition im Verfahren war: Wir haben unsauf wirklich viele Fachgespräche statt Anhörungen ein-gelassen, wir sind sogar bereit gewesen, die Aus-schussprotokolle selbst mitzuschreiben, um den enor-men Zeitdruck abbauen zu können,
und wir haben die Verkürzung der Fachdebatte mitgetra-gen. – Zur Vorsitzenden, weil sie gerade einen Zwi-schenruf gemacht hat: Sie musste sogar während derAusschusssitzung eine Pressekonferenz durchführen,weil sie sonst zeitlich nicht dazu gekommen wäre. Alsomusste sie sich da vertreten lassen.
Sie sehen: Es gab einen extremen Zeitdruck.Die SPD unterstützt übrigens viele Regelungen indiesem Gesetzentwurf. Ich will jetzt einige vielleichtlangweilige Kleinigkeiten erwähnen:Die Änderung im steuerlichen Reisekostenrecht, spe-ziell die Einführung der zweistufigen Staffelung beimVerpflegungsmehraufwand, tragen wir zum Beispiel mit.Das ist eine wichtige Vereinfachung für Arbeitnehmer,Arbeitgeber und die Verwaltung. Das ist eine wirklichgute Sache. Deshalb ist es so schade, dass Sie diesenkleinen großen Abschlussfehler gemacht haben.Zur Verpflegungspauschale von 12 bzw. 24 Euro. Ichweiß, jeder, der das jetzt hört, denkt: Von welchen Klei-nigkeiten erzählt er da? Für die, die das betrifft, ist dasaber eine ganz wichtige Sache und eine große Vereinfa-chung. Die Arbeitnehmer, die eine eintägige auswärtigeberufliche Tätigkeit über Nacht ausüben und zum Bei-spiel mehr als 8 Stunden vom Wohnort entfernt sind,können jetzt 12 Euro abrechnen.Auch die Ersetzung des Begriffs „regelmäßige Ar-beitsstätte“ durch „erste Tätigkeitsstätte“ ist sehr gut undsachgerecht und hilft künftig den Arbeitnehmern, sich
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24376 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Lothar Binding
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im Fahrkostenrecht sehr gut zurechtzufinden. Sie kön-nen ihre Fahrtkosten jetzt komplett über die erste Tätig-keitsstätte abrechnen. Das ist ein sehr großer Vorteil, denes bisher nicht gab.Allerdings gibt es auch einen Wermutstropfen, näm-lich die Einstufung von Bildungseinrichtungen, die au-ßerhalb eines Dienstverhältnisses zu einer vollzeitigenBildungsmaßnahme aufgesucht werden. Das ist nämlichplötzlich auch die erste Tätigkeitsstätte. Das bedeutet:Wenn ich vom Jobcenter zu einer Bildungsmaßnahmegeschickt werde, die zum Beispiel weit weg liegt, dannkann ich meine Fahrkosten nicht so geltend machen, wiees sich eigentlich gehören würde. Das heißt, hier gibt eseine Restriktion für die Schwächsten, die ausgerechnetin einer Lebensphase, in der es ihnen schlecht geht, einProblem bekommen.Wir glauben, hinsichtlich der Entfernungspauschalehätte man an dieser Stelle großzügiger sein können.Vielleicht kann sich die Koalition ja noch durchringen,unseren diesbezüglichen Antrag zu vollzeitigen Bil-dungsmaßnahmen mitzutragen, um damit weiterhin ei-nen unbegrenzten Reisekostenabzug zu ermöglichen.
– Macht ihr das mit?
– Na ja, ihr sagt, ihr wollt es untergesetzlich regeln. Eswar in der Debatte aber nicht ganz klar, ob und wie daserreicht werden soll.Zu dem, was wir nicht mitmachen: Das hat etwas da-mit zu tun, dass wir gelernt haben – und das stimmt –,dass Verluste im Unternehmensteuerrecht sinnvoller-weise immer mit Gewinnen zu verrechnen sein sollen.Allerdings werden Verluste grenzüberschreitend, welt-weit und auf der Zeitachse durch Rück- und Vortrag sehrstark zur Gestaltung genutzt. Durch diese Möglichkeitauf der Zeit- und auf der räumlichen Achse kommt es zusehr vielen Gestaltungen. Deshalb halten wir die Ver-doppelung des Verlustrücktrags für keine sinnvolle Maß-nahme.Jetzt komme ich zu der wichtigsten Sache, die wir un-terstützen, nämlich zur Korrektur bezogen auf die Mög-lichkeiten, bilanzielle Fehler später noch zu korrigieren,ohne dass die Organschaftsverhältnisse geschädigt wer-den.Bisher war es so: Wenn in einem Ergebnisabfüh-rungsvertrag ein Komma falsch gesetzt worden ist unddas irgendwann festgestellt wurde, dann war die gesamteorganschaftliche Regelung zunichte gemacht. Das wirdjetzt korrigiert. Das halten wir für eine sehr gute Sache.Ich habe eben einige Punkte genannt, die prima sind.Jetzt komme ich zu dem einen Punkt, der kritisch ist.
– Zu dem Tropfen Arsen.Zwei Tage vor der Abschlussberatung haben Sie ei-nen Änderungsantrag eingebracht. Er betrifft die Organ-träger – Sie haben schon erklärt, was das ist – und dieOrgangesellschaften mit Sitz in der EU oder im europäi-schen Wirtschaftsraum.Nun passiert Folgendes: Ein Unternehmen, dessenSitz und Geschäftsleitung räumlich getrennt sind – derSitz ist in einem und die Geschäftsleitung in einem ande-ren Land –, macht einen Verlust geltend. Die von Ihnenvorgesehene Regelung erlaubt es, diesen einen Verlustsowohl in dem einen als auch in dem anderen Land gel-tend zu machen.
Diese Logik ist natürlich hochgefährlich, weil die dop-pelte Verlustverrechnung im grenzüberschreitenden Falldeutlich macht, dass hier viele Gestaltungsmöglichkei-ten gegeben sind. Da haben wir als Finanzpolitiker dieAufgabe, die Einnahmeseite des Staates sicherzustellen,zu stärken, Steuersubstrat im Lande zu halten, damit dieHaushälter die Chance haben, entsprechende Ausgabenzu tätigen.
Ich will auch sagen, warum uns diese Regelung be-sonders ärgert. Es gibt nämlich die Idee, die Besteue-rungsbefugnisse auf die Mitgliedstaaten aufzuteilen.Herr Wissing hat etwas abgewehrt. Wir können in zweiJahren einmal evaluieren, was uns dieser kleine Antrag,dieser große Fehler gekostet hat. Das ist für den Fiskustatsächlich ein großer Nachteil.Ich glaube, dass man mit diesem Sachverhalt so nichtumgehen kann. Es ist doch auch nicht logisch, zu sagen:Ich darf einen Verlust doppelt geltend machen. Wennkein besserer Vorschlag vorläge, dann könnte man sa-gen: Gut, gewisse Fehler müssen nun einmal gemachtwerden. Aber es gibt die Möglichkeit, die Befugnisse aufdie verschiedenen Staaten aufzuteilen. Damit hätte maneine faire Verlustteilung, eine faire Anrechnung auf denGewinn. Das wäre korrekt.Warum Sie sich dieser Möglichkeit berauben unddiese falsche Konsequenz aus diesem Urteil, bezogenauf Philips Electronics, ziehen, können wir nicht verste-hen; denn Sie wissen genau, dass der EuGH auf die ein-zelnen Fisci grundsätzlich keine Rücksicht nimmt. Wenndas so ist, dann haben wir immer ein fiskalisches Pro-blem. Hier hätte man die Chance gehabt, die Unsicher-heit im Rechtsraum zu belassen und die Sicherheit beimFiskus zu suchen. Sie aber haben es umgekehrt gemacht:Sie haben den Fiskus in die Unsicherheit gebracht unddie rechtliche Seite in Sicherheit.Das heißt aber, wir haben an dieser Stelle riesige Ver-luste, die in einem anderen Fall überhaupt nicht gegebenwären. Deshalb halten wir dieses Gesetz für gut, aberwegen dieses Tropfens Arsen leider für nicht zustim-mungsfähig.Vielen Dank.
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Für die FDP-Fraktion spricht jetzt der Kollege
Dr. Volker Wissing.
Herr Präsident, ich danke Ihnen. – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Ihre Argumente, lieber Herr KollegeBinding, warum Sie diesem Gesetz nicht zustimmenkönnen, konnte man nicht ganz nachvollziehen. Das lagwahrscheinlich daran, dass Sie sich lange überlegt ha-ben: Wie kann man die Ablehnung eines so guten Geset-zes begründen?
Es ist Ihnen wirklich nicht gelungen, das hier überzeu-gend vorzutragen.
Ich muss ehrlich sagen: Sie müssen am Ende denMenschen erklären, was Sie hier machen. Es ist nichtmeine Aufgabe, Ihren Wählern zu erklären, was Sie hiermachen. Aber ich frage mich ernsthaft, ob eine sozialde-mokratische Partei hier eine steuerliche Verbesserungnach der anderen für die Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer mit an den Haaren herbeigezogenen Begründun-gen ablehnen kann,
lieber Herr Kollege Binding.
Es liegt wieder eine Studie der OECD vor, dass inDeutschland die Belastungen für untere und mittlereEinkommen durch die kalte Progression massiv gestie-gen sind.
Wir haben ein Steuergesetz zur Entlastung der Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer hier im Deutschen Bun-destag eingebracht – die SPD war dagegen.
Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben dasProblem, dass sie im Bereich der Reisekosten, der Ar-beitsstätte und der doppelten Haushaltsführung erhebli-che Bürokratielasten zu tragen haben. Da sind sehrstreitanfällige Begriffe im Gesetz. Das nervt die Men-schen.Davon sind Kraftfahrer betroffen. Sie sind über diesesSteuerrecht genervt. Sie haben einen harten Job. Sie tunwirklich alles, was sie können und erbringen enormeLeistungen für diese Gesellschaft.
Sie wollen von diesem Steuerrecht nicht unnötig gegän-gelt werden. Jetzt legen wir Ihnen etwas vor, was diesenMenschen ihr Leben vereinfacht und eine leichte Entlas-tungswirkung mit sich bringt – immerhin bewirken dieseRegelungen eine Entlastung von 200 Millionen Euro –,weil wir nicht wollen, dass die Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer die Kosten tragen. Jetzt sagt die Sozialde-mokratie: Nein, aus parteitaktischen oder sonstigen Grün-den, mit an den Haaren herbeigezogenen Argumenten,knallen wir den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmernwieder einmal einen vor den Latz. – Das ist doch keinesoziale Politik, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Deswegen fragt man sich doch ernsthaft: Was habenIhnen denn die Menschen in Deutschland getan, diemorgens früh aufstehen und hart arbeiten? Warum müs-sen diese Menschen denn durch die kalte Progression ab-kassiert werden?
Warum müssen diese Menschen denn mit Steuerbüro-kratie gegängelt werden? Wissen Sie überhaupt noch,wie es draußen im Leben zugeht? Haben Sie einmal miteinem Kraftfahrer gesprochen? Haben Sie einmal mitden Leuten gesprochen, die genervt sind, weil sie demFinanzamt Stunden und Minuten nachweisen müssen?
Wissen Sie, was diese Erleichterungen, die dieses Gesetzmit sich bringt, für Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mer im Außendienst bedeuten? Warum zeigen Sie alsSozialdemokraten diesen Menschen die kalte Schulter?Das hätten wir heute gern einmal von Ihnen gehört.
Das ist das größte Steuervereinfachungsgesetz für dieArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in dieser Legisla-turperiode. Selbst die Deutsche Steuer-Gewerkschaft hatgesagt,
dass dieser Gesetzentwurf ein sehr guter Gesetzentwurfist.
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Dr. Volker Wissing
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– Ach, die SPD. Sie werden doch nicht daran gemessen,was Sie draußen faseln. Sie werden doch daran gemes-sen, wie Sie hier abstimmen. Sie verweigern den Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmern ein faireres und ge-rechteres Reisekostenrecht.
Das ist sozialdemokratische Realpolitik.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Gesetzent-wurf ist in enger Abstimmung mit den Betroffenen zu-stande gekommen. Die Bundesregierung hat das hervor-ragend vorbereitet. Der Herr Staatssekretär Koschyk hatsich genauso wie Bundesfinanzminister Schäuble darumbemüht.Die Koalition hat gesagt: Hier sind Millionen Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer betroffen, und für unssteht von vornherein fest: Dieses Gesetz soll eine echteEntlastung für die Betroffenen, für die Arbeitnehmer,aber nicht für die Finanzverwaltung sein. Im Vorder-grund standen die Menschen, die hart arbeiten.Das ist uns auch gelungen. Wir haben in der Anhö-rung keine kritische Stimme gehört, die sich gegen die-sen Gesetzentwurf gewandt hat. Wir haben kein einzigesvernünftiges Argument gegen diesen Gesetzentwurf ge-hört.
Die Menschen haben gesagt: So ein Zustandekom-men ist vorbildlich. Mit uns reden, unsere wirklichenProbleme ernst nehmen, all das steht in diesem Gesetz-entwurf drin.Wir haben uns gegen eine knallharte Gegenfinanzie-rung in schwierigen Zeiten ausgesprochen und wollen esden Menschen einfacher machen, ohne sie dafür bezah-len zu lassen. Das ist das, was wir hier zustande gebrachthaben.
Wenn Sie die Sorgen der Menschen wirklich ernstnehmen würden, dann würden Sie Ihre parteitaktischenInteressen hintanstellen und nicht alles verhindern undnicht zu allem Nein sagen.Deswegen glaube ich, dass die Menschen mit diesemGesetz sehr gut zurechtkommen werden. Ich glaube,dass das ein hervorragendes Gesetz ist. Wir haben künf-tig eine klare Regelung, was die Arbeitsstätte angeht. Eswird nicht mehr auf komplizierte streitanfällige Begriffeankommen, sondern auf das, was im Arbeitsvertragsteht. Wir werden einfache Regeln für die doppelteHaushaltsführung haben. Es wird nicht mehr auf dieortsübliche Vergleichsmiete ankommen, sondern es wirdeinfach auf die tatsächliche Miete ankommen, gedeckeltauf 1 000 Euro.Einfacher kann Steuerrecht gar nicht mehr sein. Dannsagen Sie Nein. Das können Sie den Menschen inDeutschland nicht ernsthaft antun wollen, was Sie hiervortragen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Lassen Sie mich noch etwas zu dem unternehmen-steuerrechtlichen Teil sagen. Wir haben in diesem Ge-setzentwurf eine Lösung für die Frage der Organschaftvorgesehen. Das Problem mit dem Gewinnabführungs-vertrag wird ebenfalls gelöst. Das ist ein drängendesProblem für die deutsche Wirtschaft.Wir hätten uns auch vorstellen können, einen größe-ren Schritt hin zur Gruppenbesteuerung zu machen.Dazu gab es keine große Unterstützung vonseiten derWirtschaft. Wir haben aber gesagt: Das, was notwendigist und was kurzfristig gemacht werden kann und waswirklich hilft in diesem Bereich, um die Wettbewerbsfä-higkeit zu stärken, das machen wir.Ich kann auch nicht verstehen, dass Sie den Ver-lustrücktrag, der eine spürbare Liquiditätsverbesserungfür kleine und mittlere Unternehmen, also für den Mit-telstand, mit sich bringen wird, ausgerechnet hier imDeutschen Bundestag kritisieren. Wir reden die ganzeZeit von Wachstum. Jetzt schaffen wir mehr Liquiditätfür kleine und mittlere Unternehmen. Das ist eineChance für Investitionen, für Arbeitsplätze und fürWachstum. Wer sagt Nein dazu? Die Sozialdemokratie.
Sie kann man für Wachstumspolitik, Arbeitsmarktpolitikund Steuerpolitik einfach nur vergessen.
Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Kollegin
Dr. Barbara Höll.
Danke, Herr Präsident. – Herr Wissing, die Speer-spitze der Arbeiterbewegung?
Was Sie hier abgeliefert haben, ist einfach plump. HerrWissing, Sie können das als Koalition und Regierung,aber Sie haben ganz bewusst eine gute gesetzliche Rege-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24379
Dr. Barbara Höll
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lung, das Reisekostenrecht, einfach mit dem Bereich Un-ternehmensteuern zusammengepackt, was erst einmalüberhaupt nichts miteinander zu tun hat. Wer möchte,kann sehr wohl im Protokoll des Finanzausschussesnachlesen – das spiegelt sich dann auch in dem Berichtwider –, dass die Opposition den Änderungen im Reise-kostenrecht zugestimmt hat.
– Ja, das haben Sie ordentlich vorbereitet. Das war auchin der Anhörung so zu hören. Da haben wir tatsächlicheine Steuervereinfachung erreicht. Rechtlich unbe-stimmte Begriffe wurden konkretisiert. Das ist schon an-gesprochen worden. Das geht voll in Ordnung. Aberwenn Sie jetzt sagen: „Es war alles prima bei der Anhö-rung“, dann stimmt das nicht.
Da frage ich mich wieder, Herr Wissing: Machen Siedort die Ohren zu? Oder wie war das im weiteren Ver-lauf, wenn unangenehme Fragen kamen?
Der zweite große Bereich, den Sie in dem Gesetzentwurfbehandeln, ist die Unternehmensbesteuerung. Dabei gehtes um zwei Dinge. Zum einen haben Sie die Vorausset-zungen zur Bildung einer ertragsteuerlichen Organschaftabgesenkt, obwohl wir alle wissen, dass prinzipiell ge-rade die Organschaften oftmals gebildet werden, umSteuergestaltungsmodelle zu nutzen. Zum anderen habenSie die Verdoppelung der Höchstbeträge beim Ver-lustrücktrag vorgesehen. Wenn Sie das als Förderung derkleinen und mittelständischen Betriebe bezeichnen,
dann möchte ich noch einmal die Zahlen nennen. Es gehtum eine Summe von 500 000 Euro, die jetzt auf 1 Mil-lion Euro erhöht wird. Für die kleinen und mittelständi-schen Betriebe bei mir in Leipzig gilt: Wenn einer da-runterfällt, ist das wahrscheinlich schon viel.
Das ist wirklich keine breite Förderung der KMU, imGegenteil.Ich habe dazu Kleine Anfragen im Bundestag gestellt,die das Finanzministerium beantwortet hat. Laut OECD-Zahlen gibt es in keinem anderen Staat in Europa einesolch große Anhäufung von Verlustrückträgen wie inDeutschland. Wenn die alle auf einmal geltend gemachtwürden, dann hätten wir aber Riesenprobleme. Das isteine Zeitbombe, insbesondere für die Kommunen. Dage-gen hätten Sie etwas tun müssen. Das hätten Sie anpa-cken müssen. Nein, Sie machen das nicht.Das ist also mehr als nur ein Tropfen Arsen. Das istfür mich ein weiterer Grund, warum man dem Gesetz-entwurf insgesamt nicht zustimmen kann. Das hat nichtsmit steuerlicher Gerechtigkeit zu tun.
Ich komme noch einmal zu dem bereits angesproche-nen Punkt, wie Sie das EuGH-Urteil zu der Frage aufge-nommen haben, wie Unternehmen, die in mehreren Staa-ten agieren, mit ihren Verlusten umgehen müssen.
Es stellt doch niemand, auch wir nicht, in Abrede,dass man Gewinne und Verluste verrechnen könnenmuss. Aber wenn Sie jetzt zur Steuergestaltung förmlicheinladen
und sagen: „Bitte schön, jetzt öffnen wir euch dasTor; ihr könnt jetzt eure Verluste nehmen, erst in Land Aund in Land B nochmals“,
dann wären doch einige mit dem Klammerbeutel ge-pudert,
wenn sie das nicht als Möglichkeit nutzen und ihre wirt-schaftliche Tätigkeit dann vielleicht auch entsprechendausdehnen.
Eine solche Umsetzung geht überhaupt nicht. Statt andieser Stelle etwas mit der heißen Nadel zu machen, hät-ten wir uns Zeit nehmen und ordentlich beraten müssen,damit etwas herauskommt, was nicht zu weiteren Steuer-ausfällen führen kann, sondern einerseits der RechtslageRechnung trägt, andererseits aber dem Gemeinwesennicht schadet.Etwas Gutes mit zu verpacken und uns dann zu sagen,dass wir jetzt mit dem guten Reisekostenrecht die großeKröte im Unternehmensteuerrecht schlucken müssen, istein plumper Versuch. Damit werden Sie nicht durch-kommen. Diesen Gesetzentwurf kann man nur insge-samt ablehnen, und das wird die Linke tun.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Thomas Gambkevom Bündnis 90/Die Grünen.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir wollenals Grüne, dass Reformen in der Unternehmensbesteue-rung drei Ziele verfolgen: nachhaltig, gerecht, euro-päisch. Deutschland ist ein attraktiver Wirtschaftsstand-ort – keine Frage. Die Besteuerung von Unternehmen istmit rund 30 Prozent im weltweiten Vergleich durchauswettbewerbsfähig. Aber nicht nur deshalb, sondern auchwegen der Haushaltskonsolidierung sehen wir als Grünekeinen Spielraum für Reformen im Unternehmensteuer-bereich, die zu Einnahmeminderungen führen.Erfüllt das Gesetz diese Kriterien „nachhaltig, ge-recht, europäisch“? Leider erfüllt es sie nicht in jedemPunkt; denn erstens haben Sie drängende Baustellen imBereich der Unternehmensteuern – es ist ein Gesetz auchzur Unternehmensbesteuerung – gar nicht erst ange-packt,
und zweitens führt das Gesetz zu Mindereinnahmen von300 Millionen Euro im Jahr. Das ist einfach nicht akzep-tabel.
Aber kommen wir erstens dazu, was dem Gesetzfehlt. Da fehlt zum Beispiel eine Lösung zur Besteue-rung von Streubesitzdividenden. Sie kennen das Urteildes EuGH. Die Verschleppung dieses Problems kannrichtig teuer werden.
– Ja, das werden Sie lösen. Aber warum lösen Sie esnicht jetzt? Rechtssicherheit ist nicht gegeben, aberPlanbarkeit ist eine sehr wichtige Größe bei Unterneh-mensentscheidungen, bei Entscheidungen über langfris-tige Investitionen. Hören Sie, was im Moment die Wag-niskapitalgeber sagen und was die Gründerszene sagt!Da ist man stark verunsichert. Ich meine, da hätten Siehandeln müssen, und zwar jetzt; denn es ist wichtig, dassman handelt, weil Planungssicherheit für Unternehmeneine Grundvoraussetzung für das Investieren ist. Da ver-sündigen Sie sich.
– Wir haben einen Vorschlag, aber darüber rede ich jetztnicht.
Zweitens. Steuerausfälle wären gar nicht nötig. Sie ha-ben im Februar einen 12-Punkte-Plan vorgelegt. Wo istder verschwunden? Im Nirwana! Da waren ganz sinn-volle Maßnahmen vorgesehen. Da waren enthalten Vor-schläge zur Verhinderung von weißen Einkünften. Da gabes die Beschränkung der sogenannten Heuschrecken. Siehaben die Wertpapierleihe beschränken wollen. Zu nen-nen ist auch die Monetarisierung von Verlusten. Warumhaben Sie das nicht umgesetzt? Es ist Arbeitsverweige-rung, wenn Sie die Punkte, die Sie selbst nennen, einfachvom Tisch nehmen und so tun, als wenn sie gar nicht dagewesen wären. Das ist nicht in Ordnung.
Richtig: Beim Reisekostenrecht sind wichtige Zieleerfüllt, etwa die Verminderung von Verwaltungsauf-wand. Es ist Rechtssicherheit gegeben; auch das ist rich-tig.
Deshalb begrüßen wir diese Reform, aber
es bleibt die Frage offen: Warum haben Sie vorher nichteinmal mit den Oppositionsfraktionen geredet?
Wir haben es im Berichterstattergespräch gehört. Warumhaben Sie nicht einmal geredet
und eine Abstimmung zwischen Bund und Ländern ge-sucht, um eine aufkommensneutrale Lösung anzustre-ben? Sie haben eine Lösung angestrebt, die einfach fürSie ist, aber die eine Einnahmeminderung um fast300 Millionen Euro bedeutet.
– Warten Sie es doch ab!
Thema Organschaft. Wir begrüßen die Reform beimGewinnabführungsvertrag.
Sie wissen genauso wie ich, dass das eine Sache ist, dieüberfällig war. Wir haben das vor einem Jahr gefordert.Ich persönlich bin sehr froh, dass Sie sich mit Ihrer mo-dernen Gruppenbesteuerung nicht durchgesetzt haben.Sie wissen, warum. Das hätte zu massiven Steuerausfäl-len geführt, und das wäre nicht in Ordnung gewesen.Wir als Politiker sollten das Thema Unternehmensbe-steuerung nicht nur fiskalpolitisch sehen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24381
Dr. Thomas Gambke
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Das bringt mich zu der Frage: Wie müssen denn zukünf-tige Organschaftsregelungen aussehen, auch im Sinnevon europäischen Lösungen? Da gebe ich Ihnen einmalzu bedenken, dass es nicht immer gut ist, nur in Rich-tung Konzerne zu denken; es ist auch einmal an kleineund mittlere Unternehmen zu denken.
Ein modernes Gruppenbesteuerungssystem muss auchkleinen und mittleren Unternehmen helfen. Denken Siean die sogenannten Hidden Champions! Das sind diekleinen Unternehmen, die irgendwann einmal so weitsind, dass sie unsere Wirtschaft wesentlich stützen.
– Ja, ich verbessere mich, Herr Flosbach. Es gibt kleineund mittlere Unternehmen, und aus denen entstehen dieHidden Champions, und die wollen wir stützen.Deshalb wollen wir eine Organschaft, die diesen Be-dingungen wirklich Rechnung trägt.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Zusammenfassend heißt das: Wir Grüne können trotz
einiger Übereinstimmungen in den Zielen diesem
Gesetzentwurf insgesamt nicht zustimmen. Wir werden
uns enthalten. Wir können Steuerausfälle in Höhe von
300 Millionen Euro einfach nicht akzeptieren.
Vielen Dank.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt das Wort der Kollege Dr. h. c. Hans Michelbach
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einzentrales Ziel unserer Politik ist die Sicherung unseresWirtschaftsstandorts Deutschland. Dazu gehören dieWettbewerbsfähigkeit und neue Arbeitsplätze. Dazu ge-hören Spitzentechnologie und Industriepolitik. Dazu ge-hören Bürokratieabbau und Vereinfachung mit einer un-ternehmensfreundlichen Steuerpolitik. Das ist unserZiel. Wir haben schon in vielen Schritten Erfolge. Dawir auch in Europa am besten dastehen, können wir mitStolz feststellen: Diese Ziele werden durch unsere Poli-tik erreicht.
Zweifellos ist die Steuerpolitik weiterhin die größteHerausforderung für die Binnenkonjunktur. Deshalb ha-ben wir das Gesetz, über das wir jetzt abstimmen, einge-bracht und damit eine weitere wichtige Zielsetzung ausunserem Koalitionsvertrag umgesetzt.Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll das Unter-nehmensteuerrecht durch zielgenaue Maßnahmen ver-bessert, vereinfacht und rechtssicherer ausgestaltet wer-den. Auch sollen durchaus Entlastungen vorgenommenwerden; denn wir haben in diesem Bereich einen sehrstarken Aufwuchs an Steuermehreinnahmen. Das mussman einmal feststellen.Wir wissen, dass unsere Politik bei der Opposition na-türlich nicht auf Gegenliebe stößt. Sie wollen die Be-triebe, insbesondere die mittelständische Wirtschaft, ver-stärkt weiter abkassieren. Das ist Ihr Thema. HerrGabriel möchte das französische Vorbild kopieren. Zu-sätzlich 22 Milliarden Euro Belastung der Mittelschichtin Deutschland ist das Ziel der SPD. Das ist die Tatsa-che, meine Damen und Herren.
Die Grünen haben gesagt, Sie hätten zwar zugestimmt,aber es sei keine Aufkommensneutralität vorhanden. Werin einem Steuergesetz Aufkommensneutralität anstrebt,wird letzten Endes keine Strukturveränderungen durch-führen können, weil dabei immer wieder eine Entlastungstattfindet.Die Entbürokratisierung bei den Reisekosten stehtselbstverständlich mit den Unternehmen in Verbindung;denn wir und auch die deutsche Wirtschaft wollen moti-vierte und vor allem mobile Arbeitnehmer. Deswegen istes ganz wichtig, dass unsere Arbeitnehmer vereinfachteReisekostenabrechnungen machen können. Das ist dasZiel, und das wird erfüllt.
Der zweite Punkt, nämlich die Verbesserung beimVerlustrücktrag, dient insbesondere dem Mittelstand.Wenn dieser von 500 000 Euro auf 1 Million Euro na-hezu verdoppelt wird, dann profitieren insbesondere dieleistungsfähigen mittelständischen Betriebe. Hier wirdLiquidität geschaffen.Wir wollen möglichst wenig Substanzbesteuerung,möglichst wenig Substanz aus den Firmen herausneh-men. Dies dient dem Betrieb.Das System der Verlustnutzung ist betriebssicherndund entspricht grundsätzlich internationalen Standards.Wir wollen, dass möglichst keine Verluste anfallen.Aber in den Konjunkturzyklen ist es nun einmal so:Zur Erhaltung der Substanz in den Unternehmen gehörtder Liquiditätsausgleich. Man muss immer wieder mit
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Dr. h. c. Hans Michelbach
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Konjunktureinbrüchen rechnen. Wir wollen die Betriebeerhalten. Jeder Betrieb, der wegfällt, kann nicht soschnell wieder errichtet und erneuert werden. Deswegenist der Erhalt der Arbeitsplätze, der Erhalt der Betriebeein wesentlicher Faktor für die zukünftige wirtschaftli-che Entwicklung.Das geht insbesondere mit einem Verlustrücktrag.Deswegen ist das, was wir heute angehen, wichtig.
Die verbundenen Unternehmen bekommen mit die-sem Gesetz mehr Sicherheit. Wir haben in dem Bereichder Organbesteuerung wachsende Unsicherheit zu ver-zeichnen. Es ist doch für eine mittelständische Unterneh-mung zweifellos eine wesentliche Frage, ob bei Investi-tionen oder Expansionen ins Ausland Unsicherheitherrscht oder nicht. Deswegen ist es ganz entscheidend,dass wir Unsicherheit abbauen und den Betrieben geradebei der Besteuerung Rechtssicherheit verschaffen. Dasist unser Ansatz. Wir haben genau das richtige Rezept,um den Betrieben zu helfen.Ich bin natürlich sehr enttäuscht,
dass Sie trotz meiner unerschütterlichen Argumentationnach wie vor Ihre Zustimmung verweigern.
– Herr Kollege Binding, die Krokodilstränen, die hiergeflossen sind, sollten letzten Endes Ihre Zustimmungs-verweigerung etwas verschönern.
Ich kann nur sagen: Die Blockadepolitik von Rot-Grün in der Steuerpolitik wird Ihnen noch auf die Füßefallen. Davon bin ich fest überzeugt.
Die Leute werden es Ihnen verübeln, dass Sie letzten En-des die Geringverdiener und die Mittelschicht durch IhreBlockade unserer Reform, die zu einer Abmilderung derAuswirkung der kalten Progression, der heimlichenSteuererhöhungen, führen soll, nicht entlasten.
Deswegen ist es ganz klar: Wenn Sie von der SPD dieBlockade in der Steuerpolitik aufrechterhalten, werdenSie Schiffbruch erleiden. Das gebe ich Ihnen schriftlich;denn Steuerpolitik ist Gesellschaftspolitik, und die Men-schen merken, wer sie entlastet und wer sie belastet.
Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von denFraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent-wurf eines Gesetzes zur Änderung und Vereinfachungder Unternehmensbesteuerung und des steuerlichen Rei-sekostenrechts. Der Finanzausschuss empfiehlt unterBuchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf den Druck-sachen 17/11180 und 17/11217, den Gesetzentwurfder Fraktion der CDU/CSU und FDP auf Drucksache17/10774 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ichbitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen.– Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Ge-setzentwurf in zweiter Lesung angenommen mit denStimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmenvon SPD und Linken bei Enthaltung von Bündnis 90/DieGrünen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, mögesich erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – DerGesetzentwurf ist mit gleichem Stimmenverhältnis wiezuvor angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag derFraktion Die Linke mit dem Titel „Verlustverrechnungeinschränken – Steuereinnahmen sicherstellen“. DerAusschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be-schlussempfehlung auf den Drucksachen 17/11180 und17/11217, den Antrag der Fraktion Die Linke aufDrucksache 17/5525 abzulehnen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen mitden Stimmen aller übrigen Fraktionen bei Gegenstim-men der Fraktion Die Linke.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten NicoleGohlke, Jan Korte, Agnes Alpers, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion DIE LINKEHochschulzugang bundesgesetzlich regeln –Recht auf freien Zugang zum Master sichern– Drucksache 17/10861 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die-sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. SindSie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist dasso beschlossen.1)Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/10861 an den Ausschuss für Bildung,Forschung und Technikfolgenabschätzung vorgeschla-gen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.Dann ist die Überweisung so beschlossen.1) Anlage 11
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24383
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzesfür einen Gerichtsstand bei besonderer Aus-landsverwendung der Bundeswehr– Drucksache 17/9694 –Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses
– Drucksache 17/11182 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Patrick SensburgChristoph SträsserJörg van EssenJens PetermannJerzy MontagNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt esWiderspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das sobeschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner das Wort dem Kollegen Dr. Patrick Sensburg von derCDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Was uns überfraktionell eint, ist dieTatsache, dass wir hinter unseren Soldatinnen und Sol-daten im Auslandseinsatz stehen, dass wir ihnen Rück-halt geben und dass wir als Abgeordnete des DeutschenBundestages unsere Parlamentsarmee stützen, wenn siedie schweren Aufgaben im Ausland wahrnimmt.Deshalb ist es gut, dass wir heute über diesen Tagesord-nungspunkt debattieren.Wir debattieren über den Gerichtsstand bei besondererAuslandsverwendung der Bundeswehr. Wir konzentrierendie Zuständigkeiten für Ermittlungs- und Strafverfahrengegen Soldaten der Bundeswehr im Auslandseinsatz;denn es kommt immer wieder vor, dass unsere Soldatin-nen und Soldaten bei Auslandseinsätzen von der WaffeGebrauch machen müssen. Dann wird gegebenenfallsgegen sie ermittelt. Das ist auch richtig so. Denken Siean folgende Situation: Eine Patrouille muss sich mitWaffengewalt verteidigen. Danach wird es Untersuchun-gen geben. Wir wollen, dass sich diese Untersuchungenbei einem Gericht und einer Staatsanwaltschaft konzen-trieren. Nach dem bisherigen Grundsatz finden Ermitt-lungen und Untersuchungen am Ort der Stationierungstatt. Wenn man weiß, dass unsere Soldaten im Aus-landseinsatz aus vielen Standorten kommen, dann weißman auch, dass das zu vielen Gerichtsständen führenkann. Das wollen wir mit diesem Gesetz ändern.Im Rahmen des aktuellen ISAF-Kontingents leistenzurzeit Soldaten aus 14 Bundesländern ihren Dienst. Siekommen aus 104 verschiedenen Standorten. Wird bei-spielsweise gegen Soldaten im Rahmen eines Einsatzes– im Rahmen eines Operational Mentoring and LiaisonTeams, den sogenannten OMLTs – ermittelt, weil siesich verteidigt haben, dann müssten im Grunde die Ge-richte in Hamburg, in Düsseldorf, in Frankfurt oder inMünchen entscheiden, je nachdem, aus welchem Stand-ort die Soldaten kommen. Das wollen wir mit dem Ge-setz beheben. Bei Inlandsstraftaten liegt eine ganz an-dere Situation vor; hier ergibt sich die Zuständigkeitnach dem Tatort. Bei den Soldaten jedoch, die wir in denAuslandseinsatz schicken, müssen wir dafür sorgen, dassdieser Situation auch Rechnung getragen wird. Dasschafft der vorliegende Gesetzentwurf.
Denken Sie beispielsweise an die Situation vomDezember 2009. 300 Bundeswehrsoldaten waren ge-meinsam mit 300 Angehörigen afghanischer Streitkräftein Gefechte verwickelt. Es gab zwei verletzte deutscheSoldaten, auch getötete Taliban. Nach der jetzigen Rege-lung hätte es dazu kommen können, dass Staatsanwalt-schaften an 104 verschiedenen Landgerichten ermittelthätten. Das führt zu einer unklaren Situation für unsereSoldaten. Deswegen haben wir diesen Gesetzentwurfvorgelegt, der hoffentlich Ihre Unterstützung findenwird.
Zurzeit leisten jährlich rund 23 000 deutsche Solda-tinnen und Soldaten ihren Dienst in elf Einsätzen undMissionen in Europa, in Asien und in Afrika. Wenn mansich den Turnus der verschiedenen Einsatzkontingenteanschaut, dann erkennt man, dass sogar noch mehr als23 000 deutsche Soldaten betroffen sind, die an unter-schiedlichen Gerichtsstandorten Verfahren ausgesetztsein könnten. Wir orientieren uns nicht mehr wie bisheram Ort der Stationierung der Soldaten. Diese Sichtweisehat in den letzten Jahren im Grunde immer mehr an Ak-tualität verloren, weil unsere deutschen Soldaten immerhäufiger in Auslandseinsätzen ihren Dienst leisten. Wirorientieren uns an einer Konzentration der Kompeten-zen. Das ist in der heutigen Zeit auch richtig so.Meine Damen und Herren, im Ergebnis schaffen wirdamit Klarheit bezüglich der Zuständigkeit der Staatsan-waltschaft. Wir schaffen auch Klarheit bezüglich derZuständigkeit des Gerichts. Außerdem beheben wir dieUnklarheit bei der Bewertung der unterschiedlichen Le-benssachverhalte. Es war nämlich ein großes Problem,dass verschiedene Gerichte den gleichen Lebenssachver-halt unterschiedlich bewerten konnten. Dieses Problemlösen wir, indem wir die Sachkompetenzen konzentrie-ren. Dies ist richtig; das schulden wir unseren Soldatin-nen und Soldaten im Einsatz, meine Damen und Herren.
Aufgrund unserer Verantwortung gegenüber unserenSoldatinnen und Soldaten haben wir in den letzten dreiJahren maßgebliche Gesetzesvorhaben auf den Weg ge-bracht. Ich erinnere dabei an die Einsatzbetreuungskom-munikation, die wir für unsere Soldatinnen und Soldatenim Einsatz deutlich verbessert haben. Ich erinnere an dasEinsatzversorgungsgesetz, das die Situation unserer Sol-datinnen und Soldaten verbessert hat. Denken Sie nur an
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24384 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Dr. Patrick Sensburg
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die Weiterverwendung bei Wehrdienstbeschädigung ab30 Prozent; denken Sie daran, dass wir dies auch auf Zi-vilpersonal ausgedehnt haben. Denken Sie als weiteresBeispiel an die Hinterbliebenenversorgung für unsereSoldatinnen und Soldaten, die wir deutlich verbesserthaben.Wir kümmern uns um unsere Soldatinnen und Solda-ten. Das zeigt auch der vorliegende Gesetzentwurf. Wirsorgen für rechtliche Klarheit. Wenn unsere Soldatinnenund Soldaten im Ausland sind, wenn sie in Gefechte ver-wickelt werden, wenn gegen sie ermittelt wird, dannwollen wir Klarheit bei der Zuständigkeit der Gerichteund der Staatsanwaltschaften. Wir wollen die Sachkom-petenzen bündeln. Das erreichen wir mit diesem Gesetz.Mit § 11 a StPO schaffen wir einen Gerichtsstand beidem für die Stadt Kempten zuständigen Gericht. Damitist klar, wer zuständig ist. Wir konzentrieren hier die Be-fassung mit allen Straftaten, die von Soldatinnen undSoldaten der Bundeswehr im Auslandseinsatz begangenwerden. Dies ist im Kern richtig, weil wir eine Vielzahlvon Voraussetzungen berücksichtigen müssen, die beider Ermittlung gegen Soldatinnen und Soldaten eineRolle spielen, die aber grundsätzlich bei Gerichten sonicht bekannt sind. So verfahren wir schon bei denStaatsanwaltschaften. Wir haben Spezialzuständigkeitenfür Schwerpunktstaatsanwaltschaften beispielsweise inder Wirtschaftskriminalität, in der Korruptionsbekämp-fung, bei der Drogenkriminalität, im Dopingbereich undbei der Internetkriminalität. In Bezug auf diese Bereichehaben wir bereits Sachkompetenzen konzentriert. Des-wegen ist es folgerichtig, für den jetzt in Rede stehendenBereich Sachkompetenzen bei Staatsanwaltschaften zukonzentrieren – wir haben damit bisher gute Erfahrun-gen gemacht –, aber auch bei Gerichten; denn die bei ei-ner Staatsanwaltschaft konzentrierten Sachkompetenzensollten dann nicht wieder auf viele Gerichte verteilt wer-den.Denken Sie einmal daran, wie viele Rahmenbedin-gungen bei der Bewertung eines Sachverhalts beiAuslandseinsätzen zu berücksichtigen sind. Da sind dieRules of Engagement, die konkrete Befehlslage undviele andere Rahmenbedingungen, die für den Auslands-einsatz eine Rolle spielen, zu berücksichtigen. Die dafürnotwendigen Kompetenzen sind im Zweifel nicht bei je-dem Amts- und Landgericht vorhanden; da muss mansich erst einarbeiten. Das hat die Konzentration bei Ge-richten, wo sie stattgefunden hat, schon gezeigt. Wirwollen eine kompetente Beurteilung der Sachverhaltedurch die Gerichte. Deswegen ist eine Konzentration beieinem Gericht folgerichtig. Für den Freistaat Bayern hat-ten wir bereits die Konzentration in Kempten. Deswegenhaben wir uns für diesen Standort entschieden, um dieVoraussetzungen für funktionsfähige, sachkompetenteund schnelle Untersuchungen, aber auch für ebensolcheErmittlungs- und Gerichtsverfahren an diesem Gerichtzu schaffen.Ein – wie teilweise behauptet – Verstoß gegenArt. 101 unseres Grundgesetzes, wonach niemand sei-nem gesetzlichen Richter entzogen werden darf, isthierin nicht zu sehen. Wir haben hier kein Ausnahme-gericht, wie es manchmal behauptet wird, sondern wirkonzentrieren Kompetenzen. Es handelt sich um eineSondergerichtsbarkeit; das ist richtig. Sie ist zulässigund ist schon in vielen Bereichen geschaffen worden.Denken Sie an ärztliche Berufungsgerichte, Schifffahrts-gerichte, Richterdienstgerichte und Flurbereinigungs-gerichte. Angesichts dessen ist doch die Behauptung ab-wegig, wir würden für unsere Soldatinnen und Soldatenhier eine verfassungswidrige Gerichtskompetenz schaf-fen. Im Gegenteil: Wir schaffen etwas Folgerichtiges.Das sind wir unseren Soldatinnen und Soldaten auchschuldig.
Gerade vor dem Hintergrund unserer Vergangenheitmüssen wir mit dem Thema „Militär und Justiz“ meinesErachtens sehr sorgfältig umgehen. Deswegen schaffenwir mit dem Gesetz keine Militärjustiz. Wir wollennicht, dass Soldaten über Soldaten entscheiden. MeinesErachtens gebietet es sowohl der Respekt vor der freienJustiz als auch der Respekt vor den Soldaten, hier genauzu sein, Begrifflichkeiten nicht zu verwischen. Wir rich-ten Gerichte ein, die unabhängig sind.Wir haben Kompetenzen bei einem Gericht konzen-triert und eben keine Militärjustiz geschaffen. Wir sindin diesem Gesetzentwurf der historischen Bedeutung ge-recht geworden, indem wir Kompetenzen konzentrieren,aber keine Militärjustiz schaffen und keine Ausnahme-gerichte errichten. Wir erreichen an dieser Stelle für un-sere Soldatinnen und Soldaten Sicherheit. Wir bündelnFachkompetenzen. In absehbarer Zeit werden wir nachmehreren Verfahren erleben, dass sich diese Fachkompe-tenz in der Praxis auswirken wird.Wir haben ausreichend viele Verfahren; dies ist vonIhnen, Herr Kollege, nachgefragt worden. Die Antwortlautet, dass es in den letzten Jahren 167 Verfahren gab;im letzten Jahr 2011 hatten wir, glaube ich, 27 Verfah-ren.
Das ist nicht zu wenig, das ist deutlich ausreichend,um hier eine Konzentration der Kompetenzen zu schaf-fen. Dies sollten wir auch machen. Wir sollten hoffen,dass wir nicht mehr Fälle haben, sondern uns um die we-nigen Fälle sorgen, die wir zurzeit haben. Wir sollten unsauch die Chance gönnen, hier durch die Bündelung vonFachkompetenzen unseren Soldatinnen und Soldaten ge-recht zu werden.Ich danke Ihnen.
Jetzt hat das Wort der Kollege Christoph Strässer von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrter Herr Kollege Sensburg, Sie haben schoneinige Punkte angesprochen, die nach meiner Meinung
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Christoph Strässer
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sehr einfach zu widerlegen sind. Wir stimmen an einerStelle überein – das ist aber, glaube ich, keine besondereErkenntnis –, nämlich darin, dass die Soldatinnen undSoldaten, die für uns im Auslandseinsatz sind, ein faires,ein transparentes und ein schnelles Verfahren zu erwar-ten haben, wenn sie dann in der Situation sind, dass sieeinen gesetzlichen Richter bekommen, und dass ihreTatbestände ordentlich geregelt werden.
Das ist mein Eindruck nach den Diskussionen, die wirauch mit Sachverständigen hatten. Wir sind – das habeich auch im Rechtsausschuss gesagt – in diese Diskus-sion relativ offen hineingegangen, mit einer Offenheit,die auch Lösungen ermöglicht hätte, die aber mit diesemGesetz nicht geschaffen werden. Ich will dies an den dreioder vier zentralen Punkten, die Sie aufgeführt haben,begründen.Zum einen sagen Sie, eine Zentralisierung der Straf-verfolgung von vermeintlichen oder tatsächlichen Straf-taten von Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatzan einem Standort führe zu Transparenz und Übersicht-lichkeit des Gerichtsverfassungsrechts und des Strafpro-zessrechts. Genau das Gegenteil ist der Fall. Es bliebe– das haben die Sachverständigen sehr deutlich gesagt –genau bei der Zahl, die Sie genannt haben, nämlich beiüber 100 Fällen, wenn man den neuen § 11 a anwendenwürde. Ich kann die Zahlen, die Sie genannt haben, jetztnicht verifizieren. Der größte Teil davon würde jeden-falls nicht unter den Tatbestand des § 11 a StPO fallen,sondern er würde weiterhin bei den Tatortstaatsanwalt-schaften und -gerichten verfolgt werden; denn es handeltsich um sogenannte Delikte kleinerer und mittlerer Kri-minalität. Die Zuständigkeiten dafür verblieben nach Ih-rem eigenen Gesetzentwurf am Standort der Stationie-rung der Soldatinnen und Soldaten.
Sie würden also nicht nur keine Klarheit schaffen, son-dern durch die Schaffung eines neuen Tatbestandes eineweitere Verunsicherung herbeiführen, und das hilft imGrunde genommen niemandem. Schon deshalb kannman diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen.
Was die Staatsanwaltschaften angeht, ist darauf hin-zuweisen, dass Straftaten, die im Zusammenhang mitAuslandseinsätzen mit Einsatzbezug begangen werdenund beispielsweise unter das Völkerstrafrecht fallen,selbstverständlich wie bisher in der Zuständigkeit derGeneralbundesanwaltschaft bleiben. Das heißt, Sie ha-ben auch an dieser Stelle keine Erleichterung, sondern eskommt zu einer noch größeren Unübersichtlichkeit derZuständigkeitsregeln. Wir haben drei Zuständigkeiten,und das kann doch nicht ernsthaft zu einer Konzentrationführen, wie Sie sie vorhaben. Das ist, glaube ich, dervöllig falsche Weg. Deshalb können wir an dieser Stelleauch nicht mitmachen.Ein weiterer Punkt ist die Spezialisierung. Wenn es soist – ich unterstelle, dass die Sachverständigen uns dasdurchaus richtig dargelegt haben –, dass die Fälle, dienach § 11 a an einer zentralen Staatsanwaltschaft und beieinem zentralen Gericht angeklagt würden, eine mini-male Zahl darstellen, nämlich in den letzten Jahren we-niger als 20, dann erklären Sie mir bitte einmal, wie daeine Spezialisierung und Spezialkenntnisse entstehensollen. Das ist einfach eine falsche Einschätzung. Siewerden mit dieser Fallkonzentration keine Spezialzu-ständigkeiten begründen können. Bei allem, was Sie ge-nannt haben – Drogenkriminalität, Wirtschaftskriminali-tät –, geht es um Falldelikte. Da ist es in der Tat richtig,dass es Schwerpunktstaatsanwaltschaften gibt, und zwarnicht nur eine in einem einzigen Bundesland für die ge-samte Republik. Sie haben nicht begründet, warum dasausgerechnet hier erforderlich sein soll.Ich glaube, die Spezialisierung berührt nur einen klei-nen Teil des Problems. Eines sind Sie nicht angegangen:Ich bin sicher, dass Staatsanwälte sehr gut in der Lagesind, zum Beispiel das Wehrdisziplinarrecht oder dieRules of Engagement zu verstehen und anzuwenden; da-für sind sie ausgebildet. Wir Juristen wissen: Wir könnenfast alles, auch das. Uns ist aber immer wieder deutlichvor Augen geführt worden, dass die Probleme bei derSachverhaltsermittlung darin bestehen – das ist einKernproblem –, dass es keine Ermittlungstätigkeitendeutscher Staatsanwältinnen und Staatsanwälte oderRichterinnen und Richter im Ausland gibt, also dort, wodie Soldatinnen und Soldaten im Einsatz sind. Ich hättemir gewünscht, dass man in einem solchen Gesetzent-wurf zumindest ein Interesse daran hätte erkennen las-sen, eine Debatte mit den Partnerinnen und Partnern inden Ländern, in denen unsere Soldatinnen und Soldatenim Auslandseinsatz sind, zu führen und im VölkerrechtRegelungen zu verankern, die es ermöglichen, Ermitt-lungen vor Ort durchzuführen. Denn das hätte eine wirk-liche Erleichterung der Ermittlungstätigkeit zur Folge,im Gegensatz zu dem, was Sie hier vorschlagen. ElfFälle in drei Jahren werden nicht zu einer Konzentrationund einer Zuständigkeitsregelung führen, die die Kom-petenzen deutlich stärken. Davon müssen wir ausgehen,und deshalb gehen wir den Weg an dieser Stelle nichtmit.Der letzte Punkt ist für mich der krauseste: die feh-lende Begründung für den Standort Kempten. Ich habeüberlegt, ob es damit zu tun hat, dass ich selbst 1967 beider Ausbildungskompanie 13/8 in Kempten meineGrundausbildung absolviert habe. Aber die Fußstapfen,die ich dort hinterlassen habe, reichen wohl nicht aus,um zu begründen, dass dort jetzt eine Schwerpunkt-staatsanwaltschaft errichtet wird.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, was ist denn die sachliche Begründung für denStandort Kempten? Eine solche Begründung ist erforder-lich, wenn eine Zuständigkeit für das ganze Bundesge-biet geschaffen werden soll. Wir hatten Ansätze, dieSinn gemacht hätten. Es gab Überlegungen, ein Wehr-
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Christoph Strässer
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strafjustizzentrum in der Nähe des Bundesgerichtshofsin Leipzig oder in der Nähe der Bundesanwaltschaft inKarlsruhe zu etablieren. Wenn man es tatsächlich an ei-nem Standort konzentrieren wollte, der für die Soldatin-nen und Soldaten sinnvoll ist: Warum dann in GottesNamen nicht in Potsdam, wo das Einsatzführungskom-mando der Bundeswehr alle Auslandseinsätze plant undführt?
Das hätte irgendwie noch Sinn gemacht; aber der Stand-ort Kempten kann aus meiner Sicht – außer mit einerWahlkampfhilfe für wen auch immer dort unten – defini-tiv nicht begründet werden.Ich glaube, es gibt ausreichend Gründe, nicht zu ver-suchen, die Verfahren an einem Standort zu konzentrie-ren; die Argumente dafür reichen nicht aus. Jenseits die-ses Aspekts würde ich gerne eine Debatte über eineMilitärstrafgerichtsbarkeit führen; vor dem Hintergrundunserer Vergangenheit sollten wir ganz vorsichtig undsensibel darüber diskutieren.Ich glaube, mit dem Gesetz, dessen Entwurf Sie vor-gelegt haben, wird keines der von Ihnen angegebenenZiele erreicht. Deshalb können wir ihm in der Gesamt-heit nicht zustimmen. Ich habe gesagt: Wir sind mit einerskeptischen Offenheit in dieses Verfahren hineingegan-gen. Übrig geblieben ist eine offene Skepsis, und sie istso groß, dass eine Zustimmung der SPD zu diesem Ge-setzentwurf nicht denkbar ist.Herzlichen Dank.
Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Stephan
Thomae das Wort.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen undKollegen! Herr Kollege Strässer, Sie haben gerade ebendie Frage gestellt, für wen da Wahlkampfhilfe betriebenwerden solle. Sie hätten mit einem einfachen Blick inden Kürschner feststellen können, dass mein Wahlkreisdas Oberallgäu ist und somit Kempten zu meinem Wahl-kreis gehört. Ich hoffe aber, dass Sie mich jetzt nicht alsbefangen ablehnen werden. Ich spreche heute zu diesemThema, das für mich besonders angenehm ist, weil ichden Wahlkreis Oberallgäu hier im Deutschen Bundestagvertrete. Die Justizbehörden in meiner HeimatstadtKempten im Allgäu sollen in Zukunft über Straftatenentscheiden, die von Soldaten der Bundeswehr im Aus-landseinsatz begangen worden sind. Die Wahl diesesStandortes bestätigt nicht nur die hervorragende Arbeitder Kemptener Justizbehörden; sie bedeutet auch einenImagegewinn für die Stadt Kempten. Darüber freue ichmich natürlich sehr, und das ist auch völlig legitim.Soldaten im Auslandseinsatz befinden sich in einerSondersituation; das müssen wir als Gesetzgeber aner-kennen. Ich habe mir selber vor etwa zwei Jahren bei ei-nem Truppenbesuch in Afghanistan ein Bild davon ma-chen können, unter welch schwierigen Bedingungen dieSoldatinnen und Soldaten leben und arbeiten. In Afgha-nistan befinden sie sich in einer ständigen Gefahren-situation. Sie halten sich ständig im Lager auf, weil siees kaum verlassen können. Sie sind mit Tod und Verlet-zungen von Kameraden konfrontiert und sind monate-lang von Partnern, Kindern und Familie getrennt. Dasalles sind natürlich keine Entschuldigungen für die Be-gehung von Straftaten. Natürlich müssen für diese Straf-taten genau die gleichen rechtlichen Maßstäbe geltenwie für andere Straftaten. Das zeigt, wie wichtig es ist,dass sich die zuständigen Staatsanwälte und Gerichte mitden Rahmenbedingungen der Soldaten im Auslandsein-satz befassen, und das tun die Gerichte in Kempten be-reits.
Herr Kollege Strässer, die Kemptener Justiz ist bereitsfür Soldaten zuständig, die von bayerischen Standortenaus in den Auslandseinsatz entsandt werden und Strafta-ten begehen. Wir haben also in Kempten – wo Sie ge-nauso wie ich einen Teil Ihres Wehrdienstes geleistethaben – mehrjährige Erfahrung mit der Behandlung sol-cher Straftaten. Diese Kompetenz soll – so sieht es derGesetzentwurf von Schwarz-Gelb vor – für alle deutscheSoldaten in Auslandseinsätzen genutzt werden. Dasheißt, in Zukunft müssen sich alle deutschen Soldaten,die straffällig werden, für bestimmte Straftaten vorKemptener Gerichten verantworten. Durch diese Erwei-terung der Zuständigkeiten können wir bereits vorhande-nes Wissen und vorhandene Ressourcen optimal nutzen.Deshalb halte ich es für die richtige Entscheidung, dassdieser Gerichtsstand nach Kempten kommt.Nicht nur die Erfahrungen der Kemptener Justiz spre-chen für diese Entscheidung; da stimme ich meinemVorredner Patrick Sensburg absolut zu. Vielmehr führteine klare Aufgabenverteilung der Gerichte dazu, dassStraftaten schneller aufgeklärt werden. Gerade wegender schwierigen Bedingungen bei Auslandseinsätzenmüssen Verzögerungen bei der Strafverfolgung in Zu-kunft verhindert werden; denn solche Verzögerungen be-deuten für die Betroffenen eine zusätzliche Belastung,aber auch für die Geschädigten, die ebenfalls eineschnelle Behandlung der Fälle wollen.Auf die Idee, eine Schwerpunktstaatsanwaltschaft zuerrichten, sind übrigens nicht nur wir gekommen. Schon2010 haben die Justizminister der Länder auf einer Jus-tizministerkonferenz die Forderung erhoben, dass einezentrale Zuständigkeit aufseiten der Gerichte und Staats-anwaltschaften geschaffen werden soll, um eine effi-ziente und zügige Bearbeitung der Ermittlungs- undStrafverfahren zu gewährleisten. Diesem Wunsch derLänder kommen wir mit unserem Gesetzentwurf nunnach.Ich räume offen ein – ich schäme mich deswegenauch nicht –, dass ich Kempten ins Spiel gebracht
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Stephan Thomae
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und mich dafür eingesetzt habe. Die Gründe habe ich be-reits genannt: Wir in Bayern besitzen dort bereits die nö-tige Kompetenz. Es ist richtig, dass auch Leipzig im Ge-spräch war. Aber die Justizbehörden im FreistaatSachsen haben das abgelehnt. Deswegen mussten wirauf die Suche gehen, um herauszufinden, wo sonst einesolche Kompetenz gebündelt werden kann. Kempten botsich an, weil wir in Bayern bereits eine solche Kompe-tenz besitzen.Ich halte es für sehr wichtig, noch einmal zu betonen,dass es sich nicht um die Einführung eines Sonderge-richts handelt. Es geht darum, Zuständigkeiten undKompetenzen sinnvoll zu bündeln. Wir haben das bereitsin vielen anderen Bereichen getan – es ist schon erwähntworden –: bei organisierter Kriminalität sowie bei Wirt-schafts- oder Computerstraftaten. Es geht also darum,für bestimmte Straftaten die Kompetenzen zu bündeln.Es wird kein Sonderrecht und keine Sondergerichte ge-ben. Es gilt das ganz normale Strafrecht, es ermittelnganz normale zivile Staatsanwälte, und es entscheidenganz normale Richter am Amts- und Landgericht. FürKempten ist diese Aufgabe eine gute Wahl. Ich wünscheden Kemptener Justizbehörden alles Gute für die Aus-übung der neuen Aufgabe.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Paul Schäfer von der
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Der von der Regierung vor-gelegte Gesetzentwurf wird nicht gebraucht. Wegen desEingriffs in Länderkompetenzen ist er verfassungsrecht-lich problematisch. Damit wird auch das eigentliche Pro-blem nicht beseitigt: Wie können strafrechtliche Ermitt-lungen bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr durch-geführt werden? Außerdem wird die Justiz in eine nichtangemessene, ja, gefährliche Nähe zum Militär gerückt.Es geht hier nicht um Militärjustiz – das behaupte ichnicht –; aber es geht um eine Konstruktion, die nichtträgt und die gefährlich ist. Deshalb lehnen wir den vor-liegenden Gesetzentwurf entschieden ab.
Seit Jahren beschwören die Betreiber dieses Geset-zesvorhabens eine Regelungslücke, einen Regelungsbe-darf bei der Verfolgung und Prüfung möglicher Strafta-ten im Rahmen von Auslandseinsätzen der Bundeswehr.Sie haben keine triftigen Gründe nennen können. Dashat auch die Anhörung des Rechtsausschusses gezeigt.Weder gab es ein Kompetenzwirrwarr bei den Länder-staatsanwaltschaften, noch waren die Verfahren unzu-mutbar lang.Nehmen wir Ihr Lieblingsbeispiel, den Checkpoint-Fall im August 2008, bei dem wegen des Verdachts aufTotschlag gegen einen Soldaten ermittelt wurde. Er hattean einem Checkpoint in Afghanistan Zivilisten erschos-sen. Ja, das Verfahren hat länger gedauert. Das lag abernicht an inkompetenten Staatsanwälten und Richtern, diesich im Völkerstrafrecht nicht auskennen. Es lag daran,dass es nicht möglich bzw. nicht vorgesehen ist, ad-äquate Ermittlungsverfahren vor Ort, in Afghanistan,durchzuführen. Deshalb hat man, auch im Interesse desAngeklagten, den Tathergang in Deutschland aufwendigrekonstruiert. Ich finde, es liegt gerade im Interesse derSoldatinnen und Soldaten, dass gründlich und objektivermittelt wird. In diesem Fall führte das zur Einstellungdes Verfahrens.Das kann man nicht als Beleg dafür nehmen, dassman eine neue Regelung braucht. Nach Lage der Dingewürde dieser Fall ohnehin nicht bei der Staatsanwalt-schaft Kempten landen,
wie im Gesetz vorgesehen, sondern bei der Generalbun-desanwaltschaft. Das unterschlagen Sie hier ständig. Dasfolgt aus den Grundsätzen, die die Generalbundesanwäl-tin 2010 in der Sache „Oberst Klein/Bombenangriff beiKunduz“ aufgestellt hat. Vereinfacht gesagt: Wenn es umVölkerstrafrecht und bewaffnete Konflikte geht, ist dieGeneralbundesanwaltschaft am Zuge und nicht Kemp-ten.Und was soll in Kempten bleiben? Bagatelledelikteohne direkten Einsatzbezug, also Diebstahl, Beleidigun-gen, Verkehrsunfälle? Dafür braucht man weder ein ganzbesonderes Know-how noch eine Spezialisierung. Dannbleiben noch die Ermittlungsverfahren, in denen es umEingriffe in Rechte Dritter geht bei Einsätzen, die unter-halb der Schwelle des bewaffneten Konflikts liegen;Beispiel: Bosnien nach dem Friedensschluss von Day-ton. Sicherlich, auch hier gibt es Einsatzregeln, die mankennen muss, die auch ein Staatsanwalt kennen muss. ImWesentlichen geht es aber darum – wie in Deutschland–, ob der Einsatz von Schusswaffen in einer konkretenSituation notwendig und legitim war. Dafür brauchenwir keinen Sondergerichtsstand. Das können auch dieStaatsanwaltschaften der Länder erledigen.
Warum wird dieser Gesetzentwurf dennoch vorge-legt? Ein solches Gesetz wird, wie gesagt, nicht ge-braucht. Vorgetragen wurde, man brauche Richter undStaatsanwälte, die mit dem Soldatischen vertraut sind,die sich besonders gut in militärische Entscheidungssitu-ationen einfühlen können. Worauf das hinausläuft, istklar: auf eine Handvoll Staatsanwälte in Kempten, die instetigem engem Austausch mit der Bundeswehr stehen.Sie sollen ermitteln und niemand sonst. Dadurch entstehteine strukturelle Nähe, die nicht angemessen, ja, gefähr-lich ist; denn auch Juristen sind nicht immun gegen orga-
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Paul Schäfer
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nisationssoziologische und organisationspsychologischeProzesse. Wir sollten nicht so tun, bitte sehr, als obStaatsanwälte und Richter übernatürliche Wesen seien,
denen Korpsgeist völlig fremd ist. So ist das.
Den Angehörigen von Streitkräften würde mit diesemGesetz eine juristische Sonderstellung im Vergleich zuanderen Bevölkerungsgruppen gewährt werden. Versu-che, die in diese Richtung zielen, hat es seit den 50er-Jahren immer wieder gegeben. Sie sind mit Blick auf diedeutsche Geschichte abgewiesen worden. Es sollte dabeibleiben.Richtig ist: Soldatinnen und Soldaten haben einenAnspruch auf solide, unvoreingenommene, kompetenteKlärung der gegen sie erhobenen Vorwürfe. Dazu würdedieses Gesetz aber nicht beitragen. Es geht auch – dazuhaben Sie leider nichts gesagt, lieber Kollege Sensburg –um Gerechtigkeit gegenüber den Opfern von Gewaltta-ten. Hier darf keine Schieflage entstehen. Aus genau die-sem Grund lehnen wir den Gesetzentwurf ab.
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat das Wort die Kollegin Katja Keul von Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich kann Sie beruhigen: Ich komme nicht ausKempten.
Ich habe noch eine weitere gute Nachricht – die gutenNachrichten zuerst –: Den zweiten Teil des Gesetzent-wurfs zur Stärkung der Rechtssicherheit und der Opfer-rechte im Strafverfahren tragen wir mit.
Es ist sinnvoll, dass Menschen, die im Ausland Opfer ei-ner Straftat geworden sind, künftig bei ihrer Staatsan-waltschaft zu Hause Anzeige erstatten können.
Jetzt kommt die schlechte Nachricht.
Die Einführung einer Bundeswehrsonderjustiz in Kemp-ten ist nicht nur nutzlos, sondern auch schädlich. Daswill ich Ihnen im Folgenden an fünf Punkten aufzeigen.Erstens geht es Ihnen nach der Gesetzesbegründungum die Zuständigkeit der Staatsanwaltschaften. Sie än-dern hier aber die Zuständigkeit des Gerichtes. Die Ein-richtung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften auf Lan-desebene wäre schon jetzt ohne Weiteres möglichgewesen. Dafür bedarf es keiner Sonderjustiz in Kemp-ten.
Schon jetzt hat das Bundesland Bayern alle Verfahrengegen Soldaten wegen Auslandstaten in Kempten ge-bündelt. Einen Aufwuchs von Kompetenz durch vielevergleichbare Verfahren gibt es dort allerdings nicht, dadie Zahl der Fälle viel zu gering ist.
Zweitens knüpfen Sie für die Zuständigkeit des Ge-richts am falschen Kriterium an. Ihr Anknüpfungspunktist nicht eine bestimmte Rechtsmaterie, sondern die Zu-gehörigkeit des Verdächtigen zu einer besonderen Perso-nengruppe. Der Vergleich zur Wirtschaftskriminalitäthinkt deswegen gewaltig. Wir haben in Deutschland ausguten Gründen keine besondere Strafgerichtsbarkeit fürbestimmte Berufsstände mehr. Das ist gut so, und dassoll so bleiben; denn vor Gericht sind alle Bürger gleich.
Drittens wird das eigentliche Problem nicht gelöst.Das ist nicht die Spezialisierung des Gerichts, sonderndie schwierige Ermittlungsarbeit am Tatort. Die Ermitt-lungsbehörden des Staates, in dem die Straftat begangenworden ist, sind meistens durch Immunitätsabkommenbei der Verfolgung gehemmt. Auch der Feldjäger vor Ortist kein Ersatz für die Kripo. Er hat weder eine entspre-chende Ausbildung noch die nötigen Befugnisse, und erist außerdem selbst Angehöriger der Truppe. Er kann vorOrt keine Beweismittel beschlagnahmen oder Zeugenzum Verhör laden. Das erschwert die Beweisführung vordeutschen Gerichten. Sachverhalte müssen nachgespieltwerden, und wichtige Zeugen sind nicht greifbar. Dasmacht die Verfahren kompliziert und unbefriedigend.Daran ändert sich aber auch in Kempten gar nichts.
Viertens steht außer Frage, dass Ermittlungsverfahrenfür Betroffene immer eine Belastung sind. Das gilt auch,aber nicht nur, für Bundeswehrsoldaten. Die Behaup-tung, die Verfahrensdauer sei in diesen Fällen besonderslang, lässt sich statistisch nicht halten. In der Regel dau-ern die Verfahren nicht länger als in ähnlich gelagertenFällen im Inland. Trotz dieser Belastung für die Betrof-fenen darf die Justiz also keine Sondergerichte oderSchnellverfahren für einzelne Gruppen einführen. DieUnabhängigkeit der Justiz ist ein hohes Gut; das solltenwir nicht so einfach aufgeben.Fünftens wird die neue Zuständigkeit kaum einensinnvollen Anwendungsbereich finden. Alltagskrimina-lität von Diebstahl bis Beleidigung im Ausland kannnach wie vor am Wohnort des Beschuldigten verhandeltwerden, und das sollte auch so bleiben. Hier wird alsoeine überflüssige Gerichtstandalternative geschaffen.
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Katja Keul
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Fälle mit Bezug zum Völkerstrafgesetzbuch, bei de-nen es um mögliche Kriegsverbrechen geht, werden da-gegen ohnehin von der Bundesanwaltschaft angeklagt.Das bezieht sich auf alle Straftaten, die im Krieg began-gen werden. Bezogen auf die Bundeswehr heißt das kon-kret: Afghanistan. Dort geht man seit dem Tod von100 Zivilisten in 2009 richtigerweise von einem bewaff-neten Konflikt aus. Damit ist für weitere Verdachtsfällegrundsätzlich die Zuständigkeit des Generalbundesan-walts und damit der Oberlandesgerichte gegeben. Wersich mit dem umfangreichen Bericht des Kunduz-Unter-suchungsausschusses befasst, wird auch hier feststellen,dass in erster Linie die Sachverhaltsermittlung vor Ortdas Problem war und nicht die Rechtsfindung.Fazit. Sie erwecken mit Ihrer Gesetzesänderung denEindruck, ein Richter oder eine Richterin, der oder diesich mit der Bundeswehr nicht auskennt, könne keinenkomplizierten militärischen Sachverhalt rechtlich würdi-gen. Ein wenig mehr Vertrauen in die deutsche Justizhätte ich Ihnen schon zugetraut.
Unsere Richterinnen und Richter sind als Volljuristendazu ausgebildet, Fälle, die das Leben schreibt, in ihrerganzen Vielfalt unter einem Tatbestand zu subsumieren.Dabei brauchen sie keinen Führerschein, um einen Ver-kehrsunfall zu beurteilen, und sie müssen nicht verheira-tet sein, um Familienrecht zu sprechen. Die Perspektivevon außen schützt auch stets vor zu großer Nähe und för-dert eine objektive Urteilsfindung. Mit Ihrem Gesetzent-wurf ist niemandem gedient, schon gar nicht den betrof-fenen Soldatinnen und Soldaten. Deswegen werden wirdiesen Gesetzentwurf ablehnen.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes füreinen Gerichtsstand bei besonderer Auslandsverwen-dung der Bundeswehr. Der Rechtsausschuss empfiehlt inseiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11182,den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache17/9694 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-setzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitions-fraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionenangenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? –Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit gleichemStimmenverhältnis wie zuvor angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b so-wie den Zusatzpunkt 7 auf:16 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten KaiGehring, Ekin Deligöz, Krista Sager, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKonsequenzen aus dem nationalen Bildungs-bericht ziehen – Bildungsblockaden aufbre-chen und mehr Teilhabe ermöglichen– Drucksache 17/11074 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung Ausschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für TourismusAusschuss für Kultur und Medienb) Beratung des Antrags der Abgeordneten KaiGehring, Markus Kurth, Katja Dörner, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENZusammen lernen – Recht auf inklusive Bil-dung bundesweit umsetzen– Drucksache 17/11163 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung Ausschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendHaushaltsausschussZP 7 Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Rosemarie Hein, Dr. Ilja Seifert, Diana Golze,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEGemeinsam lernen – Inklusion in der Bildungendlich umsetzen– Drucksache 17/11143 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung Ausschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendHaushaltsausschussInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die-sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu nehmen. Gibtes Widerstand dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann istdas so beschlossen.1)Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 17/11074, 17/11163 und 17/11143 andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann ist das so beschlossen.1) Anlage 12
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:Beratung des Antrags der BundesregierungFortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-scher Streitkräfte an der AU/UN-Hybrid-Ope-ration in Darfur auf Grundlageder Resolution 1769 des Sicherheitsra-tes der Vereinten Nationen vom 31. Juli 2007und folgender Resolutionen, zuletzt 2063
vom 31. Juli 2012
– Drucksache 17/11036 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss RechtsausschussVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungHaushaltsausschussgemäß § 96 GONach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache wiederum eine halbe Stunde vorgesehen.Trifft das auf Ihr Einverständnis? – Das ist der Fall.Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner dem Bundesaußenminister, Dr. Guido Westerwelle,das Wort.
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-wärtigen:Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Kolleginnen und Kollegen! Der Darfur-Konflikt isteine der furchtbarsten Katastrophen des letzten Jahr-zehntes. Auch wenn sich die Medien im Augenblickvielleicht weniger damit befassen, so müssen wir unsdoch ernsthaft und auch nachhaltig mit dieser Lage aus-einandersetzen.Nach Schätzungen der Vereinten Nationen fandenzwischen 2003 und 2008 in diesem Konflikt 300 000Menschen den Tod. 2,5 Millionen Menschen waren Op-fer von Flucht und Vertreibung. Der Konflikt hat den Su-dan weiter destabilisiert, und er hat sich zeitweise auchauf die Nachbarländer, Tschad und die Zentralafrikani-sche Republik, ausgeweitet.UNAMID – das Mandat, dessen Verlängerung wirheute beantragen und vorschlagen – wird von den Ver-einten Nationen und der Afrikanischen Union gemein-sam geführt. Unser Engagement ist gewissermaßen einunterstützendes Engagement. Deutschland beteiligt sichan UNAMID derzeit mit zehn Soldaten, die im UNA-MID-Hauptquartier eingesetzt sind. Außerdem leistenderzeit vier deutsche Polizisten Dienst im Rahmen dieserMission.Ich selbst konnte mir vergangenes Jahr ein Bild vonden äußerst herausfordernden Bedingungen vor Ort ma-chen. Deswegen möchte ich mir erlauben, zu sagen – ichbin sicher, das kann ich im Namen des ganzen Hausestun –: Für den wichtigen Dienst, den unsere Soldatenund Polizisten dort in einem wirklich sehr schwierigen,auch persönlich sehr fordernden Umfeld leisten, gebührtihnen unser Respekt und unser Dank.
UNAMID – das wissen wir alle – bleibt eine schwie-rige Mission. Ich möchte weder die Anfangsschwierig-keiten verschweigen noch die Probleme, die mit derMission verbunden sind, kleinreden. UNAMID ist im-mer noch mit diesen Problemen konfrontiert. Die huma-nitäre Lage bleibt ausgesprochen schwierig: 1,7 Millio-nen Menschen sind auf Nothilfe angewiesen.Deutschland hat allein in 2012 humanitäre Hilfe in Höhevon 4,2 Millionen Euro geleistet. Die Sicherheitslagebleibt angespannt. Immer wieder flammen Kämpfe aufzwischen Rebellen und Truppen der sudanesischen Re-gierung, aber auch zwischen den Rebellengruppenselbst.Die Zusammenarbeit mit Khartoum bleibt schwierig.Visa- und Bewegungsfreiheit für das UNAMID-Personalwerden eingeschränkt. Das kann nicht ignoriert werden.Sie wissen, dass es in Khartoum in den letzten Wochenund Monaten auch noch ganz andere Themen gegebenhat, auf die ich heute allerdings nicht eingehen will.Aber das ist gewissermaßen auch der politische Rahmen,in dem wir diese Mission betreiben und die Debatteheute führen.Natürlich bleibt die politische Lage problematisch.Eine Lösung des Darfur-Konflikts steht noch aus, auchweil das im vergangenen Jahr ausgehandelte Friedensdo-kument von Doha noch immer nicht von allen anerkannt,geschweige denn umgesetzt wird. Die Umsetzung diesesFriedensdokuments geht zwar voran, aber aus unsererSicht zu langsam.Durch UNAMID konnte der Darfur-Konflikt wenigs-tens eingedämmt werden. Die Gewalt ist zurückgegan-gen. Flüchtlinge kehren zurück, und die Menschen inDarfur haben jetzt ein Mitspracherecht, zum Beispiel inder regionalen Verwaltung. Das klingt in unseren Ohren,wenn wir das hier debattieren, nicht nach viel. Wennman dort gewesen ist und mit den Menschen gesprochenhat, dann weiß man aber, wie wertvoll diese Verbesse-rungen sind und wie viel das alles auch für die Men-schen bedeutet. Auf diesen ersten Erfolgen – von mehrkann man nicht reden – wollen wir weiter aufbauen.UNAMID bleibt also als stabilisierendes Element fürDarfur unverzichtbar. Mit UNAMID können wir die hu-manitäre Versorgung der Menschen weiter unterstützen.Mit UNAMID können wir den Schutz der Bevölkerungweiter organisieren. Mit UNAMID können wir die Si-cherheitslage in Darfur weiter verbessern. Nur mit UN-AMID können wir die politische Arbeit für ein Ende derKrise weiter flankieren. Das ist der Grund, warum dieBundesregierung an der Mission festhält. Wir wollen na-türlich weiter daran arbeiten, die Umsetzung des Man-dats zu verbessern. Aber das Mandat an sich ist aus un-serer Sicht sinnvoll. Es sollte vom Deutschen Bundestagauch verlängert werden.
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Bundesminister Dr. Guido Westerwelle
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Die Mission verfügt über ein robustes Mandat nachKap. VII der UN-Charta. Das ist aus unserer Sicht auchnötig; denn auch wenn es unsere Landsleute glücklicher-weise nicht getroffen hat – UNAMID selbst ist immerwieder das Ziel von Angriffen gewesen. Seit Beginn ha-ben 118 Angehörige der Mission ihr Leben verloren. Al-lein in diesem Monat kamen fünf UNAMID-Soldaten,vier nigerianische Soldaten und ein südafrikanischerSoldat, durch Angriffe ums Leben. Wir verurteilen ge-meinsam diese Gewalt auf das Schärfste.Mit unserem Beitrag zu UNAMID stärken wir afrika-nische Peacekeeping-Fähigkeiten. Wir unterstützen dieAfrikanische Union darin, ihre Verantwortung für die Si-cherheit in Afrika wahrzunehmen. Zu unseren militäri-schen und polizeilichen Beiträgen kommt der finanzielleBeitrag, den Deutschland zur Mission leistet. Allein indiesem Jahr waren das 120 Millionen US-Dollar. DieBundesregierung fördert Projekte zur Unterstützung derArbeit von UNAMID. Dazu gehören die Ausbildungafrikanischer Soldaten und Polizisten am Kofi AnnanTraining Centre ebenso wie die Unterstützung des Media-tionsteams von Afrikanischer Union und Vereinten Na-tionen.Für die Bundesregierung möchte ich bei der Einbrin-gung dieses Mandates die inhaltlich unveränderte Fort-setzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streit-kräfte an dieser Hybridoperation in Darfur beantragen.Im letzten Jahr wurde das Mandat für die deutsche Betei-ligung an UNAMID in großer Geschlossenheit von vierFraktionen des Deutschen Bundestages getragen. Bei al-len Schwierigkeiten hat UNAMID auch in diesem Jahr,so meinen wir, Geschlossenheit und Unterstützung ver-dient. Erst recht haben unsere Landsleute, die in Darfurihren schwierigen Dienst tun, die starke Rückendeckungdieses Hohen Hauses verdient. Im Namen der Bundesre-gierung bitte ich Sie um Zustimmung zu diesem Mandat.Ich füge hinzu: Ich glaube, eine große Geschlossen-heit wäre eine gute und wichtige Unterstützung desMandates, aber vor allem auch der Frauen und Männer,die in diesem Augenblick in der Region, im Land sindund die eine wirklich aufopferungsvolle Arbeit leisten.Wer einmal dort gewesen ist, der weiß, unter welchenUmständen die Arbeit dort geleistet wird. Erlauben Siemir, jenseits des Politischen, diesen Zusatz: Das nötigtwirklich jedem viel Respekt ab.Vielen Dank.
Für die SPD spricht jetzt der Kollege Christoph
Strässer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Dem Respekt, Herr Außen-minister, den Sie denjenigen erweisen, die vor Ort imEinsatz sind, den Soldatinnen und Soldaten, den Polizis-tinnen und Polizisten, aber auch den zivilen Helferinnenund Helfern, schließe ich mich ausdrücklich an.
Ich würde mir wünschen, meine Damen und Herren,dass sich dieser Respekt demnächst auch darin aus-drückt, dass Debatten über so wichtige Fragen wie diesehier zu anderen Zeiten geführt werden als jetzt.
Wir alle diskutieren über dieses Thema, über Darfur,seit sehr vielen Jahren. Das UNAMID-Mandat existiertseit genau fünf Jahren. Zuvor, seit 2004, gab es bereitseine andere Mission, AMIS. Sie ist bis 2007 aktiv gewe-sen.Wir wissen, die Zahlen sind erschreckend: 300 000 Toteund mehr als 2 Millionen Flüchtlinge. Das Schlimme andieser ganzen Situation ist, dass ein großer Teil der2,5 Millionen Flüchtlinge seit fünf, sechs, sieben, achtJahren in Flüchtlingscamps ausharren muss, in Camps,die eine Dimension angenommen haben, für die sie nichtgedacht waren. In einem Camp, das ich selber mehrfachbesucht habe, Abu Shok in der Nähe von al-Faschir, unddas vom Deutschen Roten Kreuz für 15 000 Flüchtlingekonzipiert wurde, leben mittlerweile mehr als 50 000Flüchtlinge.Ich habe die Uhrzeit, zu der diese Debatte stattfindet,auch deshalb erwähnt, weil ich den Eindruck habe, dassDarfur mehr und mehr zu einem vergessenen Konfliktwird und mehr und mehr aus dem Blickpunkt der Öffent-lichkeit verschwindet.
Ich finde, die Menschen, um die es hier geht, haben dasnicht verdient. Deshalb sollten wir uns auch weiterhinsehr engagiert in dieses Thema einmischen und sehen,dass wir hier in absehbarer Zeit vernünftige Lösungenzustande bringen.
Sie haben es angesprochen: Die Situation ist in denletzten Wochen und Monaten nicht einfacher geworden.Die Vereinten Nationen sagen zwar, es habe in den letz-ten Jahren, also bis zu Beginn des Jahres 2012, Verbesse-rungen der Sicherheitssituation und auch Verbesserun-gen der Versorgungssituation gegeben; aber das ist nurdie eine Seite der Medaille. Die andere Seite der Me-daille ist, dass die Gewalt in diesem Jahr, 2012, wieder– ich sage es ganz deutlich – mit voller Brutalität zu-schlägt.Es gab gerade in den letzten Tagen und Monaten wie-der Attentate auf Flüchtlingslager und Blauhelmsolda-ten. In diesem Oktober sind 17 Blauhelmsoldaten bei ei-ner hinterhältigen Attacke getötet worden. Sie waren im
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Christoph Strässer
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Einsatz, um einen Angriff auf ein Flüchtlingslager auf-zuklären, und sind dabei ums Leben gekommen. Ichglaube, dass man das zur Kenntnis nehmen muss unddass all dies bei unseren Entscheidungsfindungen eineganz wichtige Rolle spielen muss.Ich frage mich – ich erwarte hier eine breite Diskus-sion –, ob das, was UNAMID und andere in Darfur inden letzten Jahren erreicht haben, wirklich ausreichendist. Ich sage es ganz offen und deutlich: Ich habe denEindruck – ich glaube, das müssen wir uns selbstkritischeingestehen –, dass das nicht so ist. Ich denke nicht, dasswir sagen können: Im Moment ist UNAMID eine Er-folgsgeschichte. – Dergleichen zeichnet sich aus meinerSicht leider Gottes auch nicht ab.Wir haben gestern im Ausschuss für Menschenrechteund Humanitäre Hilfe eine Anhörung über UN-manda-tierte Friedensmissionen durchgeführt. Dabei wurdeauch die Frage gestellt, ob es eigentlich Kriterien dafürgibt, wann eine UN-mandatierte Mission erfolgreich istund welche Evaluierungsmöglichkeiten es hierfür gibt.Das Ganze ist sehr schwierig, auch international. AlleSachverständigen haben gesagt: UNAMID ist eines derMandate, die man, jedenfalls gegenwärtig, nicht als er-folgreich ansehen kann. – Deshalb müssen wir uns übereine ausführliche, ehrliche und offene Evaluation des-sen, was in den letzten Jahren dort passiert ist, Gedankenmachen.
Ich glaube, dass wir diese Diskussion auch mit Blickauf unsere Verantwortung für diejenigen brauchen, diedort aktiv sind.Ich sage noch einmal: Die Zahl unserer Einsatzkräftevor Ort – zehn Soldatinnen und Soldaten und vier Poli-zisten – ist sehr klein. Man könnte diese Zahl ja eigent-lich vernachlässigen. Meine Güte, warum reden wir überso etwas? Ich sage aber auch: Diese Personen zeigendort einen hervorragenden Einsatz, und das mit einerAusrüstung, mit der sie oftmals nicht in der Lage sind,die Funknetze zu bedienen, sodass sie sich ihre eigenenFunkgeräte kaufen müssen, um dort miteinander zukommunizieren. Wenn wir diesen Einsatz ernst nehmen,dann müssen die Leute, die dorthin geschickt werden,bitte schön auch so ausgestattet werden, dass sie ihrenJob machen können. Das tun wir im Moment nicht. Da-ran muss gearbeitet werden.
Nicht dass ich hier falsch verstanden werde: Die Ar-beit, die diese 14 Menschen gegenwärtig leisten, istwirklich aller Ehren wert. Sie brauchen unsere Unter-stützung. Ich glaube, jenseits aller Diskussionen, Pro-bleme und Differenzen, die wir haben, sollten wir in die-sem Hohen Hause klar erkennen: Das sind diejenigen,die für uns viele gute Erfahrungen sammeln und einegute Arbeit leisten. Wir sollten sie an dieser Stelle re-spektieren und unterstützen.Ich will aber auch sagen, dass wir sehr massiv darübernachdenken, wie lange ein solches Mandat hier in die-sem Hohen Hause immer wieder unverändert – ich sagedas jetzt einmal etwas flapsig, obwohl das nicht ange-messen ist – durchgewunken werden kann.Ich habe es angedeutet: Die Erfolgsbilanz lässt zuwünschen übrig. Die Befriedung der Region gelingt nursehr rudimentär. Auch die Bemühungen um die Frie-densabkommen – Sie haben das angesprochen –, für diedie Implementierung durch UNAMID ebenfalls erfolgensoll, gehen nur sehr langsam voran. Das Darfur PeaceAgreement von 2006 ist im Wesentlichen Makulatur.Eine einzige Rebellenorganisation hat sich dieser Ver-einbarung angeschlossen. Auch die Vereinbarungen ausdem letzten Jahr in Doha harren einer Umsetzung.Ich habe ein wenig Hoffnung: Gestern wurde vomUNAMID-Einsatzkommando mitgeteilt, dass auch dieJEM, die größte Rebellengruppe in Darfur, in Verhand-lungen mit der Regierung in Khartoum steht, um diesemFriedensabkommen möglicherweise beizutreten. Daswäre fast schon ein Quantensprung in der Entwicklungin Darfur.Ich möchte auch darauf hinweisen – das ist vielleichtder politische Grund, warum auch wir weiterhin zu die-sem Mandat stehen und ihm zustimmen werden –, dassdie jetzige Beendigung dieses Mandats für die Stabilitätin der Region fatale Signale aussenden würde. DennDarfur ist – das haben auch Sie gesagt – nicht der ein-zige Konfliktherd in dieser Gegend. Es gibt dort vieleKonfliktherde. Ein Konflikt, den wir gleich noch hier imHohen Hause besprechen werden, ist das Verhältnis vonSudan zu Südsudan. Auch dieser Konflikt ist noch nichtgelöst. Trotz der Selbstständigkeit des Südsudans, an dieviele Hoffnungen geknüpft worden sind, geht dieserKonflikt weiter. Eine ähnliche Situation haben wir– auch das ist nicht weit weg – in Somalia. Da gibt esmittlerweile das eine oder andere Element der Stabilisie-rung, auch über das Mandat von AMISOM. Es gibt daErkenntnisse und Entwicklungen, die Mut machen.Ich bin ganz sicher: Wenn wir jetzt sagen würden:„Wir zeigen, dass UNAMID gescheitert ist, und stim-men dem Mandat nicht weiter zu“, dann würden wirauch an andere Mandate in dieser Region genau das fal-sche Signal senden. Damit würden wir auch das Versa-gen der Vereinten Nationen und der AU dokumentieren.Ich glaube, das kann nicht im Sinne derjenigen sein, dieFriedensmissionen der Vereinten Nationen grundsätzlichfür richtig halten.In diesem Sinne ist es richtig und sinnvoll, dem Man-dat auch in diesem Jahr zuzustimmen. Aber, Herr Au-ßenminister, der Deutsche Bundestag wird von Ihnen,von der Bundesregierung und von der internationalenGemeinschaft, aber auch von der Europäischen Unionerwarten, dass man dafür sorgt, dass eine Evaluierungstattfindet, dass man die Mängel klar benennt, um sie ab-zustellen. Nur dann, glaube ich, wird auch in den nächs-ten Jahren eine breite Zustimmung hier im DeutschenBundestag zu einem solchen Mandat erfolgen.
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Christoph Strässer
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In diesem Jahr werden wir dem Mandat zustimmen.Ich hoffe, dass die Soldatinnen und Soldaten weiter ih-ren Job gut machen werden und dass dies dem Friedenund den Menschenrechten in dieser Region dient.Danke schön.
Das Wort hat jetzt der Bundesminister der Verteidi-
gung, Dr. Thomas de Maizière.
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Ver-
teidigung:
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Strässer, ich stimme Ihnen ausdrücklich zu,
dass Mandatsdiskussionen, auch wenn sich eine Über-
einstimmung abzeichnet, nicht zu dieser Stunde stattfin-
den sollten. Es ist nicht Aufgabe der Regierung, die Ta-
gesordnung des Parlaments zusammenzustellen. Aber,
ehrlich gesagt, wünsche ich mir, dass ein solcher Tages-
ordnungspunkt heute zum letzten Mal so spät – das hat-
ten wir schon einmal beklagt – behandelt wird.
Ich will noch einmal darauf hinweisen, dass der Auf-
trag von UNAMID Unterstützungs- und Überwachungs-
aufgaben beinhaltet, die Gewährleistung von Sicherheit
und Bewegungsfreiheit für humanitäre Hilfe sowie die
Sicherung und den Schutz der Zivilbevölkerung in Dar-
fur. Der Außenminister und auch Sie, Herr Strässer, ha-
ben davon gesprochen, dass dieser Einsatz nicht unge-
fährlich ist. Erst in der letzten Woche gab es einen
Anschlag auf einen UNAMID-Konvoi. Die Sicherheits-
lage bleibt insgesamt angespannt und instabil.
Diese Mission hat deswegen auch nach unserer Auf-
fassung eine unverzichtbare stabilisierende Funktion.
Viele Vertriebene lehnen eine Rückkehr in ihre Heimat-
regionen ab. Wir müssen aber alles daransetzen, dass
Bedingungen geschaffen werden, die eine Rückkehr die-
ser Menschen ermöglichen. So lange diese Flüchtlings-
lager jedoch noch bestehen, müssen sie auch weiterhin
dringend geschützt werden. Durch verstärkte Patrouil-
lentätigkeit und Präsenz leistet UNAMID seinen Beitrag
zur Verbesserung der humanitären Lage vor Ort.
Ja, es gibt gewisse Verbesserungen; Sie haben das an-
gesprochen. Es gibt gewisse Kontakte zwischen der Re-
gierung und der Rebellenorganisation. Es gibt auch eine
Annäherung von Sudan und Südsudan nach den Verein-
barungen vom 27. September 2012 in Addis Abeba. Ob
sie aber dauerhaft zu einer Verbesserung der Lage in
Darfur führen, ist noch unklar.
Die Vereinten Nationen haben mit ihrer Resolution
vom 31. Juli das Mandat nicht nur um ein Jahr verlän-
gert, sondern auch zahlenmäßig verringert. Insoweit gibt
es schon ein bisschen Bewegung, nämlich eine Absen-
kung der Mandatsobergrenze um rund 6 000 auf rund
21 000, allerdings einschließlich der Polizisten. Von den
circa 21 000 sind also etwa 16 200 Soldaten. Wir begrü-
ßen diese Umgliederung. Dadurch wird die Reaktionsfä-
higkeit und Flexibilität der Mission verbessert. Auswir-
kungen auf unser Engagement sind damit nicht
verbunden. Wir glauben, dass wir mit den derzeit einge-
setzten zehn Soldaten im Hauptquartier in al-Faschir an
verantwortlicher Stelle diese Mission in einem angemes-
senen Umfang unterstützen.
Liebe Kollegen, die deutsche Beteiligung an
UNAMID ist ein wichtiges Zeichen. Wir dürfen Darfur
nicht vergessen. Schutz und Sicherung der Zivilbevölke-
rung stehen weiterhin im Zentrum unseres Engagements.
Mit unserem Beitrag unterstützen wir zudem die afrika-
nischen Peacekeeping-Fähigkeiten.
Das alles – darauf haben dankenswerterweise Herr
Westerwelle und Herr Strässer hingewiesen – leisten un-
sere Soldaten, bzw. sie leisten einen Beitrag dazu. Dafür
danke ich ihnen aufrichtig. Sie verdienen unseren Res-
pekt, unsere Wertschätzung und eine breite parlamentari-
sche Zustimmung.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine Buchholz
von der Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie vonder Bundesregierung streuen der Öffentlichkeit ein wei-teres Mal Sand in die Augen. Sie sagen, der Bundes-wehreinsatz in Darfur im Rahmen von UNAMID solledie Umsetzung des Doha-Friedensabkommens fördern.Solange aber die wichtigsten bewaffneten Gruppen – un-ter ihnen die JEM und die LRA – dieses Abkommen garnicht unterzeichnet haben, bleibt auch dieses Friedens-abkommen zum Scheitern verurteilt, wie auch die zahl-reichen Friedensabkommen zuvor. Hören Sie also end-lich auf mit dieser Schönfärberei.
Dann sagen Sie, UNAMID solle die Zivilbevölkerungschützen. Sie unterschlagen aber, dass UNAMID zu wei-ten Teilen Darfurs überhaupt keinen Zugang hat. Überdie Bewegungsfreiheit von UNAMID entscheidet näm-lich nicht UNAMID, sondern die Regierung in Khar-toum. UNAMID ist damit vom Goodwill und von denInteressen der sudanesischen Regierung abhängig. Dashat dazu geführt, dass die Bevölkerung UNAMID nichtals Schutz durch eine neutrale Mission erlebt, sondernals parteiische Militärtruppe am Gängelband der Zentral-regierung in Khartoum. Den Menschen in Darfur wirdsuggeriert: Wir sind hier zu eurem Schutz. – DochUNAMID kann die Menschen nicht schützen. Tagtäg-
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Christine Buchholz
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lich kommt es zu Gewalt gegen Flüchtlinge, ohne dassUNAMID etwas daran ändert.Ich sage, eine wirkliche Verbesserung der Sicherheits-lage kann nur auf der Grundlage einer politischen Lö-sung und durch Entwicklung erreicht werden, und dabeihat Militär nichts verloren.
Der Sudan ist seit der Abtrennung des Südsudan ineine schwere ökonomische Krise geraten. Die Preise fürGrundnahrungsmittel sind massiv angestiegen. Währendim Südsudan der drohende Staatsbankrott durch interna-tionale Hilfsgelder in Milliardenhöhe zumindest einganz klein bisschen abgemildert werden kann trotz allerProbleme, die das mit sich bringt, trifft die Krise dieMenschen im Norden mit voller Härte.
Bis heute verweigert die Bundesregierung die Wie-deraufnahme der Entwicklungszusammenarbeit. Daranändert auch die Not- und Übergangshilfe nichts. Sie hat-ten versprochen, wenn der Norden das Ergebnis desReferendums und die Unabhängigkeit des Südens res-pektiert, werde die Bundesregierung die Entwicklungs-zusammenarbeit mit dem Norden neu beginnen. DiesesVersprechen haben Sie gebrochen.
Für einen sinnlosen Militäreinsatz wie UNAMID istaber scheinbar immer genug Geld da. UNAMID ist derteuerste aller UN-Militäreinsätze. UNAMID kostet im-mer noch 1,5 Milliarden Dollar pro Jahr. Doch Maß-nahmen zum friedlichen Aufbau des Landes werden ver-weigert. Meine Damen und Herren, das ist nichthinnehmbar.
Solange es keinen nachhaltigen Frieden zwischenNord- und Südsudan gibt, wird es auch keinen Frieden inDarfur geben; denn beide führen dort einen Stellvertre-terkrieg und rüsten gegenseitig Milizen auf. Dass in die-sem Konflikt die Bundesregierung wie der gesamte Wes-ten einseitig die Regierung im Südsudan unterstützt,facht die Flammen weiter an.
Deshalb kann UNAMID auch keinen Frieden bringen.Es gibt aber einen Funken Hoffnung im Sudan. DieseHoffnung besteht nicht in einem Militäreinsatz. Siespeist sich aus dem Widerstand gegen die soziale Katas-trophe und die politische Unterdrückung, die es auch imSudan gibt. Darauf setzen wir. Deswegen werden wirUNAMID ein weiteres Mal ablehnen.
Jetzt hat das Wort der Kollege Omid Nouripour von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir bera-ten heute die Verlängerung des seit Ende 2007 bestehen-den Einsatzes der AU/UN-Hybrid-Mission UNAMID,basierend auf der Resolution 1769 des Sicherheitsratsder Vereinten Nationen. Seit über neun Jahren gibt es ei-nen Bürgerkrieg, der 2 Millionen Menschen die Heimatund über 300 000 Menschen das Leben gekostet hat.Hauptbetroffene sind Frauen und Kinder. Aber es gehtauch um Nomadenstämme, die ihre Lebensgrundlageverloren haben.Das Erste, was ich nicht verstanden habe, Frau Kolle-gin Buchholz, ist: Was ist Ihr Konzept?
Wir reden über 20 000 Soldatinnen und Soldaten undPolizisten, und die Hauptlast dabei trägt die Afrikani-sche Union. Das darf man nicht vergessen.
Zehn deutsche Soldaten sind im Stab von UNAMID,um dort unterstützend tätig zu sein. Wir haben erlebenmüssen – die Zahl ist genannt worden –: 118 Soldatensind bereits getötet worden. Am 17. Oktober gab es wie-der einen Anschlag. Ein Soldat wurde getötet; drei wur-den verletzt. Am 2. Oktober wurden vier Soldaten getö-tet und acht verletzt. Gerade bei solch einem Einsatz ineiner derart extremen Situation ist es völlig richtig, denSoldaten und ihren Familien zu danken. Ich möchte umErlaubnis bitten, dass ich nicht nur den deutschen Solda-ten danke, sondern allen Soldaten, auch denen der Afri-kanischen Union, die vor Ort einen unglaublich hartenJob machen.
Meine Damen und Herren, die Situation ist sehr fra-gil. Es gibt einige neue Entwicklungen, die Grund zurSorge geben. Wenn man daran denkt, wie die Zentralre-gierung im Sudan in der Vergangenheit auf äußerenDruck reagiert hat und auch wie sie jetzt reagiert, nach-dem vorgestern in der Nähe der Hauptstadt des Sudaneine Waffenfabrik explodiert ist – das ist auch für Darfurrelevant –, dann stellt sich die zentrale Frage: Wohinführt das? Es steht zu befürchten, dass die Zentralregie-rung in den nächsten Wochen und Monaten nicht koope-rativer mit uns zusammenarbeiten wird. Das ist auchdeswegen relevant, weil in den letzten Wochen die Be-wegungsfreiheit wieder massiv eingeschränkt wordenist.Damit komme ich zu meiner zweiten Frage an Sie,Frau Kollegin Buchholz: Ich habe nicht verstanden, wa-rum die Einschränkung der Bewegungsfreiheit durch dieZentralregierung dazu führt, dass die Menschen in Dar-
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Omid Nouripour
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fur denken, UNAMID wäre eine Unterdrückungs- bzw.Besatzungsmacht. Das ist mir nicht klar geworden. Da-bei ist es, um beim Thema zu bleiben, von zentraler Be-deutung, dort jetzt einzuwirken, wo es geht, damit dieMenschen in Darfur nicht wieder einmal Opfer von Din-gen werden, die die Zentralregierung in Khartoum tat-sächlich antreiben.Es ist zu Recht gesagt worden, dass es wenig Lebenim Doha-Prozess gibt. Es gibt viele große Gruppierun-gen der Rebellen, die nicht dabei sind. Aber es gibt auchganz kleine Hoffnungspunkte, die ich noch erwähnenmöchte. Es ist begrüßenswert, dass die Zentralregierungerstmals wirklich etwas tut, um die Kindersoldaten zuentwaffnen. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung.Darüber kann man sich nur freuen.
Es ist gut, dass es den Doha-Prozess gibt, und es istgut – das hat der Kollege Strässer vorhin gesagt –, dasses eine weitere Gruppe gibt, die vielleicht nicht diewichtigste ist, aber die nun bereit ist, mitzuwirken undan Verhandlungen teilzunehmen.Diese kleinen Hoffnungen werden kurzfristig nichtsbringen. Es ist tatsächlich sehr frustrierend, Jahr für Jahrzu sehen, dass wir nicht vorankommen. Aber diese klei-nen Punkte, die nicht vergessen werden dürfen, würde esnicht geben, wenn es UNAMID nicht gäbe. Deshalb istdieser Einsatz so wichtig, und deshalb werden wir zu-stimmen.
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich das Wort dem Kollegen Philipp Mißfelder von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich kann mich in weiten Teilen eigentlich nurdem anschließen, was Kollege Nouripour gesagt hat. Ichfand es beruhigend, dass über die Situation in Darfurhier im Hause ein breiter Konsens besteht und sie auchernst genommen wird. In diese Richtung haben sich jafast alle Redner geäußert.Frau Buchholz, Ihre Ausführungen möchte ich – wieso häufig bei solchen Themen – einfach nicht weiterkommentieren. Sie haben uns heute Gott sei Dank Ihrensonstigen Reigen von antiamerikanischen Verschwö-rungstheorien erspart. Aber nichtsdestotrotz war das,was Sie gesagt haben, einfach nicht sachgerecht.Vor dem Hintergrund mein Kompliment an HerrnNouripour für seine Rede! Ich glaube, dass vieles vondem, was er gesagt hat, das widerspiegelt, was unsereFraktion mit Blick auf diesen Einsatz denkt.Der Prozess der Unabhängigkeit Südsudans ist einegroße Herausforderung gewesen. Das haben wir und dashat insbesondere Minister Westerwelle politisch sehrstark begleitet. Wo wir konnten, haben wir versucht, die-sen Prozess politisch zu unterstützen. Der Sudan stehtdennoch nach wie vor vor einer großen Zerreißprobe.Besonders der Wegfall der Einnahmen aus der Erdölför-derung gefährdet die wirtschaftliche Stabilität. Hinzukommt die Gefährdung der politischen Stabilität. Un-kontrolliert hereinströmende Waffenlieferungen aus Li-byen beispielsweise erschweren die Lage massiv.Die Rebellenbewegungen stellen einerseits für dieRegierung in Khartoum eine reale Bedrohung dar. Ande-rerseits sind deshalb inzwischen mindestens 2 MillionenMenschen von humanitärer Hilfe abhängig. Die humani-täre Lage in der Region bleibt katastrophal; das ist schonvon Herrn Strässer eindrucksvoll geschildert worden.Die Zahl der Binnenvertriebenen liegt bei rund 1,9 Mil-lionen, sodass es wirklich kein eng begrenzter regionalerKonflikt ist, sondern tatsächlich eine humanitäre Katas-trophe, die man im Blick haben muss. Die Zahl der To-ten ist von Minister Westerwelle schon genannt worden.Dem Ernst der Lage wird es natürlich nicht gerecht, dasswir um diese Uhrzeit hier diskutieren. Die Lage dort ge-hört einfach bei uns politisch mehr in den Fokus.Wenn wir uns das Elend, das im Westsudan an derGrenze zum Tschad herrscht, vor Augen führen, er-schließt sich die Notwendigkeit der Verbesserung derhumanitären Lage in dieser Region. Gerade hierzu leistetdie Bundeswehr einen wichtigen Beitrag. Deshalb werbeich seitens unserer Fraktion für eine breite Zustimmungzur Verlängerung des Bundeswehreinsatzes in Darfur.Ich fordere auch diejenigen, die sich damit schwertun,auf, sich einen Ruck zu geben, sodass der gesamte Deut-sche Bundestag das Zeichen setzt, dass er hinter diesemMandat steht.Gemäß dem Antrag der Bundesregierung, den wirhier beraten, sollen bis zu 50 Soldatinnen und Soldatender Bundeswehr an UNAMID beteiligt werden. Dieneun deutschen Soldaten, die im Hauptquartier von UN-AMID ihren Dienst tun, leisten hervorragende Arbeit.Ihnen ist schon gedankt worden. Dem Dank schließe ichmich an dieser Stelle an.
UNAMID bleibt nach wie vor ein stabilisierendesElement und ist auch ein wichtiger Beitrag, um zu zei-gen, dass sich die Weltgemeinschaft der Verbesserungder Sicherheitslage und der Verbesserung der humanitä-ren Situation annimmt. Das erspart uns allerdings nicht,gleichzeitig die politischen Bemühungen zu verstärken,damit die Krise sich nicht weiter zuspitzt, sondern tat-sächlich ein politischer Ansatz gefunden wird, der zumehr Frieden und zu mehr Sicherheit führt.Zur Wahrheit gehört aber auch: Eine politische Lö-sung des Darfur-Konflikts steht weiterhin aus und ist inweiter Ferne. Nicht alle Rebellengruppen nahmen an den
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24396 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Philipp Mißfelder
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Friedensverhandlungen in Doha teil. Sie verweigernzum Teil bis heute die Unterschrift zum Abkommen zwi-schen der sudanesischen Regierung und der Rebellenbe-wegung.Wie gefährlich die Lage ist, zeigte jüngst – MinisterWesterwelle hat es schon gesagt – der Tod von vier nige-rianischen Soldaten. Das sind unsere Partner, die dortnoch mehr Verantwortung übernehmen als wir mit derBundeswehr. Unser Mitgefühl gilt deshalb all denjeni-gen, die dort Soldaten verlieren. Der Tod dieser Soldatenzeigt, wie gefährlich die Mission insgesamt ist. MitteOktober starb ein weiterer UNO-Soldat in einem Hinter-halt. Damit steigt die Zahl der getöteten UNAMID-Sol-daten und -Mitarbeiter innerhalb von fünf Jahren auf 43.Das ist also keine Kleinigkeit, über die wir dort reden.Nach Schätzungen sind im Darfur-Konflikt seit 2003insgesamt 300 000 Menschen umgekommen. Trotzdemnimmt die Weltöffentlichkeit nur partiell Anteil. Des-halb, glaube ich, ist es richtig, unser Mandat hier aufeine möglichst breite Unterstützung zu gründen und demGanzen über diese Entscheidung hinaus politisch größe-res Gewicht zu verleihen. Wir müssen dafür sorgen, dassafrikanische Themen insgesamt eine größere Rolle spie-len und wir uns in den Ausschüssen wesentlich mehrdamit beschäftigen. Dort, wo wir dies getan haben, ins-besondere in den letzten Wochen, ist das häufig überpar-teilich und mit sehr großer Sachkunde und sehr großemEngagement geschehen.Ich glaube, dass der Darfur-Konflikt für uns nach wievor ein Beispiel sein sollte, dass wir uns mit solchen Fra-gen in den Ausschüssen, aber auch in unserer sonstigenArbeit stärker auseinandersetzen. So können wir deut-lich machen, dass über das Militärische hinaus politischeLösungen im Mittelpunkt stehen und dass die westlicheWelt und insbesondere Deutschland mit seiner starkenRolle in Europa bereit sind, sich daran zu beteiligen.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/11036 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 18 auf:Beratung des Antrags der BundesregierungFortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-scher Streitkräfte an der von den VereintenNationen geführten Friedensmission in Süd-sudan auf Grundlage der Resolu-tionen 1996 des Sicherheitsrates derVereinten Nationen vom 8. Juli 2011 und 2057
vom 5. Juli 2012
– Drucksache 17/11037 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss RechtsausschussVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungHaushaltsausschuss gemäß § 96 GONach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache wiederum eine halbe Stunde vorgesehen.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dannist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort alserstem Redner wiederum dem BundesaußenministerDr. Guido Westerwelle.
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-wärtigen:Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Kolleginnen und Kollegen! Es ist in der Debatteeben schon angesprochen worden, aber es ist, so glaubeich, interessant, sich das noch einmal vor Augen zu füh-ren: Erst vor gut einem Jahr, nämlich am 9. Juli 2011,wurde Südsudan ein unabhängiger Staat, und zwar – dasmöchte ich noch einmal in Richtung der Linken sagen –durch eine demokratische Volksabstimmung. Wir habenin der internationalen Gemeinschaft hart dafür gearbei-tet, dass diese Volksabstimmung stattfinden konnte unddass sie auch von allen Beteiligten respektiert wurde.Dass das Volkes Wille gewesen ist, mag dem einen oderanderen aus ideologischen Gründen nicht gefallen.
Aber dass dieser Wille des Volkes politisch umgesetztwerden konnte, auch durch die Entscheidung der Verein-ten Nationen – wir selbst waren Präsident im Sicher-heitsrat, als die Aufnahme erfolgt ist –, ist etwas, wasman bei all dem, was zweifelsohne sehr kritikwürdig ist,auch einmal anerkennen sollte. Das war ein Erfolg derMenschen in Südsudan und auch ein Erfolg der interna-tionalen Diplomatie.
Alles ist sehr schnelllebig. Man vergisst immer alles,was gelingt, und hat nur immer das im Kopf, was nichtgelingt. Aber das sollte man sich auch ein Jahr späternoch einmal vor Augen führen.Seitdem befindet sich Südsudan auf dem Weg hin zueiner eigenen stabilen Staatlichkeit. Jeder, der dort gewe-sen ist – viele von Ihnen waren dort und kennen das –,weiß auch, dass nicht zu erwarten war, dass das ohneProbleme und ohne Rückschläge geschehen würde. Fürjeden, der einmal dort gewesen ist und von Staatlichkeitspricht, der Staatlichkeit dort selbst erlebt hat, für den istes wohl etwas komisch, das Wort „Staatlichkeit“ dort vordem Hintergrund unserer europäischen Empfindungenund Wahrnehmungen zu verwenden. Uns ist aber nichtnur die schwierige Ausgangslage des jungen Staates be-
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wusst, sondern wir halten es auch für richtig, die Ent-wicklung entsprechend voranzubringen.Die Lage im Sudan bzw. Südsudan war während derMandatslaufzeit sowohl durch innerstaatliche als auchdurch zwischenstaatliche bewaffnete Auseinanderset-zungen und eine Verschlechterung der ökonomischen Si-tuation in beiden Staaten gekennzeichnet. Leidtragendesind die Menschen vor Ort. Niemand ignoriert die so-ziale Lage der Menschen vor Ort. Wir hören immer wie-der von vielen Toten. Manches hat einen politischenHintergrund, vieles auch nicht, das darf nicht unterschla-gen werden. Aber wir tun unser Bestes: Wir haben diehumanitäre Hilfe für Sudan und Südsudan im Sommerum 5 Millionen Euro auf jetzt 10,5 Millionen Euro er-höht.Wir erinnern uns: Durch intensive Bemühungen derinternationalen Gemeinschaft und der Präsenz der Ver-einten Nationen vor Ort konnte Mitte des Jahres verhin-dert werden, dass sich die Konflikte zu einem größerenzwischenstaatlichen Konflikt ausweiteten. Es gibt dieProbleme noch. Das ist auch in der vorherigen Debatteangesprochen worden. Das kann man nicht ignorieren.Wenn man aber sieht, wo wir vor anderthalb Jahren wa-ren und vor welcher Gefährdung wir vor anderthalb Jah-ren standen, dann, denke ich, sollte man auch anerken-nen, was sich vernünftig entwickelt hat. Die Problemesind nicht weg. Das kann niemand in dieser Situation er-warten. Ich glaube aber, es sind durchaus Fortschritte zusehen.Wir haben natürlich unsererseits die Konfliktparteienaufgefordert, ihre Streitigkeiten im Interesse der Men-schen beizulegen. Die Bundesregierung begrüßt daher,dass die Einigung von Addis Abeba vom 27. Septembermöglich wurde. Diese Einigung bietet die Chance aufeine Normalisierung der Beziehungen zwischen Sudanund Südsudan, auch wenn wesentliche Fragen offenblei-ben. Ich will das noch einmal unterstreichen. Niemand indiesem Hause ignoriert ja die Probleme. Jeder weiß, dassnoch viele Jahre harter Arbeit nicht nur vor den beidenStaaten, sondern auch vor der internationalen Staatenge-meinschaft liegen werden.Der von den Vereinten Nationen geführten Friedens-mission im Südsudan UNMISS – UNMISS mit zwei Swegen des Südens – kommt dabei eine wichtige Rollezu. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat durchseine Resolution 2057 vom 5. Juli dieses Jahres die völ-kerrechtliche Grundlage nach Kapitel VII der UN-Charta um ein weiteres Jahr verlängert.Deutschland hat sich an der Mission UNMISS vonAnfang an beteiligt. Derzeit sind 16 deutsche Soldatin-nen und Soldaten im Südsudan eingesetzt. Deutsche Of-fiziere tragen an wichtigen Entscheidungspositionenzum Erfolg dieser Mission bei. Dafür möchte ich aber-mals auch den dort eingesetzten Frauen und Männern,sei es in Uniform, sei es aber auch ohne Uniform als zi-vile Helfer, ausdrücklich danken.
Meine Damen und Herren, für die Bundesregierungbeantrage ich die Fortsetzung der Beteiligung bewaffne-ter deutscher Streitkräfte an der von den Vereinten Na-tionen geführten Friedensmission in Südsudan. DasMandat wird inhaltlich unverändert fortgeschrieben. Esbleibt bei denselben Aufgaben, bei demselben Einsatz-gebiet und bei derselben Personalobergrenze von 50 Sol-datinnen und Soldaten. Ich weise erneut darauf hin:UNMISS hat ein robustes Mandat, das heißt, die Kräfteder Mission sind autorisiert, zum Eigenschutz, zur Ge-währleistung der Sicherheit der humanitären Helfer undzum Schutz der Zivilbevölkerung gegebenenfalls Gewaltanzuwenden.Kernaufgabe von UNMISS bleibt die Unterstützungder Regierung bei der Friedenskonsolidierung, beimStaatsaufbau und bei der Schaffung der Voraussetzungfür wirtschaftliche Entwicklung. Die Mission unterstütztzudem die Gewährleistung von Sicherheit, die Durchset-zung von Rechtsstaatlichkeit und die Stärkung des Si-cherheits- und Justizsektors. Hierzu tragen neben dendeutschen Soldaten auch die deutschen Polizeibeamtenbei, von denen derzeit sechs vor Ort eingesetzt sind.Auch ihnen gebührt unser Dank und unser Respekt fürihre wertvolle Arbeit unter höchst herausforderndenUmständen.
Meine Damen und Herren, natürlich nimmt das Su-dan-Konzept der Bundesregierung – das ist jedem hierklar; das will ich nur von der vorherigen Debatte aufgrei-fen – bewusst Südsudan und Sudan gleichermaßen inden Blick. Das ist gar keine Frage. Ganz im Sinne unse-res Ansatzes der vernetzten Sicherheit greifen dabeiviele Elemente ineinander: Nothilfe, Entwicklungshilfeund Hilfe beim Aufbau von staatlichen Strukturen.Wir fördern aber auch zusätzliche Projekte zur Unter-stützung der Arbeit von UNMISS. Wir helfen bei Ent-waffnung, Demobilisierung und Reintegration von Sol-daten und Milizionären. Wir fördern juristische undpolizeiliche Ausbildung und unterstützen den Verfas-sungsprozess. All dies trägt dazu bei, das Fundament zufestigen, auf dem der junge Staat Südsudan aufgebautist.Ich weiß, dass einige von Ihnen in der letzten Wochedie Gelegenheit gehabt haben, mit der Leiterin der Mis-sion und Sondergesandten des UN-Generalsekretärs fürSüdsudan, Hilde Johnson, bei ihrem Besuch in Berlin zusprechen. Sie werden auch von ihr erfahren haben, dassder Beitrag Deutschlands sehr geschätzt wird.Ich hoffe, dass das, was bei der letzten Debatte mög-lich war, dass nämlich vier Fraktionen geschlossen fürdas Mandat gestimmt haben, auch dieses Mal wieder ge-lingen wird, und diesen Eindruck habe ich trotz all derSchwierigkeiten, die man nicht ignorieren kann. Dasweiß hier auch jeder, da muss man ganz realistisch he-rangehen. Dieses Mandat ist sinnvoll. Wir sollten unse-ren Beitrag leisten. Das mehrt nicht nur die Chancen vorOrt, sondern auch international das Ansehen unseres
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Landes. Deswegen bitte ich um eine breite Unterstüt-zung durch das Hohe Haus.
Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die Kollegin
Heidemarie Wieczorek-Zeul.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirstimmen dem Antrag der Bundesregierung zur fortge-setzten Beteiligung an der UN-Friedensmission imSüdsudan, UNMISS, zu; denn die vor einem Jahr mitdem Mandat erteilten Aufgaben bestehen unvermindertfort. Es geht um den Aufbau eines funktionierenden de-mokratischen und pluralistischen Staatswesens. Vor al-len Dingen geht es um den Schutz der Zivilbevölkerung.Über den deutschen Beitrag im Hinblick auf die Anzahlder beteiligten Soldatinnen und Soldaten ist schon gere-det worden.Ich möchte an dieser Stelle der UN-Sonderbeauftrag-ten für Südsudan, Hilde Johnson, ganz herzlich danken;denn sie leistet unter äußerst schwierigen Bedingungeneine hervorragende Arbeit. Sie hat vielen von uns in derletzten Woche für Gespräche zur Verfügung gestanden.Ich wünsche ihr viel Erfolg für die Arbeit, die sie dort imAuftrag der Vereinten Nationen leistet.
Es ist gut, dass nach den massiven Auseinanderset-zungen der letzten Zeit Ende September 2012 in AddisAbeba eine Übereinkunft zwischen Südsudan und Sudanzustande gekommen ist. Inhalt dieser Übereinkunft sinddie Wiederaufnahme der Ölförderungen, die im Februar2012 vom Südsudan gekappt bzw. gestoppt worden sind,und die Einigung auf eine demilitarisierte Zone entlangder gemeinsamen Grenze, einschließlich eines Verfah-rens der gemeinsamen Grenzüberwachung.Diese Grenzüberwachung ist ein Fortschritt, weilbeide Seiten, Sudan und Südsudan, beteiligt sind. Eswäre zu wünschen gewesen, dass hier UNMISS eineRolle hätte spielen können. Das ist jedoch nicht der Fall.Vielmehr werden noch auszubildende internationale Be-obachter vor Ort sein, die sich an diesem Joint BorderVerification and Monitoring Mechanism beteiligen.Die Auswirkungen – wer mit den Beteiligten gespro-chen hat, kann das noch einmal bestätigen – des Stoppsder Ölförderung waren und sind katastrophal. Wenn jetztdie Ölförderung wieder aufgenommen wird, wird erst imFebruar nächsten Jahres daraus Geld in den Haushalt desneuen Staates fließen. Dabei machen die Erdöleinnah-men etwa 98 Prozent des südsudanesischen Staatshaus-halts aus. Von dem geringeren finanziellen Spielraumsind jedoch vor allen Dingen die Armen betroffen. DieBevölkerung aber wartet auf die Unabhängigkeitsdivi-dende, auf die Dividende, die sich mit dem Frieden erge-ben sollte. Ich sehe den Prozess immer auch unter einemoptimistischen Aspekt, aber man muss fairerweise sa-gen, dass sich nach der Euphorie der Unabhängigkeitdoch Ernüchterung und Sorge breitgemacht haben. Derjunge Staat wird noch für lange Zeit auf die internatio-nale Unterstützung angewiesen sein.Hinter dem fortdauernden Konflikt steht auf der Seitedes Südsudans offensichtlich auch eine Gruppe von Mi-litärs der SPLA-Nord, die die Gelegenheit zum Sturz imNorden nutzen will. Im Nordsudan gibt es eine massiveGruppe von Radikalislamisten, die den gesamten Sudanwieder „islamisieren“ wollen. Das sind übrigens diejeni-gen, die auch die deutsche Botschaft attackiert und zer-stört haben. Es ist völlig unerträglich, dass die RegierungBaschir den Schutz dieser Botschaft nicht sichern konnteoder wollte. Wir fordern Sie auf, sicherzustellen, dassdiese Regierung ihren internationalen Verpflichtungen,nämlich dem Schutz der Botschaften, auch gerecht wird.
Die südsudanesische Regierung ist aufgerufen, end-lich den Aufbau einer unabhängigen Justiz und die Re-form der Sicherheitsorgane voranzubringen. Der Bürger-krieg ist zu Ende, und damit muss auch das durch diesenBürgerkrieg geprägte Denken der Sicherheitsorgane undder Regierung zu Ende sein.
Das ist die wichtigste Voraussetzung, damit die richti-gen Investitionen getätigt werden. Denn man muss sichangucken: Im Jahr 2011 – –
– Ach, Herr Präsident, hallo! Ich dachte es mir doch; solaut habe ich Herrn Solms noch nie erlebt.
– Entschuldigung; ich bitte um Nachsicht.Ich wollte Folgendes sagen: Die Schwerpunkte derInvestitionen sahen 2011 wie folgt aus: 10 Prozent derInvestitionen flossen in Infrastruktur, 7 Prozent in Bil-dung, 4 Prozent in Gesundheit, aber 38 Prozent flossenMilitär- und Sicherheitsapparat zu. Das ist unakzeptabel.Auch deshalb muss sich die internationale Gemeinschaftstärker beteiligen, nicht nur bei UNMISS, sondern ebenauch hinsichtlich der anderen Fragen; denn noch ist dieRegelung über die Zuordnung der umstrittenen RegionAbyei ungeklärt. Dazu gibt es jetzt den Auftrag der Afri-kanischen Union, dass sich beide Seiten innerhalb dernächsten sechs Wochen einigen sollen, ebenso wie übereinen Teil der Demarkierung der noch nicht beschlosse-nen fünf weiteren Grenzregionen. Hier muss neben derAfrikanischen Union auch die internationale Gemein-schaft ihre Aufgaben wahrnehmen.Es ist gut, dass es auch ein Abkommen bzw. eine Ver-einbarung zur humanitären Hilfe für die Menschen gibt,die in Südkordofan und am Blauen Nil besonders betrof-fen waren. Dazu gibt es jetzt ein Abkommen; aber bevordie Hilfe ankommt, dauert es noch einige Zeit.
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Heidemarie Wieczorek-Zeul
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Zur Rolle von UNMISS. Angesichts dieser Phase, diewir hier jetzt noch einmal vor Augen haben, angesichtsfortgesetzter massiver Konflikte hatte es UNMISSschwer, die Aufgaben zu erfüllen. Aber man versucht,die Zivilbevölkerung zu schützen und die Lösung derKapazitätsprobleme der Sicherheitskräfte voranzubrin-gen. UNMISS hat dazu beigetragen, dass ein Versöh-nungsabkommen zwischen den ethnischen Gruppen vonder Regierung verhandelt wurde. Aber UNMISS – dasist auch wahr – kann nicht überall im Südsudan vertretensein. 7 900 Soldaten sind autorisiert, aber 5 600 Soldatensind real vor Ort. Es fehlen Hubschrauber. Auch das, sowar zu hören, wäre eine wichtige Anforderung an dieBundesrepublik Deutschland; denn in vielen Fällen sinddie Sicherheitsorgane natürlich auch diejenigen, die ge-genüber der Bevölkerung eine gewisse Bedrohung aus-üben und Menschenrechtsverletzungen begehen.Zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen, eineBetrachtung der Rolle Khartoums, also des Nordsudan.Die Staatsfinanzen – darauf ist vorhin hingewiesen wor-den – sind durch die Auseinandersetzungen um die Öl-einnahmen drastisch eingebrochen. Proteste, die sich ge-gen die verfehlte Wirtschafts- und Finanzpolitik, gegenKorruption und Vetternwirtschaft richten, lassen sichzwar nicht mit den Massenbewegungen wie etwa in Tu-nesien oder Ägypten vergleichen. Das Regime reagiertaber dennoch mit äußerster Härte und lässt selbst diefriedlichsten Konflikte brutal niederschlagen. Das Re-gime Baschir hat immer noch nicht verstanden, dass esmassive Anstrengungen unternehmen muss, die realenLebenschancen von Menschen in allen Regionen undeben nicht nur im Zentrum zu verbessern und vor allenDingen Chancen auf mehr Selbstbestimmung zu ermög-lichen.Jenseits der Problematik UNMISS muss die politi-sche Unterstützung, muss die Arbeit der EuropäischenUnion, der UN und der Afrikanischen Union tatsächlichan den noch ungelösten Fragen ansetzen. Denn wir wol-len, dass der 193. Staat – er ist vor gut einem Jahr unab-hängig geworden – eine Chance hat, sich zu entwickeln,und damit die Chance hat, die Leistungen für seine Bür-gerinnen und Bürger zu erbringen.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Minister Thomas de Maizière.
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Ver-teidigung:Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Inder Tat, der Südsudan ist vor 15 Monaten unabhängiggeworden. Das war ein großer Erfolg. Aber wir dürfennicht vergessen, dass 20 Jahre Bürgerkrieg die Vorge-schichte sind. Deswegen kann man natürlich schnelleErgebnisse nicht erwarten.Es gibt gute und schlechte Entwicklungen. FrauWieczorek-Zeul hat auf eine gute Entwicklung hinge-wiesen: Die Wiederaufnahme der Erdölförderung isteine wichtige Voraussetzung für dauerhafte Stabilität inder Region. Es gibt natürlich viele Gründe für Sorge.Das betrifft den Status der umstrittenen Region Abyeiund eine Einigung über die umstrittenen Teile derGrenze zwischen Südsudan und Sudan.Nach wie vor ist die Lage des Südsudan nach innenund außen äußerst fragil. Die wirtschaftliche Situationbleibt unbefriedigend. Es gibt weiterhin humanitäre Not-lagen. Es herrscht keine Sicherheit im Land. RegionaleWarlords treiben ihr Unwesen. Der Sicherheitssektormuss von Grund auf aufgebaut werden. Der Prozess hatbegonnen; aber es bleibt viel zu tun.Vor diesem komplexen Hintergrund kommt der Frie-densmission UNMISS eine wichtige Rolle zu. Ich be-grüße es, dass der Sicherheitsrat die Friedensmission umweitere zwölf Monate verlängert hat. Wir sollten dasGleiche tun.Nach einem so zerstörerischen Konflikt können dieWunden nicht so schnell verheilen. Wir haben denSüdsudan bisher begleitet, und wir sollten dies auch wei-terhin tun. Die Verantwortung für den Aufbau diesesjungen Staates trägt die Regierung in Juba. Wir wissenaber auch: Ohne internationale Unterstützung wird dieRegierung es nicht schaffen. Die verantwortlich han-delnden Personen an der Spitze des Südsudan habenkeine Erfahrung in effizienter Verwaltungsarbeit, keineErfahrung im politischen Interessensausgleich, keine Er-fahrung in Haushaltsführung und keine Erfahrung in de-mokratischer Kontrolle von Sicherheitsorganen. Die in-ternationale Gemeinschaft und die Regierung in Jubasollten sich deshalb weiter auf unsere Unterstützung ver-lassen können.Die bisherige Mandatsobergrenze für die Beteiligungdeutscher bewaffneter Streitkräfte liegt bei 50 Soldaten.Daran wollen wir festhalten. Diese Grenze gibt uns auchgenügend Flexibilität.Zurzeit sind wir mit rund 16 Offizieren dort. Wir ha-ben zwei Schwerpunkte: Informationsgewinnung undAufbau der Sicherheitskräfte. Im UNMISS-Hauptquar-tier stellen Soldaten der Bundeswehr den Leiter Nach-richtengewinnung und Aufklärung, den Leiter Ausbil-dung und den stellvertretenden Leiter der militärischenVerbindungsorganisation – allesamt Positionen von zen-traler Bedeutung für den Gesamterfolg der Mission.Unsere Soldaten vor Ort sind an den wichtigen militä-rischen Entscheidungen beteiligt, und das soll auch sobleiben. Sie tragen dazu bei, dass allmählich leistungsfä-hige staatliche Institutionen entstehen können und derProzess der Friedenskonsolidierung vorangeht. UnsereSoldaten leisten im Auftrag der Vereinten Nationen undim Interesse Deutschlands einen wichtigen Beitrag zumWohle des Südsudan. Einige – Herr Nouripour und an-dere – haben beim vorigen Tagesordnungspunkt daraufhingewiesen, dass die Stabilität im Herzen Afrikas in un-serem Interesse liegt.
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Bundesminister Dr. Thomas de Maizière
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Deswegen sagen wir Ja zu der weiteren Unterstüt-zung. Herr Westerwelle und ich bitten das Parlament umbreite Zustimmung für diesen Einsatz. Unser Dank undRespekt gilt unseren Soldaten, den Polizisten und allen,die für UNMISS Dienst tun.
Das Wort hat nun Christine Buchholz für die Fraktion
Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bun-
desregierung behauptet, der Bundeswehreinsatz im
Südsudan schütze die Bevölkerung. Er zeige – ich zitiere
Ihre Antragsbegründung – eine „glaubhafte Perspektive
zur Verbesserung der Lebensbedingungen“ auf.
Ich halte beides für falsch.
Herr Westerwelle, Sie sagen, UNMISS habe die Aus-
weitung des zwischenstaatlichen Konfliktes zwischen
Nord und Süd verhindert. Sie sollten lesen, was UN-
MISS selbst sagt: Wir haben kein Mandat, um Zivilisten
im Grenzkonflikt zwischen Nord- und Südsudan zu
schützen. Wer im Bundestag etwas anders suggeriert,
täuscht die Bevölkerung.
In Wirklichkeit geht es bei dem Bundeswehreinsatz
im Rahmen von UNMISS ausschließlich um die einsei-
tige Unterstützung des Südsudan, und das haben wir von
Anfang an kritisiert.
Mit dieser einseitigen Unterstützung haben Sie letztend-
lich die südsudanesische Regierung zu dem Angriff und
zur Besetzung der Ölfelder des Nordens im April dieses
Jahres ermutigt. Und ich frage: Was muss die südsudane-
sische Regierung noch tun, damit Sie die Politik der ein-
seitigen Unterstützung endlich aufgeben?
Sie sagen, im Bundesstaat Jonglei sei es der südsuda-
nesischen Regierung mit Unterstützung von UNMISS
gelungen, „ein Versöhnungsabkommen zwischen den
ethnischen Gruppen … zu verhandeln“. Ich sage Ihnen:
Uns alle beunruhigen die Nachrichten über ethnisch auf-
geladene Konflikte im Südsudan. Aber das Versöh-
nungsabkommen, von dem Sie sprechen, wurde nie
nachhaltig umgesetzt. Ende September ist in Jonglei eine
neue bewaffnete Revolte der Murle ausgebrochen. Sie
ist die Reaktion auf das Vorgehen der Regierungstruppen
der SPLA gegen diese ethnische Minderheit. Die SPLA
– ich zitiere Human Rights Watch – tötet, vergewaltigt,
schlägt und foltert.
Die Situation in Jonglei zeigt nur eines: dass UNMISS
keinen Frieden im Südsudan implementieren kann.
Sie sprechen davon, dass die Einrichtung eines Früh-
warnsystems wichtig ist, damit die Bevölkerung recht-
zeitig vor Angriffen fliehen kann. Ja, ein Frühwarnsys-
tem ist wichtig; aber meines Erachtens braucht es dazu
keine bewaffneten Soldaten und keine Kapitel-VII-Mis-
sion. Ein Frühwarnsystem ist auch mit zivilen Mitteln zu
leisten. Hören Sie endlich auf, Ressourcen einseitig in
militärische Kapazitäten zu stecken.
Was ist das überhaupt für ein Staat, den Sie mit Hilfe
von UNMISS aufbauen? Jüngst kam heraus: 75 hohe
Funktionsträger des neuen Staates Südsudan haben Gel-
der in Höhe von 4 Milliarden US-Dollar veruntreut –
4 Milliarden US-Dollar! Gleichzeitig ist mehr als die
Hälfte der Bevölkerung unterernährt. Und nun begrüßt
UNMISS in ihrem Jahresbericht ein Austeritätspro-
gramm der neuen Regierung, das massive Einsparungen
vorsieht. Das ist ein Armutszeugnis.
Die Inflation beträgt bei einigen Grundnahrungsmit-
teln 300 Prozent. Aufgrund der massiven Präsenz der
UNO kosten einfache Wohnhäuser in Juba inzwischen
um die 2 000 US-Dollar Monatsmiete. Das, meine Da-
men und Herren, schafft nicht die „glaubhafte Perspek-
tive zur Verbesserung der Lebensbedingungen“, von der
die Bundesregierung in ihrem Antrag spricht.
Der Sudan braucht eine wirkliche wirtschaftliche und
soziale Perspektive. Lesen Sie unseren Entschließungs-
antrag aus dem letzten Jahr.
Darin sind wichtige Antworten genannt. Ich sage Ihnen:
Die Bundeswehr hat im Südsudan nichts zu suchen,
nichts im Norden, nichts in Somalia, nichts in Mali und
auch sonst nirgendwo.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
Das Wort hat nun Kerstin Müller für die FraktionBündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Inder Tat: Ob der am 9. Juli letzten Jahres aus der Taufegehobene neue Staat Südsudan ein lebensfähiger Staatwird oder ob es am Ende nicht doch die Geburtsstundeeines sogenannten gescheiterten Staates war, das wissenwir heute nicht; das muss die Geschichte erst noch zei-gen. Aber die Situation ist sehr fragil.Liebe Frau Kollegin Buchholz, liebe Kollegen vonder Linken, gerade wenn man ein Scheitern verhindernwill, ist es von zentraler Bedeutung, dass die Friedens-mission UNMISS im Lande ist. Sie ist übrigens auf aus-drücklichen Wunsch der Südsudanesen und der Afrika-nischen Union im Lande; die Nordsudanesen wollten aufihrer Seite keine Friedenstruppen. Das ist nicht am Sü-den und nicht an der internationalen Gemeinschaft ge-scheitert.
Ich habe hier ein schönes Zitat. Frau Buchholz, Siekönnen nachher die Frage beantworten, von wem esstammt.
Das Zitat lautet:Was UNMISS betrifft, so wird behauptet, dass al-lein die Präsenz der Soldatinnen und Soldaten … inder Fläche zur Beruhigung der Gewaltkonflikte bei-trage. … Dafür spricht in der Tat Einiges.Das ist ein Zitat von Ihrem Kollegen Paul Schäfer. Esstammt aus seinem letzten Reisebericht.
Das hat auch die Leiterin der UNMISS, Frau Johnson,erzählt; die Kollegin Wieczorek-Zeul hat es eben er-wähnt. Die Kollegin Johnson hat von dem Konflikt inJonglei berichtet, der enorm eskalierte und bei dem derFrieden zwischen Nord- und Südsudan wirklich aufMessers Schneide stand. Davon hat heute auch der Chefdes DPKO gesprochen. Es ist ein Verdienst von UN-MISS, dass dieser Konflikt zunächst beruhigt werdenkonnte.Auch hierzu schreibt der Kollege Schäfer – Hört!Hört! –:Damit– dass UNMISS die Zivilbevölkerung rechtzeitig ge-warnt hat und ihrem Auftrag, die Zivilbevölkerung zuschützen, gerecht wurde –wurden hunderte, wahrscheinlich sogar tausendeMenschenleben gerettet.
Sie sollten den Leuten zuhören, die im Lande warenund deshalb über die Situation vor Ort berichten können.Natürlich ist UNMISS kein Garant dafür, dass es imSüdsudan Frieden gibt, aber es ist eine Conditio sine quanon, eine Bedingung dafür, dass das Land überhaupteine Chance hat, sich zu stabilisieren. Deshalb müssenwir heute der Verlängerung dieses Mandats zustimmen.
Für mich steht fest, dass wir die historische Chancehaben, generell ein neues Kapitel in den Beziehungen zuAfrika aufzuschlagen, es sozusagen einmal richtig zumachen, und zwar zusammen mit unseren afrikanischenPartnern. Ich hoffe, dass wir diese Chance nicht verspie-len.Ich will an dieser Stelle auch darauf hinweisen, dasses zurzeit einige Entwicklungen gibt, die in die falscheRichtung gehen. Wir haben das gemeinsam in zwei in-terfraktionellen Anträgen sehr deutlich gemacht. Damitmeine ich vor allem die sogenannten Post-CPA Issues,also noch offene Fragen aus dem alten Friedensvertrag,etwa: Man hat sich jetzt zwar auf die Wiederaufnahmevon Öllieferungen geeinigt, aber es fehlt immer noch einumfassendes Wirtschaftsaufbauprogramm mit klaren so-zialen Standards. Herr de Maizière, es ist keineswegs so,dass die Wiederaufnahme der Öllieferungen eine Garan-tie ist. Wir kennen viele Länder, in denen das eher Fluchals Segen ist. Deshalb ist es fraglich, ob der Südsudantatsächlich davon profitieren kann.Auch die Buffer Zone ist sehr wichtig. Es ist aber völ-lig unklar, wer sie überwachen wird. In Bezug auf dieEntwaffnung der SPLM-Nord ist noch gar nichts pas-siert, und es wird so lange nichts passieren, bis nicht et-was in den strittigen Regionen Abyei, Nuba-Berge undBlue Nile passiert ist.Ich möchte die grassierende Korruption erwähnen;auch das muss man hier zur Sprache bringen. In ersterLinie ist natürlich die südsudanesische Regierung dafürverantwortlich, aber auch wir haben Fehler gemacht.Man hat zugelassen, dass die Petrodollars ins Land ka-men, ohne dass es irgendwelche Institutionen gab, diedas hätten kontrollieren können und müssen, ohne dasses irgendwelche Banken gab. Das war zumindest fahr-lässig.Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Wir als Deut-scher Bundestag könnten der UN 50 Soldaten der Bun-deswehr – das ist die Höchstgrenze – zur Verfügung stel-len. Es ist wichtig, dass wir diesen Beitrag leisten, dasheißt, dass wir diese Soldaten der UN wirklich zur Ver-fügung zu stellen. Frau Johnson hat auch klargemacht:UNMISS befindet sich erst am Anfang. Deutschland als
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24402 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Kerstin Müller
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eine Nation, die die UN unterstützt, könnte und müsstehier eigentlich noch mehr leisten. Ich hoffe, dass dieBundesregierung das in Zukunft tut.Vielen Dank.
Letzter Redner in der heutigen Debatte ist Kollege
Philipp Mißfelder für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kollegen! Frau Müller, ich bin Ihnen sehrdankbar, dass Sie mit deutlichen Worten zumindest dieWürde dieser Debatte wiederhergestellt haben; denn das,was wir vorhin erlebt haben, das kann man wirklich nurals groben Unfug bezeichnen.
Die Ursachen des Konflikts komplett zu ignorieren,Frau Buchholz, und dann die Mittel, die wir anwendenkönnen – natürlich können wir darüber diskutieren, obman vielleicht zu spät eingegriffen hat, ob man nichtvielleicht mehr hätte tun können und ob das, was wirjetzt machen, ausreicht –, als die Gründe für die dortigeSituation darzustellen, das halte ich nun wirklich fürfalsch. Was Sie eben gemacht haben, war unredlich undin der Sache nicht richtig.
Beide Mandate, die wir gerade beraten, sind gute Bei-spiele für unsere wertegeleitete Außenpolitik.
UNMISS führt dazu, dass wir die Bewegungsfreiheit derHelfer vor Ort gewährleisten können. Das ist ein ganzvitaler, humanitärer Beitrag.
Das passt sehr gut zu den zivilen Maßnahmen, die wirim Großen und Ganzen ergreifen. Ich habe vorhin inmeiner Rede zu dem anderen Mandat bereits zur politi-schen Aufgabe und den daraus resultierenden Herausfor-derungen ausgeführt: Damit der Südsudan nicht von An-fang an zu einem Failed State wird, müssen wir politischmehr tun. Ich glaube, dass wir die Hoffnung nicht aufge-ben sollten.Es ist zum Beispiel eine gute Nachricht, dass das Par-lament in Khartoum am 17. Oktober 2012 bei nur zweiGegenstimmen den Kooperationsvertrag beschlossenhat. Frau Wieczorek-Zeul hat es ja gesagt: Nicht allesgeht so schnell, wie wir das haben wollen; aber es istdoch trotzdem bemerkenswert, dass man es schafft, einePufferzone einzurichten, und dass man es schafft, denStreit über die Verteilung der Ölvorkommen beizulegen.Damit hat man die Grundlagen für ein funktionierendesStaatswesen gelegt. Die Ölförderung kann wieder begin-nen. Damit kann wieder Geld ins Land kommen und et-was Wohlstand entstehen. Damit kann überhaupt erstwieder von einem funktionierenden wirtschaftlichen Ge-füge die Rede sein. Das war in den letzten neun Monatenüberhaupt nicht der Fall, weil jegliche ökonomischeGrundlage weggebrochen ist, da kein Erdöl gefördertwerden konnte. Gerade die Beilegung dieses Streits istein politisch wichtiges Signal, das wir mit den Möglich-keiten, die wir haben, politisch unterstützen sollten.
– Hier hat doch kein Redner behauptet, in keiner der bei-den Debatten – das habe ich auch von keinem anderenRedner jemals gehört, wenn wir hier über Mandate dis-kutiert haben –, dass wir glauben, dass ein Konflikt ir-gendwo auf der Welt militärisch gelöst wird. Konfliktewerden immer nur politisch gelöst. Manchmal ist es abernotwendig, militärische Optionen nicht auszuschließen,weil man sich überhaupt erst durch militärische Optio-nen den für politische Lösungen notwendigen Spielraumverschaffen kann. Hier sagt kein Redner, überhaupt nie-mand, Militär sei eine Lösung.
Aber Sie brauchen mitunter Militär, um Humanitätdurchsetzen zu können.Die Herausforderungen sind klar: Das Staatsgebiet istkaum erschlossen. Es mangelt überall an Infrastruktur.Die Zentralregierung – auch Minister de Maizière hat esgesagt – ist nicht in der Lage, die einfachsten administra-tiven Aufgaben auszuführen.Aufgrund der andauernden Konflikte konnten Fragen,die die Grundfesten eines Staates betreffen, zum BeispielFragen des Budgets, gar nicht erst angegangen werden.Etwa 50 Prozent des offiziellen südsudanesischen Haus-halts flossen im Jahr 2011 in den Militäretat und den Etatder Polizei. Das heißt, dass sich ein Staat, der hinsicht-lich der Infrastruktur eigentlich erst aufgebaut werdenmüsste, zumindest vor dem Hintergrund unseres Staats-verständnisses, in erster Linie um die Bewältigung vonKonflikten kümmert. Deshalb ist es notwendig, dass vonaußen geholfen wird. Das tun wir mit diesem Mandat,und deshalb halten wir dieses Mandat nach wie vor fürrichtig. Wir betten es ein in unsere gesamtpolitischeKonzeption, um den Menschen dort die Hoffnung zu ge-ben, dass dieser Staat kein Failed State wird, sonderneine gute Zukunft hat.
Ich möchte für dieses Mandat werben. Das wird un-sere Fraktion weiterhin tun.Zum Abschluss möchte ich Ihnen, liebe Soldatinnenund Soldaten – Sie sind stellvertretend hier, wurden aber
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24403
Philipp Mißfelder
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noch gar nicht begrüßt, obwohl Sie zu so später Stundeanwesend sind –, herzlich danken für die Aufgaben, dieSie übernehmen, und für die Pflicht, die Sie für unserLand tun.
– Herr Gehrcke, Sie finden das vielleicht peinlich. Esgab auch einmal Zeiten, da haben Sie NVA-Soldaten be-grüßt. Das kann man alles über Sie nachlesen. – Vor die-sem Hintergrund sage ich Ihnen, liebe Soldatinnen undSoldaten: Ich finde es gut, dass Sie sich zu dieser Uhrzeitanschauen, wie wir diese Frage beraten. Hier ist nicht al-les Licht; bei diesen Diskussionen gibt es auch vielSchatten. Ich finde es wichtig, dass Sie wissen, dass wirmit großer Ernsthaftigkeit den politischen Rahmen fürIhren Einsatz setzen, damit wir politische Lösungen fin-den können;
denn das, was Sie leisten, liebe Soldatinnen und Solda-ten, ist von sehr großem Wert.
– Jetzt beruhigen Sie sich einmal; denn ich möchte nocheine persönliche Anmerkung im Namen meiner Fraktionmachen.Ich möchte von dieser Stelle aus – ich glaube, im Na-men aller –, dem lieben Ernst-Reinhard Beck, dem esdiese Woche gesundheitlich gar nicht gut ging, allesGute wünschen. Unsere Gedanken sind auch am heuti-gen Abend bei ihm.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/11037 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Nun folgen eine ganze Reihe von Abstimmungen,von Entscheidungen ohne Debatte. Ich bitte Sie um Ihrefreundliche Aufmerksamkeit.Tagesordnungspunkt 19:Beratung des Antrags der AbgeordnetenJohannes Pflug, Dr. Rolf Mützenich, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPD sowie der Abgeordneten UteKoczy, Dr. Frithjof Schmidt, Kerstin Müller
, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENEine kohärente Gesamtstrategie für Pakistan –Für eine aktive Einbindungsdiplomatie, Stär-kung der demokratischen Kräfte und eine ver-lässliche Entwicklungszusammenarbeit– Drucksache 17/11033 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zudiesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.1)Es wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache17/11033 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-schüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? –Das ist der Fall. Dann haben wir die Überweisung so be-schlossen.Tagesordnungspunkt 26:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines ZweitenGesetzes zur Änderung des Siebten Buches So-zialgesetzbuch– Drucksache 17/10750 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Arbeit und Soziales
– Drucksache 17/11176 –Berichterstattung:Abgeordneter Josip JuratovicAuch hier ist vereinbart, die Reden zu Protokoll zugeben. – Sie sind damit einverstanden.2)Dann kommen wir zur Abstimmung. Der Ausschussfür Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 17/11176, den Gesetzent-wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/10750 inder Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,die dem Gesetzentwurf so zustimmen wollen, um dasHandzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmigangenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Diejenigen, die zustimmenwollen, bitte ich, sich zu erheben. – Wer stimmt dage-gen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist einstim-mig angenommen.1) Anlage 132) Anlage 14
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24404 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Tagesordnungspunkt 21:Beratung des Antrags der Abgeordneten Steffen-Claudio Lemme, Dr. Marlies Volkmer, BärbelBas, weiterer Abgeordneter und der Fraktion derSPDBetroffenen Frauen nach dem Anti-D-Hilfe-gesetz zu mehr Verfahrenssicherheit undTransparenz verhelfen– Drucksache 17/10645 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendWie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll genommen.
Eines will ich gleich an den Anfang stellen: Im Ergeb-nis teile ich das Ziel des Antrages, die Entschädigungder betroffenen Frauen so gut wie möglich sicherzustel-len. Ich bin mit den Antragstellern der Ansicht, dass dieUmsetzung in einigen Ländern sehr zu wünschen übriglässt. Allerdings ist das BMG mit den Ländern im Ge-spräch, und ich will hier nicht diejenigen an den Pran-ger stellen, die sich kümmern. Ausschließlich deshalbkönnen wir dem Antrag nicht folgen.Ich fasse nochmals kurz zusammen: Bei dem Gesetzüber die Hilfe für durch Anti-D-Immunprophylaxe mitdem Hepatitis-C-Virus infizierte Personen, kurz: Anti-D-Hilfegesetz, geht es um die Hilfe für Frauen, die zur Im-munprophylaxe zwischen dem 2. August 1978 und dem14. März 1979 in der ehemaligen DDR geimpft wurden.Die Impfung war damals bei bestimmten Gesundheitsri-siken nach der Schwangerschaft vorgesehen. Sie dientedazu, bei Rhesusfaktor-Unverträglichkeiten nach Ge-burten Schäden bei den Kindern zu verhindern.Innerhalb des genannten guten halben Jahres wurden6 773 Frauen mit Anti-D-Immunglobulinen behandelt.Weil ein Teil der Impfchargen im Institut für Blut-spende- und Transfusionswesen in Halle schuldhaft mitHepatitis-C-Viren verseucht worden war, wurden rund4 700 Personen, Stand heute, also die behandeltenFrauen, etliche Kinder und weitere Kontaktpersonen ausderen familiärem Umfeld, kontaminiert. Nach dem ak-tuellen Stand sind 2 615 Personen als Schadensfällenach dem Anti-D-Hilfegesetz anerkannt.Den Opfern gehört auch heute unser Bedauern undMitgefühl. Und wir sollten dabei auch nicht vergessen,dass diese Frauen letztlich zweimal geschädigt wurden:Zum einen durch die kriminellen Machenschaften im In-stitut in Halle. Arzt und Apotheker wurden damals auchverurteilt. Zum anderen durch die Einordnung lediglichals Impfschaden. Denn zu DDR-Zeiten durfte es schlichtkeinen Arzneimittelskandal geben. Also hat man dieFrauen wie bei Impfschäden entschädigt und ihnen da-mit den Anspruch auf eine höhere Rente, eben nicht nurnach den Sätzen des Bundesversorgungsgesetzes, ebensoversagt wie die Ermöglichung einer Zahlung vonSchmerzensgeld. Denn mit der Einordnung als Impf-schaden sind die Frauen nach der deutschen Einheitauch in unser Rechtssystem übernommen worden.Um die humanitäre und soziale Lage dieser infizier-ten Frauen und Kinder zu verbessern, hat der Bundestagim Jahr 2000 nach vielen Verhandlungen zwischenBund und Ländern ein eigenständiges Gesetz, eben dasAnti-D-Hilfegesetz, AntiDHG, beschlossen. Ein eigen-ständiges Gesetz auch wegen der Parallelen zum Gesetzüber die Errichtung eines Hilfswerkes für behinderteKinder und dem HIV-Hilfegesetz.Meine Fraktion hat bereits im März 2004 die Fragenach der Rechtsqualität der Entschädigungszahlungengestellt. Die damalige Bundesregierung stellte aus-drücklich und eindeutig klar, dass es sich bei den Rege-lungen im Anti-D-Hilfegesetz nicht um einen Bestandteildes sozialen Entschädigungsrechtes handelt, sonderndass es sich um eine eigene Rechtsgrundlage handelt.Zugunsten der Opfer, um die höhere Rente zu ermög-lichen und um überhaupt Einmalzahlungen gewähren zukönnen, ist damals aber ausdrücklich der Weg überSchadenersatzleistungen und nicht über die Entschädi-gung eingeschlagen worden.Laufende Geldleistungen erhalten ab einem Grad derBehinderung von 30 Prozent heute 906 Personen. An-spruch auf medizinische Behandlung haben alle aner-kannten Personen. 2 615 der im Raum stehenden Scha-densfälle, rund zwei Drittel, sind anerkannt.Übrigens ist es aufgrund dieser guten medizinischenVersorgung, Gott sei Dank, in weniger Fällen als erwar-tet zu Verschlimmerungen und Folgeerkrankungen ge-kommen. Zudem wurde in den letzten Jahren die medika-mentöse Therapie der chronischen Hepatitis C stetigverbessert. Durch die Entwicklung und kassenärztlicheZulassung, durch den Gemeinsamen Bundesausschuss,der sogenannten Proteaseinhibitoren, Telepravir undBoceprevir, zur Therapie der Hepatitis C stehen hochpo-tente neue Medikamente mit dem „Schlüssel-Schloss-Prinzip“ zur Behandlung zur Verfügung. So haben sichdie sogenannten Heilungsraten gemäß der vorgestelltenStudien auf der 43. Versorgungsmedizinischen Fortbil-dungstagung 2012 für Versorgungsärzte der Länder fürerfolglos vorbehandelte Patienten, auf 30 Prozent, undBetroffene mit einem Rückfall, auf 79 Prozent bis83 Prozent, deutlich verbessert. Nach Aussage der Refe-renten ist mit einer weiteren Verbesserung der Therapie-möglichkeiten in den kommenden Jahren zu rechnen.Zuständig für das Anti-D-Hilfegesetz ist federführenddas Bundesministerium für Gesundheit, BMG, und mit-beratend für versorgungsmedizinische Fragen das Bun-desministerium für Arbeit und Soziales, BMAS, dieDurchführung allerdings obliegt den Ländern. DasAnti-D-Hilfegesetz wird von den Ländern Berlin, Bran-denburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sach-sen-Anhalt und Thüringen als Auftragsverwaltung imSinne von Art. 104 a Abs.3 GG ausgeführt. An den Kos-ten sind auch die übrigen Länder nach einem Kosten-schlüssel beteiligt. Zur Ausübung der Bundesaufsichtlädt das BMG regelmäßig alle Akteure ein und stellt vorallem auch die einheitliche Durchführung sicher.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24405
Karin Maag
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Mit dem Oppositionsantrag wird nun gefordert, dassdie Versorgungsmedizin-Verordnung geprüft und auf Ba-sis neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse und Erfahrun-gen konkretisiert wird. Die Folgeerkrankungen, die sichim Rahmen dieser Behandlung ereignet haben, sind inder Versorgungsmedizin-Verordnung zu prüfen und ge-gebenenfalls anzupassen. Auch soll darauf hingewirktwerden, dass der Austausch der betroffenen Bundes-länder verbessert wird. Dem Ausschuss für Gesundheitund dem Ausschuss für Arbeit und Soziales soll in sechs-monatigen Abständen ein Bericht über die Evaluationdes Anti-D-Hilfegesetzes im Rahmen von Bund-Länder-Konsultationen vorgelegt werden, um die Bedarfe zeit-nah zu erfassen und auf sie einwirken zu können.Im Ergebnis teile ich das Ziel des Antrages, die Ent-schädigung der betroffenen Frauen so gut wie möglichsicherzustellen. Ziel ist es, einen einheitlichen Verwal-tungsvollzug unter sachgerechter Anwendung der Ver-sorgungsmedizin-Verordnung zu erreichen. Dazu fand,anders als im Antrag dargestellt, die letzte Bund-Länder-Besprechung am 27. September 2012 im BMG unter Be-teiligung des BMAS statt, im Rahmen derer offenbar derVerwaltungsvollzug mit den Ländern ausführlich erör-tert wurde.Es wurde – so die Information – festgestellt, dassextrahepatische Manifestationen seit 2001 gemäß derVersorgungsmedizin-Verordnung zu berücksichtigen undzwingend Bestandteil der Begutachtung sind. Grund-sätzlich sind bei der versorgungsärztlichen Begutach-tung die Leitlinien der Fachgesellschaften zu beachten,hier S3-Leitlinie zur chronischen Hepatitis C. Diese ge-ben den aktuellen evidenzbasierten wissenschaftlichenStand in dem jeweiligen Fachgebiet wieder, den die Gut-achter zu berücksichtigen haben. Das von der Vielzahlder Geschädigten benannte Problem der angeblich miss-verständlichen Formulierung der Versorgungsmedizin-Verordnung, die zu ihrer fehlerhaften Anwendung führt,und zwar sowohl bei der Bewertung des histologischenLeberbefundes als auch bei der Gesamtbewertung derHepatitis-C-Virusinfektion und ihrer Schädigungsfolgenwurde, so wurde ich informiert, angesprochen. Bei demTreffen ist man daher zu dem Ergebnis gekommen, dassnun im Verlauf der begonnenen grundsätzlichen Ge-samtüberarbeitung der Versorgungsmedizin-Verordnungauch die Begutachtungsgrundsätze zur chronischen He-patitis durch eine Expertengruppe auf ihre weitere Gül-tigkeit überprüft werden. Allerdings gilt ja bereits derGrundsatz, dass bei der versorgungsärztlichen Begut-achtung die Leitlinien der Fachgesellschaften zu beach-ten sind. Ein Termin hierfür steht allerdings noch nichtfest.Ein Protokoll liegt zu der Besprechung noch nichtvor. Ich gehe aber davon aus, dass wir auf einem gutenWeg sind. Uns allen ist es schließlich ein Anliegen, denFrauen zu helfen.
„Nur eine Spritze!“, so der Titel der Dokumentation,die sich mit dem größten Medizinskandal der DDR be-fasst, ausgestrahlt im Oktober 2012 im RBB und MDR.Mit großem medialen Aufsehen und begleitenden Veran-staltungen ist der Eklat um die kontaminierten Antikör-perpräparate im Rahmen einer Anti-D-Immunglobulin-Behandlung in den Jahren 1978 und 1979 nun wiederverstärkt in den Blick der Öffentlichkeit geraten. SPDund Bündnis 90/Die Grünen haben schon vor mehr alszehn Jahren für die Unterstützung und Entschädigungder Betroffenen gesorgt.Nur eine Spritze, die das Leben von den Betroffenenund deren Familien radikal verändert hat – und das bisheute. Lassen Sie mich noch einmal kurz die Geschichteder Tragödie aufzeigen:Zwischen dem 2. August 1978 und dem 14. März 1979wurden circa 4 700 Frauen mit dem Hepatitis-C-Virusinfiziert. Die damals in der DDR vorgeschriebene Be-handlung von Frauen mit negativem Rhesusfaktor solltebei Geburten eine Schädigung des Nachwuchses verhin-dern. Doch für die betroffenen Frauen kam alles ganzanders.Der große Skandal rührt daher, dass die Infektionennicht etwa durch einen mangelnden Grad wissenschaft-licher Kontrollierbarkeit der Präparate verursacht wur-den, sondern dass die Verabreichungen mit dem Wissenum die Folgen einer Hepatitis-C-Infektion – und damitvorsätzlich – geschehen sind.Wie gesagt, die gesundheitlichen und lebensweltli-chen Folgen sind immens. Denn Hepatitis-C-Viren ver-ursachen eine Form der Leberentzündung, die imschlimmsten Fall einen chronischen Verlauf bis hin zumTod durch Leberversagen nehmen kann. Folglich müssendie Betroffenen bis zum Ende ihres Lebens mit der Krank-heit ausharren. Ein tiefer Einschnitt für die Frauen, de-ren Familien und Lebenspläne! Für mich persönlich sinddie Auswirkungen nur schwer nachzuempfinden undletztlich zu begreifen! Besonders belastend ist dabei bei-spielsweise die stete Gefahr der Übertragung der Krank-heit etwa auf den Partner, die Partnerin oder Familien-angehörige. All jene Herausforderungen machen esnotwendig, dass wir den Betroffenen weiterhin zur Seitestehen.Eine Entschädigungsregelung hat die damalige Bun-desregierung aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen mitdem Anti-D-Hilfegesetz, AntiDHG, geschaffen, um die-sen Frauen ein Mindestmaß an Unterstützung erfahrenzu lassen. Meine Fraktion hat sich nun erneut der Nöteder Betroffenen angenommen. In unserem Antrag „Be-troffenen Frauen nach dem Anti-D-Hilfegesetz zu mehrVerfahrenssicherheit und Transparenz verhelfen“ wollenwir mögliche nachgelagerte Probleme bei der Begut-achtung der Betroffenen beseitigen und mehr Transpa-renz schaffen. Im Folgenden möchte ich kurz darauf ein-gehen.Mehrfach wurde in der Öffentlichkeit die Uneinheit-lichkeit der Anwendung des Anti-D-Hilfegesetzes in denLändern bezweifelt. Meine Fraktion hat in der KleinenAnfrage „Dokumentation des Anti-D-Hilfegesetzes undvorangegangener Gesetze“ auf Drucksache 17/9071von der Bundesregierung statistisches Material zur Be-willigungspraxis abgefordert. Die Zahlen in der AntwortZu Protokoll gegebene Reden
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24406 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Steffen-Claudio Lemme
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der Bundesregierung auf Drucksache 17/9277 konntedie Spekulationen jedoch nicht erhärten.Um das Vertrauen der Betroffenen in Bund und Län-dern zu stärken, muss in Zukunft für eine transparenteDokumentation der Bewilligungspraxis Sorge getragenwerden. Daher fordern wir die Bundesregierung erneutauf, weiterhin jeden Zweifel an einer einheitlichen An-wendung des AntiDHG auszuräumen, den Austausch mitden Bundesländern weiter zu verbessern und in Zukunftdie Zahlen der Betroffenenstatistik im Interesse größt-möglicher Transparenz der Öffentlichkeit regelmäßigzur Verfügung zu stellen.Weiterhin wird der Vorwurf erhoben, dass aufgrundder Fülle unterschiedlicher Schädigungen die Begut-achtungen des Gesamtzustandes der Betroffenen unzu-reichend erscheinen. Denn das gesamte Erkrankungs-bild durch die und infolge der Hepatitis-C-Infektionerstreckt sich sowohl auf die Leber selbst, manifestiertsich aber auch außerhalb des Organs. Eine umfassendeBewertung könne gegenwärtig so nicht erbracht werden.In diesem Zusammenhang wurde die Aktualität der Ver-sorgungsmedizin-Verordnung oder auch die Fachkom-petenz der Gutachterinnen und Gutachter in Abrede ge-stellt. Zur Sprache kam diese Kritik in Beratungen mitSachverständigen, den Betroffenen, der Sozialgerichts-barkeit und Einzelexpertinnen und Experten im Vorfeld,während und nach der Anhörung des Ausschusses fürGesundheit vom 28. September 2011.Daher erheben wir die Forderung nach dringenderPrüfung der Notwendigkeit einer Überarbeitung derVersorgungsmedizin-Verordnung durch die medizini-schen Sachverständigen des Bundesarbeitsministeriums.Denn es ist zu vermuten, dass die jetzige Ausgestaltungder Versorgungsmedizin-Verordnung Gefahren einer un-zureichenden Berücksichtigung sogenannter extrahepa-tischer Manifestationen sowie eines missverständlichenGebrauchs birgt. Der Ärztliche SachverständigenbeiratVersorgungsmedizin beim Bundesministerium für Arbeitund Soziales, BMAS, muss daher zeitnah prüfen, ob undwie die Versorgungsmedizin-Verordnung überarbeitetund konkretisiert werden muss. Kernpunkt des Prüfauf-trags sollte die Frage der Notwendigkeit einer zwingen-den Berücksichtigung und expliziten Erwähnung extra-hepatischer Manifestationen in der Verordnung sein.Letztlich muss der Deutsche Bundestag zeitnah über dieEinschätzungen des Ärztlichen SachverständigenbeiratsVersorgungsmedizin beim Bundesarbeitsministerium un-terrichtet werden.Die Begutachtung der Betroffenen setzt darüber hi-naus eine besondere Fachkompetenz für Hepatitis-C-In-fektionen sowie den Umgang mit der VersMedV voraus.Dies kann nach einhelliger Meinung von Expertinnenund Experten sachgerecht nur durch ausgewieseneFachärztinnen und Fachärzte für Leberkrankheiten, so-genannten Hepatologen, geleistet werden. Nur von ih-nen ist zu erwarten, dass sie die hinreichende Spezial-kenntnis im Hinblick auf eine Begutachtung einerHepatitis-C-Infektion und ihrer Vielzahl von Folgeer-krankungen haben. Um unzureichende Begutachtungenmöglichst zu vermeiden, müssen alle Gutachterinnenund Gutachter durch das BMAS erneut auf die Beson-derheiten der Begutachtung hingewiesen werden. Hierist auf die 2001 erfolgten Präzisierungen durch das da-malige Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnunghinzuweisen, die den Stellenwert extrahepatischer Ma-nifestationen unterstreichen.Demnach lautet unsere Forderung, im Einvernehmenmit den Ländern dafür zu sorgen, dass alle ärztlichenGutachterinnen und Gutachter nochmals gesondert mitallen in der Vergangenheit erarbeiteten Spezifikationenfür eine Begutachtung und den gegebenenfalls novellier-ten Kriterien einer Beurteilung von HCV-Infektionenund ihrer Folgeerkrankungen hinreichend vertraut ge-macht wurden.Ein besonderes Augenmerk unseres Antrags liegtauch auf der Transparenz und dem Berichtswesen derVergangenheit. Im Zuge dessen fordern wir, dem Aus-schuss für Gesundheit und dem Ausschuss für Arbeit undSoziales in einer Sechsmonatsfrist einen chronologi-schen Bericht über die Evaluierung des Anti-D-Hilfege-setzes im Rahmen der Bund-Länder-Konsultationen vor-zulegen.Es war und ist offenkundig erklärtes Ziel der Mehrheitder Abgeordneten des Deutschen Bundestages sowie al-ler Bundesregierungen seit Inkrafttreten des Anti-D-Hil-fegesetzes, die betroffenen Frauen in ihrem nunmehrüber 30 Jahre währenden Leidenskampf zu unterstützenund ihnen im Rahmen des Anti-D-Hilfegesetzes zu ihremRecht zu verhelfen. Mit den hier vorgestellten Maßnah-men werden wir hier – hoffentlich erneut gemeinsam –einen wichtigen Beitrag leisten.
Zum wiederholten Male befasst sich der Bundestagmit Einzelheiten der Umsetzung des Anti-D-Hilfegeset-zes, diesmal auf der Basis eines SPD-Antrags. Dieserist, wie so oft bei den Sozialdemokraten, gut gemeint,aber nicht gut gemacht, und unterliegt einer Reihe vonMissverständnissen, ohne die es diesen Antrag über-haupt nicht hätte geben können.Es ist zwischen den Parteien vollkommen unstreitig,dass den 1978 und 1979 in der damaligen DDR vorsätz-lich mit dem Hepatitis-C-Virus infizierten Frauen um-fassende und transparente Hilfe zuteilwerden muss.Demgemäß wurde das Anti-D-Hilfegesetz als eigenstän-dige Entschädigungsregelung eingeführt, welche denBetroffenen höhere Renten als im Sozialen Entschädi-gungsrecht üblich zuweist.Der SPD-Antrag ist offensichtlich aus einigen Aussa-gen in der Sachverständigenanhörung vom September2011 hervorgegangen, welche wiederum von der Frak-tion Die Linke initiiert wurde; diese hatte eine voll-ständige Beweislastumkehr hinsichtlich der Wahrschein-lichkeit des ursächlichen Zusammenhangs zwischenSchädigungsfolgen und der Hepatitis-C-Virusinfektiongefordert. Dieser Vorschlag wird von der SPD nicht auf-gegriffen. Die derzeit gültige, im Anti-D-Hilfegesetzfestgelegte Beweiserleichterung, nach der Behörden undSozialgerichte den Sachverhalt von Amts wegen aufzu-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24407
Dr. Erwin Lotter
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klären haben, wird allgemein als ausreichend ange-sehen. Der SPD-Antrag erwähnt selbst, dass die betrof-fenen Frauen hinsichtlich Zielsetzung, Umfang undReichweite des Gesetzes mit der Situation generell zu-frieden sind. Allerdings gebe es Zweifel an einer einheit-lichen Anwendung des Gesetzes in den betroffenen Bun-desländern. Diese sollen nach dem Willen der SPDausgeräumt werden.Dabei übersieht der Antrag, dass es mit den Länder-referentenbesprechungen zum Anti-D-Hilfegesetz be-reits ein funktionierendes Instrument zur Kontrolle dereinheitlichen Anwendung gibt. Das Bundesgesundheits-ministerium führt hierüber die Aufsicht und lädt regel-mäßig zu Gesprächen mit den Ländern ein. Dabei wer-den Erfahrungen ausgetauscht und evaluiert. Außerdemwird die einheitliche Durchführung des Gesetzes sicher-gestellt, indem Darstellungen zu möglicherweise unglei-chen Behandlungsweisen in den Ländern immer wiederaufgegriffen werden. In den letzten beiden Runden konn-ten Anhaltspunkte für Versäumnisse und Bearbeitungs-mängel nicht festgestellt werden.Insoweit geht der SPD-Vorschlag, den Austausch mitden Bundesländern zu verbessern, ins Leere, weil er re-dundant ist. Ein Vorschlag, mit dem sich die Sozialde-mokraten hervortun möchten, der aber die schon be-währte Praxis ignoriert.Des Weiteren unterstellt der Antrag, die Begutach-tung der Leiden sei unzureichend. Dabei bezieht er sichinsbesondere auf extrahepatische Manifestationen, alsoSchädigungen außerhalb der Leber, die auch nach demAusheilen der Infektion weiter vorliegen können. Umhier die Feststellung eines kausalen Zusammenhangs zuverbessern, solle die Versorgungsmedizin-Verordnunggeändert werden. Auch dieser Vorschlag ist jedoch voll-kommen unnötig. Diese Manifestationen sind bereitsjetzt in der aktuellen Version der Verordnung zusätzlichzu bewerten. Die SPD-Forderung, die Verordnung zukonkretisieren und extrahepatische Maßnahmen zwin-gend zu berücksichtigen, übersieht eine simple medizini-sche Tatsache: Zahlreiche Störungen wie zum Beispieleine Depression können verschiedene Ursachen haben;die extrahepatische Manifestation einer Hepatitis-C-In-fektion ist nur eine dieser Möglichkeiten. Pauschalie-rungen sind hier fehl am Platze. Nur die individuelleEinzelfallbegutachtung kann hier in medizinisch sinn-voller Weise weiterhelfen.Ohnehin erfolgt zurzeit eine Gesamtüberarbeitungder Versorgungsmedizinischen Grundsätze. Eine Reihevon Expertengruppen haben ihre Arbeit bereits aufge-nommen. In diesem Rahmen werden auch die Versor-gungsmedizinischen Grundsätze für chronische Hepati-tiden auf ihre weitere Gültigkeit hin überprüft undgegebenenfalls optimiert.Auch hier also wieder das gleiche Phänomen: DerAntrag missdeutet die Realität um des Effektes willen.Lassen Sie mich an dieser Stelle noch unterstreichen,dass Betroffene, die an der Kausalität der Begutachtung,der Kausalität zwischen festgestellten Gesundheitsstö-rungen und einer Gabe des kontaminierten Serums,Zweifel haben, jederzeit die Möglichkeit haben, gegendie Entscheidungen der Verwaltungsbehörde Rechtsmit-tel einzulegen oder ein Verfahren vor den Sozialgerich-ten anzustrengen.Schließlich fordert die SPD, dass alle ärztlichen Gut-achterinnen und Gutachter mit den Spezifikationen füreine Begutachtung hinreichend vertraut gemacht wer-den. Die Zweifel an der Kompetenz der Gutachter schei-nen aus Klagen einzelner Geschädigter in der genann-ten Anhörung über deren Auswahl hervorgegangen zusein. Natürlich hat sich die SPD diese Einzelmeinungengerne zu eigen gemacht. Denn dies passt ins Bild, dasdie Sozialdemokraten in ihren Anträgen der letztenJahre von Ärzteschaft und medizinischen Gutachternzeichneten: wenn schon nicht potenziell korrupt unddem Patientenwohl abgewandt, dann wenigstens inkom-petent. Es besteht kein erkennbarer Anlass, daran zuzweifeln, dass die in diesen Fällen angesprochenen Gut-achter ausgewiesene Fachleute sind und über die not-wendigen Spezialkenntnisse verfügen.Als i-Tüpfelchen beantragt die SPD nun auch nochchronologische Berichte in Sechsmonatsfristen und wei-tere Unterrichtungen des Deutschen Bundestages überdie Überarbeitung der Versorgungsmedizin-Verordnung.Letzteres mag noch angehen, aber die erste Forderungmacht wieder deutlich, dass das schönste Hobby der So-zialdemokratie im gesundheitspolitischen Bereich dieAufblähung der Bürokratie und der Ruf nach noch vielmehr Dokumentationen ist und bleibt.Zu Recht führt der Antrag aus, dass es erklärtes Zielder Mehrheit der Abgeordneten ist, die vom DDR-Un-recht betroffenen Frauen in ihrem nunmehr über30 Jahre währenden Leidenskampf zu unterstützen. Lei-der ist der vorliegende Antrag bei der Begleitung diesesKampfes nicht zielführend, überflüssig und reine Spie-gelfechterei. Die Liberalen werden ihn daher nicht un-terstützen.
Zunächst einmal möchte ich mich bei der SPD bedan-ken, dass auch sie an diesem Thema dranbleibt und sichfür Verbesserungen bei der Entschädigungspraxis derFrauen mit Hepatitis C aufgrund der Anti-D-Prophylaxeeinsetzt. Das Bemühen ist erkennbar und lobenswert,und vielleicht ist der Antrag nur durch eine Art voraus-eilende Selbstbeschränkung so blutarm, um ihn mehr-heitsfähig zu machen. Sie sehen: Meine Hoffnung ist,dass dieser Antrag ein vorweggenommener Kompromisssein soll. Stellt er allerdings die Forderungen der SPD inReinkultur dar, dann hätte ich deutlich mehr erhofft.Mir schwebte eigentlich eine fraktionsübergreifendeInitiative vor, für deren Vorbereitung ich unter anderemden wissenschaftlichen Dienst um eine Auskunft über dieEinflussnahme auf die Versorgungsmedizin-Verordnunggebeten habe. Mir geht es um konkrete Verbesserungenfür diese Frauen. Dazu sollten sich alle Fraktionen aufkonkrete Schritte einigen, damit endlich etwas auf denWeg kommt. Dafür ist es immer noch nicht zu spät. Undvielleicht können wir gemeinsam mehr erreichen alsdas, was uns nun als Antrag vorliegt.Zu Protokoll gegebene Reden
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24408 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Dr. Martina Bunge
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Vielleicht wäre aber auch eine Einigung zwischen denFraktionen ähnlich ausgefallen wie dieser Antrag. Ichwäre enttäuscht gewesen, aber ich hätte es als Kompro-miss mitgetragen, so wie meine Fraktion das Anliegendieses Antrages mitträgt und ihn trotz seiner Schwächenwohlwollend betrachtet. Lassen Sie mich darlegen, wa-rum ich von diesem Antrag enttäuscht bin.Dieser Antrag bleibt sehr vage. Er bekundet zumin-dest teilweise, dass die Probleme wahr- und ernst-genommen werden. Aber im Grunde bleibt er dabei ste-hen, die Bundesregierung aufzufordern, sich gegenüberdem Beirat für die Versorgungsmedizin-Verordnung ein-zusetzen, sich gegenüber den Ländern einzusetzen, Be-richte vorzulegen etc.; er bleibt jegliche greifbare odergesetzliche Verbesserung für die betroffenen Frauenschuldig. Dabei erinnern Sie zum Beispiel selbst in IhrerFeststellung daran, dass es längst einen Entschließungs-antrag gab, der die Bundesregierung aufforderte, für dieeinheitliche Umsetzung des Anti-D-Gesetzes in den Län-dern zu sorgen. Hätte dies etwas genützt, bräuchten wirden hier vorliegenden Antrag nicht. Dies zeigt doch,dass solche Aufforderungen nicht ausreichen.Die Linke fordert deutlich klarere und weitreichen-dere Verbesserungen für die Betroffenen der Anti-D-Prophylaxe:Erstens. Die Anrechnung der Renten auf Sozialleis-tungen muss unterbleiben. Hier geht es um Entschädi-gungsleistungen. Warum sollte jemand mit Anspruch aufSozialleistungen geringer entschädigt werden als je-mand ohne solche Ansprüche?Zweitens. Die Forderung, die Gutachter zu schulen,nimmt sich für mich etwas weltfremd aus. Die Sachver-ständigen haben deutlich gemacht, dass die Beurteilungder Folgeschäden allein durch entsprechende Spezialis-ten erfolgen muss. Ich denke, eine Schulung macht auseinem Allgemeinarzt noch keinen Hepatologen. DieLinke fordert daher, dass die Begutachtung allein durchFachärzte, wie Hepatologen und eventuell Internisten,vorgenommen wird.Drittens. Es muss dringend eine Anerkennung derFolgen der Therapien stattfinden. Während die Versor-gungsmedizin-Verordnung lediglich und, wie wir allewissen, unzureichend auf die Folgen der Hepatitis ein-geht, leiden die Frauen auch an den Folgen der Thera-pien. Die negativen Folgen der Therapien sind aberebenso Folge der Anti-D-Prophylaxe wie die Hepatitisselbst.Viertens. Den Frauen, die 30 Jahre an den Folgendieser Anti-D-Prophylaxe physisch und psychisch gelit-ten haben, sollte man die Möglichkeit zu Verschlechte-rungsanträgen geben, aber die Leistungen bei Verbesse-rungen der Erkrankung nicht niedriger festsetzen,entsprechend § 62 Absatz 3 BVG. Den Frauen würde da-mit endlich erspart, dauernd erneut ihre Ansprüchenachweisen zu müssen.Fünftens. Die Versorgungsmedizin-Verordnung mussan die neuesten wissenschaftlichen Verhältnisse ange-passt werden. Es liegt eine S3-Leitlinie zur Hepatitis Cvor. Dies hat Eingang in die Versorgungsmedizin-Ver-ordnung zu finden. Das Bundesministerium für Arbeitund Soziales kann zudem nach § 1 BVG eine Gesund-heitsstörung als Folge einer Schädigung anerkennen,wenn die Anerkennung nicht erfolgt, weil über die Ursa-che des festgestellten Leidens in der medizinischen Wis-senschaft Ungewissheit besteht. Meines Erachtens istdas BMAS hier in der Pflicht, zu handeln.Sechstens. Zuletzt muss ich auf die Forderung in un-serem Gesetzentwurf zu sprechen kommen. Wir habendiesen Entwurf nicht weiterverfolgt, weil klar ersichtlichist, dass er keine Mehrheiten im Parlament finden wird.Trotzdem bleibt das Ziel unseres Gesetzentwurfs berech-tigt. Diesen Frauen wurde großes Unrecht angetan; siewurden mit verseuchtem Blut behandelt. Letztlich solltensie für alle Symptome, die nicht nur wahrscheinlich,sondern allein geeignet sind, durch eine Hepatitis C ent-standen zu sein, eine Entschädigung erhalten. DieFrauen sollten nur ihre Symptome nachweisen müssen,und die zuständigen Stellen der Landesregierungen müs-sen nachweisen, dass diese Symptome nicht durch eineHepatitis C entstanden sein können. Solange dies nichterfolgt, erhalten die Frauen entsprechend ihrer Schädi-gungen ihre Rente. Wir erleben eine gnadenlose Verzö-gerungstaktik seitens der zuständigen Ämter und Ge-richte. Die Justiz und der Amtsschimmel der Länderbrauchen teilweise Jahrzehnte, um Entscheidungen zutreffen. Die Frauen können das nicht beschleunigen –die Landesregierungen sehr wohl. Warum soll die Zeitgegen die geschädigten Frauen laufen? Einige Frauenhaben erst nach mehr als zehn Jahren Gerichtsverhand-lungen ihre Ansprüche durchsetzen können. Dies mussbeendet werden.Alles in allem hätte dieser Antrag das eher kläglicheErgebnis eines Kompromisses sein können. Leider bleibter weit hinter dem zurück, was getan werden müsste. Ichwürde mich freuen, wenn durch eine fraktionsübergrei-fende Initiative, die ich gerne anstoßen möchte, mehrherauskäme.
Die Verseuchung von Blutprodukten mit Hepatitis-C-Viren hat uns in diesem Hause bereits mehrfach beschäf-tigt. Dies betraf nicht nur die Frauen, die in der DDRzwischen 1978 und 1979 durch eine verunreinigteCharge von Anti-D-Immunglobulinen infiziert wurden.Es betraf auch jene an Hämophilie Erkrankten, die sichin den 80er-Jahren mit Hepatitis C infizierten, weil sieverunreinigte Blutprodukte erhalten hatten, obwohl denstaatlichen Behörden die Risiken bereits hinlänglich be-kannt waren.Für die Frauen aus der ehemaligen DDR gibt es mitdem sogenannten Anti-D-Hilfegesetz immerhin einegesetzliche Entschädigungsregelung. Infizierte Frauenerhalten eine Entschädigung als Einmalzahlung odermonatliche Rente, wenn eine Folgeerkrankung derHCV-Infektion mit einer Minderung der Erwerbsfähig-keit von mindestens 10 Prozent bzw. 30 Prozent vorliegt.So weit die gesetzliche Regelung.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24409
Dr. Harald Terpe
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In der Praxis kommt es jedoch häufig zu Problemen.Das wurde zuletzt in einer Anhörung des Gesundheits-ausschusses im September des vergangenen Jahres deut-lich. Dies betrifft vor allem die Frage, ob die gesund-heitliche Schädigung in einem ursächlichenZusammenhang mit der Infektion steht, insbesonderedann, wenn die Viruslast nach der Therapie unter derNachweisgrenze liegt.Diese Ursächlichkeit nachzuweisen, obliegt derzeitden betroffenen Frauen. Wir wissen heute, dass eineReihe unterschiedlicher Krankheitssymptome und Schä-digungen durchaus auch – aber nicht nur – auf eineInfektion mit Hepatitis C zurückzuführen sein kann.Dazu zählen neben den Leberentzündungen mit Fibro-sen auch Leberkrebs, Zuckerkrankheit, Lungen- und Ge-lenkerkrankungen und neuropsychiatrische Erkrankun-gen wie zum Beispiel Depressionen.Der von der Linken im vergangenen Jahr vorgetra-gene Vorschlag einer Beweislastumkehr war deshalbaus meiner Sicht vor diesem Hintergrund nicht zielfüh-rend. Er hat aber zumindest die Möglichkeit eröffnet,das Thema im Gesundheitsausschuss vertieft zu behan-deln.In der Anhörung des Gesundheitsausschusses wurdesehr klar, dass das Problem sehr komplex ist und denGutachterinnen und Gutachtern manchmal leider dieEmpathie oder die Fachkenntnisse fehlen, sich sachge-recht mit der Symptomatik der infizierten Patientinnenzu beschäftigen.Der vorliegende Antrag der SPD spiegelt dieseKomplexität wider. Er zeigt auch, dass es den einen dasProblem umfassend lösenden Ansatz nicht gibt und auchnicht geben kann.Von den Vorschlägen des vorliegenden Antragsmöchte ich dennoch einen näher beleuchten. Es wirdbeantragt, eine Überarbeitung der Versorgungsmedizin-Verordnung zu prüfen. Das kann man sicher noch deutli-cher formulieren, aber im Kern ist das ein guter Vor-schlag. Dazu gab es ja in der Anhörung schon Stellung-nahmen, die eine Ergänzung dieser Verordnungempfohlen haben. Konkret wurde beispielsweise von derBAG-Selbsthilfe vorgetragen, unter anderem die soge-nannten gutachterlichen Anhaltspunkte zu ändern undsie stärker an die neuesten Behandlungsleitlinien dermedizin-wissenschaftlichen Fachgesellschaften anzu-passen. Das wäre ein wichtiger Schritt, um die gutach-terliche Praxis besser mit dem aktuellen Stand der medi-zinischen Wissenschaft zu verknüpfen. Und es würdedarüber hinaus auch dazu beitragen, die gutachterlichePraxis ein Stück weit zu vereinheitlichen. Ich habe vor einigen Jahren in Mecklenburg-Vorpommern als Arzt selbst im Rahmen einer ständigenArbeitsgruppe an der Begutachtung solcher Fälle mitge-wirkt. Sowohl ich als auch die Kolleginnen und Kolle-gen, die daran beteiligt waren, haben es sich bei diesenEntscheidungen nicht einfach gemacht. Und wir habenversucht, den Frauen auch in den Fällen gerecht zu wer-den, wo nur eine eher unspezifische Symptomatik wie dieschon beschriebenen Depressionen oder Müdigkeits-symptome vorgelegen hat.Vor diesem Hintergrund unterstützen wir diesenAntrag und sind gespannt auf die Beratungen imAusschuss.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/10645 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, Sie sinddamit einverstanden. Dann haben wir die Überweisungso beschlossen.Tagesordnungspunkt 28:Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrateingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än-derung des Neunten Buches Sozialgesetzbuch– Drucksache 17/10146 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Arbeit und Soziales
– Drucksache 17/11184 –Berichterstattung:Abgeordnete Maria MichalkInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zudiesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu nehmen. –Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.1)Wir kommen damit zur Abstimmung. Der Ausschussfür Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 17/11184, den Gesetzent-wurf des Bundesrates auf Drucksache 17/10146 in derAusschussfassung anzunehmen.Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion DieLinke vor, über den wir selbstverständlich zuerst abstim-men. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag auf Druck-sache 17/11226? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-gen? – Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen desHauses gegen die Stimmen der Linken abgelehnt.Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf inder Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – DerGesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmenvon CDU/CSU, FDP, Grünen gegen die Stimmen derLinken bei Enthaltung der SPD angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist in dritter Beratung mit den gleichen Stimmen-verhältnissen wie zuvor angenommen.1) Anlage 15
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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Tagesordnungspunkt 23:Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. IljaSeifert, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKELebenssituation der durch Contergan geschä-digten Menschen mit einem Dritten Conter-ganstiftungsänderungsgesetz und weiterenMaßnahmen spürbar verbessern– Drucksache 17/11041 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend RechtsausschussAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für GesundheitAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeHaushaltsausschussWie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll genommen.
Die Lebenssituation contergangeschädigter Men-schen hat sich in den letzten Jahren dramatisch verän-dert. Die Opfer des Conterganskandals aus den 60er-Jahren sind heute im Durchschnitt 50 Jahre alt. Sie ha-ben heute ganz andere Bedarfe als noch vor 20 oder30 Jahren. Dem müssen und dem wollen wir auch Rech-nung tragen.In der vergangenen Legislaturperiode ist es zu einemgrundsätzlichen Umdenken in der Politik gekommen,was die Lebenssituation dieser Menschen anbetrifft. Dasist eine positive Entwicklung im Sinne der Betroffenen.Mit der zweiten Änderung des Conterganstiftungsge-setzes 2008 war aber bereits klar, dass der Weg nochlange nicht zu Ende ist. In einem gemeinsamen Antraghaben CDU/CSU, SPD und FDP beschlossen, insbeson-dere die akuten Bedarfe der Contergangeschädigten ineiner Längsschnittstudie wissenschaftlich untersuchenzu lassen. Dieses Forschungsvorhaben war auch des-halb so wichtig, weil wir sehen wollten, wie sich dieErfordernisse dieser Männer und Frauen im Alltag ver-ändert haben, wo spezielle Bedarfe sind, wo Versor-gungsdefizite.Die Zwischenergebnisse des Gerontologischen Insti-tuts Heidelberg liegen uns seit Juli dieses Jahres vor. Siezeigen, wie dramatisch sich die Lebensqualität in Folgevon Spätschäden verschlechtert hat. Die Fehlbelastun-gen des Bewegungsapparates, der Zähne, Gelenke,Muskulatur haben dazu geführt, dass in vielen Fällendie Ausübung des Berufes nur eingeschränkt oder garnicht mehr möglich ist. Und die Anzahl derer, die davonbetroffen ist, wächst zunehmend.Ein weiterer wichtiger Punkt ist der Assistenzbedarfvon Contergangeschädigten, der häufig von Familien-angehörigen geleistet wird. Oft geht der Assistenz- undPflegebedarf mit zunehmendem Alter über die gesetzli-chen Leistungen hinaus, und die Betroffenen und ihreFamilien müssen zuzahlen.Das Ausmaß der Spät- und Folgeschäden der vorge-burtlichen Schädigungen durch das Mittel Contergandrängt also zum Handeln. Darüber sind sich alle Frak-tionen einig.Das Erste und Zweite Conterganstiftungsgesetzkonnte nur ein erster Schritt sein, der aber einige Ver-besserungen gebracht hat. Ich erinnere gern an diewichtigsten Punkte im Einzelnen: Die Conterganrentenwurden zum 1. Juli 2008 verdoppelt, die Renten wurdendynamisiert; deshalb gab es weitere Erhöhungen im Juli2009, im Juli 2011 und auch im Juli 2012. Contergan-renten werden nicht auf andere Sozialleistungen ange-rechnet. Seit 2009 erhalten die Opfer jährliche Sonder-zahlungen je nach Schweregrad ihrer Beeinträchtigung.Die Ausschlussfrist zur Geltendmachung von Leistungenwurde aufgehoben. Die Sach- und Personalkosten wer-den seit 2008 vollständig aus dem Bundeshaushalt ge-tragen, sodass das Stiftungsvermögen der Contergan-stiftung den Opfern voll zugutekommen kann. DerStiftungszweck ist verändert worden, sodass ausschließ-lich Projekte finanziert werden, die die Contergange-schädigten unterstützen. Die Zusammensetzung des Stif-tungsrates wurde verändert. Zwei Posten im Stiftungsratwerden von Vertretern aus Betroffenenverbänden be-setzt. 2011 wurden Gleichgewichtsstörungen neu in diemedizinische Punktetabelle aufgenommen. Die Fraktio-nen haben Parkerleichterungen beschlossen. Die Frak-tion Die Linke hat in ihrem heutigen Antrag die histori-sche Entwicklung des Conterganskandals sowie dieLebenssituation der Opfer korrekt dargestellt, aber dieForderungen sind aus unserer Sicht nicht zielführend.Die Linksfraktion weckt hier Hoffnungen bei den Betrof-fenen, die die Wirklichkeit nicht treffen. Das halten wirnicht für seriös. Wir wollen eine gemeinsame Lösung finden, die aufeinem Beschluss über möglichst alle Fraktionen hinwegbasiert. Die breite Einigung in der letzten Legislaturpe-riode war ein gutes Zeichen, und wir werden alles daransetzen, bei den jetzt notwendigen Beratungen wieder miteiner starken Stimme zu sprechen.Deshalb werden wir als CDU/CSU-Bundestagsfrak-tion dem heutigen Antrag der Linksfraktion nicht zustim-men.Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Studie werdenzwar endgültig Ende dieses Jahres vorliegen, aber dievorliegenden Handlungsempfehlungen bestätigen unsjetzt schon, dass die Lebensqualität infolge der Schädi-gung durch Contergan mit zunehmendem Alter abnimmtund die Assistenzbedarfe immer größer werden. Die Er-gebnisse haben insbesondere gezeigt, dass die zusätzli-chen finanziellen Ausgaben für medizinische und thera-peutische Versorgung für die Betroffenen belastend sind.Hier sehen wir Nachholbedarf, und wir freuen uns,dass die Bundesregierung bereits angekündigt hat, unszu unterstützen.Deshalb müssen in einem ersten Schritt Ergänzungenim Gesundheitsbereich kommen. Es ist ein großes Ärger-nis, dass bestehende Verordnungsmöglichkeiten vonHeil- und Hilfsmitteln nicht im Sinne der Contergange-
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Thomas Jarzombek
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schädigten ausgeschöpft werden. Sowohl die Con-terganstiftung als auch die Ministerien drängen seit lan-gem darauf, den Heilmittelkatalog so zu ändern, dassbestimmte Rehabilitationsmaßnahmen durch die gesetz-lichen Krankenkassen abgedeckt sind. Die Ergebnissekönnen uns nicht zufriedenstellen.In einem zweiten Schritt wollen wir als Koalition unsmit den anderen Fraktionen auf einen gemeinsamen Wegverständigen, weitere Schritte zur Verbesserung der Le-benssituation der Geschädigten vorzunehmen.Ich will aber betonen, dass die Betroffenen uns in vie-len Gesprächen sehr deutlich gemacht haben, dass dieZeit drängt; deshalb müssen wir jetzt schnell, zielgerich-tet und sachgerecht helfen. Es ist politischer Konsens,eine Änderung noch in dieser Legislaturperiode durch-zusetzen.Die zuständigen Ministerien stehen bereits im intensi-ven Kontakt, und wir werden als Fraktionen diese Arbeitintensiv unterstützen und weiter forcieren. Es muss eineschnelle und sachgerechte Lösung gefunden werden.Dabei gibt es verschiedene Modelle, die uns die Mög-lichkeit geben, unbürokratisch zu helfen. Das wird jetztgeprüft.Mit den Betroffenen selbst und den Verbänden stehenwir als Parlamentarier in engem Kontakt. Insbesonderesind hier auch meine Kollegin Maria Michalk, die Be-hindertenbeauftragte unserer Fraktion, sowie HubertHüppe, der Beauftragte der Bundesregierung für die Be-lange behinderter Menschen, sehr engagiert. Viele vonihnen haben bereits die Gelegenheit genutzt, im Rahmender Ausschusssitzungen, aber auch außerhalb mit uns zusprechen und uns auf ihre sich schnell verändernde Si-tuation aufmerksam zu machen. Das ist wichtig, um zueinem positiven Ergebnis in den Beratungen zu kommen.Ich bin optimistisch; dass uns das im Sinne der Betroffe-nen gelingt.
Ende der 50er-Jahre bis Anfang der 60er-Jahre kamenweltweit über 10 000 Kinder mit zum Teil schwerstenFehlbildungen der äußeren Gliedmaßen sowie Schädi-gungen der inneren Organe zur Welt. Ursache war dieEinnahme eines thalidomidhaltigen Medikaments – einSchlafmittel, in Deutschland unter dem Namen Conter-gan bekannt – durch schwangere Frauen. Heute leben inDeutschland noch etwa 2 700 Menschen mit Contergan-schädigungen.Ende 1961 erfolgte der Verkaufsstopp des Arzneimittelsin Deutschland. Die Pharmafirma Grünenthal GmbHwurde von vielen Eltern betroffener Kinder verklagt.1971 zahlte das Unternehmen im Rahmen eines Ver-gleichs eine Entschädigungssumme von 100 MillionenD-Mark in den deutschen Conterganfonds ein. Mit die-sem Vergleich wurde die Haftungsverpflichtung derFirma Grünenthal GmbH abschließend geklärt. Für dieOpfer wurde im Oktober 1972 die Stiftung „Hilfswerkfür behinderte Kinder“ als öffentlich-rechtliche Stiftunggegründet, die 2005 mit dem Conterganstiftungsgesetzihren heutigen Namen erhielt.Mit Inkrafttreten des Gesetzes über die Gründung derStiftung 1972 übernahm die Bundesrepublik Deutsch-land die finanzielle Gesamtverantwortung für die Con-terganrenten in der Bundesrepublik Deutschland.Die contergangeschädigten Menschen haben sich inbewundernswerter Weise ihren Platz im Berufs- und Pri-vatleben mit großem eigenen Engagement und Selbst-bewusstsein erkämpft. Ihrer Haltung und ihrer Lebens-leistung gebühren unsere hohe Anerkennung und unsergrößter Respekt.Sie haben sehr unspektakulär und von der Öffentlich-keit relativ unbemerkt ihr Leben gemeistert. Die über-wiegende Mehrheit der Geschädigten war und ist trotzder Behinderung erwerbstätig.Der Öffentlichkeit ist nicht wirklich bewusst, wieschwer ihr tägliches Leben ist und zunehmend wird.Schmerzhafte Spät- und Folgeschäden schränken dieLebensqualität der Betroffenen erheblich ein. Jahrzehn-telange Fehlbelastungen von Wirbelsäule, Gelenken undMuskulatur bringen diese Spät- und Folgeschäden mitsich. Die Lebenssituation der Betroffenen ist heute, nach50 Jahren, zunehmend durch diese sehr schmerzhaftenAuswirkungen ihrer Behinderung geprägt; ihre Lebens-qualität ist zusätzlich erheblich eingeschränkt. Oft drohenArbeitsunfähigkeit und Frühverrentung. Das belastetdie Menschen, die sich unter größten Mühen jahrzehnte-lang Unabhängigkeit erkämpft und behauptet haben,sehr.Für diese neuen Herausforderungen mussten Lösun-gen gefunden werden. In der vergangenen 16. Legisla-turperiode haben wir fraktionsübergreifend bereits vielerreicht. Der Bundestag fasste drei Beschlüsse zur Ver-besserung der Lebenssituation von Menschen mit Con-terganschädigungen:Mit dem Ersten Gesetz zur Änderung des Contergan-stiftungsgesetzes haben wir zum 1. Juli 2008 die Conter-ganrenten verdoppelt. Der Höchstsatz lag damit 2008bei 1 090 Euro statt wie vorher bei 545 Euro. Außerdemhaben wir geregelt, dass die Conterganrenten nicht aufandere Zahlungen, wie zum Beispiel Erwerbsminde-rungsrenten, SGB-II-Zahlungen oder Sozialgeld, ange-rechnet werden.Seit Inkrafttreten des Zweiten Gesetzes zur Änderungdes Conterganstiftungsgesetzes am 30. Juni 2009 wer-den die Conterganrenten zudem automatisch an die ge-setzlichen Renten angepasst. Dank dieser Dynamisie-rung liegt die Höchstrente derzeit bei 1 152 Euro. Diemonatliche Durchschnittsrente beträgt 982 Euro.Wir haben die Ausschlussfrist, das heißt die Frist, zuder sich Betroffene spätestens bei der Conterganstiftungmelden müssen, um Ansprüche geltend zu machen, ab-geschafft und damit eine zentrale Forderung der Betrof-fenenverbände erfüllt.Mit dem Gesetz wurde der Weg freigemacht für dieAuszahlung weiterer 100 Millionen Euro über 25 Jahre
Zu Protokoll gegebene Reden
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24412 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Marlene Rupprecht
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Menschen mit Conterganschädigungen seither, gestaf-felt nach Schwere der Behinderung, zusätzlich zu denmonatlichen Conterganrenten jährliche Sonderzahlun-gen. Durchschnittlich betragen diese Sonderzahlungenderzeit 2 206 Euro.Der Stiftungszweck der Conterganstiftung wurde da-hin gehend geändert, dass nur noch Menschen mit Con-terganschädigungen gefördert werden statt wie bisherauch Menschen mit anderen Behinderungen. Außerdemwurden die Strukturen der Stiftung gestrafft.Viele Forderungen unseres fraktionsübergreifendenAntrags „Angemessene und zukunftsorientierte Unterstüt-zung der Contergan-Geschädigten sicherstellen“ vom3. Dezember 2008 wurden im Zweiten Änderungsgesetzaufgenommen. Darüber hinaus hatten wir erforderlicheMaßnahmen in Bezug auf Folge- und Spätschäden, Er-leichterungen bei der Gewährung von Leistungen, dieSicherstellung qualifizierten ärztlichen und anderenFachpersonals sowie ein geeignetes Beratungs- und In-formationsangebot gefordert. Eine zentrale Forderungunseres Antrags war, einen Forschungsauftrag in Formeiner partizipativ angelegten Längsschnittstudie zurLebenssituation von Menschen mit Conterganschädi-gungen im Hinblick auf Spät- und Folgeschäden zu ver-geben.Mit der Erstellung dieser Studie wurde das Institut fürGerontologie der Universität Heidelberg beauftragt.Am 27. Juni 2012 wurden das Zwischenergebnis unddaraus folgend die Ableitung erster Handlungsempfeh-lungen der Studie mit dem Titel „Wiederholt durchzufüh-rende Befragungen zu Problemen, speziellen Bedarfenund Versorgungsdefiziten“ im Familienausschuss vorge-stellt.Der Zwischenbericht zeigt deutlich Handlungsbedarfund gibt bereits erste Empfehlungen. So sind die Folge-schäden wohl noch gravierender als bisher vermutet.Auch bei der medizinischen Versorgung muss nachge-bessert werden. Wir warten nun auf die Vorlage des Ab-schlussberichts und erörtern dann in einer öffentlichenAnhörung mit Betroffenen, was wir tun können.Nach Vorlage des Abschlussberichts der Studie – voraus-sichtlich Ende dieses Jahres – werden wir eine öffent-liche Anhörung durchführen, zu der wir alle Verbändeund Betroffene einladen werden. Inhalt wird der Umset-zungsstand der beiden Änderungsgesetze zum Conter-ganstiftungsgesetz und des Antrags sowie der Hand-lungsempfehlungen der Studie sein. Im Anschlusswerden wir die Anhörung auswerten und Schlussfolge-rungen für das parlamentarische Handeln ziehen.Dieses Vorgehen war im Familienausschuss so be-sprochen und gutgeheißen worden. Es ist sehr schade,dass die Fraktion der Linken mit dem vorliegenden An-trag unser gemeinsames, fraktionsübergreifendes Vor-gehen aufkündigt und die Arbeit mit den zum Teil völligunrealistischen Forderungen unnötig erschwert.Weitere Verbesserungen für Menschen mit Conter-ganschädigungen zu erreichen, ist unser aller Ziel. Die-ses Thema ist zur parteipolitischen Profilierung gänz-lich ungeeignet. Die große Mehrheit des DeutschenBundestages wird sich davon nicht beirren lassen, andem vereinbarten Vorgehen festhalten und mit aller ge-botenen Sorgfalt und Gründlichkeit an weiteren Verbes-serungen für die Lebenssituation der betroffenen Men-schen arbeiten und diese zügig – noch in dieserLegislaturperiode – umsetzen.
Die Politik der letzten Jahrzehnte im Bereich Conter-gan ist von Versäumnissen geprägt. Die Verärgerungund der verständliche Frust bei den Betroffenen über diePolitik sind enorm. Trotzdem sollten wir auch einenMoment innehalten und das seit 2008 im Sinne derConterganopfer – mit der überwiegenden Mehrheit desHauses – Erreichte betrachten. Diese im Kern von CDU/CSU, SPD und FDP getragenen Entscheidungen warenbereits ein großer Schritt, die Lebenssituation der Be-troffenen zu verbessern.Dabei ist sich die FDP stets bewusst, dass alle Leis-tungen den enormen Schaden für die Gesundheit sowiedie seelische Belastung der Betroffenen nicht ausglei-chen können.Am 22. Januar 2009 hat der Deutsche Bundestageinem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPDund der FDP zur Sicherstellung einer angemessenenund zukunftsorientierten Unterstützung der contergan-
diesen gemeinsam mit der damaligen Großen Koalitionbeschlossenen Antrag hinaus.Die FDP wollte sowohl die Dynamisierung derConterganrenten als auch die Streichung des Fristaus-schlusses. Beides wurde mit der Verabschiedung desZweiten Gesetzes zur Änderung des Conterganstiftungs-gesetzes umgesetzt.Anders als der Antrag der Linken suggeriert, war dieLebenssituation der Contergangeschädigten denAntragstellern aus CDU/CSU, SPD und FDP sehr wohlbekannt, was zu den deutlichen Verbesserungen für dieBetroffenen – verglichen mit der Situation vor dem1. Juli 2008 – führte. Um die Lebenssituation derContergangeschädigten in finanzieller Hinsicht zu ver-bessern, wurden die Conterganrenten zum 1. Juli 2008verdoppelt. Zusätzlich zu den Renten aus der Contergan-stiftung stehen den Contergangeschädigten die Ansprü-che auf Leistungen aus den Sozialversicherungen wieKranken-, Renten- oder Pflegeversicherung bzw. dieEingliederungshilfe nach dem Zwölften Buch Sozial-gesetzbuch, SGB XII, anrechnungsfrei zu. Außerdemwird die von der Grünenthal GmbH eingebrachteSpende von 50 Millionen Euro in die Conterganstiftungzusammen mit 50 Millionen, die aus der Kapitalisierungdes Stiftungsvermögens stammen werden, genutzt, umeine jährliche Sonderzahlung für den besonderen Bedarfder contergangeschädigten Personen auszuschütten.Vor der Verdoppelung der Conterganrenten zum1. Juli 2008 erfolgte die letzte Rentenerhöhung für Con-terganopfer zum 1. Juli 2004. Diese Zeiträume warenZu Protokoll gegebene Reden
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Nicole Bracht-Bendt
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unbefriedigend, da die Inflation die Rentenerhöhungaushöhlte. Den Dynamisierungsfaktor der Altersbezügeauf die Conterganrenten zu übertragen, war ein nahelie-gender und unbürokratischer Weg der Dynamisierungund der damit einhergehenden Rentenerhöhung.Die FDP trat gleichzeitig dafür ein, die Rentenhöhein geeigneten Zeiträumen grundlegend zu überprüfen,da mit fortschreitendem Alter der Contergangeschädig-ten auch der Hilfebedarf weiter zunimmt. Als Zeitraumfür eine solche regelmäßige Überprüfung hatten wir fünfJahre angeregt, also bis 2013.Die FDP steht zu diesem Wort und tritt weiterhin füreine solche grundlegende Neujustierung der Rente nochvor dem Ende der laufenden Legislaturperiode ein.Um die Hilfen für die Betroffenen möglichst pass-genau zu entwickeln, wurde vom zuständigen Familien-ministerium die Erarbeitung einer Studie des Institutsfür Gerontologie der Universität Heidelberg in Auftraggegeben. Die Studie widmet sich wissenschaftlich denspeziellen Bedarfen sowie den Versorgungsdefizitencontergangeschädigter Menschen. Eine Studie, derenErstellung von der Linken übrigens abgelehnt wurde.Inzwischen liegen erste Zwischenergebnisse vor, dieauch bereits von Professor Kruse am 27. Juni 2012 imAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugenddes Deutschen Bundestages vorgestellt wurden. Mehr-mals ist die Fraktion Die Linke drauf hingewiesenworden, dass dieser Bericht des Instituts für Gerontolo-gie der Universität Heidelberg ein zusammenfassenderBericht über die ersten Untersuchungsergebnisse unddie daraus erarbeiteten ersten Handlungsempfehlungenwar. Der Zwischenbericht hat daher vorläufigenCharakter. Der endgültige Abschlussbericht wird zumJahresende 2012 vorliegen. Die Bundesregierung prüftzurzeit die Empfehlungen und wird nach der Vorlage desEndberichts entscheiden, welche konkreten Maßnahmenzu ergreifen sind.Gemeinsam mit CDU/CSU und SPD haben die Libe-ralen Anfang 2009 in dem bereits mehrfach erwähntenAntrag formuliert: „Die Contergangeschädigten leidenheute an schmerzhaften Spätfolgen, die durch jahre-lange Fehlbelastung von Wirbelsäule, Gelenken,Muskulatur, aber auch durch die Überbeanspruchungder Zähne entstanden sind. Die körperlichen Beein-trächtigungen und Schmerzzustände haben darüberhinaus erhebliche negative psychische Belastungen zurFolge. Bei Berufstätigen führt das häufig zur Früh-verrentung mit erheblichen Einbußen für die Altersver-sorgung und die gesellschaftliche Teilhabe. Erschwe-rend für die persönliche Situation der Conterganopferkommt hinzu, dass mit ihrem Älterwerden auch ihreFamilienangehörigen älter werden, auf deren Hilfe undUnterstützung sie angewiesen sind. Mit zunehmendemAlter der Betroffenen sind sie daher immer stärker aufaußerhäusliche Hilfe angewiesen.“Diese Situation ist weiterhin gegeben. Ich, aber auchdie gesamte FDP sehen die Politik in der Verantwortungund wollen weitere Hilfestellungen für die Betroffenennoch vor Abschluss dieser Legislatur erreichen.
Täterschutz statt Opferunterstützung – das ist dieBilanz von 55 Jahren Conterganskandal und 40 JahrenConterganstiftung. Schuldig ist nicht nur die FirmaGrünenthal und deren Besitzer, die Familie Wirtz, son-dern auch die Politik und die bundesdeutsche Justiz. Einschwerwiegender Vorwurf? Ich meine ja und möchte ihn– auch im Namen vieler contergangeschädigter Men-schen und ihrer Angehöriger – hier bekräftigen.Was hat die Herstellerin des Schlafmittels Contergan,die Firma Grünenthal GmbH, und deren Eigentümer, dieMilliardärsfamilie Wirtz, nach dem Conterganskandal,der Zehntausende Opfer im In- und Ausland forderte,getan? Sie hat – mithilfe von Politik und Justiz – mitDruck auf die Eltern der contergangeschädigten Kinderalles getan, um einer gerechten Verurteilung zu entge-hen. Das Ergebnis: Vor 40 Jahren, am 31. Oktober 1972,nahm die Conterganstiftung – sie hieß bis 19. Oktober2005 Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder“ – ihreTätigkeit auf. Nachdem die Firma Grünenthal100 Millionen D-Mark, rund 51 Millionen Euro, an dieConterganopfer zahlte, welche in die Stiftung überführtwurden, erließ der deutsche Staat faktisch ein Enteig-
enteignete er nicht die Täter – Grünenthal –, sonderndie Opfer. Sämtliche Ansprüche der Contergankindergegen die Schädigungsfirma Grünenthal, ihre Eigentü-mer und Angestellten wurden per Bundesgesetz zum Er-löschen gebracht. Seither liegt die finanzielle Gesamtver-antwortung für die Contergangeschädigten bei derBundesrepublik Deutschland.Und in den nachfolgenden 40 Jahren? Eine Entschul-digung bei den Opfern und ihren Angehörigen steht bisheute aus. Die Rede vom Vorsitzenden des Grünenthal-Konzerns, Dr. Harald F. Stock, anlässlich der Einwei-hung des Contergandenkmals am 31. August 2012 inStolberg, in der er sagte: „Im Namen Grünenthals mitseinen Gesellschafterinnen und Gesellschaftern und allenMitarbeiterinnen und Mitarbeitern möchte ich die Gele-genheit wahrnehmen, heute anlässlich dieser Stunde desGedenkens unser großes Bedauern über die Folgen vonContergan und unser tiefes Mitgefühl für die Betroffe-nen, ihre Mütter und ihre Familien zum Ausdruck zubringen. Wir sehen sowohl die körperlichen Beschwer-nisse als auch die emotionale Belastung, die die Betrof-fenen selbst, ihre Familien und besonders ihre Mütteraufgrund von Contergan erleiden mussten und auchheute täglich ertragen … Darüber hinaus bitten wir umEntschuldigung, dass wir fast 50 Jahre lang nicht denWeg zu Ihnen von Mensch zu Mensch gefunden haben.Stattdessen haben wir geschwiegen, und das tut uns sehrleid“, war keine Entschuldigung in der Sache, zumalGrünenthal nicht nur geschwiegen hat.“Der Druck auf ihre Opfer ging weiter. HochbezahlteRechtsanwälte überzogen protestierende Contergan-opfer mit Klagen, und auch der Film „Eine einzige Ta-blette“ konnte erst nach erbittertem Rechtsstreit 2007 inder ARD gesendet werden. Anstatt sich mit den erzieltenUnternehmensgewinnen und dem vorhandenen Vermö-gen angemessen an der Entschädigung der Opfer zu be-Zu Protokoll gegebene Reden
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24414 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Dr. Ilja Seifert
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teiligen, legt Grünenthal nun noch einen eigenen, völligintransparenten Hilfsfonds auf, bei dem jetzt die Opferum Hilfe betteln dürfen. Hier werden – die unzurei-chende Versorgung der Menschen mit Conterganschä-den und ihrer Angehörigen durch den Staat und die da-für zuständige Stiftung ausnutzend – die Betroffenenzusätzlich gedemütigt, es wird Ungleichheit geschaffenund Missgunst geschürt. Und die Bundesregierung? Sieschweigt und lässt Grünenthal gewähren. Das ist, someine ich, skandalös.Die Linke fordert, dass die Firma Grünenthal bzw.die Familie Wirtz endlich zur Entschädigung herangezo-gen wird. Denkbar ist zum Beispiel die Einzahlung von30 Prozent des Jahresgewinns der Unternehmen der Fa-milie Wirtz an die Conterganstiftung sowie die Einzah-lung von Erlösen aus Unternehmensveräußerungen biszur Höhe der durch den Bund seit 1972 geleisteten Zah-lungen.Auch eine offizielle Entschuldigung durch Bundestag,Bundesregierung und Justiz gegenüber den Contergan-geschädigten, ihren Eltern und weiteren Angehörigensteht bis heute aus. Deswegen schlägt die Linke vor, dassder Deutsche Bundestag endlich alle contergangeschä-digten Menschen und ihre Angehörigen für das ihnenangetane Unrecht und Leid um Entschuldigung bittet.Aus der Übernahme der Gesamtverantwortung durchdie Bundesrepublik Deutschland ergibt sich – das hatdas Bundesverfassungsgericht bestätigt – ein Anspruchder geschädigten Personen und ihrer Angehörigen nachdem Sozialen Entschädigungsrecht. Diesem Recht wirdbisher nur unzureichend entsprochen, unter anderem mitdem „Argument“, sie hätten ja keine „Sonderopfer fürden Staat“ erbracht.Katastrophal ist die derzeitige Lebenssituation derConterganopfer und ihrer Angehörigen. Bereits in derBeschlussempfehlung des Bundestages vom 20. Januar2009 hieß es: „Heute leiden dieBetroffenen zunehmend an schmerzhaften Spätfolgendurch die jahrelange Fehlbelastung von Wirbelsäule,Gelenken und Muskulatur und auch eine Überbeanspru-chung der Zähne. Hinzu kommen psychische Belastun-gen und berufliche Beeinträchtigungen.“ Die Lebens-situation der Betroffenen ist also seit mindestens vierJahren bekannt. Und sie hat sich seitdem weiter ver-schärft. Das ist mit der Studie des Gerontologischen In-stituts der Universität Heidelberg inzwischen auch wis-senschaftlich belegt.Eine Ursache für die katastrophale Situation ist, dassdas Behindertenrecht in Gänze nicht auf Selbstbestim-mung, umfassende Teilhabe, freie Persönlichkeitsentfal-tung und ein Leben in Würde ausgerichtet ist, obwohldas Grundgesetz, das Bundesgleichstellungsgesetz, dasSozialgesetzbuch IX und vor allem die seit dem 26. März2009 in Deutschland geltende UN-Behindertenrechts-konvention dies gesetzlich garantieren müssten. Jenachdem wann und in welchem Zusammenhang manseine Behinderung erwarb, werden gesundheitliche Ver-sorgung, soziale Absicherung, Kompensationen in derKinder- und Jugendzeit während der Erwerbstätigkeitund im Alter eher willkürlich „gewährt“.Die zweite Ursache ist, dass die Bundesregierung unddie dafür vor 40 Jahren extra geschaffene Contergan-stiftung ihre Pflichten nicht erfüllen.Die bisher gezahlten „Conterganrenten“ und weiterefinanzielle Leistungen reichten nicht, um das Leben eini-germaßen erträglich zu gestalten und bestehende Nach-teile zu kompensieren. Finanzielle Nachteile – zum Bei-spiel Verdienstausfälle – für die Betroffenen und ihreAngehörigen kamen zu den direkten Schädigungen inFolge von Contergan hinzu. „Schmerzensgeld“ wurdebisher nicht gezahlt. Es mangelt auch an Beratung undHilfe zur Selbsthilfe. Alles, was die Bundesregierungund die in ihrem Auftrag handelnde Stiftung in den letz-ten 40 Jahren tat, war die mehr schlechte als rechte Er-füllung von gesetzlichen Pflichten. Eigene Initiativen zurVerbesserung der Lebenssituation der Betroffenen?Fehlanzeige! Alles, was in den letzen Jahren an positivenVeränderungen erreicht wurde, war mühsamer Kampfder Betroffenen.Inzwischen wird wenigstens kein Stiftungsgeld mehrin Projekte gesteckt, die mit den Conterganopfern nichtszu tun haben. Inzwischen sitzen wenigstens zwei von denBetroffenen selbst gewählte Vertreter im Stiftungsrat.Aber noch sind Menschen mit Conterganschäden undihre Interessenvertretungen in den Gremien der Con-terganstiftung unterrepräsentiert. Die Vertreterinnenund Vertreter der Bundesregierung haben die Mehrheitim Stiftungsrat und Stiftungsvorstand und üben dieRechtsaufsicht/Kontrolle über die Stiftung aus. DasMinisterium kontrolliert sich selbst und „mauert“, wo esnur kann, wenn es um Transparenz und Mitbestimmungder Betroffenen geht.Dass es auch anders geht, beweist die Arbeit vonzahlreichen anderen Stiftungen mit Bundesbeteiligung
muss in die Hände und Füße der Conter-ganopfer, und die Vertreter des Bundes sollten vom Bun-destag gewählt werden.Die im vorliegenden Antrag vorgeschlagenen Ände-rungen im Conterganstiftungsgesetz sowie die weiterenMaßnahmen hat sich die Linke nicht am Schreibtischausgedacht. Sie sind das Ergebnis umfassender Diskus-sionen mit den Betroffenen und ihren Organisationen;sie finden sich wieder in den Empfehlungen der Univer-sität Heidelberg, die im Auftrag des Bundestages undder Conterganstiftung eine umfassende Studie zur Le-benssituation der Conterganopfer erstellte; sie basierenauf detaillierten Analysen und seriösen Berechnungender Betroffenen. Ich verweise hier auf die Stellungnahmevon Udo Herterich im Gespräch mit dem Familienaus-schuss des Bundestages am 17. Oktober 2012.Die wesentlichsten Vorschläge bzw. Forderungenmöchte ich hier noch einmal nennen:Erstens sind Conterganrenten und Kapitalentschädi-gungen, die nach § 12 Abs. 2 des Conterganstiftunsge-setzes beantragt wurden bzw. werden, rückwirkend zuzahlen; denn die Schädigung durch Contergan gibt esZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24415
Dr. Ilja Seifert
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bei allen nicht mit Antragstellung, sondern seit der Ge-burt.Zweitens werden die monatlichen Entschädigungs-leistungen rückwirkend zum 1. Januar 2012 um 300 Pro-zent erhöht.Drittens sind behinderungsbedingte Nachteilsaus-gleiche sowie Kosten für bedarfsgerechte Assistenz- undPflegeleistungen sowie Umbaumaßnahmen in der Woh-nung und am Pkw durch zusätzliche einkommens- undvermögensunabhängige Leistungen aus der Contergan-stiftung zu erstatten, solange diese nicht durch die Leis-tungen aus den Sozialgesetzen kompensiert werden.Maßstab ist dabei das Soziale Entschädigungsrecht.Viertens müssen Folgeschäden im Sinne der erstenHandlungsempfehlung der Universität Heidelberg aner-kannt werden. Die „medizinische Punktetabelle“ zurBewertung der Körperschäden ist entsprechend zu über-arbeiten und auf maximal 200 Punkte zu erweitern.Fünftens ist ein Schmerzensgeld, abgestuft nach demaktuellen Punktesystem, ausgehend von 1 Million Euro= 100 Schadenspunkte, zu zahlen.Ich meine, der Antrag der Linken ist eine gute Grund-lage, um in der geplanten öffentlichen Anhörung des Fa-milienausschusses im Januar 2013 nicht nur den Antragund den Bericht über die Studie der Universität Heidel-berg zu beraten, sondern auch über einen gemeinsamenGesetzentwurf für ein Drittes Conterganstiftungsände-rungsgesetz.Abschließend noch ein letzter Gedanke. Auch wenndie Lebenssituation der Betroffenen vor allem den Blickbzw. Aktivitäten nach vorn verlangen, brauchen wir eineangemessene Aufarbeitung der Geschichte. Die bisheri-gen Weigerungen der Bundesregierung und der Con-terganstiftung sind nicht länger hinnehmbar. Deswegenfordern wir die Bundesregierung auf, einen Forschungs-auftrag zur Geschichte und Herkunft des in Conterganverwendeten Wirkstoffes sowie zur Geschichte des Con-terganskandals unter aktiver Einbeziehung bzw. Mitwir-kung der Betroffenen auszulösen. Das sind wir den nochlebenden und vor allem den vielen bereits verstorbenenConterganopfern sowie ihren Müttern, Vätern und wei-teren Angehörigen schuldig.
Die Firma Grünenthal produzierte und vertrieb Endeder 50er-Jahre insgesamt 22 thalidomidhaltige Medika-mente, darunter das als ungiftig beworbene Contergan.Innerhalb weniger Jahre machten diese Medikamenteinsgesamt 50 Prozent des Gesamtumsatzes des Unter-nehmens aus. Obwohl es bereits in dieser Zeit eine poli-tische und fachliche Diskussion über schädigende Aus-wirkungen von Medikamenten bei Einnahme währendder Schwangerschaft gab, hatte der Staat zu Beginn derDebatte um mögliche schädliche Auswirkungen vonContergan in diesem Zusammenhang keine Interven-tionsbefugnis. Erst durch öffentlichen Druck konnteGrünenthal dazu gezwungen werden, das Medikamentvom Markt zu nehmen.Der Conterganskandal hat unsere Gesellschaft ver-ändert. Er hatte, wenn auch zeitlich verzögert, erst inden 70er-Jahren Konsequenzen für das Arzneimittel-recht. Die Vorgaben zur Arzneimittelsicherheit wurdenverbessert.Während Grünenthal erhebliche Gewinne machte,wurde und wird den Geschädigten in mehrfacher Hin-sicht Unrecht getan: Zeit ihres Lebens wurden sie vonmedizinischer Forschung objektiviert, sie wurden als„Missgeburten“ bezeichnet und wahrgenommen. Fürden Verlust an Lebensqualität, den sie erleben, sind siebis heute nicht angemessen entschädigt worden. Siemüssen bis heute mit Krankenkassen um die Finanzie-rung ihrer Heil- und Hilfsmittel kämpfen. Mit zuneh-menden Alter nehmen auch ihre Schmerzen zu, währendgleichzeitig soziale Unterstützungsnetzwerke, etwa durchden Tod der Eltern, wegbrechen.Als wir hier das letzte Mal über die Situation Conter-gangeschädigter gesprochen haben, war uns klar, dassdie Zahlungen, die sie zur Deckung ihrer Bedarfe erhal-ten, nicht ausreichend sind. Im Wissen um die unange-messene Versorgungssituation der Betroffenen wurdendamals unter anderem die sogenannten Contergan-renten verdoppelt. Die Forderung der Grünen-Fraktion,im Rahmen einer Studie die Bedarfe genau zu ermitteln,damit auf dieser Grundlage über weitere Verbesserun-gen entschieden werden kann, wurde von der damaligenBundesregierung aufgegriffen und eine Studie an derUniversität Heidelberg in Auftrag gegeben.Die Ergebnisse, die uns aus dieser Studie vorliegen,sind zwar erst vorläufig, dafür aber um so deutlicher:Ungedeckte Bedarfe belasten Contergangeschädigte ineinem Ausmaß, das fast nicht vorstellbar ist, wenn mannicht täglich damit lebt. Fast 85 Prozent der Befragtenleiden an Schmerzen, ihre Bedarfe an Medikamenten,Hilfsmitteln, rehabilitativen Maßnahmen und physika-lischer Therapie sind in großen Teilen nicht gedeckt.Nur wenige sind finanziell in der Lage, sie in Eigenleis-tung zu finanzieren. Der Bedarf an Assistenz im Alltagwird zunehmen, er ist bereits jetzt nicht ausreichend ge-deckt. Ein bemerkenswerter Teil der Geschädigten kannaufgrund der Schädigung und mangelnder Versorgungnicht mehr arbeiten, entsprechend bestehen Verdienst-ausfälle.Für uns kann das nur eins bedeuten: Wir müssen han-deln, und zwar jetzt! Die Betroffenen werden immer äl-ter, ihre Schmerzen nehmen zu. Ihre Bedarfe werdensteigen. Deswegen müssen wir jetzt den Schadensaus-gleich verbessern und regelmäßig überprüfen.Es wurde bereits diskutiert, inwiefern die Versorgungder Contergangeschädigten über das System der Sozial-versicherungen geleistet werden kann. Ich habe schonvon den Kämpfen gesprochen, die sich die Geschädigtenmit den Krankenkassen immer wieder liefern müssen.Die Kassen weigern sich hartnäckig, Kosten für nötigeHeil- und Hilfsmittel zu übernehmen. Zahnimplantatewerden nicht gezahlt, selbst wenn Geschädigte sich auf-grund verkürzter Arme Prothesen nicht selbstständigeinsetzen können. Das ist nicht das einzige Beispiel, esgibt zahlreiche. Auch die explizite Aufforderung desZu Protokoll gegebene Reden
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24416 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Markus Kurth
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Ministeriums an die Krankenversicherungen, im FalleContergangeschädigter unbürokratisch zu agieren, konntedaran nichts ändern. Auch wenn nachvollziehbar ist,dass die Kassen Leistungen zum Ausgleich der Folgeneiner Schädigung nicht aus Versicherungsbeiträgen fi-nanzieren möchten, hätte ich mir angesichts der Situa-tion Contergangeschädigter eine konstruktivere Zusam-menarbeit und weniger Rücksichtslosigkeit gewünscht.Für uns ist die Konsequenz aus diesen Erfahrungen al-lerdings eindeutig: Wir müssen die Finanzierung andersabsichern als über die gesetzliche Krankenversiche-rung. Die Frage, wie man grundsätzlich damit umgeht,dass Krankenkassen scheinbar unbeeindruckt von poli-tischen Entscheidungen ihre eigenen Ziele verfolgen, isteine, die wir dringend angehen müssen, aber nicht imRahmen der Entschädigung von Conterganopfern regelnkönnen.Ich habe es schon gesagt: Wir müssen schnell han-deln. Aus meiner Sicht ist es bereits jetzt möglich, aufder Grundlage der Ergebnisse der Heidelberger Studiedie Conterganrenten zu erhöhen. Selbst wenn bisherkeine detaillierten Zahlen vorliegen: Sollte bei der Be-rechnung eine Unschärfe zugunsten der Betroffenen ent-stehen, so ist das vor dem Hintergrund der vergangenenJahre ohne Frage hinnehmbar.Die Bundesrepublik Deutschland steht in der Haf-tungsnachfolge der Firma Grünenthal. Die Finanzie-rung von notwendiger Assistenz und von Hilfen im All-tag, von Pflege, von rehabilitativen und therapeutischenMaßnahmen, von Umbaumaßnahmen zur Steigerung derBarrierefreiheit im Wohnbereich und die Finanzierungeines Kraftfahrzeugs über die „Rente“ ist systematischgerechtfertigt. Das sollte uns nicht davon abhalten, wei-terhin auf Grünenthal einzuwirken, sich an der Finan-zierung zu beteiligen. Dass die Firma moralisch in derPflicht steht, ist wohl schwerlich zu widerlegen.Natürlich ist eine Nachbefragung durch die Universi-tät Heidelberg zur Ermittlung der tatsächlichen Ver-luste, die den Betroffenen durch die Conterganschädi-gung entstanden sind, weiterhin geboten. Ich halte esweiterhin für nötig, auch nach der jetzt durchzuführen-den Erhöhung der Renten weiter darüber zu sprechen, inwelcher Höhe den Geschädigten eine finanzielle Kom-pensation für den Verlust an Lebensqualität geleistetwerden kann. Wie hoch eine solche zusätzliche Zahlungausfallen sollte, darüber gehen die Meinungen ausein-ander. Ich bin der Überzeugung, dass wir darüber mitBlick auf die Entschädigungszahlungen, die Opfer vonMedikamentenskandalen heute bekommen, weiter disku-tieren müssen.Abschließend möchte ich mich bei allen Betroffenenbedanken, die uns noch immer konstruktiv darin unter-stützen, die Situation zu verbessern. Ich kann Ihren Är-ger darüber, wie lange nichts oder zu wenig getanwurde, verstehen: Er ist gerechtfertigt – genau wie dasEnde der Geduld. Es ist nun Aufgabe dieses Parlaments,zügig einen Beschluss zu fassen, der Ihnen ein Leben inWürde ermöglicht.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/11041 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, Sie sind
damit einverstanden. Dann haben wir das so beschlos-
sen.
Tagesordnungspunkt 30:
– Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Neuordnung der Altersversorgung der Be-
zirksschornsteinfegermeister und zur Ände-
rung anderer Gesetze
– Drucksachen 17/10749, 17/10962 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Arbeit und Soziales
– Drucksache 17/11185 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Weiß
– Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
– Drucksache 17/11188 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Axel E. Fischer
Bettina Hagedorn
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Gesine Lötzsch
Priska Hinz
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Im Jahr 2008 wurde in Deutschland das sogenannteSchornsteinfegermonopol abgeschafft. Man wollte da-mit europäischen Vorgaben entsprechen. Bis dato hattejeweils ein Bezirksschornsteinfegermeister für einen derrund 8 000 Kehrbezirke in Deutschland das alleinigeÜberwachungs- und Kehrrecht. Nach Ablauf einerÜbergangszeit sind die Bezirksschornsteinfegermeisterab dem 1. Januar 2013 anderen Handwerksberufengleichgestellt. Das neue Berufsrecht der Schornsteinfe-ger hat mittel- bis langfristig Auswirkungen auf die ge-setzliche Zusatzversorgung der Bezirksschornsteinfe-germeister. Bislang war ihre Alterssicherung durch einesich über das gesamte Arbeitsleben erstreckendePflichtversicherung in der gesetzlichen Rentenversiche-rung und im Zusatzversorgungssystem der Versorgungs-anstalt der deutschen Bezirksschornsteinfegermeistersichergestellt. Die Beibehaltung der bisherigen Pflicht-versicherung wird jedoch durch die Gleichstellung derBezirksschornsteinfegermeister mit den übrigen Hand-werksberufen aus praktischen und rechtlichen Gründenhöchst problematisch. Mit dem Gesetz zur Neuordnungder Altersvorsorge bevollmächtigter Bezirksschorn-steinfeger, das wir heute im Deutschen Bundestag be-schließen, regeln wir die Altersversorgung der Schorn-steinfeger in verlässlicher Weise neu. Damit zeigen wirdurch konkretes Handeln: Das deutsche Handwerk
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24417
Peter Weiß
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– auch das Schornsteinfegerhandwerk – kann sich aufdie Koalition von CDU/CSU und FDP verlassen.Grundsätzlich gilt für die Zukunft: Die Handwerkerre-gelung in der deutschen Rentenversicherung greift auchfür Schornsteinfeger.Es ist unstrittig, dass mit der folgerichtig einherge-henden Schließung des umlagefinanzierten Versor-gungswerks der Bezirksschornsteinfegermeister Ende2012 das Altersversorgungssystem überdacht und ange-passt werden muss. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurfstellen wir sicher, dass die bisher geleisteten Beiträge andas Versorgungswerk nicht verloren gehen, sondern inder neuen Pflichtversicherung gutgeschrieben werden.Die bisherigen Renten der circa 6 500 Rentenempfängerwerden fortgezahlt, und die bis zum Stichtag erworbenenAnwartschaften der circa 7 700 Bezirksschornsteinfe-germeister sollen weitgehend erhalten bleiben. Der Ge-setzentwurf sieht ferner vor, dass nach dem 31. Dezem-ber 2012 keine neuen Anwartschaften in dem Systemmehr erworben und keine neuen Beträge mehr erhobenwerden.Im parlamentarischen Verfahren sind einige zunächstanvisierte Regelungen überdacht und zugunsten derSchornsteinfeger entsprechend geändert worden. Ich binfroh, dass wir in Abstimmung mit dem Berufsstand derSchornsteinfeger eine gute Lösung gefunden haben.Lassen Sie mich dies an zwei Neuregelungen verdeutli-chen:So haben wir dem Umstand, dass Jungmeister erst inden letzten fünf Jahren vor Schließung des Zusatzversor-gungswerks dessen Pflichtmitglieder geworden sind,Rechnung getragen. Ihnen drohte eine Versorgungslü-cke. Wegen der allgemein geltenden fünfjährigen Warte-zeit hätten sie noch keinen Anspruch auf Ruhegeld ge-habt, obwohl sie Beitragszahlungen geleistet haben. Eswäre höchst ungerecht gewesen, würden ihre Anwart-schaften mit der Schließung des Zusatzversorgungssys-tems verloren gehen – zumal die Jungmeister aufgrunddes Systems zu den Beitragszahlungen verpflichtet wa-ren. Zwar bleibt die Fünf-Jahres-Frist auch künftig be-stehen – und da keine neuen Anwartschaften in diesemSystem aufgebaut werden können, kann sie im Einzelfallnicht mehr erfüllt werden –, doch haben wir eine Klauselgeschaffen, mit der die Anwartschaften für Ruhegeld,Witwen-, Witwer- und Waisengeld aufrechterhalten wer-den können. Wie bei der freiwilligen Versicherung in dergesetzlichen Rentenversicherung sollen entsprechendeBeiträge in die Zusatzversorgung nachgezahlt werdenkönnen. Bis 30. Juni 2013 müssen dabei die Beiträgevon 605 Euro für jeden fehlenden Monat, im Beitrittsge-biet 532 Euro, entrichtet werden.Wichtig war uns insbesondere auch die Neuregelungdes Ruhegelds der Bezirksschornsteinfegermeister beiBerufsunfähigkeit. Wer berufsunfähig wird, muss sichdarauf verlassen können, durch seine entrichteten Bei-träge im vereinbarten Umfang abgesichert zu sein. DerGesetzentwurf sah den Bestand dieses Vertrauensschut-zes zunächst ausschließlich für Bezirksschornsteinfeger-meister vor, die zum Stichtag 1. Januar 2013 50 Jahreoder älter sind. Diese Regelung hätte jedoch zu kurz ge-griffen. Sie hat nicht berücksichtigt, dass es für viele Be-zirksschornsteinfeger unter 50 Jahren gar nicht mehrmöglich sein kann, überhaupt oder unter angemessenenBedingungen eine adäquate Berufsunfähigkeitsversi-cherung abzuschließen. Auch jene Versicherten, die jah-relang Beiträge für ihren Berufsunfähigkeitsschutz ein-gezahlt haben, würden nicht berücksichtigt werden. Imparlamentarischen Verfahren haben wir auch hier Ver-besserungen erlangen können und den Kreis der Versor-gungsberechtigten erweitert. So wird der Vertrauens-schutz der Berufsunfähigkeitsversicherung auf alle40-jährigen und älteren betroffenen Bezirksschornstein-feger ausgedehnt. Diese Altersgrenze von 40 Jahren istkeinesfalls willkürlich gesetzt, sondern ergibt sich zumeinen aus einem Vergleich mit dem parallelen System-wechsel in der gesetzlichen Rentenversicherung 2000/2001. Hier hatte der Gesetzgeber bei der Reform derRente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit für über40-jährige Personen eine Vertrauensschutzregelung ge-schaffen. Zum anderen ist es für unter 40-jährige Perso-nen durchaus machbar, zu angemessenen Bedingungeneine adäquate Versicherung für den Fall der Berufsunfä-higkeit abzuschließen.Zusammenfassend kann festgestellt werden: Es ist ge-lungen, eine wirklich zufriedenstellende Lösung für dieAltersvorsorge der Schornsteinfegermeister zu finden.Und wir haben die Anliegen des Berufsstandes in gelun-gener Weise aufgegriffen und im Gesetz verankert.Kurzum: Heute ist ein guter Tag für das deutsche Hand-werk.
Im Jahr 2008 wurde das deutsche Schornsteinfeger-monopol wegen Europarechtswidrigkeit abgeschafft.Nach einer Übergangszeit, die noch bis Ende dieses Jah-res andauert, unterliegen die Bezirksschornsteinfeger-meister weitgehend dem freien Wettbewerb und sind da-mit anderen Handwerksberufen gleichgestellt. Vor diesemHintergrund war es erforderlich, dass die bisherige spe-zifische Alterssicherung der Bezirksschornsteinfeger-meister an die neuen Gegebenheiten angepasst wird.Nach einem über Jahre geführten intensiven Diskus-sionsprozess konnte im Spätsommer 2012 endlich eineEinigung auf ein konkretes Neuordnungskonzept erzieltwerden. Diese Einigung darf als Erfolg gewertet werden –auch und gerade für den Berufsstand. Dieser hat jetztnach Jahren der Ungewissheit endlich Planungssicher-heit.Was sind die zentralen Regelungen des Gesetzent-wurfs der Bundesregierung?Die Bezirksschornsteinfegermeister werden künftig inder gesetzlichen Rentenversicherung sonstigen selbst-ständigen Handwerkern gleichgestellt; sie erhalten alsoeine Befreiungsmöglichkeit in Bezug auf die Versiche-rungspflicht nach 18 Pflichtbeitragsjahren. Das umlage-finanzierte Zusatzversorgungssystem wird Ende 2012geschlossen. Die bisherigen Zusatzrenten werden fort-gezahlt. Die bis zum Stichtag erworbenen Anwartschaf-ten bleiben erhalten. Die Leistungen werden künftig wiein der gesetzlichen Rentenversicherung dynamisiert. ZurZu Protokoll gegebene Reden
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24418 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Max Straubinger
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Finanzierung der Leistungen wird zunächst das in derZusatzversorgung aufgebaute Kapitalpolster in Höhe voncirca 240 Millionen Euro aufgebraucht. Anschließendübernimmt der Bund die Leistungen.Alle Beteiligten sind sich einig, dass die Neuordnungder Altersversorgung der Bezirksschornsteinfegermeis-ter erforderlich und der Gesetzentwurf der Bundesregie-rung im Grunde sachgerecht ist. Auch der Berufsstandund der Bundesrat sind grundsätzlich einverstanden. Al-lerdings gab es noch weitergehende Forderungen. Dasist nicht überraschend und auch das gute Recht der Be-troffenen.Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich festhalten,dass es sich das zuständige Bundesministerium für Ar-beit und Soziales nicht leicht gemacht hat. Es hat dieForderungen des Berufsstandes intensiv geprüft undlangwierige Verhandlungen mit dem Bundesministeriumfür Finanzen geführt. Am Ende des Tages aber hattensich die Kassenwarte durchgesetzt mit der Begründung,die Schmerzgrenze für den Bund sei erreicht, die Ab-wicklung des Zusatzversorgungssystems werde circa1,6 Milliarden Euro im Barwert kosten.Dieselben Verhandlungen ums liebe Geld haben wirim Deutschen Bundestag mit den Haushaltskollegen ge-führt. Auch diese Gespräche waren alles andere als ein-fach. Es gab einen Dissens zur künftig erwartetenAnzahl von Berufsunfähigkeitsfällen, der nicht lösbarerschien und von dem die prognostizierte Belastung desBundes abhing. Auch hier möchte ich dem Bundesminis-terium für Arbeit und Soziales danken, das uns bei die-sen Gesprächen mit Rat und Tat zur Seite stand. Endegut, alles gut. Letztlich haben wir uns mit den Haus-haltskollegen einigen können.Die zentrale Verbesserung für die Schornsteinfegerist der erweiterte Berufsunfähigkeitsschutz. Wir stellensicher, dass der Berufsunfähigkeitsschutz im Zusatzver-sorgungssystem für die 40-jährigen und älteren Bezirks-schornsteinfegermeister weiter gilt. Damit greifen wireinen ausdrücklichen Wunsch des Berufsstandes undeine entsprechende Forderung des Bundesrates auf. DerRegierungsentwurf sah Vertrauensschutz erst ab einemAlter von 50 Jahren vor.Für über 40-jährige Versicherte ist es auf dem freienMarkt aber nahezu ausgeschlossen, sich zu angemesse-nen Konditionen privat gegen das Risiko der Berufsun-fähigkeit zu versichern. Eine entsprechende Vertrauens-schutzregelung gibt es zudem auch in der gesetzlichenRentenversicherung. Vor knapp zwölf Jahren hat die rot-grüne Bundesregierung den Berufsunfähigkeitsschutz inder gesetzlichen Rentenversicherung mit Wirkung zum1. Januar 2001 privatisiert. Vertrauensschutz gab es le-diglich für Versicherte, die vor dem 2. Januar 1961 ge-boren waren, die also zum Zeitpunkt des Inkrafttretensder Reform 40 Jahre alt waren. Was für die Versichertender gesetzlichen Rentenversicherung gilt, muss auchfür die Bezirksschornsteinfegermeister gelten. GleichesRecht für alle. Deshalb haben wir gestern im Ausschussfür Arbeit und Soziales mit einem Änderungsantrag denerforderlichen gesetzlichen Gleichklang hergestellt.Diese Verbesserung gibt es aber nicht zum Nulltarif.Den Berufsunfähigkeitsschutz gibt es vielmehr nur, wenndie Betroffenen nicht von ihrem Befreiungsrecht in dergesetzlichen Rentenversicherung Gebrauch gemacht ha-ben und nicht später als zwei Jahre nach Aufhebung derBestellung berufsunfähig geworden sind. Andernfallsmüsste die Zusatzversorgung aufgrund der Gesamtver-sorgungssystematik die komplette Absicherung des Be-rufsunfähigkeitsschutzes übernehmen. Außerdem mussder nachlaufende Berufsunfähigkeitsschutz in einemzeitlichen Zusammenhang mit der spezifischen Tätigkeitals Bezirksschornsteinfegermeister stehen. Ansonstenstünde dieser Schutz unter Umständen auch Personenzu, die lange zuvor aus dem Beruf ausgeschieden sind.Beides aber kann niemand wollen, und beides hat auchder Berufsstand zu keinem Zeitpunkt gefordert. Mit un-serem Änderungsantrag haben wir dies nunmehr gesetz-lich klargestellt.Und in einem weiteren Punkt haben wir es für sinn-voll gehalten, den Schornsteinfegern entgegenzukom-men. Für diejenigen, die wegen der Schließung desZusatzversorgungssystems noch nicht die fünfjährigeWartezeit erfüllt haben, schaffen wir die Möglichkeit,Beiträge nachzuzahlen, damit die Anwartschaften nichtverloren gehen. Auch dies haben wir gestern mit unse-rem Änderungsantrag sichergestellt.Beide Änderungen stoßen beim Berufsstand der Be-zirksschornsteinfegermeister auf viel Wohlwollen. Daszeigt: Die christlich-liberale Koalition steht für eine So-zialpolitik mit Augenmaß.
Die im vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregie-rung vorgesehene Neuordnung der Altersversorgung derBezirksschornsteinfegermeister ist notwendig. MitAblauf des Jahres 2012 endet aus europarechtlichenGründen das deutsche Schornsteinfegermonopol. Die andas Monopol anknüpfende Alterssicherung muss ab2013 neu geregelt werden. Darüber hinaus enthält derGesetzentwurf auch Regelungen zur Arbeitsförderung.Wir hatten uns gewünscht, dass die Bundesregierungihren Entwurf hinsichtlich der Neuordnung der Alters-versorgung der Bezirksschornsteinfegermeister inBezug auf einzelne Vertrauensschutzregelungen nocheinmal überprüft, zumal die entsprechenden Innungenund Verbände sowie der Bundesrat auf Probleme hinge-wiesen haben, die die Umstellung der Alterssicherungvor allem für Existenzgründer birgt. In Teilen sind Siediesem Wunsch auch nachgekommen, trotzdem bleibtIhr Änderungsantrag leider unzureichend.Während der Beratung im Ausschuss für Arbeit undSoziales hatten wir vorgeschlagen, Einzelheiten nocheinmal in einem Berichterstattergespräch zu erörtern.Leider gingen weder die Koalitionsfraktionen noch dieBundesregierung auf unseren Vorschlag ein. Der Ge-setzentwurf der Bundesregierung ist daher nicht zustim-mungsfähig. Die SPD-Bundestagsfraktion wird sich ih-rer Stimme enthalten und Ihren Änderungsantragablehnen.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24419
Anton Schaaf
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Im Jahr 2008 mussten wir auf ein durch die EU-Kommission eingeleitetes Vertragsverletzungsverfahrenreagieren. Der Entwurf eines „Gesetzes zur Neurege-lung des Schornsteinfegerwesens“ sieht – nach einerÜbergangszeit bis Ende 2012 – vor, das Schornsteinfe-germonopol aufzuheben – die Wahrnehmung hoheitli-cher Aufgaben wird auf ein Minimum reduziert. Damitmuss auch die Umstellung von einer Gesamtversorgungin der Alterssicherung zu einem beitragsäquivalentenSystem erfolgen.Gegenwärtig sind Bezirksschornsteinfegermeister alsHandwerker in der gesetzlichen Rentenversicherungpflichtversichert. Im Gegensatz zu allen anderen Hand-werkern endet die Versicherungspflicht aber nicht nach18 Jahren; sie sind während des gesamten Erwerbs-lebens in der Rentenversicherung pflichtversichert.Daneben besteht für sie eine Zusatzversorgung, die ausMitteln der Versorgungsanstalt und Beiträgen finanziertwird. Die Alterssicherung dieses Personenkreises ergibtsich also aus einer Gesamtversorgung. Der Gesetzent-wurf der Bundesregierung regelt nun für die Zeit nachAufhebung des Monopols die Schließung der Zusatzver-sorgung.Ab nächstem Jahr unterliegen die Bezirksschorn-steinfegermeister dem freien Wettbewerb und sind damitanderen Handwerksmeistern gleichgestellt. Eine zusätz-liche verpflichtende Versorgung neben der gesetzlichenRentenversicherung ist daher nicht mehr begründbar.Die Aufrechterhaltung der Zusatzversorgung erscheintauch aus finanziellen Gründen nicht sinnvoll. Zum einengeht die Zahl der Beitragszahler kontinuierlich zurück– derzeit kommen auf 6 500 Rentenempfänger7 700 aktive Bezirksschornsteinfegermeister –, zum an-deren können die Beiträge nicht mehr aus den öffentlich-rechtlichen Kehrgebühren finanziert werden.Die rechtlichen Anpassungen erfolgen nach demGesetzentwurf der Bundesregierung im Schornstein-feger-Handwerksgesetz: Die Schließung der Zusatzver-sorgung der Bezirksschornsteinfegermeister bedeutet,dass zum Stichtag 31. Dezember 2012 keine neuen An-wartschaften mehr erworben werden können, Bestands-renten aber weiter gezahlt werden. Zur Finanzierungder Leistungen wird das vorhandene Vermögen derVersorgungsanstalt eingesetzt. Im Anschluss werden dieLeistungen vom Bund übernommen. Die Versicherungs-pflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung erfolgtnunmehr zu gleichen Bedingungen wie die der Hand-werksmeister. Das heißt, die erwerbslebenslange Versi-cherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherungendet nach 18 Jahren.Die Übergangsvorschriften beinhalten versorgungs-rechtliche und Regelungen zum Vertrauensschutz: Be-standsrenten werden weiter gezahlt; sie werden jedochnicht mehr den Tariferhöhungen im öffentlichen Dienstangepasst, sondern werden entsprechend den Steigerun-gen in der gesetzlichen Rentenversicherung dynamisiert.Die bis zum Stichtag erworbenen Anwartschaften deraktiven Bezirksschornsteinfegermeister werden in eine„Startgutschrift“ umgerechnet, die Basis der individuel-len Rentenberechnung beim Renteneintritt ist. Zunächstsollte der Vertrauensschutz bei Berufsunfähigkeit erst abdem 50. Lebensjahr gelten. Mit dem Änderungsantragwird der Vertrauensschutz nun jedoch auch auf jüngereBezirksschornsteinfegermeister ab dem 40. Lebensjahrausgedehnt. Gezahlte Beiträge können zurückerstattetwerden, soweit noch kein Versorgungsanspruch bestehtbzw. die fünfjährige Wartezeit noch nicht erfüllt ist. Diesbetrifft vor allem die Jüngeren, die dem Zusatzversor-gungssystem erst vor kurzem beitreten mussten.Im Detail betrachtet, verlangen die vorgesehenenÜbergangsregelungen unseres Erachtens aber dringendeine Nachbesserung, weil die umstandslose Übertra-gung von Regelungen der gesetzlichen Rentenversiche-rung auf die Zusatzversorgung deren Bedingungen nurunzureichend abbilden kann.Insofern sehen wir noch Änderungsbedarf in Bezugauf die im Gesetzentwurf vorgesehene Reduzierung derDynamisierung der Bezüge und Kappung der Beitrags-rückerstattung.Zum einen werden in Zukunft die Versorgungsbezügenicht mehr nach den Tarifentwicklungen im öffentlichenDienst, sondern in Höhe der jährlichen Rentenanpas-sung der gesetzlichen Rentenversicherung dynamisiert.Zum anderen erfolgt eine schrittweise Reduzierung inForm einer Halbierung zukünftiger Dynamisierungenum die in den Jahren seit 2009 erfolgten Erhöhungender Versorgungsbezüge um insgesamt 5,2 Prozent. Dieschrittweise Reduzierung erscheint nur schwer nach-vollziehbar und ungerechtfertigt, weil die Systemumstel-lung erst ab 2013 tatsächlich erfolgt.Die Existenzgründer unter den Bezirksschornstein-fegermeistern sind dazu verpflichtet, in die Zusatz-versorgung einzutreten und Beiträge zu entrichten. Siekönnen aber womöglich wegen der Schließung der Zu-satzversorgung ab 2013 die fünfjährige Wartezeit nichtmehr erfüllen. Die gezahlten Beiträge können zwarzurückerstattet werden, nach der ab 2013 geltendenVorschrift des § 210 SGB VI jedoch nur zur Hälfte –analog zum Arbeitnehmeranteil. Eine Beitragsrücker-stattung führt dann unter Umständen zu hohen finanziel-len Verlusten.In der Gegenäußerung zur Stellungnahme des Bun-desrates hat die Bundesregierung lediglich angekündigt,im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens zu prüfen, ob ne-ben der Beitragsrückerstattung die Möglichkeit einerNachzahlung fehlender Beiträge in das Zusatzrentensys-tem eröffnet werden soll.Überraschenderweise löst Ihr Änderungsantrag nunzwar das Problem des unzureichenden Vertrauensschut-zes bei Berufsunfähigkeit – die Regelung gilt nun schonab Jahrgang 1973 und nicht erst ab Jahrgang 1963 –,die Rückerstattung von Beiträgen ist aber weiterhin un-zureichend geregelt. Sie räumen zwar eine zeitlich be-fristete Möglichkeit für die Nachentrichtung fehlenderBeiträge ein, um Anwartschaften zu erwerben, dieBedingungen der Beitragsrückerstattung aber bleibenunverändert. Zudem sehen Sie keine Rücknahme derungerechtfertigten Kürzungen bei zukünftigen Dynami-Zu Protokoll gegebene Reden
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24420 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Anton Schaaf
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sierungen der Versorgungsbezüge vor. Daher sind dieNachbesserungen insgesamt ungenügend.
Das traditionsreiche Handwerk der Schornsteinfeger
befindet sich in einem tiefgreifenden Umbruch. Ab dem
nächsten Jahr werden die Schornsteinfeger ihre wich-
tige Arbeit in einer aufgrund von Europarecht veränder-
ten Wettbewerbsordnung auszuüben haben. Eine Wett-
bewerbsordnung, die neue Chancen und ungewohnte
Herausforderungen mit sich bringt. Mit Folgewirkungen
auch für das berufsständische Altersversorgungssystem,
das nun für die Zukunft befähigt und neu ausgerichtet
werden muss.
Dabei gilt es, Nachteile und Ungerechtigkeiten für
die Versicherten zu vermeiden. Bis in die letzten Tage
haben wir daher an Änderungen des von der Bundesre-
gierung vorgelegten Gesetzentwurfes gefeilt und Anre-
gungen des Berufsstandes diskutiert und in wichtigen
Teilen übernehmen können.
Die Schließung eines bewährten Systems zur Alters-
vorsorge und die Überführung von circa 7 700 aktiven
Bezirksschornsteinfegern und circa 6 500 Rentenempfän-
gern in ein anderes System ist alles andere als eine ein-
fache Aufgabe. Mir scheint aber, dass es gut gelungen
ist, den Interessen der Betroffenen letztendlich gerecht
zu werden.
Das galt schon weitgehend für den Regierungsent-
wurf. Das gilt aber insbesondere für die von den Koali-
tionsfraktionen im Ausschuss noch vorgenommenen Än-
derungen.
Die FDP-Bundestagsfraktion unterstützt die Eröff-
nung der Möglichkeit, fehlende Beiträge für die Zusatz-
versorgung nachzuzahlen, wenn die vorgesehene fünf-
jährige Wartezeit nicht erfüllt werden konnte. Ein
Verfallen von Anwartschaften aus diesem Grund wäre
schwer zu akzeptieren gewesen.
Und wir unterstützen die Änderung gegenüber dem
Regierungsentwurf, den Berufsunfähigkeitsschutz auf alle
über 40-Jährigen auszuweiten. Das ist für diese Berufs-
gruppe sicher sachgerecht, und es orientiert sich an ei-
ner ähnlichen Regelung, die seinerzeit beim Wegfall der
Berufsunfähigkeitsrente in der gesetzlichen Rentenver-
sicherung vorgenommen wurde.
Mit diesen Änderungen steht die Altersvorsorge des
Schornsteinfegerhandwerks nach unserer Auffassung
auch in Zukunft auf einer sicheren Basis.
Das Gesetz enthält noch weitere Regelungen aus dem
Bereich der Arbeitsförderung. Ausdrücklich erwähnen
will ich die Verlängerung der Erprobungsphase innova-
tiver Instrumente der Arbeitsmarktpolitik um weitere
drei Jahre. Möglichst individuelle Lösungen zu ermög-
lichen, ist das zentrale Anliegen unserer Arbeitsmarkt-
politik. Die Herausforderungen an eine erfolgreiche
Arbeitsmarktpolitik in Zeiten annähernder Vollbeschäf-
tigung sind nicht gering. Flexibilität und Kreativität der
Entscheider vor Ort sind gefragt und werden von uns
politisch gefördert.
Ebenso positiv sehen wir die Regelung der Berufs-
orientierungsmaßnahmen für Schüler allgemeinbilden-
der Schulen. Konkrete Einblicke ins Berufsleben sind ein
wichtiger Schritt der berufsvorbereitenden Bildung. In
Zeiten des Fachkräftemangels ist es gut, schon Schüler
gezielt ans Berufsleben heranzuführen und ihre Ent-
scheidungen bereits vor Antritt einer Ausbildung zu un-
terstützen.
Im Jahr 2008 wurde mit dem Gesetz zur Neuregelungdes Schornsteinfegerwesens das deutsche Schornstein-fegerhandwerk für den Wettbewerb geöffnet. Hinter-grund war ein Vertragsverletzungsverfahren der Euro-päischen Kommission. Diese hatte seinerzeit behauptet,dass das deutsche Schornsteinfegergesetz gegen die EU-Regeln der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheitverstoße. Die Bundesregierung hatte damals nicht alleMöglichkeiten genutzt, die Tätigkeiten des Schornstein-fegerwesens umfassend als hoheitliche Aufgabe zuschützen, geschweige denn darauf gedrängt, dasSchornsteinfegerwesen vom Geltungsbereich derDienstleistungsrichtlinie auszunehmen. Sie hat mit derLiberalisierung des Schornsteinfegerwesens billigend inKauf genommen, dass die in einem bisher gesichertenBerufsstand rund 7 700 beschäftigten Arbeitnehmer undArbeitnehmerinnen prekären Beschäftigungsverhältnis-sen ausgesetzt werden. Zugleich führt die Freigabedieser bisher hoheitlichen Aufgabe für den Wettbewerbzu Abstrichen bei Sicherheit und Umweltschutz sowie zuMehrkosten für die Verbraucher und Verbraucherinnen.Die Fraktion Die Linke hat deshalb seinerzeit gegen dieAbschaffung des Schornsteinfegerprivilegs gestimmt. Andieser Position halten wir nach wie vor fest.Da Schornsteinfeger durch die Abschaffung desSchornsteinfegerprivilegs hinsichtlich ihrer Markt-bedingungen jetzt mit anderen selbstständigen Hand-werkern gleichgestellt sind, ist die rentenrechtlicheGleichstellung folgerichtig: Auch Die Linke will alleBerufsgruppen in die gesetzliche Rentenversicherungeinbeziehen und diese zu einer solidarischen Erwerbstä-tigenversicherung ausbauen, um so gleiche Bedingun-gen für alle zu schaffen.Zugleich bin ich hocherfreut, dass es dem Bundes-arbeitsministerium gelungen ist, einen Gesetzentwurfvorzulegen, ohne auf die Beratertätigkeit der Beratungs-gesellschaft McKinsey zurückgreifen zu müssen. Ich er-innere daran, dass im Mai dieses Jahres bekannt wurde,dass Ihr Ministerium, Frau von der Leyen, eine Mach-barkeitsstudie zur Einbeziehung von Selbstständigen indie gesetzliche Rentenversicherung in Auftrag gegebenhatte. Kostenpunkt: stattliche 1 Million Euro. Begründetwurde der aus Steuergeldern finanzierte Privatauftragdamit, dass im Ministerium die notwendigen Kenntnisseim Detail nicht vorhanden seien. Ich bin gespannt, obFrau von der Leyen vorhat, nach Beendigung ihrerMinistertätigkeit im nächsten Jahr gut dotierte Vorträgebei McKinsey zu halten.Umso bemerkenswerter ist es, dass der Frau Ministe-rin in ihrem Hause scheinbar doch noch ein paar fähigeZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24421
Klaus Ernst
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Mitarbeiter zur Verfügung stehen, die in der Lage sind,ein Gesetz ohne millionenteure Beraterverträge zu-stande zu bekommen. Mit dem hier nun vorliegendenGesetz beweisen sie zugleich, dass es möglich ist, einenSystemwechsel in der Altersvorsorge zugunsten der ge-setzlichen Rentenversicherung zu organisieren.Frau Ministerin von der Leyen, ich erwarte, dass Siejetzt endlich ein tragfähiges Konzept zur Einbeziehungaller Selbstständigen in die gesetzliche Rentenversiche-rung vorlegen. Wenn Sie dabei ohne millionenschwereBeraterverträge auskommen, umso besser.
Ich möchte zunächst die Bundesregierung loben: Siehat es geschafft, rechtzeitig einen Gesetzentwurf für dieNeuregelung für Bezirksschornsteinfeger vorzulegen.Bis Ende des Jahres muss eine Neuregelung vorliegen.Und das wird jetzt geschafft. Ich möchte die Bundesre-gierung auch loben, dass sie eine Lösung innerhalb derRentenversicherung gesucht hat. Wir begrüßen einevollständige Eingliederung der Bezirksschornsteinfegerin die Rentenversicherung und eine Auflösung des Be-rufsversorgungswerkes. Ich muss jedoch hinzufügen:Die Art der Eingliederung ist überhaupt nicht zufrieden-stellend.Ich bekomme immer wieder den Eindruck, dass dieBundesregierung und die sie tragenden Fraktionen mitgespaltener Zunge sprechen. Einerseits werden bei dervon der Bundesministerin für Arbeit und Soziales vorge-schlagenen Zuschussrente kontinuierliche Beitragsbio-grafien verlangt und zur Norm erhoben, auf der anderenSeite reißt sie neue Lücken in unsere Altersvorsorge unddamit in die Rentenbiografien der Menschen. Auf der ei-nen Seite will die Bundesregierung die bisher nichtpflichtversicherten Selbstständigen pflichtversichern,auf der anderen Seite entlässt sie bisher pflichtversi-cherte Selbstständige aus der Versicherungspflicht. Dasist ein Zickzackkurs und keine klare Vision und Zielvor-gabe für die Weiterentwicklung unserer Alterssicherung.Worum geht es? Die Bezirksschornsteinfeger sollenin die gesetzliche Rentenversicherung eingegliedertwerden. So weit, so gut. Gleichzeitig sollen jedoch dieBezirksschornsteinfeger die Möglichkeit erhalten, nach18 Jahren mit Versicherungsbeiträgen aus der gesetzli-chen Rentenversicherung auszutreten. Die Folge davonist, dass man den Bürgerinnen und Bürgern bei Eintritteines nicht abgesicherten Risikofalles sagen wird: Sel-ber schuld! Was passiert denn, wenn ein Bezirksschorn-steinfeger aus der gesetzlichen Rentenversicherung aus-getreten ist, weil er dachte, da spare ich mir doch diemonatlichen Beiträge, und dann Rückenprobleme be-kommt und eine Reha bräuchte? Die Rentenversiche-rung zahlt dann jedenfalls nicht. Was passiert denn,wenn ein Bezirksschornsteinfeger nach seinem Austrittaus der Rentenversicherung eine Erwerbsminderung er-leidet? Er wird ein Sozialfall; denn auf die Erwerbsmin-derungsrente der gesetzlichen Rentenversicherung hater den Anspruch verloren.Wiederholt hat diese Bundesregierung Lücken in dieAltersvorsorge gerissen. Sie hat die Rentenbeiträge fürArbeitslose gestrichen. Jetzt wiederholt sie den Fehlerbei der Befristung der Versicherungspflicht für Bezirks-schornsteinfeger.Unsere Zielrichtung ist eine andere. Wir haben eineVision, eine Zielrichtung für die Weiterentwicklung derRentenversicherung: die Bürgerversicherung. Wir sindder Überzeugung, dass wir die kontinuierliche Vorsorgevon allen Menschen während der Erwerbsphase brau-chen, nicht nur für das Alterseinkommen, sondern auchfür den Fall der Erwerbsminderung und bei Rehabedar-fen.Wir sind der Überzeugung, dass eine gesetzliche Ren-tenversicherung, die alle einbezieht, Ausdruck einer soli-darischen und inklusiven Gesellschaft ist. Wir sind derÜberzeugung, dass es auch eine Frage der ökonomi-schen Vernunft ist, dass in der Alterssicherung alle, diesich in der gleichen wirtschaftlichen Situation befinden,gleich behandelt werden. Der heute existierende gesetzge-berische Flickenteppich, der eher willkürlich und unsyste-matisch bestimmte Gruppen von Selbstständigen in die ge-setzliche Rentenversicherung einbezieht und anderefreistellt, ist allenfalls historisch, nicht aber systematischzu begründen und führt zu erheblichen Problemen derrechtlichen Gleichbehandlung und zu ökonomischenFehlanreizen.Schritte in Richtung einer Bürgerversicherung sinddringend notwendig. Nur so kann unsere Alterssicherungdem Anspruch, eine solidarische Alterssicherung zusein, gerecht werden. Deswegen haben wir in dieser Le-gislaturperiode einen Antrag auf die Wiedereinführungvon Mindestrentenbeiträgen für Arbeitslose gestellt.Und deswegen wollen wir die kontinuierliche Versiche-rung von bisher nicht pflichtversicherten Selbstständi-gen in der Rentenversicherung. Und deswegen werdenwir den vorliegenden Gesetzentwurf ablehnen. Wirschlagen erste, ganz konkrete Schritte hin zu einer Bür-gerversicherung vor. Die Bundesregierung hingegenreißt neue Lücken in die Versicherungsbiografien.
Damit kommen wir zur Abstimmung. Der Ausschussfür Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 17/11185, den Gesetzent-wurf der Bundesregierung auf Drucksachen 17/10749und 17/10962 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ichbitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf so zustimmenwollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Bera-tung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und derFraktion Die Linke gegen die Stimmen der Grünen beiEnthaltung der SPD angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist mit den Stimmen der CDU/CSU, FDP und Lin-
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24422 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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ken gegen die Stimmen der Grünen bei Enthaltung derSPD angenommen.Tagesordnungspunkt 25:Beratung des Antrags der AbgeordnetenDorothea Steiner, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENWertstoffsammlung verbessern – Mehr Res-sourcen aus Abfällen zurückgewinnen– Drucksache 17/11161 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieDie Reden sind auch hier, wie in der Tagesordnungausgewiesen, zu Protokoll genommen.
Ein Antrag zur Unzeit ist es, weil doch alle Beteilig-ten wissen, dass der neue Bundesumweltminister mit ei-nem durchaus innovativen Verfahren die Öffentlichkeitund die Fachleute dazu eingeladen hatte, sich bis EndeAugust an einem sehr transparent gestalteten Fachaus-tausch im Internet zu beteiligen. Dieses Angebot vonBundesminister Altmaier wurde in hervorragenderWeise angenommen.Über diese Internetkonsultation hinaus haben natür-lich alle Seiten den Minister, andere Minister, das BMU,das Bundeskanzleramt, die EU, die Bundesländer undauch uns als Abgeordnete kontinuierlich mit ihren jewei-ligen Vorstellungen vertraut gemacht. Wir als Abgeord-nete sind seit langem und in dieser Phase besonders in-tensiv im Gespräch mit Beteiligten auf allen Ebenen.Der Minister selbst hat während und nach Ende deröffentlichen Konsultation mit den Koalitionsfraktionen,mit den Ländern und mit vielen Beteiligten fundierte Ge-spräche geführt, um in offener Weise alle Möglichkeitenfür eine optimale Regelung zur Einführung eines Wert-stoffgesetzes auszuloten.Wir sind also, das kann man fast „anfassen“, mittenim Konsultationsprozess für einen möglichen Kompro-miss mit den Beteiligten. Wenn man das mit Händengreifen kann, dann sollten auch die Kolleginnen undKollegen von den Grünen begreifen, dass eine solchePhase nicht der optimale Zeitpunkt ist, mit einseitigenFestlegungen den Bundestag als Gesetzgeber festlegenzu wollen, und damit mögliche Kompromisse, zum Bei-spiel mit den im Vollzug wichtigen Bundesländern undden Kommunen wie der privaten Recyclingwirtschaft,unmöglich zu machen Solche Festlegungen sind so un-geeignet wie der Versuch einzelner selbst Berufener, diesich als Bote für die Papiere und die Interessen Dritteraufmachen. Wir werden schon auf einem geordnetenVerfahren und der sorgfältigen Berücksichtigung derverschiedenen Positionen bestehen müssen. Dies ist derWeg, den Bundesumweltminister Altmaier eingeschla-gen hat, und es ist genau der richtige Weg.Es wäre vielleicht verdienstvoller und effektiver fürdie weitere Verbesserung der Wertstofferfassung und fürden Weg in eine ressourcenschonende Kreislaufwirt-schaft, wenn die Grünen mit den Parteifreunden undParteifreundinnen in den Ländern dafür sorgen würden,dass wir uns bei der Wertstoffsammlung nicht schon wie-der so lange im Kreise drehen müssen wie beim Kreis-laufwirtschaftsgesetz: wir alle haben in schlechter Erin-nerung, dass die dort gefundenen Kompromissezwischen Bund, Kommunen und privater Recyclingwirt-schaft von der Länderseite zerlegt wurden. Im Ergebnishaben wir in mühsamen Verhandlungen ein Gesetz er-halten, dass die vorherige Balance nicht mehr beachtetund das nun vor der EU-Kommission rechtlich angegrif-fen wird. Natürlich setzen wir darauf, dass dieses Gesetzeuroparechtlich Bestand hat; dennoch sind wir alle mit-einander klug beraten, wenn wir beim Wertstoffgesetznicht in das nächste „tote Rennen“ um Kompromisse ge-hen, die am Ende nicht halten, weil manche ihre gegebe-nen Zusagen nicht halten.In der Sache wäre in Bezug auf den Antrag viel zukommentieren. Vieles ist sicher konsensfähig, aber eini-ges nicht. Ich will hier nicht in die Erörterung eintreten,ob die Wertstoffsammlung vor Ort in kommunaler, dua-ler oder privater Trägerschaft erfolgen soll. Auch kanndie sicher notwendige Höherwertigkeit der stofflichenVerwertung und die Priorisierung der Vermeidung vonAbfällen auf verschiedenen Wegen erreicht werden; hierhat der Antrag erkennbar nicht den besten Weg vorge-zeichnet.Zur Konstruktion der Rückführung von Wertstoffenaus Elektro- und Elektonikschrott weist der Antrag ei-nerseits Lücken auf und macht an anderer Stelle falscheVorgaben. Die Zukunft der Verpackungsverordnung, soviel scheint gesichert, ist die, dass sie hoffentlich baldVergangenheit ist. Kaum eine Verordnung hat eine sol-che, teils unselige Tradition, verschiedenste, umstritteneInhalte, eine kaum gesicherte Datenbasis ganz zuschweigen von Schlupflöchern und deren Ausnutzungund von mangelndem Schutz der eigentlich zu wahren-den Ziele, wie zum Beispiel der Mehrwegquote oder derstofflichen Verwertung. Für Verbraucher, Produzenten,Recycler und auch für die politisch Verantwortlichen istdie Verpackungsverordnung wahrlich keine vergnü-gungssteuerpflichtige Veranstaltung. Es ist oftmals einHauen und Stechen, und dies oftmals hinter den Kulis-sen. Hier kann uns der neu aufgesetzte, transparenteProzess des Bundesumweltministers nur helfen.Wir wollen die Produktverantwortung als Element fürdie Verankerung des Verursacherprinzips verankert se-hen, und wir wollen den Missbrauch der Verpackungs-entsorgung auf den verschiedensten Ebenen beendet se-hen. Wir wollen auch den Kampf um Kampfbegriffe wie„Fehlwürfe“, „Trittbrettfahrer“ und andere durch einesolide Validierung von Daten ersetzen. Wir wollen dieSystemfrage ohne Scheuklappen stellen und das besteSystem zur Wertstofferfassung der Zukunft etablieren –hier darf es keine Denkverbote, keine Erbhöfe und auchkeine Ideologie geben. Es zählt der Beitrag zur Ressour-censchonung, und es zählt das für die Umwelt effizien-teste System. Welche Art von Ausschreibung von wie vie-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24423
Michael Brand
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len Teilnehmern, ob mit oder ohne zentrale odergemeinsame Stelle oder dezentraler Ausschreibung ohneoder mit kommunaler Beteiligung mit oder ohne In-house-Vergaben – das alles sind Fragen für eine fachli-che Erörterung, die wir derzeit durchführen.Was wir nicht wollen, das ist ein falsch angelegtesBeratungsverfahren mit schlechter Analyse und falschenErgebnissen. Deswegen lehnen wir als CDU/CSU die-sen Antrag ebenso ab wie die vielen Versuche, uns vordem Ende der Konsultationen des Bundesumweltminis-ters schon vorprogrammieren zu wollen. Wir stehen ver-nünftigen Vorschlägen unvoreingenommen gegenüber.Alte Vorschläge in neuer Verpackung sind dann nichtratsam, wenn mangelnde Transparenz nur die Eigenin-teressen verdecken soll. Alle bleiben eingeladen, sich beiden laufenden Beratungen einzubringen. Bundesminis-ter Altmaier wird zu gegebener Zeit seine Schlussfolge-rungen mit den Betroffenen und innerhalb wie außer-halb der Koalition erörtern. Wir hoffen auf einenbelastbaren Kompromiss zwischen Kommunen, Privat-wirtschaft, Bund und Ländern. Das alles muss einemZiel dienen: einer effizienten, ressourcenschonenden Lö-sung. Vorfestlegungen wie dieser Grünen-Antrag helfenda wenig: die Kompromissfähigkeit von Rot und Grün inden kommenden Wochen entscheidet mit darüber, ob wireine solche Lösung erreichen, oder ob sie diese blockie-ren, zulasten der Umwelt. Wir bleiben erwartungsvollgespannt.
Ich begrüße, dass die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen einen Antrag zur Wertstoffsammlung vorgelegt ha-ben.Um es gleich vorweg zu sagen: Die SPD ist für eineeinheitliche Wertstofferfassung. Wir sind für eine Stär-kung des vorrangigen Ziels der Abfallvermeidung.Wir sind für einheitliche Regelungen für die Wert-stoffsammlung und deren Anwendung auch für haus-müllähnliche Gewerbesammlungen.Wir sind für höhere Recyclingquoten ebenso, wie wirfür zusätzliche Maßnahmen zur Stärkung des Mehrweg-anteils bei Getränkeverpackungen sind.Sie merken, dass wir in vielen Punkten mit den Forde-rungen meiner grünen Kolleginnen und Kollegen über-einstimmen. Lassen Sie mich daher einige grundsätzli-che Ausführungen zu einem möglichen Wertstoffgesetzund zur Verpackungsverordnung machen.Die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen for-dert völlig zu Recht die zeitnahe Einführung der Wert-stoffsammlung. Bereits in der letzten Novelle der Verpa-ckungsverordnung wurde das Thema problematisiert.Wir hatten damals durchgesetzt, dass die freiwillige Ein-führung einer Wertstofftonne und Probeversuche mög-lich wurden.Außerdem wurden Gutachten über Inhalt und Ausge-staltung einer Wertstofferfassung in Auftrag gegeben.Union und FDP haben in ihrer Koalitionsvereinbarungein Wertstoffgesetz vereinbart. Das Bundesumweltminis-terium hat seit Beginn der Legislaturperiode verspro-chen, noch in dieser Periode ein Wertstoffgesetz zurFortentwicklung der Verpackungsverordnung vorzule-gen. Bundesumweltminister Peter Altmaier hat in sei-nem Zehn-Punkte-Programm die Weiterentwicklung derVerpackungsverordnung zu einem Wertstoffgesetz als ei-nes seiner Ziele für den Rest der Legislaturperiode an-gekündigt.Wenn alle – Union, FDP, Grüne, SPD, Linke, BMU,Wirtschafts- und Kommunalverbände, Umwelt- und Ver-braucherverbände – für eine einheitliche Wertstofferfas-sung sind, und dies seit vielen Jahren, dann stellt sichdie Frage: Warum haben wir noch kein Wertstoffgesetz?Warum gibt es keinen Gesetzentwurf des BMU? Die Ant-wort ist klar: Es war und ist das gleiche Problem wiebeim Kreislaufwirtschaftsgesetz – die unterschiedlichenAuffassungen innerhalb der Regierung bezüglich derZuständigkeit für die Hausmüllentsorgung. Teile der Re-gierungskoalition und Teile der privaten Entsorgungs-wirtschaft wollen ein Wertstoffgesetz nutzen, um dieHausmüllentsorgung weiter zu privatisieren.Die Hausmüllentsorgung, die Sammlung und Verwer-tung von Siedlungsabfällen, ist ein wesentlicher Be-standteil der Daseinsvorsorge. Für uns Sozialdemokra-ten ist eines ganz klar: Die Hausmüllentsorgungunterliegt der kommunalen Verantwortung und Zustän-digkeit. Dies gilt auch für die Wertstofferfassung. Wirsind für die einheitliche Wertstofferfassung, aber inkommunaler Zuständigkeit.Liebe Kolleginnen und Kollegen, insbesondere vonder FDP, Sie sind bereits beim Kreislaufwirtschaftsge-setz mit dem Versuch einer weiteren Privatisierung ge-scheitert. Akzeptieren Sie das! Inzwischen sind selbstTeile der privaten Entsorgungswirtschaft und großeTeile der Union für die kommunale Zuständigkeit bei ei-ner einheitlichen Wertstofferfassung.Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP,wenn Sie Ihren internen Streit über Zuständigkeiten inder Abfallwirtschaft beilegen, dann gibt es eine guteMöglichkeit, zügig ein Wertstoffgesetz zu verabschieden.Dafür ist allerdings auch ein weiteres Eingeständnisvonnöten. Immer wieder lese ich, auch im 10-Punkte-Programm von Herrn Altmaier und im Thesenpapier desBMU, die Verpackungsverordnung sei ein Erfolg. Soheißt es in dem Thesenpapier – ich zitiere –: „Mit derEinbeziehung der produzierenden Wirtschaft in die Ent-sorgungslast zielt der Verordnungsgeber auf eine Inter-nalisierung der Entsorgungskosten und daraus resultie-rende Anreize zur Verpackungsvermeidung sowie zumEinsatz verwertungsfreundlicher Verpackungen. DieStrategie war erfolgreich: so ist es seit 1991 nicht nurgelungen, die Entwicklung der Verpackungsmenge vomallgemeinen Wirtschaftswachstum zu entkoppeln.“ Soweit das Thesenpapier.Ja, die Verpackungsverordnung hat Erfolge erzielt.Erstmals wurden Hersteller finanziell an der Entsor-gung für ihre Produkte beteiligt. Die Getrenntsammlungim Haushalt hat sich durchgesetzt. Die RecyclingquotenZu Protokoll gegebene Reden
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24424 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Gerd Bollmann
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sind stark angestiegen, und eine leistungsfähige Recy-clingindustrie ist entstanden.Aber schauen wir doch einmal genauer hin. In demalten und im neuen Kreislaufwirtschaftsgesetz, in der al-ten und neuen europäischen Abfallrahmenrichtliniesteht die Abfallvermeidung an oberster Stelle der Abfall-hierarchie. Und, ist es gelungen, die Zahl der Verpa-ckungsabfälle zu senken? Nein.Nach einem kurzen Rückgang in den 90er-Jahrenstieg die Verbrauchsmenge an Verpackungsmaterialien,insbesondere bei Kunststoff. Die Gesamtmenge an Ver-packungen lag 2010 um fast 400 Kilotonnen höher als1991, Tendenz steigend. Ebenso ist die Mehrwegquoteeingebrochen. Dies liegt daran, dass Abfallvermeidungals oberstes Ziel zwar im Gesetz steht, aber nicht in derRealität.Die Entsorgungswirtschaft lebt davon, dass dieMenge der von ihr zu entsorgenden Abfälle wächst. Ab-fallvermeidung ist nicht ihr Ziel, kann es nicht sein.Auch der Anreiz für die Hersteller, die Zahl der Ver-kaufsverpackungen zu verringern, sinkt bei billiger wer-denden Lizenzgebühren.Wenn wir es ernst meinen mit der Abfallvermeidung,dann kann eine „einfache“ Fortführung der Verpa-ckungsverordnung mit Ausweitung des Systems auf stoff-gleiche Nichtverpackungen kein zielführendes Konzeptsein.Betrachten wir weiter die angeblichen Erfolge derVerpackungsverordnung. So heißt es unter anderem von-seiten der Bundesregierung: „Ausgehend von den Er-fahrungen mit der Verpackungsverordnung hat sich derWettbewerb mehrerer Anbieter von Erfassungs- und Ver-wertungsleistungen als effektives Mittel zur Kostensen-kung und zur Etablierung effizienter Strukturen erwie-sen.“Diese Aussage des BMU – ähnliche Äußerungen gibtes von der FDP und aus der privaten Wirtschaft – istreine Ideologie. Sie stimmt nicht mit den Fakten überein.Sicherlich, vor allem durch Lohndumping, sind Lizenz-gebühren für die Hersteller gesunken. Aber ist der ge-samtwirtschaftliche Aufwand „günstiger“ geworden?Es gibt mehrere Gutachten, die dies verneinen. Jüngsthat noch das Hamburger Weltwirtschaftsinstitut alleindie mit der Komplexität verbundenen Verwaltungskostenfür alle Beteiligten auf 168 Millionen Euro pro Jahr ge-schätzt. Ein komplexer, kaum nachzuvollziehender Ver-waltungsaufwand, doppelte Strukturen bei der Erfas-sung und langwierige Verhandlungen zwischen allenBeteiligten. Will angesichts dieser Zustände wirklich je-mand von einem kostengünstigen System im volkswirt-schaftlichen Sinn sprechen? Und darüber hinaus auchnoch von einem effizienten System? Ein System, in demaufgrund der Trittbrettfahrerproblematik niemand – ichbetone: niemand – wirklich weiß, wie viel Verpackungenlizenziert und verwertet werden. Ein System, in dem dieAngaben der lizenzierten Verpackungsmenge bei dendualen Systemen ständig schwanken. Ein System, in demdie dualen Systeme untereinander sich Lug und Betrugvorwerfen und gegenseitig verklagen. Ein System, indem es trotz zahlreicher Änderungen und Korrekturver-suche zahlreiche Schlupflöcher gibt. Ein System, dessenVollzug vor allem durch eine riesige Anzahl von Ge-richtsverfahren gekennzeichnet ist: ÖRE gegen dualeSysteme, duale Systeme untereinander, ÖRE gegen pri-vate Entsorger, private Entsorger gegen duale Systemeusw.Ja, dieses System ist effizient – für die sich mit Abfall-recht befassenden Rechtsanwaltskanzleien. Für sie istdie wettbewerbsorientierte Verpackungsverordnung eineGoldgrube.Meine Damen und Herren von Union und FDP, esreicht nicht aus, die jetzige Verpackungsverordnung aufstoffgleiche Nichtverpackungen auszudehnen und einigekleinere Veränderungen, wie die Einführung einer zen-tralen Stelle, vorzunehmen. Damit sind die Fehler derjetzigen Verordnung – kaum Abfallvermeidung, undurch-sichtiger Vollzug, hoher bürokratischer Aufwand und ge-ringe stoffliche Verwertung – nicht aufgehoben.Auch immer größere Teile der Privatwirtschaft stehendem jetzigen System der Verpackungsverordnung skep-tisch gegenüber. Bereits im Januar 2010 haben kom-munale Spitzenverbände, VKU und der bvse ein ge-meinsames Positionspapier vorgelegt. Darin wird eineWeiterentwicklung der Verpackungsverordnung zurWertstofferfassung unter kommunaler Zuständigkeit beigleichzeitigem Erhalt des Wettbewerbs aufgezeigt. DieseVorschläge wurden in den letzten Jahren, zum Beispieldurch Berücksichtigung eines Standardkostenmodells,weiterentwickelt – allerdings nicht von der Bundesregie-rung. Die Vorschläge des BMU orientierten sich immeram derzeitigen Wettbewerbsmodell.Dieses sture Festhalten an einem fehlerhaften Systembringt uns nicht weiter. Wir Sozialdemokraten sind nichtgegen Wettbewerb. So, wie der Wettbewerb durch diejetzige Verpackungsverordnung jedoch organisiert ist,ist er volkswirtschaftlich schädlich. Ökologische Ver-besserungen, mehr Ressourcenschutz und mehr Abfall-vermeidung sind damit nicht zu erreichen.
Die Grünen zeigen mit diesem Antrag die künftigeZielstellung auf. Leider sind die Umsetzungsvorschlägezum Teil naiv – nicht nur, dass diese wirkungslos wären,sie würden die Zielerreichung noch erschweren.Wenn man den Antrag zum ersten Mal liest, gerätman in Versuchung, den sich hübsch anhörenden Vor-schlägen Glauben zu schenken. Wenn man dagegen denVersuch unternimmt, die Vorschläge rechts- und umwelt-politisch nachzuvollziehen, offenbaren sich innereWidersprüche. Und diese sind so groß, dass alle gutge-meinten Ziele des Antrags verfehlt werden würden.Die Grünen stellen für ein Wertstoffgesetz eine Vorbe-dingung: „Die Sammlung und Verwertung von Sied-lungsabfällen ist ein wesentlicher Bestandteil derDaseinsvorsorge und unterliegt der kommunalen Ver-antwortung.“ Erst daran anschließend werden weitere,vornehmlich ökologische Bedingungen aufgestellt.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24425
Horst Meierhofer
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Mit der identischen Grundbedingung einer Vollkom-munalisierung ist Rot-Grün auch beim Kreislaufwirt-schaftsgesetz in die Bundesratsverhandlungen gegan-gen. Die Grünen haben dafür neben der beabsichtigenSchwächung der privaten Wirtschaft auch den Kollate-ralschaden umweltunfreundlicherer Regelungen in Kaufgenommen. Offenkundig haben die Grünen aus ihrenFehlern nicht gelernt und lassen sich in ihren politi-schen Entscheidungen nach wie vor von einer lautstar-ken und polemischen Minderheit beeinflussen. Die mo-derateren Töne der Mehrzahl der Kommunen bleibendabei ungehört.Eine generelle und ausnahmslose Zuweisung derSammlung, Verwertung und Aufbereitung an die Kom-munen hätte eine verheerende Wirkung für die Kreislauf-wirtschaft und widerspricht selbst der kommunalen Be-schlusslage. Warum? Im Unterschied zur Sammlung vonAbfällen und Rohstoffen – seit jeher ein klassisches Be-tätigungsfeld der Kommunen – besteht im Bereich derVerwertung und Aufbereitung von Wertstoffen auf kom-munaler Seite nur eine geringe Expertise. Fast die ge-samte Wertschöpfungskette, die sich an die Sammlunganschließt, wird von einem breiten Mittelstand und eini-gen größeren Unternehmen durchgeführt. Die Fortent-wicklung der eingesetzten Technologien geht zum größ-ten Teil auf Entwicklungen der letzten zwanzig Jahrezurück, in denen innovative und kreative UnternehmenUmwelttechnologien geschaffen haben, die zum Export-schlager geworden sind und die heutigen Recyclingzah-len überhaupt erst möglich machen.Wenn die Grünen jetzt auf die Idee kommen, die Ver-nichtungsstrategie der privaten Kreislaufwirtschaft aufdie Spitze zu treiben, dann sollten sie wenigstens so ehr-lich sein, den Wissens- und Technologieverlust – und da-mit einhergehenden ökologischen Nachteil – ehrlich undoffen einzugestehen.Dass die Bedeutung der Privatwirtschaft am Recy-cling nicht kleingeredet werden kann, will ich Ihnendazu anhand von einigen einfachen Zahlenbeispielen er-läutern: Bevor der Verpackungsbereich 1991 privati-siert worden war, lagen die Verwertungsquoten bei circa53,7 Prozent für Glas, 28 Prozent für Papier und Kartonund 3,1 Prozent für Kunststoff. 20 Jahre später liegendiese Zahlen bei 87,2 Prozent für Glas, 85 Prozent fürPapier und Karton und 90,3 Prozent für Kunststoff.Dass eine große Bedeutung der Privatwirtschaft fürdie Kreislaufwirtschaft besteht, soll nicht schmälern,dass auch die kommunale Leistung eine entsprechendeWürdigung erfährt. Nur muss klar sein, dass gesetzlicheLösungen die Fähigkeiten und Möglichkeiten beider Sei-ten berücksichtigen sollten und faire und ausgewogeneRahmenbedingungen die Grundlage für eine Weiterent-wicklung der Kreislaufwirtschaft sind.Die Grünen glauben, alleine mit ökologischen Len-kungsvorgaben diesen Nachteil wettzumachen. Festle-gung von Quoten, Mindestanforderung, neue Statistiken,Weiterentwicklung der Pfandregelungen usw. Nur über-sehen sie dabei leider, dass mit der Grundvorgabe, Inno-vationen und neue Technologien wegzudrücken, allediese Festlegungen zu bloßen Hüllen verkommen.Hinzu kommt ein weiterer Aspekt: Wir haben bereitsjetzt in den abfallrechtlichen Vorschriften ein Problemmit zu vielen unklaren – und sich teilweise widerspre-chenden – Vorschriften. In den Bundesländern sind dieVollzugsbehörden aufgrund wirtschaftlicher Schwierig-keiten personell meist unterbesetzt. Anstatt das Dickichtauf die maßgeblichen Vorschriften herunterzufahren undauch unter Berücksichtigung des Gleichbehandlungsge-bots darauf zu achten, vollziehbare Vorschriften herzu-stellen, setzt der Antrag der Grünen einen falschenSchwerpunkt durch eine unausgewogene und unkoordi-nierte Vorschriftenflut.Das bedeutet nicht, dass jeder einzelne Vorschlag ander Sache vorbeigeht: Die Forderung nach einer deutli-chen Anhebung der Recylingquoten wird von uns bei-spielsweise geteilt. Dies gründet darauf, dass zu vieleder recyclingfähigen Mischkunststoffe in Sortieranlagenauf direktem Weg in die Verbrennung gehen und dergrößte Teil der Verwertungsquoten mittlerweile pro-blemlos erfüllbar ist.Wir wollen die Fortentwicklung des rechtlichen Rah-mens zu einem Wertstoffgesetz. Das ist für uns keineFrage. Wir haben uns im Koalitionsvertrag dafür einge-setzt, haben gegenüber unserem Koalitionspartner im-mer wieder darauf gedrängt und in zahlreichen Anträgendie Festlegung auf ein Wertstoffgesetz in der Koalitionbeschlossen. Wir sehen vor allem die Notwendigkeit, diezweifelsfrei bestehenden Mängel an der Verpackungs-verordnung zu beseitigen und die bestehenden Regelun-gen neu und zeitgemäß zu bündeln. Auch hat eine Wert-stofftonne gegenüber der bestehenden Sammelrealitätgroße Vorteile, und wir sehen dadurch auch vor allem dieMöglichkeit, dem Bürger einfach und nachvollziehbarein Sammelsystem zu erklären, das momentan nicht mehrzu verstehen ist. Kunststoff und Metall in die Wertstoff-tonne, Lebensmittel und Grünzeug in die Biotonne, Pa-pier in die Papiertonne und der Rest in den Restmüll.Mit dem Kreislaufwirtschaftsgesetz haben wir die Ba-sis für dieses Projekt geschaffen. Gerne würden wir es indieser Legislatur abschließen. Nachdem bereits jetztaber klar ist, dass wir ohne die Zustimmung des Bundes-rats kein Gesetz werden beschließen können, sind wirauf die Kompromissbereitschaft der Opposition ange-wiesen.Ihr Antrag verdeutlicht, dass Sie diese Kompromiss-bereitschaft nicht mitbringen. Wenn Sie sich unabhängigvon den Zuweisungen an Private oder Kommunen aufeine sachliche Diskussion einlassen würden, würde ichIhrem Schaufensterantrag noch etwas abgewinnen kön-nen. Mit der von Ihnen eingenommenem Hardlinerposi-tion werden wir aber leider nicht zusammenfinden.Sehr geehrte Damen und Herren von den Grünen, ge-hen Sie noch einmal in sich und überlegen Sie sichgründlich, was die Zielstellung des Wertstoffgesetzes ei-gentlich sein muss. Wir sind der Überzeugung, dass sichdas Zitat einer Anwältin anlässlich eines Fachgesprächsmit Beteiligung aller Fraktionen in diesem Sommernicht bestätigt. Die Dame, die regelmäßig kommunaleUnternehmen zum Kreislaufwirtschaftsgesetz berät, ließsich zu folgendem Satz hinreißen: „Die meisten kommu-Zu Protokoll gegebene Reden
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24426 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Horst Meierhofer
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nalen Unternehmen halten Kunststoffrecycling fürQuatsch.“Gerade den Grünen ist zu empfehlen, sich von dieserkommunalen Minderheit zu distanzieren und offen fürparteiübergreifende Vorschläge zu sein, die für alle Be-teiligten Wege und Möglichkeiten anhand einer sachge-leiteten Umweltpolitik eröffnen.
Oma Müller sortiert ihren Müll gründlich, da gibt es
das Gefäß für alte Batterien, den gelben Sack für Verpa-
ckungen, die Tüte für Papier, den Behälter für Essens-
reste und den für Restmüll. Flaschen werden sortiert
nach Farben eingeworfen, und alte Kleidung und
Schuhe gehen zur Kleidersammlung, oder wenn die Sa-
chen zu abgenutzt sind, dann werden sie als Putzlappen
eingesetzt, um nach dieser Weiterverwendung dann im
Müll zu landen. Der neue Fernseher gab schon nach
knapp drei Jahren seinen Geist auf und wird vom Hand-
werker mitgenommen – reparieren wird teurer als ein
neues Gerät. Der vorherige Fernseher hatte zehn Jahre
gehalten, genau wie die erste Westkaffeemaschine nach
der Wende, die zwölf Jahre gute Dienste tat. Wenn sie
mit derselben Kaffeemaschine heute mehr als zwei Jahre
ihre Käffchen brühen kann, hat Oma Glück. Das ärgert
sie, denn es ist schlecht für die Umwelt, und man muss
doch sparsam sein. Wenn Oma Müller wüsste, dass ihr
mühsam getrennter Müll dann doch verbrannt wird – sie
würde es nicht verstehen.
Der Antrag unserer grünen Kollegen zeigt die Pro-
bleme auf und nennt erstrebenswerte Ziele für eine bes-
sere Abfallwirtschaft. Denen kann niemand widerspre-
chen, aber für die Linke ist das zu wenig.
Mit diesem Antrag wird nicht klar, wie verhindert
werden soll, dass 70 Prozent des gesammelten Kunst-
stoffes im Ofen landet, zwar nicht in der Müllverbren-
nungsanlage, aber eben in den Brennkammern im Ze-
mentwerk. Die Linke schlägt vor, die Mitverbrennung
von Kunststoffen zu verbieten und stattdessen die Ent-
wicklung von Produkten aus recyceltem Kunststoff zu
fördern, damit wir echtes Recycling erhalten.
Statt allgemeiner Vorgaben für Langlebigkeit und Re-
paraturfähigkeit schlägt die Linke vor, dass die Garan-
tiezeiten verlängert werden. Fünf Jahre Garantie für den
Fernseher und alle Großgeräte, aber auch für Pkw und
Möbel, drei Jahre für Elektrokleingeräte und Haushalts-
waren, zwei Jahre für Kleidung. Wir meinen Garantie
und nicht die Gewährleistung. Bei Gewährleistung steht
der Kunde vor dem Problem, dass er Produktionsfehler
beweisen muss – dies gelingt selten. Wir verlangen echte
Garantie, die den Händler verpflichtet, bei Ausfall sei-
ner Ware Reparatur, Ersatz oder Erstattung des vollen
Kaufpreises zu leisten.
Warum die Grünen das bürokratische duale System,
bei dem von 1 000 Euro Einnahmen 600 Euro in die Ver-
waltung, die Lizenzierung und als Gewinne an Aktionäre
fließen und Betrug die Regel ist, jetzt noch auf weitere
Bereiche ausdehnen wollen, erschließt sich mir nicht.
Eine bessere Erfassung von Wertstoffen gelingt für die
Linke, wenn wir erstens die dualen Systeme abschaffen
und zweitens die Lizenzgebühren in eine Verpackungs-
abgabe umwandeln. Die Verantwortung dafür liegt bei
einer zentralen Stelle, diese legt je nach Aufwand für Er-
fassung, Wiederverwendung, Entsorgung und absoluten
Ressourcenverbrauch der Verpackung die Verpackungs-
abgabe fest. Diese muss jeder Hersteller oder Händler
entrichten.
Darüber wird dann ein Erfassungs- und Verwertungs-
system in Verantwortung der Kommunen finanziert.
Drittens sollte ein Pfandsystem für Elektrogeräte ein-
geführt werden – zum Beispiel 5 Euro Pfand zahle ich
beim Erwerb meines neuen Handys, und wenn ich es
dann ein paar Jahre später beim kommunalen Wertstoff-
hof abgebe, bekomme ich die 5 Euro wieder.
Eine Ausdehnung der Pfandpflicht auf alle Getränke-
verpackungen unterstützt die Linke – nicht nur aus Wie-
derverwertungsgründen, sondern weil damit auch die
Vermüllung der Landschaft reduziert wird. Ob eine
Mehrwegverpackung in ihrer ökologischen Gesamtbi-
lanz besser ist , ist nicht immer sicher. Aber mit der von
der Linken bereits geforderten Verpackungsabgabe, die
ja nach ökologischen Gesichtspunkten festgelegt wird,
kann dann über finanzielle Anreize die umweltfreundli-
chere Verpackung preislich bevorzugt werden. Wenn
dies die Mehrwegglasflasche ist, dann haben wir sogar
noch etwas gegen die Weichmacher in Lebensmitteln er-
reicht.
Für die Linke ist die Abfallwirtschaft Bestandteil der
Verringerung des Ressourcenverbrauches und dient da-
mit dem Umweltschutz. Ein überflüssiges Produkt ist
auch bei 100 Prozent Recycling eine unnötige Umwelt-
belastung; da hilft die Recyclingquote nur, den Umwelt-
schaden einzudämmen, verhindert ihn aber nicht. Wir
fordern daher die Bundesregierung auf, sich für so ehr-
geizige Ziele der Verringerung des Rohstoffverbrauchs
einzusetzen, dass zusätzliche Quoten im Abfallrecht
überflüssig werden.
Folgen Sie unseren Vorschlägen, dann hat Oma
Müller nicht nur das Gefühl, umweltbewusst zu sein,
sondern sie ist es auch, und ganz nebenbei stellen wir si-
cher, dass auch die Enkel von Oma Müllers Enkeln noch
genügend Ressourcen und eine intakte Umwelt haben
werden.
Die Versorgung mit Rohstoffen zählt zu den strate-gisch wichtigsten Themen für die deutsche Wirtschaft.Die Industrie ist bei fast allen metallischen Rohstoffenvon Importen abhängig. Kein Laptop, kein Mobiltelefonund keine Solarzelle kommen ohne Metalle wie Kobaltund Platin oder Seltene Erden aus. Für eine grüne, alsoeine klimaneutrale und ressourceneffiziente Ökonomie,müssen wir nachhaltiger mit den Ressourcen der Erdeumgehen.Wir können es täglich lesen: Der Abbau von Rohstof-fen und die Bedingungen des Rohstoffhandels sind fürLänder mit Rohstoffreserven oft verheerend. Die Gewin-nung der Rohstoffe zerstört Natur und Landschaft, hatZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24427
Dorothea Steiner
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gravierende soziale Folgen und ist begleitet von Men-schenrechtsverletzungen.Um die Abfallpolitik umweltverträglich zu betreiben,müssen mehr Wertstoffe als bisher zurückgewonnen undverwertet werden. Die Wiederverwertung von Rohstof-fen schont primäre Rohstoffquellen, vermeidet Trans-porte über weite Strecken, verhindert die Zerstörung vonÖkosystemen durch den Abbau und spart CO2 ein.Dieses Potenzial müssen wir entwickeln.Mit dem Kreislaufwirtschaftsgesetz hat die Bundes-regierung den Ressourcenschutz und die Wiederverwer-tung von Ressourcen nicht vorangebracht. Deutschlandkann seine Importabhängigkeit und seine Abhängigkeitvom Weltmarkt nur beschränken, wenn knappe Rohstoffeeffizient verwendet werden, sie wiederverwendet undzum Teil durch andere Stoffe ersetzt werden.Klar ist: Wir müssen mehr Wertstoffe sammeln undsie wiederverwerten, statt sie in Abfalltonnen oderSchubladen und Schränken verrotten zu lassen. Will manechte Kreislaufwirtschaft, muss man die Rahmenbedin-gungen verändern. Die Recyclingwirtschaft brauchtbessere Bedingungen und mehr Material, um mehr wie-derzuverwerten und einen größeren Beitrag zum Schutzvon Umwelt und Ressourcen zu leisten. Es kann nichtangehen, dass manche Kunststoffe nicht recyceltwerden, weil die Entsorgung über die Müllverbrennungbilliger ist. Das ist eine wahre Verschwendung.Der Bundesumweltminister hat noch im Sommer inseinem Zehn-Punkte-Programm angekündigt, im zwei-ten Halbjahr 2012 einen Gesetzentwurf vorzulegen.Dieser sollte die Wertstoffsammlung verbessern. Voneinem Gesetzentwurf ist weit und breit aber nichts zusehen. Bisher gibt es nur große Ankündigungen, Lösun-gen werden nicht präsentiert.Der Grünen-Antrag „Wertstoffsammlung verbes-sern – Mehr Ressourcen aus Abfällen zurückgewinnen“formuliert die Ansätze, um die Abfallpolitik hin zu mehrRessourcenschutz weiterzuentwickeln. Wir brauchenklare Vorgaben und Regeln für die gesamte Abfallwirt-schaft.Ein Aspekt sind größere Anstrengungen bei der Ab-fallvermeidung. Müll, der nicht entsteht, schont Umweltund Klima. Eine eigene Studie des Bundesumweltminis-teriums hat die Klimaschutzpotenziale in der Abfallwirt-schaft beindruckend belegt. Der Bundesumweltministerbleibt untätig – eine echte Fehlleistung.Wir Grüne fordern die flächendeckende Einführungeiner Wertstofferfassung. Notwendig sind bundesweiteinheitliche Regeln, wie Wertstoffe im Hausmüll sortiertund gesammelt werden. Das bunte Nebeneinanderunterschiedlicher Sammelsysteme ist verwirrend fürVerbraucherinnen und Verbraucher. Das führt nicht zumErfolg. Wir brauchen hohe und strikte Recyclingquoten,orientiert an der jeweils besten vorangegangenen Ver-wertungsleistung. Können Sie, werte Kolleginnen undKollegen von den Regierungsfraktionen, uns erklären,warum die Sammel- und Verwertungsziele nur für denHausmüll gelten sollen, aber nicht für den Gewerbe-abfall?Ich komme jetzt zu einem besonderen Aspekt, zurVerpackungsverordnung und den Getränkeverpackun-gen. Ein Mehrweganteil von 80 Prozent ist das festge-schriebene Ziel der Regierung. Dieses wird seit Jahrenverfehlt. Letzte Woche wurde dem Bundeskabinett mitge-teilt, dass der Anteil von Mehrwegflaschen inzwischenauf 50 Prozent gefallen ist – Tendenz weiter sinkend.Der Fehlentwicklung muss gegengesteuert werden. Wirbrauchen größere Anstrengungen als bisher, um dieMehrwegquote wieder zu steigern. Ein Nebeneinandervon Einweg, Mehrweg, umweltschädlichen Dosen undAusnahmen für Fruchtsäfte machen das jetzige Systemintransparent und anfällig für Betrug. Wer kann nochverstehen, was ökologisch vorteilhaft ist und wie maneinkaufen soll? Hier werden deutlich klarere Regelnbenötigt, zum Beispiel eine Kennzeichnungspflicht.Und für Ressourcenschutz besonders wichtig: Elek-tronikschrott. In Europa werden lediglich 40 Prozent desElektronikschrotts recycelt, der Rest landet im Müll oderwird – häufig illegal – in die Länder des Südensverschifft. Obwohl die europäischen Länder zu denweltgrößten Konsumenten Seltener Erden zählen, funk-tioniert das Recycling von Seltenen Erden bisher kaum.Unser Augenmerk liegt auf den Sammelsystemen. Wennmehr Elektronikschrott gesammelt wird, kann aucheffektives Recycling ermöglicht werden.Nehmen Sie unsere Vorschläge zur Kenntnis undarbeiten Sie damit. Wenn wir alle uns dafür einsetzen,können wir noch in diesem Jahr ein Wertstoffgesetzbeschließen. Das wird der Umwelt nützen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/11161 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit ein-
verstanden. Dann haben wir das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 32 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung der Gewerbeordnung und an-
derer Gesetze
– Drucksache 17/10961 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
– Drucksache 17/11164 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Andrea Wicklein
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die
Reden zu Protokoll genommen.
Seit im Dezember 2010 die Evaluierung der Spielver-ordnung vorgelegt wurde, hat sich der Deutsche Bundes-tag immer wieder damit befasst. In der Spielverordnungsind die Aufstellung und Zulassung der Geldspielgerätegeregelt. Diese findet man in Gaststätten, in Spielhallen,
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24428 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Lena Strothmann
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an Flughäfen oder auch in Spielcasinos. Da das Auto-matenspiel leider das höchste Suchtpotenzial bietet,steht der Jugend- und Spielerschutz im Vordergrund dergesetzlichen Regelungen wie der Spielverordnung.Das Bundeswirtschaftsministerium hat die Federfüh-rung bei der Spielverordnung. Im Jahr 2006 wurde sieletztmalig novelliert und zur Überprüfung dieser Schutz-ziele wurde 2010 vom Bundeswirtschaftsministeriumeine Studie in Auftrag gegeben. Deren Ergebnisse zei-gen, dass trotz der relativ engen Vorschriften und Zulas-sungsauflagen die illegalen und unübersichtlichenSpielabläufe bei Geldspielautomaten nicht verhindertwerden konnten. Hinzu kommt, dass dies zu hohen Aus-gaben der Spieler führt, was in extremen Einzelfällen so-gar in vollständiger Verschuldung endete. Diese Fehl-entwicklungen stehen eindeutig fest. In den BereichenJugendschutz, Spielerschutz und Spielsucht muss alsogegengesteuert werden. Hier ist nicht nur der Verord-nungsgeber BMWi gefordert, sondern auch der Gesetz-geber.Der Handlungsbedarf aufgrund der Evaluierung derSpielverordnung wird noch verstärkt durch die europäi-sche Rechtsetzung und Rechtsprechung. Der Europäi-sche Gerichtshof hat beispielsweise entschieden, dassein Glücksspielmonopol des Staates nur dann zulässigist, wenn die Spielsucht entsprechend bekämpft wird.Der wesentliche Punkt für die Legitimität eines staat-lichen Wettmonopols war in der europäischen Recht-sprechung also stets der Gesichtspunkt der Kohärenzder Maßnahmen zur Bekämpfung der Spielsucht. InDeutschland besteht nach wie vor ein Monopol des Staates.Das heißt, unsere in Deutschland getroffenen Maßnah-men gegen Spielsucht müssen schlüssig sein im Verhält-nis zum Monopol. Aber auch die Verhältnismäßigkeitder gesetzlichen Schutzmaßnahmen wird von der EUkontrolliert. Es wird in erster Linie abgeglichen, ob dieDienstleistungsfreiheit, die gemäß der Dienstleistungs-richtlinie vereinbart ist, berührt oder gar eingeschränktist. Aktuell hat die EU bereits ein Vertragsverletzungs-verfahren wegen der Verletzung der Dienstleistungsfrei-heit eingeleitet. Begründet wird das mit Benachteiligun-gen für bestimmte Einrichtungen. Auch hier besteht alsoHandlungsbedarf.Im Zusammenhang mit der Neuregelung des Glücks-spielstaatsvertrages, den daraus resultierenden Rege-lungen zu Sportwetten in Deutschland und auch denSpielhallengesetzen wurden die europäischen Grund-sätze bezüglich der Kohärenz noch einmal deutlich. Pro-blematisch sind bei uns die verschiedenen Zuständigkei-ten zwischen den Bundesländern und dem Bund. Einegemeinsame Linie ist dennoch erkennbar, da der Ju-gend- und Spielerschutz gemeinsames und übergreifen-des Ziel ist. Erste Erfolge der Spielhallengesetze, dievon den Ländern verabschiedet werden, sind bereitsmessbar. Das betrifft vor allem die Dichte und Anzahlder Spielhallen.Auch bei den öffentlichen Anhörungen zu den ThemenSportwetten und Spielsucht wurde deutlich, dass alle Be-teiligten einen Handlungsbedarf sehen. Das sind alsonicht nur die Forschung und die Suchtberatung, sondernauch die Automatenwirtschaft, welche durchaus ge-sprächsbereit ist.Die Zuständigkeit des Bundes erstreckt sich auf dasgewerbliche Automatenspiel, und hier kommen wir denErgebnissen der Evaluierung nach. Um in der Spielver-ordnung geeignete Maßnahmen umzusetzen, sind zuvorim Gewerberecht einige Änderungen und Ermächtigungs-regelungen notwendig. Folgende inhaltlich schwerwie-gende Punkte stehen im Mittelpunkt der Änderung derGewerbeordnung.Der Aufsteller von Spielgeräten muss eine grundsätz-liche Zuverlässigkeit vorweisen. Diese orientiert sich aneiner eventuellen kriminellen Vergangenheit, an direktenVerstößen gegen das Jugendschutzgesetz und auch anGeldwäsche, die wir auf Wunsch des Bundesrates alsKriterium der Zuverlässigkeit einfügen.Die antragstellenden Gewerbetreibenden müssenauch einen Unterrichtsnachweis von der IHK erbringen.Darin wird belegt, dass der Aufsteller und – das ist unssehr wichtig – auch das angestellte Personal die Rechts-vorschriften zum Spieler- und Jugendschutz kennen.Der Aufsteller muss außerdem über ein Sozialkonzepteiner öffentlich anerkannten Institution der Suchthilfeverfügen. Damit soll gewährleist werden, dass das Per-sonal hinreichend geschult ist, um gefährdete Spielerund Spielweisen zu erkennen und darauf angemessenreagieren zu können. Es müssen Hinweise fürBeratungsangebote für Spieler vorhanden sein, mit de-ren Hilfe sie ihre Gefährdung einschätzen können, umdann letztlich Angebote der Suchtberatung in Anspruchzu nehmen.Um den Beteiligten, zum Beispiel den Industrie- undHandelskammern, genügend Zeit für die Umsetzung desAngebotes zu geben, tritt dieser Teil des Gesetzes erst et-was später in Kraft.Außerdem wird eine Ermächtigungsgrundlage für dieEinführung einer Spielerkarte in der Spielverordnunggeschaffen. Diese Spielerkarte ist vorerst personenunge-bunden, das heißt automatengebunden. Der Spielermuss beim Betreten der Spielhalle eine solche Kartebeim Aufsichtspersonal erbitten und nachher zurückge-ben. Maximal eine Karte wird ausgegeben, um das Be-spielen mehrerer Automaten zu verhindern. Es ist keinmaximaler Spieleinsatz per Karte vorgesehen.Die Einführung einer personengebundenen Karte,wie sie der Bundesrat vorschlägt, wäre sicherlich zu be-vorzugen. Das ist auch unser Ziel, für das erst jedochnoch etliche datenschutzrechtliche und technische Fra-gen geklärt werden müssen. Ein Schnellschuss bringtuns hier nicht weiter. Daher ist die personenungebun-dene Karte derzeit die beste Lösung. Eine personen-gebundene Spielerkarte werden wir aber nicht aus denAugen verlieren.Wichtig ist, dass bei allen Regelungen und Verpflich-tungen zur Sachkunde auch das Personal eingebundenist. Das gilt auch für die Bußgeldandrohung bei Verstö-ßen.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24429
Lena Strothmann
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Ein Punkt betrifft insbesondere die Internetcafés. Bis-lang müssen Einrichtungen, die nur Unterhaltungsspiel-geräte ohne Gewinnmöglichkeit anbieten, die gleichenAntragsvoraussetzungen wie Spielhallen erfüllen. DieEU-Kommission hat das kritisiert und ein Vertragsver-letzungsverfahren eingeleitet. Da der Jugendschutz hierauch durch Filterprogramme und Alterskontrollen ge-währleistet werden kann, sind die strengen Auflagen un-verhältnismäßig. Daher wird bei diesem Gewerbe, ebenvor allem Internetcafés, die Erlaubnispflicht gestrichen.Alles in allem sind das Elemente eines ausgewogenenKonzeptes. Sicherlich werden die Wirkungen der Maß-nahmen zu beobachten sein. Außerdem werden in derSpielverordnung selbst noch weitere Verschärfungenfestgelegt. Ob zukünftig beispielsweise stringenter ge-gen das Punktespiel vorgegangen werden muss, wirdsich zeigen. Wir wollen eine ausgewogene Mischungzwischen dem Wunsch der erwachsenen Bevölkerungnach Unterhaltung, einer florierenden Wirtschaft undden Maßnahmen zur Bekämpfung der Spielsucht.
In seinem Bericht zur Evaluierung der Novelle der
Spielverordnung vom 6. Dezember 2010 hat das Bundes-
wirtschaftministerium eindeutig Handlungsbedarf bei
der Verbesserung des Spieler- und insbesondere des Ju-
gendschutzes festgestellt. Die zentrale Ursache für diese
Expansion des gewerblichen Automatenspiels ist die Lo-
ckerung der Spielverordnung im Jahre 2006.
Daher ist auch die derzeitig diskutierte Novellierung
der Spielverordnung dringend notwendig. Der vorlie-
gende Gesetzentwurf zur Änderung der Gewerbeord-
nung schafft den rechtlichen Rahmen dafür.
Fakt ist: Zwischen den Jahren 2006 und 2012 ist die
Zahl der Geldgewinnspielgeräte in Spielhallen drama-
tisch gestiegen: Die Anstiege reichen von 35 Prozent wie
beispielsweise in Thüringen bis hin zu 150 Prozent wie
in Berlin.
Fakt ist: In Deutschland gibt es rund 500 000 patho-
logische Glücksspieler. Hinzu kommen rund 800 000 so-
genannte problematische Spieler. Das macht 1,3 Millio-
nen Menschen in Deutschland, für die das Spielen an
Geldspielgeräten die Merkmale einer Sucht erfüllt.
Fakt ist ebenfalls, dass laut einer Studie der Universi-
tät Bielefeld 78 Prozent der Befragten unter 18-jährigen
Geldautomatenspieler den Jugendschutz umgehen und
somit unbehelligt spielen konnten.
Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt daher aus-
drücklich, dass die Bundesregierung in ihrem Gesetzent-
wurf zur Änderung der Gewerbeordnung von Automa-
tenaufstellern und dem damit befassten Personal die
Vorlage eines Sozialkonzepts sowie eines Unterrich-
tungsnachweises fordert. Somit soll gewährleistet wer-
den, dass dieser Personenkreis über die erforderliche
Sachkunde verfügt.
Es ist wichtig, der Suchtgefahr bei Spielerinnen und
Spielern aktiv zu begegnen und auch präventiv entge-
genzuwirken.
Daher ist es nur logisch, dass der Bericht des Bun-
deswirtschaftsministeriums neben den Punkten „Sach-
kunde der Aufsteller“ und „Sozialkonzept“ ausdrück-
lich die Vorteile einer sogenannten Spielerkarte betont.
Eine Spielerkarte ist ein Identifikationsmittel, das a) die
Volljährigkeit des Spielers belegt und b) durch seine Vor-
lage überhaupt erst den Spielbeginn am Gerät möglich
machen soll. Nun hat die Bundesregierung diesen Vor-
schlag aufgegriffen und in dem Gesetzentwurf die
Grundlage für die Einführung einer personenungebun-
denen Spielerkarte formuliert. So weit, so gut. Doch die
Bundesregierung schränkt durch die Formulierung der
personenungebundenen Spielerkarte die angestrebte
Schutzfunktion maßgeblich ein. „Personenungebunden“
bedeutet in der Praxis nichts anderes, als dass nicht
nachprüfbar ist, ob derjenige, der die Karte vorlegt,
auch wirklich derjenige ist, auf den sie zugelassen
wurde. Anders ausgedrückt: Es ist nicht belegbar, dass
der Spieler, der die Karte vorlegt, volljährig ist. Hinzu
kommt, dass mit einer personenungebundenen Spieler-
karte mehrere Geldgewinnspielgeräte gleichzeitig be-
spielt werden können. Damit werden die Handlungsemp-
fehlungen des Berichtes „Jugend- und Spielerschutz“
schlichtweg konterkariert.
Der Bundesrat hat genau das in seiner Stellung-
nahme kritisiert und als – wie ich finde – vernünftige
Lösung vorgeschlagen, hinter dem Wort „personenun-
gebundene“ einfach den Zusatz „oder personengebun-
dene“ einzufügen. Das hätte zudem den Vorteil, dass
eine spätere Überarbeitung der Gewerbeordnung unnö-
tig wäre. Das wäre einmal eine effektive Vermeidung von
unnötiger Bürokratie. Doch was tut die Bundesregie-
rung? Sie lehnt diese Ergänzung ab. Dies überrascht
umso mehr, als die Bundesregierung sich ausdrücklich
in ihrer Begründung zum Gesetz zur Einführung einer
personengebundenen Spielerkarte als mittelfristiges
Projekt bekennt. Selbstverständlich müssen die daten-
schutzrechtlichen Rahmenbedingungen geprüft und ent-
wickelt werden. Dies braucht Zeit und Sorgfalt. Da stim-
men wir der Bundesregierung zu; aber dennoch sollte
und könnte man den Zusatz der personengebundenen
Spielerkarte schon jetzt als zukünftige Alternative mit in
den Gesetzentwurf aufnehmen. Also meine konkrete
Frage an Sie, meine Damen und Herren von der Regie-
rungskoalition: Warum nehmen Sie die Formulierung
nicht als Alternative in den Gesetzentwurf auf? Da, wo
sie aktiv Jugend- und Spielerschutz betreiben könnten,
zieren Sie sich plötzlich. Warum? Meine Fraktion hat
bereits im letzten Jahr in unserem Antrag „Glücksspiel-
sucht bekämpfen“ klar gefordert, eine personengebun-
dene Spielerkarte einzuführen.
Meine Damen und Herren von der Koalition, um es
klar zu sagen, Sie bleiben weit hinter Ihren Möglichkei-
ten zurück und verkennen den akuten Handlungsbedarf.
Und trotz einiger guter Ansätze im Gesetzentwurf wird
sich daher die SPD-Bundestagsfraktion enthalten und
ihm nicht zustimmen.
„Game over – Beim Glücksspiel haben Sie Automa-tisch Verloren!“ – diesen treffenden Titel trug eine Infor-Zu Protokoll gegebene Reden
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24430 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Claudia Bögel
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mationskampagne der Hamburgischen Landesstelle fürSuchtfragen e. V., die über die Risiken und Folgen vonGlücksspielen aufklärte.Tatsächlich verursacht ein problematisches Spielver-halten oder Glücksspielsucht ein großes persönlichesLeid natürlich für die Betroffenen selbst, aber auch fürihr Umfeld. Dem müssen wir durch effektiven Jugend-und Spielerschutz entgegenwirken.Nach einer Studie der Bundeszentrale für gesundheit-liche Aufklärung weist insgesamt 1 Prozent der deut-schen Bevölkerung – bundesweit also schätzungsweise540 000 Betroffene – im Alter von 16 bis 65 Jahren einproblematisches oder sogar pathologisches Glücks-spielverhalten auf.Sehr kritisch entwickelt sich das Spielen an Geld-spielautomaten: 13 Prozent der 18- bis 20-Jährigen ha-ben im letzten Jahr ihr Glück an Geldspielautomatenversucht. Besonders besorgniserregend ist, dass dasSpielen an Geldspielgeräten auch in der Altersgruppeder 16- und 17-Jährigen, die nach dem Jugendschutzge-setz überhaupt keinen Zugang zu Glücksspielangebotenhaben dürften, zunimmt.Auch der Bericht des Bundesministeriums für Wirt-schaft und Technologie zur Evaluierung der Novelle derSpielverordnung vom 6. Dezember 2012 hat gezeigt,dass es Handlungsbedarf hinsichtlich der Verbesserungdes Jugend- und Spielerschutzes gibt.Vor diesem Hintergrund ist es notwendig, besondersbei Glücksspielen mit vergleichsweise einfachem Zu-gang und großem Suchtpotenzial gesetzliche Maßnah-men zu ergreifen, die einen ausreichenden Jugend- undSpielerschutz gewährleisten und zur Verhinderung vonGlücksspielsucht beizutragen.Der vorliegende Gesetzentwurf ist meines Erachtensein richtiger Schritt hin zu einem effektiven Jugend- undSpielerschutz im Hinblick auf Spielgeräte mit Gewinn-möglichkeit, sprich Glücksspielautomaten. Kernpunkt desEntwurfs ist die Einführung einer sogenannten Spieler-karte, die zukünftig vom Aufsichtspersonal der Spiel-halle bzw. dem Gastwirt ausgehändigt wird. Mit ihrkann sich der Spieler an den Glücksspielautomaten inSpielhallen oder Gaststätten autorisieren und sie frei-schalten. Dies ermöglicht zum einen eine Alterskontrolleund verhindert somit, dass Minderjährige, die nochnicht an den Geräten spielen dürfen, keinen Zugang zuden Glücksspielautomaten erhalten. Zum anderen er-schwert die Ausgabe der Spielerkarte das gleichzeitigeSpielen an mehreren Geräten. Die Spielerkarte bietet ei-nen erheblich besseren Jugend- und Spielerschutz. Obdieser letztlich ausreichend ist, wird sich nach der Eva-luation der vorliegenden Änderung zeigen.Vor diesem Hintergrund ist der vorliegende Gesetz-entwurf möglicherweise nur eine „Zwischenetappe“ aufdem Weg zu einer noch effektiveren Prävention vonGlücksspielsucht und vor allem einem noch umfassende-ren Jugend- und Spielerschutz.Sollten die Evaluationsergebnisse später zeigen, dassdie personenungebundene Spielerkarte keinen ausrei-chenden Jugend- und Spielerschutz gewährleistet, sindwir durchaus bereit, über die Einführung eines perso-nengebundenen Identifikationsmittels zu reden. Dies istjedoch ein mittelfristiges Projekt, zumal dazu zunächstnoch einige technische und datenschutzrechtliche Fra-gen geklärt werden müssen. Wir werden uns aber dafüreinsetzen, dass dies bei Bedarf schnellstmöglich ge-schieht.Zunächst aber schafft der vorliegende Gesetzentwurfeine Ermächtigungsgrundlage für die Regelung einesdatenschutzrechtlich unproblematischen, nicht perso-nengebundenen Identifikationsmittels in der Spielver-ordnung. Dadurch wird bereits jetzt ein weitergehenderJugend- und Spielerschutz ermöglicht, der den zuvor be-schriebenen Entwicklungen der Zahlen zum Glücks-spielverhalten in Deutschland entgegenwirkt. Angesichtsder Tatsache, dass das Glücksspielverhalten besondersunter Jugendlichen zunehmend problematischer wird,war es uns sehr wichtig, möglichst schnell zu reagierenund eine vernünftige und effektive Lösung im Rahmenunserer gegenwärtigen technischen und datenschutz-rechtlichen Möglichkeiten zu schaffen. Die Praxis wirdzeigen, ob die ergriffenen Maßnahmen wie gewünschtgreifen oder nur eine Übergangslösung sind, auf diemöglicherweise eine personengebundene Spielerkartefolgt.Aber nicht nur die Einführung der Spielerkarte isteine gute und wichtige Maßnahme, um Jugendliche,aber auch Erwachsene vor den negativen Folgen desGlücksspiels zu schützen.Lassen Sie mich an dieser Stelle auf zwei weitereMaßnahmen zum Jugend- und Spielerschutz hinweisen,die im Rahmen der Änderung der Gewerbeordnung er-griffen werden:Die Bedeutung der Sachkunde der Aufsteller über Ju-gend- und Spielerschutz für die Prävention von Spiel-sucht und ihre negativen Folgen ist entscheidend. Die-sen Aspekt greift der vorliegende Gesetzentwurf dadurchauf, dass er als weitere Schutzmaßnahme für Jugend-liche und – potenziell – Spielsüchtige vorsieht, dassSpielhallenbetreiber und Gastwirte zukünftig Kennt-nisse des Jugend- und Spielerschutzes nachweisen müs-sen, um überhaupt Spielgeräte aufstellen zu dürfen. Soll-ten sie gegen diese Vorgabe verstoßen, werden zukünftigsignifikant höhere Strafzahlungen fällig. Das Ziel dieserMaßnahme ist, die Risiken in Bezug auf den Jugend- undSpielerschutz, die aus der mangelnden Sachkenntnis derAufsteller resultieren, zu reduzieren.Darüber hinaus müssen die Unternehmen, die Glücks-spielautomaten aufstellen, zukünftig ein Sozialkonzeptvorhalten, in dem sie darlegen, wie sie den negativenFolgen des Glücksspiels an Gewinnspielgeräten vor-beugen bzw. diese beheben wollen, beispielsweise durchHinweise auf Beratungsangebote für – potenziell –Glücksspielsüchtige oder die Schulung ihres Personals.Uns ist sehr wichtig, dass die Mitarbeiterinnen undMitarbeiter vor Ort dezidiert in das Sozialkonzept einbe-zogen werden und somit in Sucht- und Präventions-fragen geschult sind; denn so entsteht die Möglichkeit,Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24431
Claudia Bögel
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gefährdete Spieler noch frühzeitiger zu erkennen undentsprechend zu reagieren.In der Aufstellerbranche werden Sozialkonzepte ge-genwärtig bereits auf freiwilliger Basis eingesetzt – dasmöchte ich an dieser Stelle ausdrücklich lobend erwäh-nen –; aber eine flächendeckende und somit effektiveVerbreitung der Sozialkonzepte kann letztlich nur durcheine gesetzliche Vorgabe erreicht werden.Es freut mich sehr, dass wir mit dem vorliegenden Ge-setzentwurf alle Beteiligten zufriedenstellen konnten:Sowohl die Drogenbeauftragte der Bundesregierung,Mechthild Dyckmans, als auch die Automatenhersteller-branche können sich mit der personenungebundenenSpielerkarte anfreunden.Auch ich bin angesichts der aufgezeigten Maßnah-men davon überzeugt, dass der vorliegende Gesetzent-wurf bereits jetzt eine Grundlage für einen besseren Ju-gend- und Spielerschutz mit Blick auf das Glücksspiel anGewinnspielautomaten gewährleistet.Über weitergehende Maßnahmen diskutieren wirselbstverständlich gerne, sobald wir die Ergebnisse derKlärung der noch offenen datenschutzrechtlichen, tech-nischen sowie infrastrukturellen Fragen hinsichtlich ei-ner personengebundenen Spielerkarte haben.Nichtsdestotrotz möchte ich an dieser Stelle noch ein-mal deutlich machen, dass die Politik sicherlich in derVerantwortung ist, mit gesetzlichen Regelungen für ei-nen ausreichenden Jugend- und Spielerschutz zu sorgen.Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass es – wiebei jedem Spiel mit Suchtgefahr – auch beim Glücksspielan Gewinnspielautomaten auf das richtige Maß und dieEigenverantwortung des Spielers ankommt, und somitdie gesetzlichen Regelungen gar nicht mehr zum Tragenkommen müssen.
Die Bundesregierung lässt sich mal wieder die Ge-setze von der Wirtschaft diktieren – in diesem Fall vonder Automatenwirtschaft. Anstatt die Menschen vorSpielsucht zu schützen, schützt die Bundesregierung lie-ber die Gewinne der Automatenwirtschaft und tut einbisschen so, als würde sie sich auch um das Wohl derMenschen sorgen. Die von ihr hier eingebrachten Ände-rungen werden nichts an der Situation oder der Zahl derSpielsüchtigen ändern. Die Einführung einer sogenann-ten Spielerkarte ist absolut ineffektiv. Spielsüchtigewerden durch die Karte nicht vom exzessiven Spielen ab-gehalten, Jugendliche können die Kontrolle leicht umge-hen. Dabei ist eine Ursache für das rapide Wachstumder Spielsucht, besonders bei Jugendlichen, die Ent-wicklung von Unterhaltungsspielautomaten zu reinenGlücksspielautomaten, die aus der 2006 beschlossenenNovellierung der Spielverordnung resultierte. Seitdemist die Zahl der süchtigen Spieler, die sich an Suchtbera-tungsstellen wendeten, um 160 Prozent gestiegen. Dem-gegenüber hat sich der Bruttospielertrag der Automa-tenbetreiber in derselben Zeit fast verdoppelt. Zurzeitkämen etwa 56 Prozent der Einnahmen von Spielauto-maten von Spielsüchtigen, und 40 Prozent der Leute, diespielten, seien süchtig, so Experten. Eine viel wirkungs-vollere Maßnahme gegen die Spielsucht wäre zum Bei-spiel die vorherige Identifizierung durch den Fingerab-druck. Aber die Automatenwirtschaft hat kein Interessedaran, die Zahl der Spielsüchtigen zu verringern. KeinWunder, wenn sie die Hälfte ihrer Einnahmen mit dieserGruppe erzielt. Und die Bundesregierung spielt dasSpiel mit.Die Probleme der Spielsucht lassen sich auf individu-eller Ebene – also bei den Aufstellern der Geräte, denBetreibern von Spielhallen und deren Personal – nichtlösen. Die hier über die Gewerbeordnung gestelltenfachlichen Qualifikationen und Nachweise sind zwarrichtig, reichen aber nicht aus. Neben der verpflichten-den Identifikation müssen die Geldspielautomaten auf60 Sekunden pro Spiel entschleunigt werden. Der maxi-male Verlust pro Stunde muss gesenkt und die Höchst-zahl von Automaten in gastronomischen Einrichtungenbegrenzt werden. Besonders die Entschleunigung ist ne-ben der Reduzierung der Verfügbarkeit entscheidend fürdie Suchtbekämpfung und -prävention und Spielerkartenoder anderen Veränderungen am Gerät vorzuziehen.Von der FDP können wir aufgrund der offensichtlich gu-ten Beziehungen zu der Automatenlobby sowieso keineÄnderungen zum Schutz vor den Suchtgefahren durchdas Automatenspiel erwarten. So berichtete die ARDam 10. September 2012, dass an FDP-Tochterunterneh-men vom Glücksspielautomatenhersteller Gauselmann2,5 Millionen Euro geflossen und diese teilweise an diePartei weitergeleitet worden sind.Leider bekleckert sich die Bundesregierung auch beiden Änderungen für die Vermittlung von Finanzanlagen,die hier ebenfalls mit verhandelt wird, nicht mit Ruhm.Das ist zugegebenermaßen schwierig, denn das Gesetzzur Novellierung des Finanzanlagenvermittler- und Ver-mögensanlagenrechts krankt an den falschen Vorausset-zungen. Es lässt weiterhin alle Formen der Geldanlagezu, die nicht ausdrücklich verboten sind. Ein neu ge-schaffenes Produkt fällt so automatisch nicht unter dasGesetz. Damit ist kein Verbraucherschutz möglich!Dabei gibt es gute Vorschläge! Die Linke fordert seitlangem einen Finanz-TÜV. Nur das Produkt, das den Fi-nanz-TÜV besteht, darf in den Verkehr gebracht werden.Parallel dazu muss die Abhängigkeit von Provisionenverschwinden – und damit auch der Druck, möglichstviele Produkte mit hohen Provisionen zu verkaufen. Nurso kann sich der Verbraucher sicher sein, dass die Pro-dukte, die er kaufen kann, auch tatsächlich in seinem In-teresse sind.Die Bundesregierung verpasst mit diesem Gesetz alsowieder einmal zahlreiche Chancen, Fehler aus der Ver-gangenheit gutzumachen. Nicht, weil sie es nicht besserwüsste. Sondern weil ihr Wirtschaft und Profite viel nä-her stehen als Menschen. Das wird auch in diesem Ge-setzentwurf überdeutlich.Greifen Sie unsere Vorschläge auf!Zu Protokoll gegebene Reden
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24432 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
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Immer mehr Menschen in Deutschland sind spiel-süchtig. Fast 300 000 Menschen leiden daran. Nach derInternationalen statistischen Klassifikation der Krank-heiten, der ICD-10, spricht man von einer Sucht bei häu-figem und wiederholtem Glücksspiel, das das Leben vondiesen Menschen vollkommen beherrscht. Langfristigkann Spielsucht zum Verfall der sozialen, beruflichen,materiellen und familiären Werte und Verpflichtungenführen.Dazu auch noch ein anderer Aspekt: Viele Gemeindenund Städte beklagen bereits seit längerem die zuneh-mende Ausbreitung von Spielhallen. Dies führt in be-stimmten Stadtteilen – nicht zuletzt aufgrund negativerBegleiterscheinungen – zu einem „Trading-down“-Ef-fekt. Die Viertel werden unattraktiv für Mieter und an-dere Geschäftsbetriebe und führen so zu einer negativenEntwicklung des Stadtteils insgesamt. Genug Grundalso, endlich tätig zu werden und einzugreifen.Die Bundesregierung hat dem nichts Vernünftiges zuentgegnen. Das zeigt ja schon deren Ansatz bei derSpielverordnung: Viele Regelungen des Entwurfs sindaus meiner Sicht nichts als heiße Luft. Die wirklichenProbleme im Bereich der Spielautomaten werden nichtim Geringsten angegangen. Der Entwurf enthält keinewirksame Entschärfung der Geräte und keine Verminde-rung ihrer Suchtgefährdung. Stattdessen verhindert dieBundesregierung zukünftig, dass die Länder Vor-Ort-Kontrollen durchführen können. Das heißt de facto:Eine wichtige Möglichkeit, Spielhallen und Geldspielge-räte zu kontrollieren, entfällt.Der vorliegende Entwurf für die Gewerbeordnungsoll nun ins selbe Horn stoßen: Bei dem Gesetzentwurfder Bundesregierung geht es unter anderem um den Be-reich Spielhallen und Geldspielgeräte. Geldspielgerätebringen unumstritten die meisten Spielsüchtigen hervor.Wichtigste Neuerung soll eine Karte sein, mit der sichSpieler an den Geräten anmelden sollen, die sogenannteSpielerkarte. Dem Automatenspieler wird vom Wirt oderden Mitarbeitern der Spielhalle eine Karte übergeben,mit der er sich an den Spielgeräten anmelden kann. Da-durch soll verhindert werden, dass Spielerinnen undSpieler an mehreren Geräten gleichzeitig zocken. Au-ßerdem sollen dadurch Kinder und Jugendliche von denbunten Automaten ferngehalten werden.Soweit die Theorie. Die schwarz-gelbe Spielerkartewird diese Ziele nämlich definitiv verfehlen. Das Bun-deswirtschaftsministerium plant die Einführung einerSpielerkarte, die personenungebunden ist. Das Ministe-rium befindet sich damit übrigens in wohliger Einigkeitmit der Automatenindustrie. Lobbypolitik vom Feinsten!Fakt ist nämlich: Die personenungebundene Spieler-karte ist aus suchtpolitischer Sicht komplett nutzlos.Wenn die Karte nicht auf eine Person beschränkt ist,kann sie ja einfach weitergereicht werden – an Spiel-süchtige, an Kinder oder Jugendliche, an wen auch im-mer.Genauso ist die finanzielle Begrenzung und die zeit-liche Pause der Spielerkarte viel zu leicht zu umgehen:Wenn die Karte nicht personengebunden ist, kann einSpieler doch einfach einen anderen Namen angeben.Selbst wenn ein Kasino oder eine Spielhalle von sich ausden Zutritt verwehrt: Es ist doch ein Kinderspiel für dieSpieler, sich einfach in der nächsten Halle die nächsteKarte zu holen. Ich wiederhole noch einmal: Es handeltsich um Süchtige – Menschen, die um jeden Preis ihrVerlangen nach dem Spiel bedienen wollen. Einepersonenungebundene Karte ist für die Betroffenen dochder reinste Witz.Man kann kaum glauben, dass die Bundesregierungdermaßen kurz gedacht hat. Selbst in den eigenen Rei-hen hält man den Vorschlag der Bundesregierung für zukurz gegriffen. Bundesdrogenbeauftragte MechthildDyckmans, FDP, hält die Gesetzesvorlage lediglich füreine „Übergangslösung“.Ganz einig scheint man sich tatsächlich auch inner-halb des Kabinetts gar nicht zu sein. Das Bundesminis-terium für Gesundheit favorisiert nämlich die Einfüh-rung einer personengebundenen Karte. So wärenJugendschutz und Spielerschutz tatsächlich schon ehergewährleistet. Andere Länder haben bereits Erfahrun-gen mit einer solchen Karte gesammelt, sodass eine Ein-führung nach Abklärung der datenschutzrechtlichen undtechnischen Fragen generell durchaus möglich wäre.Ich sage es mit den Worten meines geschätzten Kolle-gen Harald Terpe, der es besser nicht hätte auf denPunkt bringen können: Eine personenungebundeneKarte ist nichts als ein Geschenk an die Industrie. MitSuchtbekämpfung und -prävention hat das rein garnichts zu tun. Ich schließe mich dem FachverbandGlücksspielsucht an: Wir brauchen eine gut überdachteund vor allem wirksame Lösung mit einer per-sonalisierten Karte. Außerdem muss die Systematik derGeräte entschärft werden, sodass Verluste begrenztwerden.
Wir kommen zur Abstimmung.Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-che 17/11164, den Gesetzentwurf der Bundesregierungauf Drucksache 17/10961 in der Ausschussfassung an-zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurfzustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist inzweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfrak-tionen gegen die Stimmen der Linken und Grünen beiEnthaltung der SPD angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-entwurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wiein der zweiten Beratung angenommen.Tagesordnungspunkt 27:Erste Beratung des von den AbgeordnetenRüdiger Veit, Gabriele Fograscher, Wolfgang
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24433
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Gunkel, weiteren Abgeordneten und der Fraktionder SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Verbesserung der Situation Minderjähri-ger im Aufenthalts- und Asylverfahrensrecht– Drucksache 17/9187 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss RechtsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionDie Reden sind, wie in der Tagesordnung ausgewie-sen, zu Protokoll genommen.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-richts beruht das im Grundgesetz verankerte Grundrechtauf Asyl nach Art. 16 a GG auf dem Zufluchtgedankenund setzt daher grundsätzlich einen Kausalzusammen-hang zwischen Verfolgung und Flucht voraus. Der Be-troffene muss mithin in eine erfolglose Lage gebrachtwerden, die grundsätzlich alle Lebensbereiche betreffenkann.Eine Verfolgung liegt allerdings erst dann vor, wenndie Beeinträchtigungen eine die Menschenwürde verlet-zende Intensität erreichen, es sei denn, es werden gezieltLeben, Leib oder persönliche Freiheit verletzt.Zudem begründen Nachteile, die jemand aufgrundder allgemeinen Zustände in seinem Heimatstaat zu er-leiden hat, wie Hunger, Naturkatastrophen, aber auchbei den allgemeinen Auswirkungen von Unruhen undKriegen, keine Verfolgung. Dies hat das Bundesverfas-sungsgericht in ständiger Rechtsprechung festgestellt.Mir ist wichtig, dies gleich zu Beginn meiner Redenoch einmal deutlich hervorzuheben, da wir seit EndeJuli 2012 einen stark erhöhten Zugang von Asylbewer-bern, Kinder und Erwachsene, aus den Herkunftslän-dern Serbien und Mazedonien erleben.Allein im September sind beim Bundesamt für Migra-tion und Flüchtlinge 6 691 Asylerstanträge gestellt wor-den, 1 395 von serbischen Staatsangehörigen und 1 040von mazedonischen Staatsangehörigen. Dieser Trendsetzt sich im laufenden Monat fort.Bei den Antragstellern handelt es sich nach denErkenntnissen des Bundesamtes für Migration undFlüchtlinge zu 90 Prozent um Personen mit der Volks-gruppenzugehörigkeit der Roma. Sie begründen ihreAsylanträge überwiegend mit wirtschaftlichen Gründen.Folglich werden ihre Anträge zu 99 Prozent abgelehnt.Gleichzeitig haben uns in den letzten Wochen Be-richte über überfüllte Aufnahmelager in mehreren Län-dern erreicht. Aufgrund des starken Zustroms aus Ser-bien und Mazedonien sind die bisher zur Verfügungstehenden Kapazitäten bereits vielerorts außerordent-lich stark angespannt.Ich wundere mich daher, dass die SPD-Fraktion sichnicht dieses drängenden Problems annimmt und statt-dessen mit ihrem Gesetzentwurf sogar noch für eine wei-tergehende Öffnung des deutschen Asylrechts eintritt.Dies ist schlicht Realitätsverweigerung.Ich begrüße daher ausdrücklich die Initiative desBundesministers des Innern, Dr. Hans-Peter FriedrichMdB, nach angemessenen Lösungen für eine Begren-zung des starken Zustroms von Asylbewerbern aus Ser-bien und Mazedonien zu sorgen. Offensichtlich handeltes sich bei den von mir angesprochenen Personen ebennicht um Asylberechtigte im Sinne des Art. 16 a GG, son-dern um klassische Wirtschaftsflüchtlinge, die zumindestauch angelockt von der finanziellen Unterstützung nachDeutschland reisen.Selbstverständlich darf niemand in Europa hungern,aber es obliegt zunächst einmal den Regierungen in Ser-bien und Mazedonien, für eine entsprechende Versor-gung der eigenen Bevölkerung zu sorgen.Sollte dies aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeitennicht möglich sein, ist die Europäische Union mit Si-cherheit kurzfristig bereit, Unterstützung vor Ort zu leis-ten. Dies setzt jedoch auch die Bereitschaft der jeweili-gen Länder voraus, entsprechende Anträge zu stellenund die angebotenen Hilfsleistungen dann auch abzuru-fen.Solange dies nicht erfolgt, ist aus meiner Sicht eineAbschaffung der Visumsfreiheit für beide Länder eine lo-gische, sich aufdrängende und auch mögliche Konse-quenz.Der Gesetzentwurf der SPD-Fraktion lässt all diesunberücksichtigt und fordert stattdessen eine Auswei-tung des Schutzes für unbegleitete Minderjährige in denbestehenden aufenthalts- und asylrechtlichen Regelun-gen.Er geht dabei irrig davon aus, dass die vorgeschlage-nen Änderungen aufgrund der Rücknahme zuvor einge-legter Vorbehalte bei der Zeichnung der UN-Kinder-rechtskonvention erforderlich seien.Im Begründungsteil des Gesetzentwurfs gesteht dieSPD-Fraktion dann allerdings doch ein, dass die vorge-schlagenen Änderungen zwar nicht zwingend vorgege-ben seien, „gleichwohl aber für einen sachgerechtenUmgang mit den besonderen Bedürfnissen von Kindernsachlich geboten sind“, vergleiche Bundestagsdrucksa-che 17/9187, Seite 5.Hierdurch wird deutlich, dass es eben doch keine un-mittelbare Handlungspflicht des Gesetzgebers gibt, auf-grund der Rücknahme der Vorbehalte tätig zu werden,sondern dass die UN-Kinderrechtskonvention lediglichals „Rettungsanker“ für überzogene Forderungen her-halten muss.Im Übrigen sieht auch die verwaltungsgerichtlicheRechtsprechung keine Veränderungen aufgrund derRücknahme der erklärten Vorbehalte durch die Bundes-regierung.In seiner Entscheidung vom 10. Februar 2011 führtdas Bundesverwaltungsgericht – Az. 1 B 22.10 – zurAusstrahlungswirkung der UN-Kinderrechtskonventionauf das nationale Ausländer- und Asylrecht aus:Zu Protokoll gegebene Reden
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24434 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Stephan Mayer
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An der Notwendigkeit einer jeweils einzelfallbezo-genen Abwägung hat sich durch das nunmehr auchin Deutschland unmittelbar geltende Übereinkom-men über die Rechte des Kindes vom 20. November1989, BGBl II 1992 S. 121, – UN-Kinderrechtskon-vention, KRK, – und dessen Art. 3 Abs. 1 nichts We-sentliches geändert, da schon bisher gemäß Art. 8EMRK bzw. Art. 6 GG das besondere Gewicht derfamiliären Bindungen und insbesondere das Kin-deswohl minderjähriger Kinder zu berücksichtigenwaren. Art. 3 Abs. 1 KRK sieht vor, dass bei allenMaßnahmen, die Kinder betreffen, das Wohl desKindes ein Gesichtspunkt ist, der vorrangig zu be-rücksichtigen ist.Weitere Oberverwaltungsgerichte, zum Beispiel OVGLüneburg, Beschluss vom 29. März 2011 – Az. 8 LB 121/08, und Verwaltungsgerichtshöfe, zum Beispiel Bayeri-scher VGH, Beschluss vom 8. Juli 2011 – Az. 10 ZB10.3028, haben sich längst dieser Rechtsprechung ange-schlossen.Zuvor hatte das Oberlandesgericht Karlsruhe in sei-ner Entscheidung vom 2. Dezember 2010 – Az. 2 UF172/10 – bereits herausgestellt, dass Art. 22 KRK nichtunmittelbar im deutschen Recht anwendbar sei, da erauf ein vereinbartes Ziel, die „Sicherstellung angemes-senen Schutzes und humanitärer Hilfe bei der Wahrneh-mung von Rechten“, abstelle. Die Formulierung „DieVertragsstaaten treffen geeignete Maßnahmen“ verdeut-liche zudem, dass es der Handlungsfreiheit der Vertrags-staaten überlassen bleibe, welche Maßnahmen sie zurErreichung der Ziele ergreifen würden. Auch der Zweckder UN-Kinderrechtskonvention gebiete keine andereAuslegung. Schließlich seien nur geeignete Maßnahmengefordert. Die UN-Kinderrechtskonvention würde keinRecht enthalten, welches eine Vertretung durch einenRechtsanwalt im Asylverfahren erfordere.Aufgrund der Rücknahme der Vorbehalte zur UN-Kinderrechtskonvention durch die Bundesregierung be-steht somit kein gesetzgeberischer Handlungsbedarf.Auch aufgrund der ebenfalls im Gesetzentwurf aufge-führten EU-Richtlinie 2008/115/EG des EuropäischenParlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 übergemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaa-ten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsange-höriger in nationales Recht besteht kein gesetzgeberi-scher Handlungsbedarf. Die SPD-Fraktion übersieht inihrer Darstellung, dass die EU-Richtlinie längst in na-tionales Recht umgesetzt worden ist.Durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthaltsrechtli-cher Richtlinien der Europäischen Union und zur An-passung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visa-kodex vom 22. November 2011 sind die Vorgaben derRichtlinie bereits nationales Recht geworden.Hierzu gehören auch die besonderen Vorgaben, diedie Situation unbegleiteter Minderjähriger betreffen,wie zum Beispiel Art. 10 der Richtlinie.So wurde beispielsweise in § 58 AufenthG ein neuerAbsatz aufgenommen, der festschreibt, dass sich vor derAbschiebung eines unbegleiteten minderjährigen Aus-länders die Behörde zu vergewissern hat, dass dieser imRückkehrstaat einem Mitglied seiner Familie, einer zurPersonensorge berechtigten Person oder einer geeigne-ten Aufnahmeeinrichtung übergeben wird.Zudem ist durch die Ergänzung des § 62 AufenthG dieBerücksichtigung des Wohles des Kindes bei der Ab-schiebungshaft noch einmal gesondert hervorgehobenworden.Die Vorgaben des Art. 10 der Richtlinie wurden be-reits zuvor in Deutschland durch § 42 SGB VIII umge-setzt und kamen auch bereits in der Praxis zur Anwen-dung.Ein weitergehender Umsetzungsbedarf besteht daheraus meiner Sicht auch bezüglich der EU-Richtlinie2008/115/EG nicht.Abschließend kann somit festgehalten werden, dass eskeine rechtliche Verpflichtung gibt, für den Gesetzgebertätig zu werden und die bestehenden Regelungen desAufenthaltsgesetzes und des Asylverfahrensgesetzes zu-gunsten von unbegleiteten Minderjährigen zu verän-dern.Angesichts der fortlaufend steigenden Zahlen vonAsylbewerbern aus Serbien und Mazedonien sollte esaus meiner Sicht eher Aufgabe des Gesetzgebers sein,wirksame Maßnahmen gegen den offensichtlichen Miss-brauch des Grundrechts auf Asyl anzugehen. Hierzuwürde ich mich auch auf Vorschläge der Oppositions-fraktionen freuen.Dies setzt aber natürlich voraus, dass man endlichakzeptiert, dass weder die EU-Grundrechtecharta nochdie UN-Kinderrechtskonvention ein Recht auf Einreisenach Deutschland allein wegen der Minderjährigkeitgewähren.
Zweieinhalb Jahre ist es her, dass das Kabinett am3. Mai 2010 den Beschluss zur Rücknahme des Vorbe-halts gegen die Kinderrechtskonvention fasste. ZweiTage später kommentierte die BundesjustizministerinSabine Leutheusser-Schnarrenberger im Plenum diesenKabinettsbeschluss als einen „wirklich guten Tag für dieKinderrechte“. Weiter sagte sie: „... natürlich brauchenminderjährige Flüchtlinge einen ganz besonderenSchutz“ und: „Natürlich ist es richtig, im Asylverfahrennicht nur Jugendliche bis zum 16. Lebensjahr, sondernbis zum 18. Lebensjahr einen angemessenen Rechtsbei-stand zur Seite zu stellen …“Das sehen wir genauso. Allerdings hat die Bundesjus-tizministerin an gleicher Stelle auch gesagt, dass alleindie Länder nun zu prüfen und zu überdenken hätten, wiesie das Kindeswohl stärker bei ihren Entscheidungen be-rücksichtigen könnten. Auf Bundesebene sei keine Not-wendigkeit gegeben, gesetzgeberisch tätig zu werden.Das ist widersprüchlich: Einerseits sagte die Ministe-rin, es sei „natürlich“ notwendig, minderjährige Flücht-linge ganz besonders zu schützen, andererseits wollte siedie bestehenden Gesetze nicht dahin gehend ändern,dass dieser Schutz auch gewährt wird.Zu Protokoll gegebene Reden
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Rüdiger Veit
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In meiner Rede vom 28. Oktober 2010 habe ich aus-führlich aufgezeigt, wo überall dringender Handlungs-bedarf im Asylverfahrensgesetz, im Aufenthaltsgesetzund im Sozialrecht gegeben ist. Diese Änderungen sindnotwendig, um den besonderen Bedürfnissen von min-derjährigen ausländischen Kindern gerecht zu werden.Heute stelle ich leider fest, dass die schwarz-gelbeKoalition es mit der tatsächlichen Umsetzung der Kin-derrechte im Ergebnis nicht ganz so ernst meinte und esbei dem symbolischen Akt der Rücknahme der Vorbe-haltserklärung belassen hat.Da wollen wir aber nicht stehen bleiben. Mit unseremheute eingebrachten Gesetzentwurf wollen wir dieRechte von Minderjährigen im Aufenthalts- und Asylver-fahren tatsächlich konkret stärken. Zentraler Gedankeunserer vorgeschlagenen Gesetzesänderung ist die He-raufsetzung der Handlungsfähigkeit von minderjährigenAusländern von bisher 16 Jahren auf 18 Jahre, also aufdie allgemeine Grenze für die Volljährigkeit.Gemäß Art. 1 der Kinderrechtskonvention, KRK, ist„ein Kind jeder Mensch, der das achtzehnte Lebensjahrnoch nicht vollendet hat“. Laut Art. 22 KRK müssen dieVertragsstaaten sicherstellen, dass ein Kind, das dieRechtsstellung eines Flüchtlings begehrt, angemessenenSchutz und humanitäre Hilfe bei der Wahrnehmung derRechte erhält, die mit der KRK oder in anderen interna-tionalen Übereinkünften über Menschenrechte gewährtwerden, und zwar unabhängig davon, ob sich dasFlüchtlingskind allein oder in Begleitung seiner Elternoder anderer Personen befindet.Bislang galt ein unbegleitetes Flüchtlingskind schonab 16 Jahren als verfahrensfähig und damit als fähig,das Asylverfahren alleine durchzuführen. Das Asylver-fahren ist ein kompliziertes Verfahren, bei dem sich per-sönliches Tun und Unterlassen schnell zuungunsten desAntragstellers bzw. der Antragstellerin auswirken kann,und sei es nur durch das Verstreichenlassen von Fristen.Dass Minderjährige in diesem Verfahren, in dem sieRechte aus der Genfer Flüchtlingskonvention geltendmachen, bislang auf sich allein gestellt sind, ist ein Ver-stoß gegen Art. 1 KRK in Verbindung mit Art. 22 Abs. 1KRK. Dies ist ein Verfahren, das eben nicht sicherstellt,dass ein Flüchtlingskind Schutz und humanitäre Hilfebei der Wahrnehmung seiner Rechte erhält.Ein solcher Schutz kann nur gegeben sein, wenn demFlüchtlingskind ein Vertreter zur Seite gestellt wird, deres davor bewahrt, Fehler zu machen.Hinzu kommt, dass Art. 22 Abs. 2 KRK bestimmt, dassein unbegleitetes Flüchtlingskind den gleichen Schutzerhalten muss wie jedes andere Kind, das seine Elternund/oder Familie verloren hat. Kindern wird, wenn siekeine gesetzlichen Vertreter haben, grundsätzlich eineVertretung beigeordnet, die für ihre rechtlichen Interes-sen sorgt. Allein im Asylverfahren gilt das bislang nicht.Durch die asylrechtliche Verfahrensfähigkeit erhalten16- und 17-jährige Asylbewerber im Asylverfahren nichtden gleichen Schutz wie sonstige Minderjährige in ande-ren Verfahren. Das allerdings verstößt gegen Art. 1 KRKin Verbindung mit Art. 22 Abs. 2 KRK. Die Konsequenz:§ 12 Abs. 1 AsylVfG muss abgeschafft werden. Danngelten gemäß § 12 Abs. 2 AsylVfG – der dann zu § 12Abs. 1 AsylVfG wird – die allgemeinen Vorschriften überdie Volljährigkeit nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch.Danach hat dann das Jugendamt unverzüglich einenVormund für das Flüchtlingskind zu bestellen, der dannauch im Asylverfahren tätig wird.Von der Aufhebung der Verfahrensfähigkeit von 16- und17-Jährigen erhoffen wir uns auch ein Ende der leidermanchmal immer noch rechtswidrigerweise erfolgendenUnterbringung von unbegleiteten minderjährigen Flücht-lingen in Aufnahmeeinrichtungen, § 44 AsylVfG, und Ge-meinschaftsunterkünften, § 53 AsylVfG. Nach den Vor-schriften des SGB muss das Jugendamt unbegleiteteMinderjährige in Obhut nehmen. Ist dies geschehen,muss das Flüchtlingskind in einer Jugendhilfeeinrich-tung oder in einer sonstigen geeigneten Wohnform woh-nen.So soll es auch sein. Weder in Erstaufnahmeeinrich-tungen noch in Gemeinschaftsunterkünften kann dasKindeswohl vorrangig berücksichtigt werden, wie esArt. 3 Abs. 1 KRK fordert. Zudem legt Art. 20 KRK fest,dass ein Kind, das aus seinem familiären Umfeld geris-sen ist, Anspruch auf besonderen Schutz und Beistanddes Staates hat. Die Unterbringung muss in einer „ge-eigneten Kinderbetreuungseinrichtung“ erfolgen.Allerdings geschieht es immer wieder, dass Jugendäm-ter aus der asylverfahrensrechtlichen Handlungsfähig-keit schließen, dass eine Inobhutnahme nicht notwendigist, und das Kind dann eben doch in der Erstaufnahme-einrichtung landet. Durch die Streichung des § 12 Abs. 1Asylverfahrensgesetz kann es nicht mehr zu diesem Miss-verständnis kommen.Die Berücksichtigung des Kindeswohles ist schließ-lich der Maßstab, an dem sich Handlungen gegenüberKindern vorrangig messen lassen müssen. So steht es inArt. 3 Abs. 1 KRK. Dies wollen wir in einem neuenAbs. 3 des § 12 AsylVfG festschreiben ebenso wie in § 1AufenthG. Es mag zwar sein, dass das Kindeswohl auchüber Art. 6 GG und Art. 8 der Europäischen Menschen-rechtskonvention, EMRK, bei Handlungen und Ent-scheidungen Kindern und Familien gegenüber mit be-rücksichtigt wurde; Art. 3 KRK ist demgegenüber jedochdie speziellere Vorschrift. Zudem konkretisiert die KRKgerade kinderspezifische Rechte.Wie wichtig und durch die KRK geboten eine Kindernund Jugendlichen angemessene Unterbringung ist, habeich bereits dargelegt. Im Flughafenasylverfahren erfolgtgrundsätzlich eine Unterbringung auf dem Flughafen-gelände. Dies ist keine Flüchtlingskindern angemesseneUnterbringung. Schon deswegen müssen sie aus demAnwendungsbereich des Flughafenverfahrens herausge-nommen werden, wie wir es mit unserem Gesetzentwurfvorschlagen. Außerdem ist bei unbegleiteten Kindernund Jugendlichen ein sogenanntes Clearingverfahren –bei dem im Sinne des Kindeswohls und anhand des Ein-zelschicksal überlegt wird, welches aufenthaltsrechtli-che Ziel den Interessen des Kindes am ehesten gerechtwird – nach Einreise durchzuführen. Ein solches Verfah-ren kann nur in einer geeigneten Einrichtung gelingen.Zu Protokoll gegebene Reden
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24436 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Rüdiger Veit
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Damit es keinen Zweifel mehr daran geben kann, dassunbegleitete Flüchtlingskinder vom Jugendamt in Obhutzu nehmen und nicht in Gemeinschaftsunterkünften un-terzubringen sind, muss dies schließlich ausdrücklich soins Gesetz geschrieben werden. Daher fordern wir dieAnfügung eines Satzes 3 in § 53 Abs. 1 AsylVfG, derebendies klarstellend sagt.Wir fordern, dass unbegleitete minderjährige Flücht-linge nicht an der Grenze zurückgeschoben werden. Daswollen wir ausdrücklich so in § 15 AufenthG, der die Zu-rückweisung regelt, festlegen. Zwar dürfen Flüchtlinge,die einen Asylantrag gestellt haben, gemäß § 15 Abs. 4Satz 2 AufenthG nicht zurückgewiesen werden, was na-türlich auch für Flüchtlingskinder gilt. Allerdings fällt esgerade dieser Personengruppe schwer, ein Asylbegehrenunmittelbar und spontan an der Grenze vorzutragen. Esbedarf auch hier eines Clearingverfahrens, was, wie be-reits dargestellt, nur in einer „geeigneten Kinderbetreu-ungseinrichtung“, Art. 20 KRK, durchgeführt werdenkann.Lassen Sie mich nun zu der sogenannten Altersfest-stellung von Jugendlichen kommen. Eine solche wird im-mer dann notwendig, wenn Zweifel an dem Lebensaltereines jugendlichen Flüchtlings bestehen. Hier gibt esmehrere Methoden. Ausgangspunkt ist zumeist eine me-dizinische Untersuchung. Umstritten ist vor allem dieRöntgenuntersuchung der Handwurzelknochen, bei deres zu Abweichungen von bis zu einem Jahr nach obenund nach unten kommen kann, einen gesunden, normalernährten Jugendlichen vorausgesetzt. Leider kann diesjedoch nicht immer der Maßstab sein; Vorerkrankungenund Mangelernährung der Flüchtlingskinder können zuAbweichungen von mehreren Jahren führen. Wenn je-doch Zweifel an dem Ergebnis bestehen, muss unsererAnsicht nach das Jugendamt eingeschaltet werden. Die-ses hat die notwendige Kompetenz, um das Alter des Ju-gendlichen herauszufinden. Und selbstverständlich mussder Jugendliche in die Maßnahmen eingewilligt haben.Um schließlich noch weiter umfassend dafür Sorge zutragen, dass ein Flüchtlingskind nicht in einer Erstauf-nahmeeinrichtung oder einer Gemeinschaftsunterkunftim Sinne des AslyVfG landet, schlagen wir die Einfü-gung eines ergänzenden Satzes in § 42 SGB VIII vor, derdie Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen durchdas Jugendamt regelt. Wir wollen deutlich in das Gesetzschreiben, dass die genannten Unterkünfte für volljäh-rige Asylbewerber keine für unbegleitete Minderjährigegeeigneten Wohnformen darstellen, und zwar auch dannnicht, wenn das zuständige Jugendamt Kapazitätspro-bleme geltend machen sollte.Das Asyl- und Aufenthaltsrecht ist eine hochkompli-zierte Materie. Kenntnisse auf diesem Rechtsgebiet sindjedoch unerlässlich für denjenigen Rechtsbeistand, dereinen jugendlichen Flüchtling bei der Geltendmachungseiner Rechte unterstützen will. Bereits heute beantra-gen viele Jugendämter als Vormund eines minderjähri-gen Flüchtlings im Ausländer- und Asylrecht erfahreneRechtsanwälte als Verfahrenspfleger, § 1909 BGB, fürdie Durchführung eines Verfahrens in diesen Rechtsge-bieten, da ihnen selbst hier meistens die nötige Sach-kunde fehlt.Wir wollen dies zur Regel machen. Und in der ganz zuAnfang meines Beitrags zitierten Rede von FrauLeutheusser-Schnarrenberger betonte ja auch die FrauMinisterin, dass Jugendliche bis zum 18. Lebensjahr na-türlich einen angemessenen Rechtsbeistand erhaltensollen. In unserem Gesetz schlagen wir eine diesbezügli-che Änderung in § 42 SGB VIII vor.Dies sind die Änderungen im Detail. Doch fordernwir nicht nur Detailregelungen, sondern eine umfassendkinderfreundliche Einwanderungs-, Flüchtlings- und In-tegrationspolitik. Wir zeigen mit dem vorliegenden Ge-setzentwurf, dass die Rücknahme des Vorbehalts Wir-kungen zeigen muss, statt nur symbolisch zu wirken. Wirstehen mit umfassenden Vorschlägen zum Bleiberechtdafür ein, dass auch geduldete Kinder und Jugendlichedie Chance auf einen legalen Aufenthalt bekommen.Und wir verdeutlichen mit unserer Forderung nach Ab-schaffung der Optionspflicht, dass es für uns keine deut-schen Kinder erster und zweiter Klasse gibt.Damit setzen wir eine Politik fort, die wir bereits frü-her begonnen haben. Ich erinnere daran, dass meineFraktion die Rücknahme des Vorbehalts gemeinsam mitdem damaligen Koalitionspartner schon in der 14. und15. Wahlperiode angemahnt hat. Aus dieser Traditionheraus bitte ich Sie im Interesse und zum Wohle unbe-gleiteter minderjähriger Flüchtlinge: Stimmen Sie die-sem Gesetz zu.Hartfrid Wolff (FDP):Die Situation von minderjährigen Flüchtlingen in denBlick zu nehmen, ist ein grundsätzlich ehrenwertes An-liegen. Auch einzelne Vorschläge des SPD-Gesetzent-wurfs sind aus unserer Sicht diskutabel. Unbegleiteteminderjährige Flüchtlinge müssen ihren Bedürfnissenentsprechend behandelt werden. Minderjährige unbe-gleitete Flüchtlinge müssen ihren Schutzbedürfnissenentsprechend behandelt werden. Für uns gehört dazuauch das Recht auf Bildung. Das Kindeswohl muss imZentrum stehen.Ob eine Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünf-ten hier abträglich sein kann, sollten die Länder sichüberlegen. Überhaupt ist zu sagen, dass vieles bereitsvon den Ländern gemacht werden könnte. Da könnte dieSPD selber viel von dem gestalten, was sie hier im Bun-destag vorträgt – wenn sie es denn ernsthaft wollte.Warum macht die SPD den Gesetzentwurf – ausge-rechnet jetzt? Sie hat elf Jahre im Bund mitregiert undnichts in diesem Bereich geschafft. Aber in der Opposi-tion will sie allen zeigen, wo es langgeht. Ich habe denEindruck, dass die SPD-Bundestagsfraktion sich hiernicht mit ihren Landesregierungen abgestimmt hat. Vondort würden wohl eher kritische Töne kommen. Insofernist der Gesetzentwurf eher ein billiger, aber wenig über-zeugender Anbiederungsversuch an die entsprechendenInteressengruppen.Im Unterschied zu elf Jahren SPD haben drei JahreRegierungsbeteiligung der FDP sehr viel mehr bewirkt –Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24437
Hartfrid Wolff
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gerade im Bereich des humanitären Ausländerrechts.Wir haben in den letzten drei Jahren geschafft, währenddie SPD in ihrer Regierungszeit versagt hat: Wir habendafür gesorgt, dass im Rahmen des sogenannten Richtli-nienumsetzungsgesetzes das Kindeswohl einen zentralenPlatz im Ausländerrecht erhält. Die Koalition aus Unionund FDP hat eine neue Integrationspolitik auf den Weggebracht: Wir erschließen die Chancen der Zuwande-rung für unser Land besser und stärken den Zusammen-halt unserer durch Zuwanderer bereicherten Gesell-schaft. Fördern und Fordern gehören zusammen.Wir haben die Residenzpflicht für Geduldete undAsylbewerber gelockert, um ihnen die Aufnahme einerBeschäftigung oder Ausbildung zu erleichtern. Damitsteigern wir die Chancen von jungen Migranten, aufdem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen und sich in unserer Ge-sellschaft weiter zu entwickeln.Die christlich-liberale Koalition eröffnet so Perspek-tiven für Menschen, die in unser Land gekommen sind.Multikultiromantik oder Desintegration durch Weg-schauen helfen uns nicht weiter. Die Koalition aus FDPund CDU/CSU geht dagegen ohne Scheuklappen beste-hende Defizite der Integrationspolitik an.Es gilt, die Möglichkeiten der Zuwanderung für unserLand besser zu nutzen. Mit unseren bisherigen Gesetzes-initiativen wurden in ausgewogener Weise Maßnahmenzur Förderung der Integration und zur humanitärenBesserstellung von Ausländern, die in Deutschland Hilfeund Schutz suchen, ergriffen. Wir haben erstmals fürminderjährige und heranwachsende geduldete Auslän-der ein vom Aufenthaltsrecht der Eltern unabhängigesBleiberecht in einem Bundesgesetz geschaffen. Die rot-grüne Koalition hatte das nicht zustande gebracht.Auch in anderen Bereichen der Zuwanderungssteue-rung haben wir längst viel mehr geleistet, als die SPD inden elf Jahren ihrer letzten Regierungsbeteiligung: Wirhelfen Frauen in Not. Zwangsheirat wird jetzt explizitals Straftat benannt. Wir haben auch den Opfern vonZwangsverheiratungen eine Perspektive mit einem ei-genständigen Wiederkehr- bzw. Rückkehrrecht gegeben.Jetzt erhalten sie eine Chance, sich zu befreien. Demdient auch die Verlängerung der Antragsfrist für dieAufhebung der Ehe.Die Ausländerbehörden haben wir verpflichtet, vorVerlängerung einer Aufenthaltserlaubnis festzustellen,ob einer Pflicht zur ordnungsgemäßen Integrationskurs-teilnahme nachgekommen wurde. Damit können die In-tegrationskurse besser fokussiert und aktive Integra-tionspolitik gestaltet werden. Das erhöht die Chancenfür Menschen, die nach Deutschland kommen, auch inDeutschland wirklich anzukommen und sich eine Exis-tenz aufzubauen. Die Koalition aus CDU/CSU und FDPverbessert tatkräftig die Integration ausländischer Men-schen in Deutschland und eröffnet ihnen Perspektiven.Wir fördern und fordern! So kommt Deutschland – undalle, die hier leben wollen – voran. Der Schlüssel für ge-sellschaftlichen Zusammenhalt ist erfolgreiche Integra-tion. Wir stellen die Weichen dafür!Unter diesem Aspekt werden wir auch die jetzt vorge-legten Wünsche der SPD prüfen. Schon jetzt lässt sichaber sagen, dass ihre Wünsche, etwa Zurückweisungenan der Grenze oder das Flughafenverfahren generellauszuschließen, solcherart sind, wie sie die SPD selbstin ihrer Regierungszeit nie auch nur versucht hat.Sicherlich ist die SPD einverstanden, dass wir des-halb solche Vorschläge, denen näherzutreten sie selbstin Regierungszeiten nicht geneigt war, nicht zu unserenHauptprioritäten bei der Diskussion um besserenFlüchtlingsschutz machen.
Die SPD-Fraktion legt hier heute einen Gesetzent-wurf vor, mit dem endlich die Kinderrechtskonventionder Vereinten Nationen im deutschen Aufenthalts- undAsylrecht umgesetzt werden soll. Mit Unterzeichnungdieser Konvention im Jahr 1991 hatte die damalige Bun-desregierung gemeinsam mit den Bundesländern einenVorbehalt eingelegt, mit dem sich die BundesrepublikDeutschland eine schlechtere Behandlung von ausländi-schen Kindern vorbehalten hatte. Die von der FraktionDie Linke bereits zu Beginn der Wahlperiode geforderteRücknahme des Vorbehalts ist mittlerweile erfolgt. Dievon der SPD nun vorgeschlagenen Gesetzesänderungenentsprechen weitgehend dem, was die Linke ebenfalls in
Im Zentrum der Kritik steht die Asylverfahrensmün-digkeit bereits mit 16 statt mit 18 Jahren. Einige derminderjährigen Asylsuchenden werden also zumindestim Asylverfahren wie Erwachsene behandelt. Das sollmit diesem Gesetzentwurf geändert werden. Der Gesetz-entwurf sieht eine Reihe weiterer Verbesserungen imAsylverfahren und bei den Aufnahmebedingungen vor.So sollen unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nichtmehr in Sammelunterkünften untergebracht, sondernnur noch in Obhut der Jugendämter genommen werdenund entsprechend in kinder- und jugendgerechten Ein-richtungen leben.Die Linke begrüßt diesen Gesetzentwurf; an einigenStellen müsste er allerdings deutlich weiter gehen. Sosollen nach dem Gesetzentwurf unbegleitete Minderjäh-rige aus dem Flughafenasylverfahren herausgenommenwerden. An dieser Stelle wäre es nicht falsch gewesen,das rechtsstaatswidrige Schnellverfahren im Flughafen-transitbereich ganz zu streichen. Mindestens hätte manaber auch die Familien dort herausnehmen müssen;denn für Kinder ist eine solche Umgebung generellungeeignet, ob nun die Eltern dabei sind oder nicht.Ähnliches gilt bei der Abschiebungshaft. UnbegleiteteMinderjährige sollen nach dem Willen der SPD nicht inSammelunterkünften und nicht im Flughafentransit un-tergebracht werden. Es wäre nur konsequent gewesen,dann auch die Abschiebungshaft für Minderjährige, un-begleitet oder nicht, zu untersagen. Neben der Inobhut-nahme durch die Jugendämter sollte es außerdem einenAnspruch auf eine Rechtsvertretung für unbegleiteteMinderjährige geben. Wir alle wissen, dass es sich beimAsyl- und Aufenthaltsrecht in Deutschland um eineZu Protokoll gegebene Reden
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24438 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Ulla Jelpke
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hochkomplexe Rechtsmaterie handelt. Dafür brauchenKinder und Jugendliche entsprechende Unterstützung,die selbst von engagierten Vormündern nicht geleistetwerden kann.An einem Punkt widersprechen wir dem Gesetzent-wurf der SPD allerdings deutlich. Sie wollen medizini-sche Eingriffe zur Altersfeststellung mit Einschränkun-gen weiter zulassen. Dabei handelt es sich meist um eineRöntgenuntersuchung der Handwurzelknochen. Wir leh-nen so etwas generell ab und fordern stattdessen, imZweifel auf die Aussagen der Betroffenen zu vertrauen.Einen weiteren Punkt vermissen wir im Gesetzent-wurf der SPD. Bei weitem nicht alle EU-Staaten habendas Niveau der Fürsorge für unbegleitete Minderjäh-rige, das in Deutschland glücklicherweise bereits er-reicht ist. Das gilt besonders für jene Staaten, die ohne-hin die EU-Vorgaben zu den Aufnahmebedingungen fürSchutzsuchende unterlaufen. Doch wenn festgestelltwird, dass die minderjährigen Flüchtlinge bereits in ei-nem anderen EU-Staat einen Asylantrag gestellt haben,versucht man sie ihm Rahmen der Dublin-Zuständig-keitsregeln schnell wieder dorthin loszuwerden. Dabeiwird auch wenig Rücksicht darauf genommen, welchepsychischen Konsequenzen eine solche Behandlung fürdie Kinder und Jugendlichen hat oder ob es in dem be-treffenden EU-Staat überhaupt ein angemessenes Sys-tem für die Aufnahme von unbegleiteten minderjährigenFlüchtlingen gibt. So droht jungen Flüchtlingen weiterdie Abschiebung nach Italien, auch wenn sie dort aufder Straße leben müssen. Das ließe sich nur mit einemgenerellen Verzicht auf Überstellungen von Minderjäh-rigen im Dublin-Verfahren verhindern. Und auch andiesem Punkt gilt: Minderjährige im Familienverbunddürfen nicht schlechter gestellt sein als unbegleiteteMinderjährige. Auch sie müssen davor geschützt wer-den, im europäischen Zuständigkeitsdschungel hin- undhergeschoben zu werden.
Bündnis 90/Die Grünen haben sich stets für eine vor-
behaltlose Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention
eingesetzt und dies auch in mehreren parlamentarischen
Initiativen zum Ausdruck gebracht. Nach der Rück-
nahme des deutschen Vorbehalts müssen nun auch die
bundesrechtlichen Konsequenzen durch Gesetzes-
anpassungen insbesondere im Aufenthalts- und Asylver-
fahrensgesetz gezogen werden.
Die Rechtsauffassung des Bundesinnenministeriums
und des Bundesjustizministeriums, aus der Rücknahme
der deutschen Vorbehaltserklärung ergebe sich, insbe-
sondere mit Blick auf das Asyl- und Aufenthaltsrecht,
„kein legislativer Handlungsbedarf“, ist nicht nachzu-
vollziehen, da dann völlig unverständlich ist, warum die
Bundesregierung seit 18 Jahren mit allen Mitteln ver-
sucht hat, die Rücknahme einer angeblich völlig folgen-
losen Vorbehaltserklärung zu verhindern.
Es trifft nicht zu, dass ausländischen Kindern schon
heute alle sich aus der UN-Kinderrechtskonvention tat-
sächlich ergebenden Rechte gewährt werden. Auch
wenn einzelne Regelungen der Verwaltungspraxis Spiel-
räume bieten, ist der Gesetzgeber trotzdem selbst gefor-
dert. Andernfalls besteht die Gefahr uneinheitlicher
Standards innerhalb Deutschlands. Dies gilt insbeson-
dere für die zentrale Frage der Handlungsfähigkeit von
Minderjährigen.
Der SPD-Gesetzentwurf greift diese zentrale Forde-
rung auf und verankert erfreulicherweise im vorliegen-
den Gesetzentwurf das Prinzip des Kindeswohls als vor-
rangig zu berücksichtigenden Gesichtspunkt. Beim
Flughafenasylverfahren schlägt die SPD vor, unbeglei-
tete Minderjährige von diesem Schnellverfahren auszu-
nehmen, das im Flughafentransit unter Bedingungen der
Kasernierung durchgeführt wird. Dies begrüßen wir,
wenngleich die Forderung hinter der grünen Initiative
zurückbleibt, die eine vollständige Abschaffung des
Flughafenverfahrens vorsieht.
Eine Klarstellung sieht der SPD-Gesetzentwurf bei
der Inobhutnahme von minderjährigen Flüchtlingen vor.
So müsste schon heute eine Inobhutnahme flächende-
ckend erfolgen – also eine jugendgerechte Unterbrin-
gung, statt einer in Gemeinschaftsunterkünften mit
Erwachsenen – ebenso wie die Bestellung eines Vormun-
des. Da diese Vorgaben in der Praxis immer wieder un-
terlaufen werden, ist eine solche Klarstellung hilfreich.
Andere dringend notwendige Verbesserungen für
Flüchtlingskinder werden allerdings durch den Gesetz-
entwurf nicht gelöst:
Minderjährige Asylsuchende sollten nicht länger auf-
grund der EU-Zuständigkeitsverordnung Dublin II in
Abschiebehaft genommen und in andere EU-Länder ab-
geschoben werden. Die Rückschiebung von Minderjäh-
rigen widerspricht dem Kindeswohl.
Solange die Pflicht zur Wohnsitznahme in Gemein-
schaftsunterkünften für Flüchtlinge nicht abgeschafft
ist, sollte es zumindest für Familien mit Kindern Aus-
nahmen geben, um eine geschützte und kindgerechte
Entwicklung der Minderjährigen zu ermöglichen.
Die schwarz-gelbe Koalition muss sich nun endlich
auch der Rechte von Flüchtlingskindern annehmen. Es
darf nicht sein, dass die Rücknahme der Vorbehalte zur
Kinderrechtskonvention folgenlos bleibt. Wer Kinder-
rechte ernst nimmt, muss die Rechte von Flüchtlings-
kindern stärken und darf deren Situation nicht länger
ignorieren.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 17/9187 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esanderweitige Vorschläge dazu? – Das ist nicht der Fall.Dann ist die Überweisung so beschlossen.Tagesordnungspunkt 33:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EUund weiterer aufenthaltsrechtlicher Vorschrif-ten– Drucksache 17/10746 –
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24439
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-schusses
– Drucksache 17/11105 –Berichterstattung:Abgeordnete Reinhard GrindelRüdiger VeitHartfrid Wolff Ulla JelpkeMemet KilicAuch hier sind die Reden zu Protokoll genommen.
Freizügigkeit ist ein hohes Gut innerhalb der EU. Der
Gesetzgeber in Deutschland achtet dies. Trotzdem ist
seitens der Kommission offenbar der Eindruck entstan-
den, dass wir in der Bundesrepublik die entsprechende
EU-Richtlinie zur Freizügigkeit nicht angemessen
umgesetzt hätten. Mit diesem Gesetz, das wir heute in
zweiter und dritter Lesung abschließend beraten, wird
dieser mögliche Fehler geheilt.
Einer der Kernpunkte dieses Gesetzes ist, dass Le-
benspartner von Unionsbürgern beim Recht auf Einreise
und Aufenthalt Ehegatten gleichgestellt werden.
Zweitens erreichen wir eine erhebliche Entlastung
der Kommunen von Bürokratiekosten durch die Ab-
schaffung der rein deklaratorischen und kostenfrei aus-
zustellenden Freizügigkeitsbescheinigung für Unions-
bürger. Dieses Dokument erinnert etwas an den von
Reinhard Mey in einem Lied beschriebenen Antrag zur
Erteilung eines Antragsformulars. Als Nachweis für den
rechtmäßigen Aufenthalt reichen in der Tat Pass und
Meldebescheinigung völlig aus.
Wir müssen uns vor Augen führen, dass wir dieses
Gesetz in einer Zeit beschließen, in der der Migrations-
druck nach Deutschland wieder deutlich höher ist als
noch vor zwei oder drei Jahren. Das beweisen auch die
sprunghaft gestiegenen Asylbewerberzahlen. Insofern
ist es nur zu begrüßen, dass Vorschriften in das Gesetz
Eingang gefunden haben, die zur Bekämpfung von
Scheinehen und eines Missbrauchs des Rechts auf Frei-
zügigkeit geeignet sind. Es ist jetzt vorgesehen, dass
Freizügigkeitsrechte widerrufen werden können, wenn
nachträglich das Vorliegen einer Scheinehe festgestellt
wird. Mein Kollege Stephan Mayer hat bereits in der
ersten Lesung zu diesem Gesetz darauf hingewiesen,
dass es nach Erkenntnissen der Innenministerkonferenz
jährlich mindestens 1 000 Fälle von Scheinehen in
Deutschland geben dürfte. Die Dunkelziffer liegt ver-
mutlich noch höher.
Typische Fallkonstellationen sind das nur formale
Eingehen einer Ehe sowie die Anerkennung einer Vater-
schaft ohne das Ziel, tatsächlich eine familiäre Lebens-
gemeinschaft zu führen. Hinzu kommen unterschiedliche
Formen des Gebrauchs von verfälschten Dokumenten
sowie die Täuschung über den Wohnsitz oder das
Arbeitsverhältnis, insbesondere um Einreise- und Auf-
enthaltsrechte für Angehörige zu erschleichen.
Wenn man sich vor Augen führt, welche Konsequen-
zen die Einräumung des Rechts auf Freizügigkeit hat,
dann kann sich die Zahl der Personen, die sich insoweit
einen Aufenthalt in Deutschland erschleichen können,
schnell verdoppeln und verdreifachen. Deshalb muss
hier konsequent ein Riegel vorgeschoben werden. Wir
haben schon zu Beginn der Legislaturperiode mit der
Anhebung der Ehebestandszeit für ein eigenständiges
Aufenthaltsrecht von zwei auf drei Jahre einen wichtigen
Schritt im Kampf gegen die Scheinehen unternommen.
Jetzt folgt ein weiterer wichtiger Baustein gegen den
Missbrauch unseres Aufenthaltsrechts. Und es ist schon
bezeichnend, dass die Fraktion Die Linke und die Grü-
nen diesen Kampf gegen Scheinehen nicht mitmachen
und uns für diese Gesetzesinitiative kritisieren. Zu einer
gelingenden Integration gehört die Aufnahmebereit-
schaft der einheimischen Bevölkerung. Es ist unbestreit-
bar, dass die Fälle von Scheinehen insgesamt zu Vor-
urteilen gegenüber unseren ausländischen Mitbürgern
führen. Insoweit muss es gerade im Interesse einer gelin-
genden Integrationspolitik sein, Scheinehen konsequent
entgegenzuwirken.
Der von mir angesprochene erhöhte Migrationsdruck
ist auch der Hintergrund für die Frage, ob wir im Rah-
men dieses Gesetzes die Einreise von weiteren Familien-
angehörigen zu Unionsbürgern näher regeln müssen,
insbesondere wenn der Unionsbürger mit diesem Fami-
lienangehörigen im Herkunftsland in häuslicher Ge-
meinschaft gelebt hat. Wir haben im Zuwanderungsrecht
eine Härtefallklausel für diese Fälle des Familiennach-
zugs. Wir gehen davon aus, dass es sich dabei um eine
europarechtskonforme Regelung handelt, und sehen
jetzt keinen Nachbesserungsbedarf.
Nicht unerwähnt lassen will ich, dass quasi im „Om-
nibusverfahren“ an das Gesetz eine klare gesetzliche
Regelung für eine Prüfungsverordnung in Bezug auf
Abschlusstests bei Sprach- und Orientierungskursen
vorgenommen wurde, die bisher nur in der Integrations-
kursverordnung geregelt waren und auf eine saubere ge-
setzliche Grundlage gestellt werden sollen.
Ich nehme das zum Anlass, darauf zu verweisen, dass
die verbindliche Prüfungsordnung die Qualität der
Kurse weiter verbessert hat und wir einen transparente-
ren Einblick haben, wie erfolgreich die einzelnen Träger
bei ihren Integrationskursen sind. Das ist auch für aus-
ländische Mitbürger, die in einer Kommune mit mehre-
ren Anbietern leben, eine wichtige Orientierungshilfe,
um den möglichst besten Integrationskurs zu finden.
Abschließend will ich darauf hinweisen, dass der
Bundesrat eine positive Stellungnahme zu unserem
Gesetz abgegeben und keine Änderungen verlangt hat.
Die Praktiker des Freizügigkeitsrechts vor Ort sehen die
Sache also offenbar genauso wie wir. Auch vor diesem
Hintergrund bitte ich um Zustimmung zu unserem
Gesetzentwurf.
Wie schon in der ersten Lesung zu dem vorliegendenGesetzentwurf der Bundesregierung dargelegt, begrü-
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Rüdiger Veit
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ßen wir die mit dem Entwurf angestrebte Gleichstellungvon Lebenspartnern mit Ehegatten von Unionsbürgernebenso wie das mit dem Entwurf verfolgte Ziel, Bürokra-tiekosten abzubauen und das Verfahren zu vereinfachen.Die Einführung einer Missbrauchsklausel erachtenwir nicht als notwendig. Sie ist in der Richtlinie 2004/38/EG nicht zwingend, sondern als Möglichkeit vorgese-hen. In den Beratungen des Gesetzentwurfes wurdediese Neuregelung besonders kontrovers diskutiert. Ins-besondere die Fraktion Die Linke befürchtet, dass esaufgrund der Einführung der Missbrauchsklausel zueiner verschärften Überprüfung binationaler Ehen kom-men könne, die dadurch stark belastet und einem gene-rellen Missbrauchsverdacht ausgesetzt werden könnten.Zudem gebe es keine verlässlichen Hinweise darauf,dass es im Bereich des freizügigkeitsrechtlichen Ehegat-tennachzugs zu vermehrten Missbräuchen kommt.Derartige empirische Nachweise sind auch uns nicht be-kannt, und wir halten die Argumente der Fraktion DieLinke für nachvollziehbar. Allerdings kommen wir ande-rerseits nicht umhin, die diesbezüglichen Sorgen derBundesländer ernst zu nehmen.Nach wie vor wollen wir jedoch freizügigkeitsrechtli-che Visaerleichterungen für nachziehende Ehegattenund sonstige Familienangehörige. Solche haben wir inunserem Gesetzentwurf auf Drucksache 17/8921, „Ent-wurf eines Gesetzes zur Änderung des aufenthalts- undfreizügigkeitsrechtlichen Ehegattennachzugs“, vorge-schlagen. Dazu gehört die Erteilung eines Ausnahme-visums an der Grenze an Familienangehörige, die nichtUnionsbürger sind, aber einen solchen begleiten oderihm nachziehen, wenn sie die familiäre Verbundenheitmit dem Unionsbürger ebenso nachweisen wie ihre ei-gene Identität. Außerdem wollen wir eine gesetzlicheKlarstellung dahin gehend, dass der Besitz einer Aufent-haltskarte eines Mitgliedstaates der EuropäischenUnion von der Visumspflicht befreit und den Inhaber/dieInhaberin zur Inanspruchnahme der Freizügigkeits-rechte innerhalb der Europäischen Union berechtigt,und zwar unabhängig davon, ob der freizügigkeits-berechtigte Unionsbürger diesen Familienangehörigenständig begleitet oder nicht.Die Fraktion Die Linke hat in den Beratungen zu demGesetzentwurf der Bundesregierung einen Änderungs-
hinsichtlich ihrer aufenthaltsrechtlichen Behandlung,aber dass „Anträge auf Einreise … von Personen, die zueinem Unionsbürger in einem besonderen Abhängig-keitsverhältnis stehen, gegenüber den Anträgen andererDrittstaatsangehöriger in gewisser Weise bevorzugt zubehandeln“ sind.Wie schon in dem Votum zur ersten Lesung desGesetzentwurfs stellen wir fest, das der Entwurf die ein-gangs erwähnten positiven Regelungen enthält, wir al-lerdings weitergehende Regelungen, vor allem Visum-erleichterungen für Familienangehörige, wollen.Wir werden uns daher der Stimme enthalten.
Es freut mich sehr, dass sich alle Fraktionen des Hau-ses in der ersten Lesung zur Freizügigkeit in der Euro-päischen Union bekannt haben. Die Kritik an dem Ge-setzesvorhaben, die von Teilen der Opposition geäußertworden ist, kann ich nicht nachvollziehen. Zuwanderungin die Europäische Union und damit auch Zuwanderungnach Deutschland bedürfen klarer Regeln, die für alleMenschen transparent und nachvollziehbar sind. Zu-wanderung muss zudem gesteuert werden, damit sichEinwanderer erfolgreich in unsere Gesellschaft einfügenkönnen. Das sind wir nicht nur unseren Bürgern schul-dig, sondern auch den Einwanderern selbst. Ihnen istnicht geholfen, wenn sie keine wirtschaftliche Perspek-tive in Deutschland haben.Die Linkspartei fordert Abrüstung an den Grenzenund verschweigt, dass die christlich-liberale KoalitionDeutschland zu einem attraktiven Einwanderungslandgemacht hat. Mit der Bluecard ist Deutschland in die ge-steuerte Zuwanderung eingestiegen. Menschen von au-ßerhalb der EU können zu uns kommen, wenn sie übereinen Hochschulabschluss verfügen und ein Einkommenvon 44 800 Euro pro Jahr erzielen – für eine Tätigkeit ineinem Mangelberuf reichen sogar 34 900 Euro aus. Wirschließen damit die Lücke bei Ärzten, Ingenieuren undIT-Experten, um unseren Wohlstand und unsere Lebens-qualität langfristig zu sichern.Heute haben wir im Bundestag mit den Stimmen derKoalition beschlossen, dass wir künftig mit bis zu 4 Mil-lionen Euro pro Jahr die Sprachförderung von Zuwan-derern fördern. Diese Sprachförderung kommt nicht nurden Zuwanderern aus Drittstaaten zugute, sondern auchallen EU-Bürgern, die nach Deutschland kommen. Diesist vor allem deshalb besonders wichtig, da mittlerweilejeder zweite Zuwanderer nach Deutschland aus anderenEU-Ländern stammt. Wir haben uns damit erneut zurFreizügigkeit in der EU bekannt. Wir fördern nicht nurdie Freizügigkeit als theoretische Möglichkeit, sondernauch deren Umsetzung in der Praxis. Wir ermöglichenMenschen, sich in unserem Land und in unserer Wirt-schaft und Gesellschaft einzubringen.Deutschland ist ein offenes Land, aber nicht grenzen-los. Zuwanderung bedarf der Steuerung. Dazu gehörtauch, dass Scheinehen kein legitimes Mittel zur Erlan-gung eines Aufenthaltsstatus sind und dass Familien-nachzug – den wir nachdrücklich befürworten – einvertretbares Maß umfasst. Die Akzeptanz von Einwan-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24441
Serkan Tören
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derung und Einwanderern in unserer Gesellschaft hängtauch davon ab, ob für alle die gleichen Regeln gelten.Das liegt auch gerade mir als Einwanderer besondersam Herzen.
Bereits bei der ersten Lesung des vorliegendenGesetzentwurfs zur Änderung des Freizügigkeitsgeset-zes habe ich erklärt, dass die Linke es selbstverständlichbegrüßt, wenn künftig Lebenspartnerinnen und Le-benspartner von Unionsangehörigen mit Ehegatten auf-enthaltsrechtlich gleichgestellt werden. Diese Korrekturwar allerdings auch überfällig.Auch dass künftig keine sogenannten Freizügigkeits-bescheinigungen mehr beantragt werden müssen, ist imPrinzip eine Erleichterung. Jedoch erwarte ich von derBundesregierung, dass sie die Behörden, die Öffentlich-keit und die Betroffenen über diese Änderung umfassendinformiert, auch wenn diese Änderung rein rechtlichbetrachtet minimal ist, weil diese Bescheinigung schonimmer nur einen deklaratorischen Wert hatte. Doch imbürokratiegeprägten bundesdeutschen Alltag ist esschon eine kleine Revolution, wenn Menschen nichtdeut-scher Staatsangehörigkeit über ihr Aufenthaltsrecht inDeutschland keinerlei behördliche Bescheinigung mehrvorweisen müssen – bzw. nicht können. Und das ist auchdas Problem: Zumindest einzelne Behördenvertreter,etwa in den Sozialämtern, aber auch Privatpersonen,wie Vermieter und Arbeitgeber, und die Betroffenenselbst werden verunsichert sein, wenn es kein Papiermehr gibt, das Unionsbürgerinnen und -bürgern bestä-tigt, dass sie sich hier legal aufhalten. Deshalb halte icheine systematische und breite Bekanntmachung dieserRechtsänderung für dringend erforderlich, damit siesich für Unionsangehörige nicht nachteilig auswirkt.Auch soll sich damit im allgemeinen Bewusstsein festset-zen, dass EU-Bürgerinnen und -Bürger grundsätzlichkeine Aufenthaltserlaubnis und auch keine amtliche Be-scheinigung brauchen, wenn sie in Deutschland lebenwollen.Die Gründe, aus denen Die Linke den Gesetzentwurfablehnt, hatte ich ebenfalls bereits bei seiner Einbrin-gung benannt. Sie gelten verstärkt fort, weil die Koali-tion im Gesetzgebungsverfahren keinerlei Änderungenmehr vorgenommen und auch unseren beiden Ände-rungsanträgen nicht zugestimmt hat.Dabei hätte die Koalition zumindest unserem Antragzur Umsetzung des sogenannten Rahman-Urteils desEuropäischen Gerichtshofs, EuGH, vom 5. September2012 eigentlich zwingend zustimmen müssen. Inhaltlichgeht es darum, dass ein Nachzug von entfernten Ver-wandten nach derzeit geltendem Recht in Deutschlandnur im außergewöhnlichen Härtefall und nur nach Maß-gabe des Aufenthaltsgesetzes möglich ist, § 36 Abs. 2AufenthG. Meines Wissens nach kommt diese Regelungin der Praxis kaum zur Anwendung. Dies wird dem ge-nannten Urteil nicht gerecht, wonach Unionsangehörigegegenüber Drittstaatsangehörigen „in gewisser Weisebevorzugt“ behandelt werden müssen – wie auch immerman eine solche Ungleichbehandlung politisch bewer-tet. Und weiter forderte der EuGH, dass die Einreise-bedingungen für diese Gruppe wirksam erleichtert wer-den müssen – die überaus hohen Hürden einesaußergewöhnlichen Härtefalls entsprechen dem nicht.Dass die Bundesregierung Urteile des EuGH igno-riert, wenn diese nicht in ihr politisches Konzept passen,ist im aufenthaltsrechtlichen Kontext leider kein Einzel-fall. Auch beim EWG-Türkei-Assoziationsrecht, beimFamiliennachzug und bei Regeln zu EU-Binnengrenz-kontrollen ist dies festzustellen, nun also auch beimFreizügigkeitsrecht. Wie ist eigentlich die Haltung derBundesjustizministerin zu diesem inakzeptablen Um-gang mit dem Europäischen Gerichtshof? Ich erinneredaran, dass die EU-Kommission ein Vertragsverlet-zungsverfahren gegen die Bundesrepublik eingeleitethat wegen unzureichender Umsetzung der Freizügig-keitsrichtlinie, unter anderem wegen der Zuzugsbestim-mungen von entfernteren Verwandten. Die Bundesregie-rung hatte bislang erklärt, dass sie das Urteil des EuGHzu dieser Frage abwarten wolle, um dann hieraus dieKonsequenzen zu ziehen. Nun liegt dieses Urteil vor, undich frage Sie: Wann, wenn nicht jetzt, wollen Sie dasnationale Recht endlich den europäischen Vorgabenanpassen? Die Frist zur Umsetzung ist bereits im Jahr2006 verstrichen.Unfassbar ist vor diesem Hintergrund die gestrigeAntwort der Bundesregierung auf meine Frage nach derfehlenden Umsetzung des Rahman-Urteils: „Derzeitwird geprüft, inwieweit sich gegebenenfalls Rechtsände-rungsbedarf aus dem EuGH-Urteil in der RechtssacheRahman ergibt.“ Da ist die Bundesregierung zwarschlauer als die CDU/CSU-Fraktion, die im Innenaus-schuss noch erklärt hatte, dass alles mit der EuGH-Rechtsprechung vereinbar sei. Aber wenn ein Bundes-ministerium auch nach sieben Wochen noch nicht dazuin der Lage ist, die notwendigen Schlüsse aus einem ge-rade einmal neunseitigen Urteil zu ziehen, dann ist dasmehr als ein Armutszeugnis.Leider fand auch unser Änderungsantrag, auf dieneue ausdrückliche Missbrauchsregelung zu verzichten,keine Mehrheit im Ausschuss. Nur die Grünen stimmtenzu. Die SPD enthielt sich, weil sie den in der Gesetzes-begründung zitierten – aber nicht im geringsten beleg-ten – Angaben der Länder folgte, wonach es angeblich„eine nicht unerhebliche Zahl von Fällen“ gebe. Dabeihaben wir mehrfach darauf hingewiesen, dass es keiner-lei empirische Belege für eine verbreitete oder gestie-gene Missbrauchspraxis gibt. Selbst die im staatlichenAuftrag erarbeiteten Studien bestätigen dies. Die Zahl
siv zurückgegangen, die Zahl von bundesweit 734 ent-sprechenden Verdachtsfällen im Jahr 2011 lag um einViertel unterhalb des Vorjahreswerts. Auch das Metock-Urteil des EuGH aus dem Jahr 2008 war kein „großesEinfallstor für Rechtsmissbrauch“, wie Bundesinnen-minister Schäuble auf EU-Ebene gewarnt hatte. Infolgedes Urteils gab es schlicht keinen signifikanten Anstiegdes Familiennachzugs. Doch zu den rechtspopulisti-schen Tönen von damals passt, was nun die CDU/CSU-Fraktion im Innenausschuss zu unserem Änderungsan-Zu Protokoll gegebene Reden
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24442 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Sevim Dağdelen
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trag erklärte: Dieser sei eine „Unterstützungsaktion fürScheinehen“.In diesem Zusammenhang möchte ich aber schon da-rauf hinweisen, dass sogenannte Scheinehen – anderenennen sie „Schutzehen“ – für viele wegen des restrikti-ven bundesdeutschen Rechts, verstärkt durch europa-rechtswidrige Haltung der Bundesregierung, und einermitunter auch feindseligen Praxis in den Ausländer-behörden der einzige Weg sein kann, Menschlichkeit undMenschenrechte in der Praxis für sich in Anspruch zunehmen.Doch unabhängig davon ist und bleibt auch jenerEinwand der CDU/CSU schlicht falsch, dass in Miss-brauchsfällen bislang ein Freizügigkeitsrecht entstand.Das ist völlig absurd, wie den einschlägigen Verwal-tungsvorschriften zum Gesetz zu entnehmen ist. Einerbesonderen Regelung hat es also keinesfalls bedurft. Wirbefürchten, dass die Neuregelung von den Behörden alsein Warnsignal verstanden und zu einerverschärften Prüfpraxis führen wird. Die Folgen diesesstaatlich gesäten Misstrauens könnten dann unzulässigeVerdächtigungen, Denunziationen, Ausspähungen undBe- oder Verhinderungen des Zusammenlebens vieler bi-nationaler Paare sein. Deshalb lehnen wir diese Ver-schärfung ab!Abschließend lassen Sie mich noch einmal sagen:Wenn Sie schon ein Gesetz beschließen, das das Wort„Freizügigkeit“ im Titel führt, dann stellen Sie bei die-ser Gelegenheit doch endlich auch die Freizügigkeit füralle Menschen in Deutschland her – und beenden Sie diemenschenrechtswidrige und diskriminierende Residenz-flicht für Asylsuchende und Geduldete! Sie reden vonFreizügigkeit, aber drangsalieren Flüchtlinge undschränken ihre Bewegungsfreiheit gnadenlos ein. DieLinke ist solidarisch mit den Flüchtlingen, die vor dreiWochen nach einem 600 Kilometer langen Protest-marsch aus Würzburg in Berlin eingetroffen sind undnun ihren Protest gegen die Residenzpflicht, Abschie-bungen und die Lebensbedingungen von Asylbewerbernin Deutschland durch ein Protestcamp am Oranienplatzin Berlin-Kreuzberg und durch einen gestern begonne-nen Hungerstreik auf dem Pariser Platz am Branden-burger Tor zum Ausdruck bringen.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Umset-zung der Freizügigkeitsrichtlinie enthält Licht undSchatten. Deswegen werden wir uns heute bei derAbstimmung enthalten.Ich beginne mit den positiven Seiten des Gesetzent-wurfs. Wir begrüßen, dass die Regierung Lebenspartne-rinnen bzw. Lebenspartner von Unionsbürgerinnen bzw.-bürgern beim Recht auf Einreise und Aufenthalt denEhegatten gleichstellt. Es erstaunt allerdings, dass esfür eine solche Selbstverständlichkeit mehrerer Grund-satzurteile des Bundesverfassungsgerichts bedurfte. An-statt unzählige Gesetze zu ändern, könnten wir natürlichden viel einfacheren Weg der Öffnung der Ehe gehen.Wir stimmen auch dem Wegfall der nur deklaratori-schen Freizügigkeitsbescheinigung zu. Die Minderungdes Bürokratieaufwands sowie die Kosteneinsparungensind sinnvoll. Allerdings muss sichergestellt werden,dass die Betroffenen hinreichend über die Neuregelunginformiert werden und ihnen keine Nachteile im Alltagentstehen, weil sie ihr Aufenthaltsrecht nicht mehrschriftlich belegen können.Nun komme ich zu unseren Kritikpunkten. Der Ge-setzentwurf der Bundesregierung vernachlässigt eineReihe von Rügen der Kommission und verfehlt somitsein Ziel, die Freizügigkeitsrichtlinie vollständig indeutsches Recht umzusetzen. Ich hatte erwartet, dass wirim Innenausschuss eingehend über das laufendeVertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland debat-tieren würden. Die Regierungsfraktionen erschienenaber nicht gut vorbereitet zur Ausschusssitzung, wolltenzunächst sogar ohne Debatte über den Gesetzentwurfabstimmen und gingen schließlich nicht auf die Kritik-punkte der Oppositionsfraktionen ein.Ich möchte im Folgenden auf eine Gesetzesverschär-fung eingehen, die überhaupt nicht zur Umsetzung derRichtlinie notwendig war, sowie auf zwei europäischeVorgaben, die die Bundesregierung außer Acht gelassenhat.Kritisch sehen wir die neue Regelung zum Rechts-missbrauch. Die Regelung erscheint überflüssig, weilschon heute das Freizügigkeitsrecht im Falle desRechtsmissbrauchs gar nicht erst entsteht. Darüberhinaus bleibt die Bundesregierung eine Begründung fürdie Notwendigkeit der Regelung schuldig. In der Geset-zesbegründung wird lediglich vage darauf verwiesen,dass Abfragen unter den Ländern eine nicht unerhebli-che Zahl von Missbrauchsfällen ergeben hätten. Kon-krete Anhaltspunkte für ein regelungsbedürftigesmissbräuchliches Verhalten der Unionsbürgerinnen und-bürger sowie ihrer Angehörigen werden nicht genanntund sind auch nicht anderweitig bekannt. Ich befürchte,dass die Regelung nur dazu führen wird, dass die Betrof-fenen in unzulässiger Weise stärker kontrolliert werdenund dadurch – entgegen dem Ziel des Gesetzes – derVerwaltungsaufwand noch erhöht wird.Des Weiteren ist nicht zu verstehen, dass die Bundes-regierung keine Ergänzungen bezüglich der Rechte vonFamilienangehörigen im Sinne von Art. 3 Abs. 2a derFreizügigkeitsrichtlinie vorgenommen hat. Zu diesemPersonenkreis gehören pflegebedürftige Personen undsolche, denen der Unionsbürger im HerkunftslandUnterhalt gewährt hat oder die mit ihm in häuslicherGemeinschaft gelebt haben. Nach § 36 Abs. 2 AufenthGwird einem Großteil dieser Familienangehörigen in derRegel der Aufenthalt verwehrt.Im Vertragsverletzungsverfahren der Kommission ge-gen Deutschland hat die Bundesregierung immer wiederargumentiert, die Vorschrift der Richtlinie habe nur de-klaratorischen Charakter und begründe keine neuenRechte. Dieser Argumentation hat der EuGH eine klareAbsage erteilt. In seiner Entscheidung vom 5. September2012 in der Sache Rahman hat er klargestellt, dass dieMitgliedstaaten diese Personen, die zu einem Unions-Zu Protokoll gegebene Reden
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Memet Kilic
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bürger in einem besonderen Abhängigkeitsverhältnisstehen, gegenüber anderen Drittstaatsangehörigenbevorzugt behandeln müssen. Insbesondere müssen diepersönlichen Umstände, wie der Grad der Verwandt-schaft und die finanzielle oder physische Abhängigkeit,eingehend untersucht werden.Aus der privilegierten Stellung der genannten Fami-lienangehörigen folgt, dass ihnen auch nach der Ein-reise die Rechte aus der Richtlinie zustehen, wie etwadie Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für fünf Jahre,Gleichbehandlung, der Ausweisungsschutz und dasRecht auf Zugang zur Beschäftigung.Schließlich rügt die Kommission zu Recht die in § 7Abs. 2 FreizügigkeitsG/EU geregelte unbefristeteWiedereinreisesperre, die nur auf Antrag beschränktwird. Nach Maßgabe des europäischen Verhältnis-mäßigkeitsgrundsatzes muss die Wiedereinreisesperreaber von Amts wegen befristet werden.Obwohl der Gesetzentwurf positive Änderungenenthält, können wir wegen der genannten Mängel demGesetzentwurf nicht zustimmen.D
Mit dem Entwurf für ein Gesetz zur Änderung desFreizügigkeitsgesetzes/EU legt die Bundesregierungeine ausgewogene Ergänzung zum Freizügigkeitsgesetzvor. Der Gesetzentwurf hat drei maßgebliche Ziele:Erstens. Wir schaffen eine eindeutige Rechtsgrund-lage im Freizügigkeitsgesetz, um Missbrauch und Be-trug – etwa durch Scheinehen – auch in Zukunft wir-kungsvoll entgegentreten zu können.Zweitens. Eingetragene Lebenspartner werden Ehe-gatten gleichgestellt: Damit gelten für Lebenspartnervon Unionsbürgern nun in vollem Umfang die Regelun-gen des Freizügigkeitsrechts bei Einreise und Aufenthaltim Bundesgebiet.Drittens. Mit dem Entwurf senken wir Bürokratiekos-ten: Durch die Abschaffung der deklaratorischen Frei-zügigkeitsbescheinigung für Unionsbürger entlasten wirdie Kommunen von Verwaltungskosten und die Betroffe-nen von Bürokratieaufwand.Eine Überprüfung hat ergeben, dass einzelne Vor-schriften der Europäischen Freizügigkeitsrichtlinienoch nicht vollständig in deutsches Recht umgesetztworden sind. Das betrifft insbesondere die Gleichstel-lung von Lebenspartnern mit Ehegatten in Bezug auf ihrRecht auf Einreise und Aufenthalt nach dem Freizügig-keitsgesetz sowie die Vorschrift der Richtlinie 2004/38/EG zur Bekämpfung von Rechtsmissbrauch und Betrug,zum Beispiel durch das Eingehen von Scheinehen.Mit der Änderung des Freizügigkeitsgesetzes geltenfür Lebenspartner von Unionsbürgern nun – wie fürEhegatten auch – in vollem Umfang die Bestimmungendes Freizügigkeitsrechts zum Familiennachzug. Bislangwaren auf Lebenspartner von Unionsbürgern die Rege-lungen des nationalen Aufenthaltsgesetzes anzuwenden.Darüber hinaus wird Art. 35 der Freizügigkeitsricht-linie umgesetzt: Danach können die Staaten der EU dieerforderlichen Maßnahmen erlassen, um das Freizügig-keitsrecht im Fall von Rechtsmissbrauch oder Betrug zuverweigern oder aufzuheben. Auch die Kommission hatdie Mitgliedstaaten wiederholt aufgefordert, Art. 35 um-zusetzen, um Missbrauch und Betrug zu bekämpfen.Wie eine Reihe anderer Mitgliedstaaten sieht sichauch Deutschland mit einer nicht unerheblichen Zahlvon Fällen von Rechtsmissbrauch und Betrug im Zusam-menhang mit dem europäischen Freizügigkeitsrechtkonfrontiert. Typische Fallkonstellationen sind insbe-sondere das Eingehen von Scheinehen oder Scheinvater-schaftsanerkennungen. Dazu kommen verschiedeneFormen der Verwendung gefälschter Dokumente sowiedie Vortäuschung falscher Tatsachen über das Vorliegender Voraussetzungen für die Ausübung des Freizügig-keitsrechts.Auch andere Mitgliedstaaten beobachten eine wach-sende Zahl von Missbrauchsfällen und ein Ausweichenauf die sogenannte European Route, also eine miss-bräuchliche Inanspruchnahme des Freizügigkeitsrechtszur Umgehung nationaler Einwanderungsvorschriften.Mit der Neuregelung im Freizügigkeitsgesetz wirdeine klare Rechtsgrundlage geschaffen, um Betrug undMissbrauch im Zusammenhang mit dem europäischenFreizügigkeitsrecht auch künftig effektiv entgegentretenzu können.Die erforderliche Anpassung des Freizügigkeitsgeset-zes/EU wird zugleich genutzt, um Bürokratiekosten zuverringern, indem die gebührenfrei auszustellende, reindeklaratorische Bescheinigung über das Aufenthalts-recht für Unionsbürger – die sogenannte Freizügigkeits-bescheinigung – abgeschafft wird. Damit trägt derGesetzentwurf der Bundesregierung zur finanziellenEntlastung der Kommunen und zur Verringerung vonBürokratieaufwand für die Betroffenen bei.Derzeit überprüft die EU-Kommission die Umsetzungder Freizügigkeitsrichtlinie in allen Mitgliedstaaten derEuropäischen Union und hat in diesem Zusammenhanggegen Deutschland – wie gegen eine Reihe weitererEU-Mitgliedstaaten auch – ein Vertragsverletzungsver-fahren wegen teilweise unzureichender Umsetzung die-ser Richtlinie eingeleitet.Eines der Hauptmonita der Kommission bezog sichauf die Gleichstellung von Lebenspartnern mit Ehegattenim Freizügigkeitsgesetz. Daneben hatte die Kommissioneinige eher technische oder sprachliche Gesetzesände-rungen erbeten, die insgesamt von geringer praktischerBedeutung sein dürften, darunter beispielsweise die ge-naue Typologie der Krankheiten, die eine Beschränkungdes Rechts auf Freizügigkeit aus Gründen der öffentli-chen Gesundheit rechtfertigen können.Diese Punkte werden mit dem nun vorliegendenGesetzentwurf zur Änderung des Freizügigkeitsgeset-zes/EU ausgeräumt.Zu Protokoll gegebene Reden
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Wir kommen zur Abstimmung.
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/11105, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/10746 an-
zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfrak-
tionen gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der
SPD und der Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zu-
vor angenommen.
Tagesordnungspunkt 29:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie zu dem Antrag der Abge-
ordneten Kerstin Griese, Dr. Eva Högl, Michael
Roth , weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Nationales Reformprogramm 2012 muss so-
ziale Ziele der Strategie „Europa 2020“ be-
rücksichtigen
– Drucksachen 17/9154, 17/9480 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Lena Strothmann
Auch hier sind die Reden zu Protokoll genommen.
In diesen Tagen begehen wir das 20-jährige Jubiläumdes europäischen Binnenmarktes. Die Errungenschaftensind unbestritten und hoch einzuschätzen. Deutschlandhat sich hervorragend darauf eingestellt und profitiertdavon. Das bildet sich auch in unserer Wirtschaftskraftab. Sie ist das Rückgrat unseres Wohlstandes. Und unseraktueller Wohlstand ist auch Grundlage für den Wohl-stand und den sozialen Frieden der kommenden Genera-tionen. Deshalb müssen wir die europäische Idee bewahren,aber auch weiterentwickeln und für Herausforderungenwappnen. Die Auswirkungen, die wir gerade bei derSchuldenkrise zu bewältigen haben, sind an Landes-grenzen nicht zu stoppen. Insbesondere wirken sie aufdie wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Deutschlandsteht innerhalb Europas stark dar. Wir sind die stärksteVolkswirtschaft und eine gesunde Volkswirtschaft. Un-sere Wirtschaft wächst; sie sichert und schafft Arbeits-plätze. Das ist kein zufälliges Ergebnis. Bereits langevor der Schuldenkrise haben wir in Deutschland wich-tige Reformen auf den Weg gebracht. Dies sind dieStrukturreformen, die viele andere Länder damals nichtdurchgeführt haben. Diese Länder haben gerade heutewährend der Krise einen Nachholbedarf.Die Erkenntnis, dass Wachstum ein Motor zur Weiter-entwicklung ist, hat sich auch in der EU-2020-Strategiedurchgesetzt. Die EU hat dazu den Wachstumsbegriffdefiniert und festgelegt auf intelligentes Wachstum,nachhaltiges Wachstum und integratives Wachstum. DieMitgliedstaaten sind aufgefordert, ihre diesbezüglichennationalen Pläne im Rahmen des Europäischen Semes-ters nach Brüssel zu übermitteln. Kurz-, mittel- undlangfristige Maßnahmen sollten hierbei aufeinander ab-gestimmt sein. Kein planloses Durcheinander, sonderndurchdachte Strategien mit schlüssigen Zeitplänen sindhier gefragt. Diese Maßnahmen müssen auch die not-wendigen Strukturreformen beinhalten.Europa wacht über die Vorhaben und bewertet sie.Das hilft grundsätzlich allen Staaten, über den Teller-rand zu schauen. Das ist genauso bedeutsam wie dieNotwendigkeit, dass alle Länder mitmachen und amgleichen Strang ziehen. Das ist auch eine der Lehren ausder Krise und der nicht erreichten Ziele der Lissabon-Strategie. Die Strategie Europa 2020 formuliert klareAnsprüche. Unser gemeinsames Ziel ist es, Stabilität,Wachstum und Beschäftigung zu erzeugen. Und wir sindauf einem guten Weg. Die Lage in Deutschland ist gut.Denn Deutschland erfüllt die vereinbarten Kernziele derEU. Das belegen die Zahlen und die Bewertung durchdie EU. Unsere Maßnahmen, sowohl die Strukturrefor-men früherer Jahre als auch aktuelle wie zum Beispieldie Finanzmarktregulierungen oder die Schulden-bremse, wirken. Gerade die Schuldenbremse machtdeutlich, was beste Sozialpolitik und soziale Gerechtig-keit heißt, nämlich nicht auf Kosten der nächsten Gene-rationen zu leben. Sozialausgaben zu steigern, bedeutetnicht ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit, sondern einAnwachsen des Schuldenbergs.In Deutschland hat die unionsgeführte Bundesregie-rung bereits vor Jahren etliche Reformen durchgesetzt.Diese Reformen haben die sozialen Sicherungssystemegestärkt und zukunftsfester gemacht. Das wirkt sich jetztaus und bildet gerade jetzt in der größten Krise eineGrundlage für unsere Stabilität. Unsere Hausaufgabenhaben wir damals erfüllt. Dazu zählen die Reformen imGesundheitswesen zur Begrenzung der Ausgaben, mehr-malige Nullrunden bei Löhnen und Renten oder auchder spätere Renteneintritt, also Rente mit 67. Es gehörenauch arbeitsmarktpolitische Reformen, welche auch aufden rot-grünen Arbeitsmarktgesetzen aufbauen, dazu.Auch diese wirken positiv, aber leider distanziert sichdie SPD davon.Viele unserer Maßnahmen waren und sind unpopulär.Aber sie sind Teil des jetzigen Erfolges: Die Ausgabenim Gesundheitswesen sind kontrollierbar, die aktuellenRücklagen bei den Krankenkassen belegen das. DieNullrunden haben Arbeitsplatzabbau verhindert. DieRente mit 67 ist allein schon wegen des demografischenWandels notwendig. Die Arbeitsmarktreformen habendie Arbeitslosigkeit verringert. Es wird erwartet, dasauch im nächsten Jahr die Arbeitslosenzahlen unter3 Millionen liegen werden. Auch die Langzeitarbeitslosig-keit hat sich deutlich verringert. Die Zahl der Erwerbs-tätigen in Deutschland ist so hoch wie nie zuvor. Insge-samt stiegen die Löhne und Gehälter im Jahr 2011
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Lena Strothmann
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erheblich. Davon profitieren auch die Ruheständler.Zum 1. Juli sind die Renten in Westdeutschland um2,18 Prozent und in Ostdeutschland um 2,26 Prozentgestiegen.Das alles wäre ohne eine funktionierende Wirtschaftnicht denkbar. Die Wirtschaft brummt immer noch. Trotzder Delle ist die Lage immer noch ausgezeichnet. Viel-fach sind die Auftragsbücher voll. Die Betriebe mit Weit-sicht und gutem Management haben ihre Mitarbeiter ge-halten oder stellen sogar neue ein. Auch das ist dasErgebnis erfolgreicher Wirtschafts- und Sozialpolitikder christlich-liberalen Koalition.Brüssel erkennt an, dass die Strukturreformen inDeutschland für den wirtschaftliche Erfolg und vor al-lem die Stabilität mitverantwortlich sind. Auch die Ju-gendarbeitslosigkeit in Deutschland ist die geringste inEuropa. Die Ursache dafür ist zwar auch unbestritten,es mangelt aber leider an der öffentlichen Wahrnehmung.Deutschland hat ein weltweit anerkanntes Ausbildungs-system, das top ausgebildete Fachkräfte hervorbringt:unsere duale Ausbildung. Der Berufsbildungsbericht 2012hat es im Mai bestätigt: dem dualen Ausbildungssystemwurde erneut eine hohe internationale Wettbewerbs-fähigkeit bescheinigt.Erfolgsindikator ist die niedrige Jugendarbeitslosig-keit in unserem Land. Es ist gegenwärtig die niedrigsteQuote in der Europäischen Union mit 7,9 Prozent imMärz 2012. Der EU-Durchschnitt betrug im gleichenMonat 22,6 Prozent. Die spanische Quote liegt bei50 Prozent. Das duale System wirkt sich somit eindeutigpositiv auf den Arbeitsmarkt aus. Das bestätigt nicht nurder Berufsbildungsbericht, sondern auch die Europäi-sche Kommission. Ich zitiere: „Das gut ausgebaute Sys-tem der beruflichen Bildung gilt traditionell als Garantfür die Heranziehung qualifizierter Arbeitskräfte undeine niedrige Jugendarbeitslosigkeit“. Das duale Sys-tem erweist sich also als beste Versicherung gegen Ju-gendarbeitslosigkeit. Daher sind die Absichten Spaniensund anderer europäischer Staaten, das deutsche dualeSystem als Vorbild zu prüfen, der richtige Weg. Wir be-stärken und unterstützen sie darin, damit das duale Sys-tem ein Exportschlager wird. Das kann uns auch dadurchgelingen, indem wir bei den anstehenden Beratungenzur Überarbeitung der Berufsqualifikationsanerkennungs-Richtlinie im europäischen Parlament darauf drängen,unser duales System zu definieren und anschließend alsGrundlage für Ausbildungsordnungen zu nehmen.Reformen brauchen jedoch Zeit, bis sie wirken. Da-her ist der Ruf nach anderen, scheinbar schnelleren Lö-sungen laut, sehr laut. Aber die Lautstärke entscheideteben nicht über die Richtigkeit. SchuldenfinanzierteWachstumsprogramme sind jedenfalls keine Lösung. Ineiner konjunkturellen Krise können sie helfen, daher wa-ren unsere Konjunkturprogramme so erfolgreich. Beistrukturellen Krisen helfen sie schlichtweg nicht. DerRuf nach gesetzlichen Mindestlöhnen in Deutschland istebenso falsch. Eine Ursache für die hohe spanischeQuote bei der Jugendarbeitslosigkeit liegt auch in dendortigen Mindestlöhnen. Die Opposition fordert in ih-rem Antrag Maßnahmen, die in anderen Ländern für dieKrise mitverantwortlich sind. Das lehnen wir ab. Wirstehen zur Tarifautonomie in Deutschland. Das ist diebessere Lösung für den sozialen Frieden, als künstlicheine soziale Spaltung herbeizureden. Wenn wir die Wirt-schaft nun mit einem allgemeinen Mindestlohn belasten,bricht gerade für viele Geringqualifizierte die letzteMöglichkeit fort, um auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fas-sen. Eine Weiterqualifizierung steht hierbei ja auf einemganz anderen Blatt.Verbesserungen auf dem Arbeitsmarkt sind immermöglich, das ist keine Frage. Aber die Lage schlecht-reden und Katastrophenszenarien an die Wand malen,bringt uns nicht voran. Die Armutsgefährdung inDeutschland ist bei weitem nicht so, wie Sie es darstel-len. Die Langzeitarbeitslosen werden stetig weniger, undunsere hohen Investitionen in Bildung sprechen für sich.Die sozialen Ziele der EU-2020-Strategie sind in unse-rer Politik nicht unterrepräsentiert. Schauen Sie sich dieKernbereiche und unsere Zielvorgaben sowie das Er-reichte doch genau an. Bei der Beschäftigtenquote liegenwir im Plan, die Innovationsquote haben wir fast er-reicht. Beim Klimaschutz werden wir unsere Ziele er-reichen. Aber es wäre ein Zeichen der Verantwortung,wenn die Bundesländer beispielsweise bei der energe-tischen Sanierung hier stärker mitziehen würden.Im Kernbereich Armut definieren wir anders, als Siees gerne hätten. Wir orientieren uns an der Realität unddem vorhandenen sozialen Frieden in unserem Land, Siehingegen am alten Klassenkampf.Im Bereich Bildung möchte ich noch einmal vehementauf die hohe Bedeutung der dualen Ausbildung hinwei-sen. Sie ist untrennbar mit dem Erfolg der Wirtschaftverbunden und somit für unseren Wohlstand mitverant-wortlich.Deutschland steht innerhalb Europas gut da. Wirsollten alle daran arbeiten, dass es so bleibt.
Es ist wirklich sehr schade und bedauerlich, dass indiesem Hause keine Debatte über das Nationale Re-formprogramm 2012 der Bundesregierung stattfindet.Eine solche Debatte wäre angemessen gewesen. Leiderhatten die Koalitionsfraktionen und die Bundesregie-rung daran so wenig Interesse wie am Nationalen Re-formprogramm selbst. Während die Bundesregierungandere EU-Staaten auffordert, die Vorgaben der euro-päischen Institutionen eins zu eins und ohne zu murrenumzusetzen, bleibt sie im eigenen Land untätig. AmDienstag dieser Woche hat das Statistische Bundesamtveröffentlicht, dass jeder Fünfte in Deutschland vonArmut oder sozialer Ausgrenzung bedroht ist. Daraufhaben wir bereits in unserem Antrag vom März 2012hingewiesen. Und was haben Bundesregierung undKoalition seitdem gemacht? Nichts.Dazu fällt mir Heinrich Heine ein, ich zitiere:Sie sang das alte Entsagungslied, Das Eiapopeia vom Himmel,Womit man einlullt, wenn es greint,Das Volk, den großen Lümmel.Zu Protokoll gegebene Reden
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24446 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Kerstin Griese
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Ich kenne die Weise, ich kenne den Text,Ich kenn auch die Herren Verfasser;Ich weiß, sie tranken heimlich WeinUnd predigten öffentlich Wasser.So schrieb Heinrich Heine in seinem Werk „Deutsch-land. Ein Wintermärchen“ im Januar 1844. Die Be-schreibung Heines trifft leider auch auf die Bundesre-gierung zu: Sie predigt Griechenland Wasser und trinktselbst Wein. In Deutschland steigen die Steuereinnah-men, und der Wirtschaft geht es vergleichsweise gut.Verglichen mit den Sparanstrengungen Griechenlandshätte Deutschland 300 bis 500 Milliarden Euro einspa-ren müssen – bei einem Bundeshaushalt 2012 in Höhevon rund 313 Milliarden Euro! Stattdessen hat die Bun-desregierung einen zweiten Nachtragshaushalt für 2012beschlossen. Wasser für Griechenland, Wein für dieBundesregierung.Auch Spanien rutscht immer tiefer in die Rezession.Und was sagt die Bundeskanzlerin dazu? In ihrer Regie-rungserklärung vom 18. Oktober 2012 bemerkte sie le-diglich lapidar: „Wir wissen, dass den Menschen inSpanien, in Griechenland und in den anderen betroffe-nen Mitgliedstaaten außerordentlich viel abverlangtwird.“ Mit anderen Worten: Die Bundesregierung hatdie dramatische soziale Lage in den Ländern zur Kennt-nis genommen, tut aber nichts, um Abhilfe zu schaffen.Zum Beispiel hat sie immer noch keine Vorschläge vor-gelegt, wie sie die immens hohe Jugendarbeitslosigkeitin Europa bekämpfen will. Eine Studie bezifferte in die-ser Woche die Kosten der Jugendarbeitslosigkeit in derEU auf 153 Milliarden Euro jährlich. Und was machtdie Bundesregierung dagegen? Nichts.Statt die gestiegenen Steuereinnahmen sinnvoll zu in-vestieren, beabsichtigt die Bundesregierung immer noch,das Betreuungsgeld einzuführen. Sie will immer nochrund 1,3 Milliarden Euro in eine Maßnahme stecken, diebekanntermaßen dem Ziel der Strategie „Europa 2020“zuwiderläuft, die Beschäftigungsquote der Frauen zu er-höhen. Sogar die Bundesvereinigung der Deutschen Ar-beitgeberverbände hat in ihrer Stellungnahme festge-stellt, dass das Betreuungsgeld kontraproduktiv ist. Demist nichts hinzuzufügen.Die langwierige Debatte um das Betreuungsgeldzeigt, was die Bundesregierung von den Empfehlungender Europäischen Kommission hält. Denn auch dieKommission hat das Betreuungsgeld im Rahmen derländerspezifischen Empfehlungen für Deutschland kriti-siert. Allerdings folgenlos. Denn während Griechenlandund Co. den europäischen Vorgaben folgen sollen, igno-riert die Bundesregierung die Empfehlungen der EU-Kommission. Während Griechenland und Co. die Spar-anforderungen der Troika nach Meinung der Bundesre-gierung eins zu eins umsetzen sollen, scheint die Bun-deskanzlerin es nicht für nötig zu halten, ihre Politikanzupassen. Es geht ja nicht nur um die Verirrung desBetreuungsgeldes. Es geht auch um die mangelnden Be-mühungen der Bundesregierung, Langzeitarbeitslose inArbeit zu vermitteln. Auch hier hat die EuropäischeKommission größeres Engagement gefordert. Was hatdie Bundesregierung gemacht? Sie hat wichtige Förder-möglichkeiten der aktiven Arbeitsmarktpolitik gestrichen.Nächstes Beispiel: Die Bundesregierung solle dasBildungsniveau benachteiligter Bevölkerungsgruppenanheben, empfiehlt die Kommission in Brüssel. Und washat die Bundesregierung getan, um dieses Ziel zu errei-chen? Nichts. Schließlich hat die Europäische Kommis-sion der Bundesregierung empfohlen, die „steuerlichenFehlanreize für Zweitverdiener“, mit anderen Worten:das Ehegattensplitting, abzuschaffen. Doch die Bundes-regierung bleibt untätig, obwohl sie sich im Jahre 2010verpflichtet hat, die Ziele der Strategie „Europa 2020“zu erreichen. Es gibt bei keinem dieser Ziele Fort-schritte, weder bei dem so wichtigen Ziel, die Armut undsoziale Ausgrenzung in Deutschland zu verringern, nochbei dem Ziel, das Bildungsniveau und die Beschäf-tigungsquote in Deutschland nachhaltig zu erhöhen.Unklar ist auch weiterhin, wie die Bundesregierung dieKlimaziele von „Europa 2020“ erreichen will.Seit Neuestem will die Bundesregierung die sozial-politischen Ziele aus dem Nationalen Reformprogrammausgliedern und parallel zum Reformprogramm einenNationalen Sozialbericht erstellen. Ich mache mir Sor-gen, dass dadurch in der Europapolitik die sozialpoli-tischen Ziele vernachlässigt werden. Deshalb bezweifleich auch, dass der Nationale Sozialbericht, der der Eu-ropäischen Kommission längst vorliegen sollte, einenKurswechsel beinhalten wird. Hätte die Bundesregie-rung Ideen, mit welchen konkreten Maßnahmen sie dieSituation in den Bereichen Armutsbekämpfung, sozialeInklusion, Rente, Pflege und Gesundheit verbessernwollte, hätte sie diese Ideen bereits bis April 2012 an dieEuropäische Kommission senden und damit die Fristeinhalten können.Es bleibt zu hoffen, dass das Nationale Reformpro-gramm und die damit im Zusammenhang stehenden Be-richtspflichten nach der Bundestagswahl 2013 die ange-messene Aufmerksamkeit hier im Hause und durch dieBundesregierung finden werden.
Die von den EU-Mitgliedstaaten zu erstellenden Na-tionalen Reformprogramme, NRP, sind ein Element derstärker abgestimmten Wirtschafts- und Haushaltspolitikauf EU-Ebene. Das deutsche NRP ist geprägt durch dieKontinuität der Agenda-2010-Politik, die in Deutsch-land zu massivem Lohndumping für die Mehrheit derErwerbstätigen geführt hat. Die gleichen neoliberalenAnsätze sind es, die unsere europäischen Partner in ei-nen Teufelskreis aus staatlichen Kürzungen, wachsenderArbeitslosigkeit, sozialem Ruin, sinkender Wirtschafts-leistung und weiteren Kürzungen getrieben haben.Insofern ist es bemerkenswert, wenn die SPD in ihremAntrag nun eine soziale Dimension für das NRP fordert,gleichwohl sich im Antrag positiv auf die Agenda 2010und auf die Schuldenbremse bezieht. Mit dem Antrag be-kennt sich die SPD also weiterhin zur Haushaltskonsoli-dierung als oberstem Ziel und zur Stabilisierung desFinanzsektors. Andererseits werden keine einnahmesei-tigen Verbesserungen angesprochen. Dies kommt einemZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24447
Michael Schlecht
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Bekenntnis zu weiteren Kürzungen in den öffentlichenHaushalten gleich.Die SPD bleibt sich treu; dies wird auch an andererStelle deutlich. Statt sich endlich von der Rente mit 67 zuverabschieden und die Absenkung des Rentenniveaus inder gesetzlichen Rentenversicherung zu verhindern,wird im Antrag die Bundesregierung nebulös aufgefor-dert, „im Nationalen Reformprogramm 2012 Maßnah-men aufzuzeigen, mit denen die Beschäftigungsdefizitevon älteren Menschen sowie derer in verfestigter Lang-zeitarbeitslosigkeit verbessert werden können. Außer-dem sollte die Bundesregierung das Problem der zuneh-menden Altersarmut im Nationalen Reformprogrammberücksichtigen“.Im Antrag wird zu Recht von der Vernachlässigungder Altersarmut im NRP gesprochen, gleichzeitig abereinen Mindestlohn von 8,50 Euro gefordert. Dabeimüsste auch der SPD bekannt sein, dass selbst nachAussagen der Bundesregierung ein Mindestlohn vonmindestens 10 Euro vonnöten ist, um selbstständig we-nigstens das Grundsicherungsniveau im Rentenalter zuerreichen.Wieder einmal bleibt die SPD auf halbem Weg stehen.Eine andere wirtschaftliche und soziale Entwicklung,welche möglich ist, kann nicht durch ein paar sozialeFeigenblätter, wie es die SPD versucht, hergestelltwerden. Schon gar nicht mit den zu klein geratenen Fei-genblättern à la SPD. Das gesamte NRP müsste vomKopf auf die Füße gestellt werden. Freilich müsstenhierzu auch die zugrunde liegenden Verordnungen undLeitlinien, wie die EU-Strategie 2020, der Euro-Plus-Pakt sowie die Leitlinien für Wachstum und Beschäfti-gung, geändert werden. Eine soziale und friedliche EUist letztlich nur durch eine Neugründung zu haben.Doch auch sofort wäre einiges zu tun; allerdings liestman hiervon nichts, weder im NRP noch im Antrag derSPD. Die deutsche Binnennachfrage muss umgehendangekurbelt werden. Zur Belebung der Binnennachfragesind ein Zukunftsinvestitionsprogramm für den sozial-ökologischen Umbau in Höhe von 125 Milliarden jähr-lich sowie der flächendeckende gesetzliche Mindestlohnvon zunächst 10 Euro dringend notwendige Schritte. Miteiner gerechten Besteuerung von Spitzenverdienern undSuperreichen ist dies auch ohne Neuverschuldung zuhaben.
Wir diskutieren den vorliegenden Antrag heute inzweiter Lesung. Das Europäische Semester 2012 wurdemit der Annahme der länderspezifischen Empfehlungendurch den Europäischen Rat offiziell aber schon ab-geschlossen. Das Nationale Reformprogramm der Bun-desregierung für 2012 ist damit mit all seinen Mängelngeschrieben, kommentiert, bewertet und verabschiedet.Es greift also zu kurz, sich über den formalen An-tragsinhalt der SPD auszulassen. Die Kernkritik aber,dass die sozialen Ziele der EU-2020-Strategie in denReformprogrammen der Bundesregierung schlicht im-mer zu kurz kommen, bleibt nach wie vor richtig. Auchwir Grünen kritisieren das. Und wenn man die länder-spezifischen Empfehlungen der Kommission gründlichdurchliest, dann erkennt man dort auch viel Kritik. DieBundesregierung hat also keinen Anlass zur Selbst-zufriedenheit.Das beginnt schon beim Verfahren: Kommunen, Par-lamente und Sozialpartner wurden entgegen der Ankün-digung eben nicht von der Bundesregierung „in engerZusammenarbeit“ einbezogen – im Gegenteil. Sie hattengerade einmal eine Dreitagefrist zur Rückmeldung vonAnregungen. Das haben wir auch im Ausschuss heftigkritisiert.Das unzureichende Verfahren führte dann auch zu ei-nem schlechten Reformprogramm. Die im Rahmen derEuropa-2020-Strategie vereinbarten Ziele zur Armuts-bekämpfung, zur Integration benachteiligter Gruppenauf dem Arbeitsmarkt und zur Reduzierung der Schul-abbrecherquote wurden eben nicht im nötigen Maßeberücksichtigt und eingearbeitet. Unsere Bewertungenin den Debatten waren dementsprechend kritisch, unddas zeigt auch der vorliegende Antrag der SPD. In derFolge überrascht auch nicht die Kritik der EuropäischenKommission an der Bundesregierung und deren halb-herzigen Reformbemühungen; denn ein Vergleich zeigt,dass die Empfehlungen für die Reformperiode 2012 desEuropäischen Semesters weitgehend identisch sind mitdenen der ersten Reformperiode. Ein ernsthafter Um-gang mit den sozialen Zielen in Europa sieht anders aus.Die Kommission stellt erneut fest, „von der gutenArbeitsmarktlage in Deutschland“ habe „nicht die ge-samte Erwerbsbevölkerung gleichermaßen profitiert“.Damit bestätigt sie die Kritik der Grünen, dass be-stimmte Gruppen von den vermeintlichen Erfolgen aufdem Arbeitsmarkt ausgeschlossen bleiben. Die Kommis-sion benennt auch einmal mehr die „fiskalischenFehlanreize“, die die „Eingliederung besonders vonGeringverdienern in den Arbeitsmarkt behindern“ – ge-meint ist beispielsweise das Ehegattensplitting. LautKommission führen diese Fehlanreize – neben einermangelnden Kinderbetreuung – zu dem geringen Frau-enanteil an den Vollzeitbeschäftigten. Deutliche Wortegibt es auch zu den Minijobs auf dem deutschen Arbeits-markt. So wird der „weitverbreitete Rückgriff aufMinijobs“ und die Hindernisse beim „Übergang vonMinijobs zu stabileren Arbeitsverhältnissen“ kritisiert.Schließlich bescheinigt die Kommission der Bundes-regierung erneut, dass die Löhne in Deutschland nichtder Produktivitätsentwicklung entsprechen. Das bedeu-tet auch, dass die Binnennachfrage mangelhaft entwi-ckelt ist.Alles zusammen zeigt – und da sehen wir uns von derKommission bestätigt –, dass die Bundesregierung kei-nerlei Maßnahmen ergreift, um die wirtschaftlichenÜberschüsse zu reduzieren. Mehr noch: Die Bundes-regierung ist weiterhin der Ansicht – das zeigen auch dieDiskussionen im Ausschuss –, dass Überschüsse weni-ger schädlich seien als Defizite. Damit wird meinerMeinung nach ein Überschussland wie Deutschland zueinem Problem für Europa.Zu Protokoll gegebene Reden
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24448 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Beate Müller-Gemmeke
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Weiter zeigt dieses wenig ambitionierte NationaleReformprogramm von Deutschland auch eine geringeWertschätzung für die sozialen Ziele, die sich Europagegeben hat. Die Bundesregierung geht schon gar nichtmit gutem Beispiel und engagierten Zielen voran. In derFolge können die EU-2020-Ziele auch EU-weit nichterreicht werden, zumal die Sparauflagen den Krisen-staaten keinerlei Spielraum lassen, zumindest ihre eige-nen Ziele zur Armutsbekämpfung zu erreichen.Europa hat sich soziale Ziele gegeben, und diesemüssen auch ernst genommen werden. Gerade in Zeitender Euro-Krise darf dieser Anspruch nicht vernachläs-sigt werden – insbesondere nicht von Deutschland. Alsohoffe ich auf das Europäische Semester 2013 – Deutsch-land bekommt damit eine weitere Chance. Die Damenund Herren der Bundesregierung können sicher sein:Ich werde sie rechtzeitig daran erinnern.H
Das deutsche Nationale Reformprogramm 2012 be-
legt es klar: Deutschland hat seine Verpflichtungen ein-
gehalten. Auch die Europäische Kommission beschei-
nigt uns, dass wir vergleichsweise gut dastehen. Sie
hatte uns für das Nationale Reformprogramm ambitio-
nierte Vorgaben gemacht und einen sehr engen Zeitplan
gesetzt.
Wir haben die Länder intensiv an der Erarbeitung
beteiligt und die Stellungnahmen der Verbände und So-
zialpartner berücksichtigt. Bundestag und Bundesrat
hatten im Laufe des Prozesses Gelegenheit, Stellung zum
Bericht zu nehmen. Die Bundesregierung hat das Natio-
nale Reformprogramm pünktlich in Brüssel abgegeben.
Ich hatte es bereits im März hier im Bundestagsple-
num dargelegt: Wir haben bei der Umsetzung der
Europa-2020-Strategie konkrete, sichtbare Fortschritte
gemacht und damit einen wichtigen Beitrag für Stabili-
tät, Wachstum und Beschäftigung in Europa geleistet.
Dies gilt für alle fünf Kernzielbereiche der Europa-
2020-Strategie: Beschäftigung, Innovationen, Klima-
schutz und Energie, Bildung sowie soziale Eingliede-
rung bzw. Verringerung der Armut.
Mit ihrem Antrag, das Nationale Reformprogramm
noch stärker auf soziale Ziele zu fokussieren, hinkt die
SPD wieder einmal der Realität hinterher.
Wir haben vor kurzem die Herbstprojektion veröffent-
licht. Viele Länder Europas befinden sich in einer Rezes-
sion. Auch die aufstrebenden Schwellenländer in Asien
und Amerika erleben derzeit eine konjunkturelle
Abschwächung. Wir müssen mit einer Abschwächung
der wirtschaftlichen Dynamik auch in Deutschland
rechnen.
Vor diesem Hintergrund ist es genau der falsche Weg,
den Faktor Arbeit zusätzlich zu belasten und damit die
Erfolge auf dem Arbeitsmarkt zu gefährden. Dabei geht
es nicht nur um finanzielle Mehrbelastungen, sondern
auch um ordnungspolitisch falsche Weichenstellungen.
Ich denke hier zum Beispiel an die Mindestlohndebatte.
Deutschland ist Stabilitätsanker in Europa und darf
– gerade in dieser Vorbildfunktion – das Verteilen nicht
vor das Erwirtschaften stellen. Vielmehr sollte die wirt-
schaftspolitische Strategie darauf abzielen, die Wett-
bewerbsfähigkeit und die Widerstandskraft der deut-
schen Wirtschaft weiter zu stärken. Dies ist der beste
Weg, die Wohlfahrt aller Bürger zu steigern, soziale Teil-
habe zu ermöglichen und die Armut zu bekämpfen.
Der Antrag der SPD geht hingegen in die völlig fal-
sche Richtung. Deshalb lehnen wir den Antrag ab.
Wir kommen zur Abstimmung.
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/9480, den Antrag der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/9154 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der SPD und Grünen bei Enthaltung der Lin-
ken angenommen.
Tagesordnungspunkt 35:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zum Vorschlag für eine Verordnung des Rates
über die Erweiterung des Geltungsbereichs
der Verordnung Nr. 1214/2011 des Euro-
päischen Parlaments und des Rates über den
gewerbsmäßigen grenzüberschreitenden Stra-
ßentransport von Euro-Bargeld zwischen Mit-
gliedstaaten des Euroraums
– Drucksache 17/10759 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses
– Drucksache 17/11186 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Aumer
Martin Gerster
Wie ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll
genommen.
Seit der Einführung unserer gemeinsamen Währung,des Euro, hat sich auch die Nachfrage nach grenzüber-schreitenden Straßentransporten von Bargeld deutlicherhöht. Es ist Bestandteil unseres einheitlichen Wäh-rungsraumes, dass Bargeld frei zirkulieren kann. So las-sen viele Mitglieder der Euro-Zone heute ihre Bankno-ten und Münzen im Ausland herstellen oder haben inAussicht gestellt, dies in Zukunft zu tun.Aufgrund diverser Unterschiede in den nationalenGesetzen ist es außerordentlich schwierig, Euro-Bargeldgewerbsmäßig zwischen den Euro-Staaten zu transpor-tieren. Dies entspricht jedoch nicht dem Grundprinzipder Europäischen Union des freien Waren- und Dienst-leistungsverkehrs.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24449
Peter Aumer
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Mit dem Vorschlag für die Erweiterung des Geltungs-bereichs der Verordnung Nr. 1214/2011 wird nunder Tatsache Rechnung getragen, dass die auf Art. 133des Vertrages über die Arbeitsweise der EuropäischenUnion, AEUV, gestützte Verordnung Nr. 1214/2011nur eine Regelung für die Mitgliedstaaten des Euro-Raums geschaffen hat. Hierbei wird Art. 133 AEUVnicht als Ermächtigungsgrundlage für Regelungen gese-hen, die Umstände vor der Euro-Einführung eines Mit-gliedstaates tangieren.Von besonderer Bedeutung ist die Erweiterung desGeltungsbereichs der Verordnung also für Länder, diekurz vor der Euro-Einführung stehen und über keine ei-gene Notendruckerei oder Münzstätte im Land verfügen.Ihnen wird mit der Erweiterung ermöglicht, Euro-Bar-geld gewerblich zu transportieren und zu importieren.Um dies gesetzlich zu ermöglichen, wird eine Verord-nung des Rates nach Art. 352 AEUV benötigt.Die Verordnung hat also zum Ziel, diesen gewerbsmä-ßigen und grenzüberschreitenden Straßentransport vonEuro-Bargeld zwischen den derzeitigen Mitgliedstaatender Euro-Zone und den Mitgliedstaaten, die kurz vor derEinführung der Euro-Währung stehen, zu erleichtern.Wie bereits angesprochen, ist die Gesetzeslage aufnationaler Ebene sehr detailliert und von Land zu Landunterschiedlich. Das Ziel kann mit einer rein nationalenGesetzgebung nicht erreicht werden und ist daher auf-grund des Umfangs und der Wirkung der Maßnahme aufEbene der Europäischen Union zu verwirklichen. DieVerordnung entspricht damit den Grundsätzen der Sub-sidiarität und Verhältnismäßigkeit.Für das weitere Verfahren bedarf es nach § 8 des In-tegrationsverantwortungsgesetzes vom 22. September2009, das zuletzt durch Art. 1 des Gesetzes vom 1. De-zember 2009 geändert worden ist, eines Gesetzes gemäßArt. 23 Abs. 1 des Grundgesetzes, um die Zustimmungdes deutschen Vertreters im Rat der Europäischen Unionzu ermöglichen.Dieses Gesetz behandeln wir heute abschließend inder zweiten und dritten Lesung im Bundestag. Wir schaf-fen damit die innerstaatlichen Voraussetzungen, damitder deutsche Vertreter im Rat die Zustimmung für dieErweiterung der Verordnung erklären darf.Neben der Schaffung dieser Voraussetzung ist demGesetz ein weiterer Umdruck angehängt, in dem es in-haltlich vor allem um Änderungen in den Bereichen desGüterkraftverkehrsgesetzes und des Arbeitnehmer-Ent-sendegesetzes geht. Im Folgenden möchte ich Ihnendiese gerne näher erläutern:In der Sache geht es um notwendige, zeitlich unauf-schiebbare Regelungen über die nationale Behördenzu-ständigkeit der am 30. November 2012 in Kraft treten-den Verordnung.Durch eine Änderung des Güterkraftverkehrsgesetzeswird das Bundesamt für Güterverkehr, BAG, zur natio-nalen Lizenz-, Kontroll- und Sanktionsbehörde zurDurchführung der EU-Verordnung bestimmt. Darüberhinaus führt das BAG die vorgeschriebenen zentralennationalen Register und übermittelt und empfängt Infor-mationen an die und von der Kommission und anderenMitgliedstaaten des Euro-Raums.Mit den Regelungen in Art. 1 c wird die EU-Verord-nung Euro-Bargeldtransport rechtstechnisch einer Ver-ordnung nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz gleich-gestellt. Hintergrund ist, dass grenzüberschreitendeStraßenbargeldtransporte bereits dem Arbeitnehmer-entsendegesetz unterliegen. Laut Verordnung zum Euro-Bargeldtransport bestimmt sich mit deren Inkrafttretendie Höhe des Mindestentgelts für den gesamten Arbeits-tag nach dem Recht desjenigen vom Transport betroffe-nen Mitgliedstaates, für den der betragsmäßig höchsteMindestentgeltsatz gilt. Ist dies nicht Deutschland, be-ruht der zu kontrollierende Anspruch des Arbeitnehmersnicht auf der Mindestlohnverordnung für das Bewa-chungsgewerbe, sondern auf der unmittelbar anzuwen-denden EU-Verordnung.Mit dem von der Bundesregierung eingebrachtenEntwurf eines Gesetzes zum Vorschlag für eine Verord-nung des Rates über die Erweiterung des Geltungsbe-reichs der Verordnung Nr. 1214/2011 des Europäi-schen Parlaments und des Rates über den gewerbs-mäßigen grenzüberschreitenden Straßentransport vonEuro-Bargeld zwischen Mitgliedstaaten des Euro-Raums schaffen wir zum einen die innerstaatlichen Vo-raussetzungen für die Zustimmungserklärung des deut-schen Vertreters im Rat und setzen zum anderen die nö-tigen Verwaltungsanweisungen um.Ich bitte Sie, dem Gesetz zuzustimmen.
Der eher spröde Titel deutet es an: Der „Entwurf einesGesetzes zum Vorschlag für eine Verordnung des Ratesüber die Erweiterung des Geltungsbereichs der Verord-nung Nr. 1214/2011 des Europäischen Parlamentsund des Rates über den gewerbsmäßigen grenzüber-schreitenden Straßentransport von Euro-Bargeld zwi-schen Mitgliedstaaten des Euroraums“ ist kein Projekt,das in der politischen Debatte besondere Sprengkraftentfaltet. Dementsprechend haben sich Regierung undweite Teile der Opposition – einschließlich der SPD-Bundestagsfraktion – bereitgefunden, den mit dem Ge-setz verbundenen Regelungen zuzustimmen.Bei der 2011 erlassenen EU-Verordnung, deren Gel-tungsbereich erweitert werden soll, geht es um denTransport von Euro-Bargeld innerhalb der Euro-Zone.Festgelegt wird beispielsweise, welche Voraussetzungenein Unternehmen erfüllen muss, um solche Geldtrans-porte durchführen zu dürfen, und welche spezifischenAnforderungen für das beteiligte Personal oder die ver-wendete Ausrüstung gelten sollen.Nun gilt es, diese Verordnung auf Staaten zu erwei-tern, die den Euro als Währung einführen wollen undbeispielsweise das entsprechende Bargeld aus einem an-deren Staat der Euro-Zone beziehen müssen, weil sienicht über eigene Notendruckereien und Münzstättenverfügen. Die in der Europäischen Union vereinbartenRegeln machen es notwendig, dafür in den einzelnenZu Protokoll gegebene Reden
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24450 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Martin Gerster
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Mitgliedstaaten eine gesetzliche Grundlage zu schaffen.Erst nach Verabschiedung des Gesetzes durch den Bun-destag darf der deutsche Vertreter im Rat die Zustim-mung zum Vorschlag für die vorgenannte Verordnung er-klären.Darüber hinaus müssen auch mit Blick auf Deutsch-land kleinere Gesetzesänderungen vorgenommen wer-den, um der Ende November in Kraft tretenden Verord-nung gerecht zu werden. So wird mit dem Gesetz dasBundesamt für Güterverkehr, BAG, zur nationalen Li-zenz-, Kontroll- und Sanktionsbehörde für das Euro-Bargeld-Transportwesen. Das BAG soll Informationenan die und von der Europäischen Kommission und ande-ren Mitgliedstaaten des Euro-Raums übermitteln undempfangen. Da entsprechende Transporte durch bewaff-netes Personal gesichert werden, sieht die Verordnungvor, dass die Mitgliedstaaten zentrale Kontaktstellen fürwaffenrechtliche Anträge schaffen müssen, die im Falleder Bundesrepublik auf Ebene der Länder eingerichtetwerden, da diesen die Ausführung des Waffengesetzesobliegt. Im Zusammenhang mit dem Waffenrecht wirdeine weitere EU-Verordnung umgesetzt, und das Bun-desamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, BAFA, er-hält die Zuständigkeit für die Erteilung von nunmehr er-forderlichen Genehmigungen zur Ausfuhr bestimmterFeuerwaffen.Überdies wird mit dem Gesetzentwurf die zu erwei-ternde EU-Verordnung 1214/2011 mit einer Verordnungnach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz, AEntG, gleich-gestellt, damit der Zoll über eine Rechtsgrundlage fürseine Kontroll- und Sanktionstätigkeit verfügt, wenn esum die Einhaltung der Entlohnung des Sicherheitsper-sonals geht, das grenzüberschreitende Geldtransportedurchführt. Denn nach Art. 24 der Verordnung muss sichmit deren Inkrafttreten die Höhe des dem Sicherheits-personal zustehenden Mindestentgelts für den gesamtenArbeitstag nach dem Recht desjenigen vom Transportbetroffenen Mitgliedstaates richten, für den der betrags-mäßig höchste einschlägige Mindestentgeltsatz gilt. Dasist im Sinne der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerzu begrüßen.
Der vorliegende Entwurf ermöglicht dem deutschen
Vertreter die Zustimmung im Rat der Europäischen
Union zur Verordnung des Rates über die Erweiterung
des Geltungsbereichs der Verordnung Nr. 1214/
2011 des Europäischen Parlaments und des Rates über
den gewerbsmäßigen grenzüberschreitenden Straßen-
transport von Euro-Bargeld zwischen Mitgliedstaaten
des Euro-Raums.
In der Praxis bedeutet es, dass, wenn neue Länder
dem Euro-Raum beitreten, aber selbst noch über keine
passenden Notendruckereien und Münzprägeanstalten
verfügen, die Noten und Münzen aus anderen Mitglieds-
ländern, welche den Euro als Währung haben, einge-
führt werden können. Die Zuständigkeit für die hierfür
nötigen Straßentransporte sowie die bürokratischen
Anforderungen der Verordnung werden an das Bundes-
amt für Güterverkehr übertragen. Es agiert dabei als
Lizenz-, Kontroll- und Sanktionsbehörde. Durch diese
Regelung werden die komplexen bürokratischen Anfor-
derungen somit in einer Behörde konzentriert und
ermöglichen eine effiziente Überwachung des grenz-
überschreitenden Transports.
Eine Ausnahme bildet hierbei lediglich die dem
Arbeitnehmer-Entsendegesetz unterliegende Kontrolle
der Einhaltung der Entlohnung des Sicherheitsperso-
nals. Hier obliegt es nach geltendem Recht der Zoll-
verwaltung, sicherzustellen dass sich die Höhe des
Mindestlohns für den gesamten Arbeitstag nach dem
Recht desjenigen vom Transport betroffenen Mitglied-
staates richtet, in dem der betragsmäßig höhere Min-
destentgeltgesetz gilt. In diesem Sinne wünsche ich dem
Personal zahlreiche Arbeitstage mit Fahrten über die
deutsch-luxemburgische Grenze.
Ein weiter Rechtsbereich, der durch die Verordnung
tangiert wird, findet sich im Waffenrecht, da das bei den
Transporten benötigte Sicherheitspersonal selbstver-
ständlich bewaffnet die Grenze passieren muss. Die Mit-
gliedstaaten werden daher verpflichtet, eine zentrale
Kontaktstelle für waffenrechtliche Anträge einzurichten,
wobei es föderalen Mitgliedstaaten auch freisteht, dem
auf Ebene der Gliedstaaten nachzukommen. Des Weite-
ren muss ein Übereinkommen der Vereinten Nationen
bezüglich Herstellung, Handel und Ausfuhr von Feuer-
waffen, Waffenkomponenten und Munition in nationales
Recht umgesetzt werden. Hierdurch wird das Bundesamt
für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle als zuständige
Instanz zur Erteilung der Ausfuhrgenehmigung be-
stimmt, da das Außenwirtschaftsrecht in Deutschland
grundsätzlich durch diese Behörde vollzogen wird. Bis-
her wurden durch das Waffengesetz nur militärisch nicht
erhebliche Waffen wie Flinten, also Feuerwaffen mit
glattem Lauf, mit denen meistens Schrot zur Jagd ver-
schossen wird, oder Einzellader-Feuerwaffen für Muni-
tion mit Randfeuerzündung noch nicht in das außenwirt-
schaftliche Kontrollregime einbezogen. Um möglichst
unbürokratisch vorzugehen, eine Verwaltung aus einem
Guss zu schaffen und damit auch unnötige Kosten zu
vermeiden, ist es daher naheliegend, dem Bundesamt für
Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle auch diese Genehmi-
gungsverfahren zu übertragen. Hierbei wird ein einheit-
licher und klarer Vollzug gewährleistet.
Ich bitte Sie daher, diesem – zugegebenermaßen über
einige Strecken sehr technischen, aber nichtsdestotrotz
notwendigen – Entwurf zuzustimmen.
Für einen reibungslosen Zahlungsverkehr sind re-gelmäßige Bargeldtransporte notwendig. Weil 17 Staa-ten den Euro als Währung haben, sind in der Euro-Zoneauch häufiger grenzüberschreitende Bargeldtransportenotwendig – insbesondere weil nicht jeder Euro-Staateine eigene Geldscheindruckerei oder Münzprägean-stalt unterhält. Die Transporte setzen hohe Sicherheits-vorkehrungen voraus. Für grenzüberschreitende Trans-porte ist es deswegen sinnig, gemeinsame Standards füralle Euro-Staaten zu haben. Dies ist in einer Verordnungbereits geregelt.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24451
Dr. Axel Troost
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Demnächst wollen weitere Länder den Euro einfüh-ren. Zum Zeitpunkt der Umstellung müssen die Scheineund Münzen natürlich bereits im Land sein. Deswegensoll die für die Euro-Staaten geltende Verordnung zuEuro-Bargeldtransporten auch auf die neuen Euro-Bei-trittsländer ausgedehnt werden. Dieses Gesetz ermäch-tigt die Bundesregierung dazu, einer entsprechenden Er-weiterung zuzustimmen – das ist auch schon alles.Gegen diese Erweiterung haben wir keine Einwände.Bei dieser Gelegenheit möchte ich der Bundesregie-rung aber eines mit auf den Weg nach Brüssel geben:Der Staat hat nicht nur das Geldmonopol, was ihn alsEinzigen befugt, über die Zentralbank neue Münzen undScheine in Umlauf zu bringen. Er hat auch das Gewalt-monopol, und zur Sicherung von Geldtransporten wer-den bewaffnete Sicherheitskräfte gebraucht. Zwar folgtdaraus nicht zwingend, dass nur der Staat Geldtrans-porte organisieren kann. Allerdings gibt es gute Gründedafür, dass öffentliche, gemeinwohlorientierte Dienst-leister dies besser tun sollten als gewerbliche Unterneh-men. Ein Negativbeispiel für Letzteres war das Geld-transportunternehmen Heros, welches Dumpingpreiseverlangte, dafür aber über lange Jahre Gelder in gro-ßem Umfang veruntreut hat.In den letzten Jahren galt oft pauschal die Devise:Staat ist pfui, Private sind hui. So wurde auch die Bun-desdruckerei, welche Banknoten und Ausweise druckt,um die Jahrtausendwende privatisiert und an einen In-vestor verkauft. Dummerweise ging dieser pleite, unddie Bundesdruckerei musste aufgefangen werden. Inzwi-schen gehört sie wieder dem Staat.In vielen Staaten ist es auch heute noch selbstver-ständlich, dass der Staat hoheitliche Aufgaben selbstübernimmt. In Deutschland tun sich viele mit dieser Vor-stellung leider sehr schwer.
Zweifellos: Die Euro-Zone steckt in einer tiefen
Krise. Die Toptagesnachrichten unserer Tage sind ge-
prägt von vermeidbar tiefen Wirtschafts- und Bankenkri-
sen in Euro-Mitgliedstaaten, Abwendung von Staatsplei-
ten und der Notwendigkeit tiefgreifender institutioneller
Reformen zur Verhinderung des Zerfalls des gemeinsa-
men Währungsraums.
Erst gestern hatten wir deshalb erstmals EZB-Chef
Mario Draghi zu Gast in einer gemeinsamen Sitzung von
Haushalts-, Finanz- und Europaausschuss. Ebenfalls
gestern haben wir mit Sorge aus Spanien vernommen,
das Land stecke noch tiefer in der Rezession, als bisher
gedacht. Und ebenso gestern wurde bekannt, dass Grie-
chenland mehr Zeit für die Umsetzung von Reformen
und die Erreichung von Sparzielen erhalten soll.
Kurzum: Spricht man zurzeit vom Euro, geht es meist um
Krisenszenarien, wackelnde Banken und Schuldenberge,
unter denen die Gemeinschaftswährung auseinanderzu-
brechen droht.
Vor diesem Hintergrund ist es in gewisser Weise doch
sehr erfreulich, dass wir heute einmal nicht die Krisen-
politik debattieren, wenn wir vom Euro reden. Heute
geht es um sehr viel Harmloseres, nämlich den zwi-
schenstaatlichen Straßentransport von Euro-Bargeld.
Der vorliegende Gesetzentwurf will die rechtlichen
Voraussetzungen dafür schaffen, dass Mitgliedstaaten,
die den Euro einführen möchten und über keine eigenen
Notendruckereien oder Münzstätten verfügen, das benö-
tigte und außerhalb des Landes produzierte Bargeld ein-
führen und sich hierzu gewerblicher Geldtransportun-
ternehmen bedienen können.
In der Existenz dieses Gesetzentwurfs steckt damit
eine Botschaft, die wir bei der tagesaktuellen und allge-
genwärtigen Krisenrhetorik zum Euro nicht vergessen
dürfen: Es gibt Staaten, die den Euro einführen möch-
ten! Denn trotz aller Probleme des Währungsraums in
seiner jetzigen Verfasstheit und trotz aller berechtigten
Sorgen, die uns im Zusammenhang mit der Währungs-
union umtreiben, ist der Euro nach wie vor eine Erfolgs-
geschichte. Warum sonst möchten Länder wie Bulga-
rien, Tschechien oder auch Litauen und Lettland den
Euro einführen? Doch nicht, um sich neue Probleme ins
Land zu holen. Doch nicht, weil die Lage tatsächlich so
ausweglos ist, wie sie in manchen Tagen erscheinen
mag. Sondern weil der Euro ein wichtiges Zukunftspro-
jekt ist und bleibt. Weil die Probleme lösbar sind, wenn
die Verantwortlichen in der Politik – allen voran die
deutsche Bundesregierung! – sich endlich dazu durch-
ringen. Weil mit dem Euro eine der wichtigsten Handels-
regionen der Welt geschaffen wurde, dem sich andere
Länder anschließen und an dem sie teilhaben möchten.
Und weil sich die beitrittswilligen Länder von der Euro-
Einführung unterm Strich Vorteile versprechen, die sie
ansonsten nicht realisieren könnten und die uns und un-
seren Unternehmen inzwischen selbstverständlich ge-
worden sind. Diese Erkenntnis sollten wir alle in die Ta-
ges- und Krisenpolitik zum Euro mitnehmen.
Zum Gesetzentwurf selbst: Wir Grüne unterstützen
wie der Bundesrat die Ziele dieses Gesetzentwurfs. Län-
der sollten zum Euro beitreten können, wenn sie die
erforderlichen Beitrittsvoraussetzungen erfüllen, ohne
über eigene Notendruckereien und Münzprägestätten
verfügen zu müssen. Dem Gesetz werden wir daher zu-
stimmen.
Das etwas chaotische Verfahren der Koalition, hier in
aller Eile dem Gesetzentwurf noch Veränderungen im
Waffenrecht anzuhängen, fanden wir etwas seltsam. In
der Sache haben wir aber auch dort keine Einwände und
haben deshalb dem holprigen Verfahren, bei dem noch
nach der Schlussabstimmung im Ausschuss Änderungs-
anträge zusätzlich eingebracht wurden, zugestimmt.
Damit kommen wir zur Abstimmung. Der Finanzaus-schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/11186, den Gesetzentwurf der Bundesre-gierung auf Drucksache 17/10759 in der Ausschussfas-sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-entwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist bei Enthaltung der Linken von den anderen Fraktio-nen des Hauses angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, sich zu er-heben, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. – Wer
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24452 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvorangenommen.Tagesordnungspunkt 31:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-schaft und Verbraucherschutz zudem Antrag der Abgeordneten Karin Binder,Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKEMineralölhaltige Druckfarben bei wiederver-wendbarem Papier und Lebensmittelverpa-ckungen verbieten– Drucksachen 17/7371, 17/10661 –Berichterstattung:Abgeordnete Mechthild HeilElvira Drobinski-WeißDr. Erik SchweickertKarin BinderNicole MaischWie ausgewiesen, sind auch hier die Reden zu Proto-koll genommen worden.
Wir sprechen heute über ein wichtiges verbraucher-
politisches Thema: die mögliche Gesundheitsgefähr-
dung durch den Übergang von Mineralöl aus Ver-
packungsmaterialien auf Lebensmittel. Wie kommt
dieser zustande?
Erstens. Lebensmittelverpackungen werden zu Infor-
mations- und Werbezwecken bedruckt. Die verwendeten
Druckfarben sind Mischungen verschiedenster chemi-
scher Verbindungen. Diese Verbindungen können auf
Lebensmittel übergehen und dann beim Verzehr von den
Verbrauchern aufgenommen werden.
Zweitens. Untersuchungen haben ergeben, dass Re-
cyclingkartons hohe Mineralölanteile enthalten können,
die auf Lebensmittel übergehen können. Die Mineralöle
kommen aus Druckfarbenrückständen im Recyclingpa-
pier, zum Beispiel aus dem Zeitungsdruck. Wir sind uns
darüber einig, dass wir aus ökologischen Gründen
Papier recyceln wollen. Nun ist die berechtigte Frage:
Inwieweit kann dies gesundheitsschädlich für die Kon-
sumenten sein? Wir nehmen die bis jetzt gewonnenen
Erkenntnisse und die Sorgen der Verbraucherinnen und
Verbraucher sehr ernst. Es herrscht hier aber noch er-
heblicher Forschungsbedarf.
Die vorgeschlagene Lösung der Linken, mineralöl-
haltige Druckfarben bei wiederverwendbarem Papier
und Lebensmittelverpackungen zu verbieten, ist nicht
durchdacht. Es nutzt dem Verbraucher jedenfalls nicht,
wenn die Linke Verunsicherung sät, nur um Wählerstim-
men zu ernten. Wir müssen dieses Problem mit Augen-
maß angehen. Der Antrag klingt beim ersten Hören ganz
sinnvoll, aber, wieder einmal, wird ein komplexes
Problem der Schlagzeile wegen vereinfacht. Die Linke
fordert in ihrem Antrag unter anderem, der Zeitungsin-
dustrie zu verbieten, mineralölhaltige Druckfarben zu
verwenden. Mal ganz abgesehen davon, dass die Zei-
tungsindustrie große Probleme hätte, ihre Druckverfah-
ren entsprechend umzustellen, ergäben sich viel größere
Schwierigkeiten: Eine solche nationale Lösung ignoriert
die Tatsache, dass Altpapierkreisläufe global verlaufen.
Außerdem müssen Mineralöle in Lebensmitteln nicht
ausschließlich in den Druckfarben ihren Ursprung ha-
ben. Mineralöle sind weit verbreitet und gelangen auf
unterschiedlichen Wegen in Lebensmittel, beispielsweise
aufgrund der Transport-, Verarbeitungs- und Lagerbe-
dingungen von Lebensmittelrohmaterial. Wir brauchen
bessere Erkenntnisse, woher Mineralöl, das auf Lebens-
mittel übergegangen ist, tatsächlich kommt, und welche
Auswirkungen es auf den menschlichen Organismus hat.
Die Bereitschaft vonseiten der Industrie, mit uns ge-
meinsam an Lösungen zu arbeiten, ist groß. Die deut-
schen Wirtschaftsverbände der Papierverarbeitung bei-
spielsweise haben ihren Mitgliedern längst empfohlen,
nur mineralölfreie Druckfarben zur Bedruckung von
Verpackungen aus Papier, Karton und Pappe einzuset-
zen. Wir wollen das Problem auf diese Weise, gemein-
sam mit Wirtschaft und Forschung, lösen. Staatlicher
Zwang hilft dem Verbraucher nicht immer, denn die
Lösungen müssen sinnvoll und auch umsetzbar sein.
Das Bundesministerium für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz hat einen Verordnungsent-
wurf zur nationalen Regulierung von Druckfarben vor-
gelegt, der zurzeit überarbeitet wird. Es werden unter
anderem Höchstmengen für den Übergang von Mine-
ralöl aus Lebensmittelverpackungen auf Lebensmittel
festgelegt. Außerdem sieht der Verordnungsentwurf eine
Positivliste vor, also eine Liste mit Stoffen, die in Druck-
farben bei der Herstellung von Lebensmittelbedarfs-
gegenständen verwendet werden dürfen. In dieser Liste
werden nur solche Stoffe aufgeführt, die vom Bundes-
institut für Risikobewertung auf ihre Unbedenklichkeit
geprüft wurden.
Kurzfristige Lösungen, wie zum Beispiel die Verwen-
dung von Innenverpackungen, halte ich für sinnvoll. So
können Mineralölübergänge auf Lebensmittel reduziert
werden. Wie notwendig und sinnvoll das ist, muss aber
weiter geprüft werden.
Um langfristige Lösungen finden zu können, brau-
chen wir belastbare Zahlen und nicht nur Theorien. Bis-
her beruhen die Diskussionen nämlich hauptsächlich
auf Vermutungen und Interpretationen.
Wir erkennen die potenziellen Risiken durch Mineral-
ölübergänge auf Lebensmittel. Ich betone aber auch:
Momentan liegen keine Erkenntnisse über eine konkrete
Gefährdung der Verbraucher vor. Es besteht erheblicher
Bedarf an Studien und Forschung, um die Risiken tat-
sächlich identifizieren zu können. Nur wenn wir die
Risiken wirklich kennen und verstehen, können wir sinn-
vollen Verbraucherschutz betreiben.
Seit mehr als zwanzig Jahren ist das Problem be-kannt: Mineralöle, die durch den Recyclingprozess in
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24453
Elvira Drobinski-Weiß
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Lebensmittelkontaktmaterialien gelangen, verdampfenwährend der Lagerung und belasten damit Lebensmit-tel – und nicht nur die Lebensmittel, die damit verpacktsind, nein, alle in diesem Raum gelagerten Lebensmittelsind potenziell gefährdet!Das Bundesinstitut für Risikoforschung beschreibtdas Mineralöl als sehr komplexe Mischung aus gesättig-ten und aromatischen Kohlenwasserstoffen. Bekannt ist:Insbesondere die kurzkettigen gesättigten Kohlenwas-serstoffe werden vom Körper leicht aufgenommen, undderen Ablagerungen können zu Organschäden führen.Bekannt ist auch, dass zu den aromatischen Kohlenwas-serstoffen auch krebserregende Substanzen gehören.Jedoch gibt es aufgrund der meist unbekannten Zu-sammensetzung der Stoffgemische leider keine wissen-schaftlichen Daten zur Wirkung der Mischungen selbst –leider, aber aufgrund der Vielzahl von Mischungennachvollziehbar. Nicht nachvollziehbar ist für mich,warum Sie, meine Damen und Herren von CDU/CSUund FDP, nicht trotzdem ernsthaft den Austausch mine-ralölhaltiger Druckfarben im Zeitungsdruck angehen.Im Sinne eines vorsorgenden gesundheitlichen Verbrau-cherschutzes muss der Übergang von Mineralöl inLebensmittel so gering wie möglich gehalten werden.Doch leider auch in diesem Jahr bilanziert der BfR-Jahresbericht: Für die Klasse der gesättigten Kohlen-wasserstoffe – für die es temporäre Grenzwerte gibt –werden diese Grenzwerte sehr oft weit überschritten.Keine Lösung nach zwanzig Jahren in Sicht?Ich möchte nicht die bisherigen Bemühungen der In-dustrie zur Reduzierung der Übergänge von Mineralölaus Recyclingkartonverpackungen gering schätzen.Aber es reicht offensichtlich nicht, die Druckfarben fürden Karton selbst mineralölfrei zu gestalten. Und Um-verpackungen kann ich nur als Zwischenlösung akzep-tieren; sie sind weder ökologisch noch ökonomisch auflange Zeit tragbar. Wir brauchen dauerhafte Lösungen.Um Verbraucherinnen und Verbraucher wirklich ef-fektiv zu schützen, muss der Einsatz mineralölhaltigerDruckfarben sowohl bei den wiederverwendbarenPapier- als auch bei den Kartonmaterialien so weit wiemöglich gesenkt werden. Eine Positivliste für Druck-farben, die eine gesundheitliche Unbedenklichkeitnachweisen können, unterstütze ich voll und ganz.Aber um wirklich effektiv vor Mineralölen in Lebens-mittelkartonen zu schützen, müssen wir vor allem denRecyclingprozess selbst überprüfen. Wir wissen: GroßeMengen Altpapier werden importiert. Wir wollen auchweiterhin Recyclingmaterial einsetzen. Aber kann wäh-rend der Herstellung mehr für die Entfernung der Mine-ralöle getan werden? Wo können konkrete Grenzwertefür den Gehalt an Mineralölen gesetzt werden? Undwelche Analysemethoden gibt es, um diesen Grenzwertzu kontrollieren?Den Grenzwert sinnvoll zu setzen, ist für mich derAnsatzpunkt, um die Recyclingindustrie wirklich zumUmdenken zu bewegen. Dann kommt sicher auch Bewe-gung in die Entscheidungsfindung der Zeitungsdruck-häuser; denn mineralölfreie Zeitungsfarben sind lautVerbandsaussage machbar, aufgrund mangelnder Nach-frage jedoch aktuell am Markt nicht verfügbar.Der Antrag der Linken geht in die richtige Richtung,ist jedoch leider nicht weitgehend genug. Deswegenenthält sich die SPD-Fraktion.
Das Problem von mineralölhaltigen Druckfarben inLebensmittelverpackungen wird von der schwarz-gelbenBundesregierung bereits angegangen. Nachdem dasBundesinstitut für Risikobewertung eine Minimierungvon Mineralölrückständen in Lebensmittelverpackungenangemahnt hat, haben wir gehandelt.Das Bundesministerium für Ernährung, Landwirt-schaft und Verbraucherschutz hat eine Verordnung erar-beitet, welche den Anliegen der Linkspartei in weitenTeilen Rechnung trägt.Die christlich-liberale Koalition verfolgt ein Mini-mierungskonzept, um den Übergang von Mineralölrück-ständen in Lebensmitteln zu vermeiden. Zum Schutz derVerbraucherinnen und Verbraucher vor möglichenGesundheitsgefahren werden Höchstmengen für denÜbergang von gesättigten und aromatischen Kohlen-wasserstoffen aus Lebensmittelverpackungen, die unterVerwendung von Altpapier hergestellt sind, auf Lebens-mittel festgelegt.Auch enthält der Verordnungsvorschlag eine Positiv-liste mit Stoffen, die in Druckfarben bei der Herstellungvon Lebensmittelbedarfsgegenständen verwendet wer-den dürfen. Die Aufnahme der Stoffe auf die Positivlisteerfolgt in enger Abstimmung mit dem Bundesinstitut fürRisikobewertung, welches diese auf ihre gesundheitlicheUnbedenklichkeit überprüft.Der Antrag der Linken schießt allerdings in manchenForderungen weit über das erreichbare Ziel hinaus. Eingrundsätzliches Verbot der Verwendung von mineralöl-haltigen Druckfarben träfe vor allem die Zeitungsindus-trie. Zeitungsverleger würden vor erhebliche Problemegestellt, da sie zu einer Umstellung ihrer Drucktechnikgezwungen wären. Dabei trägt der Zeitungsverlegerkeine Verantwortung dafür, dass sich Zeitungen als Re-cyclingprodukte in Lebensmittelverpackungen wieder-finden.Hinzu kommt, dass Zeitungsdruckfarben nach euro-päischem Recht der REACH-Verordnung und dem Che-mikaliengesetz unterliegen. Sie sind demnach nicht andas Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermit-telgesetzbuch, LFGB, gebunden.Nun könnte man sich auf den Standpunkt stellen, auchZeitungsdruckfarben dem LFGB unterwerfen zu wollen –wie die Linken dies anstreben. Das, so meine ich, ist we-der zielführend noch effizient. Denn zum einen würdedies deutsche Zeitungsverleger im europäischen Wettbe-werb benachteiligen. Zum anderen würde das Problemnicht gelöst, da aus dem Ausland nach wie vor Verpa-ckungen und Altpapier mit mineralölhaltigen Druckfar-ben nach Deutschland gelangen würden und dement-sprechend auch in der Altpapierverwertung landenZu Protokoll gegebene Reden
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24454 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Dr. Erik Schweickert
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würden. Angesichts dieses Recyclingkreislaufs wäre einnationaler Alleingang keine sinnvolle Lösung des Pro-blems.Aus einem nationalen Alleingang würden stattdessenHandelshemmnisse und Wettbewerbsverzerrungen re-sultieren, die insbesondere für unsere deutschen Unter-nehmen nicht gerechtfertigt werden können. Denn, wiegezeigt, stünden diesen Wettbewerbsverzerrungen keineVerbesserungen beim Gesundheitsschutz gegenüber.Notwendig ist deshalb auf jeden Fall ein EU-einheitli-ches Vorgehen.Es gibt inzwischen Vorschläge, die darauf zielen, Zei-tungen zukünftig separat zu recyceln, um einen Eintragvon Mineralölen in Lebensmittelverpackungen zu ver-meiden. So gut dieser Vorschlag auf den ersten Blickklingt, so problematisch ist dann aber auch seine Reali-sierung: Denn eine Trennung von Zeitungen und ande-ren Papierprodukten bei der Altpapiererfassung stellteden gesamten Prozess des in Deutschland vorbildlichenPapierrecyclings infrage. Und wie eben bereits aufge-zeigt, sind nicht nur Zeitungen ein Problem, sondernauch Verpackungen von importierten Produkten ausdem Ausland.Im Übrigen ist die Verpackungsindustrie in Deutsch-land bereits selbst dabei, auf das vorliegende Problemzu reagieren. Die Wirtschaftsverbände Papierverarbei-tung, WPV, und die angeschlossenen Mitgliedsverbändehaben beispielsweise eine Selbstverpflichtung erarbei-tet, beim Bedrucken von Verpackungen aus Papier, Kar-ton und Pappe nur noch mineralölfreie Druckfarben ein-zusetzen, die auf dem Markt verfügbar sind. Das ist einausgezeichneter Ansatz.Statt nach ineffizienten nationalen Alleingängen undVerboten zu rufen, lassen sich aus meiner Sicht vor al-lem durch technische Maßnahmen auf der Verpackungs-ebene die Einträge von mineralölhaltigen Druckfarbenin Lebensmitteln minimieren. Beispielsweise kann durchdie Verwendung von Innenverpackungen mit Barrie-rewirkung der Übergang von Mineralölrückständen ausVerpackungen minimiert werden. Ein Müsli kann zumBeispiel in einen Innenbeutel verpackt werden, sodass esmit der Umverpackung gar nicht mehr in Berührungkommt.Durch Vorkehrungsmaßnahmen der Lebensmittelin-dustrie, gepaart mit der von dieser Bundesregierung inAngriff genommenen Minimierungsstrategie, welcheauch eine Positivliste von Stoffen umfassen wird, werdenwir den Eintrag von mineralölhaltigen Druckfarben aufein gesundheitlich unbedenkliches Maß reduzieren.Gleichzeitig bleiben wir mit dieser Lösung im Einklangmit geltendem EU-Recht.Der Antrag der Linken wiederum schießt weit überdas Ziel hinaus. Daher lehnen wir diesen ab.
Mineralölrückstände haben in unserem Essen nichtszu suchen. Dennoch gelangen sie in zum Teil gesund-heitsbedenklichen Mengen in die Lebensmittel. DerGrund sind hauptsächlich Druckfarbenrückstände inVerpackungen aus Altpapier. Die neuen Werbeaufdruckeauf den Lebensmittelverpackungen machen nur einengeringen Teil der Belastung aus.Die Gesundheitsgefahr steckt also im Recyclingpa-pier. Das Material besteht zum größten Teil aus be-drucktem Altpapier, wie beispielsweise Zeitungen. Dieschädlichen Mineralölbestandteile können im Recy-clingkreislauf jedoch nur zum Teil „herausgewaschen“werden. Das Bundesinstitut für Risikobewertung kommtdaher zu dem Schluss, „dass der Übergang von Mineral-ölen auf Lebensmittel dringend minimiert werdensollte“.Die Bundesregierung kommt ihrer Verantwortungaber nur teilweise nach. Sie sieht lediglich ein Verbotgesundheitsbedenklicher Mineralölbestandteile in denFarben für Verpackungsaufdrucke vor. Das Recycling-papier als die eigentliche Schadstoffquelle findet bisherkeine Berücksichtigung.Für die Linke stelle ich fest: Die Maßnahmen derBundesregierung sind für einen wirksamen Schutz derVerbraucherinnen und Verbraucher unzureichend. Auchdie Fraktion der CDU/CSU drückt sich vor der Verant-wortung. Statt zu handeln, schlug sie „Studien zur Klä-rung des Sachverhaltes“ im Ausschuss vor. Das ist völligüberflüssig. Der Ausschuss für Ernährung, Landwirt-schaft und Verbraucherschutz hat bereits in zwei Exper-tenrunden zwölf Fachleute und Wissenschaftler befragt.Über den zwingenden Schutz der Verbraucherinnen undVerbraucher gibt es keinen Klärungsbedarf mehr. Ichfrage nun: Hat Schwarz-Gelb die Studien schon in Auf-trag gegeben, und gibt es schon Ergebnisse?Damit keine Missverständnisse aufkommen: OhneRecycling geht in der Papierindustrie heute gar nichtsmehr. Die Wiederverwendung von Altpapier ist ausGründen des Umweltschutzes und der Wirtschaftlichkeitunverzichtbar. Der Anteil von Recyclingmaterial fürVerpackungen in der Lebensmittelindustrie beträgt be-reits 70 Prozent.Die Linke sagt: Um den hohen Recyclinganteil in derPapierindustrie unter wirtschaftlich tragbaren Bedin-gungen zu sichern, muss sofort bei allen Druckerzeug-nissen auf mineralölhaltige Druckfarben verzichtet wer-den. Das bedeutet natürlich auch, dass beim Import vonAltpapier auf gesundheitsschädliche Rückstände geach-tet werden muss und im Zweifelsfall bestimmte Chargennicht in der Produktion von Lebensmittelverpackungeneingesetzt werden dürfen.Bis der Altpapierkreislauf frei von schädlichen Mine-ralölbestandteilen ist, sollten kartonverpackte Lebens-mittel durch zusätzliche Folien im Karton geschützt wer-den. Zudem sollten Außenfolien, die eine Kartonver-packung mit einschließen, vermieden werden, denn sieverstärken den Übergang der Chemikalien auf die Le-bensmittel. Dazu muss die Bundesregierung unverzüg-lich einen Verordnungsvorschlag auf den Tisch legen.Grundsätzlich ist aber die Druckfarbenindustrie alsVerursacher in die Verantwortung zu nehmen: Der Ein-satz von Mineralöldruckfarben muss bei allen Druck-erzeugnissen untersagt werden, denn auf einen saube-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24455
Karin Binder
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ren Recyclingkreislauf für Papier können wir nichtverzichten. Ohnehin ist es im Sinne der Nachhaltigkeitsinnvoll, Mineralöl durch unbedenkliche Stoffe zu erset-zen. Die Bundesregierung ist gefordert, den Verzicht aufMineralölfarben EU-weit durchzusetzen, um den Recy-clingpapiermarkt zumindest europaweit sauberzube-kommen.Die Linke fordert: Der Einsatz mineralölhaltigerDruckfarben muss bei allen wiederverwendbaren Pa-pier- und Kartonmaterialien verboten werden; Durch-setzung einer Positivliste für unbedenkliche Druckfar-ben, die für Lebensmittelbedarfsgegenstände verwendetwerden dürfen. Zum Schutz der Verbraucherinnen undVerbraucher sollte für Verpackungen das anerkannteALARA-Prinzip gelten, As Low As Reasonably Achiev-able. Danach muss eine Schadstoffbelastung so niedrigsein, wie dies vernünftigerweise möglich ist.
Verschiedene Forschungsprojekte haben gezeigt,
dass Lebensmittel zum Teil deutlich zu hoch mit Mine-
ralöl belastet sind. Das Bundesinstitut für Risikobewer-
tung, BfR, hat bereits 2009 vor der Verunreinigung von
Lebensmitteln durch Verpackungen aus Recyclingpapier
gewarnt. Quelle für die Verunreinigung sind nach
Studien des BfR vor allem mineralölhaltige Druck-
farben, die für den Zeitungsdruck verwendet werden und
sich nach dem Recycling in Lebensmittelverpackungen
wiederfinden.
Mineralöle enthalten gesundheitsschädliche Kohlen-
wasserstoffe, die sich im Körper anreichern und zu
Schäden an inneren Organen oder zu Krebs führen kön-
nen. Solche Mineralölreste finden sich nun in unseren
Lebensmitteln – und das in viel zu hohen Mengen.
In verschiedenen Lebensmitteln, die in Papier oder in
Karton verpackt waren, wurden deutlich zu hohe
Gehalte an mineralölhaltigen Kohlenwasserstoffen fest-
gestellt. Bei Studien in Deutschland und in der Schweiz
wurden Überschreitungen des von einer Expertenkom-
mission der Weltgesundheitsorganisation, WHO, auf-
gestellten vorläufigen Grenzwerts von 0,6 Milligramm
pro Kilogramm an mineralölhaltigen Kohlenwasserstof-
fen in Lebensmitteln um den Faktor 10 bis 100 gefunden.
Dabei muss noch bedacht werden, dass der Grenzwert
für einen durchschnittlichen erwachsenen Menschen
gilt. Kinder haben also deutlich schneller die kritische
Menge überschritten.
Es müssen also schnellstmöglich gangbare Wege ge-
funden und umfassende Regelungen geschaffen werden,
die den Verbraucher vor weiteren Schäden bewahren.
Das BMELV hat dazu im letzten Jahr endlich einen
Entwurf zur Änderung der Bedarfsgegenständeverord-
nung vorgelegt. Da die Mühlen aber hier offensichtlich
sehr träge laufen, soll die Einführung der Verordnung
bis 2015 hinausgezögert werden. Geregelt werden sollen
dabei auch nur die Druckfarben, die direkt bei der
Herstellung von Lebensmittelbedarfsgegenständen ein-
gesetzt werden. Die Farben, die beim Druck von Zeitun-
gen und Zeitschriften verwendet werden, sollen nicht
reguliert werden. Doch gerade hier liegt der Knack-
punkt. Denn durch die Lebensmittelverpackungen aus
Recyclingpapier – allen voran Zeitungspapier – werden
die darin verpackten Lebensmittel häufig verunreinigt.
Die Verwendung von Recyclingpapier ist ökonomisch
und ökologisch aber sinnvoll und notwendig. Alle Ver-
packungen aus Frischfasern herzustellen, wäre unter
ökologischen Gesichtspunkten hochproblematisch.
Der Weg, alle Verpackungen mit einer Plastikhülle
als Innenbeutel oder einer Barrierebeschichtung auszu-
kleiden, durch die die Lebensmittel vor ihrer eigenen
giftigen Verpackung geschützt werden sollen, ist akut
notwendig, greift aber das Problem nicht an der Wurzel
und führt zu weiteren ökologischen Problemen etwa bei
der Mülltrennung. Darüber hinaus können nicht alle
Lebensmittel durch eine sogenannte Barriere geschützt
werden. Das geht zum Beispiel nicht bei Produkten, die
in ihrer Packung „atmen“ müssen, oder bei bereits offe-
nen Packungen. Hier bemüht sich die Verpackungsbran-
che um Lösungen.
Das finde ich gut. Gemeinsam mit allen beteiligten
Industriezweigen, also mit Druckfarbenherstellern, Zei-
tungsbranche, Erfassung von Altpapier, Papierherstel-
lung, Verpackungsindustrie, Lebensmittelabfüllung,
müssen ökologisch vertretbare Lösungen gefunden wer-
den, die den rechtlichen Bestimmungen zum Schutz der
Konsumenten gerecht werden.
Der Gesundheitsschutz muss dabei höchste Priorität
haben. Wenn die Grenzwerte akut nicht ohne Innenbeu-
tel einzuhalten sind, ist das vorübergehend hinzuneh-
men; das kann aber nicht die dauerhafte Lösung des
Problems sein.
Ich bin davon überzeugt, dass man an der Wurzel des
Problems ansetzen muss, und das sind die mineralölhal-
tigen Druckfarben. Letztlich hilft nur und am effektivs-
ten, mineralölhaltige Druckfarben durch gesundheitlich
unbedenkliche zu ersetzen. Hier muss die Bundesregie-
rung Vorgaben machen und auch den Einsatz von
Druckfarben bei der Herstellung von Zeitungen und
Werbeprospekten regulieren. Die Branche hat deutlich
gemacht, dass das Ersetzen der mineralölhaltigen
Druckfarben grundsätzlich möglich ist. Doch bisher
fehlt der Anreiz, umzustellen.
Deshalb stimmen wir dem Antrag der Linken zu und
fordern die Bundesregierung auf, entsprechende Rege-
lungen auf den Weg zu bringen – wünschenswerterweise
auf EU-Ebene, aber wenn sich hier nichts tut, erst
einmal auf nationaler Ebene. Die Gesundheit der
Verbraucherinnen und Verbrauchern darf nicht länger
durch stark belastetes Verpackungsmaterial gefährdet
werden.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Er-nährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz emp-fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-che 17/10661, den Antrag der Fraktion Die Linke aufDrucksache 17/7371 abzulehnen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
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24456 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-men der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmender Linken und Grünen bei Enthaltung der SPD ange-nommen.Tagesordnungspunkte 37 a und 37 b:a) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurÄnderung des Unterhaltsvorschussgesetzes
– Drucksache 17/8802 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Rechtsausschussb) Erste Beratung des vom Bundesrat einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ver-besserung des Vollzugs im Unterhaltsvor-schussrecht– Drucksache 17/2584 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend RechtsausschussWie ausgewiesen, sind die Reden zu Protokoll ge-nommen worden.
Wir behandeln heute in erster Lesung die Vorschlägevon Bundesregierung und Bundesrat zu Verbesserungenund Bürokratieabbau im Unterhaltsvorschuss.Der Unterhaltsvorschuss ist ein besonderes familien-politisches Instrument für alleinerziehende Eltern. Wennsie wegen des Ausfalls der Unterhaltszahlungen desanderen Elternteils nicht nur selbst für die Betreuungdes Kindes sorgen, sondern auch für den ausfallendenBarunterhalt aufkommen müssen, ist der Unterhaltsvor-schuss eine große Hilfe und hat armutsreduzierendeWirkung. Derzeit hat ein Kind unter zwölf Jahren, dasvon seinem getrennt lebenden Elternteil – in der ganzüberwiegenden Anzahl sind es Väter – keinen oder kei-nen regelmäßigen Unterhalt erhält, Anspruch auf einemonatliche Zahlung der Unterhaltsvorschussstellen. Erbeträgt für ein Kind unter sechs Jahren 133 Euro und fürein Kind unter zwölf Jahren 180 Euro und gilt für längs-tens 72 Monate, also sechs Jahre. Im Jahr 2009 bezogenüber 480 000 Kinder diese Ersatzleistung. Wir unter-stützen mit dieser Leistung die Alleinerziehenden in derschwierigen Situation eines Konflikts um den Kindes-unterhalt.Die Unterhaltschuldner werden durch die Zahlungdes Unterhaltsvorschusses keineswegs entlastet. DieUnterhaltsansprüche der Kinder gehen auf das jeweiligeLand über, das dann Rückgriff beim Unterhaltsver-pflichteten nimmt. Zur Durchsetzung dieses Rückgriffs-anspruchs und zur Erleichterung der Antragstellung hatdie Bundesregierung Verbesserungsvorschläge unter-breitet, die wir in den anstehenden Beratungen noch ge-nauer unter die Lupe nehmen werden.Ich bedaure sehr, dass die Vereinbarung aus dem Ko-alitionsvertrag, die Altersgrenze auf 14 Jahre anzuhe-ben, im Gesetzentwurf nicht aufgegriffen worden ist. Ge-rade aus dem Blickwinkel der Alleinerziehenden wäreuns die Anhebung der Altersgrenze ein sehr wichtigesAnliegen, denn wir wissen um die besondere Belastungder Alleinerziehenden. Leider konnten aus dem Haus-halt des BMFSFJ für dieses Anliegen keine zusätzlichenfinanziellen Mittel berücksichtigt werden.Die Aspekte der Entbürokratisierung, die der Ge-setzentwurf aufgreift, gehen auf die Wünsche der Länderzurück. Die Länder setzen über die Kommunen das Un-terhaltsvorschussgesetz um; insbesondere für die Kom-munen ist das mit einem hohen finanziellen und büro-kratischen Aufwand verbunden. Sie wünschen sichinsbesondere die Erleichterung beim Rückgriff. Zu des-sen Durchsetzung stehen den Unterhaltsvorschussstel-len zwar Auskunfts- und Anzeigepflichten zur Seite;diese sind aus den Erfahrungen der Praxis aber oftmalsnicht ausreichend. Die Rückgriffquote lag im deutschenDurchschnitt im Jahr 2008 bei lediglich 19,5 Prozent.Den Ausgaben in Höhe von circa 850 Millionen Eurostanden Einnahmen in Höhe von nur circa 160 Millio-nen Euro gegenüber. Der Gesetzentwurf der Bundesre-gierung schlägt hier eine Reihe von Verbesserungsmaß-nahmen vor, unter anderem bessere Möglichkeiten zurgerichtlichen Durchsetzung von Rückgriffsansprüchen,neue Informationspflichten und erweiterte Auskunfts-pflichten für Kreditinstitute und Verwaltung sowie dieEvaluierung der Auswirkungen der erweiterten Aus-kunftspflicht.Die Vereinfachung der Verwaltung, vor allem aberdie Verbesserung des Rückgriffs sind nachvollziehbareAnliegen, die wir grundsätzlich unterstützen. Ein funk-tionierender Rückgriff ist auch deshalb besonders wich-tig, weil er die Durchsetzung von Unterhaltsansprüchenim Anschluss an die Zahlung von Unterhaltsvorschussgut vorbereitet und dadurch nachhaltig hilft. Hier kannzum Beispiel auch die Idee des Bundesrates, die Infor-mationsquellen zur Durchsetzung des Rückgriffs für dieUnterhaltsvorschussstellen durch die Einführung einesautomatisierten Datenabgleichs und Kontenabrufs aus-zuweiten – wie es beim BAföG und Wohngeld bereitsmöglich ist –, ein guter Ansatzpunkt sein. Darüber soll-ten wir diskutieren.In diesem Zusammenhang muss die ursprünglicheZielsetzung des Unterhaltsvorschusses wieder stärker inden Blick genommen werden. Ursprünglich war er alseine reine Übergangsregelung angelegt zur Hilfe in ei-ner besonders schwierigen Situation der Alleinerziehen-den und ihrer Kinder. In der Praxis ist dies zum Teil ausdem Blick geraten; mittlerweile ist der Unterhaltsvor-schuss eine meist von vornherein auf den gesamten Zeit-raum von sechs Jahren angelegte Ersatzleistung. Esmuss wieder mehr in den Blick geraten, dieMutter darin zu unterstützen, den Anspruch des Kindesgegen den Vater geltend zu machen. Der Un-terhaltspflichtige muss wieder verstärkt in die Verant-wortung genommen werden. Es gibt viel zu viele Fälle,bei denen sechs Jahre Unterhaltsvorschuss gezahlt wird,ohne dass in dieser Zeit das Verfahren für den Unter-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24457
Elisabeth Winkelmeier-Becker
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haltsanspruch an den Vater vorbereitet wird und da-rüber hinaus der Mutter auch nicht die praktische Hilfebei der Umsetzung ihres Anspruchs gegeben wird.Denn es muss weiter als Normalfall empfunden wer-den, dass der Unterhaltspflichtige den Unterhalt an seinKind selbst zahlt. Es ist auch eine wichtige Botschaft fürdas Kind, dass die Eltern für seinen Unterhalt zahlenund nicht eine Behörde. Auf dieser Linie liegt, dass wirbei der anstehenden Reform der Verbraucherinsolvenzbei der Restschuldbefreiung auch Verbindlichkeiten ausrückständigem Unterhalt ausnehmen wollen. Wir stellendamit die vorsätzliche Nichtleistung des Unterhalts ei-ner unerlaubten Handlung gleich. Damit unterstreichenwir, dass Unterhaltsschulden keineswegs als Kavaliers-delikt zu betrachten sind, sondern dass Unterhalts-pflichtverletzungen einen Straftatbestand darstellen.Überhaupt muss das öffentliche Bewusstsein dafür ge-steigert werden, dass Kindesunterhalt ein Anspruch desKindes ist, der seine Existenz sichert und nicht verhan-delbar ist.Bei einigen Vorschlägen aus dem Gesetzentwurf habeich allerdings meine Zweifel, ob sie nicht zu unnötigenund ungerechtfertigten Verschlechterungen für die Al-leinerziehenden führen könnten. Ich denke hier zumBeispiel an die im Gesetzentwurf geplante Regelung zurAnrechnung von Leistungen an Dritte auf Unterhalts-zahlungen. Demzufolge sollen Unterhaltszahlungen anDritte, die unmittelbar dem Kind zugutekommen, zumBeispiel für Kinderbetreuung, Sportkurse, Musikunter-richt, auf den Unterhaltsvorschuss angerechnet werden.Es wäre dann in das Belieben des Unterhaltspflichtigengestellt, wie er den Unterhalt zahlt. Konflikte zwischendem betreuenden und dem unterhaltspflichtigen Eltern-teil sind damit vorprogrammiert. Gerade für den be-treuenden Elternteil ist es ein qualitativer Unterschied,ob Geld zur eigenverantwortlichen Verfügung erhaltenwird oder faktisch nur eine Sachleistung infolge derZahlung an Dritte. Hier sollten wir uns um eine bessereRegelung bemühen, die den Barunterhalt sichert undnicht für zusätzliches Konfliktpotenzial sorgt.Des Weiteren wünschen sich die Länder den Verzichtauf rückwirkende Auszahlung des Unterhaltsvorschus-ses für einen Monat. Diese beschränkte Rückwirkungsoll wegfallen und der Anspruch auf Unterhaltsvor-schuss erst ab dem Monat der Antragstellung bestehen.Zur Begründung wird der hohe Verwaltungsaufwandaufgeführt, der gerade bei der Prüfung der Anspruchs-grundlagen für den Monat vor Antragstellung besondershoch ist; im Gesetzentwurf ist die Rede von einer Verrin-gerung der Belastung von 92 500 Arbeitsminuten für dieVerwaltung. Auf der anderen Seite bedeutet die Strei-chung der Rückwirkung für den Monat vor Antragstel-lung in vielen Fällen den Verlust einer monatlichen Un-terhaltsvorschusszahlung in der besonders schwierigenTrennungsphase der Eltern. Das müssen wir sorgsamgegeneinander abwägen; beide Seiten werden im Ge-setzgebungsverfahren hierzu noch Stellung nehmen kön-nen.Aus meiner Sicht ist wichtig, dass mögliche Effizienz-gewinne im Bereich Unterhaltsvorschuss bleiben müs-sen. Frei werdende Gelder müssen weiter diesem Zweckzugeführt werden und zum Beispiel in die Verlängerungder Bezugsdauer fließen.
Nicht selten entzieht sich der von der Mutter des Kin-des getrennt lebende Vater der Verantwortung. Er küm-mert sich um nichts und zahlt auch keinen Unterhalt fürdas Kind und schon gar nicht den Betreuungsunterhaltfür die Mutter. Die Mutter muss deshalb eine Arbeit auf-nehmen, um für sich und das Kind den Lebensunterhaltbestreiten zu können. So wachsen Kinder von alleiner-ziehenden Müttern oft unter erschwerten Bedingungenauf. Der Anteil der alleinerziehenden Elternteile nimmtzu. 17 Prozent der minderjährigen Kinder in Deutsch-land wohnen bei nur einem Elternteil. Für die Mütterdieser Kinder wird es immer schwieriger, Beruf undBetreuung zu vereinbaren. Die Mutter ist auf die Unter-haltsleistung des Vaters des Kindes angewiesen. Dadiese Unterstützung sehr oft ausfällt, muss der Staat ent-sprechend dem Unterhaltsvorschussgesetz eintreten undden vom Vater zu leistenden Unterhalt als Vorschusszahlen. Es handelt sich dabei um den Mindestunterhalt,der sich nach § 1612 a BGB nach dem sachlichen Exis-tenzminimum des Kindes richtet. Maximal zahlt derStaat für 72 Monate den Unterhaltsvorschuss, wennnicht der Vater in der Zwischenzeit seine Unterhaltsver-pflichtungen erfüllt. Nach diesen 72 Monaten ist dasKind auf die Sozialhilfe angewiesen. Es werden gemäߧ 1612 a BGB drei Altersstufen unterschieden. Die ersteStufe reicht bis zum 6. Lebensjahr. Die zweite Stufe vom7. bis zur Vollendung des 12. Lebensjahres und die dritteStufe für die Zeit ab dem 13. Lebensjahr.Die Mutter musste bislang, um die Unterhaltsleistun-gen vom Staat zu erhalten, bürokratische Hürden über-winden. Der vorliegende Gesetzentwurf verfolgt deshalbdas Ziel der Entbürokratisierung des Unterhaltsvor-schussgesetzes. Insbesondere wird die Antragstellungfür alleinerziehende Elternteile und für die Verwaltungder Aufwand für die Leistungsgewährung vereinfacht.Außerdem wird durch die Verbesserung der Auskunfts-rechte der zuständigen Stellen der Rückgriff beimSchuldner erleichtert. Dies dient auch der zukünftigenSicherung des Unterhaltsanspruches des Kindes fürZeiten, für die kein Anspruch auf Unterhaltsvorschussbesteht. Allerdings sind die vorgesehenen Maßnahmennicht unumstritten.Im Entwurf erfolgt eine Klarstellung, welche Unter-haltsleistungen im Sinne des UVG als Einkommen desKindes anzusehen und deshalb von der Vorschusszah-lung abzusetzen sind. Die Rechtsprechung hatte den bis-herigen Wortlaut des UVG für nicht eindeutig gehalten.Die Klarstellung hat zum Ziel, dass alle Zahlungen desVaters, die unmittelbar zum Nutzen des Kindes erfolgen,auf den Unterhalt anzurechnen sind, selbst wenn sie zumBeispiel an Dritte gezahlt werden, etwa die Kitagebühr.Wenn also der Vater Beiträge für die Betreuung inKindertageseinrichtungen zahlt, wird diese Leistung vondem Anspruch nach dem UVG vorab abgezogen. Einsolcher Abzug ist jedoch für viele alleinstehende Frauennicht hinnehmbar. Immerhin ist zu bedenken, dass derZu Protokoll gegebene Reden
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24458 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Norbert Geis
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Mindestunterhalt, den das Kind gemäß § 1612 a im Rah-men des UVG erhält, vor allem dazu dient, die grundle-genden Bedürfnisse abzudecken, wie zum Beispiel Nah-rung, Kleidung, Hygieneartikel, anteilige Wohn- undHeizkosten. Wenn nun aber der Vater für den Kindergar-tenbesuch Zahlungen leistet und diese Zahlungen nachdem UVG von der Vorschussleistung abgesetzt werden,bleibt die alleinerziehende Mutter weitgehend auf denKosten des täglichen Bedarfs für das Kind sitzen. DieMutter und das Kind profitieren kaum von der Zahlungdes Vaters an die Kita. Die Mutter muss aber das tat-sächliche Existenzminium des Kindes dennoch sicher-stellen. Es ist daher im Laufe des Gesetzgebungsverfah-rens zu prüfen, ob diese Regelung so beibehalten werdenkann.Das Gesetz verfolgt weiterhin eine Klarstellung beizu Unrecht gezahlten Vorschussleistungen. Diese Rege-lung erfasst den Fall, dass zunächst aufgrund vonfalschen Angaben zu Unrecht Unterhaltsvorschussleis-tungen ausgezahlt wurden. Deshalb sollen dieseMonate, in denen die Unterhaltsvorschussleistungen zuUnrecht erbracht wurden, von der maximalen Leistungs-dauer von 72 Monaten abgezogen werden. Der Entwurfberücksichtigt dabei nicht den Fall, dass diese zu Un-recht empfangenen Leistungen später zurückgezahltwerden. In einem solchen Fall sollte kein Abzug von derHöchstleistungsdauer erfolgen.Weiter sieht der Entwurf vor, dass bei Beantragungdes Vorschusses die Rückwirkung auf den Monat vor derAntragstellung wegfallen soll. Dadurch, so der Entwurf,entfallen besondere Nachweispflichten für den Antrag-steller und die Prüfpflichten für die Bewilligungs-behörde, die sich auf den Rückwirkungszeitraum bezie-hen. Allerdings ist nicht ganz verständlich, weshalb einePrüfung der Voraussetzungen, die für die Zahlung desUnterhaltsvorschusses gegeben sein müssen, für denVormonat nicht möglich sein soll und dass eine solchePrüfung unverhältnismäßigen Aufwand verursachenwürde. Deshalb ist auch diese Neuregelung zu überden-ken.Weiter ist eine Verbesserung der Auskunftsrechte derUV-Stellen vorgesehen. Die Erweiterung der Auskunfts-pflichten gegenüber den UV-Stellen ist zu begrüßen.Dadurch werden die Rückgriffsbemühungen unterstützt.Auch wenn dies im Einzelfall zu einem geringfügigenhöheren Verwaltungsaufwand führen kann, ist insgesamtmit einer Entlastung für die Behörden zu rechnen, da dieUnterhaltsverpflichteten bereits durch die Androhungder Geltendmachung der Auskunftsansprüche eher zueiner freiwilligen Unterhaltszahlung bereit sind.Weiter ist vorgesehen, dass der Unterhaltsanspruchdynamisiert wird. Diese Regelung ist ebenfalls begrü-ßenswert. Sie führt zu einer Reduzierung von Abände-rungsklagen von Unterhaltstiteln. Eine Abänderung istnämlich nicht mehr notwendig, wenn das Kind künftigdie nächst höhere Altersstufe erreicht hat und damiteinen höheren Mindestunterhalt bezieht oder dieVorschusszahlung sich aufgrund der Dynamisierung er-höht hat.Außerdem wird die Beurkundungsbefugnis derJugendämter erweitert. Dadurch werden gerichtlicheVerfahren vermieden, wenn der Unterhaltspflichtige denbereits auf das Land übergegangenen Unterhalts-anspruch anerkennt. Bisher war dies den Jugendämternnicht möglich, die Anerkennung solcher Ansprüche zubeurkunden. Diese Regelung ist ebenfalls zu begrüßen.Trotz mancher Kritikpunkte ist der Entwurf alles inallem zu begrüßen.
Nun kommt sie doch noch, die erste Lesung des Unter-haltsvorschussentbürokratisierungsgesetzes. Es sollte ja be-reits am 1. Juli dieses Jahres in Kraft treten. Daraus istnichts geworden. Aber das kann ich nicht wirklich be-dauern. Bereits im Vorfeld hat es berechtigte Kritik unteranderem von Verbänden und Juristen an dem Entwurfder Bundesregierung gegeben. Bereits im Februar gabes einen offenen Brief an die Bundesministerin Schröderunter der Überschrift „Kinder von Alleinerziehendenstärken statt Unterhaltsvorschuss kürzen“. Die Bundes-regierung hätte besser im Vorfeld auf die fachliche Kri-tik hören sollen. Diese Vorlage ist jedenfalls für dieSPD-Bundestagsfraktion ohne Änderungen nicht zu-stimmungsfähig.Wir werden diese Woche auch noch eine Debatte überzwei Anträge der SPD-Bundestagsfraktion zum ThemaAlleinerziehende haben. Diese Anträge sollten die Bun-desregierung und die Regierungskoalitionen sorgfältiglesen, um sich ein Bild davon zu machen, wie und womitman Alleinerziehende und ihre Kinder besser unterstüt-zen könnte. Erneut wird deutlich: Diese Bundesregie-rung hat einfach kein Gesamtkonzept – auch nicht in derFamilienpolitik!Was aber plant die Bundesregierung mit diesem Ge-setz? Die Antragstellung soll vereinfacht werden, denzuständigen Stellen soll der Rückgriff auf den Unterhalts-schuldner bzw. die Unterhaltsschuldnerin erleichtertwerden. Der Bundesrat hält dazu in seiner Stellung-nahme fest, dass er sich von der Reform eine Verein-fachung und Beschleunigung des Verwaltungsverfahrenssowie eine Verminderung von Gerichtsverfahren erhofft.Er hält aber gleichzeitig fest, dass, sollten sich diese Er-wartungen nicht erfüllen, weitere Reformschritte geprüftwerden müssen. Weiter erinnert der Bundesrat an dieGesamtevaluation der familienpolitischen Leistungenund daran, dass damit auch der Unterhaltsvorschuss alswichtige familienpolitische Leistung untersucht wird.Warten und hoffen – sind das Grundlagen für eine sinn-volle gesetzgeberische Gestaltung?Eines muss doch wohl ganz unstrittig sein: Eine Re-form des Unterhaltsvorschusses darf nicht auf Kostender betroffenen Kinder gehen. Und daran haben wir alsSPD – und nicht nur wir – begründete Zweifel. Der Ge-setzentwurf sieht unter anderem vor, dass die Möglich-keit, den Unterhaltsvorschuss rückwirkend zu beantra-gen, wegfallen soll. Dies wird der realen Situation vonalleinerziehenden Eltern nicht gerecht und bürdet ihnenzusätzliche Schwierigkeiten auf. Nicht nur, dass in derTrennungssituation jeder Euro zählt; in dieser Zeit hatZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24459
Caren Marks
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der betreuende Elternteil auch die gesamte Situation al-lein zu schultern.Und wie argumentiert die Bundesregierung? „Durchden Wegfall der rückwirkenden Beantragung, § 4 UVG –neu, verringert sich der Aufwand für die Antragstelle-rinnen und Antragsteller um 5 Minuten je Fall, in dembisher eine rückwirkende Beantragung erfolgt; dies istbisher in 10 Prozent der jährlichen Neuanträge der Fall,also in 18 500 Fällen, sodass sich auf die Gesamtzahlder jährlichen Neuanträge eine Verringerung der Belas-tung von 92 500 Minuten ergibt.“Diese Argumentation ist zynisch und entlarvend zu-gleich. Es geht dieser Regierung eben nicht um die Be-troffenen und deren Situation. Verwaltungsvereinfa-chung im Minutentakt – wie absurd ist diese Argumentationeigentlich! Aber ein Ziel ist damit erreicht: das Sparziel.Mit dem Wegfall der rückwirkenden Beantragung wer-den 90 000 Euro eingespart – Geld, das die Kinder drin-gend benötigen.Im Koalitionsvertrag dieser Regierungskoalitionwurden Verbesserungen beim Unterhaltsvorschuss an-gekündigt. Diese sucht man im Gesetzentwurf bishervergebens. Zu möglichen Verbesserungen würde aucheine Erweiterung der Altersgrenze über das 12. Lebens-jahr hinaus zählen. Im Koalitionsvertrag steht, dass dieAltersgrenze auf 14 Jahre angehoben wird. Davon findetsich nichts im Gesetzentwurf wieder. Hier ist dieschwarz-gelbe Bundesregierung wie so oft auf halberStrecke stehen geblieben.Nach einer Antwort von Staatssekretär Dr. Kues vomDezember 2011 wären von einer Ausdehnung des Unter-haltsvorschusses auf das 14. Lebensjahr 82 000 Kinderbetroffen. Die Mehrausgaben lägen bei etwa 240 Millio-nen Euro für Bund und Länder zusammen.Die SPD-Bundestagsfraktion fordert die Bundesre-gierung in ihrem Antrag zu den Alleinerziehenden auf,eine Anhebung der Altersgrenze zu prüfen und das Er-gebnis der Prüfung umgehend vorzulegen – vor Beginnder parlamentarischen Beratungen!Zumindest für die anstehenden Ausschussberatungenzum Gesetzentwurf bzw. zu der sicher anstehenden An-hörung sollten die Ergebnisse vorliegen. Wir werden dieBundesregierung hier nicht aus der Pflicht entlassen.Wir werden dafür sorgen, dass das Gesetz gründlich undmit der nötigen Öffentlichkeit beraten wird.Insgesamt bedarf es einer finanziellen Entlastungdurch den Unterhaltsvorschuss und nicht einer Mehrbe-lastung für die Alleinerziehenden. Eine Entlastung wäreschon vorhanden, wenn die Hälfte des Kindergeldesbeim betreuenden Elternteil verbliebe und nicht vomUnterhaltsvorschuss abgezogen würde. Denn Alleiner-ziehende, die keinen Unterhalt erhalten, werden damitschlechtergestellt. Diese Ungleichbehandlung zu besei-tigen, wäre ein sinnvolles Unterfangen.Und so gibt es noch weitere Regelungen im Gesetz-entwurf, die einer intensiven Beratung und Veränderungbedürfen. Wie heißt es so schön im Begründungsteil desEntwurfs? „Alleinerziehende Elternteile und ihre Kin-der sind … besonders zu unterstützen und finanziell zuentlasten. Die Unterhaltsleistung nach dem UVG, die alsVorschuss oder als Ausfallleistung gezahlt wird, hat da-bei auch armutsreduzierende Wirkung.“Zwischen Anspruch und Wirklichkeit liegen wiedereinmal Welten bei dieser schwarz-gelben Bundesregie-rung.
Heute besprechen wir in erster Lesung den von derBundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zurÄnderung des Unterhaltsvorschussgesetzes und andererGesetze sowie den vom Bundesrat eingebrachtenGesetzentwurf zur Verbesserung des Vollzugs im Unter-haltsvorschussrecht.Die Unterhaltsleistung nach dem Unterhaltsvor-schussgesetz, UVG, unterstützt alleinerziehende Eltern-teile vorübergehend, weil alleinerziehende Elternteileihre Kinder in der Regel unter erschwerten Bedingungenerziehen und bei Ausfall von Unterhaltsleistungen desanderen Elternteils auch im Rahmen ihrer Leistungs-fähigkeit für den von dem anderen Elternteil fehlendenUnterhalt aufkommen müssen. Bei unregelmäßigen oderausbleibenden Unterhaltszahlungen hat das Kind einesalleinerziehenden Elternteils Anspruch auf Leistungendes Staates nach dem Unterhaltsvorschussgesetz, UVG.Unterhaltsvorschuss nach der noch geltenden Rechts-lage wird bis zum Höchstalter von 12 Jahren für maxi-mal 72 Monate gezahlt. Der Unterhaltsvorschuss istkeine Sozialleistung, sondern eine Familienleistung, dieim Falle der Notlage greifen soll. Ziel ist es, in der Zeit,bis der alleinerziehende Elternteil den Unterhalt vomunterhaltspflichtigen Elternteil eintreiben kann, staatli-cherseits eine Überbrückung zu bieten. Das Kindbraucht Unterhalt; sein Wohl, seine Bedürfnisse müssenerfüllt werden.Im Koalitionsvertrag der CDU/CSU-Bundestagsfrak-tion und der FDP-Bundestagsfraktion heißt es: „Wirwerden das Unterhaltsvorschussgesetz dahingehend än-dern, dass der Unterhaltsvorschuss entbürokratisiertund bis zur Vollendung des vierzehnten Lebensjahres ei-nes Kindes gewährt wird.“Damit haben wir als Koalition unterstrichen, dasswir auch die Situation der Alleinerziehenden besondersim Blick haben und sie in dieser schwierigen Lebens-phase eines Konfliktes um den Kindesunterhalt unter-stützen wollen. Zugleich haben wir eine starke Erwar-tungshaltung geschaffen, an der eine Reform desUnterhaltsvorschussgesetzes nun politisch gemessenwird.Der Gesetzentwurf zur Änderung des Unterhaltsvor-schussgesetzes und anderer Gesetze sieht unter anderemvor, dass alleinerziehende Elternteile zukünftig wenigerNachweise erbringen müssen. Den Unterhaltsvor-schussstellen wird die Anspruchsprüfung und An-spruchsbewilligung erleichtert. Darüber hinaus werdenRegelungen zur Klarstellung, zum Beispiel zur Anrech-nung von erbrachten Unterhaltsleistungen des familien-fernen Elternteiles, getroffen. Unterhaltsvorschussstel-Zu Protokoll gegebene Reden
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24460 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Sibylle Laurischk
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len erhalten ein höheres Maß an Klarheit zurgerichtlichen Durchsetzung der Rückgriffsansprüche.Als gesetzliche Maßnahme zur Verbesserung des Rück-griffes plant die Bundesregierung, im Rahmen derEntbürokratisierung des Unterhaltsvorschusses dieAuskunftsmöglichkeiten der für den Vollzug des UVGzuständigen Stellen über die Verhältnisse der familien-fernen Elternteile zu erweitern. Insgesamt enthält derGesetzentwurf einige Erleichterungen hinsichtlich desVerfahrens. Es ist auch zu begrüßen, dass der Rückgriffauf die Unterhaltsschuldner erleichtert wird. Eine spür-bare materielle Verbesserung für die betroffenen Kinderund die alleinerziehenden Elternteile gibt es aber nicht.Der vorliegende Gesetzentwurf, der den Wünschendes Bundesrates entspricht, wird dem Koalitionsvertragaber nicht vollends gerecht. Das zentrale Element, eineAusweitung der Bezugsberechtigten von 12 auf 14 Jahre,ist nicht enthalten. Deswegen gehe ich davon aus, dassdas Gesetz in dieser Form nicht verabschiedet werdenkann. In jedem Fall wären substanzielle Änderungen er-forderlich, die ich sowohl sachlich als auch politisch fürwichtig halte. Die kostenneutrale Anhebung der Alters-grenzen bei gleichzeitiger Kürzung der Anspruchsdauer– also die Rückführung des Unterhaltsvorschusses aufseine ursprüngliche Funktion als „Übergangshilfe“ –wäre eine Möglichkeit. Die Erhöhung der Altersgrenzeauf das vollendete 14. Lebensjahr würde zu Mehrkostenvon circa 240 Millionen Euro führen. Diese Mehrkostenkönnten gegebenenfalls durch eine Reduzierung derHöchstbezugsdauer, gegenwärtig 72 Monate, gegenfi-nanziert werden. Davon wäre ein Drittel vom Bund, zweiDrittel von den Bundesländern zu tragen. Die im Gesetz-entwurf enthaltenen Regelungen würden aber auch zuMehreinnahmen durch die Verbesserung der Rück-holquote führen. Die Umsetzung erfordert die Zustim-mung des Bundesrates. Die Bundesländer haben einhohes Interesse an einer Entlastung ihrer Unterhaltsvor-schussstellen, die gegen die Mehrkosten abgewogenwerden kann.Wir müssen uns vor Augen führen, dass das Nichtbe-zahlen von Unterhalt kein Kavaliersdelikt ist, sonderneinen Strafbestand darstellt. Zu Zeiten, in denen wir dieStärkung der Rechte von Vätern im Deutschen Bundes-tag diskutieren, dürfen wir deren Pflichten – meist sinddie Väter unterhaltspflichtig – nicht vernachlässigen.
Der Unterhaltsvorschuss soll die finanzielle Situationvon Alleinerziehenden und ihren Kindern verbessern,wenn der unterhaltspflichtige Elternteil seinen Unter-haltsverpflichtungen nicht oder nicht ausreichend nach-kommen kann. Der Unterhaltsvorschuss kommt damitunmittelbar den Kindern von Alleinerziehenden zuguteund unterstützt alleinerziehende Elternteile vorüberge-hend.Im Gesetzentwurf der Bundesregierung heißt es beider Problembeschreibung, dass diesen Elternteilen des-halb diese Unterstützung so effektiv wie möglich zukom-men soll und die Antragstellung deshalb zu vereinfachensei.Das klingt erst einmal schön und verständlich.Schlimm wird es allerdings, wenn man sich den Lö-sungsteil anschaut. Dort steht lediglich: Entbürokrati-sierung der Unterhaltsleistung für Eltern und Verwal-tung. Aber wie soll entbürokratisiert und vereinfachtwerden?Der Gesetzentwurf sieht vor, die Möglichkeit derrückwirkenden Auszahlung für den Monat vor der An-tragstellung zu streichen. Kurios wird es, wenn an-schließend festgestellt wird, dass durch den Wegfall derrückwirkenden Beantragung jeder Antragsteller 5 Mi-nuten spart und dies in der Summe aller Antragsteller92 500 Minuten ausmacht.Diese „gesparten“ 5 Minuten bedeuten für den an-tragstellenden Elternteil die Einbuße eines vollen Mo-natsbetrages des Unterhaltsvorschusses. Ob damit diefinanzielle Situation Alleinerziehender verbessert wird,wagt die Linke begründet zu bezweifeln und lehnt des-halb diese geplante Neuregelung ab.Statt der Streichung der rückwirkenden Auszahlungsollte die Darlegungspflicht der „zumutbaren Bemühun-gen“ zur Durchsetzung der Unterhaltsansprüche gegen-über dem unterhaltspflichtigen Elternteil deutlich er-leichtert werden. Das wäre wirklich eine Vereinfachungund Entbürokratisierung sowohl für die Verwaltung alsauch für die Alleinerziehenden – ohne die Folge einermöglichen finanziellen Notsituation.Aber da steht ja wieder die Sorge der Bundesregie-rung vor einem möglichen Missbrauch der gesetzlichenRegelungen vor; denn wie anders lässt es sich sonst er-klären, dass beim Unterhaltsvorschuss Geldleistungenkünftig auch durch Sachleistungen ersetzt werden dür-fen?Unterhalt muss aber durch direkte Zahlungen gesi-chert sein. Zahlungen an Dritte sind für den betreuendenElternteil weniger verlässlich und weitaus schwerernachprüfbar als direkte Leistungen. Zudem verlieren Al-leinerziehende und ihre Kinder durch indirekte Leistun-gen einen Teil ihrer Entscheidungskompetenz und mögli-cherweise auch den bedarfsdeckenden Unterhalt.Man stelle sich einmal vor, der unterhaltsverpflich-tete Elternteil holt im Rahmen seines Umgangs seinKind ab und bringt es dann zum Sportverein, dessen Mit-gliedsbeiträge er auch von seinem Einkommen, das un-ter dem Selbstbehalt liegt, bezahlt. Diese Beiträge kanndann das Jugendamt vom Unterhaltsvorschuss als Sach-leistung abziehen, obwohl der unterhaltsberechtigte El-ternteil sein Kind nicht zum Sportverein bringen würde,da das Geld dafür nicht übrig ist. Nun wird der Beitraggleichwohl abgezogen, von Amts wegen, nur aus derAngst heraus, dass das Unterhaltsvorschussrecht miss-braucht werden könnte.Nicht zuletzt hat der BGH in seinem Urteil aus demJahr 2007 deutlich gemacht, dass etwa Kitagebührenoder vergleichbare Aufwendungen für die Betreuung desKindes nicht zum Barunterhalt zu rechnen sind. Und wiedie Behörden derartige Leistungen letztlich überprüfenund in Abzug bringen wollen, ohne den Verwaltungs-und Bürokratieaufwand zu erhöhen, wird wohl immerZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24461
Jörn Wunderlich
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das wohlgehütete Geheimnis dieser Bundesregierungsein. Ich kann nur vermuten, wie diese Regierung stän-dig auf die Gedanken kommt, dass Menschen Vorschrif-ten missbrauchen. Es gibt da ein schönes Sprichwort:„Was ich selber denk und tu, das trau ich jedem anderenzu.“Eines allerdings an diesem Gesetzentwurf ist – unddas sollte auch erwähnt werden – richtig: die Koppelungdes Unterhaltsvorschusses an den Mindestunterhaltnach § 1612 BGB. Allerdings wird nur ein Schritt ge-dacht und dann wieder einmal angehalten, ohne weiter-zudenken.Bar- und Betreuungsunterhalt sind als gleichwertiganerkannt. Daher ist es notwendig, dass beim Unter-haltsvorschuss nicht länger das volle Kindergeld ange-rechnet wird, sondern stattdessen – wie beim „norma-len“ Unterhalt – nur das halbe Kindergeld angerechnetwird und die andere Hälfte beim betreuenden Elternteilverbleibt.Hier ist wieder einmal ein Gesetzentwurf auf den be-rühmt-berüchtigten Weg gebracht worden, ohne den Be-dürfnissen der Realität gerecht zu werden. Ich kann des-halb nur hoffen, dass dieses Gesetz durchdacht und imInteresse der Betroffenen vernünftig diesen Weg undauch das Parlament verlassen wird. Die Linke wird aktivdaran mitgestalten, um Alleinerziehenden wirklich ver-einfacht und effektiv zu ihrem Anspruch zu verhelfen.
Als die Bundesregierung im Herbst letzten Jahres ei-
nen Gesetzentwurf zum Unterhaltsvorschuss angekün-
digt hat, war ich – trotz der bis dato mageren Bilanz der
Familienministerin – hoffnungsvoll, dass die Pläne aus
dem schwarz-gelben Koalitionsvertrag umgesetzt wür-
den. Dort heißt es: „Wir werden das Unterhaltsvor-
schussgesetz dahin gehend ändern, dass der Unterhalts-
vorschuss entbürokratisiert und bis zur Vollendung des
vierzehnten Lebensjahres eines Kindes gewährt wird.“
Zwei durchaus sinnvolle Vorschläge. Diese Hoffnung
auf Umsetzung dieser Ankündigungen habe ich mit den
Familien- und Wohlfahrtsverbänden geteilt, die seit Jah-
ren die gesetzliche Grundlage, aber auch die Praxis des
Unterhaltsvorschusses als verbesserungswürdig einstu-
fen.
Doch der Gesetzentwurf, den das Kabinett verab-
schiedet hat, ist eine große Enttäuschung. Entbürokrati-
sierend werden sich die vorgeschlagenen Änderungen
auch nicht auswirken. Kinder von Alleinerziehenden ha-
ben ein deutlich höheres Armutsrisiko als Kinder, deren
Eltern zusammenleben. Ausbleibende Unterhaltszahlun-
gen sind ein Grund für dieses höhere Armutsrisiko. Hier
einen Ausgleich zu schaffen und die größte Not bei un-
terbleibenden Zahlungen zu lindern, ist Ziel des Unter-
haltsvorschusses. Dass ausbleibende Unterhaltszahlun-
gen kein Einzelfall sind, zeigen die Statistiken deutlich:
Jährlich nimmt rund eine halbe Million Kinder den Un-
terhaltsvorschuss in Anspruch. Doch der Bedarf ist weit-
aus höher; denn bislang sind ältere Kinder von der Leis-
tung ausgenommen. Kinder, die älter sind als zwölf
Jahre, bekommen keinen Unterhaltsvorschuss mehr. Da-
bei steigt mit dem Alter der Kinder nachweislich auch
deren Bedarf – in der Grundsicherung ist genau dieses
Prinzip sichtbar. Doch im Fall des Unterhaltsvorschus-
ses soll genau die gegenteilige Argumentation gelten.
Absurd! Damit werden die vollen finanziellen Lasten des
Aufwachsens dem alleinerziehenden Elternteil, zu rund
90 Prozent handelt es sich um Mütter, übergeholfen.
Die Altersgrenze zu verschieben – wie im Koalitions-
vertrag vorgesehen –, wäre absolut richtig und würde
gerade Alleinerziehenden und ihren Kindern in einer
schwierigen Lebenssituation tatsächlich helfen. Leider
wird sich die Hoffnung wohl unter dieser Ministerin
nicht erfüllen. Doch warum unternimmt die Bundesre-
gierung nichts in diese Richtung? Weil für diese Maß-
nahme angeblich kein Geld da ist. Es ist absolut wider-
sinnig, dass Schwarz-Gelb die wenigen sinnvollen
Maßnahmen, die die Koalition im Koalitionsvertrag
vorgesehen hat, mit der Begründung auf Eis gelegt hat,
es sei kein Geld da. Gleichzeitig sollen aber für eine ab-
surde Maßnahme wie das Betreuungsgeld mindestens
1,2 Milliarden Euro ausgegeben werden. Und in diesen
1,2 Milliarden Euro sind noch nicht einmal die Kosten
der Tauschgeschenke für die Zustimmung der FDP ent-
halten: Praxisgebühr, Riester-Sparen, Teilauszahlung
des Betreuungsgeldes.
Der Unterhaltsvorschuss ist eine wichtige Familien-
leistung für besonders von Armut und Benachteiligung
betroffene Kinder. Es ist gut und richtig, dass die staatli-
che Gemeinschaft hier mit einer Geldleistung ein-
springt. Richtig ist aber auch, dass die Verwaltung die-
ser Leistung aufwendig und ineffizient, die Gewährung
parallel zu anderen Leistungen zum Teil widersprüch-
lich und die Rückholquote des Vorschusses mit rund
30 Prozent deutlich ausbaufähig ist. Die Baustellen, die
zu bearbeiten sind, liegen auf der Hand. Doch statt sich
den Problemen zu widmen, schafft die Bundesregierung
mit ihrem Gesetzentwurf neue: Geld- und Sachleistun-
gen werden rechtswidrig gegeneinander aufgerechnet,
und die rückwirkende Antragstellung wird gestrichen.
Unter dem Deckmantel der Entbürokratisierung werden
Kürzungen und Verschlechterungen für armutsgefähr-
dete Kinder geplant und dabei neue Verwaltungshürden
geschaffen. Das ist völlig inakzeptabel.
Wenn das schwarz-gelbe Familienpolitik ist, dann
bleibt im Sinne der Familien in diesem Land nur zu hof-
fen, dass die Ministerin wie bisher weitestgehend untä-
tig bleibt und so zumindest keinen noch größeren Scha-
den anrichtet.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-wurfs auf den Drucksachen 17/8802 und 17/2584 an diein der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. – Dazu gibt es, wie ich sehe, keine anderweiti-gen Vorschläge. Dann haben wir das so beschlossen.Tagesordnungspunkt 39:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Fa-
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24462 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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kultativprotokoll vom 19. Dezember 2011 zumÜbereinkommen über die Rechte des Kindesbetreffend ein Mitteilungsverfahren– Drucksache 17/10916 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend RechtsausschussWie vereinbart, sind die Reden zu Protokoll genom-men.
Heute ist ein erfreulicher Tag für die Kinder inDeutschland und der Welt. Es ist uns allen ein Anliegen,die Rechte der Kinder und damit ihre Stellung in der Ge-sellschaft zu verbessern. Häufig ist es vielerorts nochimmer so, dass Kinder zwar Rechte auf dem Papier ha-ben. Leider haben sie häufig nicht die Möglichkeit, dieseRechte dann auch tatsächlich durchzusetzen. Was aberbringen uns Rechte auf dem Papier, wenn es keine effek-tive Instanz gibt, die dafür Sorge trägt, dass diese Rechteauch individuell durchgesetzt werden können.Mit der Ratifikation des Fakultativprotokolls zumÜbereinkommen über die Rechte des Kindes in mög-lichst vielen Ländern in der Welt steigt der internatio-nale Schutz der Rechte der Kinder – auch in Deutsch-land. Das bisherige Übereinkommen über die Rechteder Kinder sah bislang lediglich ein Berichtsprüfungs-verfahren vor. Mit dem Fakultativprotokoll schließenwir diese Lücke. Denn das Fakultativprotokoll regelt einIndividualbeschwerdeverfahren, mit dem Kinder und Ju-gendliche Verletzungen ihrer Rechte aus der UN-Kin-derrechtskonvention und den beiden ersten Fakultativ-protokollen beim VN-Ausschuss für die Rechte desKindes rügen können.Deutschland hat die Resolution für das Individualbe-schwerdeverfahren gemeinsam mit sieben anderen Staa-ten in die Generalversammlung eingebracht. Wir tragendamit großen Anteil an der Einführung dieses Beschwer-deverfahrens. Und dies ist ein großer Erfolg für die in-ternationale Menschenrechtspolitik der BundesrepublikDeutschland. Wir sind der Familienministerin dahersehr dankbar, dass sie sich persönlich für dieses Anlie-gen stark engagiert hat.Es ist sehr erfreulich, dass Deutschland einer derVorreiter ist und international eine Vorbildfunktionübernimmt. Deshalb ist es auch ganz wichtig, dass wirdas Protokoll zeitnah ratifizieren und somit internatio-nal auch ein Signal senden, dass uns die Einhaltung derKinderrechte und deren Durchsetzung sehr wichtig ist.Bisher gab es fünf völkerrechtliche Übereinkommen,die mit einem Individualbeschwerderecht ausgestattetsind: Dies ist neben dem Pakt über bürgerliche und poli-tische Rechte, dem Übereinkommen gegen Folter undandere grausame, unmenschliche oder erniedrigendeBehandlung oder Strafe, den Internationalen Überein-kommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskri-minierung, sowie der Internationalen Konvention zumSchutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrerFamilienangehörigen insbesondere auch ein Überein-kommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminie-rung der Frau.Dieses sechste Beschwerdeverfahren wird es Kindernkünftig ermöglichen, vor dem UN-Ausschuss für dieRechte des Kindes in Genf zu klagen, wenn ihre Rechtemassiv verletzt werden und der eigene Staat nichts dage-gen unternimmt. Beispiele dafür sind etwa der Einsatzvon Kindersoldaten oder die Situation von sexuell aus-gebeuteten Kindern auf individueller Ebene. Damit wirdder Schutz der Kinder praktisch und konkret.Der zuständige Ausschuss der Vereinten Nationenkann in solchen Fällen dann Handlungsempfehlungenan das entsprechende Land aussprechen. In besondersschweren Fällen kann ein Untersuchungsverfahren ein-geleitet werden. Das unterstreicht, dass die VereintenNationen es mit dem Kinderschutz sehr ernst meinen.Damit können die Staaten deutlich effektiver als bislangin die Pflicht genommen werden. Die Vereinten Nationenkönnen wesentlich besser als bislang internationalenDruck ausüben, was die Einhaltung der Kinderrechts-konvention dann auch absichert. Die einzelnen Staatenkommen dadurch unter einen stärkeren Druck, denRechten der Kinder schon auf nationaler Ebene zur Gel-tung zu verhelfen, um Blamagen auf internationalerEbene zu vermeiden. Der eine oder andere Staat wirdsich auch fragen müssen, ob das eigene Schutzinstru-mentarium ausreichend ist, und es besteht damit zu-gleich die Chance, dass dies zu einer Verbesserung desSchutzniveaus durch nationale Instrumente führt.Zudem kann durch das Fakultativprotokoll besser ge-währleitstet werden, dass mit dem Verstoß gegen Kin-derrechte angemessen umgegangen wird. Denn das Pro-tokoll stärkt die Zusammenarbeit der unterzeichnendenStaaten mit dem zuständigen Ausschuss, in dem Exper-ten zusammensitzen, die besondere Sensibilität für dieseSachverhalte mitbringen.Ein weiterer Aspekt ist wichtig: Durch die Möglich-keit der Feststellung einzelner Menschenrechtsverlet-zungen wird es durch die Betroffenen wesentlich einfa-cher, gegen den betreffenden Staat die Zuerkennungeines Anspruchs auf Wiedergutmachung durch ein inter-nationales Gremium durchzusetzen. Dies ist gerade fürdie Betroffenen ein zentraler Aspekt, um eine Kompen-sation für erfahrenes Leid zu erhalten.Aber auch in Deutschland steigt durch das Protokolldas Schutzniveau, da Betroffenen auf internationalerEbene eine zusätzliche Möglichkeit an die Hand gege-ben wird, nach Erschöpfung unseres nationalen Rechts-weges die Durchsetzung ihrer Rechte zu erstreiten.Es ist nun wichtig, dass möglichst viele Staaten dasFakultativprotokoll ratifizieren. Deutschland geht miteinem guten Beispiel voran, und wir alle können nunhoffen, dass dies der Auftakt für eine weltweite Bewe-gung zur umfassenden Stärkung der Rechte der Kinderwird. In diesem Sinne freue ich mich auf die weitere par-lamentarische Beratung.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24463
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Recht auf Schutz vor Gewalt. Recht auf freie Mei-
nungsäußerung. Recht auf Freizeit, Ruhe und Spiel. Be-
sonderer Schutz vor wirtschaftlicher Ausbeutung und
gefährlicher Arbeit. Das alles sind einzigartige Rechte
von Kindern, wie sie in der UN-Kinderrechtskonvention
als breitangelegter völkerrechtlicher Vertrag garantiert
sind. Über all diesen verbrieften Kinderrechten schwebt
das Kindeswohlprinzip, das es bei allen Maßnahmen zu
berücksichtigen gilt, und zwar vorrangig.
Was aber nützen diese Rechte, wenn Kinder erstens
ihre Rechte gar nicht kennen oder zweitens ihre Rechte
zwar kennen, aber diese nicht einfordern können? Denn
wie heißt es sprichwörtlich so schön: Recht haben und
Recht bekommen sind zwei verschiedene Paar Schuhe.
Die Rechte von Kindern dürfen aber keinesfalls aus-
gehöhlt werden. Aus diesem Grund freue ich mich sehr,
dass Deutschland als einer der Erstunterzeichnerstaa-
ten am 28. Februar 2012 das Zusatzprotokoll zur UN-
Kinderrechtskonvention zur Errichtung eines Individu-
albeschwerdeverfahrens für Kinder unterzeichnet hat.
Danach können Kinder und Jugendliche Verletzungen
ihrer Rechte aus der UN-Kinderrechtskonvention beim
UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes rügen.
Da mir die Rechte von Kindern durch meine Arbeit in
der Kinderkommission sowie im Familienausschuss des
Deutschen Bundestages besonders am Herzen liegen,
habe ich unsere Bundesfamilienministerin Kristina
Schröder als Vertreter meiner Fraktion gern zur Unter-
zeichnungszeremonie nach Genf begleitet. Für mich war
das eine ganz besondere persönliche Erfahrung, an die-
sem feierlichen Akt teilnehmen zu dürfen und damit ei-
nen weiteren wichtigen Meilenstein bei der Stärkung
und Durchsetzung der Rechte von Kindern zu besiegeln.
Die Einrichtung eines Individualbeschwerdeverfah-
rens fügt sich als weiterer Mosaikstein in die erfolgrei-
che Kinder- und Jugendpolitik der christlich-liberalen
Koalition zur Stärkung der Kinderrechte in Deutschland
ein.
Als bedeutende Erfolge können wir unter anderem die
Rücknahme der Vorbehaltserklärung zur UN-Kinder-
rechtskonvention sowie die Verabschiedung des Bundes-
kinderschutzgesetzes verbuchen.
Ich bin stolz darauf, dass Deutschland bei den Verhand-
lungen zur Einrichtung eines Individualbeschwerdever-
fahrens eine konstruktive und aktive Rolle eingenommen
hat und mit dem nun eingeleiteten Ratifikationsprozess
das Inkrafttreten des Fakultativprotokolls vorantreiben
möchte.
Das Individualbeschwerdeverfahren tritt erst in
Kraft, wenn es in Deutschland selbst und insgesamt in
mindestens zehn Staaten ratifiziert worden ist.
Mit der Ratifikation des Zusatzprotokolls setzen wir
unser Versprechen aus dem Koalitionsvertrag zur ak-
tiven Mitwirkung an der Ausgestaltung eines Indivi-
dualbeschwerdeverfahrens um, schließen wir die noch
vorhandene Rechtslücke im internationalen Menschen-
rechtsschutzsystem, erlangen die Bestimmungen rechtli-
che Bindungswirkung für Deutschland und geben wir
Kindern als schutzbedürftigsten Mitgliedern der Gesell-
schaft ein effizientes Werkzeug zur Durchsetzung ihrer
Rechte an die Hand.
Die besten Kinderrechte nützen wenig, wenn sie nur
auf dem Papier stehen. Als Bundestagsabgeordneter und
Familienpolitiker ist es mein persönliches Anliegen, die-
ses neue Recht auf Individualbeschwerde in den Kinder-
gärten, Grundschulen, weiterführenden Schulen, Behör-
den und Einrichtungen in meinen Landkreisen Lüchow-
Dannenberg und Lüneburg und darüber hinaus bekannt
zu machen.
Denn nur wer ausreichend über seine Rechte infor-
miert ist, kann diese auch ausüben.
Die Stärkung der Kinderrechte war und ist ein beson-deres Anliegen der SPD-Bundestagsfraktion und liegtmir als Kinderbeauftragter natürlich besonders am Her-zen. Starke Kinderrechte müssen durchsetzbar sein. Wirhaben ein Individualbeschwerderecht für Kinder langegefordert und freuen uns ausdrücklich über die nun an-stehende Ratifizierung des entsprechenden Zusatzproto-kolls zur UN-Kinderrechtskonvention. Dieses Instru-ment ist ein Rechtsmittel zur Durchsetzung der UN-Kinderrechtskonvention, denn Betroffene könnten sichan den UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes wenden,um auf die Verletzung ihrer Rechte aufmerksam zu ma-chen.Bei anderen UN-Abkommen wie dem UN-Zivilpaktoder der UN-Frauenrechtskonvention gab es ein solchesBeschwerderecht bereits. Endlich gibt es auch zur UN-Kinderrechtskonvention ein ergänzendes Beschwerde-verfahren.Die Einführung dieses Instrumentes in Deutschlandist weltweit ein wichtiges Signal für starke Kinderrechte.Ein Beschwerderecht hilft dabei, darauf hinzuwirken,dass die Vertragstaaten ihr Rechtssystem konsequenterden in der Konvention anerkannten Kinderrechten an-passen und auf deren Einhaltung achten.Recht haben alleine reicht nicht aus – Rechte müssenauch durchsetzbar sein. In einem Beschwerdeverfahrenkann sich das Kind selbst oder eine Person in seinemNamen an den Ausschuss für die Rechte des Kindes wen-den, der die Menschenrechtsverletzung untersucht. Auchwenn die Entscheidung des Ausschusses rechtlich nichtbindend sein wird, kann er auf Abhilfe drängen und fürden Kläger gegebenenfalls eine Entschädigung fordern.Wie bei allen internationalen Beschwerdemechanismenmuss vorher der innerstaatliche Rechtsweg ausge-schöpft sein. Was sich bei Erwachsenen mit einem eta-blierten System von Beschwerdemöglichkeiten bewährthat, muss für Kinder erst mit Leben erfüllt werden.Auf allen Ebenen brauchen Kinder altersgerechteMöglichkeiten der Partizipation und auch der Be-schwerde. So setze ich mich auf Bundesebene für einenunabhängigen Kinderbeauftragten ein. Auf kommunalerEbene wollen wir Ombudschaftsstellen für Kinder eta-Zu Protokoll gegebene Reden
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24464 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Marlene Rupprecht
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blieren, um den Kindern direkt da, wo sie leben, beimVertreten ihrer Interessen beizustehen.Kinderrechte müssen stärker bekannt gemacht wer-den. Wer nicht um die eigenen Rechte weiß, kann sichbei einem Verstoß gegen diese Rechte auch nicht be-schweren. Hier ist noch viel zu tun. Wir hätten uns eineFortschreibung des Nationalen Aktionsplans zur Umset-zung der UN-Kinderrechtskonvention gewünscht.Ich hoffe, dass die Bundesregierung die Stärkung derKinderrechte auch auf einem anderen Gebiet voran-bringt. Die Verankerung der Kinderrechte im Grund-gesetz ist im Sinne der UN-Kinderrechtskonventionebenso sinnvoll und geboten wie das Individual-beschwerdeverfahren.Bisher scheiterte die Stärkung der Kinderrechte imGrundgesetz leider am Widerstand der Union. In letzterZeit habe ich jedoch erfreuliche Signale vernommen,und ich hoffe, dass es uns gemeinsam gelingt, unsereVerfassung im Interesse unserer Kinder zu modernisie-ren. Kinder sind Rechtssubjekte und sollten als solcheauch im Grundgesetz genannt und behandelt werden.Wer Kinderrechte wirklich stärken will, kann sich dieserForderung nicht verschließen.
Hinter dem sperrigen Namen dieses Gesetzentwurfs
steckt nichts Geringeres als ein echter Meilenstein in der
Geschichte der Kinderrechte. Als letztes von allen
Menschenrechtsabkommen bekommt die UN-Kinder-
rechtskonvention jetzt ihren eigenen Beschwerdemecha-
nismus. Damit gewinnen die Kinderrechte international
deutlich an Durchsetzungskraft.
Deutschland ist hier ein echter Vorreiter: Am 28. Fe-
bruar 2012 hat Deutschland – vertreten durch die Fami-
lienministerin Dr. Kristina Schröder – das Fakultativ-
protokoll als einer der ersten Staaten überhaupt
gezeichnet. Wir haben es aber nicht nur früh unterzeich-
net, sondern seine Entstehung auch aktiv vorangetrie-
ben. Ohne Deutschlands Werbung für diese Angelegen-
heit wäre das Protokoll kaum noch im Jahr 2011 von der
UN-Generalversammlung angenommen worden. Ich
war im Februar 2012 bei der Unterzeichnung in Genf
dabei. Dort konnte ich live erleben, wie bei den anderen
Staaten noch gerungen wurde, ob man unterschreibt
oder nicht. Letztendlich haben dann 20 Staaten unter-
zeichnet – ein Riesenerfolg auch für Deutschland und
die schwarz-gelbe Regierung.
Ich kämpfe seit langem für die bessere nationale und
internationale Durchsetzung von Kinderrechten. Das
Individualbeschwerdeverfahren halte ich für einen ganz
zentralen Baustein. Deshalb haben wir Liberale vor drei
Jahren darauf bestanden, diese Forderung in den Koali-
tionsvertrag aufzunehmen. Jetzt ist es so weit: Der Weg
ist frei, das Gesetz noch in diesem Jahr zu ratifizieren.
Das Kabinett hat den Entwurf gebilligt, der Bundesrat
hat keine Einwände. Ich gehe fest davon aus, dass wir
bei diesem Thema einen überfraktionellen Konsens auch
hier im Bundestag haben.
Sobald insgesamt zehn Staaten das Fakultativproto-
koll ratifiziert haben, tritt es in Kraft. Je schneller wir
hier also sind, desto schneller verhelfen wir den Kinder-
rechten zu ihrer vollen Wirkung.
Was ändert sich durch das Protokoll? Kinder oder
ihre Fürsprecher haben in jedem Land, das das Proto-
koll verabschiedet hat, die Möglichkeit, sich direkt an
den Ausschuss der Vereinten Nationen für die Rechte des
Kindes zu wenden, zumindest solange sie den nationalen
Rechtsweg ausgeschöpft haben.
In dringenden Fällen kann der Ausschuss dem betref-
fenden Vertragsstaat eine sofortige Überprüfung auftra-
gen. Darüber hinaus kann er bei schwerwiegenden und
systematischen Verletzungen ein Untersuchungsverfah-
ren einleiten. Zwar sind die Empfehlungen des Aus-
schusses für die Nationalstaaten nicht bindend. Aber die
entsprechenden Staaten werden sich nichtsdestotrotz
verpflichtet fühlen, die entsprechende Kinderrechtsver-
letzung zu untersuchen.
Die Überzeugung, dass Kinder Träger eigener Rechte
sind, wird dadurch international noch einmal deutlich
zunehmen. Dies wird umso mehr zutreffen, als der
Ausschuss alle zwei Jahre an die Generalversammlung
berichten muss. Außerdem sind die unterzeichnenden
Staaten zu deutlicher Öffentlichkeitsarbeit verpflichtet;
denn die Kinder im jeweiligen Land sollen auch wissen,
dass es den Ausschuss für die Rechte des Kindes gibt.
Damit haben wir unsere Regierungsarbeit für Kin-
derrechte um einen weiteren wichtigen Erfolg erweitert.
Er reiht sich ein in unsere anderen Erfolge: Wir haben
die Vorbehalte gegenüber der UN-Kinderrechtskonven-
tion zurückgenommen. Keine andere Regierung seit
1992, auch nicht Rot-Grün, hat diese Chance genutzt.
Kinderlärm ist kein Grund zur Klage mehr. Wir haben
dafür gesorgt, dass die Geräusche von spielenden Kin-
dern nicht mehr mit Industrielärm gleichgesetzt werden
können. Das hilft den Kindern in diesem Land ganz
konkret; denn jedes Kind hat das Recht auf Spielen. Und
wir haben Deutschlands erstes Kinderschutzgesetz
verabschiedet. Es vernetzt alle Akteure im Kinder- und
Jugendschutz und stärkt dadurch die Aspekte Präven-
tion und Intervention im Kinderschutz. Auch die Institu-
tion der Familienhebammen wird massiv gefördert.
Unsere Bilanz bei den Kinderrechten ist also hervor-
ragend. Das ist auch der FDP zu verdanken; denn für
Liberale stehen Kinder im Mittelpunkt der Familienpoli-
tik. Das haben wir so angekündigt – und das haben wir
in dieser Legislaturperiode auch genau so umgesetzt.
Dass die Bundesrepublik das nunmehr dritte Fakulta-tivprotokoll zur UN-Kinderrechtskonvention ratifiziert,ist sehr zu begrüßen: Das darin vereinbarte Individual-beschwerderecht ist wichtig für die Stärkung derBelange der Kinder.Die durch das Zusatzprotokoll geschaffene Möglich-keit, dass sich Kinder – nach Ausschöpfung innerstaatli-cher Rechtswege – an das zuständige UN-GremiumZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24465
Diana Golze
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wenden und dort beschweren können, wird von derLinken als ein weiteres wichtiges Instrument zur Siche-rung der Rechte von Kindern gesehen. Das Beschwerde-recht auf Basis der UN-Kinderrechtskonvention warlängst überfällig. Anders als beispielsweise bei der UN-Behindertenrechtskonvention ist es nicht gleich bei derRatifizierung der Konvention geregelt worden.Die bloße Ratifizierung reicht allerdings nicht aus,um Kindern und Jugendlichen endlich einklagbareRechte zu geben. Bis heute klaffen auch in der Bundes-republik die Anerkennung der Kinderrechte und ihreUmsetzung weit auseinander.Wer es mit den Kinderrechten ernst meint, gibt ihnenGrundgesetzcharakter. Die Bundesregierung hat mit ih-rer Unterschrift selbst ein weiteres Argument für einensolchen Schritt geliefert. Jetzt muss sie den Unterschrif-ten noch Taten folgen lassen. Eine weitere Verweige-rung, überhaupt über die Frage der Verankerung vonKinderrechten im Grundgesetz zu reden, geschweigedenn sie mit einem entsprechenden Gesetzentwurf zu un-termauern, wird immer unverständlicher. Zumal dievollzogene Ratifizierung viele offene Fragen in Bezugauf die Auswirkung auf einfaches nationales Recht derBundesrepublik neu aufruft bzw. diese sogar verschärft.Für die Umsetzung eines wirklichen Beschwerde-rechtes braucht es aber nun konkrete rechtliche Schritteund Maßnahmen, die ein solches Recht auch im Alltagder in Deutschland lebenden Kinder realisierbar ma-chen. Denn auch dieses Beschwerdeverfahren wird denKindern und Jugendlichen in der Bundesrepublik erstnach Ausschöpfung innerstaatlicher Rechtswege ermög-licht.Dafür brauchen wir ein flächendeckendes Netz vonBeschwerdestellen, die auf die Bedürfnisse von Kindernund Jugendlichen zugeschnitten sind und die den ganzbesonderen Anforderungen entsprechen, die eine solchehochsensible Arbeit erfordert. Von einem solchen Netz-werk aber sind wir in Deutschland meilenweit entfernt.Wir brauchen ein solches Netzwerk eben auch, um Bera-tungsangebote vor Ort vorzuhalten, um Kinder über ihreRechte zu informieren. Wir brauchen Unterstützungs-angebote, die ihnen helfen, diese Rechte auch wahrzu-nehmen, und eine erkennbare Aufnahme der Rechte vonKindern in die deutsche Gesetzgebung.Darüber hinaus muss aus Sicht der Linken genau ausdem Grund, dass Kinder und Jugendliche erst alleRechtsinstanzen durchlaufen müssen, der Rechtsan-spruch auf unabhängige Beratung und Hilfe auf Kinderund Jugendliche ausgeweitet werden. Ein solcherRechtsanspruch darf nicht erst greifen, wenn sie sich ineiner besonderen Notsituation befinden. Die Chancedazu hätte es bereits mit der Verabschiedung des Kin-derschutzgesetzes gegeben.Dass Sie diese notwendige Grundlage auch jetzt nichtschaffen wollen, ist in dem vorgelegten Gesetz nachzu-lesen. Wenn dort steht: „Ein etwaiger Mehrbedarf beiBund, Ländern und Kommunen ist geringfügig“, ist ein-deutig klargestellt, worum es sich für die Bundesregie-rung bei der Unterzeichnung des Fakultativprotokolleshandelt: um einen bloßen symbolischen Akt.Somit unterzeichnet ein reiches Industrieland wieDeutschland erneut ein verbindliches UN-Dokument,ohne für die notwendigen Rechtsgrundlagen gesorgt zuhaben.Darum bleiben wir dabei: Eine Entscheidung zurRechtsstellung von Kindern in unserer Gesellschaft istlängst überfällig – mit der Schaffung eines Individualbe-schwerdeverfahrens wird sie jetzt zwingend notwendig.
Die Vereinten Nationen haben ein Individualbe-schwerdeverfahren konzipiert, das für Kinder und Ju-gendliche sowie deren Eltern die Möglichkeit vorsieht,sich wegen der Verletzung ihrer Rechte auf der Grund-lage der UN-Kinderrechtskonvention mit schriftlichenBeschwerden an den UN-Ausschuss für die Rechte desKindes zu wenden. Am 28. Februar 2012 haben die ers-ten Staaten das entsprechende Zusatzprotokoll der UN-Kinderrechtskonvention in Genf unterzeichnet. Ich freuemich, dass Deutschland zu den ersten Staaten gehörte,die dieses mit unterzeichnet haben.Das Individualbeschwerdeverfahren ist ein wichtigerBeitrag zur Verbesserung der Umsetzung der UN-Kin-derrechtskonvention. Es ist eine wirkungsvolle Ergän-zung zu den regelmäßigen Berichtspflichten, den soge-nannten Staatenberichten und den sogenanntenSchattenberichten der Nichtregierungsorganisationen.Es ist zu begrüßen, dass Deutschland nun auch bei dernoch notwendigen Ratifizierung vorangeht und damitfür andere Staaten vorbildlich ist.Was aber nicht geht – und so, wie wir die Bundesre-gierung kennen, ist die Gefahr hierfür sehr groß –, ist,dass Schwarz-Gelb sich nun auf der Ratifizierung desZusatzprotokolls ausruht. Wir sind hier gebrannte Kin-der; denn auch die Rücknahme der Vorbehaltserklärunghaben wir alle gelobt. Die Rücknahme der Vorbehaltser-klärung ist aber zur reinen Symbolpolitik verkommen,weil die Bundesregierung sich weigert, echte Konsequen-zen, beispielsweise in Fragen des Asyl- und Aufenthalts-rechts, zu ziehen.Deshalb will ich den Blick wieder von außen nach in-nen richten. Hier gibt es einige dringliche Aufgaben, diedie Bundesregierung angehen muss. Wer in seinen Rech-ten verletzt wird, muss diese kennen, um sich beschwe-ren zu können. Das verlangt deutliche Anstrengungenzur Bekanntmachung der Kinderrechte. Die sicherlichwichtigste Maßnahme zur Bekanntmachung und Stär-kung der Kinderrechte ist eine Änderung des Grundge-setzes, damit die Rechtsträgerstellung von Kindern deut-licher herausgearbeitet und klargestellt wird. Alsflankierende Maßnahme fordern wir Sie auf, den Natio-nalen Aktionsplan „Für ein kindergerechtes Deutsch-land“ fortzusetzen bzw. neu aufzulegen und diesen mitkonkreten termingebundenen und messbaren Zielen undVorgaben zur Umsetzung der Kinderrechte in Deutsch-land zu versehen.Zu Protokoll gegebene Reden
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24466 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Katja Dörner
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Als völkerrechtlich bindende Konvention ist die UN-Kinderrechtskonvention keineswegs nur „ein wichtigerLeitfaden“ für die nationale Politik, wie die Bundes-regierung es in unserer Kleinen Anfrage zur Stärkungder Kinderrechte ausführt. Sie enthält vielmehr objek-tive und subjektive Rechte, deren Achtung und Umset-zung ein rechtsstaatliches Gebot sind. Zur Überprüfbar-keit, ob die Kinderrechte in Deutschland eingehaltenwerden und ob die Konvention auch tatsächlich umge-setzt wird, bedarf es eines verbindlichen Monitoringsys-tems. Es ist längstens an der Zeit, den Dialog mitVerbänden und Organisationen aufzunehmen, um einsolches Monitoring zu etablieren.Ich würde mir wünschen, dass jährlich in zeitlicherNähe zum Jahrestag der UN-Kinderrechtskonvention,dem 20. November, eine Generaldebatte im Bundestagzum Stand der Umsetzung von Kinderrechten stattfindet.Hier ist es an uns allen – und die Unterstützung der Bun-desregierung hierfür wäre sehr hilfreich –, an geeigne-ter Stelle darauf hinzuwirken, dass dem 20. Novemberund den Kinderrechten auch in der parlamentarischenDebatte der Platz eingeräumt wird, der ihnen gebührt.Die Ratifizierung des Zusatzprotokolls zur Individual-beschwerde ist ein wichtiger Schritt. Wir sind sehr froh,dass er so schnell erfolgt. Er entbindet die Bundesregie-rung nicht, bei der Umsetzung der Kinderrechte inDeutschland endlich Taten erkennen zu lassen.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf der Drucksache 17/10916 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Es
gibt keine anderweitigen Vorschläge. Dann haben wir
das so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 34:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Krista
Sager, Ekin Deligöz, Katja Dörner, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Transparenz als verbindliches Grundprinzip
in der öffentlich finanzierten Wissenschaft
verankern
– Drucksache 17/11029 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Innenausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die
Reden zu Protokoll genommen.
Wir debattieren heute einen Antrag der Grünen zurSteigerung der Transparenz in der öffentlich finan-zierten Forschung. Im Kern soll die Bundesregierungaufgefordert werden, gemeinsam mit Ländern, Wissen-schaftsorganisationen und Hochschulen eine Umset-zungsstrategie zur Verankerung von Transparenz alsumfassendem Grundprinzip im öffentlich finanziertenWissenschaftssystem verbindlich zu verankern.Hierzu schlagen die Grünen eine Reihe von Maßnah-men vor: Die Vergabe öffentlicher Mittel soll künftig andie Bedingung geknüpft werden, in frei zugänglichenDatenbanken „das Forschungsprojekt, die Ziele und diewesentlichen Resultate … darzulegen und über denUmfang und die Dauer der öffentlichen Förderung so-wie die beteiligten Kooperationspartner Auskunft zugeben“. Die Offenlegung vertraglicher Kooperationenzwischen öffentlich finanzierter Forschung und Drittenim Internet soll mittels gesetzlicher Regelungen erzwun-gen werden. Codes of Conduct sollen Forscher an Hoch-schulen und Forschungseinrichtungen künftig dazu ver-pflichten, alle öffentlich und privat finanziertenDrittmittelprojekte – einschließlich der Auftraggeber –zu veröffentlichen. Hochschulprofessoren sollen ver-pflichtet werden, Nebentätigkeiten sowie deren Umfangund Art zu veröffentlichen.Ich halte diese Vorschläge aus mindestens drei Erwä-gungen heraus für grundsätzlich verfehlt.Erstens gibt es nach unserer Auffassung keine gravie-renden Fehlentwicklungen, die solch weitreichendeMaßnahmen rechtfertigen würden. Zur BegründungIhres Antrags verweisen Sie auf „vereinzelt aufgetreteneFälle wissenschaftlichen Fehlverhaltens im Rahmen vonKooperationsbeziehungen und bei Nebentätigkeiten vonProfessoren“. Nach meiner Überzeugung reichen diesevereinzelten Fehltritte jedoch nicht aus, um zusätzlicheInstrumente für die gesamte deutsche Wissenschafts-landschaft zu fordern. Vielmehr vertrete ich die Auffas-sung, dass die Träger der öffentlich finanziertenForschung in Deutschland ganz überwiegend hervorra-gende Arbeit leisten und den Vertrauensvorschuss, dendie christlich-liberale Koalition ihr seit langem ein-räumt, rechtfertigen. In diesem Geist haben wir erst inder letzten Sitzungswoche das Wissenschaftsfreiheitsge-setz verabschiedet. Zusätzliche Kontrollinstrumente sindmit dieser Grundüberzeugung nicht vereinbar. Demgrundsätzlichen Misstrauen der Grünen setzt die CDU/CSU Vertrauen in die Integrität unserer Wissenschaftlerund in die bestehenden Kontrollmechanismen entgegen. Zur Begründung Ihres Antrags verweisen Sie weiterauf den Anspruch der Bürger, „auf nachvollziehbareWeise zu erfahren, welche Wissenschaftler welcheForschung mit welchen Ergebnissen und mit welchenöffentlichen Fördermitteln durchführen und welcheKooperationspartner dabei einbezogen werden“. Die-sen Ansatz halte ich für sehr einseitig und deshalb nichtstatthaft. Zwar stimme ich Ihnen zu, dass Bürger einRecht auf Informationen zur Verwendung öffentlicherForschungsgelder haben. Andererseits sind jedoch auchForscher und Forschungseinrichtungen, beteiligteUnternehmen und Private ebenfalls Grundrechtsträger.Bereits heute haben wir umfangreiche Informations-vorschriften sowie Nebentätigkeitsvorschriften für Wis-senschaftler. Ich erinnere aber daran, dass gerade dasPersonalrecht primär im Verantwortungsbereich derBundesländer liegt. Sollte es hier Nachholbedarf geben,so muss man an konkreten Fällen Lösungsansätze erör-tern. Hier findet sich jedoch im Antrag der Grünennichts.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24467
Tankred Schipanski
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Wir haben bereits ausreichend Instrumente zurKontrolle der Verwendung öffentlicher Gelder und zurPartizipation der Bevölkerung am Forschungsprozessbestehen. Sie verweisen in Ihrem Antrag zurecht aufbereits bestehende Datenbanken wie GEPRIS der Deut-schen Forschungsgemeinschaft und den Förderkatalogder Bundesregierung. Hinzu kommen parlamentarischeKontrollrechte wie der umfangreiche jährliche Berichtder Forschungseinrichtungen im Rahmen des Pakts fürForschung und Innovation. Darin legen die For-schungseinrichtungen ausführlich Rechenschaft überdie Verwendung öffentlicher Gelder ab.Drittens ist für uns die Freiheit der Wissenschaft einhohes Gut, das durch die von Ihnen vorgeschlagenenzusätzlichen bürokratischen Hürden und neuen Verwal-tungsaufgaben infrage gestellt würde. Die von Ihnengeforderten Codes of Conduct in den Wissenschaftsor-ganisationen existieren bereits. Soweit die Hochschulenderartige Regelungen nicht haben, liegt dies im Zustän-digkeitsbereich der Länder.Ein weiteres Problem sehe ich in der konkreten Aus-gestaltung der von Ihnen geforderten Offenlegungs-pflichten. Insbesondere bei der Forschung in Koopera-tionsverbünden mit Unternehmen gibt es zahlreiche sen-sible Daten, die nicht ohne Weiteres offengelegt werdenkönnen. Auf dieses Problem weisen Sie auch zu recht hinund nennen als Beispiele „patentrelevante Informatio-nen, Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse sowie sonstigeRechte der beteiligten Akteure“. Mir ist beim Lesen Ih-res Antrags jedoch nicht klar geworden, wo nach IhrerVorstellung künftig die Grenze zwischen dem Recht derBürger auf Information und dem Recht der Forscher aufdie Sicherheit ihrer Daten eigentlich genau verlaufensoll. Dieser Punkt wird nach meiner Auffassung nichtausreichend problematisiert.Wir lehnen Ihren Antrag aus den dargelegten grund-sätzlichen Überlegungen ab. Es gibt nach meiner Über-zeugung keinerlei Entwicklungen, die solch weitrei-chende bürokratische Eingriffe rechtfertigen würden.Die bestehenden Instrumente zur Sicherstellung derTransparenz im Forschungsprozess reichen aus und stel-len einen sinnvollen Ausgleich zwischen den Informa-tionsrechten der Bürger und der Freiheit der Forschungdar. Insbesondere aber sind weiter reichende Kontrollin-strumente mit unserem grundsätzlichen Vertrauen in dieTräger der öffentlich finanzierten Forschung nichtvereinbar.
Wir diskutieren heute einen druckfrischen Antrag derFraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Thema „Transpa-renz als verbindliches Grundprinzip in der öffentlich fi-nanzierten Wissenschaft verankern“. Wir finden diesenAntrag der Grünen zunächst einmal unterstützenswert.Dies darf nicht verwundern, da sie damit nicht nur einegrundsätzliche Position der Sozialdemokratie treffen,sondern weil wir vor einiger Zeit einen ähnlichen An-trag auf den Weg und in den Bundestag eingebracht ha-ben, der sich mit der Frage der Transparenz hinsichtlichder Kooperation von Hochschulen und Unternehmenbefasst .Viele der im Antrag der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen beschriebenen Ansätze halten wir für richtig. Esist richtig und wichtig, dass Kooperationsbeziehungenzwischen Forschungseinrichtungen und Hochschulenmit Dritten – also meistens der Wirtschaft – transparentsind, und zwar in einer Weise, dass die interessierte Öf-fentlichkeit nachvollziehen kann, mit welchen Unterneh-men die jeweiligen Einrichtungen zusammenarbeitenbzw. von wem sie Geld bekommen. Damit können mög-liche Interessenkonflikte transparent gemacht werden.Diese Forderung entspricht dem, was wir in unseremAntrag auf Drucksache 17/9168 bereits formuliert haben.Auch hinsichtlich der im Antrag angesprochenenFrage des wissenschaftlichen Fehlverhaltens könnenwir darauf hinweisen, dass die SPD-Bundestagsfraktioneinen Antrag zu diesem Thema bereits im letzten Jahrauf der Drucksache 17/5758 – „Kampf gegen wissen-schaftliches Fehlverhalten aufnehmen – Verantwortungdes Bundes für den Ruf des ForschungsstandortesDeutschland wahrnehmen“ – in den deutschen Bundes-tag eingebracht hat. Das ist also auch schon abgehan-delt.Wir halten weiterhin das Ziel für richtig, dass dieHochschulen und Forschungseinrichtungen in eigenerVerantwortung sogenannte Codes of Conduct aufstellen,da dies nicht gesetzlich geregelt werden kann, und künf-tig alle öffentlichen oder privat eingeworbenen Drittmit-telprojekte – einschließlich der Auftraggeber – offenle-gen, zum Beispiel auf der Homepage der Institute undEinrichtungen. Gleiches sollte unbedingt auch für Pu-blikationen gelten. Wir halten es für sehr sinnvoll, wennin Veröffentlichungen ein Hinweis zu finden ist, wie sel-bige finanziert worden sind.Auch die Forderung in dem hier vorliegenden Antrag,dass es eine Datenbank geben sollte, die über das beste-hende Angebot des Bundes und der Deutschen For-schungsgemeinschaft hinausgeht, wo eben Informatio-nen über Projekte und deren Finanzierung abgerufenwerden können, ist grundsätzlich sinnvoll und unterstüt-zenswert.Allerdings finden wir, dass im Detail doch noch ei-nige Fragen offen bleiben, die geklärt werden müssen,wo der Antrag möglicherweise auch zu früh gekommenist.Die Grünen beziehen sich auch auf eine Empfehlungder Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesell-schaft“, die grundsätzlich richtig ist, dass Ziele, wesent-liche Resultate und veröffentlichte Forschungsergeb-nisse und Daten in allgemeinverständlicher Formdargelegt werden sollten und auch der Umfang und dieDauer einer öffentlichen Förderung und die Koopera-tionspartner nachvollziehbar sein müssen.Dennoch taucht im Detail die Frage auf, wie detail-liert und zu welchem Zeitpunkt der Arbeiten beispiels-weise ein Ziel oder Forschungsergebnisse und Datenangegeben werden müssen. So stellt sich doch dieFrage, ob nicht ein Kern von grundgesetzlich garantier-Zu Protokoll gegebene Reden
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24468 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
René Röspel
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ter Wissenschaftsfreiheit und Freiheit von Forschungdurch solch eine Vorgehensweise berührt oder mögli-cherweise beeinträchtigt ist, indem man Wissenschaftlertatsächlich dazu verpflichtet, ihre Daten gegen ihrenWillen zu veröffentlichen. Es ist nicht ausgeschlossen,dass es Situationen, Ergebnisse und Resultate gibt, dieeine Wissenschaftlerin oder einen Wissenschaftler bewe-gen, nicht zu veröffentlichen. Allerdings gilt es an dieserStelle, die jeweilige Motivlage genau zu prüfen. So mussunter allen Umständen ausgeschlossen werden, dasseine Forscherin oder ein Forscher die von ihr oder vonihm generierten Ergebnisse – etwa im Rahmen einer kli-nischen Studie – nur selektiv veröffentlicht, um etwa be-stimmte unerwünschte Ergebnisse für die eigene For-schung oder den Finanzier derselben zu verschleiern.Dessen ungeachtet sind Wissenschaftlerinnen undWissenschaftler hinsichtlich ihrer Präferenz, von einerVeröffentlichung abzusehen, in ihrer Entscheidung zurespektieren, sei es aus möglicherweise ethischen oderanderen Gründen oder vielleicht deshalb, weil diegewonnenen Erkenntnisse sich noch in einem Stadiumbefinden, wo die Veröffentlichung – anders als das imAntrag der Grünen auch für Betriebs- oder Geschäftsge-heimnisse formuliert worden ist – nicht angebracht ist,zum Beispiel deshalb, weil sie aus wissenschaftlichenGründen den Status oder den Zeitpunkt für eine Veröf-fentlichung für nicht gerechtfertigt ansehen.Wir werden in der nächsten Sitzung des Ausschussesfür Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzungim Anschluss an die geplante Anhörung zum Thema„Umgang mit sicherheitsrelevanten Forschungsergeb-nissen“ eine Diskussion führen müssen, wo es tatsäch-lich darum geht, ob Ergebnisse zu Sequenzen eineshochpathogenen Erregers veröffentlicht werden sollenoder nicht. Diese Anhörung findet am 7. November 2012statt, und ich hätte es für sinnvoll gehalten, sich erstnach dieser Anhörung ein endgültiges Meinungsbild zuschaffen und dann einen solchen Antrag wie den hiervorliegenden vorzulegen. Und ein wenig merkt manauch an der Sprache des Antrags, dass tatsächlich diebestehenden Unschärfen möglicherweise gewollt sind,weil solche wie die eben genannten Fragen noch nichtabschließend geklärt sind.Was soll zum Beispiel im Detail damit gemeint sein,wenn die Pflicht zur Veröffentlichung zurücktreten soll,wenn gesetzlich geschützte Interessen unverhältnismä-ßig beeinträchtigt werden? Dies bleibt nach meiner Les-art des Antrags jedenfalls unbeantwortet. Für die ersteLesung des Antrags bleibt also das Fazit: Ein Teil derThemen ist bereits behandelt durch unsere SPD-An-träge; beim anderen Teil – so sinnvoll die Forderungenauch sind – hätten wir uns gewünscht, dass man nochdie Ausschussanhörung abwartet. Grundsätzlich aller-dings geht der Antrag in die richtige Richtung.
Um es vorweg zu sagen, für uns Liberale ist die Frei-heit von Wissenschaft und Forschung ein überaus hohesund kostbares Gut. Wir sind für die Unabhängigkeit derWissenschaft, und wir Liberale sind für den Schutz derWissenschaftsfreiheit. Das haben wir stets unterstrichenund nun auch mit dem sogenannten Wissenschaftsfrei-heitsgesetz verankert.Den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen „Transpa-renz als verbindliches Grundprinzip in der öffentlich fi-nanzierten Wissenschaft verankern“ lehnen wir aber ab;denn die in dem Antrag geforderte Unabhängigkeit derWissenschaft ist nicht in Gefahr. In dem Antrag der Grü-nen steht es selbst, schwarz auf weiß. Es gibt „vereinzeltaufgetretene Fälle wissenschaftlichen Fehlverhaltens imRahmen von Kooperationsbeziehungen und bei Neben-tätigkeiten von Professoren“. Vereinzelte Fälle! Undweiter heißt es im Antrag, dass den vereinzelten Fällen„ein ungerechtfertigtes Misstrauen gegenüber einerweitgehend integren Wissenschaft“ gegenübersteht. Un-gerechtfertigtes Misstrauen! Wenn das der Anlass unddie Rechtfertigung dieses Antrags ist, haben die Grünenbislang nicht verstanden, was ihre Aufgabe im Parla-ment ist. Dann haben die Grünen einen Antrag vorge-legt, der in sich obsolet ist.Aber was viel schlimmer ist, die Grünen haben einenAntrag formuliert und vorgelegt, der weiteres Miss-trauen schürt und die Wissenschaft in ihren Koopera-tionsbeziehungen und in ihrer eigenverantwortlichenVerwendung von öffentlichen Geldern unter einen Gene-ralverdacht stellt. Ein Generalverdacht, den die Grünenin ihrem Antrag mit ihrer Forderung nach mehr Trans-parenz noch weiter befördern. Denn was kommt bei denBürgern und in der Gesellschaft für eine Botschaft an,wenn sich der Deutsche Bundestag fortwährend mit derFrage auseinandersetzt, wie man die Wissenschaft undForschung von wissenschaftlichem Fehlverhalten be-freien kann, das es – laut Antrag der Grünen – ja nur inwenigen Einzelfällen gibt? Der Antrag ist keine Aus-nahme, sondern reiht sich ein in eine Vielzahl vonSchaufensteranträgen zum angeblichen Schutze derWissenschaft. Anträge von Grünen und Linken könnenmittlerweile mit demselben Wortlaut aus vorangegange-nen Reden abgelehnt werden.Für uns Liberale ist die Unabhängigkeit der Wissen-schaft – im Gegensatz zum Verständnis der Grünen –eine selbst auferlegte Verpflichtung eines jeden Wissen-schaftlers. Es gehört zur Aufgabe des Wissenschaftlers,Verantwortung zu übernehmen und die Überparteilich-keit seiner Forschung zu sichern. Das unterstreicht auchdie Resolution des Deutschen Hochschulverbandes„Zur Unparteilichkeit von Wissenschaft“. Jene Resolu-tion, die von den Grünen ins Feld geführt wird, um staat-lich verordnete Transparenz und Regeln zu fordern, sagtmit keinem einzigen Wort, dass der Staat Regeln schaf-fen muss. Vielmehr verpflichtet die Initiative des Deut-schen Hochschulverbandes jeden Forschenden und dieWissenschaft insgesamt, aus sich heraus die Drittmittel-projekte und ihre Auftraggeber offenzulegen. Wir Libe-rale begrüßen deshalb jene Initiative des DeutschenHochschulverbandes, lehnen aber die falschen Schluss-folgerungen der Grünen ab, die Offenlegung von Dritt-mittelprojekten und ihren Auftraggebern vorzuschrei-ben. Denn für uns Liberale sind autonome Hochschulenkein pauschales Schlagwort, sondern in ihrer Selbst-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24469
Dr. Martin Neumann
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ständigkeit und Eigenverantwortung ernst zu nehmendeInstitutionen.Ein weiterer Kritikpunkt an dem Antrag ist die Wider-sprüchlichkeit in der Zielsetzung des Antrags. Dem Titelnach soll Transparenz lediglich in der öffentlich finan-zierten Wissenschaft hergestellt werden. In der Begrün-dung des Antrags aber zeigt sich bereits, dass es denGrünen auch um die privaten Drittmittelgeber geht. Inden Forderungen wird deutlich, dass die Wissenschaft-ler ebenso dazu verpflichtet werden sollen, die privatenAuftraggeber und ihre Absichten offenzulegen. Konkretsoll nach Auffassung der Grünen nicht nur die Identitätdes Auftraggebers, sondern auch der Förderumfang öf-fentlich gemacht werden; Ausnahmen müssen dann be-gründet werden.Wohlgemerkt, alles geht von der einleitenden Fest-stellung aus, dass es „vereinzeltes Fehlverhalten“ in dersonst „integren Wissenschaft“ gibt. Mit dem Antragwird deutlich, welch Geisteskind die Grünen sind: Miss-trauen gegenüber den privaten Forschungsauftragge-bern besteht ebenso wie gegenüber den Wissenschafts-einrichtungen und den Forschenden. Die Grünen sind inWahrheit nicht an der Unabhängigkeit der Wissenschaftinteressiert. Das Lieblingswort der Grünen drückt es be-reits aus. „Transparenz“ steht für Konformität. Durchdie völlige Entkleidung des Wissenschaftlers und derEinrichtungen wird Konformitätsdruck ausgeübt. Derje-nige wird an den öffentlichen Pranger gestellt, der For-schungsaufträge und Themen von Dritten annimmt, dienicht in das zivilgesellschaftliche Bild der Grünen pas-sen. Das beste Beispiel ist die Gentechnik und Genom-forschung an Hochschulen und außeruniversitären For-schungseinrichtungen. Es gibt zahlreiche Beispiele, indenen Wissenschaftler bedrängt und Forschungspro-jekte eingestellt werden mussten, weil Aktivisten gegendie Forschung zur Gentechnik vorgegangen sind. Dabeiwar es auch egal, dass es im überwiegenden Teil derProjekte nur um die Sicherheitsforschung ging.Deutlich wird die Entmündigung des Wissenschaft-lers in der letzten Forderung im Antrag von den Grünen.Dem Ansinnen nach soll die Hochschulrektorenkonfe-renz allgemeine Standards für die Nebentätigkeit deswissenschaftlichen Personals entwickeln. Gleich ange-fügt wird auch, in welche Richtung die Standards gehensollen. So soll festgeschrieben werden, welche Art undwelcher Umfang an Nebentätigkeiten gewollt sind undab wann ein Interessenkonflikt vorliegt. Dass aber einInteressenkonflikt eine rein subjektive, eine persönlicheEntscheidung ist, widerspricht dem ganzen Ansinnender Grünen.Wir Liberale nehmen den Wissenschaftler ernst.Transparenz muss von den Wissenschaftlern und derWissenschaft gewollt und aus sich selbst heraus voran-getrieben werden. Der Staat kann diesen Prozess beglei-ten, jedoch nicht vorzeichnen. Der Antrag von Bünd-nis 90/Die Grünen wird dem Anspruch an Wissen-schaftsfreiheit und Unabhängigkeit der Wissenschaft inkeinster Weise gerecht und wird aus diesem Grund abge-lehnt.
Wenn das Thema Transparenz auf der Tagesordnungsteht, ist offensichtlich mehr Durchblick vonnöten. Dasist der Fall aktuell bei Nebeneinkünften von Abgeordne-ten, die aus meiner Sicht vollständig offengelegt werdenmüssen. In der Forschungspolitik brauchen wir in jedemFall mehr Durchblick im Dschungel der öffentlichenForschungsförderung. Jedes Bundesministerium, jedesBundesland und jede Wissenschaftseinrichtung habeneigene Vorstellungen davon, wie sie die Öffentlichkeitüber ihre geförderten oder durchgeführten Forschungs-projekte informieren. Wir Parlamentarier, zivilgesell-schaftliche Interessengruppen, an den Ergebnissen inte-ressierte Unternehmen, öffentliche Verwaltungen undBürgerinnen und Bürger brauchen aber einen Überblickdarüber, wozu schwerpunktmäßig geforscht wird, werdas mit welchen Einflussmöglichkeiten bezahlt und woblinde Flecken der Forschungslandschaft liegen.Es geht vor allem darum, den Durchblick bei den In-teressen, die leitend für Forschungsfragen sind, zu be-halten. Denn Kooperationen mit Unternehmen oderRegierungsstellen können zwar wissenschaftlich be-fruchtend sein, innovative Methoden erschaffen und diePraxistauglichkeit der Projekte steigern. Gerade bei derangewandten Forschung und Entwicklung versuchenKooperationspartner aber nicht selten, besonderen Ein-fluss auf Projektdesign oder Ergebnisverwertung gegen-über der Wissenschaft geltend zu machen. Immerhinstammt heute bereits ein knappes Drittel aller Drittmit-tel an deutschen Hochschulen von gewerblich tätigenUnternehmen oder Stiftungen. Und das schränkt nichtnur die Souveränität der Öffentlichkeit beim Umgangmit Forschungsergebnissen ein, sondern schränkt auchdie Autonomie der Forschenden ein.Deshalb ist der offene Umgang mit Vorfällen so wich-tig wie der nur zufällig publik gewordenen Finanzierungvon Stiftungsprofessuren an Berliner Universitätendurch die Deutsche Bank, die dafür Vetorechte bei Per-sonalbesetzung und der Veröffentlichung von For-schungsergebnissen erhielt. Damit das eine Ausnahmebleibt, braucht es für Entscheidungen über Kooperatio-nen verbindliche Kriterien einer guten Praxis, die in de-mokratischen Verfahren an den Einrichtungen überprüftwerden. Wie ein solcher Kriterienkodex zustande kom-men kann – dazu hat die Linke im Mai einen Antrag imBundestag vorgelegt. Die Grünen schlagen heute zudemgesetzliche Regelungen für eine einheitliche Veröffentli-chungspraxis der Wissenschaftseinrichtungen über ihreProjekte, Fördersummen und Projektpartner vor. Auchdas unterstützen wir ausdrücklich.Ich freue mich, dass inzwischen die Presse diesesThema regelmäßig in ihre Berichterstattung aufnimmtund dass mit dem Antrag der Grünen schon die zweiteparlamentarische Initiative dazu eingereicht wird. Auchder Anfang einer akademischen Debatte ist gemacht. ImAugust dieses Jahres hat der Verein für Socialpolitik, diegrößte Vereinigung von Wirtschaftswissenschaftlern inDeutschland, einen Ethikkodex verabschiedet. Darinverpflichten sich die Mitglieder, in ihren Gutachten undPublikationen „alle in Anspruch genommenen Finanzie-rungsquellen, Infrastruktureinrichtungen und sonstigenZu Protokoll gegebene Reden
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Dr. Petra Sitte
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externen Unterstützungen anzugeben“ sowie kenntlichzu machen, wenn diese „ nicht ohne vorherige Einwilli-gung Dritter veröffentlicht werden“. Eingesetzte Ver-trauensleute und eine Ethikkommission sollen über dieUmsetzung wachen.Ich bin optimistisch, dass weitere Fachgesellschaftendiesem Beispiel folgen werden.
Wir treten in unserem Antrag dafür ein, dass Transpa-renz als Grundprinzip im öffentlich finanzierten Wissen-schaftsbereich verbindlich verankert wird. Hier ist auchdie Politik gefragt, im Rahmen ihrer Möglichkeiten dazubeizutragen, dieses Grundprinzip durchzusetzen –davon profitieren nicht nur die Bürgerinnen und Bürgerund die interessierte Öffentlichkeit. Mehr Transparenzbei der öffentlich finanzierten Forschungsförderung un-terstützt auch die wissenschaftliche Arbeit, so zum Bei-spiel durch die verbesserte Weiternutzung von Ergebnis-sen, und erhöht die Sichtbarkeit und Legitimation vonWissenschaft.Im Kern geht es uns in unserem Antrag um zwei The-men: Erstens, das prinzipielle Recht der Bürgerinnenund Bürger, zu erfahren, welche Forschenden und wel-che Projekte mit welchen veröffentlichten Ergebnissendurch öffentliche Mittel finanziert werden. Zweitens gehtes um die Transparenz, die nötig ist, um unangemesse-nen Einflussnahmen und Interessenkonflikten im Bereichöffentlich finanzierter Forschung vorzubeugen bezie-hungsweise diese überhaupt erst einer kritischen Bewer-tung und Beurteilung zugänglich zu machen. Ziel ist es,am Ende die Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit vonWissenschaft insgesamt zu stärken.Das Recht der Bürgerinnen und Bürger auf nachvoll-ziehbare Informationen über die Verwendung öffentli-cher Forschungsmittel muss nicht mehr näher begründetwerden. Verbesserungswürdig ist allerdings die Umset-zung dieses Prinzips. Die Enquete-Kommission „Inter-net und digitale Gesellschaft“ hat in diesem Sommereinstimmig eine Handlungsempfehlung verabschiedet,die eine für Bürgerinnen und Bürger verständliche Da-tenbank fordert. Wir haben die Umsetzung dieser Emp-fehlung bei den aktuellen Haushaltsberatungen einge-fordert. Auch die Regierungskoalitionen sollten daraufachten, dass die Bundesregierung hier tätig wird. Lautder Empfehlung soll die Datenbank – ähnlich der Da-tenbank GEPRIS der DFG – die wesentlichen Informa-tionen zu öffentlich geförderten Forschungs- und Ent-wicklungsvorhaben enthalten und die Zuwendungöffentlicher Mittel für Forschungsprojekte generell andie verpflichtende Bedingung geknüpft werden, seitensder Mittelempfängerinnen und -empfänger in frei zu-gänglichen, möglichst zentralen sowie untereinandervernetzten Datenbanken das jeweilige Forschungspro-jekt, dessen Ziele und wesentliche Resultate, einschließ-lich der nach dem Open-Access-Prinzip veröffentlichtenForschungsergebnisse und -daten, in allgemeinver-ständlicher Form darzulegen. Darüber hinaus soll überden Umfang und die Dauer der öffentlichen FörderungAuskunft gegeben werden. Hierbei sollten auch die be-teiligten Kooperationspartnerinnen und -partner er-wähnt werden. Die Ressortforschung ist sinnvollerweisedabei umfassend einzubeziehen.Bei unserer Forderung nach mehr Transparenz imInteresse der Glaubwürdigkeit und der Unabhängigkeitvon Wissenschaft und Forschung geht es nicht um einMisstrauen gegenüber der Wissenschaft. Es geht da-rum – angesichts des hohen Ansehens, das die Wissen-schaft in unserer Gesellschaft genießt, eine Beschädi-gung der Wissenschaft durch Einzelne abzuwenden.In letzter Zeit wurden in der Öffentlichkeit verschie-dene Fälle von wissenschaftlichem Fehlverhalten, zumBeispiel im Rahmen von Kooperationen und Nebentätig-keiten, sowie gravierende Verstöße gegen Transparenzund wissenschaftliche Unabhängigkeit kritisch disku-tiert. Es ist im Interesse der gesamten Wissenschaft ge-gen solche Fälle entschieden vorzugehen, denn dieGlaubwürdigkeit von wissenschaftlichen Erkenntnissenlässt sich nicht von der Glaubwürdigkeit und der Inte-grität der Forschenden und ihren Einrichtungen tren-nen. Zweifel an der Integrität von Forschenden und ih-ren Einrichtungen führt berechtigterweise zu Zweifelnan der Qualität bestimmter wissenschaftlicher Ergeb-nisse und unterminiert das Vertrauen in Forschung undWissenschaft jenseits der kritischen Überprüfung undHinterfragung, der wissenschaftliche Arbeit ohnehinstets unterliegen muss.Natürlich operieren Wissenschaft und Forschungnicht im luftleeren Raum. Wissenschaftler und Wissen-schaftlerinnen sind sowohl auf öffentliche oder privateMittel als auch in vielfältiger Weise auf Kooperationenmit Dritten angewiesen. Dagegen ist auch nichts einzu-wenden. Im Gegenteil: Diese Kooperationen sind in derRegel außerordentlich produktiv für alle Beteiligten. Siefördern den gesamtgesellschaftlich produktiven Wissens-und Technologietransfer. Ob dabei die Unabhängigkeitvon Wissenschaft und Forschung tangiert wird und ob eszu Interessenkonflikten kommt, das ist keine objektivmessbare Größe. Die Gesellschaft muss aber die Mög-lichkeit haben, sich davon ein Bild zu machen. Hierfürbedarf es der Transparenz über Kooperationsbeziehun-gen im Wissenschaftsbereich. Diese muss natürlichgrundlegende Rechte wie Geschäfts- und Betriebs-geheimnisse sowie datenschutzrechtliche Regelungenberücksichtigen. Unser Ansatz zielt vor diesem Hinter-grund ausschließlich auf die verbindliche Veröffentli-chung wesentlicher Daten, das heißt Daten zu Laufzeit,Umfang, beteiligten Institutionen und Personen. Wer öf-fentliche Mittel bezieht, sollte offenlegen, mit wem er ko-operiert und von wem er seine Mittel erhält. Deshalbmuss die Veröffentlichung auch die Drittmittelforschungbetreffen. Der genaue Gegenstand der Kooperation istSache der Vertragsparteien und soll dies auch bleiben.Flankiert werden soll diese Offenlegung durch dieEntwicklung von – durch wissenschaftliche Akteureselbst erarbeitete – Codes of Conduct für verschiedeneKooperationsformen. Solche Codes können von vorn-herein unterstützen, dass Kooperationen auf Augenhöheund fair stattfinden. Die verschiedenen zuständigenWissenschaftsorganisationen sollten entsprechende ver-bindliche Handlungsrahmen für Kooperationen erarbei-ten und diese öffentlich kommunizieren. Die potenziellenZu Protokoll gegebene Reden
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Krista Sager
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Kooperationspartner sollten sich in Zukunft zur Einhal-tung entsprechender Regeln verpflichten.Neben dem Thema Kooperationen kommt es jedochauch darauf an, die Glaubwürdigkeit im Wissenschafts-bereich durch weitere Maßnahmen für mehr Transpa-renz zu stärken und zum Beispiel unberechtigte Vorwürfezu entkräften. Hierzu zählt die Offenlegung von mögli-chen Interessenkonflikten bei Publikationen: Entspre-chend dem Singapore Statement on Research Integrityvon 2010 sollen wissenschaftliche Autorinnen und Auto-ren bei Publikationen verbindlich die Finanzierung bzw.Unterstützung ihrer Forschung und möglicherweise be-stehende Interessenkonflikte offenlegen und diese Infor-mationen zusammen mit der jeweiligen Publikation ver-öffentlichen. Einige wissenschaftliche Zeitschriftenweisen hier bereits heute den richtigen Weg.Transparenzanforderungen müssen auch an die Ne-bentätigkeiten des hauptberuflichen wissenschaftlichenPersonals gestellt werden. Deshalb sollen Bund undLänder in Kooperation mit den Wissenschaftsorganisa-tionen einheitliche Regelungen mit dem Ziel erarbeiten,dass anzeigen- und genehmigungspflichtige Nebentätig-keiten von Hochschulprofessorinnen und -professorenan öffentlich geförderten Hochschulen veröffentlichtwerden. Entsprechende Regelungen sollen auch für dasleitende wissenschaftliche Personal an den außeruni-versitären Forschungseinrichtungen entwickelt werden.Nebentätigkeiten dürfen der Integrität und Glaub-würdigkeit von Wissenschaft nicht entgegenstehen. Des-halb wollen wir die Hochschulrektorenkonferenz darumbitten, allgemeine Standards für die Nebentätigkeit deshauptberuflichen wissenschaftlichen Personals an öf-fentlich finanzierten Hochschulen zu entwickeln. Fürdas hauptberuflich tätige wissenschaftliche Personal anaußeruniversitären Forschungseinrichtungen sollte Ent-sprechendes von der Allianz der deutschen Wissen-schaftsorganisationen erbeten werden.Mehr Transparenz im Wissenschaftsbereich stärkt dieGlaubwürdigkeit und Integrität und trägt dazu bei, dassnicht eine kleine Gruppe schwarzer Schafe am Ende einZerrbild in der Öffentlichkeit produzieren kann.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/11029 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Es gibt keine an-
derweitigen Vorschläge. Dann ist das so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 41:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 17. No-
vember 2011 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und dem Fürstentum Liechten-
stein zur Vermeidung der Doppelbesteuerung
und der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der
Steuern vom Einkommen und vom Vermögen
– Drucksache 17/10753 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses
– Drucksache 17/11104 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Kolbe
Dr. Volker Wissing
Dr. Thomas Gambke
Wie ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll
genommen.
Dem Deutschen Bundestag liegt heute ein Gesetzent-wurf zur Ratifikation eines neuen Doppelbesteuerungs-abkommens mit dem Fürstentum Liechtenstein vor.Grundsätzlich dienen Doppelbesteuerungsabkommendazu, die doppelte Besteuerung in den Vertragsstaatenfür Unternehmen und Privatpersonen zu vermeiden.Damit können die internationale wirtschaftliche Zusam-menarbeit verbessert und Investitionshemmnisse auf-grund einer doppelten Steuerlast abgebaut werden.Deutschland ist Liechtensteins wichtigster Export-markt. Die liechtensteinische Industrie trägt circa40 Prozent zum gesamten Bruttosozialprodukt desFürstentums bei. Jeder zweite Arbeitnehmer in Liech-tenstein ist ein Einpendler aus Österreich, der Schweizoder Deutschland. Liechtensteins Unternehmen habenüber 5 000 Arbeitsplätze in Deutschland geschaffen –das bekannteste unter ihnen ist sicherlich der Werkzeug-maschinenhersteller Hilti.Liechtenstein hat in den letzten Jahren in seinernationalen und internationalen Steuerpolitik und Steuer-kooperationspolitik einen umfassenden Reformprozesseingeleitet und umgesetzt. Das am 1. Januar 2011 inKraft getretene neue liechtensteinische Steuergesetz er-füllt die europarechtlichen Standards uneingeschränktund ist auch international kompatibel und anerkannt.Dieses kann damit als nationale Basis für den Abschlussvon bilateralen Doppelbesteuerungsabkommen angese-hen werden. Es entspricht insbesondere den europa-rechtlichen Bestimmungen über das Verbot staatlicherBeihilfen, welche auch für Liechtenstein aufgrund desAbkommens zur Errichtung eines Europäischen Wirt-schaftsraums, EWR-Abkommen, verbindlich sind. Diezuständige europäische Überwachungsbehörde hat dieEuroparechtskonformität des liechtensteinischen Steu-errechts ausdrücklich in einer entsprechenden Entschei-dung bestätigt.Weiterhin hat sich das Fürstentum mit der Liechten-stein-Erklärung vom 12. März 2009 zur Umsetzung desgeltenden internationalen OECD-Standards zur Trans-parenz und zum Informationsaustausch in Steuersachenverpflichtet. Die seither mit derzeit 25 Partnern unter-zeichneten und größtenteils in Kraft getretenen Abkom-men folgen vollumfänglich diesem Standard. Liechten-stein ist bestrebt, sein Netzwerk an Steuerabkommenstetig auszuweiten, hat bereits mit weiteren PartnernAbkommen abgeschlossen und steht in Verhandlungenmit einer Reihe weiterer Staaten innerhalb und außer-
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Manfred Kolbe
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halb Europas. Gleichzeitig hat sich Liechtenstein bereiterklärt, umfassende Regelungen zur Regularisierungund zur Sicherstellung der legitimen Steueransprücheanderer Staaten in der Vergangenheit und für dieZukunft zu entwickeln und abzuschließen. Liechtensteinerfüllt die OECD-Standards zur Steuerkooperation. Dieshat das Global Forum on Transparency and Exchangeof Information for Tax Purposes, GFTEI, in seinemPeer-Review-Verfahren bestätigt.Sie sehen also, dass Liechtenstein viel unternommenhat, und das hat es auch in dem Fachgespräch im Deut-schen Bundestag glaubwürdig dargelegt. Wir solltendeshalb von den Klischees der Vergangenheit Abstandnehmen.Mit der Ausgestaltung des DBA wollen Deutschlandund Liechtenstein die bestehenden Wirtschaftsbeziehun-gen stärken und die direkten Wirtschaftsbeziehungenzum beiderseitigen Vorteil ausbauen. Damit wird auchder Verbundenheit in einem gemeinsamen europäischenRegulierungsrahmen und der Förderung des europäi-schen Binnenmarktes Rechnung getragen. Liechtensteinist aufgrund des EWR-Abkommens wie Deutschland Teildes EU-Binnenmarktes.Das DBA entspricht den Standards der OECD undträgt zugleich den Bedürfnissen und Wünschen beiderVertragsstaaten umfassend und innovativ Rechnung. InArt. 10 wurde für das Besteuerungsrecht des Quellen-staates bei Dividenden ein Nullsatz vereinbart. ImZusammenhang mit grenzüberschreitenden Dividenden,Zinsen, Lizenzen und Veräußerungsgewinnen ist dieReduktion des Quellensteuersatzes an bestimmteVoraussetzungen geknüpft. So ist bei Schachteldividen-den die Quellensteuerreduktion auf 0 Prozent an eineMindestbeteiligung in Höhe von 10 Prozent und an eineMindesthaltedauer in Höhe von zwölf Monaten gekop-pelt. Dies entspricht der Regelung im Abkommen zwi-schen Deutschland und der Schweiz und vermeidet dieunangemessene Inanspruchnahme und den Missbrauchderartiger Quellensteuerreduktionen. Nur wer an lang-fristigen und stetigen Investitionen interessiert ist, demwird eine Quellensteuerfreiheit gewährt.Das Abkommen zwischen Deutschland und Liechten-stein enthält besondere Aktivitäts- und Substanz-erfordernisse zur Vermeidung von Missbrauchs-konstellationen sowie von abkommensrechtlichenWettbewerbsnachteilen für aktiv tätige Wirtschaftsunter-nehmen, die sogenannte Realwirtschaftsklausel, dieerstmals in dieser Form so vereinbart wurde. Hierdurchwird die Entwicklung der bilateralen Wirtschaftsbezie-hungen, nicht aber in Form von funktions- und substanz-schwachen Unternehmen, gefördert.Art. 31 des DBA schränkt die Anwendung der Abkom-mensvergünstigungen, insbesondere Quellensteuerre-duktionen, in bestimmten Fällen ein. Grundsätzlich gehtes darum, sicherzustellen, dass nur tatsächlich in einemStaat ansässige Personen die Abkommensvorteile nutzenkönnen.Ferner sind zur Vermeidung „ungerechtfertigterSteuervorteile“ Strukturen, welche nur der liechtenstei-nischen Mindestertragsteuer unterliegen, nicht abkom-mensberechtigt, sogenannte Privatvermögensstruktu-ren. Der Gründung von Scheinfirmen oder anderen„Konstruktionen“ zur Erlangung von steuerrechtlichenVorteilen wird damit ein Riegel vorgeschoben.Mit dem Abkommen zwischen Deutschland undLiechtenstein wird nicht nur der gegenseitige Austauschvon Steuerinformationen nach Art. 26 OECD-Muster-abkommen vereinbart, welche im anwendbaren TIEAbereits verwirklicht ist, sondern auch Amtshilfe bei derSteuererhebung, sogenannte Beitreibung von Steuer-forderungen, vorgesehen. Diese Bestimmungen sind imaktuellen OECD-Musterabkommen enthalten, werdenaber in Europa und weltweit erst in wenigen bilateralenDBA verwendet. Als weiteres, neues Element wird Amts-hilfe bei der Zustellung von Steuerforderungen und Steu-erbescheiden vereinbart. Demnach enthält das Abkom-men zusätzlich zum existierenden TIEA eine umfassendeInformationsklausel, die sämtliche Steuerarten umfasst.Nicht zuletzt ist ein verbindliches Schiedsverfahrenvorgesehen, sofern mithilfe eines Verständigungsverfah-rens keine Lösung erzielt werden kann.Das Fürstentum Liechtenstein hat sich in den letztenJahrzehnten zu einem wichtigen Handelspartner derBundesrepublik Deutschland entwickelt. Wir möchten diewirtschaftliche Zusammenarbeit der beiden Länder stär-ken und verabschieden deshalb heute Doppelbesteue-rungsabkommen.
Wir beraten heute in abschließender Lesung über einGesetz, mit dem das zwischen Liechtenstein undDeutschland ausgehandelte Abkommen über die Vermei-dung der Doppelbesteuerung und der Steuerverkürzungauf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vomVermögen umgesetzt wird. Die SPD-Fraktion stimmtdem Gesetzentwurf zu, auch wenn einige Regelungenenthalten sind, die wir uns anders gewünscht hätten. Ichdenke dabei an die Ausgestaltung der Quellenbesteue-rung von Dividenden aus Schachtelbeteiligungen, anRegelungen zum steuerlichen Informationsaustauschund zur Vermeidung grenzüberschreitender Steuerge-staltungen. Mit Blick auf die Vielzahl von Briefkastenfir-men und intransparenten Rechtskonstruktionen, mit de-nen sich Vermögen und Einkünfte am deutschen Fiskusvorbeischleusen ließen und die zum bislang schlechtenRuf Liechtensteins als Steuer- und Verdunkelungsoasebeigetragen haben, ist es bedauerlich, dass die Bundes-regierung in den Verhandlungen mit Liechtenstein keineLösung für diese unversteuerten Altvermögen angestrebthat. Die von Liechtenstein angekündigte und begrüßens-werte sogenannte Weißgeldstrategie wäre noch deutlichglaubwürdiger, wenn wir auch eine Lösung für die Er-fassung und Besteuerung bislang nicht erfasster Altfällehätten. Dabei denke ich nicht allein an Liechtenstein.Das ist wie bei der Schwarzarbeit: Zu jedem Schwarz-arbeiter gehört ein Schwarzarbeitgeber. Wollen wir danur einer Seite die ganze Schuld geben?Wenn man sich die Art und Weise und das schlechteErgebnis der Verhandlungen über die „Regularisierung“Zu Protokoll gegebene Reden
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Lothar Binding
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bislang unversteuerter Altvermögen anschaut, die Finanz-minister Schäuble im ähnlich gelagerten Fall derSchweiz erreicht hat, habe ich wenig Hoffnung, dass wirhier in absehbarer Zeit zu einer guten Regelung mitLiechtenstein kommen. Wir werden damit wohl auch inZukunft große Schwierigkeiten haben, Erkenntnisseüber rechtswidrig nach Liechtenstein verbrachtes Ver-mögen, daraus entstehende Vermögenspositionen undErträge oder über intransparente Rechtskonstruktionenohne steuerlich identifizierbare Begünstigte zu gewinnen,bei denen der Treuhänder – Trustee – im Ausschüttungs-bzw. Fälligkeitszeitpunkt über ein „Entscheidungsrecht“bei der Zuweisung der Erträge an Begünstigte verfügt.Wenn wir dem Abkommen mit Liechtenstein trotz die-ser Mängel zustimmen, liegt dies an den Fortschrittenbei der Weiterentwicklung eines internationalen Abkom-mensnetzes, das unsere Besteuerungsrechte gegenüberanderen Staaten wirksamer als in einem abkommens-losen Zustand abgrenzt und schützt und unsere Kennt-nisse über Einkünfte deutscher Steuerpflichtiger aus die-sen Staaten verbessert. Langfristig streben wir eineÄnderung des OECD-Musterabkommens an, um den au-tomatischen Informationsaustausch automatisch in al-len Vereinbarungen zu implementieren und seine Akzep-tanz zu erhöhen.Bislang hatten wir kein Doppelbesteuerungsabkom-men mit Liechtenstein; der Vertrag beendet also einenabkommenslosen Zustand mit einem Staat, der von derOrganisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung, OECD, bislang auf der Liste der Steuer-und Regulierungsoasen geführt worden war. Die damitverbundene Verbesserung der Wirtschaftsbeziehungenzwischen Liechtenstein und Deutschland und die Fort-schritte bei der Bekämpfung von Steuerhinterziehungsind nicht denkbar ohne die Vorarbeiten von PeerSteinbrück, der sich in seiner Zeit als Bundesfinanz-minister für die Umsetzung der OECD-Standards fürTransparenz und effektiven Informationsaustausch insteuerlichen Angelegenheiten eingesetzt hat. Das neueAbkommen führt zu einem wirksameren Schutz unsererlegitimen Besteuerungsansprüche und ermöglicht – überdie Regelung im deutsch-liechtensteinischen Steuer-informationsaustauschabkommen hinaus – auch einenfreiwilligen spontanen und automatischen Informations-austausch; zumindest dies, wenn schon unsere bevorzugteLösung eines obligatorischen Informationsaustauschsüber alle Steuerarten hinweg mit der Möglichkeit zuGruppenanfragen nicht erreichbar war.Das Abkommen übernimmt die neuen Grundsätze derBetriebsstättenbesteuerung gemäß OECD-Musterab-kommen, die Betriebsstätten wie selbstständige Unter-nehmenseinheiten behandelt, Art. 7, und damit die formaleVoraussetzung für die Anwendung des Fremdvergleichs-grundsatzes für die Verrechnungspreislegung konzern-interner Transaktionen schafft.Die Quellenbesteuerung zwischengesellschaftlicherDividenden lehnt sich an die entsprechenden Regelun-gen im deutsch-schweizerischen Abkommen an. Damitgilt ein Steuersatz von 0 Prozent, wenn der Nutzungsbe-rechtigte eine Gesellschaft ist, die über einen Zeitraumvon wenigstens zwölf Monaten einen Anteil von mindes-tens 10 Prozent an dem ausschüttenden Unternehmenhält. Die Koalitionsfraktionen verteidigen diese Lösungund verweisen auf die Schutzklauseln in Art. 31 des Ab-kommens, die sogenannte Aktivitäts- und Substanzerfor-dernisse definieren, um die ungerechtfertigte Inan-spruchnahme von Abkommensvorteilen zu vermeidenund deutsche Besteuerungsinteressen zu wahren. Im Zu-sammenwirken mit der Freistellungsmethode, die eineDoppelbesteuerung vermeiden soll, unterliegen dieseEinkünfte in Deutschland nicht mehr der Besteuerung.Diese Freistellung gilt allerdings nur für Einkünfte ausaktiver Tätigkeit, um eine Verlagerung von Steuersub-strat durch Verwaltungsgesellschaften ins Ausland zuvermeiden, und unter Anwendung des Progressionsvor-behalts; die in Deutschland von der Besteuerung freige-stellten Einkünfte aus Liechtenstein werden dann bei derErmittlung der steuerlichen Belastung des übrigen Ein-kommens fiktiv hinzugerechnet, es kommt zu einer Ver-breiterung der Bemessungsgrundlage und einer höherendurchschnittlichen Steuerbelastung der in Deutschlandzu versteuernden Einkommen.Die Bundesregierung begründet ihre Verhandlungs-position der Freistellung im Allgemeinen damit, dass fürUnternehmen, die Einkünfte im Ausland erzielen, diegleichen steuerlichen Rahmenbedingungen wie für ihreKonkurrenz gelten sollen. Dieses Argument hat mit Blickauf die starke internationale Wettbewerbssituation deut-scher Unternehmen zwar seine Berechtigung; die SPD-Fraktion spricht sich allerdings im Grundsatz – und mitRücksicht auf den konkreten Einzelfall – für die Anrech-nungsmethode aus, um die Besteuerungsrechte desStaates zu erhalten und keine Schlupflöcher für Gestal-tungen zulasten der öffentlichen Haushalte zu öffnen.Die im Abkommen vereinbarte Switch-over-Klausel, diees Deutschland erlaubt, im Fall des Missbrauchs derFreistellungsmethode einseitig auf die Anrechnungsme-thode umzuschalten, kann den strukturellen Unterschiedzwischen Freistellung- und Anrechnungsmethode nichtvollständig „kompensieren“, da eine solche Entschei-dung auf spezielle Fälle beschränkt ist und keine allge-meine, grundsätzliche Lösung darstellt.Es geht uns nicht um eine konfiskatorische Besteue-rung von Einkünften, die aus Ausschüttungen bei ver-bundenen Unternehmen mit grenzüberschreitenden Be-teiligungen entstehen. Angesichts der Tatsache, dass dievon der Bundesregierung verhandelten Doppelbesteue-rungsabkommen der letzten Zeit einen immer weiter sin-kenden Steuersatz vorsehen und im aktuellen Abkommensogar eine Nullbesteuerung vereinbart wurde, würde essich für Deutschland mit seinem weitverzweigten Netzan Doppelbesteuerungsabkommen allerdings lohnen,über einen höheren Steuersatz nachzudenken, auch umals Vorbild für eine internationale Trendumkehrung zudienen.Die zur Anhörung des Finanzausschusses eingela-denen Sachverständigen aus Deutschland und Liech-tenstein bewerteten das Abkommen mit Blick auf dieUnterbindung von Steuerhinterziehung und Gestaltungs-
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24474 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24475
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– zu dem Antrag der Abgeordneten Edelgard
der SPDMyanmar auf dem Weg zur Demokratie be-gleiten und unterstützen– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. FrithjofSchmidt, Ute Koczy, Dr. Thomas Gambke,weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENMyanmar – Den demokratischen Wandelunterstützen– Drucksachen 17/9727, 17/9739, 17/10903 –Berichterstattung:Abgeordnete Jürgen KlimkeEdelgard BulmahnPatrick Kurth Stefan LiebichDr. Frithjof SchmidtWie ausgewiesen, werden die Reden zu Protokollgenommen.
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24476 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
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Der Deutsche Bundestag diskutiert in diesem Jahrbereits zum vierten Mal über die vielen positiven Ent-wicklungsschritte des südostasiatischen Landes. Dieszeigt, dass wir derzeit in Echtzeit miterleben, wie sichein Land mithilfe von ehemaligen Diktatoren zu einerDemokratie wandelt.Allen Unkenrufen zum Trotz geht es Monat für Monatweiter voran, und selbst in den zwei Monaten nach derletzten Debatte im Bundestag haben wir wieder beacht-liche Schritte im Rahmen der Verbesserung von Men-schenrechten bei Wirtschaftsreformen und in der außen-politischen Orientierung erlebt.Beachtlich, denn diese Entwicklungen strafen geradedie Kritiker hier aus dem Bundestag Lügen, die immernoch anhaltend misstrauisch sind. Natürlich sind es dieGrünen.Sie sind misstrauisch, weil eben nicht oberlehrerhaftewestliche Sanktionen zur Demokratie geführt haben.Diese ewig misstrauischen Grünen müssen endlich ler-nen, dass die von ihnen über Jahrzehnte gefordertenSanktionen in Myanmar nachweislich nichts gebrachthaben. Vertrauen Sie endlich auf die heilende Kraft derFreiheit und nicht auf ihren kleinkarierten Demokratie-dirigismus als Grundpfeiler Ihrer Außenpolitik.Die Regierungsfraktionen jedenfalls unterstützenweiter die höchst erfreulichen Entwicklungen in Myan-mar und halten sich nicht mit dauernden ermüdendenErmahnungen auf.Besonders erfreulich ist derzeit für mich, wie aktiv diedeutschen Stiftungen den politischen Frühling nutzen,um wieder in Myanmar umfangreich aktiv zu sein. DieBöll-Stiftung im Bereich der Kultur, die Adenauer-Stif-tung im Rahmen des Demokratieaufbaus, natürlich ausguter Tradition die Ebert-Stiftung in allen politischenBereichen und neuerdings auch stark die Freiheitsstif-tung, die einen wichtigen politischen Besuch vonseitenMyanmars in letzter Zeit organisiert hat.Auf Einladung der Friedrich-Naumann-Stiftung hateine Delegation des Industrieministeriums sowie derHandelskammer von Myanmar Deutschland besucht.Die Reise fand im Rahmen einer Kooperation der Stif-tung mit dem Industrieministerium statt, durch die kleineund mittlere Unternehmen – KMU – in Myanmar geför-dert werden. Ein wichtiger Beitrag, um die gemeinsa-men Wirtschaftsbeziehungen wieder neu zu starten.Die Delegation wollte sich in Hamburg und Berlinein Bild von Deutschlands Mittelstandsförderung ma-chen. Wichtig, denn aufgrund der politischen und wirt-schaftlichen Reformen in Myanmar stehen die Menschenan einem Neuanfang mit großen Herausforderungen.Kleine und mittlere Unternehmen müssen dort zukünftigwichtige Rollen einnehmen. Sie müssen zum Auf-schwung beitragen und ihn stabilisieren. Welches Land,wenn nicht Deutschland, kann in diesem Bereich weiter-helfen?Ganz besonders freut mich, dass auch im Bereich desfür Myanmar wichtigen Finanzsektors die schwierigenReformen angegangen werden. So hat Myanmar jüngsteine staatliche Bank in eine KMU-Bank umgewandelt,die bald Kredite an Kleinunternehmer vergeben soll.Daran beteiligt ist auch der Dachverband der Handels-kammern in Myanmar – UMFCCI –, dessen General-sekretärin Khine Khine Nwe als Mitglied der eben be-nannten Delegation nach Deutschland reiste. DieDelegation traf zudem in einer erweiterten Sitzung mitdem Regionalarbeitskreis Asien der HandelskammerHamburg und dem Ostasiatischen Verein.Ich bin fest davon überzeugt, dass die Regierung unddas Parlament in Myanmar mittelfristig weiter voran-kommen. Hierzu hat die Unionsfraktion Ideen, die wirgemeinsam mit unseren Gesprächspartnern in Myanmarvorantreiben wollen. Vorantreiben, ohne erhobenen Zei-gefinger.Wir arbeiten dafür, dass die Parteien in Myanmar vorden Wahlen von 2015 Änderungen an der Verfassungvon 2008 vornehmen, durch die das Militär seine Rollein der Politik verliert, insbesondere seine Sitze in beidenKammern des Parlaments.Wir begrüßen weitere gegenseitige Annäherungenzwischen Präsident U Thein Sein und Daw Aung SanSuu Kyi sowie den Dialog zwischen der Regierung undder Opposition.Wir freuen uns über die internationalen Bemühungenauf hoher Ebene, die darauf abzielen, Impulse für dendemokratischen Wandel in Birma/Myanmar zu geben.Es ist zu begrüßen, dass die Freilassung einer be-trächtlichen Anzahl politischer Gefangener und diestark verbesserte Medien- und Internetfreiheit immerweiter vorankommen. Besonders erfreulich sind auchdie neuen Rechtsvorschriften zur Versammlungsfreiheitund die Berichten zufolge erkennbaren Fortschritte beider Abschaffung der Zwangsarbeit durch gesetzlicheVorschriften. Hier wollen wir gemeinsam weiterarbei-ten.Trotzdem fordern wir die Regierung Birmas/Myan-mars auf, alle verbleibenden politischen Gefangenenunverzüglich und bedingungslos freizulassen und demIKRK und internationalen Menschenrechtsgremienfreien Zugang zu Gefängnissen in Birma/Myanmar zugewähren.Es ist zudem wichtig, dass das Gesetz über die Staats-bürgerschaft von 1982 geändert wird, damit das Rechtauf Staatsbürgerschaft der ethnischen Minderheit derRohingya gebührend anerkannt wird.Wichtig sind auch Reformen im Rechtswesen, um einwirklich unabhängiges und unparteiisches Justizsystemsicherzustellen und ein Verfahren einzurichten, mit demin Bezug auf in der Vergangenheit begangene Men-schenrechtsverletzungen Gerechtigkeit hergestellt undRechenschaftspflicht eingefordert wird.Final würden wir uns für die nächsten Monate einengenauen Reformzeitplan der Regierung in Myanmarwünschen. Ich denke, dies ist ein wichtiger Aspekt, dendie deutsche Entwicklungszusammenarbeit fördernZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24477
Jürgen Klimke
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sollte, da nur so der demokratische und wirtschaftlicheAufschwung verstetigt werden kann.Trotz der noch vielen Reformschritte bin ich weiterhinsehr positiv gestimmt und der festen Überzeugung, dassdas Land in den nächsten Jahren zu einem Vorbild wer-den kann.
Die CSU unterstützt den Kurs der Bundesregierung,
durch eine „Politik der ausgestreckten Hand“ die politi-
sche Führung Myanmars zu weiteren Reformen zu ermu-
tigen. Außenpolitische Zurückhaltung, wie von der
Opposition gefordert, wäre der falsche Weg.
Nach über 20 Jahren Militärregierung verfolgt die
Regierung in Myanmar unter Präsident Thein Sein einen
Reformkurs, der in den letzten Monaten dem Land viele
lang ersehnte Fortschritte gebracht hat.
Dass die Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu
Kyi im Rahmen der Nachwahlen im April dieses Jahres
in das Parlament einziehen konnte, ist ein großer Sieg
für die Demokratiebewegung in Myanmar, den noch vor
einem Jahr keiner vorauszusagen gewagt hätte. Nach
über 15 Jahren unter Hausarrest ist Frau Suu Kyi nun
endlich in der Lage, als Abgeordnete aktiv die Politik
ihres Landes mitzugestalten. Mit der Wiederzulassung
ihrer Partei, der National League for Democracy, NLD,
der wichtigsten nationalen Oppositionskraft, ist der
Grundstein für einen fairen Wettbewerb um Meinungs-
bildung und Wählerstimmen gelegt.
Zu den weiteren Reformen gehören beispielsweise die
Freilassung vieler politischer Gefangener sowie die
Abschaffung der Zensur, ebenfalls Meilensteine auf dem
Weg zu einer Demokratisierung.
Myanmar hat sich auf den Weg in Richtung Demokra-
tie gemacht. Diesen gilt es nun zu unterstützen und zu
verstetigen. Hierzu erachten wir den Ansatz der EU, als
Zeichen der Anerkennung der bereits erzielten Fort-
schritte sowie als Anreiz für weitere Reformen die Sank-
tionen mit Ausnahme des Waffenembargos auszusetzen,
als richtigen und wichtigen Schritt.
War die Wirkung der EU-Sanktionen bereits unter
dem Militärregime umstritten, wäre deren Beibehaltung
zu diesem Zeitpunkt nicht nur das falsche politische,
sondern auch das falsche wirtschaftliche Signal.
Denn vor dem Hintergrund des in Myanmar in den
letzten Monaten Erreichten geht es jetzt darum, diese
Fortschritte zu sichern. Dazu gehört auch, wie Bundes-
minister Westerwelle anlässlich seines Besuchs in
Myanmar im April sagte, eine Friedensdividende für die
größtenteils arme Bevölkerung. Nach den Entbehrungen
der Militärdiktatur ist es jetzt wichtig, eine Zivilgesell-
schaft in Myanmar aufzubauen, die am politischen und
wirtschaftlichen Leben teilhaben kann. Diese Entwick-
lung kann nach dem Aussetzen der EU-Sanktionen leich-
ter in Gang kommen und auch seitens der Bundesregie-
rung besser gefördert werden.
Dementsprechend begrüßen wir auch die Entschei-
dung der Bundesregierung, unmittelbar nach der
Aussetzung der EU-Sanktionen die Entwicklungshilfe
für Myanmar wieder aufzunehmen und 2012 insgesamt
über 16 Millionen Euro für den Demokratisierungs-
prozess in Myanmar bereitzustellen.
Aung San Suu Kyi begrüßte dieses schrittweise Vor-
gehen der EU und der Bundesrepublik in ihrem Treffen
mit Bundesminister Westerwelle im April dieses Jahres
ebenfalls. Es gelte, die Reformen durch internationale
Hilfe abzusichern, aber gleichzeitig den Reformprozess
auch weiter voranzutreiben.
Insofern kritisierte sie in ihrer Antrittsrede im Parla-
ment die neue Verfassung dahin gehend, dass sie immer
noch etliche Vorrechte für Militärs festschreibe. So
müsse beispielsweise ein Viertel der Sitze an Angehörige
des Militärs gehen.
Natürlich wird Myanmar nach über 20 Jahren Mili-
tärherrschaft nicht von heute auf morgen zu einem
demokratischen Musterstaat. Aber die demokratischen
Errungenschaften der letzten Monate zeigen, dass in
diesem Land vieles in Bewegung geraten ist, was unsere
Anerkennung und unsere Unterstützung verdient.
Nach der Aussetzung der Sanktionen und der Auf-
nahme von Entwicklungshilfe herrscht nun auch ein
politisches Klima, das einen Dialog mit den politischen
Akteuren in Myanmar erleichtert. Im Rahmen dieses
Dialogs werden wir die Umsetzung der Reformen ge-
nauestens verfolgen und wenn nötig weitere Fortschritte
in Richtung Demokratie anmahnen.
Erste Schritte hierzu hat die internationale Staaten-
gemeinschaft bereits im April dieses Jahres mit Besu-
chen des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, der
EU-Außenbeauftragten sowie der Bundesminister
Niebel und Westerwelle getan. Außerdem eröffnete die
EU ein Delegationsbüro in Rangun. Die Wege der
Diplomatie stehen somit nach Jahrzehnten der Isolation
offen.
Lassen Sie mich abschließend die Hoffnung ausdrü-
cken, dass Myanmar diese auch weiterhin beschreiten
und sich der Demokratisierungsprozess in den kommen-
den Monaten stabilisieren wird.
Myanmar hat in den vergangenen eineinhalb Jahrenunter Präsident Thein Sein beachtliche Reformschritteeingeleitet. Nach 50 Jahren Militärdiktatur und weitge-hender internationaler Isolation ist Myanmar dabei, indie internationale Völkergemeinschaft zurückzukehren.Ein großer Teil der politischen Gefangenen wurdefreigelassen, die politische Betätigung von Parteien wieder Nationalen Liga für Demokratie wieder erlaubt. Wirhaben die ersten weitgehend freien Wahlen erlebt. DieFriedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi darf wie-der öffentlich auftreten, wurde ins Parlament gewähltund führt die Opposition an. Mit den ethnischen Minder-heiten wurden Verhandlungen zur Überwindung vonDiskriminierung und über die Beilegung der bewaffne-ten Auseinandersetzungen eingeleitet. Die Beschrän-kungen der Pressefreiheit und der freien Meinungsäuße-Zu Protokoll gegebene Reden
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24478 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Edelgard Bulmahn
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rung wurden gelockert. Die politische Liberalisierungwurde durch Reformen des Wirtschaftssektors ergänzt.Private wirtschaftliche Betätigung wurde wieder er-laubt, die Privatisierung der staatlichen Betriebe einge-leitet, ausländische Investitionen wieder zugelassen.Das Land hat sich gegenüber ausländischen Touristenund Hilfsorganisationen wieder geöffnet.Zweifellos: Dies alles waren wichtige Reformschritte,Schritte und Maßnahmen, die viele von uns vor wenigenMonaten kaum für möglich gehalten hätten. Doch nochimmer sind Menschenrechtsverstöße wie Zwangsarbeit,Zwangsumsiedlung, Folter, Vergewaltigungen oder dieRekrutierung von Kindersoldaten zu verzeichnen. Nochimmer sitzen Hunderte politische Gefangene hinter Git-tern. Noch immer beherrschen ethnische Konflikteganze Regionen, und sie werden auf blutige Art undWeise ausgetragen. Noch immer verschlingt der Militär-apparat den größten Teil des Staatshaushaltes. Noch im-mer verfügen die Militärs über eine Sperrminorität imParlament. Noch immer ist Korruption an der Tagesord-nung. Noch immer nimmt die kriminelle Schattenwirt-schaft mit Drogen- und Waffenhandel und dem illegalenExport von Edelsteinen oder exotischen Tieren einengroßen Raum ein. Und keine Frage: Es gibt im Land,insbesondere im Militärapparat, einflussreiche Gegnerdes neuen Kurses, die nicht bereit sind, auf ihre politi-schen wie wirtschaftlichen Privilegien zu verzichten.Wir, die EU und Deutschland, sollten deshalb allesdaransetzen, dem eingeleiteten Reformprozess zumDurchbruch zu verhelfen. Es gilt einerseits, die Einhal-tung der Menschenrechte einzufordern, andererseitsaber auch, das Land nicht wieder in die Isolation zu trei-ben. Wir sollten deshalb die politischen Kontakte undBeziehungen mit Myanmar auf Regierungs- und Parla-mentsebene weiter ausbauen und verstärken. Wir solltenunseren Beitrag für den Aufbau und die Entwicklung ei-ner funktionierenden Zivilgesellschaft leisten. Myanmarbraucht Hilfe und Unterstützung bei dem Aufbau einerleistungsfähigen Zivilverwaltung. Es hat keine Erfah-rungen mit der Etablierung und Durchsetzung rechts-staatlicher Gesetzgebung und Verfahren. Es braucht Ex-pertinnen und Experten, die das Land beraten und dienötigen Fachkräfte ausbilden und unterstützen.Der Dreh- und Angelpunkt aller Bemühungen umeine Demokratisierung des Landes ist die Einleitung ei-ner nachhaltigen Wirtschaftsentwicklung. Nur wenn sichdie desolate wirtschaftliche Situation der Bevölkerungwahrnehmbar bessert, wird die Etablierung einer stabi-len Demokratie gelingen.Myanmar zählt zu den ärmsten Ländern der Erde.Noch immer arbeiten mehr als zwei Drittel der Bevölke-rung in der Landwirtschaft. Weitgehend als Subsistenz-wirtschaft mit unzureichenden Mitteln betrieben, ist sienicht in der Lage, das Land ausreichend mit Nahrungs-mitteln zu versorgen. Es fehlt an Dünger, leistungsfähi-gem Saatgut, Maschinen und Know-how. Unter- undMangelernährung sind weit verbreitet.Entwicklungshemmend sind auch die Besitzverhält-nisse. Das Land gehört dem Staat, nicht den den Bodenbebauenden Bauern und Bäuerinnen. Und schließlich istein Großteil der Landbevölkerung bei illegalen Geldver-leihern hochverschuldet. Wir sollten deshalb das Landwieder in die staatliche Entwicklungszusammenarbeiteinbeziehen und zu einer nachhaltigen Entwicklung desländlichen Raums beitragen.Diktatur, Isolation und Misswirtschaft haben eine de-saströse Infrastruktur hinterlassen, die zugleich die bit-tere Armut des Landes in erschreckender Art und Weiseverdeutlicht. Nur etwa ein Viertel der Bevölkerung hatZugang zu Elektrizität, sanitäre Anlagen sind Mangel-ware, und nur jede fünfte Straße ist für die Nutzung beischlechtem Wetter gebaut.Myanmar braucht dringend Investitionen, Investitio-nen in die Infrastruktur, in die Landwirtschaft, Investi-tionen im völlig daniederliegenden verarbeitenden Sek-tor, aber auch in Bildung und Ausbildung. Mit seinemRessourcenreichtum, seinen großen Erdgasvorräten,Hölzern, seinem Kupfer, seinen Edelsteinen und anderenRohstoffen sowie seinen Wasserkraftreserven, verfügt esüber ein enormes wirtschaftliches Potenzial. Die Ein-nahmen aus diesen Rohstoffvorkommen könnten einewertvolle Basis für die wirtschaftliche und soziale Ent-wicklung des Landes sein.Tatsächlich sind die beträchtlichen Einnahmen ausdem Export in den vergangenen Jahrzehnten jedoch indie Ausrüstung und den Unterhalt der größten ArmeeSüdostasiens gesteckt worden. Sie trugen zur Entwick-lung von Prestigeprojekten wie den Aufbau der neuenHauptstadt bei oder flossen in die Taschen von Oligar-chen und der militärischen Führungselite.Deshalb wird es entscheidend darauf ankommen,dass die Einnahmen aus den Rohstoffexporten künftigfür den Aufbau des Landes verwandt werden. Es gilt des-halb, darauf zu drängen, eine möglichst große Transpa-renz über die Verwendung dieser Einnahmen zu schaf-fen. Die Bundesregierung sollte sich daher gegenüberMyanmar nachdrücklich dafür einsetzen, dass das Landsich an internationalen Transparenzstrukturen, wie zumBeispiel der Extractive Industries Transparency Initia-tive, EITI, beteiligt und gleichzeitig Initiativen für einenachhaltige Nutzung der Rohstoffeinnahmen für dasGemeinwohl entwickelt. Die Einrichtung eines Zukunfts-fonds, wie unter anderem in Ghana praktiziert, ist hierbeispielhaft.Trotz neuer gesetzlicher Regelungen wie dem Verbotder Zwangsarbeit oder einem neuen Gewerkschaftsge-setz gibt es in Myanmar noch immer eine Vielzahl vonArbeitnehmerrechtsverletzungen. EU und Bundesregie-rung sollten deshalb auf die weitere Verbesserung derRahmenbedingungen für die Arbeit der Gewerkschaftendrängen und Myanmar zur Umsetzung der ILO-Konven-tion, zur Durchsetzung des Verbots der Zwangsarbeitund zur Ratifizierung der ILO-Kernarbeitsnormen an-halten und das Land hierbei tatkräftig unterstützen.Hierzu zählt auch eine finanzielle Unterstützung desAusbaus des Büros der ILO in Myanmar.Noch investieren deutsche und europäische Unter-nehmen sehr verhalten in Myanmar. Hier gilt es, mehrRechtssicherheit für die Investitionen zu schaffen. Inves-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24479
Edelgard Bulmahn
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toren, die sich langfristig engagieren wollen, müssensicher sein, dass diese nicht nur befristet zulässig sindund dass die erzeugten Produkte auch exportiert respek-tive importiert werden dürfen. Mit anderen Worten: Diederzeitige Aussetzung von Sanktionen für ein Jahr hilfthier nicht weiter. Wir werden uns entscheiden müssen,ob wir eine Doppelstrategie von Unterstützung und Ein-forderung von Reformen wählen oder ob wir die Durch-setzung eines Mindestmaßes zur Vorbedingung für dievollständige Aufhebung der Sanktionen machen wollen.Bei alledem sollten wir nicht außer Acht lassen, dassdie Zukunft des Staates Myanmar keinesfalls gesichertist. Bisher ist es nicht gelungen, die ethnischen Konfliktedauerhaft beizulegen. Die Aktionen der Militärs, dieUnterdrückung von Minderheitenrechten, Zwangsum-siedlungen und militärische Gewalt, haben erheblichzum offenen Ausbruch der Konflikte beigetragen. In Tei-len Myanmars sind es inzwischen bewaffnete Verbänderegionaler Machthaber, die die Macht ausüben undnicht die Zentralregierung.Auch in diesem Zusammenhang sollten wir unsereUnterstützung anbieten und unsere Erfahrungen mitziviler Konfliktbearbeitung und Mediation einbringen.Eine Instabilisierung Myanmars oder gar seine Ent-staatlichung hätte schließlich aufgrund seiner strategi-schen Lage gravierende Auswirkungen auf den gesam-ten südostasiatischen Raum.Für die weitere Gestaltung unserer Politik gegenüberMyanmar liegen dem Plenum mittlerweile neben demvon meiner Fraktion eingebrachten Antrag zwei weitereAnträge vor. Bei genauerer Betrachtung gibt es meinesErachtens einen hohen Grad an Gemeinsamkeit. Eswürde die Position der deutschen Politik gegenüberMyanmar und unser Eintreten für Demokratie und Men-schenrechte sicherlich stärken, wenn es uns gelänge, inden weiteren Beratungen ein gemeinsam getragenesVotum zu erreichen. Ich bin jedenfalls zuversichtlich,dass wir dies erreichen können.
Der Transformationsprozess in Myanmar von einerjahrzehntelang andauernden Militärdiktatur hin zu ei-ner Demokratie ist ein ganz besonderer. Wir beobachteneine atemberaubende historische Entwicklung. DasBemerkenswerte daran: Es handelt sich um ein raresBeispiel dafür, dass sich eine Diktatur aus sich herauswandelt. Auch wir Deutsche in unserer langen Diktatur-geschichte haben dies in dieser Form nie geschafft.Myanmars Machthaber selbst haben Reformen auf denWeg gebracht. Diese Entwicklung sollte alle ermutigen,den Wandel zu unterstützen.Noch vor nicht allzu langer Zeit war Myanmar be-kannt für massive Menschenrechtsverletzungen, für dieUnterdrückung und Verhaftung Oppositioneller, für diegewalttätige Einschränkung der Meinungs- und Ver-sammlungsfreiheit sowie für ein restriktives Wahlgesetz.Ethnische Minderheiten wurden unterdrückt, Medienzensiert. Die Militärjunta hielt die Zügel fest in derHand. Internationale Proteste blieben weitgehend ohneErfolg.Umso erstaunlicher und bemerkenswerter ist es, dasssich der am 4. Februar 2011 ernannte RegierungschefThein Sein, der selbst lange Zeit führendes Mitglied derMilitärdiktatur war, so stetig um diesen Reformprozessbemüht. Auch Parlamentspräsident Shwe Mann ist eineder zentralen Triebfiguren der Transformation.Die Regierung hat bereits wichtige demokratischeReformen in die Wege geleitet: Die oppositionelle Natio-nale Liga für Demokratie, NDL, wurde im Januar 2012wieder als Partei zugelassen und hat erstmals seit 1990wieder an den Parlamentswahlen im April 2012 teilge-nommen. Entgegen den Behauptungen im Antrag derGrünen waren dies im Grundsatz weitgehend freie undfaire Wahlen. Diese erste Bewährungsprobe ist aus un-serer Sicht bestanden worden. Außerdem wurde der Aus-söhnungsprozess mit den ethnischen Minderheiten inMyanmar angestoßen und wird nach wie vor mit großenBemühungen verfolgt. Lösungsansätze zur Bewältigungvon bislang als tabu geltenden Themen wie Armut undKorruption werden entwickelt und umgesetzt. Außerdemwurden politische Gefangene freigelassen. Die Bundes-regierung hat den Machthabern in Myanmar bereitsfrüh ihre Unterstützung für diese Reformschritte signali-siert: Bundesminister Niebel reiste sehr frühzeitig nachMyanmar. Außenminister Westerwelle besuchte dasLand als erster Außenminister der Bundesrepublik seit25 Jahren.Als Zeichen unserer Wertschätzung von MyanmarsEntwicklung wurden auch die meisten EU-Sanktionenausgesetzt. Dies war die richtige Antwort auf die Demo-kratisierungsbemühungen. Andererseits ist es richtig,dass einige Sanktionen fortbestehen – gerade im militä-rischen Bereich. Sanktionen stellen ein wichtiges Instru-ment für den weiteren Wandel dar, da ansonsten derDruck genommen wird, der für weitere Reformen uner-lässlich ist. Statt voreilig in Freunde auszubrechen, müs-sen wir Myanmar konstruktiv und kritisch auf seinemWeg begleiten und nachhaltig unterstützen.Denn: Bei aller Freude über die bisherigen Entwick-lungen ist es wichtig, dass wir dem Reformprozess auchweiterhin mit einer gesunden Skepsis begegnen. DieTransformation Myanmars ist nicht unumkehrbar. Nachwie vor gibt es Gegner des Reformprozesses, auch inner-halb der Regierung. Auch das Militär bleibt ein Unsi-cherheitsfaktor und könnte versuchen, wieder den altenWeg zu gehen. Außerdem waren bestimmte Reform-schritte in den vergangenen Monaten halbherzig. EinBeispiel: Zwar wurde die Pressezensur aufgehoben undso die Presse- und Meinungsfreiheit weiter gestärkt.Dennoch bleibt die Zensurbehörde an sich weiter beste-hen; regierungskritische Veröffentlichungen sind weiter-hin mit Strafe bedroht. Der Regierung in Naypyidawmuss klar sein, dass wir nachhaltige Rückschritte nichtakzeptieren werden.Entscheidend für den Erfolg des Transformationspro-zesses in Myanmar ist, dass auch das Volk einen direktenNutzen aus der Öffnung des Landes ziehen kann. DieReformen bergen die Chance für neuen wirtschaftlichenErfolg und damit eine Verbesserung der Lebensbedin-gungen der Menschen. Die Voraussetzungen dafür sindZu Protokoll gegebene Reden
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24480 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Patrick Kurth
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gut: Myanmar besitzt reichlich natürliche Ressourcen,vor allem Erdgas, Hartholz und Fischereiprodukte.Diese wurden in Zeiten der Militärdiktatur jedoch nichtfür den eigenen Industrieaufbau genutzt. Myanmar mussseine Wirtschaft daher heute von Grund auf neu auf-bauen: Dies gilt für die industrielle Produktion, das pro-duzierende Gewerbe, den Mittelstand, aber auch denkleinen Einzelhandel. Dazu gehören auch die Stärkungder Selbstorganisation der Wirtschaft, die Aufspaltungvon Monopolen sowie eine funktionierende Wett-bewerbskontrolle. Ohne diese Maßnahmen kann derwirtschaftliche Aufholprozess Myanmars nicht gelingen.Auch in dieser Hinsicht müssen wir Myanmar unterstüt-zen und die gemeinsamen Handelsbeziehungen stärken.Geradezu haarsträubend ist vor diesem Hintergrund dieFormulierung im Grünen-Antrag, die Handelsbarrierenhätten zunächst nur graduell abgebaut werden sollen.Ein „neoliberaler Duktus“ solle bei der Öffnung desLandes verhindert werden. Wer die wirtschaftliche Ent-wicklung Myanmars wie die Grünen in ihrem Antragvernachlässigt, erweist den Reformbemühungen einenBärendienst.Gefahren für den ökonomischen Aufstieg Myanmarsgibt es indes nicht nur im Inneren, sondern gerade auchvon außen. Myanmar darf nicht als Billiglohnland oderschlichter Rohstofflieferant gesehen werden. Wir wehrenuns entschieden dagegen, dass eine so junge Demokra-tie, die Myanmar jetzt wahrscheinlich wird, eine Gold-gräberstimmung bei anderen Staaten auslöst, die ausdiesem Land in erster Linie einiges herausholen wollen.Die Öffnung Myanmars darf keine Postkolonialisierungnach sich ziehen. Vielmehr muss uns vor allem die wei-tere politische, wirtschaftliche und gesellschaftlicheEntwicklung ein zentrales Anliegen bleiben.Genau dies spiegelt sich im politischen Handeln derBundesregierung. Wir unterstützen Myanmar bei seinemTransformationsprozess nachhaltig. Die wirtschaftlichePartnerschaft ist tiefgreifend. Auf parlamentarischerEbene fördern wir den Informationsaustausch mit denneuen Abgeordneten im myanmarischen Parlament, diein einer Demokratie gerade zum ersten Mal selbst mit-gestalten können.Besonders wichtig sind unsere Maßnahmen im Rah-men der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik.Durch einen Ausbau der Bildungszusammenarbeit hel-fen wir Myanmar dabei, seine bislang katastrophaleBildungssituation zu verbessern. Ein wichtiger Schrittist auch die geplante Eröffnung eines neuen Goethe-Instituts, das erste dort seit 1965. Es dient dem Kultur-austausch zwischen Myanmar und Deutschland undsetzt ein positives Signal, dass die Demokratiebemühun-gen Myanmars unsere größte Anerkennung finden.Außerdem wecken wir so das Interesse an Deutsch alsFremdsprache. Die Sprache ist die Basis für einevertrauensvolle Kooperation und ein erfolgreichesMiteinander.Bei aller Unterstützung müssen wir aber darauf ach-ten, Myanmar nicht mit einer überheblichen Erwar-tungshaltung zu überfordern. Tatsächliche Hilfe ist ge-fragt und nicht Besserwisserei oder westliche Arroganz.Diese Haltung liegt aber den vorliegenden Anträgenzugrunde. Dass die Grünen die Durchsetzung von „Um-welt-, Sozial- und Menschenrechtsstandards“ genau indieser Reihenfolge fordern, spricht Bände. Der Fein-staub in Rangun gehört sicherlich zu den geringerenProblemen des Landes. Auch die SPD verfällt in ihremAntrag ideologischen Reflexen und fordert die Förde-rung der „Geschlechtergleichstellung“ in Myanmar.Unsere primäre Aufgabe muss es sein, die basalen de-mokratischen Reformen des Landes zu unterstützen unddem Land wirtschaftlich auf die Beine zu helfen. DerVersuch, westliche Gleichheitsideologien einzuimpfen,entspringt hingegen einem überheblichen Sendungsbe-wusstsein und ist mit uns Liberalen nicht zu machen.Die Bundesregierung wird weiterhin den Fokus aufdie grundlegenden Reformen legen. Myanmar ist aufdem richtigen Weg. Die Bundesregierung wird das Landauf diesem auch weiterhin konstruktiv und tatkräftig un-terstützen.
Der Präsident Myanmars, General Thein Sein, hälterstmals eine Pressekonferenz ab und stellt sich denFragen der in- und ausländischen Presse, die Hanns-Seidel-Stiftung eröffnete gestern ein Büro in Myanmar.General Thein Sein kann sich Aung San Suu Kyi alsseine Nachfolgerin vorstellen, die südostasiatischenFranchise-Unternehmen betrachten Myanmar als einenpotenziellen Markt, winken doch Steuerbefreiungen, dieerst kürzlich von drei auf fünf Jahre erhöht wurden. Alldas sind Nachrichten der letzen zwei Wochen aus undüber Myanmar.Nach der vorsichtigen Öffnung der einstigen Militär-diktatur plant die EU die Aufhebung der Sanktionen ge-gen Myanmar. Das finden wir richtig. Häufig treffen Im-port- und Exportverbote für zivile Waren die Bevölkerungund nicht die Regierenden. Die einfachen Menschen lei-den unter den wirtschaftlichen Folgen, wie Arbeitslosig-keit und Armut. Selbst in den Zeiten der internationalenSanktionen konnte sich der damalige Diktator leisten,eine Hochzeit für seine Tochter auszurichten, die meh-rere Hunderttausend US-Dollar gekostet haben soll. DieVeröffentlichung des Videos im Netz führte damals – be-rechtigt – zu Unruhen im Land.Nun haben die Militärs die Uniform ausgezogen undeinen Reformprozess in Gang gebracht. Die Opposition,zu den Wahlen 2010 noch nicht zugelassen, gewann dieNachwahlen zum Parlament des Landes im Frühjahrdieses Jahres. 43 von 44 Sitzen fielen an die Partei derFriedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi, die Na-tionale Liga für Demokratie. Grund genug für die USAund jetzt auch für die EU, die Sanktionen, bis auf dasWaffenembargo, aufzuheben.Die Abkehr Myanmars von der Diktatur und die be-gonnene Demokratisierung des Landes unterstützt dieLinke selbstredend. Dass auch die EU-Sanktionen auf-gehoben wurden, trifft ebenfalls auf unser volles Einver-ständnis. Dass ein Goethe-Institut in der Wirtschaftsme-tropole Rangun eröffnet werden soll, begrüßen wirZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24481
Stefan Liebich
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ebenso wie den verstärkten Wissenschaftsaustausch zumBeispiel über neue Stipendien.Aber ist nun alles auf einem guten Weg? Gerade imAntrag der SPD wurde der Finger in die Wunde gelegt.Frau Suu Kyi hat erst im Juni in Genf darauf aufmerk-sam gemacht, dass die Arbeitsbedingungen in Myanmarkatastrophal sind. Zwangsarbeit ist an der Tagesord-nung. Freie Gewerkschaften sind ein Fremdwort in ei-nem Land, das sich gerade auf den Weg zur Demokratiemacht. Der jetzt zur Ablehnung empfohlene Antrag for-dert dagegen politische Initiativen der Bundesregie-rung, um den Prozess der demokratischen Transforma-tion in Myanmar zu unterstützen. Dazu gehört auch ausunserer Sicht die Unterstützung der Internationalen Ar-beitsorganisation, ILO, bei ihren Bemühungen, Myan-mar zu bewegen, die ILO-Konventionen gegen Zwangs-arbeit und Kinderarbeit zu unterzeichnen und um-zusetzen. Hilfreich dazu ist sicher eine Unterstützungder Bundesregierung, ein ILO-Büro in Myanmar einzu-richten.Zu den Folgen einer rasch wachsenden Wirtschaft ge-hört im rohstoffreichen Myanmar aber auch das Um-weltproblem. Bündnis 90/Die Grünen weisen zu Rechtauf schmutzige Industrien hin, die als erste den Sprungin das bislang isolierte Land gefunden haben. Neben denAuswirkungen der wirtschaftlichen Öffnung des Landesgilt es aber auch, Korruption zu bekämpfen.Unser Ziel ist es, dass die Menschen im Land endlichetwas von ihren Bodenschätzen haben und sich nicht in-ternationale Konzerne oder einige wenige Eliten die Ta-schen füllen. Zudem muss der nationale Friedensprozessfortgeführt – die Militärs haben im Vielvölkerstaat aucheinen Krieg gegen nationale und religiöse Minderheitengeführt – und das in Myanmar immer drängender wer-dende Problem Aids angegangen werden.Aus unserer Sicht folgte die schlichte Aufhebung derSanktionen keinem Konzept, außer dem Prinzip Hoff-nung. Das reicht aber nicht. Aung San Suu Kyi sagtedazu: „Ich glaube nicht an Leute, die nur hoffen. Wir ar-beiten für das, was wir wollen. Wir sagen immer, dassman kein Recht hat, ohne Anstrengung zu hoffen, alsoversuchen wir, die Situation zu erarbeiten, die notwen-dig für das Land ist. Und wir sind überzeugt, dass wirfrüher oder später an den Verhandlungstisch kommenwerden.“
Ich denke, ich spreche für alle Mitglieder des Deut-schen Bundestages, wenn ich sage, dass wir uns über dieÖffnung von Myanmar hin zu einem Prozess der Demo-kratisierung und zur internationalen Gemeinschaftfreuen. Das wird sicher ein langer und schwieriger Pro-zess sein. Wir werden ihn kritisch begleiten und ihn, sogut es geht, unterstützen.Dabei steht Myanmar nach dem bemerkenswertenParadigmenwechsel, der mit den Wahlen 2010 begon-nen hat, vor großen Herausforderungen. Schon der vomneuen Präsidenten Thein Sein ausgesprochene An-spruch einer umfassenden Transformation des Landeszeigt, dass die anstehenden Aufgaben ernst genommenwerden müssen. Wichtig für uns Grüne ist, dass die öko-nomische Öffnung nicht nur wachstumsgetrieben seinwird, sondern dass Wohlstand und Lebensqualität derBevölkerung vor Ort steigen werden. Der Reformprozessmuss ökologisch und sozial nachhaltig sein und demo-kratisch erfolgen.Mit der begonnenen Liberalisierung des Wirtschafts-sektors und von Teilen der Medien hat die Militärregie-rung erste positive Maßnahmen zur Öffnung des Landeseingeleitet. In beiden Bereichen gibt es gleichwohl wei-ter Handlungsbedarf. Ähnliches gilt für den zentralenBaustein der Demokratie, die Wahlen. Während 2010noch Wahlen stattfanden, die von großen Teilen der heu-tigen Opposition im Land boykottiert wurden, fanden imApril 2102 Wahlen statt, bei denen es zwar immer nochzu Behinderungen der Opposition gekommen war, dieaber dennoch zu einem Erfolg der größten Oppositions-partei um Aung San Suu Kyi, der Nationalliga fürDemokratie, NLD, führten. Dabei dürfen Klagen derNLD über einzelne Schikanen nicht unerwähnt bleiben.Die Nachwahlen waren aber auch deshalb ein Erfolg,weil ihnen direkte Gespräche zwischen Thein Sein undAung San Suu Kyi vorausgingen.Politiker aus anderen Staaten, da schließe ich beson-ders die westlichen Demokratien ein, dürfen aber nichtden Fehler machen, die Opposition in Myanmar aufAung San Suu Kyi und ihre Partei zu beschränken.Unterstützung verdienen auch die vielen ethnischenParteien des Landes, die sich oft nicht angemessen vonder NLD vertreten fühlen. Der Dialog sollte auch mitdiesen Parteien gesucht werden. Nur so lassen sich dieethnischen Konflikte im Land lösen. Dazu muss bei derRegierung wie bei der NLD dafür geworben werden, dieethnischen Konflikte nicht zu ignorieren und einen freienStaat für alle Volksgruppen zu schaffen. Erste Anstren-gungen zur Befriedung des Landes, etwa durch Gesprä-che mit den Minderheiten im Norden des Landes, erken-nen wir an.Beim Thema Wirtschaft ist für uns Grüne zentral,dass wir die Entwicklung Myanmars und das Wohl derBevölkerung in den Vordergrund stellen und das Feldnicht internationalen Unternehmen überlassen, die aufKosten von Beschäftigten und Umwelt ihre Produktivitätsteigern wollen. Das Land braucht ein Gesetz, das faireund ausgewogene Investitionen ermöglicht und Fehlent-wicklungen verhindert. So ist zum Beispiel Land Grab-bing, also die aggressive Übernahme von Land durchOligarchen oder Konzerne, ein sehr ernstes Problem. InKambodscha sehen wir, welche negativen Folgen dieLandnahme für die einfache Bevölkerung, oft Bauern,haben kann. Hier müssen wir Strategien entwickeln undHilfestellung geben, die diese Entwicklung in Myanmarverhindert. Zunächst fordern wir die Regierung vonMyanmar auf, bekannte Fälle von Landnahme zu unter-suchen und im Sinne ihrer Bevölkerung zu lösen.Auch die Ausbeutung der Rohstoffe in Myanmar istfür uns Grüne ein zentrales Thema. Der Rohstoffreich-tum von Myanmar darf nicht zu einem Fluch für dasLand werden. Besonders hier können die internationaleStaatengemeinschaft und die Bundesrepublik EinflussZu Protokoll gegebene Reden
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24482 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Dr. Thomas Gambke
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nehmen, um eine positive Entwicklung für Myanmar undseine Bevölkerung zu ermöglichen. Wir sollten nichtStaatskonzernen aus Schwellenländern das Feld über-lassen, die häufig die Ausbeutung von Rohstoffen alserstes Ziel verfolgen und die keine Rücksicht auf Umweltund Bevölkerung nehmen.Wir können Myanmar dadurch unterstützen, dass wirweitere Wertschöpfungsstufen im Land ermöglichen undaufbauen. Dazu können beispielsweise die deutschenAußenhandelskammern beitragen. So würden vor OrtArbeitsplätze geschaffen und die Rohstoffe könnten re-gional verwertet werden. Die Einhaltung von Umwelt-standards ist auch hier unerlässlich. Ansonsten würdeder Rohstoffabbau zwar zu einer positiven wirtschaftli-chen Entwicklung führen, die aber durch Umweltschä-den und den Verlust an Lebensqualität kompensiertwürde. Positiv zu erwähnen ist an dieser Stelle, dass dieRegierung von Myanmar angekündigt hat, sich an derInitiative für Transparenz in der Rohstoffwirtschaft,EITI, zu beteiligen.Weitere Möglichkeiten zur Unterstützung des Reform-prozesses bestehen in der Förderung der Bildung vorOrt. Die Hilfe beim Aufbau eines funktionierenden Bil-dungssystems ist dabei klassische Aufgabe von Entwick-lungszusammenarbeit. Vor dem Hintergrund des dualenAusbildungssystems in der Bundesrepublik können wirhier wertvolle Hinweise zu geeigneten Ausbildungs-strukturen geben. Außerdem können wir einzelne Pro-jekte fördern, die vor Ort Schulen unterstützen oder auf-bauen. Beim Thema Bildung muss auch der Austausch zwi-schen den Ländern angesprochen werden. Bei der Ver-gabe von Visa wird in der Bundesrepublik eher auf dieHerkunft einer Person geachtet, weniger auf den Grundseines Aufenthaltswunsches. Es wäre begrüßenswert,wenn wir mehr Menschen eine Ausbildung hier ermögli-chen könnten. So können neue Erfahrungen mit anderendemokratischen Systemen ermöglicht werden, underworbenes Wissen kann in Myanmar weitergegebenwerden. Leider ist die Visavergabe der Bundesrepublikhier noch immer zu restriktiv.Ich möchte entschieden für eine stärkere Rolle derBundesrepublik beim Reformprozess in Myanmar wer-ben. Dieser wurde durch die Kabinettsumbildung imAugust bestätigt. Wir sollten das an dieser Stelle würdi-gen und den Prozess kritisch begleiten. Wir haben eineVielzahl von Möglichkeiten zur Unterstützung der Men-schen vor Ort und zur Hilfe beim Aufbau demokrati-scher Strukturen, die ökologische und soziale Belangeberücksichtigen. Deswegen kann ich nicht verstehen,warum weder die Koalition noch die Partei Die Linkeunseren Antrag oder den der SPD unterstützt. Deswegenstimmen wir gegen die Beschlussempfehlung des Aus-wärtigen Ausschusses, die eine Ablehnung unserer An-träge fordert.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksa-
che 17/10903.
Unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion der SPD auf Drucksache 17/9727. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposi-
tion angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9739.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der SPD und Grünen bei Enthaltung
der Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 38:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Ingo Egloff, Dr. Hans-Peter Bartels,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Kein Port Package III auf Kosten von Arbeits-
plätzen und Sicherheit
– Drucksache 17/11147 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Wie ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll
genommen.
Als Abgeordneter des Wahlkreises, in dem der einzigedeutsche Tiefwasserhafen liegt, danke ich meinen sozial-demokratischen Kollegen herzlich für die Gelegenheit,hier einige Missverständnisse zu beseitigen und Faktenzu nennen. Mögen auch Sie, meine Damen und Herrenvon der SPD, davon profitieren!In den letzten Jahren hat die Europäische Kommis-sion zwei Entwürfe von Richtlinien vorgestellt, die tief indie deutsche Hafenwirtschaft eingegriffen hätten. Mitdiesen Vorhaben konnte sich die Europäische Kommis-sion – meiner Meinung nach völlig zu Recht – nichtdurchsetzen.Ziel dieser Entwürfe war es, den Wettbewerb zu stei-gern: einerseits den Wettbewerb zwischen den großeneuropäischen Häfen, andererseits aber auch den Wettbe-werb innerhalb der Häfen. Mit diesen Entwürfen wolltedie EU-Kommission die Effizienz erhöhen, die Preise re-duzieren und so den Im- und Export verbilligen. Diessind Ziele, denen man als Ordnungspolitiker nur zustim-men kann.Dennoch lohnte sich – wie immer im Leben – ein in-tensiver Blick auf das Kleingedruckte: Diese Ziele soll-ten durch die Ausschreibung von Leistungen und die be-fristete Vergabe von Konzessionen erreicht werden.Grundsätzlich sind dies sicherlich Maßnahmen, die invielen Fällen zur Erreichung der genannten Ziele sehrgeeignet sind. Fraglich ist aber, ob das, was auf anderen
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Hans-Werner Kammer
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Gebieten gut ist, auch der Hafenwirtschaft, das heißtden Unternehmen und den Beschäftigten, und der Volks-wirtschaft nützt. Wir müssen genau hinschauen, damitdas Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet wird.Auf deutscher Seite gab und gibt es breiten Konsensdarüber, dass es hier keines Eingriffs der EuropäischenKommission bedarf. Dieser Konsens wird von der Bun-desregierung, den Küstenländern – hier insbesondereNiedersachsen –, der Hafenwirtschaft und den Gewerk-schaften getragen.Die damaligen Überlegungen der Kommission sahenvor, dass Hafengebiete, so zum Beispiel die Terminals,maximal für 46 Jahre verpachtet werden sollten.Danach sollte dann eine neue Ausschreibung erfolgen,sodass auch Dritte die Chance erhalten sollten, unter-nehmerisch in Häfen aktiv zu werden, in denen sie bishernicht vertreten waren.Diese Überlegungen sind grundsätzlich zwar rechtvernünftig, bergen im konkreten Fall aber enorme Risi-ken: Als zentrales Glied der weltumspannenden Logis-tikkette müssen die deutschen Häfen immer auf dem neu-esten Stand der Technik sein. Wer nicht modernisiert,verliert!Wären die damaligen Überlegungen der Kommissionrealisiert worden, hätte die Gefahr bestanden, dassPächter in den letzten Jahren ihrer Pachtperiode nichtoder nicht mehr ausreichend in die Anpassung der Ha-fenanlagen an den Stand der Technik investiert hätten.Unsere Häfen wären daher im internationalen Wett-bewerb zurückgefallen. Dies hätte nicht nur dem Hafen-standort Deutschland, sondern unserer Volkswirtschaftinsgesamt nachhaltigen Schaden zugefügt.Zweifelhaft ist aus meiner Sicht noch heute, ob dieseVorschläge zu einer Verbilligung des Güterumschlagsgeführt hätten. Am Ende der Pachtperiode hätte derPächter die von ihm finanzierte Infrastruktur gratis oderzu einem moderaten Preis dem Nachfolger überlassenmüssen. Diesen finanziellen Nachteil hätte ein wirt-schaftlich handelndes Unternehmen natürlich über dieJahre auf die Kunden abgewälzt.Ferner überlegte die Kommission damals, den Ree-dern zu gestatten, ihre Schiffe selbst abzufertigen. Diesbrachte damals nicht nur die Gewerkschaften auf, son-dern wurde schon in der Behandlung im EuropäischenParlament gestrichen.Die damaligen Vorstöße der Kommission firmiertenunter den Begriffen Port Package I und Port Package II.Vielen der Beteiligten ist heute noch der Begriff PortPackage in schlechter Erinnerung, bei einigen weckt ersogar soziale Horrorvorstellungen.Nichts liegt näher, als den eisigen Wind des Kapitalis-mus und der zügellosen Liberalisierung zum Antrieb ei-nes ansonsten lahmen Oppositionsschiffs zu nutzen. Dasist auch sehr verständlich, wenn man sonst weder Argu-mente noch Ideen hat.Auch wenn es in Oppositionskreisen unpopulär ist, somuss doch eines klargestellt werden: Port Package IIIgibt es nicht und wird es auch nicht geben. Wer diesenBegriff heute noch für seine politische Arbeit nutzt, ver-unsichert die Menschen. Es ist aber nicht seriös, Ängstezu schüren, um im politischen Wettbewerb mithalten zukönnen.Worum geht es in Wahrheit? Die Kommission möchtenach wie vor Rahmenbedingungen schaffen, um dasWachstum der europäischen Seehäfen und ihrer Hafen-wirtschaft zu unterstützen. Vor etwas mehr als einemJahr hat Verkehrskommissar Kallas in Rotterdam ange-kündigt, im Jahr 2013 neue Vorschläge für den Hafen-sektor vorzulegen.Diese Vorschläge betreffen den Bürokratieabbau inden Häfen, die Verbesserung der Transparenz bei derFinanzierung von Häfen im Interesse eines fairen Wett-bewerbs, die Schaffung einer Grundstruktur für die Aus-bildung der Hafenarbeiter, administrative – insbeson-dere zollrechtliche – Erleichterungen.Diese Punkte werden in dem Antrag der SPD entwe-der gar nicht angesprochen oder mit einem weiteren,den ich bisher noch nicht genannt habe, vermengt. DieKommission möchte in Bezug auf die Erbringung vonHafendienstleistungen ein wettbewerbsorientiertes undoffenes Umfeld gewährleisten. Dies soll auch für tech-nisch-nautische Dienste, so das Seelotsenwesen, gelten.Es ist daher auch nur natürlich, dass die Überlegungender Kommission schon im Vorfeld Lobbyisten aktivieren.Ich finde es immer sehr bedauerlich, wenn sich poli-tische Parteien zu Handlangern einer kleinen Gruppevon Pfründeinhabern machen. Klientelparteien sindRandgruppenvertreter. Dies zeigt sich an den Umfrage-werten der SPD deutlich.Bezeichnend dafür ist der Reflex der SPD, jede Ver-änderung mit einer Verschlechterung gleichzusetzen. Indem Antrag wird folgerichtig auch ausgeführt, dassdurch die Einführung des Wettbewerbs im LotsendienstKostennachteile und ein Verlust an Sicherheit undSchutz für die Küstengewässer und die maritime Umweltdrohen. Dumpinglöhne und eine Verschlechterung derArbeitsqualität gingen zulasten von Qualitätsmerkmalenwie Schnelligkeit, Zuverlässigkeit und Arbeitsqualität.Dies ist zu einfach. Gute Bezahlung allein bewirkt nochlange keine hochwertige Arbeit. Das beste Beispiel da-für ist Ihr Kanzlerkandidat.Charakteristisch ist auch, dass Sie in Ihrem Antragzwischen dem kleinteiligen Lotswesen in Deutschlandund privaten Unternehmen unterscheiden. Das sindkeine Gegensätze – auch die freiberuflich tätigen Lotsensind private Unternehmer. Das sollen sie auch bleiben.Ich selbst komme von der Küste und weiß, dass diedeutschen Lotsen gute Arbeit, ja, verdammt gute Arbeitleisten. Ich weiß auch, dass sie sich der Sicherheit derSchifffahrt und dem Schutz von Mensch und Umweltverpflichtet sehen. Das ist so; darüber kann man nichtdiskutieren.Etwas befremdend finde ich allerdings, dass in die-sem Antrag – wie auch schon in der Stellungnahme desBundesverbandes der See- und Hafenlotsen vom April –suggeriert wird, dass die Seelotsen die Mutter TheresaZu Protokoll gegebene Reden
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24484 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Hans-Werner Kammer
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der Schifffahrt und der Umwelt seien. Ich denke, dassdies kein guter Tipp aus dem Buch „Lobbyismus für An-fänger“ war.Die zentrale Frage, die wir uns bei der Behandlungdieses Komplexes stellen müssen, haben sich die Kolle-gen von der SPD gar nicht gestellt: die Unabhängigkeitder Lotsen. Es ist klar, dass Berufe, die in einem so gro-ßen Maße wie der des Lotsen sowohl der Aufrechterhal-tung der Sicherheit im Seeverkehr als auch der Siche-rung desselben dienen, im Interesse der Allgemeinheitnicht weisungsgebundene Dienstleister ihrer Auftragge-ber sein dürfen. Die fachliche Autorität und Unabhän-gigkeit des Lotsen aufgrund seiner Qualifikation mussgegenüber dem Auftraggeber, den Hafenbehörden undden Reedereien auf jeden Fall gewährleistet sein. Darankann es keinen Zweifel geben!Wir werden in einem intensiven Diskussionsprozessherausarbeiten müssen, ob diese Unabhängigkeit tat-sächlich nur durch die gegenwärtige Struktur des Lots-wesens garantiert werden kann oder ob nicht auch aufdiesem Gebiet andere Organisationsformen möglichsind. Sie sehen, ich stehe der Frage sehr offen gegen-über.Die Materie ist komplex. Ich denke, dass eine sachli-che Diskussion erst dann zielführend ist, wenn dieVorschläge der Kommission ausgearbeitet sind. Dannwissen wir alle, worüber wir eigentlich sprechen.Für uns ist klar, dass wir konstruktiv und kritisch beider Gestaltung von Einzelmaßnahmen zur Verwirkli-chung der Pläne der Kommission mitwirken werden. DieBundesregierung wird auf jeden Fall auch weiterhin inZusammenarbeit mit den Küstenländern und den Betrof-fenen starke nationale Impulse auf europäischer Ebenesetzen, damit ausgewogene, zukunftsfähige Lösungenmit dem erforderlichen Augenmaß gefunden werden.Die dem Thema gebührende intellektuelle Differen-ziertheit und Unabhängigkeit geht diesem Antrag, der inseiner Diktion doch sehr an die Stellungnahme des Bun-desverbandes der See- und Hafenlotsen erinnert, leidervöllig ab. Wäre er eine Doktorarbeit, beschäftigte er mitSicherheit die Plagiatsjäger.Was so kurz greift, kann nur abgelehnt werden.
Der vorliegende Antrag der SPD-Fraktion spricht
sich im Wesentlichen gegen das Port Package III aus.
Gemäß der Auffassung der Sozialdemokraten würde ein
Port Package III Arbeitsplätze und auch die Sicherheit
der Hafenmitarbeiter wesentlich gefährden. Da es die
SPD – wie üblich – mit der Angst zu tun bekommt,
sobald sie das Wort „Liberalisierung“ liest, hört oder
sobald sie auch nur gemeint hätte, jemand hätte solcher-
lei Absichten, bittet sie nun in ihrem Antrag darum, et-
was abzulehnen, von dem wir in konkreter Form noch
gar nicht wissen, was darin stehen wird.
Denn nachdem die Port Packages I und II in der Ver-
gangenheit – zurecht – an dem Veto des Europaparlamen-
tes scheiterten, ebbten Stimmen, die eine einheitliche
Rechtsschaffung zu den Themen der Dienstleistungskon-
zessionen im Bereich der Hafenwirtschaft fordern, trotz-
dem nicht ab. Die Kommission hat sich bisweilen in
verschiedenen Workshops und Konsultationsverfahren
notwendige Meinungen und Eckdaten der Betroffenen
eingeholt, um die Ideen zur Liberalsierung des Marktzu-
gangs zu verbessern. Ob dies gelungen ist, kann natür-
lich erst dann beurteilt werden, wenn die Maßnahmen
auch vorliegen. Nachdem die EU-Kommission bereits
im Jahr 2011 angekündigt hatte, ihre Vorschläge zu
überarbeiten, ist nun beabsichtigt, ein Bündel von Maß-
nahmen im nächsten Jahr vorzustellen. Diese sollen so-
dann vor allem den Bürokratieabbau in Häfen, eine bessere
Transparenz bei der Finanzierung sowie eine Grund-
struktur zur Ausbildung von Mitarbeitern enthalten.
Solange diese konkreten Vorschläge nicht vorliegen,
werden wir nichts ablehnen können. Der Antrag der
SPD-Fraktion ist dementsprechend vollkommen unan-
gebracht und soll lediglich ihre Klientel beruhigen. Da-
bei kann ich Ihnen fest versichern, dass wir die Beden-
ken der Küstenländer, der Hafenmitarbeiter und des
Zentralverbandes der deutschen Seehafenbetriebe sehr
ernst nehmen. Ich kann Ihnen ebenso versichern, dass
wir ein Port Package III ablehnen werden, wenn es
im Wesentlichen so gestaltet sein sollte wie die Port
Packages I und II. Denn weder aus Sicht der Hafenwirt-
schaft noch aus Sicht der Bundesregierung ist eine
Regulierung des Wettbewerbes der Häfen momentan
zwingend und unter allen Umständen notwendig. Ein-
wände und Bedenken zur Konzessionsregelung müssen
und werden daher auch Berücksichtigung finden.
Dennoch begrüße ich den grundsätzlichen Ansatz da-
hin gehend, faire und transparente Wettbewerbsbedin-
gungen in und zwischen den Häfen schaffen zu wollen.
Ich stehe den für 2013 vorgesehenen Beihilfeleitlinien
durch die Kommission daher von Grund auf offen ge-
genüber. Allerdings lehne ich jedweden Vorschlag, der
dazu führt, die Dienstleistungsqualität und den Arbeits-
schutz der Häfen zu verschlechtern, ab.
Es ist unsere Aufgabe, uns für eine nachhaltige Ha-
fenpolitik innerhalb der Europäischen Union einzuset-
zen. Daher bitte ich Sie, abzuwarten, bis die Kommission
das Port Package III überhaupt vorstellt. Momentan bin
ich persönlich allerdings noch nicht davon überzeugt,
dass es ein Port Package III in dem Sinne überhaupt ge-
ben wird. Davon einmal abgesehen, wird die Kommis-
sion im nächsten Jahr einige Vorschläge vorlegen. So-
bald uns eine konkrete Initiative vorliegt, werden wir
uns konstruktiv, gewissenhaft und kritisch damit aus-
einandersetzen und diese zum entsprechenden Zeitpunkt
beraten. Momentan sollte der Deutsche Bundestag aber
nichts ablehnen, das noch nicht existiert und was wir
alle noch nicht kennen. Der Antrag der SPD-Bundes-
tagsfraktion ist daher in jedem Fall abzulehnen.
Nach zwei vergeblichen Anläufen startet die Europäi-sche Kommission jetzt – entgegen ihren bisherigenBekundungen – erneut eine Initiative zur Liberalisie-rung der Hafendienste in Europa – obwohl PortZu Protokoll gegebene Reden
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Uwe Beckmeyer
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Package I und II in den Jahren 2003 und 2006 am ver-einten Widerstand von Hafenwirtschaft, Gewerkschaftenund SPD kläglich gescheitert sind. Auch im drittenAnlauf hält die Kommission an ihrem Ziel fest: Wett-bewerb, Qualität und Flexibilität fördern – und neben-bei auch noch Kosten senken.Doch mit der angekündigten Initiative wird Brüsselnur das Gegenteil erreichen: Wettbewerbsverzerrungen,Qualitätseinbußen, mangelnde Planbarkeit und erhöhteKosten.Mit der erneuten Initiative der GeneraldirektionMobilität und Verkehr sowie Wettbewerb sollen unteranderem der Marktzugang für die Hafenarbeit sowie dietechnisch-nautischen Dienste neu geregelt werden: Kon-zessionen für den Hafenumschlag, für Lotsendiensteoder Schlepper könnten damit künftig nur noch befristetvergeben werden. Entsprechende Vorschläge sollennoch in diesem Jahr auf dem Tisch liegen.Dabei gibt es keinen Regelungsbedarf, weder imUmschlagsbereich noch bei den Lotsendiensten. Das istauch das Ergebnis einer Fragebogenaktion der Kom-mission unter Vertretern der Hafenwirtschaft. Mehrnoch: Die Kommissionspläne sind schädlich, stellen siedoch einen massiven Eingriff in bewährte Strukturendar.Die Wertschöpfung in den Seehäfen hängt ganzwesentlich von der Ausbildung und Qualifizierung derArbeitskräfte in der Hafenwirtschaft ab. Dazu leisten inDeutschland die Gesamthafenbetriebsvereine einenwichtigen Beitrag – moderne Personaldienstleister, diemit gut ausgebildetem Personal alle im Hafen anfallen-den Tätigkeiten übernehmen, die Situation vor Ortgenau kennen und Beschäftigte je nach Bedarf qualifi-zieren.Noch bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts war es üb-lich, dass die Stauer erst beim Einlaufen eines Schiffesstunden- oder tageweise für die Arbeit im Hafen anheu-erten. Die Folge: Einige Schiffe mussten warten, weilsich alle Stauer zunächst auf ein oder zwei Schiffekonzentrierten. Diese Unsicherheit auf beiden Seiten istlängst Vergangenheit. An die Stelle der ungelerntenHafenarbeiter sind längst Hafenfacharbeiter getreten,und der Wandel im Hafenumschlag und die Einrichtungder Hafenbetriebsvereine hat auch dazu geführt, dassdie Unfallgefahren bei der Hafenarbeit – traditionelleine der unfallträchtigsten Tätigkeiten – deutlich ab-genommen haben. Diese Errungenschaften gilt es zubewahren.Wenn die Kommission künftig die Selbstabfertigungdurch Land- und Bordpersonal der Reeder zulassen will,heißt das nichts anderes, als das Monopol von Hafen-arbeitern auf das Be- und Entladen von Schiffen ab-zuschaffen. Die Pläne der Europäischen Kommissionwürden dazu führen, dass die Zahl der Hafendienstean-bieter in Europa abnimmt und verstärkt Dienstleisteraus Häfen außerhalb der EU in die Märkte eindringen.Die Folge: ein knallharter Verdrängungskampf durchMonopolisten, in dem die europäischen Seehäfen undvor allem die Beschäftigten der Hafenwirtschaft dasNachsehen hätten. Doch Dumpinglöhne und schlechteArbeitsbedingungen in den Häfen, die am Ende zulastenvon Zuverlässigkeit, Schnelligkeit, Sicherheit und Ar-beitsqualität und auf Kosten der Beschäftigten gehen,können wir uns nicht leisten.Teuer könnten am Ende auch die Kommissionsplänezur Öffnung der Lotsdienste werden. Die Einführungvon Wettbewerb in diesem sensiblen Bereich würde dieLotsen dazu zwingen, ihre Aufgaben künftig allein unterkommerziellen Aspekten zu erledigen. Das kann nicht imInteresse der maritimen Sicherheit und des Meeres-schutzes sein. Der Nutzen der Seelotsen lässt sich nurschwer bemessen. Klar ist jedoch: Die Kosten einermaritimen Katastrophe wären immens.Gerade die Revierfahrt im sensiblen Küstengewässermacht die Begleitung durch gut ausgebildete, ortskun-dige Lotsen unverzichtbar. Sie bilden ein wichtigesGlied der Sicherheitskette in unserem Verkehrssystem.Eine Kommerzialisierung der Lotsdienste und eineAusschreibung und Vergabe der Dienste an privateUnternehmen würde diese Sicherheitsarchitektur in-frage stellen. Sicherheit auf See darf aber nicht einemvermeintlichen Kostendruck zum Opfer fallen. EinePolitik der uneingeschränkten Privatisierung, wie siedie Kommission offenbar verfolgt, ist der falsche Weg.Für eine zukunftsgerichtete maritime Politik gibt esaus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion klare Leitlinien –und daran muss sich auch die Europäische Kommissionbei ihren weiteren Schritten messen lassen:Öffnung des Marktes ja, aber kein Ausverkauf deseuropäischen Standorts.Wettbewerb ja, aber nur dort, wo er ökonomisch sinn-voll, sozial verträglich und sicherheitspolitisch vertret-bar ist.Die Bundesregierung muss auf europäischer Ebenedarauf hinwirken, dass eine entsprechende Initiative derKommission diese Kriterien berücksichtigt – im Inte-resse des maritimen Standorts und der Beschäftigung inden deutschen Häfen.
Bereits in den letzten Jahren hat es vonseiten derEuropäischen Kommission Initiativen gegeben, ein PortPackage I und II als Instrument europäischer Wettbe-werbspolitik einzuführen. Schon bei diesen beidenVersuchen gab es heftigen Widerspruch von der Bundes-regierung und den Küstenländern, unabhängig von derpolitischen Färbung. Beide Initiativen wurden letztend-lich und richtigerweise vom Europäischen Parlamentgestoppt. Schon heute arbeiten die Häfen der Nordrangeunter den schärfsten Wettbewerbsbedingungen der Welt.Hier gibt es aus unserer Sicht keinen zusätzlichen Hand-lungsbedarf.Die Kommission aber scheint bis heute an ihren Be-strebungen zur wirtschaftlichen Regulierung des Hafen-sektors festzuhalten. Aktuell arbeitet sie an Vorschlägenzur Hafenpolitik, die im Laufe des nächsten Jahres vor-gestellt werden sollen. Es ist immer noch offen, in wel-Zu Protokoll gegebene Reden
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24486 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Torsten Staffeldt
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cher Rechtsform diese Vorschläge kommen werden: ent-weder als verbindlicher Gesetzesvorschlag oder nur alsLeitlinie oder Mitteilung.Wir als FDP vertreten in dieser Frage seit Jahren eineeindeutige Meinung. Wir haben Port Package I und IIimmer abgelehnt und wollen auch kein drittes Paket ge-schnürt sehen. Insbesondere lehnen wir ein verpflichten-des Ausschreibungsverfahren für Dienstleistungen desHafenumschlags ab und wollen nicht, dass das Lotswe-sen als nichtkommerzielle Dienstleistung von der Kom-mission reguliert wird. Auch ein Bestandsschutz laufen-der Verträge muss gewährleistet bleiben.Für uns war in dem Zusammenhang immer wichtig,dass, wenn ein Betreiber nach Ablauf seiner neu verge-benen Lizenz im Rahmen der dann notwendigen Aus-schreibung unterliegt und die Lizenz verliert, der Neube-treiber an den Altbetreiber eine Abfindung bezahlenmuss. Diese muss auf den Grundsätzen der betriebswirt-schaftlichen Unternehmensbewertung beruhen und un-ter Einschluss des Goodwill.Die Kommission sah in ihren vorherigen Anläufenhier keine Abfindung vor, und dies wäre ein Eingriff inden eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb ge-wesen, mithin ein enteignungsgleicher Eingriff.Im Moment sieht es aber so aus, dass die Kommissionerst einmal Informationen sammelt und den Dialog mitden Interessenvertretern sucht. Das finde ich grundsätz-lich erst einmal positiv.Aber dennoch habe auch ich bei der Eröffnungsredevon Herrn Kallas anlässlich der Hafenkonferenz letztenMonat ganz genau zugehört. Seine Bemerkung, dass beiHafendienstleitungen die mangelnde Auswahl an Anbie-tern für den Hafenumschlag ein Problem sei – vor allemweil oft nur ein Anbieter zur Verfügung stünde –, hatmich hellhörig gemacht.Sehr geehrte Damen und Herren der SPD, in IhremAntrag stehen viele richtige Sachen, die ich absolut un-terstütze. Dennoch halte ich nicht viel davon, Anträgeüber Sachverhalte zu beraten, deren konkreten Inhaltwir heute noch gar nicht kennen. Aber auch wir werdendie Entwicklungen in Brüssel im Sinne unserer deut-schen Häfen ganz genau beobachten.
50 000 Hafenarbeiter in zwölf europäischen Ländernprotestieren gleichzeitig gegen die „Europäische Richt-linie über den Marktzugang für Hafendienstleistungen“und legen ihre Arbeit nieder. Das war 2006. Am 10. und11. Januar standen in den europäischen Häfen dieKräne still. Es war der Höhepunkt einer europaweit ko-ordinierten Streikserie, die eine Woche später zumScheitern des sogenannten Port Package II führte. DasEuropäische Parlament lehnte die marktradikalen Pläneder Kommission mit großer Mehrheit ab. Verdi bezeich-nete die geplante Richtlinie als Frontalangriff auf dieHafenarbeiter, sie gefährde die Leistungsfähigkeit derHäfen und bedrohe Tausende Hafenarbeitsplätze. Darinwar unter anderem vorgesehen, dass die Seeleute künftigselbst die Ladung ihrer Schiffe löschen sollten, Lotsen-,Schlepper- und Abfertigungsdienste nur noch an zeitlichbefristete Konzession gebunden werden, die europaweitausgeschrieben werden sollten. Damit würde ein euro-paweiter sozialer Dumpingwettbewerb in Gang gesetzt.Bereits Anfang 2001 unternahm die Kommission hierzueinen ähnlichen Versuch, der nach den damals größtenDemonstrationen in der Geschichte der europäischenHafenarbeiter am 20. November 2003 scheiterte.Eine erneute Initiative der Kommission in diesemBereich halten auch Wirtschaftsverbände wie der Zent-ralverband der deutschen Seehafenbetriebe, ZDS, fürvöllig unverständlich. Auch die Stellungnahmen derBundesregierung und der deutschen Küstenländer spra-chen sich gegen eine Deregulierung in der Hafenwirt-schaft aus. EU-Generaldirektor Matthias Ruete hatkürzlich erklärt, dass Verkehrskommissar Siim Kallasbis zum 15. November konkrete Vorschläge zur europäi-schen Hafenpolitik präsentieren werde, ein Port Pa-ckage III aber nicht beabsichtigt sei. Falscher Alarm?Leider nicht. Auch wenn es ein Port Package III offiziellnicht geben soll, heißt das nicht, dass die EU Kommis-sion von ihren Plänen Abstand genommen hätte im Ge-genteil. Sie hat nur gelernt, dass sie mit einer drittenNeuauflage dieses Hafenpaktes erneut gegen die Wandlaufen würde. Daher sollen die gleichen Ideen einfachunter anderem Namen umgesetzt werden. Eines davonist die EU-Richtlinie für die Konzessionsvergabe. In ver-schiedensten Dienstleistungsbereichen, auch der öffent-lichen Daseinsvorsorge, soll hier die Vergabe von Kon-zessionen europaweit geregelt werden, auch im Bereichder Häfen. Damit droht der Konkurrenzkampf zwischenden Hafenstädten der EU nun auch in die einzelnen Hä-fen getragen zu werden. Damit soll zum Beispiel erreichtwerden, dass die Flächen auf den Kais in den Häfen re-gelmäßig öffentlich ausgeschrieben werden müssen, ummehr Konkurrenz unter den Umschlagsbetrieben zu er-reichen. Die jeweils unterlegenen Terminalbetreibermüssten dann jedoch ihre dort errichteten Anlagen andie siegreichen Konkurrenten verkaufen.Ähnliche Konsequenzen würden auf Lotsen,Schlepperbetriebe und andere Dienstleister zukommen.Derartige Regelungen würden Investitionen hemmen,Arbeitsplätze gefährden und den SeehafenstandortEuropa schwächen. Die deutschen Häfen sind bislangmit einem blauen Auge davongekommen, da deren Flä-che meist via Miet- und Pachtverträge und nicht überKonzessionen vergeben werden. Die Richtlinie würdedort nicht greifen, doch dies kann jederzeit verschärftwerden.In Südeuropa wird bereits gestreikt. Seit Ende letztenMonats haben Hafenarbeiter der staatlichen portugiesi-schen Häfen die Arbeit niedergelegt. Der Protest richtetsich gegen die umstrittenen Pläne der konservativenRegierung unter Pedro Passos Coelho und die ihr unter-stehende Hafenbehörde, die Arbeitsbedingungen in denHäfen zu liberalisieren. Die Europäischen Transportar-beiter-Föderation, ETF, warnte davor, dass der Angriffauf die Hafenarbeit in Portugal ein Vorgeschmack aufdie künftigen Entwicklungen sei und einen konzertiertenVersuch der EU-Kommission zur weiteren Liberalisie-rung des europäischen Hafensektors darstelle. Sie er-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24487
Herbert Behrens
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klärten der Kommission am runden Tisch zu maritimenAngelegenheiten in Casablanca , dass sie dieEinführung eines Hafenpakets III durch die Hintertürnicht dulden werde. Der aktuelle Streik könne demnachnoch bis Dezember andauern, wenn keine Einigung mitder Regierung gefunden wird. Für den 14. November istein länderübergreifender Generalstreik in Spanien undPortugal angekündigt, als Protest gegen die europäi-sche Wirtschaftspolitik und die verhängten Sozialkür-zungen. Ein Port Package III durch die Hintertür darf esnicht geben. Alle bisherigen Erfahren haben gezeigt,dass jegliche Versuche, Regelungen auf europäischerEbene gegen die Interessen der Beschäftigten in denHäfen durchzusetzen, auf den erbitterten Widerstand derBetroffenen treffen und scheitern. Eine Liberalisierungvon Hafendienstleistungen, führt zu nichts anderem alsweiterem Lohndumping. Was wir brauchen, sind ver-bindliche soziale Mindeststandards und verlässlicheRahmenbedingungen für die Hafenbetriebe. Wir brau-chen eine intelligente Kooperation zwischen den einzel-nen Hafenstandorten und keine blinde Konkurrenz umGüterumschlagsmengen. Dafür bedarf es einer stärke-ren nationalen Koordinierung, um einen zielgenauenAusbau der Hafenhinterlandinfrastruktur zu erreichenund um die zukünftige Güterumschlagsentwicklung undSpezialisierung der Seehäfen stärker zu lenken.Die Linke fordert: keine weiteren Deregulierungenund Liberalisierungen unserer Häfen, insbesonderekeine Neuregelungen von Konzessionsvergaben fürHafenumschlag, Schlepper- und Lotsendienste sowieandere technisch-nautische Dienstleistungen.
Bei der Diskussion um das Port Package, also Rege-lungen für Dienstleistungen in den Seehäfen Europas,habe ich ein Déjà-vu: In regelmäßigen Abständen ver-sucht die EU-Kommission immer wieder, insbesonderedie Wettbewerbsbehörde, mit großer Energie, den Mit-gliedstaaten Gesetzespakete aufzudrücken.Bereits in den Jahren 2003 und 2006 sind die Gesetzes-vorhaben der EU-Kommission bei den entscheidendenAbstimmungen im EU-Parlament gescheitert, zu Recht,wie ich finde.Jetzt prescht die SPD-Fraktion mit einem Antrag vor.Dieser kommt viel zu früh, Herr Kollege Beckmeyer vonder SPD; denn wir wissen ja noch gar nicht, welche Vor-schläge die EU-Kommission uns diesmal unterbreitet.Die Debatte um ein Port Package III muss deswegenzwangsläufig im Ungefähren bleiben. Wir können der-zeit nur spekulieren, was uns die Kommission vorlegenwird.Daher kann ich an dieser Stelle nur hypothetischeVermutungen anstellen, nach dem Motto: Was wäre,wenn?Wir müssen abwarten, was uns die EU-Kommissionvorlegt. Aber für mich gilt: Ein neues Port Package zu-lasten der Bedingungen der Hafenarbeiter und zulastender Seesicherheit wird unsere Zustimmung nicht bekom-men!In den bisherigen Port Packages ging es jedes Malum vergleichbare Inhalte. Bliebe es bei den alten Vor-schlägen, wären viele Bereiche in den Häfen betroffen.Zwar ist es die bekannte und auch nachvollziehbareAbsicht der EU-Kommission, einen einheitlichenRechtsrahmen zu schaffen. Aber sie stellt damit alle be-reits bestehenden, auch historisch gewachsenen Struktu-ren in den Häfen unter Vorbehalt – und dies in den meis-ten Fällen ohne Notwendigkeit.Nach Ansicht der EU-Kommission gibt es derzeit Oli-gopole in europäischen Häfen. Doch ob diese durch einPort Package aufgebrochen werden können, ist zu be-zweifeln.In den europäischen Seehäfen wurden in den vergan-genen Jahrzehnten viele Investitionen getätigt. Häfensind ein Bereich, in dem Investitionen langfristig getä-tigt werden müssen. Die Hafenanlagen, also die Schiffs-anlegestellen und Hafenflächen zum Umschlagen, werdenfür eine Lebensdauer von Dekaden geschaffen. So wur-den für den Bau der Infrastruktur am neuen Container-hafen JadeWeserPort in Wilhelmshaven 600 MillionenEuro investiert. Hinzu kommen private Mittel in Höhevon 350 Millionen Euro für die sogenannte Suprastruk-tur auf den Hafenflächen, zum Beispiel Kräne und Hafen-ausstattungen. Diese großen Beträge zeigen, dass Aus-schreibungen für eine Dauer von acht bis zwölf Jahren,wie durch bisherige Vorschläge bereits vorgesehen, zudeutlich höheren Umschlagskosten in den Häfen führenwerden. Die Investitionen müssten in deutlich kürzerenZeiträumen refinanziert werden als bisher. Außerdemwürde sich die Planungssicherheit der Hafenunterneh-men deutlich reduzieren. Wer will bzw. kann dann nochHäfen in Europa betreiben?Trotz der bestehenden hohen Kosten für die Hafenbe-treiber sind die Umschlagskosten pro Container im welt-weiten Vergleich immer noch relativ niedrig: So kostetdas „Anfassen“ eines Containers im Durchschnitt in eu-ropäischen Häfen zwischen 150 und 200 Euro, in denHäfen Asiens bzw. Nordamerikas fällt hier schon einmaldas Doppelte bis Dreifache an.Die Frage, die meiner Auffassung nach direkt an einneues Port Package geknüpft werden soll, ist: Werdendurch ein neues Regelungspaket die Dienstleistungenfür den Kunden wirklich besser bzw. billiger?Stichwort „Lotsen“: Meiner Auffassung nach soll esim Lotswesen keinen Kostendruck zulasten der Seesi-cherheit geben. Aber auch hier müssen wir die weitereEntwicklung abwarten und genau beobachten, was dieKommission vorschlägt.Begrüßenswert wären in einem neuen Port Packageendlich einheitliche Regelungen für transparentere öf-fentliche Finanzierungsflüsse in die europäischen Hä-fen. Hier herrscht zwischen den Häfen der EU-Küsten-länder nicht nur starke Konkurrenz, sondern auch einstarker wirtschaftlicher Druck und die Tendenz zur Ver-schleierung über die Verwendung öffentlicher Gelder.Um hier den Druck herauszunehmen, wären endlichZu Protokoll gegebene Reden
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24488 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Dr. Valerie Wilms
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Vorschläge für Transparenzleitlinien zur Finanzierungvon Häfen zu begrüßen.Alle Fraktionen auf Bundes- und Länderebene habendie bisherigen Planungen zu Port Package I und II kate-gorisch abgelehnt. Sollte uns beim Port Package III wie-der alter Wein in neuen Schläuchen aufgetischt werden,wird die Reaktion wohl genauso ausfallen. Wir werdendie Entwicklungen genau beobachten und kritisch be-gleiten.Die Kommission hat die Vorstellung ihres neuen, drit-ten Vorschlags für November 2012 angekündigt. Esbleibt also zu hoffen, dass dieser sich nicht gegen dieBedingungen europäischer Hafenbetreiber und die Mit-arbeiter in den Häfen richtet, sondern vor allem ver-stärkte Transparenz zwischen den Häfen verlangt.Ich fordere daher auch die Bundesregierung auf, sichdie Regelungen eines neuen Port Package III ganz ge-nau anzusehen und kritisch zu begleiten. Doch sindmeine Erwartungen an diese Bundesregierung schonlange äußerst niedrig. Ich freue mich allerdings immerüber positive Überraschungen. Warten wir ab.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/11147 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Keine Einwände.
Dann ist das so beschlossen.
Tagesordnungspunkte 40 a und 40 b:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom
Koenigs, Kerstin Müller , Volker Beck
, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Anwendung der Administrativhaft und
willkürliche Festnahmen durch israelische
und palästinensische Sicherheitskräfte verur-
teilen
– Drucksache 17/11166 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Federführung strittig
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom
Koenigs, Kerstin Müller , Volker Beck
, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Gaza-Blockade beenden
– Drucksache 17/11167 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Federführung strittig
Auch hier sind die Reden zu Protokoll genommen.
Die beiden uns vorliegenden Anträge der FraktionBündnis 90/Die Grünen, die Gegenstand unserer heuti-gen Beratungen sind, lassen den Schluss zu, die Bundes-regierung bemühe sich nicht um Menschenrechte in dembetroffenen Gebiet. Bei allem Verständnis und allerAkzeptanz für die Rolle der Opposition muss ich hier inaller Deutlichkeit feststellen, dass die beiden Anträgeerstens zur Unzeit kommen und zweitens den Verhand-lungsspielraum der Bundesregierung unnötig einengen,wenn nicht gar schwächen.Ich möchte die Kollegen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen an unseren fraktionsübergreifenden Antragvom 30. Juni 2010 erinnern. Es war ein Beispiel fürKonsensfähigkeit des Hohen Hauses. In der sehr sachli-chen Diskussion und der parteiübergreifenden Einigungsind wir der Tradition deutscher Außenpolitik und unse-ren Grundsätzen treu geblieben, was die Ausrichtungder Politik gegenüber dem Staat Israel angeht. Wirhaben die besonderen Beziehungen zu Israel nicht inWorthülsen gekleidet, sondern die legitimen Sicherheits-interessen Israels im Blick gehabt. In der Diskussion ha-ben wir aber auch betont, dass hinsichtlich des Zugangsvon und nach Gaza ein grundlegender PolitikwechselIsraels erforderlich ist, der umfassenden Wiederaufbauund nachhaltige wirtschaftliche Erholung bei gleich-zeitiger Wahrung der Sicherheitsinteressen Israels er-möglicht.Die aktuellen Anträge stellen diesen Konsens infrage.In der Frage der Administrativhaft haben wir eindeutigeBeschlüsse im Deutschen Bundestag gefasst. Diese Be-schlüsse sind nicht aufgehoben – nein, sie sind weiterhinBestandteil des Auftrages an die Bundesregierung. Undich weise darauf hin, dass die Bundesregierung sich zuall diesen Fragen im Austausch mit der israelischenRegierung und der palästinensischen Behörde befindet.Es wird nachhaltig auf die Einhaltung internationalerRechtsnormen gedrängt.Gestern haben wir den 10. Bericht der Bundesregie-rung über ihre Menschenrechtspolitik zur Kenntnis ge-nommen. Die Menschenrechtssituation in den palästi-nensischen Gebieten blieb in ihren Grundzügen durchdie Herrschaft der Hamas im Gazastreifen und durch dieBesatzung Israels mit der einhergehenden Einschrän-kung der Souveränität der palästinensischen Behördegeprägt. Es sind dennoch positive Fortschritte erzieltworden: So weist der Bericht darauf hin, dass die paläs-tinensische Behörde am 15. Januar 2011 bekanntgab,die Praxis der Anwendung der Militärgerichtsbarkeitauf Zivilisten einzustellen. Feststellen müssen wir aberauch, dass es bei diesem Prozess zu Verzögerungen kam.Der Bericht spricht auch eindeutig aus, dass diesogenannte Administrativhaft als problematisch einzu-stufen sei. In Bezug auf den Gazastreifen weist der Be-richt darauf hin, dass das Gebiet seit der gewaltsamenMachtübernahme der Hamas im Juni 2007 weitgehendabgeriegelt bleibt und dass die humanitäre Lage prekärsei. Schwere Menschenrechtsverletzungen unter der De-facto-Herrschaft der Hamas sind zu verzeichnen, nebenmassiven Einschränkungen von grundlegenden Frei-heitsrechten insbesondere auch Folter und der Vollzugder Todesstrafe. Niemand in diesem Hause wird dasbestreiten und niemand – da schließe ich auch die Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen ausdrücklich mit ein – stellt
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24489
Dr. Johann Wadephul
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sich gegen die Bemühungen der Bundesregierung, dieSituation nachhaltig zu verändern.Es gibt auch bereits erste Fortschritte. Die Zahl derpalästinensischen Häftlinge geht zurück. Es ist auch einRückgang der Anzahl palästinensischer Häftlinge insogenannter Administrativhaft zu verzeichnen. Im Früh-jahr 2011 haben wir eine zaghafte Steigerung bei denGenehmigungen der von UNRWA beantragten Projektefür den Gazastreifen erfahren. Die Energiekrise imGazastreifen konnte abgemildert werden: seit April die-sen Jahres werden wieder bis zu einer halben MillionLiter Treibstoff für das Kraftwerk in Gaza geliefert. DieLieferungen erfolgen aus Israel. Auch Ägypten hatte denGrenzübergang Rafah kurzfristig für einen größerenPersonenkreis geöffnet, bis die Öffnung durch einenAnschlag im August wieder revidiert wurde.Wir bemühen uns nachdrücklich um Sicherheit undwirtschaftliche Entwicklung im Gazastreifen. Auch dieBundesregierung betonte auf Anfrage, dass dies Bedin-gung und Ausfluss der Achtung von Menschenrechtensei, zu denen universelle Werte wie die menschlicheWürde gehören.In der Tradition der CDU/CSU-Außenpolitik betoneich nachdrücklich die Notwendigkeit einer Zweistaaten-lösung und der Schaffung eines palästinensischen Staa-tes. Zuletzt hat dies unser Bundespräsident JoachimGauck bei seiner Nahostreise unterstrichen. Egal wiesprachlos die beiden Seiten miteinander sind, deutscheBemühungen sind stets auf die Wiederaufnahme direkterVerhandlungen gerichtet. Bevor jedoch die Zweistaaten-lösung kommen kann, müssen die Palästinenser mit ei-ner Stimme sprechen. Auch dort bemühen wir uns umVersöhnung.Die Bundesrepublik und die EU befinden sich zu allengeforderten Punkten in Verhandlungen. Darüber hinaussorgen wir für humanitäre Hilfe. Wir sorgen für Unter-bindung des illegalen Waffenhandels. Wir fördern seitder Berliner PALSEC-Konferenz den Aufbau rechts-staatlicher Sicherheitskräfte und Justiz in den palästi-nensischen Gebieten. Wir befürworten die Öffnung derGrenzübergänge und den Wiederaufbau des Gazastrei-fens. Das sind alles langwierige Prozesse, und dieBundesrepublik nimmt hier auf sämtlichen Wegen undKanälen Einfluss auf die Geschehnisse und nimmtVerantwortung wahr. Wir erkennen das Recht Israels an,seine Staatsbürger vor Angriffen zu schützen. UnsereFraktion und die von uns getragene Regierung bemühtsich um Deeskalation im Konflikt.Die Europäische Union hat sich ebenfalls vielfachzur Situation in den palästinensischen Gebieten geäu-ßert. Der Rat der Europäischen Union hat mehrfachseine tiefe Besorgnis hinsichtlich der Situation im Gaza-streifen zum Ausdruck gebracht und forderte einengrundlegenden politischen Kurswechsel, der den Wie-deraufbau und das wirtschaftliche Gedeihen von Gazaermöglicht bei gleichzeitigen legitimen Sicherheitsanlie-gen des Staates Israel.Deswegen sind ihre Anträge abzulehnen, weil dieseForderungen bereits an die Bundesregierung herange-tragen wurden und sich in der Umsetzung befinden. DieVerantwortlichen müssen sich auf dieses Haus verlassenbei solch sensiblen Themen, und wir alle sollten denUmsetzungen der Forderungen offenen Verhandlungs-spielraum bieten und die Bundesregierung in diesenFragen nicht unnötig schwächen.
Gegenstand der heutigen Debatte ist die Frage derAdministrativhaft, welche von israelischen und palästi-nensischen Behörden angewandt wird. Administrativ-haft bedeutet die Inhaftierung von Menschen aufgrundbehördlicher Anordnung ohne richterlichen Beschlussund ohne die Einleitung eines förmlichen Strafverfah-rens. Sie verstößt massiv gegen geltendes internationa-les Recht, insbesondere gegen Art. 9 des Paktes überbürgerliche und politische Rechte, den Israel im Jahre1991 ratifiziert hat. Es ist in keiner Weise hinnehmbar,dass Gefangene und ihre Anwälte in keiner Form überBeweise oder Gründe hinsichtlich des Tatvorwurfsinformiert werden. Auch die Verlängerung von Adminis-trativhaft durch Anordnung kann nicht akzeptiertwerden und steht nicht in Einklang mit dem von Israelanerkannten internationalen Recht.Ebenso irritierend ist die Tatsache, dass Israel wei-terhin Kinder und Jugendliche inhaftiert und nach Mili-tärrecht verurteilt. Israel begründet dies damit, dass dieKinderrechtskonvention, die es ebenfalls ratifiziert hat,in den palästinensischen Gebieten nicht anwendbar sei.Damit ergeben sich für palästinensische Kinder, die mitden israelischen Sicherheitsbehörden zusammentreffen,gänzlich andere Voraussetzungen. So werden Kinderund Jugendliche vor dem Militärgericht schon mit 16– nicht wie in Israel erst mit 18 Jahren – als Erwachsenebehandelt; zudem muss nach Militärrecht erst nach achtTagen eine richterliche Anhörung der Betroffenen erfol-gen. Die Familien der Kinder und Jugendlichen leben solange oft in Ungewissheit über den Verbleib ihrer Ange-hörigen. Wissen Angehörige dann über den Verbleibihrer Kinder, ist ein Kontakt oftmals nur eingeschränktund in großen zeitlichen Abständen möglich. Dies istlaut UN-Kinderrechtskonvention, die auch Israel ratifi-ziert hat, nicht zulässig. Zugleich halte ich es für men-schenrechtlich und im Sinne der Kinderrechtskonventionnicht vertretbar, dass die Kinder und Jugendlichen ge-meinsam mit Erwachsenen inhaftiert werden. Kinderbrauchen in besonderem Maße Privatsphäre und könnenkeinesfalls in den gleichen Räumlichkeiten unterge-bracht werden wie erwachsene Gefangene.Es gilt weiterhin und nachhaltig: Israel hat dasRecht, seine Bevölkerung zu schützen und Sicherheit fürsein Staatsgebiet herzustellen. Gleichwohl muss dies im-mer unter Beachtung und Einhaltung internationalenRechts geschehen, im Besonderen, wenn sich Israeldiesem durch Ratifizierung von Verträgen ausdrücklichangeschlossen hat. Es ist nicht akzeptabel, dass mitzweierlei Maß gemessen wird und Israel die Anwendunginternationaler Abkommen für einen Teil der Betroffe-nen oder bestimmte geografische Einheiten selbststän-dig aussetzt.Ich glaube, dass mit der derzeit angewandten Praxisder Administrativhaft sowie weiterer nicht mit dem in-Zu Protokoll gegebene Reden
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24490 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Christoph Strässer
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ternationalen Recht in Einklang stehenden Maßnahmenein wesentliches Hindernis für eine zukünftige friedlicheKoexistenz beider Völker besteht. Insbesondere wennman den Umgang mit Jugendlichen betrachtet, zeichnensich langfristige Konsequenzen eines derartigenHandelns ab. Welche Vorstellung sollen palästinensi-sche Jugendliche von Israel und seiner Bevölkerung ha-ben, die unter den geschilderten Bedingungen inhaftiertwerden? Was werden sie zu Hause erzählen? WelchesBild haben Palästinenser von den israelischen Behördenund Institutionen, mit denen sie in hoffentlich naher Zu-kunft wieder in einen konstruktiven Dialog zum Frie-densprozess eintreten werden? Es steht zu vermuten,dass sich mit den negativen Erfahrungen und Schilde-rungen der Jugendlichen auch eine entsprechendeHaltung ihrer Familien herausbildet. Nach meinerEinschätzung ist dies keine gute Basis für eine Wieder-aufnahme des Friedensprozesses, sondern spielt viel-mehr den radikalen Kräften in die Hände.Diese negative Haltung und Hinwendung zu radika-len politischen Tendenzen wird auf der anderen Seiteforciert durch die aktive Beteiligung palästinensischerSicherheitskräfte an den Maßnahmen. Oftmals geschiehtdies schlicht aus Rache am politischen Gegner. So wer-den Anhänger der Hamas in den von der Fatah domi-nierten Gebieten oftmals willkürlich verhaftet; umge-kehrt lässt die Hamas mutmaßliche Sympathisanten derFatah verhaften.Die Betroffenen fühlen sich von den eigenen Behör-den verraten und vertrauen diesen in keiner Form. Viel-mehr kommt es zu einem Machtkampf zwischen den riva-lisierenden Gruppen, bei denen die Administrativhaft alsprobates Mittel angesehen wird – mit negativen Folgeninnerhalb der palästinensischen Gebiete, aber auchdarüber hinaus. Auf Basis dieser Erfahrungen werdensie auch ihre eigenen Behörden und politischen Institu-tionen kaum bei den Bemühungen hinsichtlich desFriedensprozesses unterstützen. Insofern hat die Anwen-dung der Administrativhaft nachhaltige Folgen in derpalästinensischen Gesellschaft und wird sich langfristigauf den Friedenprozess mit Israel auswirken.Mit der Anwendung der Administrativhaft wird aufisraelischem wie palästinensischem Territorium gegeninternational geltendes Recht und elementare Men-schenrechte verstoßen. Aber neben dem juristischenAspekt ergibt sich eine wesentlich weitergreifende, zu-kunftsbezogene Dimension. Sowohl auf eine Stabili-sierung der politischen Verhältnisse innerhalb der pa-lästinensischen Gebiete wirkt sich diese Form derRechtsanwendung negativ aus als auch auf einen hof-fentlich in naher Zukunft wieder auflebenden Friedens-prozess zwischen Israelis und Palästinensern.Ein weiterer Debattenpunkt ist die Blockade desGazastreifens durch Israel. Dies beschäftigt uns in die-sem Hohen Haus seit geraumer Zeit. Leider währt derZustand, bei dem die israelische Regierung Warenim-porte und -exporte blockiert und auch den Personen-verkehr erheblich behindert, seit fünf Jahren. In dieserZeit haben sich die Bedingungen für die Menschen inGaza erheblich verschlechtert. Und dies betrifft sowohldie wirtschaftlichen wie humanitären Lebensumstände.Unter den Blockadebedingungen können kein wirt-schaftliches Wachstum und keine soziale Entwicklungstattfinden. Die Arbeit internationaler Organisationenund von Nichtregierungsorganisationen, aber auchbilaterale Hilfe und Unterstützung zur Entwicklung desGazastreifens sind unter den derzeitigen Bedingungennicht oder nur unter erschwerten Bedingungen möglich.Dabei würden sie dringend gebraucht. Niemand bestrei-tet die desaströsen Bedingungen, unter denen dieMenschen im Gazastreifen leben müssen. Für eine ernst-hafte Verbesserung der Lebenssituation braucht esfreien Zugang zu dem Gebiet und einen freien Personen-verkehr. Dies gilt im Übrigen nicht nur für den Gaza-streifen, sondern auch für die Westbank, wo der teilweisewillkürliche Bau einer „Schutzmauer“ in Bereichen, dienicht dem vereinbarten Grenzverlauf – grüne Linie –entsprechen, die Menschen in ihrem Alltag einschränktund behindert.Die Arbeit internationaler Hilfsorganisationen in denabgeriegelten Gebieten ist erheblich behindert und kannteilweise nicht vollumfänglich realisiert werden. Aus hu-manitärer Sicht ist dies inakzeptabel. Gerade mit Blickauf die medizinische Versorgung ist dies katastrophal,da es den Menschen im Gazastreifen am Nötigsten fehlt– zugleich aber ein Ausweichen auf Krankenhäuser inder Westbank durch die verhängte Sperre des Personen-verkehrs unmöglich ist. Persönlich, aus humanitärerund menschenrechtlicher Sicht empfinde ich es alsfurchtbar, dass selbst einfache medizinische Versorgungwie die Assistenz bei einer Geburt oder die schnellst-mögliche Versorgung von Brandverletzungen nichtmöglich sind und die Menschen sich selbst überlassenbleiben.Durch die verhängte Blockade wird auch die wichtigeAufbauarbeit im Gazastreifen unterbunden. Einerseitsweil die internationalen Organisationen vor Ort nichtmehr frei tätig sein können und andererseits weil es anwichtigen Materialien fehlt, um die Infrastruktur wiederaufzubauen. Der Wiederaufbau von Schulen oder medi-zinischen Versorgungseinrichtungen, die in den Aus-einandersetzungen mit der israelischen Armee zerstörtwurden, kann ohne die Anlieferung von Baumaterialiennicht realisiert werden. Die Aufhebung der Blockade istkeine Frage von Politik; sie ist eine dringend geboteneNotwendigkeit, ein humanitäres Erfordernis.Gleichwohl, und dies ist bei aller Kritik ebenso wich-tig zu betonen, stehen wir an der Seite Israels. So wich-tig wie eine Aufhebung der Blockade ist, so wichtig istes, die Sicherheit Israels zu garantieren. Es muss un-missverständlich klar sein, dass die Öffnung des Gaza-streifens auf keinen Fall dazu genutzt werden darf, Waffenin die Region zu transportieren und damit die SicherheitIsraels zu gefährden. Zudem muss sichergestellt werden,dass terroristische Organisationen den Gazastreifennicht nutzen, um in den durchaus undurchsichtigenVerhältnissen ihre gewalttätigen Aktionen zu planen unddurchzuführen. Der fortdauernde Raketenbeschuss vonisraelischen Städten wie Sderot aus dem Gazastreifen istmenschenrechtswidrig und zu verurteilen. Die derzeitigePraxis der Abriegelung des Gazastreifens hat allerdingsZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24491
Christoph Strässer
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offenkundig nicht zu einer Beendigung dieser Angriffegeführt und ist deshalb auch mit diesem Argument nichtzu rechtfertigen.Wir werden uns an der Beratung der beiden Anträgein den Ausschüssen konstruktiv beteiligen.
Die Lage im Gazastreifen und in Israel stand in die-
ser Woche wieder im Fokus der Weltöffentlichkeit. Seit
heute, Donnerstag, 0:00 Uhr gilt eine Waffenruhe. Das
wurde zwischen Israel und der im Gazastreifen herr-
schenden Hamas vereinbart. Aber die Lage bleibt weiter
fragil. Am Dienstagabend, nach dem Besuch des Emir
von Katar, hat ein Angriff aus dem Gazastreifen auf Is-
rael begonnen. Innerhalb von 24 Stunden schlugen mehr
als 80 Raketen und Mörsergranaten auf israelischem
Gebiet ein. Israel hat darauf mit Luftangriffen auf Ziele
im Gazastreifen reagiert und mit einer Bodenoffensive
gedroht. Jetzt gilt, wie gesagt, eine Waffenruhe, und wir
hoffen alle, dass sie hält.
Allerdings zeigt diese Entwicklung auch, warum Is-
rael die Warenströme in den Gazastreifen kontrolliert.
Da es immer wieder zu Angriffen aus dem Gazastreifen
auf Israel kommt, muss der Waffenschmuggel in den Ga-
zastreifen unterbunden werden. Die strengen Kontrollen
und die Beschränkungen des Warenverkehrs führen al-
lerdings zu Versorgungsschwierigkeiten im Gazastrei-
fen, unter denen die Zivilbevölkerung leidet. Dieses Pro-
blem haben wir thematisiert und konnten auch schon
Erfolge erzielen.
Die israelische Regierung hat 2010 die Einfuhrbe-
schränkungen in den Gazastreifen gelockert. Die vorhe-
rige Positivliste von erlaubten Gütern wurde durch eine
Negativliste von verbotenen Gütern ersetzt. Diese Nega-
tivliste von Gütern, die in den Gazastreifen nicht einge-
führt werden dürfen, enthält Waffen, Kriegsmaterial und
Dual-Use-Güter. Dieser Wechsel von einer Positivliste
zu einer Negativliste hat zu einer erheblichen Verbesse-
rung der gesamten Warenzufuhr geführt. Das bestätigt
auch das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Paläs-
tina-Flüchtlinge im Nahen Osten, UNRWA. Dennoch
bleibt die Warenversorgung im Gazastreifen weiterhin
verbesserungsbedürftig. Daher muss überprüft werden,
ob wirklich alle Güter auf der Negativliste eine Gefahr
für Israel darstellen.
Verantwortlich für die schlechte Warenversorgung im
Gazastreifen ist aber nicht allein Israel, sondern auch
die Hamas, die in den Schmuggel in den Gazastreifen in-
volviert ist und davon profitiert. Versorgungsengpässe
werden genutzt, um den Hass auf Israel zu schüren, wäh-
rend gleichzeitig Waffen in den Gazastreifen geschmug-
gelt werden, mit denen Israel angegriffen wird.
Unser Ziel bleibt daher die vollständige Umsetzung
der Resolution 1860 des VN-Sicherheitsrates aus dem
Jahr 2009. Dazu gehört die Öffnung der Übergänge von
und nach Gaza für Im- und Exporte, die Bekämpfung des
Waffenschmuggels in den Gazastreifen, die dauerhafte
Beendigung des Raketenbeschusses israelischen Terri-
toriums und ein dauerhafter Waffenstillstand. Dafür set-
zen wir uns sowohl bilateral als auch multilateral ein,
zum Beispiel mit den Ratsschlussfolgerungen vom
14. Mai 2012 und mit der Erklärung des Nahost-Quar-
tetts vom 11. April 2012. Ganz konkret unterstützt die
Europäische Union die Palästinensische Behörde beim
Ausbau des Grenzübergangs Kerem Shalom, um eine
Verbesserung beim Warenverkehr zu erreichen.
Sie haben außerdem einen zweiten Antrag vorgelegt –
zum Thema Administrativhaft. Ich teile Ihre Einschät-
zung, dass diese Praxis aus menschenrechtlicher Sicht
äußerst problematisch ist. In Anbetracht der massiven
Bedrohungslage und der damit verbundenen Angst in Is-
rael kann man zwar verstehen, warum zu dieser Maß-
nahme gegriffen wird, aber man muss sie deswegen
nicht gutheißen. Man kann von Israel erwarten, dass
sich der Umgang mit Gefangenen an den menschen-
rechtlichen Standards orientiert, die auch in Israel gel-
ten. Deshalb spreche ich und sprechen wir das Thema
Menschenrechte bei Treffen mit israelischen und paläs-
tinensischen Vertretern offen an und finden dabei auch
Gehör.
Die Menschenrechtslage wird ja nicht nur von außen
kritisiert. Auch in Israel selbst gibt es viele Menschen,
die die Menschenrechtslage kritisch sehen. Und israeli-
sche Menschenrechtsorganisationen kritisieren offen die
Haftbedingungen und die Anwendung der Administra-
tivhaft. Eine derart offene Diskussionskultur gibt es im
Gazastreifen übrigens nicht, weil die Hamas keine Kritik
zulässt. Die Administrativhaft wurde auch von der Bun-
desregierung gegenüber israelischen und palästinensi-
schen Vertretern bereits mehrfach thematisiert. Dabei
hat die Bundesregierung stets ihre Sorge über die umfas-
sende Anwendung der Administrativhaft zum Ausdruck
gebracht.
Das Thema ist auch Gegenstand des EU-Israel-Dia-
logs. Unter dem Eindruck von Gefangenenprotesten und
internem sowie internationalem Druck hat sich Israel im
Mai 2012 bereit erklärt, die Anwendung der Administra-
tivhaft zu reduzieren. Diese Entscheidung zeigt auch be-
reits Wirkung. In Ihrem Antrag steht noch, dass die Zahl
der palästinensischen Gefangenen in Administrativhaft
bei über 300 läge. Das zeigt mir, dass Sie diesen Antrag
im Mai 2012 oder früher verfasst haben müssen. Inzwi-
schen ist die Zahl auf 184 gesunken. Die Situation hat
sich also leicht verbessert.
Beide Entwicklungen, die Anwendung der Administ-
rativhaft und den Warenverkehr in den Gazastreifen,
werden wir weiterhin genau beobachten. Allerdings sind
beide Themen nur Einzelaspekte eines größeren Prob-
lemfeldes in Nahost. Eine wirklich nachhaltige Lösung
kann nur im Rahmen eines Gesamtfriedensschlusses ge-
funden werden, und dazu brauchen wir Fortschritte bei
den Verhandlungen zwischen Israel und den Palästinen-
sern. Das müssen wir auch bei unseren Beratungen in
den Ausschüssen beachten.
In den letzten Tagen wurde der Gazastreifen wieder-holt durch israelisches Militär aus der Luft beschossen,es gab mehrere Tote und viele Verletzte. Dies ist in unse-Zu Protokoll gegebene Reden
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24492 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Annette Groth
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ren Nachrichten kaum mehr als eine kurze Notiz wert, esist zum Alltag geworden – für uns und beinahe auchschon für die Betroffenen, die in ständiger Angst lebenmüssen.Die Bevölkerung des Gazastreifens wird durch dieBlockadepolitik der israelischen Regierung eines men-schenwürdigen Lebens beraubt. Die von Israel verhängteLand-, See- und Luftblockade des Gazastreifens ist völ-kerrechtswidrig und das daraus resultierende Leid derBevölkerung von Gaza völlig unverhältnismäßig. DieKolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünenerwähnen den sehr eindrucksvollen Bericht der Verein-ten Nationen „Gaza in 2020 – A liveable place?“, nachdem der Gazastreifen im Jahre 2020 praktisch nichtmehr bewohnbar sein wird. Das Wasser wird nicht mehrtrinkbar sein, wir werden dann auch jegliche Chancenverspielt haben, diese Entwicklung rückgängig zu ma-chen. Es ist erschreckend, wie wenig sich die Weltge-meinschaft klarzumachen scheint, dass es bereits fünfnach zwölf ist!Auch ich fordere selbstverständlich und stellvertre-tend für die Fraktion Die Linke, die Blockade des Gaza-streifens aufzuheben.Genauso fordern wir die Abschaffung der Adminis-trativhaft, sowohl durch israelische Sicherheitsbehördenals auch ihre palästinensischen Counterparts. Die men-schenverachtenden Praktiken sind erschreckend. DassBetroffene oft keine andere Möglichkeit sehen, als ihreelementarsten Rechte mithilfe von Hungerstreiks durch-zusetzen und damit ihr Leben aufs Spiel setzen, sprichtfür sich. Insbesondere bereitet mir das Schicksal vonKindern und Jugendlichen in den Haftanstalten Sorgen.Die Menschenrechtsorganisation Addameer schätzt,dass allein 2010 allein in Jerusalem 1 200 Minderjäh-rige verhaftet wurden. Auch wenn sie nach einigen Stun-den oder Tagen wieder freigelassen werden, verursachtdies bleibende Schäden. Diese Kinder sind stark trau-matisiert!Zugleich bin ich kein Freund von Teillösungen: Neh-men wir einmal an, eine erhöhte Ausfuhr von Gütern ausdem Gazastreifen und/oder der Import lebensnotwendi-ger Güter würden erlaubt. Die israelische Regierungwürde viele der Einschränkungen für die Bevölkerungvon Gaza in Kraft lassen – immer mit dem Verweis aufdie eigenen Sicherheitsinteressen –, zum Beispiel dieunilaterale israelische Bestimmung, dass keine Schiffeund Boote weiter als drei nautische Meilen von derKüste Gazas entfernt fischen dürfen. Den Fischernwurde der Zugang zu 85 Prozent derjenigen Seegebiete,die laut Abkommen von Oslo den Palästinensergebietenzugehörig sind, versperrt, und 3 000 Fischern mitsamtihren Familien wurde die Lebensgrundlage entzogen.Darüber hinaus hat die israelische Regierung diefruchtbarsten 17 Prozent des Gazastreifens, welche fürdie Landwirtschaft von elementarer Bedeutung sind, zu„Pufferzonen“ erklärt. Wer sich in diese Gebiete oderweiter als drei nautische Meilen aufs Meer begibt, wirdregelmäßig durch israelisches Militär angegriffen –allein im Jahre 2012 gab es Hunderte solcher Angriffemit einer Vielzahl von Toten. Die palästinensischen Kin-der können noch nicht einmal in Sicherheit in die Schulegehen!Am letzten Wochenende wurde wieder ein sich in in-ternationalen Gewässern befindliches Schiff, das Hilfs-güter für die Bevölkerung des Gazastreifens geladenhatte, durch die israelische Marine gestoppt; die Passa-giere wurden unrechtmäßig festgehalten, den israeli-schen Aktivisten soll gar der Prozess gemacht werden.Außerdem gibt es Berichte, die Marinesoldaten hättenbei der Enterung Gewalt angewandt. Nicht vergessenhat die Welt die blutige Enterung der Mavi Marmara imMai 2010, die mit neun Toten und vielen Verletztenendete. Einer davon liegt bis heute im Koma.Die israelische Regierung scheint es nicht sonderlichzu stören, wenn sich ihr Image in der Welt mehr undmehr verschlechtert. Der israelische Außenminister sagteerst vor einigen Tagen, die EU solle sich um ihre eigenenProbleme kümmern, anstatt sich mit der Frage der is-raelischen Siedlungen zu befassen. Netanjahu will derisraelischen Knesset ein Gutachten zur Abstimmungvorlegen, welches die israelischen Siedlungen in derWestbank als legal einstuft. Sowohl die EU als auch dieBundesregierung haben aber mehrfach den Siedlungs-bau auf besetztem Gebiet und die Blockade des Gaza-streifens als völkerrechtswidrig bezeichnet. Kritisiertwurde auch das Festhalten von Menschen ohne Begrün-dung – die Administrativhaft.Die Aufhebung der Gaza-Blockade ist wichtig – abersie ist nur ein Teilaspekt. Was haben wir gewonnen,wenn die Siedlungen in Gaza zwar geräumt, in der West-bank aber gleichzeitig immer neue gebaut wurden undwerden? Was, wenn allein die Möglichkeit, irgendwannin der Zukunft einen lebensfähigen palästinensischenStaat zu gründen, durch Fakten sowohl in Form vonSiedlungen als auch zum Beispiel der irreparablen Ver-unreinigung von Trinkwasser zunichte gemacht wird?Es muss darum gehen, eine ganzheitliche Lösung fürden Nahostkonflikt zu finden. Es ist zwar wichtig, an ein-zelnen Punkten anzusetzen, aber das reicht nicht aus! Is-rael muss endlich Verhandlungsbereitschaft zeigen undzu echten Kompromissen bereit sein – sowohl gegenüberden Palästinenserinnen und Palästinensern als auch denarabischen Nachbarn. Die Signale der israelischen Re-gierung sind nicht besonders vielversprechend, im Ge-genteil.Wenn Israel sich nicht bereit zeigt, seinerseitsSchritte auf dem Weg zum Frieden zu gehen und sichüberhaupt erst einmal an völkerrechtliche Bestimmun-gen und die Respektierung der Menschenrechte zu hal-ten, haben wir durchaus Möglichkeiten, zu handeln, ja,wir müssen es sogar tun, wollen wir unsere Glaubwür-digkeit nicht völlig verspielen. Am Dienstag hat nun lei-der auch das Europäische Parlament für die Annahmedes ACAA-Zusatzprotokolls zum EU-Israel-Assoziie-rungsabkommen gestimmt. Folge ist eine eklatante Aus-weitung der Handelsbeziehungen zwischen der EU undIsrael. Die Parlamentarier haben damit eine wichtigeMöglichkeit verspielt. Sie hätten deutlich machen müs-sen: Vorbedingung für eine solche Ausweitung muss dieEinhaltung des in allen Assoziierungsabkommen der EUZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24493
Annette Groth
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mit den Mittelmeerländern festgeschriebenen Art. 2durch Israel sein. Dieser Artikel fordert von allen Part-nern die Achtung der Menschenrechte und die Einhal-tung demokratischer Grundprinzipien. Die EU-Parla-mentarier haben die israelische Regierung stattdessenfür ihre völkerrechtswidrige und menschenverachtendePolitik belohnt. Solange die israelische Regierung Ver-träge nicht einhält, muss auch in Betracht gezogen wer-den, das bereits bestehende Assoziierungsabkommenauszusetzen.
Wir reden heute über zwei Anträge meiner Fraktion,
die Menschenrechtsthemen in Israel und den palästinen-
sischen Gebieten betreffen. Lassen Sie mich deshalb mit
einer Bemerkung zum Verfahren beginnen. Wir haben
beide Anträge federführend im Ausschuss für Menschen-
rechte und humanitäre Hilfe angemeldet. Die Koalition
hat dem widersprochen und wollte, dass die Anträge fe-
derführend im Auswärtigen Ausschuss aufgesetzt wer-
den. Für uns ist das keine Kleinigkeit. Wir meinen, dass
der Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
als Vollausschuss dieses Bundestages ein wichtiges Gre-
mium ist und eine Errungenschaft dieses Parlaments.
Wir meinen, dass es dem zentralen politischen Thema,
dem Menschenrechtsschutz, angemessen ist, dass es da-
für einen Vollausschuss gibt. Seine Bedeutung droht er
aber dann zu verlieren, wenn ihm keine Vorlagen mehr
in Federführung zugewiesen werden. Wir haben es wie-
derholt erlebt, dass die Koalition sagt, dieses oder jenes
Thema solle doch besser in diesem oder jenem Fachaus-
schuss behandelt werden. Nun ist klar, dass bei den
Menschenrechten als Querschnittsthema immer auch
die Belange anderer Ausschüsse mit berührt werden.
Aber es gibt doch zentrale menschenrechtliche Frage-
stellungen und Bereiche, in denen dann auch der Men-
schenrechtsausschuss primär zuständig sein muss. Es ist
äußerst bedauerlich, dass die Koalition diese Haltung
nicht teilt. Damit wertet sie einen wichtigen Bundestags-
ausschuss ab. Ich hoffe, dass sie für den Rest dieser Le-
gislatur ihre Einstellung dazu überdenkt und ändert.
Damit komme ich zum Inhalt unserer Anträge. Wir
haben uns dem Thema Administrativhaft gewidmet, weil
wir die Praxis dieser Haft für ein schwerwiegendes men-
schenrechtliches Problem halten – überall da, wo sie
auftritt. Es gibt leider viele Länder, in denen die Admi-
nistrativhaft angewendet wird. Administrativhaft bedeu-
tet, dass den Festgenommenen ihre grundlegenden
Rechte verwehrt bleiben. Sie werden eingesperrt, ohne
zu wissen, warum. Sie haben meist keine Möglichkeit,
mit einem Anwalt oder sogar ihren Familien Kontakt
aufzunehmen. Sie schmoren unter oft entsetzlichen Be-
dingungen in ihren Zellen, mitunter jahrelang. Dies ist
für die Betroffenen furchtbar, egal wo es passiert. Aus
unserer Sicht ist es umso schlimmer, wenn die Adminis-
trativhaft in einem Rechtsstaat angewendet wird; denn
das eine geht mit dem anderen nicht zusammen. Israeli-
sche Sicherheitskräfte verhängen die Administrativhaft
seit vielen Jahren. Die Bundesregierung muss gegen-
über der israelischen Regierung klarer Stellung bezie-
hen und diese Praxis kritisch ansprechen. Auch in den
palästinensischen Gebieten werden Menschen willkür-
lich verhaftet. Auch dort sind die Haftbedingungen zum
teil katastrophal. Es gibt hervorragende Nichtregie-
rungsorganisationen, die sich um die Rechte der Häft-
linge kümmern, wie die palästinensische Organisation
Addameer oder die israelische Organisation Betselem.
Es muss aber endlich ein Umdenkungsprozess in Gang
kommen auf Ebene der Regierenden in Israel und in der
palästinensischen Autonomiebehörde. Die Administrativ-
haft gehört abgeschafft. Inhaftierte müssen rechtsstaatli-
che Strafverfahren bekommen. Die Haftbedingungen
müssen vor allem hinsichtlich der Gesundheitsversor-
gung verbessert werden.
Unser zweiter Antrag befasst sich mit der Lage in
Gaza. Ich konnte bei einem Besuch dort im Juli dieses
Jahres mit der UNRWA sprechen, mit lokalen Menschen-
rechts-NGOs, mit jungen Bloggerinnen und Bloggern,
und alle haben einstimmig erklärt, dass die Blockade
des Gazastreifens durch Israel beendet werden muss.
Wir haben hier gemeinsam bereits im Jahr 2010 die Auf-
hebung der Gaza-Blockade und eine Verbesserung der
humanitären Lage in Gaza gefordert. Seitdem hat es ge-
wisse Lockerungen gegeben; die Blockade besteht je-
doch fort, und die Lockerungen reichen nicht aus, um
die humanitäre, menschenrechtliche und wirtschaftliche
Situation in Gaza grundlegend zu verbessern. Deshalb
bitte ich Sie alle, unseren Antrag zu unterstützen und da-
mit unsere Forderung von 2010 mit Nachdruck zu wie-
derholen. Sie alle werden den Bericht der Vereinten Na-
tionen vom Ende August 2012 gelesen haben; danach
wird der Gazastreifen im Jahr 2020 nicht mehr bewohn-
bar sein, wenn bis dahin nicht grundlegende Verbesse-
rungen in den Bereichen Wasser- und Elektrizitätsver-
sorgung, Gesundheit und beim Bau von Schulen
unternommen werden. Wenn die Blockade aufrechter-
halten wird, dann wird die urbane Ökonomie des Gaza-
streifens zusammenbrechen. Lassen Sie uns gemeinsam
aus humanitären, aus menschenrechtlichen, aus außen-
und entwicklungs- und sicherheitspolitischen Gründen
ein Ende der Blockade fordern.
Und noch ein letztes Wort zu einem kontrovers disku-
tierten Thema: dem Kontaktverbot zur Hamas. Ich habe
auf meiner Reise von vielen meiner Gesprächspartner in
Gaza gehört, wie schwierig die humanitäre Arbeit dort
angesichts des bestehenden Kontaktverbots vieler Staa-
ten, auch von Deutschland, zur Hamas ist. Ich rege da-
her unter humanitären Gesichtspunkten an, die Sinnhaf-
tigkeit dieser Maßnahme zu überdenken. Verstehen Sie
mich nicht falsch: Es geht mir nicht um eine internatio-
nale Aufwertung der Hamas. Aber das Kontaktverbot er-
schwert die notwendige humanitäre Arbeit internationa-
ler Organisationen wie der UNRWA in Gaza erheblich.
Ich möchte deshalb anregen, zumindest eine Diskussion
darüber zu führen.
Tagesordnungspunkt 40 a. Interfraktionell wird Über-weisung der Vorlage auf Drucksache 17/11166 an die inder Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-gen. Die Federführung ist jedoch strittig.
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24494 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP wünschen Fe-derführung beim Auswärtigen Ausschuss. Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung beim Ausschuss fürMenschenrechte und Humanitäre Hilfe.Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag derFraktion Bündnis 90/Die Grünen abstimmen, also Feder-führung beim Ausschuss für Menschenrechte und Hu-manitäre Hilfe. Wer stimmt für diesen Überweisungsvor-schlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – DerÜberweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der CDU/CSU, FDP und Linken gegen die Stimmen der SPD undGrünen abgelehnt.Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag derCDU/CSU und FDP abstimmen, also Federführungbeim Auswärtigen Ausschuss. Wer stimmt für diesenÜberweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Ent-haltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist mit denStimmen der CDU/CSU, FDP und Linken gegen dieStimmen der SPD und Grünen angenommen.Tagesordnungspunkt 40 b. Die Vorlage auf Drucksa-che 17/11167 soll an die in der Tagesordnung aufgeführ-ten Ausschüsse überwiesen werden. Auch hier ist die Fe-derführung strittig.Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP wünschen siebeim Auswärtigen Ausschuss, Bündnis 90/Die Grünenwünscht sie beim Ausschuss für Menschenrechte undHumanitäre Hilfe.Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag derGrünen abstimmen, also Federführung beim Ausschussfür Menschenrechte und Humanitäre Hilfe. Wer stimmtfür diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dage-gen? – Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlag istgegen die Stimmen der Grünen bei Zustimmung dersonstigen Fraktionen abgelehnt.Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag derFraktionen der CDU/CSU und FDP abstimmen, also Fe-derführung beim Auswärtigen Ausschuss. Wer stimmtfür diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dage-gen? – Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlag istgegen die Stimmen der Grünen mit den Stimmen der an-deren Fraktionen angenommen.Tagesordnungspunkte 42 a und 42 b:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten LarsKlingbeil, Martin Dörmann, Doris Barnett, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der SPDPotenziale von WLAN-Netzen nutzen undRechtssicherheit für WLAN-Betreiber schaf-fen– Drucksache 17/11145 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für TourismusAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionAusschuss für Kultur und Medienb) Erste Beratung des von den Abgeordneten HalinaWawzyniak, Jan Korte, Nicole Gohlke, weiterenAbgeordneten und der Fraktion DIE LINKE ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des Telemediengesetzes – Störerhaftung– Drucksache 17/11137 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Rechtsausschuss Federführung strittigAuch hier sind die Reden zu Protokoll genommen.
Uns liegen heute zwei Initiativen der Opposition vor,die auf den ersten Blick recht vernünftig erscheinen.Aber wie so oft im parlamentarischen Leben liegt derTeufel im Detail.Im Kern geht es beiden Initiativen um die stärkereNutzung vorhandener WLAN-Netze für die Öffentlich-keit, die Beschränkung des Haftungsrisikos für WLAN-Betreiber und um Schutzmaßnahmen für die Betreibervon WLAN-Netzen zur Vermeidung ihrer Verantwort-lichkeit bei unbefugter Nutzung durch Dritte. ZentralerGegenstand ist die Debatte, ob die Haftungsbeschrän-kung für professionelle Access Provider gemäß § 8 TMGauf andere WLAN-Betreiber ausgeweitet werden soll.Was die Providerhaftung nach dem Telemediengesetzanbelangt, so sind kleine Gewerbetreibende wie Inter-netcafés mit kostenfreiem WLAN-Angebot bereits jetztvon der Haftung für Missbrauch durch Dritte befreit.Denn in diesen Fällen – wie auch bei sehr großen Provi-dern mit sehr vielen Nutzern – lässt sich der Verursacherdurch technische Nachweismöglichkeiten identifizieren.Der Gewerbetreibende ist natürlich verpflichtet, bei ers-ten Anzeichen eines Missbrauchs geeignete Maßnahmenzu ergreifen, um sich seine Freistellung von der Haftungzu erhalten. Tut er dies nicht, muss auch er mit Konse-quenzen rechnen.Die Forderung nach einer Gleichstellung des priva-ten Bereichs mit dem gewerblichen Bereich erscheint je-doch nur auf den ersten Blick folgerichtig und sinnvoll.Denn im privaten Bereich, beispielsweise wenn ein Drit-ter den privaten Internet-/WLAN-Zugang eines Nutzersfür strafrechtlich relevante Handlungen missbraucht,kann mit technischen Mitteln nicht nachgewiesen wer-den, wer der eigentlich Schuldige ist. Die Tat wird dannin der Regel dem privaten Nutzer zugerechnet, auf dender Internet- bzw. WLAN-Anschluss angemeldet ist, essei denn, er kann nachweisen, dass er die Tat nicht be-gangen haben kann. Vom privaten Nutzer wird daherauch eine gewisse Verantwortung für den sorgsamenUmgang mit dem Internetzugang verlangt, egal ob erfest installiert ist oder per WLAN erfolgt. Erfolgt der Zu-gang hingegen frei, kann auf dem WLAN-Anschluss je-der machen, was er will, ohne dass er mit etwaigen Kon-sequenzen rechnen muss. Strafrechtlich relevanteHandlungen können nicht verfolgt werden; der oder dieTäter können nicht zur Verantwortung gezogen werden.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24495
Andreas G. Lämmel
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Aufgrund der laufenden und uneinheitlichen Recht-sprechung verschiedener Gerichte bearbeitet das Bun-desministerium der Justiz derzeit die Frage, ob und inwelcher Form der angesprochene Aspekt der Störerhaf-tung rechtlich geregelt werden kann, um Rechtssicher-heit zu gewährleisten. Ich hoffe da auf konstruktive Er-gebnisse.Neben diesen rechtlichen Aspekten wird aber das Po-tenzial des offenen WLAN überschätzt. Die große Mehr-heit der Nutzer nutzt UMTS, 3G, als mobile Datenver-bindung. Hier könnten WLAN zwar potenziell dieMobilfunknetze entlasten. Allerdings bauen die Mobil-funkunternehmen gerade den nächsten Standard desMobilfunks LTE,4G, aus. LTE kann – noch theoretisch –Bandbreiten erreichen, welche die Leistungen der DSL-Anschlüsse, die ja auch die Grundlage für WLAN-Rou-ter bieten, übertreffen. Zusätzlich entlastet ein auf denLTE-Standard aufgerüstetes Mobilfunknetz auch denbisherigen Standard UMTS und wird auch im UMTS-Netz die Leistungen verbessern. Vermutlich wird dieNotwendigkeit von WLAN-Angeboten für den öffentli-chen Raum bald nachlassen.Schließlich kann jeder Betreiber eines WLAN weiter-hin, auch im von den Linken angesprochenen sozialenBereich, seinen Nutzern einen Zugangscode aushändi-gen und sich somit vor den möglichen Folgen vonRechtsverletzungen schützen.Bei diesem Thema sollte Gründlichkeit vor Schnellig-keit gehen. Ich freue mich auf die Beratung im Aus-schuss.
Wenn ich mir den vorliegenden Gesetzentwurf derLinken zur Änderung des Telemediengesetzes anschaue,wird mir sofort klar, wohin die Reise mal wieder gehensoll: Da gerieren sich die Genossen erneut zu Sozial-aposteln par excellence, fordern freies Internet für alle,freie I-Pads für alle, freie Rechner für alle. Ich mussschon genau in den Text hineinlesen, um zu sehen, ob essich hier um eine Hartz-IV-Debatte handelt oder ob esum die Haftungsfrage für WLAN-Betreiber geht.Da lese ich: „Gerade für Menschen mit geringemEinkommen sind beide Zugangswege“ – gemeint sindkabel- und funkbasierte Internetanschlüsse – „jedochnur schwer zu finanzieren. Es bedarf kaum der näherenErörterung, warum bei einem monatlichen Regelsatzvon derzeit 374 Euro zzgl. Kosten der Unterbringung 10bis 20 Euro für einen DSL-Zugang ganz erheblich insGewicht fallen.“ Ich lese davon, dass „nicht hinreichendverfügbare Internetzugänge … die … Abhängigkeit derindividuellen Bildungschancen vom sozialen Status derEltern“ verschärfen, ich lese von einer „Frage der so-zialen Gerechtigkeit“ und davon, dass „ein Computerzum soziokulturellen Existenzminimum gehört“. Ich jeden-falls will hier und heute keine linke Sozialdebatte à laLinke führen, sondern mich der Haftungsfrage fürWLAN-Betreiber widmen.Die grundlegende Frage, die sowohl in dem SPD-An-trag als auch in dem Gesetzentwurf der Linken gestelltwird, hat im digitalen Zeitalter – auch vor dem Hinter-grund der bisherigen Rechtsprechung – durchaus seineBerechtigung, nämlich die Frage: Müssen private undkleingewerbliche WLAN-Anbieter wie Cafés dafür haf-ten, wenn dritte Nutzer sich in ihrem Netz illegal verhal-ten, wenn solche Nutzer zum Beispiel illegal Musik oderVideos downloaden und damit gegen das Urheberrechtverstoßen? Warum sollte ein Kneipenwirt dafür belangtwerden können, wenn ein Internetpirat in seinemWLAN-Netz Beute macht? Warum sollte der Kneipen-wirt dafür kostenpflichtig abgemahnt werden und dafürschließlich auch noch kräftig Schadensersatz gegenüberdem geschädigten Rechteinhaber zahlen? Dass ein sol-cher Fall bei einem betroffenen gewerblichen WLAN-Betreiber nicht gerade ein Anreiz ist, das Netz weiterhinanzubieten, und dass infolge solcher Vorkommnisse viel-leicht der öffentlich zugängliche WLAN-Ausbau inDeutschland ins Stocken geraten könnte, vermag auf denersten Blick denkbar zu sein. Schließlich ist die flächen-deckende Versorgung von Kommunen und Städten mitfrei zugänglichem Internet, wie sie jetzt zum BeispielKabel Deutschland und die Wall AG in Berlin mit derEinrichtung von Hotspots realisieren, auch ein interes-santes Geschäftsmodell für die Telekommunikations-wirtschaft und macht Städte und Gemeinden für Besu-cher und Gäste attraktiver.Nun sieht die Lösung der hellroten und der dunkelro-ten Genossen zunächst relativ einfach aus: Man erwei-tert einfach im Telemediengesetz den in § 8 definiertenKreis von Diensteanbietern, die von der Haftungspflichtausgeschlossen sind – das sind im Wesentlichen die Ac-countbetreiber –, um die WLAN-Betreiber, ob gewerb-liche oder private. Zusätzlich sollen WLAN-Betreibervon der sogenannten Störerhaftung ausgenommen wer-den; das heißt, geschädigte Rechteinhaber, zum BeispielMusikverlage, sollen gegenüber dem Betreiber keinenAnspruch auf Unterlassung mehr haben. Das ist die eineSeite. Wie aber stehen dann die Rechteinhaber da, derengeistiges Eigentum dem zwar immer noch illegalen, fak-tisch aber beliebigen Zugriff von Nutzern schutzlos aus-geliefert wäre? Denn wo keine Haftung, da kein durch-setzbarer Schadensersatzanspruch. Diese Regelungwürde bedeuten, dass Vergehen im Netz – seien sie zivil-rechtlicher oder strafrechtlicher Art – erstens überhauptnicht mehr zurückverfolgt werden könnten und zweitensnicht mehr geahndet werden könnten. Nach derzeitigerRechtslage kann wenigstens der Account des WLAN-Be-treibers über dessen IP-Adresse zurückverfolgt werden,die diesem Betreiber eindeutig zuzuordnen ist. Dies istbei den verschiedenen Nutzern, die sich mit dynami-schen IP-Adressen in das WLAN-Netz einklinken, so nichtmöglich. Denn sie sind nur während ihres Aufenthalts imNetz über ihre MAC-Adresse identifizierbar. Mit diesergerätebezogenen Adresse lässt sich die Aktivität desUsers nur nachweisen, während er noch im Netz ist.Man müsste ihn also noch in flagranti beim illegalenDownload erwischen, um ihm ein Vergehen zum Beispielgegen das Urheberrecht nachweisen zu können.Selbst wenn es technisch möglich wäre, die einzelnenNutzer im Nachhinein zu identifizieren – das heißt, wannwelcher Nutzer welche Aktivität im Internet vorge-Zu Protokoll gegebene Reden
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24496 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Dr. Georg Nüßlein
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nommen hat –, wäre dies aus datenschutzrechtlichenGründen verboten. Dafür müsste der WLAN-Betreibersozusagen auf Verdacht für alle Nutzer regelrechte Da-tenbanken mit Personendaten anlegen und speichern.Das Telekommunikationsgesetz untersagt jedoch – zuRecht – die Erhebung nicht erforderlicher Daten. Da-rauf hat auch das Landgericht München in seinem Urteilvom 12. Januar 2012
abgestellt.In Ihrem Gesetzentwurf verteufeln Sie, geschätzteLinkskollegen, dass „Betreiber/innen von drahtlosenNetzwerken … die Mit-Nutzung ihrer Netze in aller Re-gel durch Verschlüsselungsverfahren unmöglich“ ma-chen. Die Betreiber versuchten, „ihre Netze so gut alsmöglich abzuriegeln“. Ja, was sind das doch für böseMenschen! Gar nicht so sozial wie die guten Linken, dieja alles für alle öffnen wollen! Schlimm, so was! Ichweiß nicht, ob Sie, Frau Wawzyniak, Sie, Herr Korte,Sie, Frau Jelpke, oder Sie, Frau Pau, Ihr privatesWLAN-Netz zu Hause einfach so von Ihren Nachbarnoder sonstigen Personen mitnutzen lassen wollen. Dassehe ich jedenfalls schon mal aus ökonomischen Grün-den nicht ein – soll sich der Nachbar doch einen eigenenZugang besorgen –, aber vor allem aus Sicherheits- und,ja, aus Haftungsgründen.Es ist schon heute so, dass „auch privaten Anschluss-inhabern ... aber eine Pflicht“ obliegt, „zu prüfen, ob ihrWLAN-Anschluss durch angemessene Sicherungsmaß-nahmen vor der Gefahr geschützt ist, von unberechtigtenDritten zur Begehung von Urheberrechtsverletzungenmissbraucht zu werden.“ Zwar muss der private Betrei-ber eines WLAN-Netzes seine Netzwerksicherheit nichtständig auf dem neuesten Stand der Technik halten.„Ihre Prüfpflicht bezieht sich daher auf die Einhaltungder im Zeitpunkt der Installation des Routers für denprivaten Bereich marktüblichen Sicherungen“. So hatder Bundesgerichtshof in seinem Urteil vom 12. Mai
In diesem Verfahren ging es um einen WLAN-Betrei-ber, der sein WLAN nicht durch ein Passwort geschützthatte und damit seine Prüfpflicht im gerade zitiertenSinne verletzt hatte. Der BGH hat hier angenommen,dass der Beklagte – also der WLAN-Betreiber – „nach denRechtsgrundsätzen der sogenannten Störerhaftung aufUnterlassung und auf Erstattung der Abmahnkosten“– das sind nach geltendem Recht maximal 100 Euro –haftet. Der BGH weiter: „Diese Haftung besteht schonnach der ersten über seinen WLAN-Anschluss begange-nen Urheberrechtsverletzung. Hingegen ist der Beklagtenicht zum Schadensersatz verpflichtet. Eine Haftung alsTäter einer Urheberrechtsverletzung hat der Bundesge-richtshof verneint, weil nicht der Beklagte“ – also derWLAN-Betreiber – „den fraglichen Musiktitel im Inter-net zugänglich gemacht hat. Eine Haftung als Gehilfebei der fremden Urheberrechtsverletzung hätte Vorsatzvorausgesetzt, an dem es im Streitfall fehlte“, so derBGH.Die Rechteinhaber zum Beispiel von Musiktiteln oderFilmen haben also gegenüber WLAN-Betreibern unterbestimmten Voraussetzungen einen Rechtsanspruch aufUnterlassung. Das ist die heißdiskutierte Störerhaftungdes WLAN-Betreibers bei rechtswidrigen HandlungenDritter. Wenn man den Rechteinhabern nach dem Willender heute parlamentarisch vereinigten Linksfront diesenbereits eingeschränkten Rechtsanspruch nimmt, werdendie WLAN-Betreiber auf Kosten der Rechteinhaber besser-gestellt. Die bleiben nämlich auf ihrem Schaden sitzen.Das kann es ja auch nicht sein.Jetzt folgert die Linke daraus: „Im Ergebnis führt ins-besondere die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofsdazu, dass Funknetzwerke verschlüsselt werden und fürdie kostenfreie Mitnutzung nicht zur Verfügung stehen.“Dabei gäbe es „eine Reihe guter Gründe … ihre Netzezur Mitnutzung zu öffnen“, unter anderem: „Privatekönnten ihre Netze insbesondere aus sozialen Motivenheraus öffnen, um insbesondere sozial benachteiligtenMenschen den Zugang zum Internet zu ermöglichen.“Wenn ich zwischen diesem Mutter-Teresa-Motiv 2.0einerseits und den Risiken und Sicherheitsbedenken beiunverschlüsseltem WLAN-Netz andererseits abzuwägenhätte, wüsste ich schnell, dass ich mein Netz verschlüs-sele. Es geht bei privaten WLAN-Anbietern letztendlichauch um Verantwortung: Will ich mein Netz für alle öff-nen, muss dann aber auch mit den eventuellen negativenKonsequenzen leben, oder sorge ich von vorneherein fürEinschränkungen für Dritte, damit aber auch für meineneigenen Schutz? Das muss letztlich jeder Einzelne fürsich entscheiden.Ich denke, die wesentliche Problematik ist in dieserDebatte klargeworden: hier Haftungsbürde bei unver-schuldet schuldigen WLAN-Betreibern, da Anspruch vonInhabern geistigen Eigentums im Netz auf Entschädi-gung im Missbrauchsfall. Die Entscheidung, ob und inwelchem rechtlichen Rahmen wir hier tätig werden müs-sen, sollte nicht übers Knie gebrochen werden. Gründ-lichkeit geht bei solchen Haftungsfragen klar vorSchnelligkeit. Ob und wie das im Telemediengesetz gere-gelt werden muss, prüfen wir in nächster Zeit ausführ-lich. Hoppla hopp nach dem Willen von Sozialdemokratenund Sozialisten ist sicherlich die falsche Entscheidung.Wir wollen ja nicht für etwas haftbar gemacht werden,was uns und den Betroffenen früher oder später auf dieFüße fallen kann, nicht wahr?
Auf Initiative des Senates von Berlin und des Senatesder Freien und Hansestadt Hamburg hat der Bundesratam 12. Oktober 2012 die Bundesregierung einstimmigaufgefordert, zu prüfen, wie das Potenzial von öffentli-chen WLAN-Netzen stärker nutzbar gemacht und wiedas Haftungsrisiko für WLAN-Betreiber beschränktwerden kann, beispielsweise indem klargestellt wird,dass sich die Haftungsbeschränkung für Access Provi-der gemäß § 8 TMG auch auf WLAN-Betreiber erstreckt.Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt die Initiativeder beiden Stadtstaaten und des Bundesrates und fordertdie Bundesregierung auf, diese schnellstmöglich aufzu-greifen und umzusetzen. Es ist nicht länger hinnehmbar,dass das Potenzial von WLAN-Netzen für den Netzzu-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24497
Lars Klingbeil
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gang im öffentlichen Raum aufgrund der bestehendenHaftungsrisiken brachliegt. Drahtlose lokale Netzwerkesind ein wichtiger Bestandteil der digitalen Infrastruk-tur, und diese können – insbesondere in Städten und Bal-lungsräumen, aber auch in öffentlichen Räumen – einenZugang zum Internet eröffnen und so die öffentlichenRäume im Netz sicherstellen. Es muss endlich eineSelbstverständlichkeit werden, dass in öffentlichen Ein-richtungen wie Ämtern, Bibliotheken, Universitäten oderSchulen sowie im öffentlichen Personenverkehr auch einöffentlicher Zugang zum Netz möglich ist. Zu erkennensind darüber hinaus auch die Potenziale von WLAN-Net-zen, die ebenso brachliegen, weil Privatpersonen, Haus-und Wohngemeinschaften, Familien, Nachbarschaftsini-tiativen oder auch kleinere Vereine aufgrund der derzei-tigen Rechtsprechung daran gehindert sind, ihre Inter-netzugänge mit anderen zu teilen. Damit wird digitaleTeilhabe gerade auch für sozial-schwache Schichten un-nötig erschwert.Hauptgrund des Stagnierens des Ausbaus von WLAN-Zugängen ist die derzeit bestehende Rechtsunsicherheit.Die Rechtsprechung hat hohe Hürden für das Betreibenprivater WLAN-Zugänge aufgestellt, die letztlich dazuführen, dass es keine oder nur sehr wenige private offeneNetze gibt. Aber auch bei den gewerblichen Anbietern,etwa im Hotel- und Gaststättenbereich, stellt der Betriebvon frei und allgemein zugänglichen Funknetzen ein be-trächtliches Risiko dar. Anders als bei den Access Provi-dern ist die Frage der Haftung bei diesen gewerblichenAnbietern oftmals unklar, da es sich nicht um klassischeTelekommunikationsdienstleister handelt und dahernicht abschließend geklärt ist, ob und inwieweit sie sichauf die Haftungsregelungen des Telemediengesetzes be-rufen können und ob und in welchem Umfang von ihnenauch unter dem Gesichtspunkt der von den Gerichteninsbesondere bei Urheberrechtsverletzungen angenom-menen Störerhaftung Schutzmaßnahmen verlangt wer-den.Vor diesem Hintergrund ist zu begrüßen, dass auchdie Justizministerkonferenz auf ihrer Frühjahrskonfe-renz vom 13. und 14. Juni 2012 das Bundesministeriumder Justiz gebeten hat, sich dieser Problematik anzuneh-men und die sogenannte Störerhaftung für Inhaber vonoffenen WLAN-Access-Points und mobilen Internetzu-gängen einer Überprüfung zu unterziehen. Gleichzeitigsoll mit einer entsprechenden Neuregelung „ein Beitraggegen den Abmahnmissbrauch geleistet werden“.Die Fraktion Die Linke hat sich die Mühe gemachtund den Gesetzentwurf des Vereins Digitale Gesellschaftzur Änderung des Telemediengesetzes eingebracht.Auch dieser Vorschlag zielt in die gleiche Richtung. DieFraktion der Grünen hat ebenfalls eine Initiative zurHaftungsbegrenzung für WLAN-Betreiber angekündigt.Wenn man sich das Abstimmungsergebnis im Bundesratund die heute vorliegenden Initiativen anschaut, dannwäre dies doch ein bedeutendes Thema, welches dieNetzpolitikerinnen und Netzpolitiker in Abstimmung mitden Wirtschafts- und Rechtspolitikerinnen und -politi-kern aller Fraktionen vielleicht auch als interfraktio-nelle Initiative auf den Weg bringen könnten.Im Grunde verfolgen alle drei Initiativen das gleicheZiel, und es ist zu begrüßen, dass wir uns offensichtlichfraktionsübergreifend einig sind, dass hier dringenderHandlungsbedarf besteht. Von daher bin ich zuversicht-lich, dass wir auch gemeinsam Wege finden können, umdieses Ziel zu erreichen. Das zeigt aber eben auch, dassdie Bundesregierung hier – wie in vielen anderen Berei-chen der Netzpolitik – ihre Hausaufgaben nicht gemachthat. Mit großem Getöse werden immer wieder Gesetzge-bungsvorhaben angekündigt, denen aber nie irgendwel-che konkreten Initiativen folgen. Unmittelbar nach derRegierungsübernahme sollte der Dritte Korb zur Novel-lierung des Urheberrechtes vorgelegt werden, um dasUrheberrecht weiter an die Herausforderungen der digi-talen Gesellschaft anzupassen. Ergebnis: Fehlanzeige.Das Bundesjustizministerium hat mehrfach angekündigt,endlich die Initiative gegen den Abmahnmissbrauch zuergreifen. Ergebnis: Fehlanzeige. Das Bundesinnen-ministerium hat angekündigt, endlich Regelungen vorzu-legen, um das Recht auf informationelle Selbstbestim-mung und den Persönlichkeitsschutz auch im Internet zuwahren. Ergebnis: Fehlanzeige. In ihrem Koalitionsver-trag haben die Regierungsparteien auch vereinbart, dasssie „die Regelungen zur Verantwortlichkeit im Teleme-diengesetz fortentwickeln“ werden und dass es auch zu-künftig darum gehe, „einen fairen Ausgleich der berech-tigten Interessen der Diensteanbieter, der Rechteinhaberund der Verbraucher zu gewährleisten“. Wenig überra-schendes Ergebnis: Fehlanzeige.Die Bundesregierung ist daher aufgefordert, hierendlich – unter Einbeziehung aller Fraktionen des Deut-schen Bundestages und auch der Zivilgesellschaft – tätigzu werden. Natürlich werden wir uns über den Weg unddie Instrumente streiten, beispielsweise ob es ausreicht,klarzustellen, dass sich die Haftungsbeschränkung fürAccess Provider gemäß § 8 TMG auch auf WLAN-Be-treiber erstreckt. Es geht auch um die Frage, welcheVerpflichtungen sich für WLAN-Anbieter – gegebenen-falls muss man zwischen privaten und gewerblichen An-bietern differenzieren – aus dem Telekommunikations-recht ergeben. Und natürlich stellt sich auch die Frage,wie die Rechtsverfolgungsmöglichkeiten und die Funk-tionsfähigkeit der Strafverfolgung gewahrt werden kön-nen und wie das mit Augenmaß gelingt.Hier hilft es aber nicht, wenn – angesichts der Tatsa-che, dass alle Initiativen das gleiche Ziel verfolgen undRechtssicherheit für Betreiber herstellen wollen und dasHaftungsrisiko analog begrenzen wollen – dann mit Un-terstellungen gearbeitet wird, denen zufolge mit der Ini-tiative des Bundesrates den „Nutzerinnen und Nutzernhinterhergeschnüffelt“ werden soll und „technisch sinn-lose Sperrtechniken“ eingesetzt werden sollen. Aus die-sem Grund fordern wir in unserem Antrag, dass darüberhinaus auch in einer für gewerbliche sowie auch fürnichtkommerzielle Angebote handhabbaren Weise klar-gestellt werden muss, in welchen konkreten Grenzen dieBetreiber offener WLAN-Zugänge Vorkehrungen zurWahrung von Datensicherheit, Datenschutz und Kom-munikationsgeheimnis zu treffen haben. Auch die Betrei-ber öffentlicher WLAN-Zugänge dürfen ihre Nutzer undNutzerinnen und ihr Surf- und Kommunikationsverhal-Zu Protokoll gegebene Reden
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24498 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
Lars Klingbeil
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ten nicht überwachen, und genauso wie wir uns – Stich-wort: Warnhinweise – gegen eine solche flächende-ckende Überwachung des Datenstroms zur Verfolgungvon Urheberrechtsverletzungen bei den Access Provi-dern einsetzen, werden wir uns gegen eine solche im Be-reich der Funknetze einsetzen. Maßnahmen zum Schutzgeistigen Eigentums müssen verhältnismäßig sein. Siedürfen die Bürgerinnen und Bürger nicht in ihrenGrundrechten, insbesondere nicht im Recht auf informa-tionelle Selbstbestimmung und in Bezug auf das Fern-meldegeheimnis, unverhältnismäßig beschränken. Dasmuss auch bei öffentlich zugänglichen Funknetzen gel-ten. Das bedeutet, dass es auch im Bereich der öffentlichzugänglichen WLANs kein Deep Packet Inspection, Tra-cking oder keine Inhaltefilterung geben kann – und ge-ben darf.Ich hoffe, dass die Bundesregierung der Aufforderungdes Bundesrates und der Justizministerkonferenz undnatürlich unseres Antrages endlich folgt und eine ent-sprechende Gesetzesinitiative auf den Weg bringt. Ichwürde es auch sehr begrüßen, wenn wir den großenKonsens des Bundesrates auch im Bundestag feststellenkönnten und – falls die Bundesregierung weiterhin untä-tig bleibt – eine entsprechende Initiative aus der Mittedes Parlamentes auf den Weg bringen könnten.
Es geht um die erste Beratung des von der FraktionDie Linke eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurÄnderung des Telemediengesetzes. WLAN-Anschlussin-haber werden neuerdings mit Klagen überzogen, oft fürRechtsverstöße, die sie gar nicht begangen haben.Schuld daran ist die sogenannte Störerhaftung, wonachdie Betreiber eines WLAN auch für Rechtsverstöße Drit-ter zur Verantwortung gezogen werden können. Eine Ex-kulpierung ist nur möglich, wenn sie ihr Netz gegen„fremde Internetnutzung“ schützen oder sicherstellen,dass der eigentliche Rechtsverletzer statt ihrer verfolgtwerden kann.Übersetzt bedeutet das: Betreibt jemand ein ungesi-chertes WLAN und werden aus diesem WLAN Rechts-verstöße begangen, kann er dafür zur Kasse gebetenwerden. Und diese Verantwortlichkeit trifft ihn immer,wenn er – egal ob absichtlich oder unabsichtlich – seinNetz nicht gegen Zugriffe durch Dritte abgesichert hat.Er kann dann von Rechteinhabern kostenpflichtig aufge-fordert werden, dass zukünftig aus seinem Netz ebenkeine Rechtsverletzungen mehr ausgehen. Die einzigeLösung für WLAN-Betreiber ist also, dass sie ihr Netzdurch Verschlüsselung gegen den Zugriff Dritter sper-ren.Das Anliegen der Rechteinhaber, die Verletzung ihrerRechte zu unterbinden, ist völlig verständlich und liegtin einem Rechtsstaat auch klar auf der Hand. Das Anlie-gen der Nutzer von WLANs, eben nicht für jeden Rechts-verstoß teilweise völlig fremder Personen zur Verant-wortung gezogen zu werden, ist auch verständlich. Hiermuss ein Ausgleich der Interessen möglich sein; dennwir sprechen hier nicht nur von Privatpersonen, dieWLANs für ihre Familie bereitstellen, wir sprechen auchüber Netze, die von Hausgemeinschaften genutzt wer-den, oder auch von Cafébesitzern, die als Teil ihresGeschäftsmodells WLANs für ihre Gäste anbieten. Eineshaben alle gemeinsam: Sie können kaum kontrollieren,wer sich in ihrem WLAN befindet, und werden dann spä-ter zur Kasse gebeten.Nun mag man zuerst denken, dass das vom Bundesge-richtshof eingeführte Rechtsinstitut der Störerhaftungnur eine Lücke schließt und Rechteinhabern verhilft, zuihrem Recht zu kommen. Es ist aber anders: Es zeigt ei-nen eklatanten Mangel im aktuellen System; dennanonymes Surfen wird mit dieser Rechtsfigur praktischunmöglich gemacht, wenn sich der Anschlussinhabernicht horrenden Forderungen der Rechteinhaber gegen-über sehen möchte.All diese Probleme lösen die vorliegenden Entwürfeder Oppositionsfraktionen von SPD und Linken jedochbei weitem nicht. Ganz im Gegenteil: Sie werfen sogarneue Fragen auf und zeigen so, dass hier nur einemschnellen Trend gefolgt werden soll, anstatt durchdachteLösungen zu präsentieren. Die Anträge sind daher abzu-lehnen.Die aktuelle Rechtslage muss an die geändertenNutzungsgewohnheiten angepasst werden. Gleichzeitigmuss sichergestellt werden, dass anonyme Internet-nutzung noch möglich ist.Klar ist für uns auf jeden Fall: Die Verpflichtung,dass alle Nutzer des WLAN registriert werden müssen,lehnen wir ab, da dies das Ende der Anonymität imInternet bedeuten würde und das Fernmeldegeheimnisund die Meinungsfreiheit erheblich einschränkt würden.Keiner der Anträge stellt dies zu unserer Zufriedenheitklar! Das ist es, was wir erreichen wollen.Um sich keiner echten inhaltlichen Debatte stellen zumüssen, hat sich der Antrag der SPD vorsichtshalbernur auf Allgemeinposten bezogen, ohne konkrete Vor-schläge zu machen. Dass die SPD mit Netzpolitik undBürgerrechten eh nichts am Hut hat, hat sie auch geradewieder im gestern erfolglos abgelaufenen Mitglieder-begehren „Sozis gegen die Vorratsdatenspeicherung“gezeigt. Es stellt sich daher die Frage, ob die SPD hiernur versucht, ihre nicht existente netzpolitische Kompe-tenz einmal wieder unter Beweis zu stellen, oder ob ein-fach nur Aktionismus gezeigt werden soll.In ihrem altruistischen Antrag hat die Linke zwarkonkrete Änderungsvorschläge für das Telemedien-gesetz von der Digitalen Gesellschaft e. V. abgeschrie-ben, aber sie offensichtlich nicht den Pferdefuß darangesehen; denn welche Verpflichtungen Betreiber einesWLAN nach dem Telekommunikationsgesetz und demTelemediengesetz haben, wenn wir sie einfach unter diePrivilegierung für Provider stellen, und wie diese ge-handelt werden sollen, wird in dem Antrag nicht klar.Wenn ein WLAN-Betreiber – wie im Vorschlag derLinken – mit einem Diensteanbieter gleichgestellt wird,stellt sich die Frage, ob er dann auch dessen Pflichten,die sich aus § 13 TMG ergeben, übernehmen muss. Undauch im Telekommunikationsgesetz finden sich zahlrei-che Speicher- und Auskunftspflichten für Diensteanbie-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24499
Jimmy Schulz
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ter, denen dann auch die privaten WLAN-Betreiber un-terliegen könnten. Solche Kollateralschäden können nurauftreten, wenn Vorschläge nicht zu Ende gedacht wer-den, und das darf uns im Sinne der Verbraucher nichtpassieren!Dies alles muss geklärt werden, um sicherzustellen,dass anonymes Surfen möglich ist, das den WLAN-Betreibern aber auch nicht zu viele Pflichten auferlegt.Und so kann das Ansinnen, Internet von allen für allezur Verfügung zu stellen, ganz schnell nach hinten losge-hen. Ich plädiere daher dafür, die vorliegenden Anträgeabzulehnen.Stattdessen müssen wir eine breit angelegte Debatteführen und dürfen nicht nur die Verantwortung immerwieder auf andere schieben. Schnellschüsse bringen unshier nicht weiter! Die Opposition tut gut daran, sich mitdurchdachten Vorschlägen in die Debatte einzubringen,anstatt populistische Forderungen aufzustellen.
Die SPD hat einen Antrag vorgelegt, in dem sie dieBundesregierung dazu auffordert, die in § 8 des Teleme-diengesetzes geregelte Haftungsfreistellung für Zu-gangsanbieter auch auf WLAN-Betreiber auszuweiten.Damit wiederholt sie im Großen und Ganzen das, wasder Bundesrat am 12. September 2012 bereits der Bun-desregierung aufgegeben hat. Wir halten nichts davon,bereits erteilte Prüfaufträge zu wiederholen. Wir sindwieder einmal einen Schritt weiter und bringen einenGesetzentwurf ein, der die bekannten Probleme nichtprüft, sondern löst.Was ist eigentlich das Problem? Das Problem ist diesogenannte Störerhaftung. Konkret bedeutet das: Wersein WLAN nicht oder nur unzureichend schützt und da-mit für jede Person in der Nähe zugänglich macht, kannzur Verantwortung gezogen werden, wenn diese Personbei der Verwendung des Internetzugangs eine Straftatbegeht. Wenn ich also meiner Nachbarin mein WLANzur Verfügung stellen möchte, weil diese sich keinenInternetzugang leisten kann, werde ich dafür zur Verant-wortung gezogen, wenn sie sich illegal Musik oderFilme aus dem Netz herunterlädt. Die Absurdität dieserRegelung muss man sich einmal vor Augen führen. Daswäre so, als wenn ich ein Restaurant betreibe und nacheiner Prügelei für die an den beteiligten Personen ent-standenen Schäden zur Verantwortung gezogen werdenwürde. Trotz dieser offenkundigen Absurdität wurdediese Regelung von der Rechtsprechung bestätigt. Dashat weitreichende Folgen. So gehen Bibliotheken, Cafés,Kommunen oder private Personen ein großes Risiko ein,wenn sie ihre WLANs bereitstellen. Im Zweifel werdensie darauf verzichten, dieses Risiko einzugehen. Geradefür Kommunen, die die Idee öffentlicher Freifunknetzeunterstützen, ist dies ein zentraler Hinderungsgrund.Die Vorteile offener WLANs liegen auf der Hand.Gewerbetreibende hätten zum Beispiel die Möglichkeit,ihren Kunden einen weiteren Service anzubieten. Vor al-lem aus sozialen Gesichtspunkten sind offene WLANssinnvoll. Menschen mit geringem Einkommen, die sichkeinen Internetanschluss leisten können, hätten so dieMöglichkeit, das Internet kostenlos zu nutzen. Nach dem
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24500 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012
(C)
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In seinem „Sommer unseres Lebens“-Urteil aus demMai 2010 vertritt der Bundesgerichtshof die Meinung,dass der Betrieb eines offenen WLAN grundsätzlich eineGefahrenquelle
darstellt, und legt demjenigen, der ein WLAN in Betriebnimmt, gewisse Pflichten zu dessen Sicherung auf, um soRechtsverstöße zu vermeiden. Unterbleiben die gefor-derten Sicherungsmaßnahmen, greift die sogenannteStörerhaftung. Und weil das für die Praxis und denAlltag der Menschen viele Probleme aufwirft, diskutie-ren wir seit dem Urteil die Frage, inwieweit die Privile-gierung für WLAN-Betreiber aus dem TelemediengesetzAnwendung finden muss.Kritiker des Urteils verweisen darauf, dass der BGHsich nicht mit dem einschlägigen Paragrafen des TMG,§ 8, beschäftigt hat. Die Ausblendung der im TMG vor-gesehenen Privilegierung sei vor allem deswegen nichtnachvollziehbar, da es sich im Zuge der Bereitstellungeines WLAN lediglich um eine Durchleitung, nicht aberdie Speicherung von Informationen bzw. Daten Dritterhandle. Somit könne der Betreiber eines WLAN durch-aus als Access Provider angesehen werden, weshalbsich der BGH zwingend mit der Vorschrift des § 8 TMGhätte beschäftigen müssen. Durch dieses Versäumnis seiein ursprünglich weder im TMG noch in der E-Com-merce-Richtlinie der EU vorgesehenes Ungleichgewichtzwischen gewerblichen und privaten Anbietern im Ver-gleich zu kommerziellen Internetprovidern entstanden.Man kann diesen Kritikern und dieser Argumentationnur recht geben.Das „Sommer unseres Lebens“-Urteil hat zu einererheblichen Rechtsunsicherheit bei den Betreibern öf-fentlicher WLAN-Netzwerke geführt. Als direkte Folgedes Richterspruchs schränkten zahlreiche private Anbie-ter und Gewerbetreibende ihre Angebote entweder starkein oder stellten diese komplett ein. Um es Internetcafés,Hotels, aber zum Beispiel auch der Freifunkgemeinde zuerlauben, anderen Personen auch weiterhin Zugang zuWLAN-Netzwerken anzubieten, erscheint es dringendangeraten, die durch das Urteil hervorgerufene Rechts-unsicherheit zu beheben und die ursprünglich vorgese-hene Gleichbehandlung von gewerblichen und privatenAnbietern mit kommerziellen Internetprovidern wiederherzustellen.Das hat offenbar auch die Justizministerkonferenzerkannt, die die Bundesregierung bereits im Juni diesesJahres aufforderte, hier für Rechtsklarheit zu sorgen.Auch der Bundesrat hat sich vor kurzem dafür ausge-sprochen und die Bundesregierung aufgefordert, zuprüfen, inwiefern die geltende Gesetzeslage präzisiertwerden kann, um so das Potenzial vorhandener WLAN-Netze stärker gesellschaftlich nutzbar machen zukönnen. So fordert der Bundesrat die Bundesregierungausdrücklich auf, zu prüfen, inwieweit das Haftungsri-siko für WLAN-Betreiber beschränkt werden kann, zumBeispiel indem die Haftungsbeschränkung für AccessProvider gemäß § 8 TMG auf andere WLAN-Betreibererstreckt wird. Dies wäre ein richtiger Schritt und istausdrücklich zu begrüßen.Gleichzeitig wird die Bundesregierung in dieserInitiative „zwecks Erhöhung der Rechtssicherheit undunter Einbeziehung von Zumutbarkeitskriterien“ aufge-fordert, „Schutzmaßnahmen, die die Betreiber vonWLAN-Netzen zur Vermeidung ihrer Verantwortlichkeitfür unbefugte Nutzung durch Dritte“ zu ergreifen haben,so „zu konkretisieren, dass Betreiber bei Erfüllungdieser Anforderungen ihre WLANs ohne Haftungs- undAbmahnungsrisiken betreiben können“. Was genauunter „technischen Maßnahmen“ oder „Zumutbarkeits-kriterien“ zu verstehen ist, bleibt indes leider unklar.Sosehr wir die Intention der Initiative einer Erhöhungder Rechtssicherheit für Anbieter von WLAN-Netzwer-ken begrüßen, so fraglich ist, ob den Verfassern die mög-lichen Auswirkungen ihrer Formulierungen bei einer– ob nun bewusst oder unbewusst – falschen Auslegungim Klaren sind. Hierdurch, aber auch durch die vageFormulierung von Prüfbitten in Richtung der Bundesre-gierung erscheint zumindest fraglich, ob die Initiativetrotz ihrer richtigen Intention letztendlich ihr eigentli-ches Ziel, einen Beitrag zur Verminderung der Rechts-unsicherheit für private und gewerbliche Betreiber vonWLAN-Netzen und einen verbesserten Zugang für Drittezu leisten, tatsächlich zu ermöglichen imstande ist.Auch halten wir eine weitere Aufforderung in Rich-tung Bundesregierung nur für bedingt geeignet, das an-gestrebte Ziel auch tatsächlich zu verwirklichen; denn„aufgefordert“ wird die Bundesregierung schon lange,was sie nicht davon abgehalten hat, diese Aufforderungschlichtweg nicht umzusetzen. Der Meinung, dass esnicht schaden kann, sich in die Schlange derjenigen ein-zureihen, die die Bundesregierung auffordern, einenVorschlag zur gesetzlichen Klarstellung vorzulegen undso für Rechtsklarheit zu sorgen, ist offenbar nun auchdie SPD, die heute noch einmal einen entsprechendenAntrag vorgelegt hat.Wie gesagt, wir hätten uns gewünscht, dieses für ei-nen besseren Zugang zum wichtigsten Kommunikations-raum unserer Zeit so wichtige Thema im Rahmen einertatsächlichen Debatte auf einem attraktiven Tagesord-nungsplatz zu führen. Darüber hinaus hätten wir es alszielführender erachtet, hier heute über einen ganz kon-kreten Vorschlag zu debattieren.Andererseits können wir das Ansinnen der SPD undihren Versuch, die Bundesregierung mit ihrem heutigenAntrag doch noch zum Handeln zu bewegen, durchausnachvollziehen: So hat zwar die Bundesjustizministerinim September dieses Jahres, also noch vor dem Be-schluss des Bundesrats, im Rahmen des „Zukunftsfo-rums Urheberrecht“ in Berlin angekündigt, tatsächlichdas Ansinnen der Justizministerinnen und Justizministeraufzugreifen und prüfen zu wollen, welche Möglichkei-ten bestehen, ein eventuell bestehendes Ungleichgewichtbei der Störerhaftung für WLAN-Betreiber auszuglei-chen. Geschehen ist bislang jedoch nichts. Während dieschwarz-gelbe Bundesregierung ansonsten gerne einmalZu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24501
Dr. Konstantin von Notz
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Referentenentwürfe vorlegt, um anschließend zuzu-schauen, wie diese im monatelangen Klein-Klein zwi-schen den Ministerien Stück für Stück zerrieben werden,wagt man im Bereich der Störerhaftung bei WLANsscheinbar noch nicht einmal die Vorlage eines solchenersten Entwurfs. Vor diesem Hintergrund und aufgrunddes bisherigen Totalausfalls der Bundesregierung imBereich des Urheberrechts sowie wegen der Erfahrun-gen bezüglich des bescheidenen Versuchs der Bundes-justizministerin, das Abmahnunwesen in Deutschlandendlich einzudämmen, ist auch vor dem Hintergrundganz erheblicher konservativer Beharrkräfte in dem Be-reich insgesamt heute bereits mehr als fraglich, ob einesolche Initiative tatsächlich in dieser Legislatur nochkommt. Es steht zu befürchten, dass hier das nächstenetzpolitische Projekt floppt.Statt nun nur eine weitere Aufforderung in RichtungBundesregierung vorzulegen und sich hierbei auf die bis-herigen Aufforderungen mit den beschriebenen Schwä-chen zu beziehen, scheint es angeraten, lieber gleich ei-nen konkreten Gesetzesvorschlag vorzulegen, der einesolche rechtliche Klarstellung direkt vornimmt. Dies hatdie Fraktion der Linken heute getan, indem sie eine ent-sprechende Initiative der Digitalen Gesellschaft e. V.vom Juni dieses Jahres aufgegriffen hat. Diese Initiativeaus der Mitte der Zivilgesellschaft begrüßen wir aus-drücklich und finden – das sagen wir hier in aller Deut-lichkeit – auch nichts Verwerfliches daran, wenn eineFraktion des Deutschen Bundestages sich dafür ent-scheidet, eine solche gute Initiative zu übernehmen undheute hier einzubringen – im Gegenteil.Vielmehr begrüßen wir es, dass die Regierungsfrak-tionen durch die Vorlage eines konkreten Vorschlagsdazu gebracht werden, sich mit diesem für unsere mo-derne Wissens- und Informationsgesellschaft so wichti-gen Thema endlich auseinanderzusetzen. Die Hoffnung,dass auch die Bundesregierung die anschließenden Be-ratungen zum Anlass nimmt, tatsächlich noch in dieserLegislatur einen entsprechenden Vorschlag zu unter-breiten, geben wir indes nicht auf.Dennoch behalten wir es uns vor, ebenfalls noch ei-nen eigenen gesetzgeberischen Vorschlag einzubringen.Dieser soll eine haftungsrechtliche Gleichstellung vonBürgerinnen und Bürgern und Gewerbetreibenden, dieeinen Internet-Zugang via WLAN anbieten, mit kommer-ziellen Internetprovidern zum Gegenstand haben unddas Ziel verfolgen, es privaten Nutzern, aber auch Be-treibern von Cafés und Geschäften sowie Freifunkern zuermöglichen, ihre Netze anderen Personen zur Verfü-gung zu stellen, ohne dabei Haftungsrisiken in Kauf neh-men zu müssen. Dieser Schritt ist überfällig und einewichtige Voraussetzung für unseren Weg ins digitale In-formationszeitalter.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/11145 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, Sie sind
damit einverstanden. Dann haben wir das so beschlos-
sen.
Der Gesetzentwurf auf Drucksache 17/11137 soll an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse über-
wiesen werden. Auch hier ist die Federführung wieder
umstritten. Wie dramatisch! Die Fraktionen der CDU/
CSU und FDP wünschen Federführung beim Ausschuss
für Wirtschaft und Technologie, die Fraktion Die Linke
wünscht Federführung beim Rechtsausschuss.
Ich lasse zuerst über den Linken-Antrag – Federfüh-
rung beim Rechtsausschuss – abstimmen. Wer stimmt
für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen? – Der Vorschlag ist gegen die
Stimmen der Linken von den übrigen Fraktionen des
Hauses abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
CDU/CSU und FDP – Federführung beim Wirtschafts-
ausschuss – abstimmen. Wer stimmt für diesen Überwei-
sungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Der Überwei-
sungsvorschlag ist gegen die Stimmen der Linken von
den übrigen Fraktionen des Hauses angenommen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 26. Oktober 2012,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen eine
ruhige Nacht.