Protokoll:
17201

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 17

  • date_rangeSitzungsnummer: 201

  • date_rangeDatum: 25. Oktober 2012

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 23:45 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 17/201 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 201. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 I n h a l t : Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeord- neten Reinhold Sendker . . . . . . . . . . . . . . . . Wahl der Abgeordneten Dr. Michael Meister und Hubertus Heil (Peine) als Mitglieder des Verwaltungsrates der Kreditanstalt für Wiederaufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahl des Abgeordneten Patrick Kurth (Kyffhäuser) als Mitglied in den Beirat beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR gemäß § 39 Abs. 1 des Stasi-Unterla- gen-Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahl der Abgeordneten Petra Hinz (Essen) als stellvertretendes Mitglied in den Beirat zur Auswahl von Themen für die Sonder- postwertzeichen ohne Zuschlag beim Bun- desfinanzministerium . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Absetzung der Tagesordnungspunkte 4, 5, 22 und 24 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . Begrüßung der Präsidentin des Parlaments der Republik Island, Frau Ásta Jóhannesdóttir . Zusatztagesordnungspunkt 2: Wahl des Vizepräsidenten des Bundesrech- nungshofes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 3: a) – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu Änderungen im Bereich der geringfügigen Beschäftigung (Drucksachen 17/10773, 17/11174) . . – Bericht des Haushaltsausschusses ge- mäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 17/11178) . . . . . . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Zimmermann, Jutta Krellmann, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Minijobs mit so- zialversicherungspflichtiger Arbeit gleich- stellen (Drucksachen 17/7386, 17/11174) . . . . . . Karl Schiewerling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Anette Kramme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE)  (Erklärung nach § 30 GO) . . . . . . . . . . . . . Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU)  (Erklärung nach § 30 GO) . . . . . . . . . . . . . Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 24231 A 24231 B 24231 B 24231 B 24231 C 24232 C 24232 C 24235 A 24232 D 24233 B 24238 A 24233 B 24233 C 24233 C 24233 D 24235 B 24236 C 24238 B 24240 B 24241 D 24242 A 24242 C 24243 A 24244 C Inhaltsverzeichnis II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 Sebastian Blumenthal (FDP) . . . . . . . . . . . . . Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) . . . . . . . . . . Heike Brehmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Dr. Peter Tauber (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 3: a) Antrag der Abgeordneten Dr. Karl Lauterbach, Elke Ferner, Bärbel Bas, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Praxisgebühr sofort abschaffen (Drucksache 17/11192) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Harald Weinberg, Dr. Martina Bunge, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Praxisgebühr jetzt abschaffen (Drucksache 17/11141) . . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Praxisgebühr und Zusatz- beiträge jetzt abschaffen (Drucksache 17/11179) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Karl Lauterbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Singhammer (CDU/CSU) . . . . . . . . Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE) . . . . . . . . Heinz Lanfermann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jens Spahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Karl Lauterbach (SPD) . . . . . . . . . . . . Dr. Edgar Franke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) . . . . . . Karin Maag (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Steffen-Claudio Lemme (SPD) . . . . . . . . . . . Rudolf Henke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 48: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Auswande- rerschutzgesetzes (Drucksache 17/11047) . . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Anpassung der Vorschriften des Internationalen Privatrechts an die Ver- ordnung (EU) Nr. 1259/2010 und zur Änderung anderer Vorschriften des In- ternationalen Privatrechts  (Drucksache 17/11049) . . . . . . . . . . . . . . c) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu den Vorschlägen für einen Beschluss des Rates über die Unter- zeichnung und für einen Beschluss des Rates über den Abschluss des Abkom- mens zwischen der Europäischen Union und der Schweizerischen Eidgenossen- schaft über die Zusammenarbeit bei der Anwendung ihres Wettbewerbsrechts (Drucksache 17/11050) . . . . . . . . . . . . . . d) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Änderung des AZR-Gesetzes (Drucksache 17/11051) . . . . . . . . . . . . . . e) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Internationalen Überein- kommen von 2004 zur Kontrolle und Behandlung von Ballastwasser und Se- dimenten von Schiffen (Ballastwasser- Gesetz) (Drucksache 17/11052) . . . . . . . . . . . . . . f) Antrag der Abgeordneten Oliver Krischer, Ute Koczy, Beate Walter-Rosenheimer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Transpa- renz bei Steinkohleimporten (Drucksache 17/10845) . . . . . . . . . . . . . . g) Antrag der Abgeordneten Beate Walter- Rosenheimer, Dr. Thomas Gambke, Ingrid Hönlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Erleichterungen für Klein- und Kleinst- kapitalgesellschaften bei der Offenle- gung der Jahresabschlüsse (Drucksache 17/11027) . . . . . . . . . . . . . . h) Antrag der Abgeordneten Stephan Kühn, Renate Künast, Dr. Anton Hofreiter, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Aufsichts- rat neu besetzen, Geschäftsführer ent- lassen und den Flughafen Berlin-Bran- denburg skandalfrei fertigstellen (Drucksache 17/11168) . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 4: Antrag der Abgeordneten Gerold Reichenbach, Michael Hartmann (Wackernheim), Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Europäische Harmonisie- rung im Datenschutz auf hohem Niveau sicherstellen – hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages nach Artikel 23 24245 D 24246 C 24247 D 24249 A 24250 A 24252 A 24254 A 24252 C 24252 C 24252 C 24252 D 24256 B 24258 A 24259 D 24261 A 24262 A 24263 C 24264 C 24265 D 24267 B 24268 D 24270 A 24272 A 24272 A 24272 B 24272 B 24272 B 24272 C 24272 C 24272 D Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 III Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundes- tag in Angelegenheiten der Europäischen Union (Drucksache 17/11144) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 49: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die weitere Bereini- gung von Übergangsrecht aus dem Eini- gungsvertrag (Drucksachen 17/10755, 17/11092) . . . . . b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP-Sonderver- mögens für das Jahr 2013 (ERP-Wirt- schaftsplangesetz 2013) (Drucksachen 17/10915, 17/11165) . . . . . c) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der Verordnung (EU) Nr. 1177/2010 des Eu- ropäischen Parlaments und des Rates vom 24. November 2010 über die Fahr- gastrechte im See- und Binnenschiffs- verkehr sowie zur Änderung des Luft- verkehrsgesetzes (Drucksachen 17/10958, 17/11181) . . . . . d) – Zweite Beratung und Schlussabstim- mung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 23. April 2012 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Großherzog- tum Luxemburg zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Ver- hinderung der Steuerhinterziehung auf dem Gebiet der Steuern vom Ein- kommen und vom Vermögen (Drucksachen 17/10751, 17/11106) . . – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zu dem Abkom- men vom 12. April 2012 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Nieder- lande zur Vermeidung der Doppel- besteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Ge- biet der Steuern vom Einkommen  (Drucksachen 17/10752, 17/11106) . . e) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadt- entwicklung – zu dem Antrag der Abgeordneten Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, Martin Burkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Klimagerechte Stadtpolitik – Potentiale nutzen, so- ziale Gerechtigkeit garantieren, wirtschaftliche Entwicklung unter- stützen – zu dem Antrag der Abgeordneten Bettina Herlitzius, Daniela Wagner, Stephan Kühn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Klimaschutz in der Stadt – zu dem Antrag der Abgeordneten Daniela Wagner, Bettina Herlitzius, Ingrid Nestle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Energieeffizienz und Kli- maschutz im Gebäudebereich (Drucksachen 17/7023, 17/5368, 17/5778, 17/8384) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f)–l) Beratung der Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses: Sammelübersich- ten 480, 481, 482, 483, 484, 485 und 486 zu Petitionen (Drucksachen 17/11020, 17/11021, 17/11022, 17/11023, 17/11024, 17/11025, 17/11026) Zusatztagesordnungspunkt 5: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Haltung der Bundesregierung zu Äußerungen des Vizekanzlers Dr. Rösler, das Betreuungsgeld koste viel Geld, sei nicht gegenfinanziert und eine Bildungs- komponente fehle völlig . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD) . . . . . . . . Markus Grübel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Patrick Meinhardt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Norbert Geis (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Caren Marks (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Florian Toncar (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rolf Schwanitz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Daniela Ludwig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD) . . . . Dr. Peter Tauber (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 24272 D 24273 A 24273 B 24273 C 24274 A 24274 A 24274 C 24275 A 24275 C 24275 D 24277 A 24278 B 24279 D 24281 A 24282 B 24283 D 24285 A 24286 C 24287 C 24288 D 24290 B IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 Tagesordnungspunkt 7: a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Festsetzung der Beitragssätze in der gesetzli- chen Rentenversicherung für das Jahr 2013 (Beitragssatzgesetz 2013) (Drucksachen 17/10743, 17/11059 (neu), 17/11175) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Bericht des Haushaltsausschusses ge- mäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 17/11177) . . . . . . . . . . . . b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Anton Schaaf, Anette Kramme, Petra Ernstberger, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der SPD ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Schaffung eines Demographie-Fonds in der gesetzlichen Rentenversicherung zur Stabilisierung der Beitragssatzent- wicklung (Demographie-Fonds-Gesetz) (Drucksachen 17/10775, 17/11175) . . . . . c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales – zu dem Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion DIE LINKE: Rentenbeiträge nicht absenken – Spielräume für Leistungsverbesse- rungen nutzen – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Kerstin Andreae, Markus Kurth, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Beitragssätze nachhaltig stabilisieren, Erwerbs- minderungsrente verbessern, Reha- Budget angemessen ausgestalten (Drucksachen 17/10779, 17/11010, 17/11175) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 6: a) Antrag der Abgeordneten Jutta Krellmann, Sabine Zimmermann, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Psychische Belastungen in der Arbeitswelt reduzieren (Drucksache 17/11042) . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Beate Müller- Gemmeke, Markus Kurth, Brigitte Pothmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Psychi- sche Gefährdungen mindern – Alters- und alternsgerecht arbeiten (Drucksache 17/10867) . . . . . . . . . . . . . . Jutta Krellmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Josip Juratovic (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 9: – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 21. September 2011 zwischen der Bun- desrepublik Deutschland und der Schwei- zerischen Eidgenossenschaft über Zu- sammenarbeit in den Bereichen Steuern und Finanzmarkt in der Fassung vom 5. April 2012 (Drucksachen 17/10059, 17/11093) . . . . . – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 17/11096) . . . . . . . . . . . . . . Olav Gutting (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Joachim Poß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister  BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister  BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Martin Gerster (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24291 C 24291 D 24291 D 24291 D 24292 A 24293 C 24295 B 24296 C 24297 A 24298 B 24298 C 24300 A 24300 C 24303 A 24303 A 24303 B 24304 A 24304 D 24306 B 24307 D 24308 C 24309 C 24309 D 24310 A 24311 B 24312 D 24314 C 24315 B 24316 C 24318 A 24320 A 24320 C 24321 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 V Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 8: Antrag der Abgeordneten Kerstin Andreae, Dr. Tobias Lindner, Beate Walter-Rosenheimer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wirtschaft im Umbruch – Wandel ökologisch, sozial und europäisch gestalten (Drucksache 17/11162) . . . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 6: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der Abgeordneten Garrelt Duin, Hubertus Heil (Peine), Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Chancen nutzen – Vorsorgende Wirt- schaftspolitik jetzt einleiten (Drucksachen 17/8346, 17/8642) . . . . . . . . . . Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Ingo Egloff (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP) . . . . . . . . . Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP) . . . . . . . . . Ulla Lötzer (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 11: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der deutschen Fi- nanzaufsicht (Drucksachen 17/10040, 17/10252, 17/11119) . Peter Aumer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Manfred Zöllmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Björn Sänger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Kerstin Tack (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 10: Beratung der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Uwe Beckmeyer, Sören Bartol, Martin Burkert, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der SPD: Zukunft des Mautkonzeptes in Deutschland (Drucksachen 17/9623, 17/11098) . . . . . . . . . Uwe Beckmeyer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Karl Holmeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Florian Pronold (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Leidig (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Oliver Luksic (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Steffen Bilger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Florian Pronold (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 15: a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Jahressteuergesetzes 2013 (Drucksachen 17/10000, 17/10604, 11190, 17/11220) . . . . . . . . . . . . . . . . – Bericht des Haushaltsausschusses ge- mäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 17/11191) . . . . . . . . . . . . b) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Versicherungsteuergesetzes und des Kraftfahrzeugsteuergesetzes (Ver- kehrsteueränderungsgesetz – Ver- kehrStÄndG) (Drucksachen 17/10039, 17/10424, 17/11183, 17/11219) . . . . . . . . . . . . . . – Bericht des Haushaltsausschusses ge- mäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 17/11187) . . . . . . . . . . . . Olav Gutting (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) . . . . . . . . Dr. Daniel Volk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Lisa Paus (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Patricia Lips (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 24322 A 24325 A 24322 C 24322 C 24322 D 24323 C 24327 B 24329 A 24330 D 24331 B 24332 A 24332 D 24334 B 24334 C 24335 C 24336 C 24337 B 24338 A 24339 A 24340 B 24341 C 24341 D 24344 A 24344 B 24345 A 24346 A 24346 C 24347 C 24348 C 24349 C 24351 A 24351 C 24351 D 24351 D 24352 A 24352 B 24353 B 24354 B 24355 B 24356 C 24357 C VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 Sabine Bätzing-Lichtenthäler (SPD) . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE  GRÜNEN) (Erklärung nach § 31 GO) . . . Michael Kauch (FDP) (Erklärung  nach § 31 GO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Namentliche Abstimmungen . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 12: Antrag der Abgeordneten Josip Juratovic, Anette Kramme, Hubertus Heil (Peine), wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Neue Chancen für Menschen mit Migra- tionshintergrund am Arbeitsmarkt (Drucksache 17/9974) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Josip Juratovic (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Uwe Schummer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 13: a) – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung und Verein- fachung der Unternehmensbesteue- rung und des steuerlichen Reisekos- tenrechts  (Drucksachen 17/10774, 17/11180) . . – Bericht des Haushaltsausschusses ge- mäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 17/11189) . . . . . . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Fi- nanzausschusses zu dem Antrag der Abge- ordneten Dr. Barbara Höll, Richard Pitterle, Dr. Axel Troost, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Verlustverrechnung einschränken – Steuereinnahmen sicherstellen (Drucksachen 17/5525, 17/11180) . . . . . . Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU) . . . . . . Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) . . . . . . . . Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU) . . . . . Tagesordnungspunkt 14: Antrag der Abgeordneten Nicole Gohlke, Jan Korte, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Hochschulzu- gang bundesgesetzlich regeln – Recht auf freien Zugang zum Master sichern (Drucksache 17/10861) . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 20: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes für einen Gerichtsstand bei be- sonderer Auslandsverwendung der Bun- deswehr (Drucksachen 17/9694, 17/11182) . . . . . . . . . Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) . . . . . . . . . Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Thomae (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) . . . . . . . . Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 16: a) Antrag der Abgeordneten Kai Gehring, Ekin Deligöz, Krista Sager, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Konsequenzen aus dem nationalen Bildungsbericht zie- hen – Bildungsblockaden aufbrechen und mehr Teilhabe ermöglichen (Drucksache 17/11074) . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Kai Gehring, Markus Kurth, Katja Dörner, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Zusammen ler- nen – Recht auf inklusive Bildung bundesweit umsetzen (Drucksache 17/11163) . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 7: Antrag der Abgeordneten Dr. Rosemarie Hein, Dr. Ilja Seifert, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Gemeinsam lernen – Inklusion in der Bil- dung endlich umsetzen (Drucksache 17/11143) . . . . . . . . . . . . . . . . . 24358 D 24359 C 24360 C 24361 C 24362 C, 24364 C 24367 A 24367 B 24368 C 24369 C 24370 B 24372 A 24372 D 24373 D 24374 A 24374 A 24374 B 24375 B 24377 A 24378 D 24380 A 24381 B 24382 D 24383 A 24383 A 24384 D 24386 B 24387 B 24388 B 24389 C 24389 C 24389 D Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 VII Tagesordnungspunkt 17: Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der AU/UN-Hybrid-Opera- tion in Darfur (UNAMID) auf Grundlage der Resolution 1769 (2007) des Sicherheits- rates der Vereinten Nationen vom 31. Juli 2007 und folgender Resolutionen, zuletzt 2063 (2012) vom 31. Juli 2012 (Drucksache 17/11036) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister  AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister  BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christine Buchholz (DIE LINKE) . . . . . . . . . Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 18: Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streit- kräfte an der von den Vereinten Nationen geführten Friedensmission in Südsudan (UNMISS) auf Grundlage der Resolutionen 1996 (2011) des Sicherheitsrates der Verein- ten Nationen vom 8. Juli 2011 und 2057 (2012) vom 5. Juli 2012 (Drucksache 17/11037) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister  AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) . . . . . . . . Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister  BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christine Buchholz (DIE LINKE) . . . . . . . . . Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 19: Antrag der Abgeordneten Johannes Pflug, Dr. Rolf Mützenich, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Ute Koczy, Dr. Frithjof Schmidt, Kerstin Müller (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Eine kohä- rente Gesamtstrategie für Pakistan – Für eine aktive Einbindungsdiplomatie, Stär- kung der demokratischen Kräfte und eine verlässliche Entwicklungszusammenarbeit (Drucksache 17/11033) . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 26: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Sieb- ten Buches Sozialgesetzbuch  (Drucksachen 17/10750, 17/11176) . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 21: Antrag der Abgeordneten Steffen-Claudio Lemme, Dr. Marlies Volkmer, Bärbel Bas, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Betroffenen Frauen nach dem Anti- D-Hilfegesetz zu mehr Verfahrenssicher- heit und Transparenz verhelfen (Drucksache 17/10645) . . . . . . . . . . . . . . . . . Karin Maag (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Steffen-Claudio Lemme (SPD) . . . . . . . . . . . . Dr. Erwin Lotter (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 28: Zweite und dritte Beratung des vom Bundes- rat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Neunten Buches Sozial- gesetzbuch  (Drucksachen 17/10146, 17/11184) . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 23: Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Lebenssituation der durch Contergan ge- schädigten Menschen mit einem Dritten Conterganstiftungsänderungsgesetz und weiteren Maßnahmen spürbar verbessern (Drucksache 17/11041) . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Jarzombek (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) . . . Nicole Bracht-Bendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 30: – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Al- tersversorgung der Bezirksschornstein- 24390 A 24390 A 24391 B 24393 A 24393 C 24394 C 24395 B 24396 B 24396 C 24398 A 24399 B 24400 A 24401 A 24402 A 24403 B 24403 C 24404 A 24404 A 24405 B 24406 D 24407 D 24408 D 24409 C 24410 A 24410 A 24411 B 24412 C 24413 C 24415 B VIII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 fegermeister und zur Änderung ande- rer Gesetze (Drucksachen 17/10749, 17/10962, 17/11185) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 17/11188) . . . . . . . . . . . . . . . Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . . Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 25: Antrag der Abgeordneten Dorothea Steiner, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wertstoffsammlung verbes- sern – Mehr Ressourcen aus Abfällen zu- rückgewinnen (Drucksache 17/11161) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Brand (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Gerd Bollmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Horst Meierhofer (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 32: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Gewerbeord- nung und anderer Gesetze (Drucksachen 17/10961, 17/11164). . . . . . . . . Lena Strothmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Andrea Wicklein (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Claudia Bögel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johanna Voß (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Beate Walter-Rosenheimer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 27: Erste Beratung des von den Abgeordneten Rüdiger Veit, Gabriele Fograscher, Wolfgang Gunkel, weiteren Abgeordneten und der Frak- tion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Situation Minderjähriger im Aufenthalts- und Asyl- verfahrensrecht (Drucksache 17/9187) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 33: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Freizügigkeits- gesetzes/EU und weiterer aufenthaltsrecht- licher Vorschriften (Drucksachen 17/10746, 17/11105) . . . . . . . . Reinhard Grindel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Serkan Tören (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär  BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 29: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der Abgeordneten Kerstin Griese, Dr. Eva Högl, Michael Roth (Heringen), wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Nationales Reformprogramm 2012 muss soziale Ziele der Strategie „Europa 2020“ berücksichtigen (Drucksachen 17/9154, 17/9480) . . . . . . . . . . Lena Strothmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Kerstin Griese (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Schlecht (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 35: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Vorschlag für eine Verord- nung des Rates über die Erweiterung des Geltungsbereichs der Verordnung (EU) 24416 C 24416 C 24416 D 24417 D 24418 D 24420 A 24420 C 24421 A 24422 A 24422 A 24423 A 24424 D 24426 A 24426 D 24427 D 24427 D 24429 A 24429 D 24431 B 24432 A 24432 D 24433 A 24434 D 24436 D 24437 C 24438 B 24438 D 24439 A 24439 D 24440 C 24441 A 24442 B 24443 A 24444 A 24444 B 24445 D 24446 D 24447 B 24448 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 IX Nr. 1214/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates über den gewerbsmäßigen grenzüberschreitenden Straßentransport von Euro-Bargeld zwischen Mitgliedstaaten des Euro-Raums (Drucksachen 17/10759, 17/11186). . . . . . . . . Peter Aumer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Martin Gerster (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Holger Krestel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 31: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Abge- ordneten Karin Binder, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Mineralölhaltige Druckfarben bei wiederverwendbarem Pa- pier und Lebensmittelverpackungen ver- bieten (Drucksachen 17/7371, 17/10661) . . . . . . . . . Mechthild Heil (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Elvira Drobinski-Weiß (SPD) . . . . . . . . . . . . . Dr. Erik Schweickert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Karin Binder (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 37: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Ge- setzes zur Änderung des Unterhaltsvor- schussgesetzes und anderer Gesetze (Unterhaltsvorschussentbürokratisie- rungsgesetz) (Drucksache 17/8802) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des Vollzugs im Unter- haltsvorschussrecht (Drucksache 17/2584) . . . . . . . . . . . . . . . . Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU) . . Norbert Geis (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Caren Marks (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sibylle Laurischk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 39: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Fakultativprotokoll vom 19. Dezember 2011 zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend ein Mitteilungsver- fahren (Drucksache 17/10916) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Peter Tauber (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Eckhard Pols (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) . . . Miriam Gruß (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 34: Antrag der Abgeordneten Krista Sager, Ekin Deligöz, Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Transparenz als verbindliches Grund- prinzip in der öffentlich finanzierten Wis- senschaft verankern (Drucksache 17/11029) . . . . . . . . . . . . . . . . . Tankred Schipanski (CDU/CSU) . . . . . . . . . . René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) . . . . . . Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Krista Sager (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 41: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 17. November 2011 zwischen der Bun- desrepublik Deutschland und dem Fürs- tentum Liechtenstein zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und der Steuerverkür- zung auf dem Gebiet der Steuern vom Ein- kommen und vom Vermögen (Drucksachen 17/10753, 17/11104) . . . . . . . . Manfred Kolbe (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) . . . . . . . Holger Krestel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Richard Pitterle (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24448 C 24448 D 24449 D 24450 B 24450 D 24451 B 24452 A 24452 A 24452 D 24453 C 24454 B 24455 A 24456 A 24456 A 24456 A 24457 C 24458 C 24459 C 24460 B 24461 A 24461 D 24462 A 24463 A 24463 C 24464 A 24464 D 24465 C 24466 B 24466 B 24467 B 24468 B 24469 C 24470 A 24471 B 24471 C 24472 D 24474 A 24474 C 24475 A X Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 Tagesordnungspunkt 36: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- wärtigen Ausschusses – zu dem Antrag der Abgeordneten Edelgard Bulmahn, Johannes Pflug, Karin Roth (Esslingen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Myanmar auf dem Weg zur Demokratie begleiten und unterstützen – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Frithjof Schmidt, Ute Koczy, Dr. Thomas Gambke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Myanmar – Den demokratischen Wan- del unterstützen (Drucksachen 17/9727, 17/9739, 17/10903) . Jürgen Klimke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Edelgard Bulmahn (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) . . . . . . . . . Stefan Liebich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 38: Antrag der Abgeordneten Uwe Beckmeyer, Ingo Egloff, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Kein Port Package III auf Kosten von Ar- beitsplätzen und Sicherheit (Drucksache 17/11147) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Werner Kammer (CDU/CSU) . . . . . . . . Matthias Lietz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Uwe Beckmeyer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Torsten Staffeldt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Herbert Behrens (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 40: a) Antrag der Abgeordneten Tom Koenigs, Kerstin Müller (Köln), Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Die Anwendung der Administrativhaft und willkürliche Festnahmen durch is- raelische und palästinensische Sicher- heitskräfte verurteilen (Drucksache 17/11166) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Tom Koenigs, Kerstin Müller (Köln), Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Die Gaza-Blockade beenden (Drucksache 17/11167) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . . . Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Annette Groth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 42: a) Antrag der Abgeordneten Lars Klingbeil, Martin Dörmann, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Potenziale von WLAN-Netzen nutzen und Rechtssicherheit für WLAN-Be- treiber schaffen (Drucksache 17/11145) . . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Halina Wawzyniak, Jan Korte, Nicole Gohlke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Telemediengesetzes – Störerhaftung  (Drucksache 17/11137) . . . . . . . . . . . . . . . Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Lars Klingbeil (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jimmy Schulz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Anlage 2 Namensverzeichnis der Mitglieder des Deut- schen Bundestages, die an der Wahl des Vize- präsidenten des Bundesrechnungshofes teil- genommen haben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 3 Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichen Abstimmung zu dem Entwurf eines Gesetzes zu Änderungen im Bereich der geringfügigen Beschäftigung (Tagesordnungspunkt 3a) 24475 D 24476 A 24477 A 24477 D 24479 B 24480 C 24481 B 24482 C 24482 D 24484 B 24484 D 24485 D 24486 B 24487 B 24488 A 24488 B 24488 B 24489 C 24491 A 24491 D 24493 A 24494 B 24494 C 24494 C 24495 B 24496 D 24498 A 24499 A 24500 A 24501 D 24503 A 24504 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 XI Rita Pawelski (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU) . . . . . Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU) . . Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Jan-Marco Luczak und Stefanie Vogelsang (beide CDU/CSU) zur namentlichen Abstim- mung über den Änderungsantrag der Fraktion BÜNDBIS/90/Die GRÜNEN zu der zweiten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundes- regierung; Entwurf eines Jahressteuergesetzes 2013 (Tagesordnungspunkt 15 a) . . . . . . . . . . Anlage 5 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und Dr. Max Stadler (beide FDP) zur namentli- chen Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion BÜNDNIS/90/Die GRÜNEN zu der zweiten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung; Entwurf eines Jahressteuer- gesetzes 2013 (Tagesordnungspunkt 15 a) . . . Anlage 6 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Sylvia Canel, Michael Kauch, Dr. h. c. Jürgen Koppelin, Sebastian Körber, Oliver Luksic, Patrick Meinhardt, Jan Mücke und Marina Schuster (alle FDP) zur namentlichen Ab- stimmung über den Änderungsantrag der Fraktion BÜNDNIS/90/Die GRÜNEN zu der zweiten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung; Entwurf eines Jahressteuer- gesetzes 2013 (Tagesordnungspunkt 15 a) . . . Anlage 7 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Christine Aschenberg-Dugnus, Claudia Bögel, Marco Buschmann, Helga Daub, Patrick Döring, Jörg van Essen, Heiner Kamp, Dr. Erwin Lotter, Gabriele Molitor, Petra Müller (Aachen), Burkhardt Müller-Sönksen, Dirk Niebel, Gisela Piltz, Werner Simmling, Joachim Spatz und Johannes Vogel (alle FDP) zur namentlichen Abstimmung über den Än- derungsantrag der Fraktion BÜNDNIS/90/Die GRÜNEN zu der zweiten Beratung des Ge- setzentwurfs der Bundesregierung; Entwurf eines Jahressteuergesetzes 2013 (Tagesord- nungspunkt 15 a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 8 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Ingrid Fischbach, Frank Heinrich, Anette Hübinger, Dr. Stefan Kaufmann, Nadine Schön (St. Wendel), Dr. Kristina Schröder (Wiesbaden), Jens Spahn, Antje Tillmann, Kai Wegner, Marcus Weinberg (Hamburg), Sabine Weiss (Wesel I) und Dr. Matthias Zimmer (alle CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion BÜNDNIS/90/Die GRÜNEN zu der zweiten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung; Entwurf eines Jahressteuer- gesetzes 2013 (Tagesordnungspunkt 15 a) . . . Anlage 9 Erklärung nach § 31 GO zur namentlichen Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion BÜNDNIS/90/Die GRÜNEN zu der zweiten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung; Entwurf eines Jahressteuer- gesetzes 2013 (Tagesordnungspunkt 15 a) Christian Hirte (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Dr. Birgit Reinemund (FDP) . . . . . . . . . . . . . Dr. Daniel Volk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 10 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Elvira Drobinski-Weiß, Hans-Joachim Hacker, Gabriele Hiller-Ohm und Heinz Paula (alle SPD) zur namentlichen Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD zu der zweiten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung; Entwurf eines Jahressteuer- gesetzes 2013 (Tagesordnungspunkt 15 a) . . . Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Hochschulzugang bundesgesetz- lich regeln – Recht auf freien Zugang zum Master sichern (Tagesordnungspunkt 14) Tankred Schipanski (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU) . . . . . . . . Swen Schulz (Spandau) (SPD) . . . . . . . . . . . . Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) . . . . . . Nicole Gohlke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24506 A 24506 B 24506 B 24506 D 24507 B 24507 C 24508 A 24508 C 24509 A 24509 D 24510 A 24510 C 24511 A 24511 D 24513 A 24514 B 24515 D 24516 C XII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 Anlage 12 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: Konsequenzen aus dem nationa- len Bildungsbericht ziehen – Bildungsblocka- den aufbrechen und mehr Teilhabe ermögli- chen; Zusammen lernen – Recht auf inklusive Bildung bundesweit umsetzen; Gemeinsam lernen – Inklusion in der Bildung endlich um- setzen (Tagesordnungspunkt 16 a und b, Zu- satztagesordnungspunkt 7) Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) . . Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Oliver Kaczmarek (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Sylvia Canel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE) . . . . . . . . . Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 13 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Eine kohärente Gesamtstrategie für Pakistan – Für eine aktive Einbindungsdi- plomatie, Stärkung der demokratischen Kräfte und eine verlässliche Entwicklungszusam- menarbeit (Tagesordnungspunkt 19) Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) . . . . . . . . . Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Johannes Pflug (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bijan Djir-Sarai (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Ute Koczy (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 14 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Än- derung des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (Tagesordnungspunkt 26) Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . . . Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Josip Juratovic (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Miriam Gruß (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 15 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (Ta- gesordnungspunkt 28) Maria Michalk (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Molitor (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24517 B 24518 C 24519 C 24520 D 24522 A 24523 A 24524 B 24525 B 24526 C 24527 C 24528 C 24529 C 24530 B 24531 B 24532 B 24532 D 24533 B 24533 C 24534 A 24535 C 24536 D 24537 D 24538 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24231 (A) (C) (D)(B) 201. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 Beginn: 9.00 Uhr
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    Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24503 (A) (C) (D)(B) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten * für die Teilnahme an der 127. Jahreskonferenz der Interparlamenta- rischen Union  Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Bär, Dorothee CDU/CSU 25.10.2012 Beck (Reutlingen), Ernst-Reinhard CDU/CSU 25.10.2012 Becker, Dirk SPD 25.10.2012 Burgbacher, Ernst FDP 25.10.2012 Dörflinger, Thomas CDU/CSU 25.10.2012 Funk, Alexander CDU/CSU 25.10.2012 Gabriel, Sigmar SPD 25.10.2012 Griese, Kerstin SPD 25.10.2012 Gruß, Miriam FDP 25.10.2012 Heinen-Esser, Ursula CDU/CSU 25.10.2012 Dr. Hendricks, Barbara SPD 25.10.2012 Höger, Inge DIE LINKE 25.10.2012 Jarzombek, Thomas CDU/CSU 25.10.2012 von Klaeden, Eckart CDU/CSU 25.10.2012 Kuhn, Fritz BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 25.10.2012 Kumpf, Ute SPD 25.10.2012 von der Marwitz, Hans- Georg CDU/CSU 25.10.2012 Menzner, Dorothée DIE LINKE 25.10.2012 Nink, Manfred SPD 25.10.2012 Dr. Ratjen-Damerau, Christiane FDP 25.10.2012 Remmers, Ingrid DIE LINKE 25.10.2012 Scharfenberg, Elisabeth BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 25.10.2012 Schmidt (Eisleben), Silvia SPD 25.10.2012 Schreiner, Ottmar SPD 25.10.2012 Dr. Schröder, Ole CDU/CSU 25.10.2012 Silberhorn, Thomas CDU/CSU 25.10.2012* Süßmair, Alexander DIE LINKE 25.10.2012 Dr. Troost, Axel DIE LINKE 25.10.2012 Wagenknecht, Sahra DIE LINKE 25.10.2012 Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 25.10.2012 Winkler, Josef Philip BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 25.10.2012 Ziegler, Dagmar SPD 25.10.2012 Zimmermann,  Sabine DIE LINKE 25.10.2012  Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Anlagen 24504 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 (A) (C) (D)(B) Anlage 2 Namensverzeichnis der Mitglieder des Deutschen Bundestages, die an der Wahl des Vizepräsidenten des Bundesrechnungs- hofes teilgenommen haben CDU/CSU Ilse Aigner Peter Altmaier Peter Aumer Thomas Bareiß Norbert Barthle Günter Baumann Dr. Christoph Bergner Peter Beyer Steffen Bilger Clemens Binninger Dr. Maria Böhmer Wolfgang Börnsen (Bönstrup) Wolfgang Bosbach Norbert Brackmann Klaus Brähmig Michael Brand Dr. Reinhard Brandl Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Helge Braun Heike Brehmer Ralph Brinkhaus Cajus Caesar Gitta Connemann Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Dr. Thomas Feist Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Hartwig Fischer (Göttingen) Dirk Fischer (Hamburg) Axel E. Fischer (Karlsruhe- Land) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Herbert Frankenhauser Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) Michael Frieser Erich G. Fritz Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Ingo Gädechens Dr. Peter Gauweiler Dr. Thomas Gebhart Norbert Geis Eberhard Gienger Michael Glos Josef Göppel Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Ute Granold Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Manfred Grund Olav Gutting Florian Hahn Dr. Stephan Harbarth Jürgen Hardt Gerda Hasselfeldt Dr. Matthias Heider Helmut Heiderich Mechthild Heil Frank Heinrich Rudolf Henke Michael Hennrich Ansgar Heveling Ernst Hinsken Peter Hintze Christian Hirte Robert Hochbaum Karl Holmeier Franz-Josef Holzenkamp Joachim Hörster Anette Hübinger Hubert Hüppe Dr. Franz Josef Jung Andreas Jung (Konstanz) Dr. Egon Jüttner Bartholomäus Kalb Hans-Werner Kammer Steffen Kampeter Alois Karl Bernhard Kaster Volker Kauder Siegfried Kauder (Villingen- Schwenningen) Dr. Stefan Kaufmann Roderich Kiesewetter Ewa Klamt Volkmar Klein Jürgen Klimke Axel Knoerig Jens Koeppen Manfred Kolbe Dr. Rolf Koschorrek Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Dr. Günter Krings Rüdiger Kruse Bettina Kudla Dr. Hermann Kues Günter Lach Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) Andreas G. Lämmel Dr. Norbert Lammert Katharina Landgraf Ulrich Lange Dr. Max Lehmer Paul Lehrieder Dr. Ursula von der Leyen Ingbert Liebing Matthias Lietz Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Dr. Jan-Marco Luczak Daniela Ludwig Dr. Michael Luther Karin Maag Dr. Thomas de Maizière Hans-Georg von der Marwitz Andreas Mattfeldt Stephan Mayer (Altötting) Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Maria Michalk Dr. h. c. Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Philipp Mißfelder Dietrich Monstadt Marlene Mortler Dr. Gerd Müller Stefan Müller (Erlangen) Bernd Neumann (Bremen) Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Eduard Oswald Henning Otte Dr. Michael Paul Rita Pawelski Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Christoph Poland Eckhard Pols Thomas Rachel Dr. Peter Ramsauer Eckhardt Rehberg Katherina Reiche (Potsdam) Lothar Riebsamen Josef Rief Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Erwin Rüddel Anita Schäfer (Saalstadt) Dr. Wolfgang Schäuble Dr. Annette Schavan Dr. Andreas Scheuer Karl Schiewerling Norbert Schindler Tankred Schipanski Georg Schirmbeck Christian Schmidt (Fürth) Patrick Schnieder Dr. Andreas Schockenhoff Nadine Schön (St. Wendel) Dr. Kristina Schröder (Wiesbaden) Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Armin Schuster (Weil am Rhein) Detlef Seif Johannes Selle Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Bernd Siebert Johannes Singhammer Jens Spahn Carola Stauche Dr. Frank Steffel Erika Steinbach Christian Freiherr von Stetten Dieter Stier Gero Storjohann Stephan Stracke Max Straubinger Karin Strenz Thomas Strobl (Heilbronn) Michael Stübgen Dr. Peter Tauber Antje Tillmann Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Vogel (Kleinsaara) Stefanie Vogelsang Andrea Astrid Voßhoff Dr. Johann Wadephul Marco Wanderwitz Kai Wegner Marcus Weinberg (Hamburg) Peter Weiß (Emmendingen) Sabine Weiss (Wesel I) Peter Wichtel Annette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Elisabeth Winkelmeier- Becker Dagmar G. Wöhrl Dr. Matthias Zimmer Wolfgang Zöller Willi Zylajew SPD Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Heinz-Joachim Barchmann Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Klaus Barthel Sören Bartol Bärbel Bas Sabine Bätzing-Lichtenthäler Uwe Beckmeyer Lothar Binding (Heidelberg) Gerd Bollmann Klaus Brandner Willi Brase Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24505 (A) (C) (D)(B) Bernhard Brinkmann (Hildesheim) Edelgard Bulmahn Marco Bülow Ulla Burchardt Martin Burkert Petra Crone Dr. Peter Danckert Martin Dörmann Elvira Drobinski-Weiß Sebastian Edathy Ingo Egloff Siegmund Ehrmann Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Elke Ferner Gabriele Fograscher Dr. Edgar Franke Dagmar Freitag Michael Gerdes Martin Gerster Iris Gleicke Günter Gloser Ulrike Gottschalck Angelika Graf (Rosenheim) Gabriele Groneberg Michael Groß Wolfgang Gunkel Hans-Joachim Hacker Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Michael Hartmann (Wackernheim) Hubertus Heil (Peine) Wolfgang Hellmich Rolf Hempelmann Gustav Herzog Gabriele Hiller-Ohm Petra Hinz (Essen) Frank Hofmann (Volkach) Dr. Eva Högl Christel Humme Josip Juratovic Oliver Kaczmarek Johannes Kahrs Dr. h. c. Susanne Kastner Ulrich Kelber Lars Klingbeil Hans-Ulrich Klose Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe (Leipzig) Fritz Rudolf Körper Anette Kramme Angelika Krüger-Leißner Ute Kumpf Christine Lambrecht Christian Lange (Backnang) Dr. Karl Lauterbach Steffen-Claudio Lemme Burkhard Lischka Gabriele Lösekrug-Möller Kirsten Lühmann Caren Marks Katja Mast Hilde Mattheis Petra Merkel (Berlin) Ullrich Meßmer Dr. Matthias Miersch Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Dietmar Nietan Thomas Oppermann Holger Ortel Aydan Özoğuz Heinz Paula Johannes Pflug Joachim Poß Dr. Wilhelm Priesmeier Florian Pronold Stefan Rebmann Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Sönke Rix René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Marlene Rupprecht (Tuchenbach) Annette Sawade Anton Schaaf Axel Schäfer (Bochum) Bernd Scheelen Marianne Schieder (Schwandorf) Werner Schieder (Weiden) Ulla Schmidt (Aachen) Carsten Schneider (Erfurt) Swen Schulz (Spandau) Ewald Schurer Frank Schwabe Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Stefan Schwartze Rita Schwarzelühr-Sutter Dr. Carsten Sieling Sonja Steffen Peer Steinbrück Dr. Frank-Walter Steinmeier Christoph Strässer Kerstin Tack Dr. h. c. Wolfgang Thierse Franz Thönnes Wolfgang Tiefensee Rüdiger Veit Ute Vogt Dr. Marlies Volkmer Andrea Wicklein Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Dieter Wiefelspütz Waltraud Wolff (Wolmirstedt) Uta Zapf Manfred Zöllmer Brigitte Zypries FDP Jens Ackermann Christian Ahrendt Christine Aschenberg- Dugnus Daniel Bahr (Münster) Florian Bernschneider Sebastian Blumenthal Claudia Bögel Nicole Bracht-Bendt Klaus Breil Rainer Brüderle Angelika Brunkhorst Marco Buschmann Sylvia Canel Helga Daub Reiner Deutschmann Bijan Djir-Sarai Patrick Döring Mechthild Dyckmans Hans-Werner Ehrenberg Rainer Erdel Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke Dr. Edmund Peter Geisen Dr. Wolfgang Gerhardt Hans-Michael Goldmann Heinz Golombeck Joachim Günther (Plauen) Dr. Christel Happach-Kasan Heinz-Peter Haustein Manuel Höferlin Elke Hoff Birgit Homburger Heiner Kamp Michael Kauch Dr. Lutz Knopek Pascal Kober Dr. Heinrich L. Kolb Gudrun Kopp Dr. h. c. Jürgen Koppelin Sebastian Körber Holger Krestel Patrick Kurth (Kyffhäuser) Heinz Lanfermann Sibylle Laurischk Harald Leibrecht Sabine Leutheusser- Schnarrenberger Lars Lindemann Dr. Martin Lindner (Berlin) Michael Link (Heilbronn) Dr. Erwin Lotter Oliver Luksic Horst Meierhofer Patrick Meinhardt Gabriele Molitor Jan Mücke Petra Müller (Aachen) Dr. Martin Neumann (Lausitz) Dirk Niebel Hans-Joachim Otto (Frankfurt) Cornelia Pieper Gisela Piltz Jörg von Polheim Dr. Birgit Reinemund Dr. Peter Röhlinger Dr. Stefan Ruppert Björn Sänger Frank Schäffler Christoph Schnurr Jimmy Schulz Marina Schuster Dr. Erik Schweickert Werner Simmling Judith Skudelny Dr. Hermann Otto Solms Joachim Spatz Dr. Max Stadler Torsten Staffeldt Dr. Rainer Stinner Stephan Thomae Manfred Todtenhausen Florian Toncar Serkan Tören Johannes Vogel (Lüdenscheid) Dr. Daniel Volk Dr. Guido Westerwelle Dr. Claudia Winterstein Dr. Volker Wissing Hartfrid Wolff (Rems-Murr) DIE LINKE Jan van Aken Agnes Alpers Dr. Dietmar Bartsch Herbert Behrens Karin Binder Matthias W. Birkwald Heidrun Bluhm Steffen Bockhahn Christine Buchholz Eva Bulling-Schröter Dr. Martina Bunge Roland Claus Heidrun Dittrich Werner Dreibus Dr. Dagmar Enkelmann Klaus Ernst Wolfgang Gehrcke Diana Golze Annette Groth Dr. Gregor Gysi Dr. Rosemarie Hein Dr. Barbara Höll Andrej Hunko Ulla Jelpke Dr. Lukrezia Jochimsen Katja Kipping Jan Korte Jutta Krellmann Katrin Kunert Sabine Leidig Ralph Lenkert Michael Leutert Stefan Liebich Ulla Lötzer Dr. Gesine Lötzsch Thomas Lutze Ulrich Maurer Cornelia Möhring Kornelia Möller Niema Movassat Wolfgang Nešković Thomas Nord Petra Pau Jens Petermann Richard Pitterle Yvonne Ploetz Paul Schäfer (Köln) Michael Schlecht Dr. Ilja Seifert Kathrin Senger-Schäfer Raju Sharma 24506 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 (A) (C) (D)(B) Dr. Petra Sitte Kersten Steinke Sabine Stüber Dr. Kirsten Tackmann Frank Tempel Alexander Ulrich Kathrin Vogler Johanna Voß Halina Wawzyniak Harald Weinberg Katrin Werner Jörn Wunderlich BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Kerstin Andreae Marieluise Beck (Bremen) Volker Beck (Köln) Cornelia Behm Agnes Brugger Viola von Cramon-Taubadel Ekin Deligöz Katja Dörner Harald Ebner Hans-Josef Fell Dr. Thomas Gambke Kai Gehring Katrin Göring-Eckardt Britta Haßelmann Bettina Herlitzius Priska Hinz (Herborn) Dr. Anton Hofreiter Bärbel Höhn Ingrid Hönlinger Thilo Hoppe Uwe Kekeritz Katja Keul Memet Kilic Sven-Christian Kindler Maria Klein-Schmeink Ute Koczy Tom Koenigs Sylvia Kotting-Uhl Oliver Krischer Stephan Kühn Renate Künast Markus Kurth Undine Kurth (Quedlinburg) Monika Lazar Dr. Tobias Lindner Nicole Maisch Jerzy Montag Kerstin Müller (Köln) Beate Müller-Gemmeke Dr. Konstantin von Notz Omid Nouripour Friedrich Ostendorff Dr. Hermann E. Ott Lisa Paus Brigitte Pothmer Tabea Rößner Krista Sager Manuel Sarrazin Dr. Gerhard Schick Dr. Frithjof Schmidt Ulrich Schneider Dorothea Steiner Dr. Wolfgang Strengmann- Kuhn Dr. Harald Terpe Markus Tressel Jürgen Trittin Arfst Wagner (Schleswig) Daniela Wagner Beate Walter-Rosenheimer Wolfgang Wieland Dr. Valerie Wilms Anlage 3 Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichen Abstimmung über den Ent- wurf eines Gesetzes zu Änderungen im Bereich der geringfügigen Beschäftigung (Tagesord- nungspunkt 3 a) Rita Pawelski (CDU/CSU): Dem Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen zum Thema „Geringfügige Be- schäftigung“ werde ich heute zustimmen. Ich gebe aller- dings zu Protokoll, dass ich aus gleichstellungspoliti- schen Gründen das Instrument der Minijobs kritisch sehe. Die Anhebung der Grenze auf 450 Euro geht in meinen Augen in die falsche Richtung. Positiv ist dage- gen die Einführung des Opt-in-Verfahrens zu beurteilen. Ich werde mich für eine grundlegende Reform der ge- ringfügigen Beschäftigungsverhältnisse einsetzen. Nadine Schön (St.Wendel) (CDU/CSU): Dem Ge- setzentwurf der Koalitionsfraktionen zum Thema „Ge- ringfügige Beschäftigung“ werde ich heute zustimmen. Ich gebe allerdings zu Protokoll, dass ich als Berichter- statterin für Gleichstellungspolitik aus gleichstellungs- politischen Gründen das Instrument der Minijobs kri- tisch sehe. Die Anhebung der Grenze auf 450 Euro geht somit in meinen Augen in die falsche Richtung. Positiv ist dagegen die Einführung des Opt-in-Verfahrens zu be- urteilen. Darüber hinaus werde ich mich für eine grund- legende Reform der geringfügigen Beschäftigungsver- hältnisse einsetzen. Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU): Dem Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen zum Thema „Geringfügige Beschäftigung“ werde ich heute zustim- men. Ich gebe allerdings zu Protokoll, dass ich aus gleichstellungspolitischen Gründen das Instrument der Minijobs kritisch sehe. Das wesentliche Problem sehe ich vor allem in der starren Grenze, deren Überschrei- tung zunächst zu spürbaren finanziellen Nachteilen führt und die deshalb eine stark begrenzende Wirkung hat. Deshalb werde ich mich für eine grundlegende Reform der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse einset- zen. Die Erhöhung um 50 Euro sehe ich demgegenüber als wenig gravierend. Sie ermöglicht eine Lohnerhöhung für diejenigen Arbeitnehmer, denen dies in den letzten Jahren mit Hinweis auf diese Grenze verweigert worden ist. Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Jan-Marco Luczak und Stefanie Vogelsang (beide CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung über den Ände- rungsantrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu der zweiten Beratung des Gesetz- entwurfs der Bundesregierung Entwurf eines Jahressteuergesetzes 2013 (Tagesordnungs- punkt 15 a) Den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, der die steuerliche Gleichstellung von Eingetragenen Le- benspartnerschaften insbesondere beim Ehegattensplit- ting erreichen will, unterstützen wir in der Sache ganz ausdrücklich und mit allem Nachdruck. Menschen in Eingetragenen Lebenspartnerschaften übernehmen dauerhaft und in gegenseitigem Vertrauen und Zuneigung Verantwortung füreinander. In diesen Beziehungen werden insofern Werte gelebt, die tragend für unser Gemeinwesen sind und die daher unsere Unter- stützung verdienen. Das Institut der Lebenspartnerschaft verbindet diese Paare in gleicher Weise wie Eheleute in wechselseitigen Fürsorge- und Einstandspflichten. Wir sind der Auffassung, dass aus gleichen Pflichten auch gleiche Rechte folgen müssen. Wir sind sicher, dass auch das Bundesverfassungsge- richt dies so sehen und den derzeitigen Ausschluss Ein- getragener Lebenspartnerschaften vom Splittingverfah- ren als verfassungswidrig verwerfen wird. Wir glauben, Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24507 (A) (C) (D)(B) dass der Deutsche Bundestag als Gesetzgeber seinen Auftrag zu politischer Gestaltung ernst- und wahrneh- men und daher nicht die zu erwartende Entscheidung des Gerichts abwarten sollte. Gleichwohl können wir dem Antrag im Ergebnis nicht zustimmen. Nach unserer Überzeugung ist nicht der Abbau von Ungleichbehandlungen das eigentliche Ziel und der tat- sächliche Anlass des Antrages. Die Antragsteller haben durch die Art und Weise der Einbringung sowie insbe- sondere durch die Verknüpfung des Sachantrags mit einer namentlichen Abstimmung vielmehr zu erkennen gegeben, dass es ihnen in Wahrheit um mediale Effekt- hascherei und parteipolitische Vorteile anstatt um die Sa- che geht. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen will ganz offensichtlich Druck auf diejenigen in unserer Fraktion ausüben, die sich öffentlich für eine steuerliche Gleich- stellung ausgesprochen haben. Sie unternimmt wie auch an vielen anderen Stellen den Versuch, die christlich- liberale Koalition als nicht geschlossen, gar als nicht handlungsfähig darzustellen. Für dieses vor allem parteipolitisch motivierte, nicht aber dialog- und daher lösungsorientierte Manöver möchten wir uns als Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion nicht instrumentalisieren lassen. Mit vielen anderen Fraktionskollegen werden wir uns stattdessen weiter aktiv dafür einsetzen, aus den Reihen der CDU/CSU- Fraktion konkrete Schritte zu entwickeln und in den par- lamentarischen Abstimmungsprozess einzubringen, um die verbliebenen Ungleichbehandlungen eingetragener Lebenspartnerschaften aufzulösen. Anlage 5 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Sabine Leutheusser- Schnarrenberger und Dr. Max Stadler (beide FDP) zur namentlichen Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN zu der zweiten Beratung des Ge- setzentwurfs der Bundesregierung; Entwurf ei- nes Jahressteuergesetzes 2013 (Tagesordnungs- punkt 15 a) Wer gleiche Pflichten hat, verdient auch gleiche Rechte. Eingetragene Lebenspartner haben wechselseitig die gleichen Unterhaltspflichten wie Ehegatten. Deshalb sind Lebenspartnerschaften auch im Steuerrecht mit der Ehe gleichzustellen. Das ist nicht nur meine persönliche Auffassung, sondern auch die klare politische Haltung der FDP-Bundestagsfraktion. Es gibt gute Gründe, zu erwarten, dass das Bundes- verfassungsgericht seine bisherige Argumentation zur Ungleichbehandlung kinderloser Lebenspartner und kin- derloser Ehepartner auch auf die Einkommensteuer übertragen wird. Es ist fragwürdig, wenn kinderlose Ehegatten steuerlich bessergestellt werden als eingetra- gene Lebenspartner mit Kindern. Vor diesem Hintergrund sollte die Politik gestalten und nicht erst die weitere Entwicklung der Rechtspre- chung abwarten. Wir fordern daher die CDU/CSU-Bun- destagsfraktion auf, ihre Blockade gegen die Umsetzung dieses Punktes des Koalitionsvertrages aufzugeben. Da es in der Koalition keine wechselnden Mehrheiten geben soll, können wir dem Änderungsantrag von Bünd- nis 90/Die Grünen am heutigen Tage nicht zustimmen. Anlage 6 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Sylvia Canel, Michael Kauch, Dr. h. c Jürgen Koppelin, Sebastian Körber, Oliver Luksic, Patrick Meinhardt, Jan Mücke und Marina Schuster (alle FDP) zur na- mentlichen Abstimmung über den Änderungs- antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu der zweiten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung; Entwurf eines Jahres- steuergesetzes 2013 (Tagesordnungspunkt 15 a) Wer gleiche Pflichten hat, verdient auch gleiche Rechte. Eingetragene Lebenspartner haben wechselseitig die gleichen Unterhaltspflichten wie Ehegatten. Deshalb sind Lebenspartnerschaften auch im Steuerrecht mit der Ehe gleichzustellen. Das ist nicht nur unsere persönliche Auffassung, sondern auch die klare politische Haltung der FDP-Bundestagsfraktion. Die Gleichstellung ist aus unserer Sicht auch verfas- sungsrechtlich geboten. Aus den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Beamtenrecht, zur Grund- erwerbsteuer und zur Erbschaftsteuer kann man in jedem Fall ableiten, dass die Gleichstellung der Lebenspartner mit Ehegatten auch im Einkommensteuerrecht zulässig ist. Unseres Erachtens sprechen die Entscheidungen auch dafür, dass diese Gleichstellung notwendig ist. Beispielhaft sei auf die Entscheidung des Bundesver- fassungsgerichts zur erbschaftsteuerlichen Behandlung von Lebenspartnern vom 21. Juli 2010 verwiesen. Hier heißt es, dass der Gesetzgeber zwar die Ehe steuerlich fördern könne, dabei gelte es aber Folgendes zu beach- ten: Geht jedoch die Förderung der Ehe mit einer Be- nachteiligung anderer Lebensformen einher, ob- gleich diese nach dem geregelten Lebenssachver- halt und den mit der Normierung verfolgten Zielen der Ehe vergleichbar sind, rechtfertigt die bloße Verweisung auf das Schutzgebot der Ehe eine sol- che Differenzierung nicht. Es gibt keinen Grund, zu erwarten, dass diese Argu- mentation hinsichtlich der Ungleichbehandlung kinder- loser Lebenspartner und kinderloser Ehepartner vom Bundesverfassungsgericht nicht auch auf die Einkom- mensteuer übertragen werden wird. Es ist in besonderem Maße fragwürdig, wenn kinderlose Ehegatten steuerlich bessergestellt werden als eingetragene Lebenspartner mit Kindern. 24508 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 (A) (C) (D)(B) Vor diesem Hintergrund sollte die Politik gestalten und nicht warten, bis sie zum ausführenden Organ des Bundesverfassungsgerichts wird. Es handelt sich hier um eine gravierende Verletzung des Gleichheitsgebots des Grundgesetzes. Die steuerliche Gleichstellung der Lebenspartner ist aus unserer Sicht zudem im Koali- tionsvertrag vereinbart. Daher haben wir uns entschieden, dem Änderungsan- trag zuzustimmen. Anlage 7 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Christine Aschenberg- Dugnus, Claudia Bögel, Marco Buschmann, Helga Daub, Patrick Döring, Jörg van Essen, Heiner Kamp, Dr. Erwin Lotter, Gabriele Molitor, Petra Müller (Aachen), Burkhardt Müller-Sönksen, Dirk Niebel, Gisela Piltz, Werner Simmling, Joachim Spatz und Johannes Vogel (Lüdenscheid) (alle FDP) zur namentlichen Abstimmung über den Ände- rungsantrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu der zweiten Beratung des Gesetz- entwurfs der Bundesregierung; Entwurf eines Jahressteuergesetzes 2013 (Tagesordnungs- punkt 15 a) Wer gleiche Pflichten hat, verdient auch gleiche Rechte. Eingetragene Lebenspartner haben wechselsei- tig die gleichen Unterhaltspflichten wie Ehegatten. Des- halb sind Lebenspartnerschaften auch im Steuerrecht mit der Ehe gleichzustellen. Das ist nicht nur unsere persön- liche Auffassung, sondern auch die klare politische Hal- tung der FDP-Bundestagsfraktion. Die Gleichstellung ist aus unserer Sicht auch verfas- sungsrechtlich geboten. Beispielhaft sei auf die Ent- scheidung des Bundesverfassungsgerichts zur erbschaft- steuerlichen Behandlung von Lebenspartnern vom 21. Juli 2010 verwiesen. Hier heißt es, dass der Gesetz- geber zwar die Ehe steuerlich fördern könne, dabei gelte es aber Folgendes zu beachten: Geht jedoch die Förderung der Ehe mit einer Be- nachteiligung anderer Lebensformen einher, ob- gleich diese nach dem geregelten Lebenssachver- halt und den mit der Normierung verfolgten Zielen der Ehe vergleichbar sind, rechtfertigt die bloße Verweisung auf das Schutzgebot der Ehe eine sol- che Differenzierung nicht. Es gibt keinen Grund, zu erwarten, dass diese Argu- mentation hinsichtlich der Ungleichbehandlung kinder- loser Lebenspartner und kinderloser Ehepartner vom Bundesverfassungsgericht nicht auch auf die Einkom- mensteuer übertragen werden wird. Es ist in besonderem Maße fragwürdig, wenn kinderlose Ehegatten steuerlich bessergestellt werden als eingetragene Lebenspartner mit Kindern. Vor diesem Hintergrund sollte die Politik gestalten und nicht warten, bis sie zum ausführenden Organ des Bundesverfassungsgerichts wird. Wir fordern daher die CDU/CSU-Bundestagsfraktion auf, ihre Blockade gegen die Umsetzung dieses Punktes des Koalitionsvertrags aufzugeben. Da wir uns aber vertragstreu an den Koalitionsvertrag gebunden sehen, der wechselnde Mehrheiten ausschließt, können wir dem Änderungsantrag von Bündnis 90/Die Grünen am heutigen Tage nicht zustimmen. Anlage 8 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Ingrid Fischbach, Frank Heinrich, Anette Hübinger, Dr. Stefan Kaufmann, Nadine Schön (St. Wendel), Dr. Kristina Schröder (Wiesbaden), Jens Spahn, Antje Tillmann, Kai Wegner, Marcus Weinberg (Hamburg), Sabine Weiss (Wesel I) und Dr. Matthias Zimmer (alle CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung über den Ände- rungsantrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu der zweiten Beratung des Gesetz- entwurfs der Bundesregierung; Entwurf eines Jahressteuergesetzes 2013 (Tagesordnungs- punkt 15 a) Dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen können wir in der vorliegenden Form nicht zustimmen. Denn die eigentliche Absicht, die die Antragsteller mit dem Antrag zu TOP 15 und der geforderten namentli- chen Abstimmung verfolgen, ist offensichtlich. Nicht der Abbau von Ungleichbehandlungen ist letzt- endlich tatsächlicher Anlass des Antrages, vielmehr geht es den Antragstellern um den kurzfristigen politischen und medialen Erfolg zulasten einer Lösung in der Sache. Das ist nicht unsere Art, Politik zu gestalten. Da es uns bei diesem wichtigen Thema ausschließlich um die Interessen der von der Regelung betroffenen Per- sonen geht, werde wir uns diesem parteitaktisch moti- vierten Manöver nicht aussetzen und weiterhin die in- haltliche Lösung dieses Sachverhaltes vorantreiben. Dass bei der steuerlichen Gleichstellung von Einge- tragenen Lebenspartnerschaften Handlungsbedarf be- steht, ist nach unserem Dafürhalten offenkundig. Die Tatsache, dass in Eingetragenen Lebenspartnerschaften auf Dauer angelegte und auf gegenseitiges Vertrauen und Zuneigung begründete Beziehungen gelebt werden, ver- dient unseren Respekt und unsere Anerkennung, nicht nur in Worten, sondern auch in Taten. Im Bereich des Unterhalts- oder Scheidungsrechts etwa wurden den Lebenspartnern die gleichen finanziellen und rechtlichen Pflichten wie Ehepartnern auferlegt, ohne ihnen allerdings auch die gleichen Rechte zu gewähren. Die Herstellung einer solchen Gleichberechtigung, insbeson- dere durch die Änderung entsprechender steuerrechtli- cher Vorschriften, ist uns daher ein großes Anliegen. Die bisher von der christlich-liberalen Koalition beschlosse- nen Änderungen im Erbschaft-, Schenkung- und Grund- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24509 (A) (C) (D)(B) erwerbsteuerrecht sind Beleg für den Willen und die Bereitschaft dieser Koalition, Ungleichbehandlungen Eingetragener Lebenspartnerschaften abzubauen. Der in Rede stehende Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- nen hingegen setzt auf pure Effekthascherei; diese Art der politischen Auseinandersetzung lehnen wir ab. Wir werden uns deshalb auch künftig bei den internen Beratungen der CDU/CSU-Fraktion dafür einsetzen, dieses wichtige Thema aus Reihen der Koalition aktiv in den parlamentarischen Abstimmungsprozess einzubrin- gen. Anlage 9 Erklärung nach § 31 GO zur namentlichen Abstimmung über den Ände- rungsantrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu der zweiten Beratung des Gesetz- entwurfs der Bundesregierung; Entwurf eines Jahressteuergesetzes 2013 (Tagesordnungs- punkt 15 a) Christian Hirte (CDU/CSU): Dem Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur steuerlichen Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften stimme ich nicht zu. Vor einer Diskussion über die steuerliche Behandlung von Ehe und Partnerschaft muss die Frage stehen, ob die Ehe etwas Besonderes ist? Für mich lautet die Antwort dabei eindeutig Ja. Im Grundgesetz ist der besondere Schutz von Ehe und Familie ausdrücklich festgeschrie- ben. Nicht irgendwo, sondern unumstößlich in Art. 6. Das Grundgesetz ist aus meiner Sicht kein modischer Zettelkatalog, den man ständig mit neuen Wünschen und Ideen aufladen sollte. Schon gar nicht ist es ein Füllhorn für die Begehrlichkeiten des Zeitgeschmacks. Deshalb halte ich es für richtig, die dort beschriebenen Maßgaben und ihre zugrunde liegenden ethischen Vorstellungen und moralischen Kontexte dauerhaft ernst zu nehmen. Auch nach der ständigen und gefestigten Rechtspre- chung des Bundesverfassungsgerichtes, BVG, ist Ehe nur die „auf Dauer angelegte [...] grundsätzlich unauf- lösliche Lebensgemeinschaft von Mann und Frau“. An dieser Auffassung wird sich nichts ändern. Gerichtsurteile aus den Bereichen des Erbschaftsteuer- rechts, des Beamtenrechts oder auch zur Grunderwerb- steuer weisen jedoch darauf hin, dass künftig durch das Bundesverfassungsgericht eine Gleichbehandlung im Einkommensteuerrecht für gleichgeschlechtliche Part- nerschaften eingefordert wird. Die Aufgabe Karlsruhes ist es aber nicht, Reparaturbetrieb für die Politik zu sein. Deshalb sollte die Politik proaktiv handeln – lieber frü- her als später. Dabei sollte man sich von der Intention der Verfassungsväter und -mütter leiten lassen. Danach war und ist die Kernidee der ehelichen Förderung, das Umfeld von Familien und Kindern zu fördern. Wichtiger als die Lebensweise von Erwachsenen ist dabei die För- derung von Kindern. Man muss also ein Modell finden, dass in verfassungsrechtlich zulässiger Weise künftig Ehen mit Kindern steuerlich besserstellt als Kinderlose – egal ob in Ehe, nichtehelicher oder homosexueller Part- nerschaft. Bei allen Anpassungen und Änderungen muss es des- halb darum gehen, den besonderen Schutz der Ehe und die Förderung von Kindern mit neuen Erfordernissen für andere Partnerschaften zusammenbringen. Neue Rege- lungen müssen dem Kerngedanken des Grundgesetzes treu bleiben. Nicht überall, wo Menschen Verantwortung füreinander übernehmen, müssen auch steuerliche Schlüsse gezogen werden. Auch in Partnerschaften ohne Trauschein wird Verantwortung übernommen, auch in freundschaftlichen Wohngemeinschaften kann dies der Fall sein. Zugespitzt ausgedrückt – auch beim Bergstei- gen übernehmen Menschen Verantwortung füreinander, sogar auf Leben und Tod. Ohne steuerliche Förderung. Ich halte es für falsch, einfach im Jahressteuergesetz eine Gleichstellung von Ehe und Eingetragenen Partner- schaften zu vollziehen. Stattdessen müssen wir uns Ge- danken über die grundlegende Ausrichtung der steuer- lichen Förderung von Ehe und Familie machen. Deshalb halte ich es für den richtigen Weg, das Ehegattensplitting zu einem Familiensplitting weiterzuentwickeln. Dabei müssten wohl und sollten künftig Ehe und Partnerschaf- ten von einem dann geringeren Splittingvorteil profitie- ren können. Darüber hinaus sollten aber die Kinder ins Splitting einbezogen werden. Vernünftigerweise müsste gleichzeitig der Freibetrag für Kinder erhöht werden. Hiervon würden vor allem auch die unverheirateten El- tern und ihre Kinder profitieren. Es würde das passieren, was Politik in jeder Sonntagsrede verlangt: Familien mit Kindern würden deutlich gestärkt. Ein solches Modell ist der kompliziertere Weg, es er- fordert größere Weichenstellungen und würde die klassi- sche Ehe mit Kindern besonders privilegieren. Mit je- dem Kind würde diese Besserstellung noch deutlicher. Dies entspricht dem Ansinnen des Grundgesetzes und würde es in eine neue Form gießen. Um bei einem Steu- erthema in der Finanzsprache zu enden: Kinder sind die beste Rendite für unsere Gesellschaft. Dr. Birgit Reinemund (FDP): Wer gleiche Pflichten hat, verdient auch gleiche Rechte. Eingetragene Lebenspartner haben wechselseitig die gleichen Unter- haltspflichten wie Ehegatten. Deshalb sind Lebenspart- nerschaften auch im Steuerrecht mit der Ehe gleich- zustellen. Das ist nicht nur unsere persönliche Auffassung, sondern auch die klare politische Haltung der FDP-Bundestagsfraktion. Die Gleichstellung ist aus unserer Sicht auch verfas- sungsrechtlich geboten. Beispielhaft sei auf die Ent- scheidung des Bundesverfassungsgerichtes zur erb- schaftsteuerlichen Behandlung von Lebenspartnern vom 21. Juli 2010 verwiesen. Hier heißt es, dass der Gesetz- geber zwar die Ehe steuerlich fördern könne, dabei gelte es aber, Folgendes zu beachten: Geht jedoch die Förderung der Ehe mit einer Benachteiligung anderer Lebensformen einher, obgleich diese nach dem geregelten Lebenssach- 24510 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 (A) (C) (D)(B) verhalt und den mit der Normierung verfolgten Zie- len der Ehe vergleichbar sind, rechtfertigt die bloße Verweisung auf das Schutzgebot der Ehe eine solche Differenzierung nicht. Es gibt keinen Grund, zu erwarten, dass diese Argu- mentation hinsichtlich der Ungleichbehandlung kinder- loser Lebenspartner und kinderloser Ehepartner vom Bundesverfassungsgericht nicht auch auf die Einkom- mensteuer übertragen werden wird. Es ist in besonderem Maße fragwürdig, wenn kinderlose Ehegatten steuerlich bessergestellt werden als eingetragene Lebenspartner mit Kindern. Vor diesem Hintergrund sollte die Politik gestalten und nicht warten, bis sie zum ausführenden Organ des Bundesverfassungsgerichtes wird. Ich fordere daher die CDU/CSU-Bundestagsfraktion auf, ihre Blockade gegen die Umsetzung des Punktes des Koalitionsvertrages auf- zugeben. Ich akzeptiere, dass sich die Fraktion vertragstreu an den Koalitionsvertrag gebunden fühlt, der wechselnde Mehrheiten ausschließt. Daher werde ich mich persön- lich bei dem Änderungsantrag von Bündnis 90/die Grü- nen am heutigen Tage enthalten. Dr. Daniel Volk (FDP): Wer gleiche Pflichten hat, verdient auch gleiche Rechte. Eingetragene Lebenspart- ner haben wechselseitig die gleichen Unterhaltspflichten wie Ehegatten. Deshalb sind Lebenspartnerschaften auch im Steuerrecht mit der Ehe gleichzustellen. Das ist nicht nur unsere persönliche Auffassung, sondern auch die klare politische Haltung der FDP-Bundestagsfrak- tion. Die Gleichstellung ist aus unserer Sicht auch verfas- sungsrechtlich geboten. Beispielhaft sei auf die Ent- scheidung des Bundesverfassungsgerichts zur erbschaft- steuerlichen Behandlung von Lebenspartnern vom 21. Juli 2010 verwiesen. Hier heißt es, dass der Gesetz- geber zwar die Ehe steuerlich fördern könne, dabei gelte es aber Folgendes zu beachten: Geht jedoch die Förderung der Ehe mit einer Be- nachteiligung anderer Lebensformen einher, ob- gleich diese nach dem geregelten Lebenssachver- halt und den mit der Normierung verfolgten Zielen der Ehe vergleichbar sind, rechtfertigt die bloße Verweisung auf das Schutzgebot der Ehe eine sol- che Differenzierung nicht. Es gibt keinen Grund, zu erwarten, dass diese Argu- mentation hinsichtlich der Ungleichbehandlung kinder- loser Lebenspartner und kinderloser Ehepartner vom Bundesverfassungsgericht nicht auch auf die Einkom- mensteuer übertragen werden wird. Es ist in besonderem Maße fragwürdig, wenn kinderlose Ehegatten steuerlich bessergestellt werden als eingetragene Lebenspartner mit Kindern. Wir haben im Koalitionsvertrag aber auch vereinbart: „gleichheitswidrige Benachteiligungen im Steuerrecht abbauen und insbesondere die Entscheidungen des Bun- desverfassungsgerichts zur Gleichstellung von Lebens- partnern mit Ehegatten umsetzen“. Das Urteil des Bun- desverfassungsgerichts in diesem Punkt steht noch aus. Da ich mich vertragstreu an den Koalitionsvertrag ge- bunden sehe, der wechselnde Mehrheiten ausschließt, kann ich dem Änderungsantrag von Bündnis 90/Die Grünen am heutigen Tage nicht zustimmen. Wir drängen aber weiter die CDU/CSU-Bundestagsfraktion dazu, ihre Blockade gegen die Umsetzung dieses Punktes des Koalitionsvertrages aufzugeben. Anlage 10 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Elvira Drobinski-Weiß, Hans-Joachim Hacker, Gabriele Hiller-Ohm und Heinz Paula (alle SPD) zur namentlichen Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD zu der zweiten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung Entwurf eines Jahressteuergesetzes 2013 (Tagesord- nungspunkt 15 a) Die Bundesregierung hat mit der Sonderregelung zur Absenkung des Umsatzsteuersatzes für Beherbergungs- leistungen in der Hotellerie in dieser Legislaturperiode einen weiteren steuerrechtlichen Ausnahmetatbestand geschaffen. Dieses widerspricht dem erklärten Ziel der Koalition, eine Harmonisierung der Umsatzsteuertatbe- stände herbeizuführen. Parallel zu dem weiteren Sonder- tatbestand hat die Bundesregierung dagegen den bislang geltenden abgesenkten Umsatzsteuersatz für die Perso- nenbeförderung mit Schiffen auf den allgemeinen Um- satzsteuersatz angehoben, obwohl sie für diese Branche eine generelle Lösung im Rahmen der Umsatzsteuerre- form in Aussicht gestellt hatte. Trotz mehrfacher Ankündigung hat die Bundesregie- rung bislang nicht die Kommission zur Überprüfung und Harmonisierung der Umsatzsteuer eingesetzt. Die Bun- desregierung ist verantwortlich für das Fortbestehen überholter Sonderregelungen und die damit verbundene Ungleichbehandlung von Unternehmen im Umsatzsteu- erbereich. Die von der Bundesregierung vorgetragene Begründung für die Absenkung des Umsatzsteuersatzes für Beherbergungsleistungen, die sich auf den Ausgleich von Wettbewerbsnachteilen deutscher Hotels bezieht, ist generell nicht stichhaltig. Es ist unlogisch zu behaupten, Hotels in Berlin hätten hinsichtlich der Umsatzsteuerbe- lastung Wettbewerbsnachteile gegenüber Hotels in ande- ren europäischen Hauptstädten oder weltweit tragen müssen. Die Auswahl von Reisen in deutsche Urlaubs- destinationen in Abhängigkeit von der Umsatzsteuer ist, wenn überhaupt, nur marginal in wenigen Grenzberei- chen theoretisch von Bedeutung. Mit unserer Zustimmung zum Änderungsantrag un- terstreichen wir erneut unsere Position als Tourismus- politiker, dass in Deutschland eine durchgreifende und umfassendere Form der Umsatzsteuer erfolgen muss, bei der nicht mehr zeitgemäße Privilegierungen und unbe- gründete Ungleichbehandlungen aufgehoben werden, je- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24511 (A) (C) (D)(B) doch Entlastungen für arbeitsintensive Bereiche im Ge- samtkonzept zu prüfen sind. Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Hochschulzugang bundesgesetzlich regeln – Recht auf freien Zu- gang zum Master sichern (Tagesordnungs- punkt 14) Tankred Schipanski (CDU/CSU): Wir haben uns mit einem ähnlichen Antrag bereits am 14. April 2011 in diesem Hohen Hause beschäftigt. Themenfelder sind das Bundeszulassungsgesetz, die Masterstudienplätze, die Kooperation zwischen Bund und Ländern. Der Linken-Antrag hat sich weiterentwickelt: erstens kein feudales Vokabular mehr, zweitens die Erkenntnis, dass auch die Länder Verantwortung tragen und drittens ein Ja zum Kapazitätsrecht im deutschen Hochschul- recht. Das ist ein Fortschritt! Dennoch lehnen wir den Antrag durchweg ab, bzw. Sie richten diesen an den fal- schen Adressaten. Zum Kooperationsgebot in Ihrem Antrag. Sie kennen die Debatten: Die Koalition hat gehandelt, die Grundge- setzänderung liegt auf dem Tisch – aber die SPD blo- ckiert. Sie fordern hier eine weitere Säule im Hochschulpakt. Ich darf Sie erinnern – wie Ihr Antrag zeigt, erkennen Sie das auch im Ansatz –: Die primäre Zuständigkeit liegt bei den Ländern. Sie wissen, dass der Bund seit vie- len Jahren in milliardenschwerem Umfang zur Ausfinan- zierung von Studienplätzen in Deutschland beiträgt, ob- wohl dies nach der Verfassung gar nicht seine Aufgabe ist. In der ersten Programmphase des Hochschulpakts, 2007 bis 2010, haben wir 185 024 zusätzliche Studien- plätze an deutschen Hochschulen mitfinanziert und rund 3,2 Milliarden Euro bereitgestellt. In der zweiten Pro- grammphase, 2011 bis 2015, werden weitere 275 000 Studienplätze ausfinanziert. Als Reaktion auf die Ausset- zung der Wehrpflicht kamen nochmals 59 500 Studien- plätze hinzu. Insgesamt investiert der Bund in den Jahren 2011 bis 2015 rund 5 Milliarden Euro in den Ausbau der Studienmöglichkeiten – die Programmpauschalen nicht eingerechnet. Auch dank dieser Maßnahmen konnte 2011 ein Ein- schreiberekord an deutschen Hochschulen erzielt wer- den. Gab es 2005 noch rund 356 000 Studienanfänger, waren es 2011 bereits 516 000. Die Studierendenquote in Deutschland liegt mittlerweile bei rund 46 Prozent. An- gesichts dieser Fakten ist die in Ihrem Antrag formu- lierte Befürchtung, ein Studium könne ein „Privileg für wenige“ werden, billige Panikmache und schlichtweg nicht mit der Realität vereinbar. Sie stellen selbst fest, dass wir eine steigende Studier- neigung und einen wachsenden Anteil von Menschen mit Studienberechtigung in unserer Bildungsrepublik Deutschland haben. Ich bin ja froh, dass Sie erkennen, dass gerade die Frage der Studienanfängerzahlen eine Frage der KMK ist, also eine Länderfrage, und mit dem Bund sehr wenig zu tun hat. Ich bin froh, dass Sie sich mit dem Bekenntnis zum Kapazitätsrecht – die Entschei- dung des Bundesverfassungsgerichts –, über welches wir uns am 14. April 2011 hier ausgetauscht haben, zum Grundsatz der Chancengleichheit bekennen. Und genau aus diesem Grunde kann Ihre erneute For- derung „Master für alle“ nur ins Leere gehen. Für die Studierenden, die die Fähigkeit haben, einen Masterab- schluss nach ihrem ersten berufsqualifizierten Ab- schluss, nämlich dem Bachelor, zu absolvieren, haben wir ausreichende Qualifizierungsplätze. Unterscheiden Sie zukünftig zwischen konsekutiven und nichtkonsekutiven Masterstudiengängen. Selbstver- ständlich sind bei beiden Zulassungs- und Zugangsbe- schränkungen notwendig. Leistungsprinzip und Hoch- schulautonomie sind Direktiven unserer Politik. Die Hochschulen werden bei der Verteilung von Masterplät- zen an ihrer Hochschule auch in Zukunft auf unter- schiedliche Fächerkulturen Rücksicht nehmen. Ist bei- spielsweise in Physik oder Chemie ein Master der Regelabschluss, sollen hier auch mehr Masterplätze be- reitstehen als in anderen Studiengängen. Bedauerlich finde ich Ihr Vokabular, mit dem Sie so- ziale Selektivität sowie eine Verschärfung der sozialen Ausgrenzung behaupten. Die Zahlen sprechen eine an- dere Sprache: Die Zahl der Studienanfänger insgesamt hat sich in den letzten Jahren faktisch verdoppelt, die Zahl der Studienanfänger aus sogenannten bildungsfer- nen Schichten hat sich im gleichen Zeitraum jedoch ver- dreifacht. Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU): Wir haben viele großartige Hochschulen in unserem Land. Aber unsere Hochschulen sind heute immer größeren Herausforde- rungen ausgesetzt: Umsetzung der Bologna-Reform, mehr Studenten und immer mehr Studienanfänger. Gleichzeitig müssen unsere Hochschulen dem inter- nationalen Wettbewerb standhalten. Sie müssen sich in der Lehre und in der Forschung weiter und breiter profi- lieren. Und dabei unterstützen wir sie selbstverständlich. Mit dem Hochschulpakt 2020 haben Bund und Län- der ein starkes und wichtiges Instrument geschaffen, das unseren Hochschulen bei ihren Aufgaben unter die Arme greift: 185 024 zusätzliche Studienanfänger gab es in der ersten Phase des Hochschulpaktes von 2007 bis 2010. Damit wurde das vereinbarte Ziel um das Doppelte über- troffen. Der Hochschulpakt gibt die richtige Antwort auf die steigende Studiennachfrage. In der jetzigen zweiten Phase haben wir auf die Aussetzung der Wehrpflicht und die doppelten Abiturjahrgänge reagiert und die geplante Anzahl zusätzlicher Studienplätze noch einmal nach oben korrigiert, nämlich auf bis zu 334 000. Und ebenso wichtig: Wir haben auch die finanzielle Vergütung pro zusätzlichem Studienanfänger auf 26 000 Euro angeho- ben. Der Bund zahlt davon 13 000 Euro. Denn wir wol- len Qualität und eine exzellente Ausbildung anbieten. 24512 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 (A) (C) (D)(B) Dem steht die Forderung der Linken komplett entge- gen: ein Studienplatz für jeden, ein Master für alle. Das kann gesellschaftlich nicht sinnvoll und auch nicht ge- wollt sein. Wir sind für Vielfalt, nicht für Einheitlichkeit. 421 Hochschulen haben wir in Deutschland, an denen gut 2,4 Millionen Studentinnen und Studenten derzeit studieren. Im Wintersemester 2011/2012 gab es circa 445 000 Studienanfänger gegenüber 320 000 Abiturien- ten. Denn es gibt in jedem Jahr nicht nur die Abiturien- ten, sondern natürlich auch Quereinsteiger mit studien- berechtigten Abschlüssen. Tatsache ist: Wir sind mit dem Hochschulpakt 2020 auf dem richtigen Weg. Studienplätze werden nicht nach dem Gießkannenprinzip verteilt. Die Länder schaffen Studienplätze bedarfsgerecht. Wir wirken dem drohenden Mangel an akademischen Fachkräften entgegen und tragen somit zur Sicherung von Fortschritt und Wohlstand in Deutschland bei. Und deshalb glaube ich, dass der Hochschulpakt 2020 ein op- timales bildungspolitisches Instrument ist. Lassen Sie mich zu einem anderen Aspekt kommen. Nicht jeder Abiturient ist für ein Studium geeignet. Und nicht jeder Abiturient will ein Studium beginnen. Und das ist auch gut so. Denn nicht nur ein Studium bietet Chancen und Karriere. Nein, eine Facharbeiterausbil- dung bietet das ebenso. Unsere Politik darf ihr Augenmerk nicht ausschließ- lich auf den Ausbau und die Förderung von Studienplät- zen legen. Nein, wir müssen uns – in gleichem Maße – darum kümmern, das duale Ausbildungssystem weiter zu stärken und dieses auch für Abiturienten attraktiv zu halten. Der deutsche Mittelstand braucht nicht nur Akademi- ker. Wir brauchen mindestens ebenso viele Fachkräfte, die sich durch ein außerordentliches Maß an praktischem Know-how auszeichnen. Denn gerade der deutsche Mit- telstand setzt häufig mehr auf diese Fachkräfte und we- niger auf Akademiker. Diesem Bedarf müssen wir ge- recht werden. Die Stärke unseres Standortes Deutsch- land wird in einem beträchtlichen Maß davon abhängig sein. Was heißt das? Wir müssen unsere Arbeit auch darauf konzentrieren, gute und anspruchsvolle Ausbildungsin- halte für Abiturienten zu schaffen, die sie auf dem späte- ren Arbeitsmarkt genauso qualifizieren wie einen Bache- lorabsolventen. Wir wollen Studium und Ausbildung gleichermaßen fördern. Diversität braucht unsere Gesell- schaft! Sie bemängeln zu Recht in Ihrem Antrag, dass zu viele Studienplätze ungenutzt bleiben. Aber wir müssen der Wahrheit auch ins Auge blicken: Während die neuen Bundesländer einen immer größeren Rückgang ihrer Studienanfängerzahlen verzeichnen, kommen die alten Länder gegen den Ansturm nicht mehr an. Wir wollen keine Verantwortung von uns schieben. Aber hier sind auch die Städte und Kommunen der neuen Bundesländer aufgefordert, für ihren Hochschulstandort zu werben. Denn wie wir alle wissen, stehen diese Hochschulen den alten Bundesländern in Lehre und Forschung in nichts nach. In diesem Zusammenhang lässt sich auch sagen: Fle- xibilität ist oftmals die Lösung des Problems. Ange- hende Studenten, aber auch Bachelorabsolventen, die den Master anstreben, sollten flexibel sein in ihrer Orts- wahl. Denn diese Ortsunabhängigkeit wird später auch ein Vorteil im Berufsleben sein. Zudem: Was gibt es Schöneres, als im Studium eine neue Stadt, eine neue Region, eine andere kulturelle Umgebung kennenzuler- nen? Und jetzt kommen Sie bitte nicht mit dem Argument wie „Abiturienten aus sozial schwachen Familien kön- nen sich einen Wohnortwechsel ohnehin nicht leisten“. Dafür haben wir immerhin zahlreiche Möglichkeiten ge- schaffen; angefangen beim BAföG, über Stipendien di- verser Stiftungen oder auch Studienkredite, die sehr günstig sind und nachgelagert zurückgezahlt werden können. Ihre Forderung, jeder Abiturient soll das Recht haben, ein Studium im Fach seiner Wahl wohnortnah aufzuneh- men, ist doch vollkommener Unsinn. Sollten denn Ihrer Meinung nach alle Hochschulen auch jedes Fach anbie- ten? Oder wie wollen Sie das organisieren? Nein. Wir wollen, dass Hochschulen frei und unab- hängig handeln können. Wir wollen, dass sich die Hoch- schulen ihr eigenes „Gesicht“ geben. Dass sie sich in be- stimmten Fächern spezialisieren und profilieren können und so den Forschungsstandort Deutschland nach vorne bringen. Wir setzen auf Qualität. Um das zu unterstreichen, haben wir mit dem „Quali- tätspakt Lehre“ ein weiteres Instrument geschaffen und unterstützen die Hochschulen bis 2020 zusätzlich mit 2 Milliarden Euro. Die Studienbedingungen sollen ver- bessert werden, ebenso die Lehrqualität. Wir setzen da- mit ein Zeichen für die Hochschullehre. Kommen wir zu Ihrer nächsten Forderung: „Ein Mas- terstudienplatz ist schon mit der Vergabe des Bachelor- platzes zu garantieren.“ Und – damit wir es richtig ge- nießen können – dieser Masterstudienplatz soll dann auch noch 18 Monate für den Studenten freigehalten werden. Wer von Ihnen kommt eigentlich auf solche Ideen? Das ist nicht nur illusorisch, es nicht finanzierbar, nicht umsetzbar! Haben Sie sich schon einmal Gedanken darüber ge- macht, wie viel ein einzelner Masterstudienplatz eigent- lich kostet? Die Universität Hamburg macht hierzu An- gaben in der Größenordnung von 10 000 bis 25 000 Euro pro Masterplatz und Studienjahr. Es wäre doch eine Zu- mutung für jeden Steuerzahler, diese Kosten zu tragen – zumal wenn die Plätze später unbesetzt bleiben. Außer- dem müssen Sie daran denken: Nicht jeder Bachelorab- solvent möchte einen Master machen. Genauso wie nicht jeder Abiturient studieren möchte. Aber natürlich – und das ist wichtig –: Jeder wird seine Chance bekommen, sich den Weg auszusuchen, Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24513 (A) (C) (D)(B) der für ihn die besten Berufschancen ermöglicht. Unsere Aufgabe ist es, vielfältige Angebote zu machen und ein System zu schaffen, das für unsere Gesellschaft die bes- ten Möglichkeiten bietet. Sie schreiben hier einen Antrag mit Forderungen, die nicht realisierbar sind, die nicht finanzierbar sind und die am realen Bedarf vorbeigehen. Sie sind ganz und gar le- bensfremd. Ich kann nur den Kopf schütteln und wieder einmal feststellen: Liebe Linke, mit irrealen Forderungen, ab- wegigen Konzepten und unfinanzierbaren Vorschlägen zeigen Sie einmal mehr, dass Ihnen nicht an der Über- nahme von Verantwortung in der Bundesrepublik Deutsch- land gelegen ist. Diesen Antrag kann man nur ablehnen! Swen Schulz (Spandau) (SPD): Die Fraktion Die Linke spricht in ihrem Antrag vollkommen zu Recht Missstände der Hochschulpolitik dieser Regierungsko- alition an. Die Vergabeverfahren von Studienplätzen sind vollkommen unzulänglich, belasten die Studieninte- ressierten und führen zu tausendfach unbesetzten Studien- plätzen. Gleichwohl stehen viel zu wenige Studienplätze – zunehmend auch im Masterstudium – zur Verfügung. Die Bundesregierung aber handelt nur spät und halbher- zig. Aber das ist ja nichts Neues: Ministerin Schavan müs- sen wir immer wieder zum Jagen tragen. Langsam wird es lästig. Das fing vor Jahren bei der Föderalismusreform an. Es war die SPD-Bundestagsfraktion, die auf den letzten Drücker erstritten hat, dass Kooperationsmöglichkeiten zwischen Bund und Ländern ins Grundgesetz geschrie- ben werden. Das war ein echter Kampf mit den Ländern. Und Frau Schavan hat – bestenfalls – die Hände in den Schoß gelegt. Aber erst auf dieser Grundlage wurde der Hochschulpakt überhaupt möglich! Dann wurde die Wehrpflicht abgeschafft. Das hatte zur Folge, dass natürlich viele Studieninteressierte früher als geplant an die Tore der Hochschulen klopften. Wir haben sofort eine entsprechende Aufstockung des Hoch- schulpaktes gefordert. Was hat Frau Schavan gemacht? Nichts! Sie hat sogar noch abgestritten, dass es einen Handlungsbedarf gebe – und die Abgeordneten der Koali- tion haben dieses Blockadespiel noch im Bundestag und im Ausschuss mitgespielt, bis die Bundesregierung end- lich unter den unbestreitbaren Sachargumenten der Mi- nisterpräsidenten beidrehte und eine Aufstockung vor- nahm. Dann ist schon vor einiger Zeit deutlich geworden, dass der Hochschulpakt so erfolgreich ist, dass er gar nicht ausreicht. Dass er deutlich aufgestockt werden muss! Wir von der SPD haben darum vor genau einem Jahr einen „Hochschulpakt plus“ beantragt. Wie zu die- sem Semesterbeginn waren schon vor einem Jahr die Zeitungen voll von Schlagzeilen; ich erinnere nur an die Überschriften: „Stresstest für Hochschulen“, „Universi- täten sind knüppeldicke voll“, „Hörsäle sind überfüllt“, „Die Invasion“, „Unis schotten sich mit Numerus clau- sus ab“, Platzangst im Hörsaal“, „Flickwerk an deut- schen Unis“ usw. Und die Schweiz etwa hat es satt, dass immer mehr Deutsche zu ihnen zum Studieren kommen, weil sie in Deutschland keinen Studienplatz finden. Eine verantwortungsvolle Bundesregierung macht in einer solchen Situation den Ländern ein Angebot und setzt ein klares und starkes Signal zur Ausfinanzierung der notwendigen Studienplätze in den nächsten Jahren. Was aber macht diese Bundesregierung? Immerhin: Sie haben Mittel aus der mittelfristigen Finanzplanung ins Jahr 2013 vorgezogen, damit Sie den akuten Bedarf im Hochschulpakt decken können. Das erkennen wir an. Doch das bleibt letztlich Flickschusterei. Denn nötig sind erstens die kräftige Anhebung des aktuell laufenden Hochschulpaktes II und zweitens die schnelle Vereinba- rung des nächsten Hochschulpaktes III, damit die Länder, die Hochschulen und die Studierwilligen Planungs- sicherheit und Perspektiven erhalten. Denn Studienplätze, die dafür nötigen Investitionen und Personalkapazitäten lassen sich nicht von heute auf morgen schaffen. Aber Frau Schavan bewegt sich nicht. Und dafür gibt es einen ganz einfachen Grund: Sie darf nicht! Weil sie das nötige Geld dafür nicht erhält. Weil die mittelfristige Finanzplanung der Bundesregierung zwar noch für 2013 ein kräftiges Plus bei Bildung und Forschung vorsieht. Doch ab 2014 – also nach den Bundestagswahlen – sind sogar Kürzungen im Bildungshaushalt vorgesehen. Weil sich die Regierung Merkel im Wahlkampf damit brüsten will, die Schulden zurückzufahren. Gegen dieses Ziel haben wir ja auch nichts. Aber doch nicht auf Kosten der Bildung, auf Kosten der jungen Leute, auf Kosten der Zukunft! Und so spielt die Bundesregierung schon seit Mona- ten auf Zeit. Da werden Daten und Erhebungen gefor- dert, obwohl die Dinge doch auf der Hand liegen. Was da herausgekommen ist, haben wir Ihnen schon mindes- tens ein Jahr zuvor vorhergesagt. Und dann ist da das ak- tuelle Lieblingszeitspiel der Ministerin Schavan: das Thema Verwendung der Mittel und Gegenfinanzierung durch die Länder. Natürlich muss der Bund darauf ach- ten, dass die Länder ihre eingegangenen Verpflichtungen einhalten. Dafür muss es auch entsprechende Verfahren geben. Doch erstens darf das doch nicht zu Verzögerungen zulasten der Hochschulen gehen; das kann auch später geklärt werden. Zweitens aber haben Sie gar keine Grundlage für Ihre Verdächtigungen. Jedenfalls hat die Bundesregierung mir ganz offiziell auf eine Anfrage ge- antwortet, dass alle Bundesländer ihre Verpflichtungen aus dem Hochschulpakt sogar übererfüllt haben. Die Bundesregierung demaskiert das Gerede von Ministerin Schavan als Täuschungsmanöver! Und in ebendieser Antwort vom 1. März 2012 auf meine Anfrage hat die Bundesregierung übrigens auch festgestellt – ich zitiere –: „Die Bundesregierung sieht derzeit keine Notwendigkeit für weitere Verhandlungen über den Hochschulpakt.“ Das allerdings schlägt dem Fass den Boden aus. Keine Notwendigkeit? Wenn Sie 24514 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 (A) (C) (D)(B) wenigstens ehrlich wären und sagen würden: „Verzei- hung, aber das nötige Geld wird nicht zur Verfügung ge- stellt.“ Doch diese Antwort ist der Hohn. Die aktuellen, auch von der Bundesregierung ange- forderten Zahlen, sprechen eine ganz andere, eindeutige Sprache: Gegenüber den alten Prognosen, auf denen der Hochschulpakt basiert, müssen wir von einem Zusatzbe- darf von 357 000 Studienplätzen bis 2015 und von 749 000 Studienplätzen bis 2020 ausgehen. Das sind die amtlichen Zahlen der Kultusministerkonferenz, und die haben sich bisher immer noch als zu vorsichtig heraus- gestellt. Und da will die Bundesregierung keinen Hand- lungsbedarf erkennen? Sie versündigen sich an der Zu- kunft dieses Landes! Lassen Sie mich noch kurz die Gelegenheit nutzen, ein wenig zu unserem Konzept eines neuen Hochschul- paktes sagen. Wir wollen ihn nämlich nicht nur aufsto- cken – übrigens auch mit Blick auf die Masterstudien- plätze –, sondern wir wollen auch eine neue, qualitative Ebene hineinbringen, indem wir einen Abschlussbonus einführen. Dahinter steht folgende Überlegung: Mit dem Hochschulpakt wird bisher die Aufnahme des Studiums, der Studienbeginn gefördert. Doch was ist mit dem wei- teren Verlauf des Studiums? Die Hochschulen müssen gefördert und angereizt werden, die Lehre zu verbessern, sich während des Studiums um die erfolgreiche Lehre zu kümmern. Darum wollen wir, dass alle erfolgreichen Studienabschlüsse mit einem Bonus versehen werden. Auf diese Art und Weise können wir dem Hochschulpakt ein starkes, zweites Standbein verleihen. Es wäre noch viel Weiteres zu sagen, etwa über das Trauerspiel der Hochschulzulassung. Wir danken der Fraktion Die Linke für den Impuls, aktuell darüber zu debattieren. Das werden wir im Ausschuss und – wie ich hoffe – auch bei nächster Gelegenheit im Plenum ma- chen. Ob das jedoch bei der Regierungskoalition zur Einsicht führt, bleibt abzuwarten. Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP): Ganz nach dem Motto „Und täglich grüßt das Murmeltier“ tingelt die Fraktion Die Linke mit ihrer Uraltleier „Bundeshoch- schulgesetz“ durch den Bundestag. Welche Strategie wird da verfolgt? Was bezweckt die Linke bloß? Uns etwa mit dieser Endlosschleife einzulullen? Glaubt die Linke tatsächlich, dass sie auf diesem Wege etwas er- reicht? Nein. Ganz offensichtlich ist es nicht das Ziel, die Koalitionsfraktionen in den wesentlichen hochschul- politischen Fragestellungen zu überzeugen. Die Haltung von FDP und Union interessiert die Linke keinen Deut. Vielmehr will man sich und die dunkelrote Gefolgschaft durch das ewige Repetieren auf Spur halten. Gleichzeitig will ich den x-ten Versuch unternehmen, Ihnen die hoch- schulpolitischen Zusammenhänge in der Bundesrepublik Deutschland zu erklären. Dies alles in der Hoffnung, dass Sie vielleicht dieses Mal die Scheuklappen ablegen und sich Argumenten gegenüber öffnen. Um das Wichtigste vorwegzunehmen, sei zunächst auf die rechtlichen Rahmenbedingungen verwiesen, auf- grund derer der vorliegende Antrag grundsätzlich abzuleh- nen ist. Die Antragsteller fordern zwar ein Bundeshoch- schulzulassungsgesetz, machen in diesem Antrag aber nahezu ausnahmslos Forderungen auf, die nicht die Hochschulzulassung, sondern den Hochschulzugang be- treffen. Das Grundgesetz eröffnet dem Bund hier jedoch keine Kompetenz, sondern gibt dem Bund lediglich Re- gelungsmöglichkeiten im Zuge der konkurrierenden Ge- setzgebung, Art. 74 Abs. 1 Nr. 33 Grundgesetz. Für die die Hochschulzulassung betreffenden Forderungen sehen wir indes ohnehin keinen Regelungsbedarf. Das wieder- holt kritisierte dialogorientierte Zulassungsverfahren ist mit Anschubfinanzierung durch den Bund in Höhe von 15 Millionen Euro auf den Weg gebracht worden. Leider sind die technischen Voraussetzungen dafür, dass das Verfahren reibungslos läuft, bis heute nicht gegeben. Die vor allem für die Studierwilligen unzumutbaren zeit- lichen Verzögerungen ärgern uns besonders, wenngleich an dieser Stelle an die Länder appelliert werden muss, dass sie dafür Sorge zu tragen haben, dass ihre Hoch- schulen moderne Datenverarbeitungsprogramme vorhal- ten können, indem sie eine ordentliche Finanzausstat- tung erhalten. Eine Bundeszuständigkeit ist jedenfalls nicht gegeben, und jeder Versuch des Bundes, sich dieser Zuständigkeit zu ermächtigen, muss letztlich vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe scheitern. Gern gehe ich aber auch noch einmal auf einzelne Forderungen der Fraktion Die Linke ein, um deren feh- lende Sinnhaftigkeit zu verdeutlichen und die vielen gu- ten Gründe darzulegen, die für eine Ablehnung ihres An- trags sprechen. Was die Ausführungen zum Hochschulpakt 2020 und die Forderung einer weiteren Aufstockung betrifft, kann nicht oft genug gesagt werden, dass der Bund in den letzten Jahren und auch künftig Bemerkenswertes leistet, um die Ausfinanzierung sicherzustellen. Wir nehmen Jahr für Jahr erheblich viel Geld in die Hand, um den steigenden Bedarf an Studienplätzen zu decken. So hat der Bund in der ersten Phase statt der angestrebten 91 370 sogar 182 193 zusätzliche Studienplätze kofinan- ziert. Und wir haben zugesichert, dass wir auch in der zweiten Phase nachsteuern werden, sofern durch die Aussetzung der Wehrpflicht und die doppelten Abitur- jahrgänge mehr Studienplätze geschaffen werden müs- sen, als ursprünglich geplant. Was der Bund jedoch nicht kann – und auch aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht darf –, ist, die Länder aus der Pflicht zu nehmen, für eine ausreichende Ausfinanzierung ihrer Hochschulen zu sorgen. Es ist ein Skandal, dass das bis vor kurzem noch rot-rot regierte Land Berlin seinen Hochschulen die Gegenfinanzierung des Hochschulpakts verweigert hat. Es ist beschämend, dass die Hochschulen der Hauptstadt den Aufwuchs an Studienplätzen alleine durch Bundes- mittel bewältigen mussten. Es ist bezeichnend, dass linke Politik dazu beigetragen hat, den Wissenschaftsbe- reich auszubluten. Die Linke sollte sich beim Thema Unterfinanzierung der Hochschulen ganz kleinlaut geben, tragen sie doch seit Jahren zum Beispiel im von SPD und Linken regier- ten Brandenburg dazu bei, dass die Hochschulen des Landes die mit Abstand am schlechtesten finanzierten in ganz Deutschland sind. Hier den Bund in Verantwortung nehmen zu wollen, ist mehr als dreist. Diese Heuchelei Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24515 (A) (C) (D)(B) empört mich ungemein! Wenn dann auch noch der Vor- schlag unterbreitet wird, dass gerade die Länder, die durch eine sozialverträgliche Erhebung von Studienbei- trägen für eine auskömmliche Grundfinanzierung ihrer Hochschulen sorgen, künftig bei der Verteilung der Hochschulpaktmittel durch Strafgebühren benachteiligt werden sollen, wird die Absurdität der Forderungen der Antragsteller offenbart. Der kleine Umstand, dass eine solche Regelung ein ganz klarer Verstoß gegen die Ver- fassung wäre, interessiert die Linke nicht. Recht und Ge- setz stören ja nur. Auch der geforderte Zuschlag auf die Studienplatzkosten für die Verbesserung der Lehrqualität zeugt von der hochschulpolitischen Ahnungslosigkeit der Fraktion Die Linke, zum einen, weil es einen solchen Zuschlag bereits lange gibt, zum anderen, weil der Bund mit dem Qualitätspakt für die Lehre bereits zusätzliche 2 Milliarden Euro genau für diesen Bereich zur Verfü- gung stellt. Die Antragsteller monieren die aus ihrer Sicht zu re- striktiven Zulassungsregeln und Zugangsvoraussetzun- gen wie Praktika, Eignungstests oder Motivationsschrei- ben, die angeblich zu sozialer Selektivität und sonstigen Problemen führen würden. Fakt ist: Wir werden den Hochschulen niemals vorschreiben, nach welchen Krite- rien sie ihre Studienplätze vergeben, sondern diese im Gegenteil in ihrer diesbezüglichen Autonomie weiter stärken. Vielleicht denken die Antragsteller ja einmal da- rüber nach, ob nicht ebensolche Zulassungsbedingungen auch zum Wohle der Studierenden wirken könnten. Die FDP jedenfalls ist davon überzeugt, dass eine möglichst gute Auswahl der Studierenden dazu beiträgt, dass das Studium auf die Bewerber passt, ihren Studienerfolg bei gegebener Eignung und Leistung befördert – dies zeigt sich immer wieder bei den Lehramtsstudierenden – und somit auch die Zahl der Studienabbrüche verringern hilft. Wenn hingegen die Fraktion Die Linke der Mei- nung ist, wir müssten ganz nach DDR-Manier wieder für eine soziale Auswahl entsprechend der Arbeiter-und- Bauern-Staatsräson sorgen und mit irrwitzigen Quoten die Hochschulen und Studierwilligen gängeln und hier sozusagen eine positive Diskriminierung fordern, kann ich für meine Fraktion nur sagen, dass wir dies mit aller Macht zu verhindern wissen werden. Wir sind über- zeugt, dass nur bei vorliegender Studierfähigkeit ein Stu- dienerfolg gewährleistet werden kann. Ebenfalls eine vollkommen unsinnige Forderung ist das wie ein Mantra vorgetragene Recht auf einen Mas- terplatz für alle. Den Antragstellern scheint sich selbst 14 Jahre nach Unterzeichnung der Bologna-Erklärung Sinn und Wesen des Reformprozesses der Studienab- schlüsse nicht erschlossen zu haben. Es ist dem heutigen System der gestuften Studienabschlüsse vollkommen wesensfremd, dass jeder Bachelorabsolvent auch einen konsekutiven Masterstudiengang besucht. Einmal da- von abgesehen, dass Untersuchungen belegen, dass in der Vergangenheit nahezu jeder, der ein Masterstudium aufnehmen wollte, auch einen Studienplatz gefunden hat, ist es gar nicht Ziel der Hochschulpolitik und auch nicht Wunsch jedes Bachelorabsolventen, einen Master- abschluss anzustreben. Nach Einschätzung der KMK ist die Zahl der angebotenen Masterstudienplätze ausrei- chend und haben im Bachelorabschlussjahrgang 2009 immerhin 90 Prozent der Befragten angegeben, sowohl ihr Wunschfach als auch ihre Wunschhochschule be- kommen zu haben. Die Antragsteller zeichnen also ganz offensichtlich ein Problemfeld auf, das es so in der Re- alität überhaupt nicht gibt. Im Übrigen sei auch an dieser Stelle erwähnt, dass es Aufgabe der Länder ist, ein aus- reichendes Angebot an Studienplätzen – auch im Mas- terbereich – zu schaffen. Gänzlich fern jeder Realität ist dann auch die Forde- rung der Antragsteller, dass jeder Studienberechtigte in dem Studienfach seiner Wahl und an seiner Hochschule in Wohnortnähe Anspruch auf einen Studienplatz haben soll. Nicht nur, dass hier vollkommen außer Acht gelas- sen wird, dass nicht jeder Studienberechtigte überhaupt ein Studium aufnehmen möchte; hier soll nun ein Rechtsanspruch geschaffen werden, der die Hochschulen vor die unlösbare Aufgabe stellt, unabhängig von eige- nen personellen und sächlichen Kapazitäten Studien- plätze bereitstellen zu müssen, von denen per se schon die Mehrzahl niemals in Anspruch genommen würde. Hier wird eine Denke der Antragsteller deutlich, die von einer unvorstellbaren Realitätsferne zeugt und die jedem seriösen Hochschulpolitiker die Frage nach der Ernsthaf- tigkeit einer solchen Forderung aufdrängt. Abschließend lade ich die Antragsteller ganz herzlich ein, den Punkt 2. g) ihres Antrags sofort in die Tat umzu- setzen. Wenn Sie fordern, das Kooperationsverbot zwi- schen Bund und Ländern aufzuheben, dann fordere ich Sie auf: Stimmen Sie unserem Änderungsgesetz zum Art. 91 b des Grundgesetzes zu! Unser Vorschlag liegt auf dem Tisch; bisher höre ich aber vonseiten der Oppo- sitionsfraktionen aus fadenscheinigen Gründen nur das Signal, dass man sich hier überhaupt nicht bewegen und im Gegenteil das Kooperationsverbot auf immer und ewig zementieren möchte. Nicole Gohlke (DIE LINKE): Genauso wie im letzten und wie im vorletzten Jahr diskutieren wir wieder zu Se- mesterbeginn das Problem der fehlenden Studienplätze. Für viele junge Menschen, die trotz Abitur in der Ta- sche entweder gar keinen Studienplatz oder keinen in dem Fach ihrer Wahl bekommen, ist dieser Zustand frus- trierend; es verbaut unter Umständen die Zukunft, er- schwert den Lebensweg. Dass die Bundesregierung das Thema lieber nicht dis- kutieren will, ist klar – es ist kein Ruhmesblatt für Schwarz-Gelb: Im vergangenen Jahr fehlten über 100 000 Studienplätze; von den Studienbedingungen für diejenigen, die im großen Studienplatzroulette einen Platz bekommen haben, möchte ich gar nicht sprechen. Einzige Reaktion der Regierung daraufhin: Kleinlaut korrigieren die Kulturministerkonferenz und die Bun- desregierung ihre Prognosen nach oben und stellen über- rascht fest, dass bis zum Jahr 2020 mit 750 000 Studien- anfängerinnen und -anfängern mehr gerechnet werden muss, als bisher angenommen. 750 000 – das ist schon eine beachtliche Größe, um die man sich da verschätzt 24516 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 (A) (C) (D)(B) hat. Da fragt man sich, ob das nur eine Rechenschwäche ist oder nicht eher ein politisches Problem. Denn welche Konsequenzen werden aus den korri- gierten Zahlen gezogen? Weder folgt eilig der bedarfsge- rechte Ausbau der Hochschule, noch führt die Fehlkal- kulation bei der nächsten Prognose zu mehr Realismus: Während es genau wie in den letzten Jahren wieder et- liche Prognosen gibt, die – übrigens aus allen politischen Richtungen, von der Bildungsgewerkschaft GEW bis hin zum Centrum für Hochschulentwicklung – von bis zu 500 000 Studienanfängerinnen und -anfängern in diesem Wintersemester ausgehen, zieht das Bildungsministerium eine andere Zahl, 410 000, als Berechnungsgrundlage heran und orakelt über sinkende Zahlen ab 2014. Wir haben es aber nicht nur mit den lange bekannten doppelten Abiturjahrgängen und mit der Aussetzung der Wehpflicht zu tun, sondern mit einer insgesamt gestiege- nen Studierneigung, also mit dem Wunsch von immer mehr jungen Menschen, zu studieren. Und das ist auch gut so! Diese Regierung ist in der Pflicht, den Studienbe- rechtigten einen Studienplatz und den Studierenden Bil- dung und Ausbildung unter guten Bedingungen zu er- möglichen. Wie sieht es heute aus: Allein an der Humboldt-Uni in Berlin kamen 33 600 Bewerbungen auf 4 200 Studien- plätze. In Kassel rechnete man mit 31 000 Bewerbungen auf 3 500 Plätze. In Baden-Württemberg fehlen ab 2013 7 000 Masterplätze. Das ist die derzeitige Situation. Und ich höre Sie schon wieder entgegnen, dass sich darum die Länder kümmern sollen; die Länder müssten „ihre Hausaufgaben machen“, sagt Frau Schavan ja gerne. Dieses Wegducken ist nicht auszuhalten! Der Bund hätte Handlungsspielraum, und er hat eine Steuerungskompetenz. Die Bundesregierung müsste diese Aufgabe aber auch politisch annehmen. Die Linksfraktion fordert ein Bundeshochschulzulas- sungsgesetz. Damit könnte gesetzlich geregelt werden, dass jeder Studienberechtigte ein Recht auf einen Studien- platz erhält, dass Zulassungsbeschränkungen endlich überwunden und nicht – wie derzeit – ausgebaut werden und dass das Recht auf einen Masterplatz sichergestellt wird. Ich erinnere Schwarz-Gelb an die Worte ihrer Bil- dungsministerin: Frau Schavan hat im Juli 2009 gesagt: „Der Übergang vom Bachelor zum Master muss pro- blemlos möglich sein. Studierende sollten selbst ent- scheiden können, ob sie einen Master machen wollen oder nicht.“ Laut einer HIS-Umfrage wollen bis zu 76 Prozent der Bachelorabsolventinnen und -absolventen einen Master machen. Es steht aber in vielen Städten höchstens für die Hälfte ein Angebot zur Verfügung. Fast alle Angebote sind mit einem Numerus clausus oder anderen Zulas- sungsbeschränkungen belegt. Frau Schavan sollte nicht von Entscheidungsfreiheit reden, wenn in Wahrheit vielen jungen Menschen die Entscheidung längst abgenommen wurde, weil es nicht genug Masterplätze gibt. Schaffen Sie endlich für jeden Studierenden das Recht auf einen Masterzugang statt immer neuer Bil- dungshürden! Und hören Sie auf, den Bildungsföderalis- mus als ein Feigenblatt zu missbrauchen, um selbst nicht die Verantwortung übernehmen zu müssen! Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vor wenigen Tagen hat das Wintersemester begonnen. Schon jetzt ist klar: Viele Hochschulen verzeichnen neuerliche Rekordeinschreibungen. Wir freuen uns darüber. Für diese jungen Menschen wollen wir bestmögliche Studienbedingungen, damit aus Studienanfängern keine Studienabbrecher, sondern Hochschulabsolventen wer- den. Deshalb wünschen wir allen Erstsemestern, sicher- lich auch im Namen des ganzen Hauses, ein erfolgrei- ches Studium! Damit die guten Wünsche Wirklichkeit werden, müs- sen Bund und Länder an einem Strang ziehen und ge- meinsam für den zügigen Ausbau der Hochschulen und bessere Studienbedingungen sorgen. Der Antrag der Linken gibt auf diese Herausforde- rung zwar keine umsetzbare Antwort. Aber immerhin sorgt er dafür, dass wir uns heute über Wege einer besse- ren Bund-Länder-Zusammenarbeit in der Hochschul- politik im Bundestag austauschen können. Dass die gesamtstaatliche Zusammenarbeit verbessert werden muss, zeigen die zahlreichen Baustellen, vor de- nen Bund, Länder und Hochschulen stehen: beispiels- weise die noch immer unbefriedigende Umsetzung der Bologna-Reform, die Endlosgeschichte bei der Einfüh- rung eines Zulassungssystems und der nach wie vor be- stehende Studienplatzmangel. Bei allen drei hochschul- politischen Baustellen wird die Koalition ihrer Verantwortung als oberster Bauherr nicht gerecht. Ihre Aufgabe ist es, zusammen mit Ländern und Hochschulen dafür zu sorgen, dass genügend Studien- plätze mit Qualität sowohl im Bachelor- als auch im Masterbereich bereitstehen, dass das Durcheinander bei der Studienplatzvergabe aufhört und dass der Hoch- schulpakt zukunftsfest und bedarfsgerecht gestaltet wird. Denn: Der erfreuliche Run auf die Hochschulen wird noch Jahre anhalten. Auf dem Gipfel des Studierenden- bergs blicken alle neuen Prognosen nicht in ein Tal, sondern auf ein studentisches Hochplateau. Der Hoch- schulpakt von Bund und Ländern reicht dafür nicht aus: Er ist unterfinanziert, gedeckelt und zu kurz gedacht. Das muss sich ändern! Die Bundesregierung weiß genau, dass der Pakt schon im nächsten Jahr an seine Grenze stößt. Doch anstatt Vorsorge zu treffen, hat die Regierung in ihre Finanzpla- nung fürs Wahljahr 2013 Gelder vorgezogen, die für 2015 und 2016 vorgesehen waren. Mit solchen Manö- vern erwecken Sie Misstrauen bei den Ländern und schaffen Unsicherheit bei den Hochschulen. Gehen Sie stattdessen endlich eine verlässliche Ver- antwortungspartnerschaft mit den Ländern ein – für ge- rechte Unizugänge, für eine höhere Lehrqualität und bessere Studienbedingungen. Alles andere ist unverant- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24517 (A) (C) (D)(B) wortlich gegenüber der jungen Generation. Studien- berechtigte brauchen Gewissheit, dass sie tatsächlich studieren können – anstatt Opfer des Studienplatzman- gels und der daraus folgenden hohen lokalen NCs zu werden. Darum geht es! Angesichts Zehntausender fehlender Studienplätze ist es grotesk, dass jedes Jahr Zehntausende Studienplätze unbesetzt bleiben, weil ein funktionierendes Zulassungs- verfahren fehlt. Dieses Studienplatzparadoxon aus im- mer mehr und höheren Zulassungsbeschränkungen ei- nerseits sowie unbesetzten Studienplätzen andererseits wird aber nicht per Bundeszulassungsgesetz gelöst, liebe Linksfraktion! Eine funktionierende Software gibt es nicht auf dem Verordnungsweg, sondern muss mit Nach- druck erarbeitet und sukzessive flächendeckend einge- führt werden. Offenbar wandelt die Bundesregierung auf ebenso weltfremden Pfaden nach dem Motto: Ministerin Schavan drückt auf einen Knopf, und schon funktioniert das dialogorientierte Serviceverfahren zur Hochschulzu- lassung. Nein, liebe Frau Ministerin, es zeigt sich seit mehreren Semestern, dass diese Vorstellung naiv und Ihr Projektmanagement grottenschlecht waren. Es ist daher dringend notwendig, jetzt alle Kräfte zu bündeln, mehr personelle und finanzielle Ressourcen zur Verfügung zu stellen, Technikprobleme schnell zu lösen und das dialogorientierte Serviceverfahren Schritt für Schritt doch noch zum Erfolg zu führen. Diese Ehrlich- keit und ein endlich durchdachtes Projektkrisenmanage- ment stünden der Bundesregierung gut zu Gesicht. Wir brauchen endlich eine funktionierende Hoch- schulsoftware für die Studienplatzvergabe, bundesein- heitliche staatsvertragliche Regeln zur Hochschulzulas- sung und deutlich mehr BA- und MA-Studienplätze mithilfe des Hochschulpakts. Die bloße Problemverwal- tung der Bundesregierung muss aufhören. Es braucht eine Lösung, damit der Mangel an Fachkräften bekämpft und der Bildungsaufstieg gefördert wird. Anlage 12 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Konsequenzen aus dem Nationalen Bil- dungsbericht ziehen – Bildungsblockaden aufbrechen und mehr Teilhabe ermöglichen – Zusammen lernen – Recht auf inklusive Bil- dung – bundesweit umsetzen – Gemeinsam lernen – Inklusion in der Bil- dung endlich umsetzen (Tagesordnungspunkt 16 a und b, Zusatztages- ordnungspunkt 7) Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU): Es ist erfreulich, dass die Grünen diese Debatte angemeldet haben. So können wir über den Nationalen Bildungsbe- richt sprechen, der die positiven Entwicklungen der ver- gangenen Jahren im deutschen Bildungssystem be- schreibt. Der Bericht stellt zunächst fest, dass das Bildungsni- veau in Deutschland insgesamt angestiegen ist. Der An- teil der Schulabgängerinnen und -abgänger ohne Haupt- schulabschluss sank erneut, von 8 Prozent im Jahr 2006 auf 6,5 Prozent im Jahr 2010. Nie zuvor gab es weniger Schulabbrecher. Gleichzeitig erwarben immer mehr Ju- gendliche nachträglich höherwertige allgemeine Ab- schlüsse, nicht zuletzt, weil wir flexiblere Bildungswege und durchlässigere Bildungsgänge geschaffen haben. Die Zahl der Abschlüsse der Hochschulreife stieg auf 34 Prozent und die der Jugendlichen mit fachgebundener Hochschulreife auf 15 Prozent – ein Rekordhoch. Die Zahl der Studienanfängerinnen und Studienanfänger er- reichte dank des gemeinsam von Bund und Ländern fi- nanzierten Hochschulpaktes die erstaunliche Quote von 46 Prozent. Dabei haben sich die Chancen auf ein Hoch- schulstudium für Kinder aus Arbeiterfamilien, also unab- hängig vom Bildungsniveau der Eltern enorm verbessert. Der Anteil von Studierenden aus nichtakademischen El- ternhäusern hat sich zwischen 1980 und 2010 mehr als verdreifacht. Auch im Bereich der beruflichen Ausbildung haben wir deutliche Verbesserungen erreicht: Mehr Jugend- liche erhielten einen Ausbildungsvertrag, und es gab mehr unbesetzte Ausbildungsstellen als unversorgte Be- werber – ein Erfolg des Nationalen Ausbildungspaktes und von speziellen Programmen des Bundesministe- riums für Bildung und Forschung zur Einstiegsqualifi- zierung und -orientierung. Die Initiative der Bildungs- ketten rundet diese Aktivitäten des Bundes im Bereich der Einstiegsorientierung für angehende Auszubildende ab. Der Nationale Bildungsbericht zeigt somit, dass wir die richtige Richtung einschlagen. Wir haben die Bil- dungsbeteiligung erhöht, die Chance auf einen Ab- schluss und damit auf Teilhabe gestärkt. Er zeigt, dass sich die Maßnahmen des Bundes und die hohen Bil- dungsausgaben insgesamt rentieren. Wir nehmen das Ziel Bildungsrepublik ernst und setzen oberste Priorität auf Bildung. Die Forderung der Grünen jedoch, einer angeblichen Unterfinanzierung des Bildungswesens entgegenzuwir- ken, ist nicht nachvollziehbar und wirkt daher rein op- portunistisch. Nie wurde mehr in Bildung investiert als heute. Wir haben den Etat für den Bereich Bildung und Forschung um mehr als 50 Prozent erhöht. In der Regie- rungsverantwortung gemeinsam mit der SPD waren den Grünen Investitionen in das Bildungssystem lediglich 6 Milliarden Euro wert, wir erreichen hingegen mittler- weile ein Budget von über 13 Milliarden Euro. Mit diesen Mitteln finanzieren wir den Bestand der Qualität und Qualitätssteigerungen im Bildungssystem und schaffen gerechtere Chancen auf Bildung. So haben wir beispielsweise die BAföG-Sätze erhöht und das För- deralter auf 35 Jahre heraufgesetzt. Insgesamt profitier- ten im vergangenen Jahr eine Million Jugendlicher von 24518 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 (A) (C) (D)(B) dieser staatlichen Unterstützungsleistung. Das waren 8,6 Prozent mehr als im Jahr 2010. Das Bildungs- und Teilhabepaket für benachteiligte Kinder ist ein weiteres Beispiel, wie die Bildungssituation für jedes einzelne Kind unabhängig von der Bildungssituation der Eltern erhöht wird. Neben den vielen positiven Veränderungen und Erfol- gen beschreibt der Bericht durchaus auch bestehende Herausforderungen, die es zukünftig zu bewältigen gilt. Immer noch bleibt die Entkoppelung des individuellen Bildungserfolges von der sozialen Herkunft eine der größten Herausforderungen der kommenden Jahre. Ge- rade Kinder mit Migrationshintergrund oder aus bil- dungsfernen und sozial schwächeren Elternhäusern be- nötigen bessere Bildungs- und Aufstiegschancen. Zwar erreichen mittlerweile fast 10 Prozent der Migrantenkin- der das Abitur, viele ihrer Altersgenossen jedoch leider nicht einmal den Hauptschulabschluss. Wir werden diese Kinder und Jugendlichen weiter verstärkt fördern, so- dass die Schulabbrecherquote gerade in dieser Gruppe weiter sinkt. Wir setzen zu diesem Zweck mit gezielten Maßnahmen besonders früh in der Bildungsbiografie an, und wir haben aus diesem Grund die „Offensive Frühe Chancen“ gestartet, die in sozialen Brennpunktkinderta- gesstätten zusätzliche frühkindliche Sprachförderung an- bietet. Seit 2005 hat sich viel Gutes getan – in größeren und schnelleren und vor allem wirksameren Schritten als un- ter Rot-Grün. Diese Kontinuität in der Qualitätssteige- rung mit verbesserten individuellen Bildungsergebnissen werden wir über das Jahr 2013 hinaus kontinuierlich und intensiv fortführen. Auch das Thema Inklusion werden wir dabei nicht aus den Augen verlieren. Inklusion ist der Schlüssel zu einem selbstbestimmten Leben und einer aktiven Teil- habe an der Gesellschaft. Wir wollen Kinder mit Behin- derungen besonders fördern und ihnen Rahmenbedin- gungen bieten, die sich am Wohl der Kinder und Jugendlichen als oberster Priorität ausrichten. Die son- derpädagogische Förderung setzt damit hohe Anforde- rungen an professionelle Diagnostik und Beratung. Im Sinne einer Erziehungs- und Bildungspartner- schaft wollen wir, dass Eltern, Förderpädagogen und all- gemeine Pädagogen gemeinsam über den Förderort des Schülers, entweder in einer Regelschule oder in einer Förderschule, entscheiden. Dieser Förderort hängt dabei von den individuellen Bedürfnissen jedes einzelnen Kindes ab. Während eine inklusive Beschulung bei be- stimmten Förderschwerpunkten sinnvoll und möglich erscheint, können Förderschulen für andere Förder- schwerpunkte durchaus auch weiterhin Bestand haben. Diese Förderschulen können deshalb in ein Gesamtkon- zept der schulischen Inklusion einbezogen werden, wenn man diese zu speziellen Kompetenzzentren ausbaut. Bei allen Bestrebungen ist Ziel und Grundmaßstab, dass alle Kinder gemeinsam unterrichtet werden können. Auch die Länder sind aufgefordert, die erforderlichen Mittel und Maßnahmen für die Umsetzung zur Verfü- gung zu stellen, damit dieses Ziel nicht nur Vision bleibt, sondern Realität wird. Florian Hahn (CDU/CSU): Der Nationale Bildungs- bericht 2012 stellt unserer Bildungspolitik ein bemer- kenswertes Zeugnis aus. In fast allen Bereichen konnten wir die Situation für die Schüler und Schülerinnen sowie für unsere Studierenden verbessern. Die Beteiligung an frühkindlicher Bildung, Betreuung und Erziehung steigt deutlich. So liegt der prozentuale Anteil der drei- bis sechsjährigen Kinder, die eine Kin- dertageseinrichtung oder Kindertagespflege besuchen, bei 94 Prozent. Die Bildungsbeteiligung von Jugendli- chen und jungen Erwachsenen hat sich seit 2005 eben- falls erhöht. Der Ausbau von Ganztagsschulen führt „zu Erweiterungen und Ergänzungen schulischer Angebote“. Vor allem im Feld der kulturellen und musischen Bil- dung tut sich einiges. In diesem Zusammenhang ver- weise ich auch gerne auf das neu aufgelegte Programm „Kultur macht stark“. Ab 2013 fördern wir mit zunächst 30 Millionen Euro außerschulische Angebote der kultu- rellen Bildung für benachteiligte Kinder und Jugendli- che. Mit dieser Maßnahme unterstützen wir die Persön- lichkeitsbildung und stärken ihr Selbstbewusstsein. Für die folgenden Jahre werden wir die Fördermittel auf bis zu 50 Millionen Euro erhöhen und leisten damit einen großen Beitrag zur Entwicklung unserer Jugend. Des Weiteren hat sich das „Schulabschlussniveau er- höht“. Die Zahl der Studienanfänger ist in den letzten Jahren stark angestiegen. Insgesamt bescheinigt der Bil- dungsbericht der Arbeit unter der Federführung von Frau Schavan eine überproportionale Steigerung der Ausga- ben für Bildung. Natürlich werden uns auch Problemfel- der aufgezeigt, denen wir verstärkt nachgehen müssen. Der Kern des Berichts bestätigt jedoch unseren einge- schlagenen Weg. Der Antrag der Grünen zeigt nun einmal mehr, wie verzweifelt die Opposition nach möglichen Kritikpunk- ten an unserer Bildungspolitik suchen muss. Sie kritisie- ren den Bildungsbericht 2012 in Kumulus und lassen da- bei die wichtigsten Ergebnisse außer Acht. Doch lassen Sie mich erst einmal die Widersprüche und Ungereimtheiten Ihres Antrags herausstellen. Die Unterstellung, dass wir „ungerechte Bildungspolitik“ und ein „unzureichendes Bildungssystem“ fördern, steht den Ergebnissen des Nationalen Bildungsberichts dia- metral entgegen. Diesen Fehler gestehen Sie sich im nächsten Satz ein, indem Sie uns bestätigen, dass immer mehr junge Menschen einen höheren Schul- und Hoch- schulabschluss erreichen. Da Sie den vorliegenden Zah- len keine weitere Beachtung schenken, werde ich an die- ser Stelle gerne noch einmal auf sie eingehen. Die Zahl der Schüler mit Studienberechtigung lag im Jahr 2011 bei über 275 000, wohingegen die Zahl der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss auf knapp 50 000 gesenkt werden konnte. Besonders im Bereich der Schulabbrecher mit Migrationshintergrund können wir seit 2000 eine Reduzierung um 7,1 Prozent verzeich- nen. Das sind Ergebnisse, die nie zuvor von einer Regie- rung erreicht wurden. Vor allem im Vergleich zu den Er- gebnissen der rot-grünen Regierungsarbeit sind diese Zahlen geradezu phänomenal. Wir verzeichnen seit 2005 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24519 (A) (C) (D)(B) im Bereich Bildung und Forschung einen bemerkens- werten Fortschritt. Im weiteren Verlauf Ihres Antrags kritisieren Sie aus- führlich die angebliche Vernachlässigung der Hoch- schulpolitik und die Unterversorgung unserer Studieren- den. Lassen Sie mich dazu ein wenig weiter ausholen: Seit Beginn unserer Regierungsverantwortung hat sich die Zahl der Studienanfänger und der Studierenden ge- waltig erhöht. Im Jahr 2011 begannen über 500 000 Stu- dienanfänger ihr Erststudium. Die Studierendenzahl nahm von knapp 1,5 Millionen im Jahr 2006 auf knapp 2,4 Millionen im vorigen Jahr zu. Der Anteil der Studie- renden aus Arbeiterfamilien hat sich dabei seit 1980 ver- dreifacht. Gleichzeitig wurden mehr als 4 500 neue Beschäftigte und mehr als 100 000 neue Professoren ein- gestellt. Auch lassen wir unsere Studenten nicht im Regen ste- hen. Mit der kontinuierlichen Erhöhung der Höchstför- dersätze des BAföGs geht eine stetige Steigerung der BAföG-Empfänger einher. Seit 2005 konnten wir die Zahl der Empfänger um 100 000 erhöhen. Im Jahr 2011 waren dies fast 1 Million und somit 8,6 Prozent mehr als 2010. Nicht nur, dass diese Zahlen an sich schon bemer- kenswert sind – nein, es steigerte sich im gleichen Zeit- raum auch die Zufriedenheit der Studierenden. Hier von einer Vernachlässigung der Hochschulpolitik zu reden, ist eine bodenlose Frechheit. Dass verantwortungsvolle Politik in Bildung und For- schung wesentlich ist für den Erfolg eines Landes, zeigt die Situation in Bayern. Seit Jahren und Jahrzehnten le- gen wir dort besonderen Wert auf die Bildung der jungen Generation und positionieren uns bei jedem Länderran- king auf den Topplätzen. Wir verfolgen jedoch keine rei- nen Einzelinteressen, sondern möchten mit Vorbildfunk- tion für andere Länder vorangehen. Die Entscheidung der Kultusminister vom vergangenen Donnerstag gibt uns die Gelegenheit, dieser Aufgabe gerecht zu werden. Zur Einführung einheitlicher Abiturstandards ab 2017 steht Bayern gerne als Musterbeispiel parat. Wenn es um ein zukunftsbestimmendes Gut wie die Bildung geht, darf man sich nicht mit dem Mittelmaß zufriedengeben. Wir müssen uns vielmehr an den Besten unserer Repu- blik orientieren – das sind wir schließlich auch den Schülern der rot-grün-geführten Länder schuldig! Die bayerischen Gymnasien erzielen schon immer ausge- zeichnete Leistungen. Dies gilt auch besonders für Ju- gendliche mit Migrationshintergrund, die in Bayern überdurchschnittliche Ergebnisse erzielen. Unser besonderes Interesse und unser Wille, die Bil- dung und Forschung in Deutschland weiterhin zu ver- bessern, werden auch im Nationalen Bildungsbericht 2012 deutlich herausgestellt. Dieser vermerkt: „Durch Sonderprogramme sind die Bildungsausgaben überpro- portional gestiegen.“ Ihr letzter rot-grüner Haushalt von 2005 sah gerade einmal 7 Milliarden Euro für das Minis- terium vor. Unser Haushalt für das kommende Jahr wird eine nie dagewesene Summe von 13,75 Milliarden Euro für Bildung und Forschung in Deutschland bereitstellen und somit 82 Prozent über Ihrem letzten liegen. Dabei ist es unser erklärtes Ziel, mindestens 10 Prozent des BIP für Bildung und Forschung auszugeben. Für das Jahr 2011 haben wir bereits eine Quote von knapp 9,8 Pro- zent. Wie Sie sehen können, erhöhen wir kontinuierlich die Ausgaben für unser wichtigstes Gut in der Gesell- schaft, wohingegen Ihre rot-grüne Regierung das Budget für Bildung und Forschung dreimal kürzte. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Opposi- tion, dass Ihnen unser Erfolg nicht schmeckt, lässt sich anhand Ihres widersprüchlichen Antrags erkennen. Den überwiegend positiven Ergebnissen des Bildungsreports 2012 haben Sie nichts entgegenzusetzen. Unter Schwarz- Gelb sind Bildung und Forschung auf einem Niveau angekommen, das man bei Ihnen vergeblich suchen musste. Oliver Kaczmarek (SPD): Mit dem Nationalen Bil- dungsbericht 2012 ist wieder ein facettenreiches und komplexes Werk über das Bildungswesen in Deutsch- land vorgelegt worden, das der Bildungspolitik wertvol- les Steuerungswissen liefert. Der Dank dafür gilt zuerst den an der Autorengruppe beteiligten wissenschaftlichen Einrichtungen, statistischen Ämtern und denen, die da- rüber hinaus Sonderauswertungen beigesteuert haben. Der Nationale Bildungsbericht hat sich als wichtiges Instrumentarium der deutschen Bildungspolitik etabliert. Nun gilt es, ihn pädagogisch und bildungspolitisch sinn- voll weiterzuentwickeln. So sollte zukünftig beispiels- weise das Querschnittsthema Inklusive Bildung oder das Thema Alphabetisierung in der Berichterstattung Be- rücksichtigung finden. Der Bericht sollte zudem um die Möglichkeit erweitert werden, Handlungsempfehlungen an die politischen Akteure zu formulieren. Darüber hi- naus müssen die Ergebnisse des Internationalen Bil- dungsberichts „Bildung auf einen Blick“ der OECD so- wie das Monitoring der KMK und die nationalen wie internationalen Leistungsvergleiche mit den Erkenntnis- sen des Nationalen Bildungsberichts in Beziehung ge- setzt werden. Nur so ergibt sich ein Gesamtblick auf das deutsche Bildungswesen. Der uns vorliegende Nationale Bildungsbericht 2012 beschreibt Herausforderungen für das Bildungswesen, auf die die Menschen schlüssige Antworten erwarten. Der demografische Wandel und der stetig steigende Fachkräftebedarf führen dazu, dass es gesellschaftlich und auch wirtschaftlich dringend geboten ist, dass wir jedem eine faire Chance auf gute Bildung und Ausbil- dung geben. Der beruflichen Bildung kommt hier eine besondere Rolle zu: Sie bildet für viele junge Menschen die Brücke in die Erwerbsarbeit. Sie muss weiter ge- stärkt und als gleichwertiger Bildungsweg neben dem akademischen Weg erhalten bleiben. Mit den richtigen Investitionen von Anfang an sind wir in der Lage, eine der größten Ungerechtigkeiten in unserem Land anzugehen: Schon zur Geburt sind für viele die Weichen gestellt, die Chancen ungleich verteilt. Einigen steht die Welt offen, oft unterstützt durch die El- tern. Andere gehen leer aus – das hängt allzu oft vom Bankkonto der Eltern ab. Fast 60 000 verlassen jedes Jahr die Schule ohne Abschluss. Inzwischen sind es 1,5 Millionen junge Menschen zwischen 20 und 30 Jah- 24520 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 (A) (C) (D)(B) ren, die keinen Schulabschluss haben, häufig die Kinder ärmerer Familien. Über 300 000 junge Menschen ste- cken in Warteschleifen und finden keinen Ausbildungs- platz. Es ist beschämend, dass heute in Deutschland im- mer noch wie in keiner anderen Industrienation der Geldbeutel der Eltern über den Bildungserfolg der Kin- der entscheidet. Viele der Herausforderungen, die auch der Nationale Bildungsbericht beschreibt und herausstellt, werden nur gelingen, indem sich Bund, Länder und Kommunen auf die Eckpunkte einer nationalen Bildungsstrategie eini- gen. Wir wollen daher, dass Bund und Länder stärker zu- sammenarbeiten können, um unser Bildungssystem wie- der modern zu machen. Die SPD hält deshalb an ihrer Forderung fest: Das Kooperationsverbot für Bildung im Grundgesetz ist nicht mehr zeitgemäß und muss abge- schafft werden. Der Berichtsschwerpunkt lag 2012 im Nationalen Bil- dungsbericht in der kulturellen Bildung. Der Bericht stellt fest, dass über alle Altersgrenzen hinweg ein gro- ßes Interesse an kultureller und musisch-ästhetischer Bildung besteht. Dabei ist die Vielfalt und Fülle der An- gebote an kultureller Bildung besonders wertvoll. Die Angebote beschränken sich nicht nur auf formale Bil- dungseinrichtungen, sondern umfassen auch ein breites Spektrum an nonformalen Angeboten wie Vereine, Chöre, Kultur- und Jugendeinrichtungen. Umso wichti- ger ist es, die Zusammenarbeit zwischen den unter- schiedlichen Einrichtungen zu stärken, um Synergien zu schaffen und ein breites Spektrum aufrechtzuerhalten. Damit die kulturelle Bildung den Raum erhält, der ihr zusteht, und für alle Kinder zugänglich ist, muss diese mehr Zeit in den Bildungseinrichtungen erhalten. Auch aus diesem Grund ist der Ausbau des Ganztagschulange- bots in Deutschland eines der zentralen Projekte der nächsten Jahre. Deutschland braucht einen Masterplan Ganztagsschule, mit dem in einem ersten Schritt bis 2015 ein flächendeckendes und bedarfsgerechtes ganztä- giges Angebot sichergestellt wird und mit dem in einem zweiten Schritt alle Schulen in Deutschland bis zum Jahr 2020 zu Ganztagsschulen weiterentwickelt werden. Un- ser Ziel ist, bis 2020 einen Rechtsanspruch auf Ganz- tagsschule für alle Schülerinnen und Schüler in allen Teilen des Landes zu realisieren. Zum Schluss noch einige Anmerkungen zum Thema Inklusive Bildung, zu dem heute ebenfalls zwei Anträge vorliegen. Das in der UN-Behindertenrechtskonvention verankerte Menschenrecht auf inklusive Bildung – bis- her bedauerlicherweise noch nicht Bestandteil des Natio- nalen Bildungsberichts – gehört ohne Zweifel zu den he- rausragenden nationalen Aufgaben im Bildungswesen für die nächsten Jahre und Jahrzehnte. Es bietet neue Chancen für den Blick auf Individualität und individu- elle Förderung für alle Menschen im Bildungswesen. Die SPD-Fraktion hat bereits im Juni einen Antrag zum Thema Inklusive Bildung beschlossen, der in den nächs- ten Wochen im Plenum des Bundestages beraten werden soll. Daher an dieser Stelle nur vier kurze Anmerkungen dazu: Erstens. Inklusion ist eine Chance für die gesamte Ge- sellschaft. Sie bricht mit den überkommenen Prinzipien unseres Bildungswesens, insbesondere dem der Separa- tion. Inklusiver Unterricht soll dazu führen, dass größere Lern- und Entwicklungsfortschritte erzielt werden, weil auf die Individualität der Schülerinnen und Schüler ein- gegangen wird. Zweitens. Inklusion ist eine Herausforderung für alle Stufen und Etappen des Bildungswesens. Menschen mit Behinderungen haben ein Recht auf Teilhabe und Bil- dung. Daher muss inklusive Bildung in Kindertagesein- richtungen, Schulen, Berufsschulen und Betrieben, Hochschulen und Weiterbildungseinrichtungen zur Nor- malität werden. Einstiege sind zu ermöglichen, Über- gänge dürfen nicht weiter Selektionsstufen bleiben. Drittens. Um inklusive Bildung in Deutschland ver- antwortungsvoll umzusetzen, müssen wir die Menschen starkmachen, die mit Inklusion befasst sind. Unser der- zeitiges Bildungssystem ist für die große Aufgabe der Inklusion noch nicht ausreichend vorbereitet und hat großen Nachholbedarf bei der Qualifizierung des Lehr- personals. Wir brauchen Profis für inklusive Bildung – die Menschen in den Bildungseinrichtungen, Erzieherin- nen und Erzieher, Lehrerinnen und Lehrer sowie Sozial- arbeiterinnen und Sozialarbeiter müssen auf den Um- gang mit heterogenen Lerngruppen vorbereitet werden. Viertens. Auf dem Weg zu einem inklusiven Bil- dungssystem müssen insbesondere die lokalen Netz- werke unterstützt werden. Es gilt, die verschiedenen Zu- ständigkeiten vor Ort besser aufeinander abzustimmen. Wir brauchen kommunale Inklusionspläne, in denen das Erreichen der staatlichen Ziele durch die Verantwortung der Akteure vor Ort und deren Kenntnisse der Probleme aus erster Hand bestimmt werden. Sie können so als Grundlage für die vernetzte Arbeit aller Beteiligten die- nen. Der Nationale Bildungsbericht hat uns viele herausra- gende Aufgaben aufgezeigt. Wir sollten uns von diesen Herausforderungen nicht abschrecken lassen, sondern mit Mut und Tatkraft vorausgehen. Sylvia Canel (FDP): Alle reden von Inklusion und fragen sich, wie sie umzusetzen ist. Doch wie definiert sich eigentlich Inklusion? Die UNESCO definiert Inklu- sion im Bildungsbereich wie folgt: Inklusion im Bil- dungsbereich bedeutet, dass allen Menschen die glei- chen Möglichkeiten offenstehen, an qualitativ hoch- wertiger Bildung teilzuhaben und ihre Potenziale zu ent- wickeln, unabhängig von besonderen Lernbedürfnissen, Geschlecht, sozialen und ökonomischen Voraussetzun- gen – siehe auch Positionspapier „Für gemeinsames Ler- nen – Fünf Thesen für ein inklusives Schulsystem“ von Frau Gabriele Molitor, behindertenpolitische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion. In dem vorliegenden Antrag „Zusammen lernen – Recht auf inklusive Bildung bundesweit umsetzen“ ver- mengen die Grünen die Forderung nach Inklusion auf unzulässige Weise mit der UN-Behindertenrechtskon- vention. Denn das Recht auf Teilnahme von Behinderten Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24521 (A) (C) (D)(B) an Bildungsangeboten im Sinne der UN-Behinderten- konvention ist in Deutschland sehr wohl gewährleistet. Die gemeinschaftliche Beschulung im Sinne der Inklu- sion ist weitergehend und umfänglicher. Sie geht über die UN-Behindertenrechtskonvention hinaus und ver- langt nach einem ganzheitlichen Ansatz, bei dem es längst nicht ausschließlich um Behinderungen geht. Inklusion beinhaltet, dass sich Bildungseinrichtungen systematisch an den Bedürfnissen der einzelnen Schüle- rinnen und Schüler orientieren, diese wahren und darauf entsprechend eingehen. So gehören per Definition auch schulische Überflieger, Hochbegabte sowie handwerk- lich-praktisch versierte Menschen mit und ohne körperli- che Beeinträchtigungen dazu – siehe Positionspapier. In dem Antrag der Grünen wird darauf jedoch nicht ange- messen eingegangen; er springt zu kurz. Inklusion ist die Chance auf Teilhabe, die Begegnung auf Augenhöhe beim Lernen, im Unterricht und nicht nur der gleichberechtigte Zugang zu Schulen und Aus- bildungsstätten. Sie wird eine neue Didaktik, neue Me- thoden und neue Lerninhalte schaffen. Die Grünen verwenden in ihrem Antrag das Argu- ment, die vermeintlich schwächste Gruppe, die geistig und körperlich Behinderten, innerhalb der Schülerschaft schützen zu wollen. Doch genau mit diesem Argument verhindern die Grünen jegliche Möglichkeit, ein gleich- berechtigtes Miteinander der Schüler zu etablieren. Auch diese Kinder können stark sein, wenn man sie lässt. Dieses gleichberechtigte Miteinander beinhaltet die Forderung, allen Schülerinnen und Schülern, unabhän- gig davon, ob diese eine körperliche oder geistige Ein- schränkung bzw. eine besondere Begabung besitzen oder nicht, die entsprechende und vor allem besondere Auf- merksamkeit zu schenken, die sie benötigen. Insbeson- dere Kinder mit besonderen Talenten und Stärken finden wieder keine Berücksichtigung. Und genau dieser Fehler, nämlich die Vernachlässi- gung vermeintlich „starker“ Schülerinnen und Schüler, kann man als Markenzeichen von grüner Bildungspolitik deklarieren. Diese Tatsache wird dadurch verdeutlicht, dass in den Bundesländern, in denen die Grünen in Verantwortung bzw. in Mitverantwortung sind, die Leistungsorientie- rung im Bildungssystem fehlt und folglich auch die Schülerinnen und Schüler mit geistigen und körperlichen Einschränkungen nicht ihren Fähigkeiten entsprechend gefördert werden. Ein weiteres Paradoxon wird deutlich, wenn man die Aussage der Grünen betrachtet, dass die Koalition eine Reform des Grundgesetzes verhindern wolle. Denn wenn man den Sachverhalt genauer betrachtet, so wird deutlich, dass es die Grünen selbst waren, die den Kom- promissvorschlag zur Öffnung der Verfassung oder – ge- nauer – die Möglichkeit für den Bund, mehr Einfluss zu nehmen, kategorisch ablehnten. Der Kompromissvor- schlag ist auch bekannt unter dem Stichwort Änderung von Art. 91 b des Grundgesetzes. Die Grünen fordern in ihrem Antrag die Öffnung der Verfassung in Bezug auf die Schule. Die Bundesregie- rung wird dazu aufgefordert, eine Verfassungsänderung zur Aufhebung des Kooperationsverbotes zu erarbeiten. Dabei lassen die Grünen unerwähnt, dass der grüne Mi- nisterpräsident in Baden-Württemberg bereits lauthals verkündet hat, eine solche Änderung des Grundgesetzes kategorisch abzulehnen. Gleichzeitig verweigert sich die grüne Bundestagsfraktion einer sorgsamen, schrittwei- sen Öffnung des Grundgesetzes über eine Änderung des Art. 91 b des Grundgesetzes – institutionelle Finanzie- rung von Hochschulen. Was wollen Sie denn nun? Auf Bundesebene be- schließen und im Ländle ausbremsen – ähnlich wie in der Energiepolitik? Das kann es ja wohl nicht sein. Dabei wäre es gerade in der Bildungspolitik nötig, dass Bund und Land an einem gemeinsamen Strang zie- hen und eine einheitliche Meinung vertreten, um so auch den Anschein der Seriosität wahren zu können. Als Bildungsexpertin kann ich auch dem anderen An- trag der Grünen zum Thema „Konsequenzen aus dem Nationalen Bildungsbericht ziehen – Bildungsblockaden aufbrechen und mehr Teilhabe ermöglichen“ nur meine Ablehnung entgegenbringen. Bemerkenswert ist, dass die Grünen in ihrem Antrag die Unterfinanzierung des Bildungssystems beklagen. Im Bildungsbericht ist jedoch von einer überproportio- nalen Ausgabensteigerung, nämlich von 164,6 Milliar- den auf 172 Milliarden Euro, die Rede. Folglich inves- tiert der Bund rund 30 Prozent mehr in Bildung und Forschung als die letzte rot-grüne Bundesregierung. Ferner beklagen die Grünen in ihrem Antrag die hohe Zahl der Bildungsverlierer, und wieder stimmt das nicht mit dem Bildungsbericht überein. Denn der Bildungsbe- richt spricht von einer erhöhten Teilnahme an Bildungs- angeboten im vorschulischen Bereich – 94 Prozent der Kinder mit Migrationshintergrund besuchen eine Kita –, vom Ausbau der Ganztagsschule, steigender Bildungs- beteiligung bei jungen Menschen und Erwachsenen und einem starken Anstieg der Studierendenzahl. Wir wissen auch, dass sich die Situation auf dem Aus- bildungsmarkt deutlich entspannt hat. Während zu rot- grünen Zeiten Ausbildungsplätze ein rares Gut waren, suchen heutzutage Ausbildungsbetriebe händeringend Azubis. Gleichzeitig hat die Bundesregierung mit den Bil- dungsketten ein Programm aufgelegt, das gerade gefähr- dete, leistungsschwache Jugendliche in die betriebliche Bildung führt. Dem wird seitens der Antragsteller das Modell DualPlus gegenübergestellt, ein Modell, welches von den entscheidenden Akteuren im Berufsbildungs- system, zum Beispiel von den Industrie- und Handels- kammern und dem Handwerk, bestenfalls stirnrunzelnd zur Kenntnis genommen wird. Gute Bildung macht man nicht am grünen Tisch und schon gar nicht mit links! Zur Umsetzung der Inklusion benötigen wir mehr Eigenständigkeit in den Schulen und weniger Schulbürokratie. Schule muss individueller, 24522 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 (A) (C) (D)(B) selbstständiger und eigenverantwortlicher werden dür- fen, und wir müssen es einrichten, dass sie die Freiheit dazu bekommt. Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE): Wenn jemand eine Reise „all inclusive“ in einem Reisebüro bucht, dann weiß man genau, was gemeint ist. Alle Leistungen sind inbegriffen. Inklusive Bildung heißt: Alle Kinder sind gemeint, alle Kinder und Jugendlichen lernen ge- meinsam. Doch wenn über inklusive Bildung geredet wird, dann ist das heute noch für viele ein Begriff, mit dem sie nichts anzufangen wissen. Manche glauben, wer über in- klusive Bildung redet, treibt nur wieder eine neue bil- dungspolitische Sau durchs Dorf. Und manche Bil- dungsverwaltung sieht in der Umsetzung von Inklusion ein probates Mittel, die ohnehin knappen Mittel in der Bildung deutlich sparsamer einzusetzen. So werden Kin- der mit diagnostizierten vermeintlichen Lernbehinderun- gen in sogenannte Regelschulen aufgenommen, und ih- nen werden sage und schreibe – wie in Sachsen-Anhalt – zwei Stunden sonderpädagogische Förderung zugestan- den. Dass Schulen heute bei Neubau oder Sanierung einen Zugang für Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer er- halten, wird langsam zur Regel. Dass aber für die volle Wahrnehmung aller Bildungsangebote an Schulen der barrierefreie Zugang zum gesamten Schulhaus erforder- lich ist, das bleibt oft noch unbeachtet. Und – noch schlimmer – die Zahl der Schulen, die auf eine solche Sanierung noch warten müssen, ist unglaublich groß. Doch die Kommunen, die in den meisten Fällen für die Sanierung von Schulen zuständig sind, sind ob der Größe der Aufgabe und der knappen öffentlichen Kassen damit überfordert. Doch die Umsetzung von Inklusion in der Bildung ist keine Sache, die man machen oder auch bleiben lassen kann, ist keine generöse Geste an Menschen mit Behin- derungen, sondern sie ist eine Forderung, die auf gelten- dem Recht begründet ist, ein Rechtsanspruch. Inklusive Bildung, individuelle Förderung jeder und jedes Einzel- nen, gleich ob mit oder ohne Behinderung und gleich, mit welcher Beeinträchtigung Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene leben, ist für alle gut; es stärkt die Stärken aller, und Nachteile werden nach Maßgabe des konkreten individuellen Bedarfs ausgeglichen. Aber dieser Rechtsanspruch, der sich aus der UN- Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinde- rungen ergibt, muss in der Bundesrepublik Deutschland auch in innerstaatliches Recht überführt und dann auch praktisch umgesetzt werden. Allen hier im Hause ist be- wusst, dass die Bildungsbenachteiligung eines der größ- ten Probleme bundesdeutscher Bildungswirklichkeit ist. Alle Versuche, Kinder auf noch so viele unterschiedliche Schulformen aufzuteilen, führen nachgewiesenermaßen nicht zu einer besseren Förderung. Darum ist die Umset- zung von Inklusion in der Bildung auch ein Beitrag zu mehr Chancengleichheit in der Bildungsteilnahme. Wer aber Inklusion in der Bildung umsetzen will, muss auch die Voraussetzungen dafür schaffen, dass das erfolgreich für alle werden kann. Nicht wenige Vorbe- halte gegen das gemeinsame Lernen von Kindern und Jugendlichen rühren doch daher, dass sie Sorge haben, dass Kinder eben nicht die für sie beste Bildung und För- derung erhalten. Darum müssen wir als Politikerinnen und Politiker eben auch dafür sorgen, dass die Bedin- gungen stimmen. Wir haben darum einen Antrag eingereicht, der sich darauf konzentriert, was in der Bundesverantwortung getan werden muss, damit Inklusion zu einem Erfolgs- konzept für die Bildung in Kitas, Schulen, Hochschulen und in der Aus- und Weiterbildung werden kann. Denn erfolgreiche Bildungsteilnahme ist nun einmal der Schlüs- sel zu einem erfüllten Leben. Der Generalverweis auf die Zuständigkeit der Länder zieht nicht, denn hier wurde durch die Bundesregierung Recht gesetzt, und nun ist die Bundesebene auch gefor- dert, für die Umsetzung dieses Rechts Sorge zu tragen. Und da kann sehr viel getan werden. Nur ein paar Punkte: Wie eigentlich muss eine Schule aussehen, wie muss sie ausgestattet sein, damit sie inklusiv arbeiten kann? Welches Personal muss vorgehalten, welche Therapiean- gebote müssen gewährleistet werden, damit unterschied- liche Behinderungsarten angemessen begleitet werden können? Welche beruflichen Perspektiven werden jun- gen Menschen mit Behinderungen eröffnet, und wie wird ihnen der Weg zu einem selbstständigen Leben er- leichtert? Was brauchen Studierende mit Behinderungen oder Beeinträchtigungen, um ihr Studium erfolgreich ab- zuschließen? Wer berät die Eltern und die Betroffenen über die möglichen Hilfen? Wo sind die Rechtsansprü- che geregelt, und wer trägt die Kosten? Wer bildet Leh- rerinnen, Erzieherinnen entsprechend aus? Und was die Schulbauprogramme betrifft: Es kann doch nicht sein, dass Kommunen gerne auf europäische Programme zur Schulbauförderung zurückgreifen kön- nen, aber ein Bund-Länder-Programm zum inklusiven Umbau von Schulen nicht möglich sein soll. Die Grünen verweisen in ihrem Antrag wie regelmäßig auch die SPD auf die segensreichen Wirkungen von neuen Ganztags- schulprogrammen. Also, bei aller Freundschaft: Eine in- klusive Gemeinschaftsschule – denn das wäre sie dann – muss selbstverständlich eine Ganztagsschule sein. Aber eine Ganztagsschule ist im Umkehrschluss per se noch keine inklusive Schule. Auch Gymnasien können Ganz- tagsschulen sein. Aber die wenigsten von ihnen sehen Inklusion als ihre Aufgabe an. Darum würden wir den Schwerpunkt anders setzen. Wir freuen uns aber, dass die Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen einen ähnlich gelagerten Antrag gestellt hat. Er ist in vielen Positionen nah bei unserem, wenn auch oft nicht so konkret. Mindestens eine Kritik habe ich al- lerdings: Die Orientierung der Schülerinnen und Schüler nur auf den Hauptschulabschluss halte ich für zu kurz gegriffen. Zum einen gibt es Förderschulen, die ganz selbstverständlich auch auf den Realschulabschluss aus- gerichtet sind; zum anderen finden wir an Förderschulen Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24523 (A) (C) (D)(B) mit dem Schwerpunkt Lernen nicht wenige, die später über andere Förderinstrumente den Realschulabschluss erreichen. Sie auf den Hauptschulabschluss festzulegen, ist falsch. Außerdem sollten wir den Hauptschulabschluss ohne- hin nicht weiter hofieren; er ist selten eine gute Basis für den Einstieg in Ausbildung und Beruf. Die beiden Anträge zur Inklusion von den Grünen und von uns, der Linken, sind aber ganz gute Illustratio- nen für den dritten Antrag zu diesem TOP: „Konsequen- zen aus dem nationalen Bildungsbericht ziehen“. Der al- lerdings stellt keine neuen Forderungen, bringt auch keine neuen Erkenntnisse; er greift Dinge auf, die auch in anderen Anträgen, darunter nicht wenige von der Lin- ken, schon ausführlicher formuliert worden sind. Den- noch mag er nützlich sein, wenn wir in absehbarer Zeit über den Fehlstart der Bundesregierung bei der geplan- ten Grundgesetzänderung für eine bessere Zusammenar- beit von Bund und Ländern in der Bildung reden. Die ist nämlich das Papier nicht wert, auf dem sie steht. Wir wollen eine Gemeinschaftsaufgabe Bildung im Grund- gesetz wieder festschreiben. Das macht auch die Finan- zierung inklusiver Bildung deutlich leichter. Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das wichtigste Dokument der Bildungsforschung in Deutschland ist der Nationale Bildungsbericht. Es ist da- her ein Armutszeugnis für die Koalition und die Bundes- regierung, dass wir Grüne es sind, auf deren Antrag die Ergebnisse des vierten Nationalen Bildungsberichts hier im Plenum überhaupt behandelt werden. Das Bundes- kabinett hat es bisher noch nicht einmal für nötig befun- den, sich mit dem Bericht zu befassen, obwohl es sich dabei um die zentrale wissenschaftliche Analyse des gesamten Bildungssystems hierzulande handelt und er bereits seit Juni 2012 vorliegt. Offenbar hat Schwarz- Gelb nach dem vollmundigen Ausrufen einer „Bildungs- republik“ Deutschland schnell das Interesse verloren, ebendiese zu bauen und für ihre Baupläne die exzellente Expertise der Bildungsforschung zur Grundlage zu neh- men. Das ist bedauerlich und fahrlässig gegenüber der jungen Generation. Warum Sie den Bericht am liebsten in der Schublade verstauben lassen würden, wird klar, wenn wir Ihre Poli- tik mit den dort festgestellten Notwendigkeiten verglei- chen. Es kommt Ihnen offensichtlich sehr ungelegen, dass im nationalen Bericht das geplante Betreuungsgeld kritisiert wird. Aber die Bildungsforschung hat recht: Das Betreuungsgeld würde sich als Bildungsfernhalte- prämie fatal auswirken. Es konterkariert den notwen- digen quantitativen und qualitativen Ausbau der Kin- derbetreuung. Anstatt die für das Betreuungsgeld vorgesehenen Mittel hierfür zu nutzen, enthalten sie fak- tisch gerade Kindern aus bildungsfernen Familien früh- kindliche Bildung und die Erfüllung des Rechtsan- spruchs vor. So schaden Sie den Bildungschancen dieser Kinder aktiv und tragen dazu bei, dass sich die soziale Schere im Bildungswesen noch weiter öffnet. Kippen Sie endlich diese bildungspolitische Katastrophe! Wir fordern Sie auf, sich in Ihrer Bildungspolitik nicht länger den Erkenntnissen der Wissenschaft zu ver- schließen, den Bildungsbericht endlich im Kabinett zu beraten und aus den gewonnenen Erkenntnissen Konse- quenzen für mehr Teilhabe und Bildungsgerechtigkeit zu ziehen. Die Bundesregierung ignoriert systematisch die abgehängten und benachteiligten Kinder und Jugendli- chen. Auch hier sind die Ergebnisse des Bildungsbe- richts eindeutig: Einerseits erwerben mehr junge Men- schen höhere Schul- und Hochschulabschlüsse, andererseits ist die Zahl der Bildungsverlierer kaum rückläufig. Denken Sie nur an die 2,2 Millionen bis 34-Jährigen ohne Berufsabschluss und infolgedessen mit düstersten Jobaussichten. Nach wie vor hängt der Bil- dungserfolg in keinem anderen OECD-Land so sehr vom Elternhaus ab wie in Deutschland. Wann ziehen Sie da- raus endlich die notwendigen Konsequenzen? Eine große Herausforderung für alle politischen Ebe- nen ist die Verwirklichung der Inklusion im gesamten Bildungssystem. Der von uns heute ebenfalls vorgelegte Antrag soll deshalb Anlass für intensive Beratungen und Aktivitäten sein. Es darf nämlich nicht dabei bleiben, dass die Bundesregierung die „UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung“ ratifiziert und dann wie in ihrem „Nationalen Aktionsplan“ in mutlosen Allgemeinplätzen verharrt. Auch von den Koalitions- fraktionen liegt uns noch keine Initiative vor. Es muss uns doch alle bewegen, wenn nach der gemeinsamen Kita die „Segregation“ in behinderte und nicht behin- derte Kinder ausbricht. Es muss doch auch Ihnen ein Anliegen sein, Schulen, Ausbildungsstätten und Hoch- schulen zu inklusiven Bildungsorten weiterzuentwi- ckeln. Nach all der Bildungsforschung, für die sich Frau Schavan so gerne loben lässt, herrscht in Deutschland noch immer die irrwitzige Praxis vor, dass sonderpäda- gogische Förderung nur an speziellen sonderpädagogi- schen Einrichtungen stattfinden kann. Inklusion muss stattdessen zum pädagogischen und bildungspolitischen Leitbild, vor allem aber zur gelebten Realität werden. Um die mittlerweile von fast allen geteilten Ziele wie die Inklusion oder den Ausbau der Ganztagsschulen zu erreichen, müssen wir die Kräfte bündeln. Deshalb muss das Kooperationsverbot im Grundgesetz fallen. Dass die Bundesbildungsministerin heute dazu endlich mit den Ländern ins Gespräch kommt, ist sehr spät – wir wünschen diesen Gesprächen trotzdem viel Erfolg. Wir brauchen eine Verantwortungspartnerschaft sowie eine neue Vertrauens- und Kooperationskultur zwischen Bund, Ländern und Kommunen, um tatsächlich einen gesamtstaatlichen Bildungsaufbruch für gleiche Teil- habechancen zu schaffen. Auf große Defizite macht der Bericht bei den Über- gängen zwischen den Bildungsbereichen aufmerksam. Gerade bei der beruflichen Bildung herrschen in Regie- rung und Koalition Tatenlosigkeit und Selbstzufrieden- heit. Obwohl die Nachfrage nach Ausbildungsplätzen aus demografischen Gründen zurückgeht – was Sie ja wohl kaum als Verdienst Ihrer Regierung reklamieren wollen, waren 2011 fast 300 000 Jugendliche im „Über- gangssystem“ statt in Ausbildung. Zudem erhält nicht einmal die Hälfte der Hauptschulabsolventen einen Aus- 24524 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 (A) (C) (D)(B) bildungsplatz. Diese Zahlen machen deutlich: Es fehlt ein echter Übergang von der Schule in vollqualifizie- rende Berufsausbildungen, wie wir es im Konzept Dual- Plus vorschlagen. Umgestaltet werden muss auch die Schnittstelle zwi- schen beruflicher und hochschulischer Bildung, um die Attraktivität der beruflichen Ausbildung durch eine er- höhte Durchlässigkeit zur Hochschule zu verbessern. Die Hochschulen müssen sich nicht nur formal, sondern auch durch passende Angebote den beruflich Qualifi- zierten öffnen. Dem Mangel an Fachkräften und Hochqualifizierten muss zudem mit einer echten Ausbauoffensive an den Universitäten und Fachhochschulen entgegengewirkt werden. Der Hochschulpakt reicht angesichts der stark gestiegenen Zahl der Studienberechtigten aber noch nicht aus. Laut Bericht liegt der Bedarf an Studienplät- zen aktuell um rund 300 000 Plätze höher, als in der laufenden Hochschulpaktphase zwischen Bund und Ländern vereinbart. Der Pakt darf durch die Bundesbil- dungsministerin nicht länger gedeckelt, sondern muss gemäß der aktuellen Prognosen umgehend aufgestockt werden. Daneben ist eine soziale Öffnung der Hochschu- len unerlässlich. Dazu gehört neben der sozialen Infra- struktur eine bessere und gerechtere Studienfinanzie- rung. Von der Bundesregierung erwarten wir daher konkrete Vorschläge für eine BAföG-Reform, kein nutz- loses und erfolgloses Deutschland-Stipendium. Bil- dungsgerechtigkeit geht anders. Festzuhalten bleibt: Die Bundesregierung geht not- wendige Strukturreformen nicht an und zeigt sich bera- tungsresistent durch Ignorieren auch dieses Bildungsbe- richts. Dort, wo sie aus sachfremden Gründen und zur Bedienung des Starrsinns der CSU aktiv wird, wie beim Betreuungsgeld, richtet sie bildungspolitischen Schaden an. Es wird Zeit, dass neue Mehrheiten mehr Mut bewei- sen und die Prioritäten zugunsten von mehr Bildungs- gerechtigkeit verschieben. Anlage 13 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: – Eine kohärente Gesamtstrategie für Pakis- tan – Für eine aktive Einbindungsdiplomatie, Stärkung der demokratischen Kräfte und eine verlässliche Entwicklungszusammenar- beit (Tagesordnungspunkt 19) Roderich Kiesewetter (CDU/CSU): Bevor ich zur eigentlichen Debatte des Antrags komme, möchte ich Folgendes festhalten: Der brutale Mordversuch der Tali- ban an der 14-jährigen Schülerin Malala Yousufzai An- fang Oktober, die in der Vergangenheit offensiv für bes- sere Bildungschancen für Mädchen geworben hat, hat auf erschütternde Weise deutlich gemacht, wie aktuell die Debatte um die politische und gesellschaftliche Ent- wicklung Pakistans ist. Diese Entwicklung Pakistans ist nicht nur für seine eigenen Bürgerinnen und Bürger zen- tral, sondern auch für die gesamte Zukunft der Region. Ich denke, dass wir uns alle darin einig sind, von hier die besten Genesungswünsche an Frau Yousufzai zu richten. Im Folgenden konkret zu Ihrem Antrag: Die im ersten Teil des Antrags angemahnte aktive Einbindungspolitik findet doch statt – sowohl durch Deutschland als auch durch wesentliche Akteure der in- ternationalen Politik. Freilich ist das derzeit insbeson- dere zwischen den USA und Pakistan nicht einfach. Je- doch: Nicht nur der Besuch der pakistanischen Außenministerin Hina Rabbani Khar in Berlin am 4. September 2012, sondern insbesondere die bei dieser Gelegenheit unterzeichnete und durch Sie auch ange- sprochene Roadmap für den deutsch-pakistanischen stra- tegischen Dialog sind klare Belege für diese sich intensi- vierende Einbindungspolitik Deutschlands. Pakistan befindet sich spätestens seit dem Beginn des Afghanistan-Engagements im Fokus der internationalen Politik und vielfältiger Einbindungsaktivitäten. Feder- führend waren insbesondere im sicherheitspolitischen Bereich stets die USA, aber auch Großbritannien hat sich in den zurückliegenden Jahren sehr intensiv einge- bracht. Pakistan ist seither in die Ausarbeitung und Ver- handlung einer politischen Lösung in Afghanistan einge- bunden gewesen – genau so, wie Sie es verlangen. Deutsches und internationales Engagement zur Ein- bindung Pakistans treffen sich dabei nicht nur in VN und NATO, sondern insbesondere in der Internationalen Kontaktgruppe zu Afghanistan, International Contact Group, ICG. Die ICG bestätigte den deutschen Sonder- gesandten AFG/PAK, Botschafter Dr. Koch, bei ihrem Treffen in Abu Dhabi als ihren Vorsitzenden. Ich halte das für einen starken Beleg der anerkannten Rolle Deutschlands bei der aktiven Einbindung unterschiedli- cher und wichtiger Akteure wie Pakistan in die Lösung der zentralen Herausforderung der ganzen Region. Wenn ich auch Ihren grundsätzlichen Befund nicht teilen kann, dass es keine aktive Einbindungspolitik der Bundesregierung und wesentlicher Akteure der interna- tionalen Politik gebe, denke ich, dass die anstehende vollständige Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die afghanischen Behörden und der Abzug von ISAF bis 2014 große Auswirkungen auch auf Pakistan und seine internationale Einbindung haben werden. Die Na- tur unseres Engagements in Afghanistan wird sich grundsätzlich wandeln, und deshalb müssen wir parallel zu unseren Anstrengungen in Afghanistan auch die Ein- bindung Pakistans weiterentwickeln. Aus unserer Sicht stellt dafür der Versöhnungsprozess einen guten, wenn auch nicht den einzigen Ausgangspunkt dar. Für diese Weiterentwicklung sind die Äußerungen der pakistanischen Außenministerin bei ihrem Besuch in Berlin aus unserer Sicht sehr ermutigend. Pakistan er- achtet demnach ein friedliches und stabiles sowie wirt- schaftlich aufstrebendes Afghanistan als sein Kerninte- resse. Diese Definition bedeutet eine Abkehr von der al- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24525 (A) (C) (D)(B) ten Forderung nach „strategischer Tiefe“ – also Afgha- nistan auf Abstand zu halten – und öffnet Pakistan für neue politische Ansätze in den in der Vergangenheit nicht immer einfachen bilateralen Beziehungen. Es be- steht also die konkrete Chance, Pakistan dabei zu unter- stützen, von einem durch den Konflikt in Afghanistan betroffenen Akteur zu einem von Frieden und Stabilität in Afghanistan profitierenden Akteur werden zu können. Das wollen wir stützen, und deshalb ist die angespro- chene Roadmap politisch auch so wichtig. Sie sollten das nicht unterschätzen. Ihre Ausführungen zur Stärkung der demokratischen Kräfte und der Zivilgesellschaft Pakistans beschreiben in Teil zwei des Antrags im Wesentlichen die Probleme, vor denen wir in diesem hochkomplexen Land stehen. Hier besteht und wird mutmaßlich auch für die kommen- den Jahre großer Handlungsbedarf bestehen. Allerdings will ich Sie darauf hinweisen, dass es eben nicht nur um Maßnahmen gehen kann, die die innere Sicherheitslage ausblenden. Handlungsfähige Sicherheitskräfte sind – der eingangs erwähnte dramatische Vorfall zeigt es überdeutlich – bei der absehbaren inneren Verfassung Pakistans in Zukunft mehr als bedeutsam. Allerdings füge ich hinzu, dass deren politische Kontrolle und da- mit das pakistanische Parlament insgesamt gestärkt wer- den müssen. Jedenfalls springen Sie in Ihrer Fokus- sierung zu kurz. Die Stärkung des Parlaments sollte aber ein konkretes Anliegen von uns Abgeordneten sein. Sie führen das ja auch am Beispiel des Women´s Parliamentary Caucus selbst aus. Im März 2012 haben die Kollegin Sibylle Pfeiffer, der Kollege Bijan Djir-Sarai und ich in einem Schreiben eine gemeinsame Reise von Kolleginnen und Kollegen der Ausschüsse für wirtschaftliche Zusammen- arbeit, Auswärtiges und Verteidigung des Bundestages nach Islamabad angeregt, um den Austausch mit den je- weiligen Fachausschüssen zu intensivieren. Vor diesem Hintergrund frage ich mich schon, warum Sie auf dieses konkrete Angebot zur Stärkung der parlamentarischen Beziehungen nicht reagiert haben. Nicht nur die Bundes- regierung ist aufgerufen, ihren Beitrag zu leisten, son- dern auch wir Parlamentarier. Zu den entwicklungspolitischen Aspekten Ihres An- trages nehme ich keine Stellung, da dies meiner Kollegin Sibylle Pfeiffer als zuständiger Sprecherin unserer Frak- tion obliegt. Vor diesem Hintergrund lehnen wir Ihren Antrag ab. Er enthält in seiner generellen Beschreibung viel Richti- ges, springt jedoch gleichzeitig in der politischen Bewer- tung der laufenden Aktivitäten zu kurz und berücksich- tigt diese nicht ausreichend. Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU): Malala Yousufzai ist ein 14-jähriges Mädchen aus Pakistan. Sie wurde be- rühmt für ihren Blog über die Verbrechen der terroristi- schen pakistanischen Taliban im Swat-Tal und für ihren Kampf für ihr Recht auf Schulbildung und dafür Musik hören zu dürfen. Die pakistanische Regierung zeichnete sie dafür mit dem ersten nationalen Friedenspreis des Landes aus. Weltbekannt wurde sie durch einen feigen Anschlag auf ihr Leben, als ihr am 9. Oktober 2012, noch im Schulbus sitzend, Attentäter der Taliban in Kopf und Hals schossen. In einem Bekennerschreiben wurde als Begründung für den Anschlag ihr Kampf für das Recht von Mädchen auf Schulbildung angeführt – dies war in den Augen der Taliban offensichtlich nur schwer zu er- tragen. Es verschlägt uns allen die Sprache, wie men- schenverachtend diese islamistischen Taliban sind, dass das Eintreten für dieses selbstverständliche Recht schon ausreicht, um einen Mordanschlag auf ein 14-jähriges Mädchen zu verüben. Islamistische Taliban fühlen sich durch ein 14-jähriges Mädchen schon herausgefordert – dafür findet wohl niemand mehr passende Worte. Umso mehr freut es mich und uns alle, dass Malala Yousufzai den Mordanschlag schwerverletzt überlebt hat und mitt- lerweile auf dem Weg der Besserung ist. Diese tragische Geschichte zeigt uns leider nur allzu deutlich, wie zerrissen das Land ist und wie schwer wir uns damit tun, es zu verstehen. Dabei wissen wir um seine Bedeutung: Pakistan wird eines Tages wohl das be- völkerungsreichste muslimische Land der Welt sein. Im Inneren ist es herausgefordert von islamistischen Auf- ständischen, die versuchen, die Kontrolle über das Land mit seinen Atomwaffen zu übernehmen. Gleichzeitig stagniert die Wirtschaftskraft, und vor dem Hintergrund einer Steuerquote von nur 9 Prozent droht nahezu per- manent der Staatsbankrott. Die düstere ökonomische Perspektive geht einher mit einer fast schon traditionell angespannten sozialen Lage. Hinzu kommt, dass es auch nicht immer leicht ist, die innenpolitischen Zielsetzun- gen der unterschiedlichen Machtzirkel in Armee, Ge- heimdienst und Politik, die um Einfluss ringen, nachzu- vollziehen. Das Verhältnis zu seinen Nachbarn ist für Pakistan ebenfalls nicht einfach. Die Rivalität mit Indien – unter anderem aufgrund der bis heute ungelösten Kaschmir- Frage – führte schon zu drei Kriegen zwischen den bei- den Atommächten. Eine weitere Eskalation dieses Kon- flikts wäre in seinen Auswirkungen kaum vorstellbar. Auch das Verhältnis zu seinem Nachbarn Afghanistan ist nicht frei von Spannungen. Zu groß sind die manchmal einseitigen, mitunter aber auch wechselseitigen Ein- flüsse aufeinander und die Schwierigkeiten im gemein- samen Grenzgebiet. Malakand und Waziristan sind nach wie vor Rückzugsorte und Sammelbecken für Islamisten unterschiedlichster Art, die Pakistan und Afghanistan destabilisieren. Demzufolge ist eine Befriedung sowie politische und wirtschaftliche Stabilisierung dieser Re- gion in Zentralasien ohne Pakistan nicht möglich. Un- sere Unterstützung für dieses Land und seine Menschen ist somit nicht nur ein moralisches Gebot, sondern auch in unserem ureigensten Sicherheitsinteresse. Daher gab es und gibt es viele gute und wichtige Gründe für uns, Pakistan auf unserer außen- und ent- wicklungspolitischen Agenda weit oben anzusiedeln. Schon seit 1961 besteht die pakistanisch-deutsche Ent- wicklungszusammenarbeit. Damit gehört Pakistan zu den deutschen Partnerländern der ersten Stunde – mit ei- nem bisherigen Gesamtumfang von fast 2,5 Milliarden Euro. 24526 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 (A) (C) (D)(B) Regionaler Schwerpunkt der Zusammenarbeit ist tra- ditionell der Nordwesten des Landes. Deutschland ist als einer der wenigen Geber mit eigenen Umsetzungsstruk- turen in der Provinz Khyber-Pakhtunkhwa präsent und gehört zu den wenigen Partnern Pakistans, die auch Maßnahmen in den Stammesgebieten an der Grenze zu Afghanistan implementieren. Bei der Auswahl der Sektoren, in denen wir mit Pakis- tan kooperieren, liegen wir in meinen Augen richtig. Viele Kenner Pakistans machen vor allem die unzurei- chende Energieversorgung als Hemmschuh für die sta- gnierende wirtschaftliche Entwicklung des Landes ver- antwortlich. Und gerade dieser Sektor ist seit den 60er-Jahren ei- ner der Schwerpunkte unserer Kooperation. Angesichts des hohen Potenzials natürlicher Energieträger in Pakis- tan sind seitdem über 50 Prozent unserer Entwicklungs- gelder in die Nutzung der Wasserkraft investiert worden. Hier haben wir schon einiges erreichen können: Gemein- sam mit dem pakistanischen Partner führten deutsche Experten zahlreiche Machbarkeitsstudien für Wasser- kraftprojekte mit einem Energiepotenzial von 3 000 Mega- watt durch. Davon sind Laufwasserkraftwerke mit einer Gesamtleistung von 2 000 Megawatt fertiggestellt oder in Entstehung. Im Tharparkar District in Sindh konnten bislang 3 000 Solar-Photovoltaik-Anlagen errichtet wer- den, wodurch 25 000 Menschen in ihren Häusern erst- mals Zugang zu Elektrizität bekamen. Ein letztes Bei- spiel unserer Erfolgsbilanz ist das in Kooperation mit der deutschen Entwicklungszusammenarbeit eingeführte Energiemanagementsystem, wodurch die Textilindustrie heute zwischen 10 und 20 Prozent ihres Energiever- brauchs, das heißt etwa 62 Millionen Kilowattstunden pro Jahr, spart. Dadurch werden die Unternehmen durch- schnittlich rund 100 000 Euro pro Jahr und pro Betrieb entlastet. Als ehemalige Mittelständlerin weiß ich nur zu gut, welche positiven Auswirkungen das auf die Ent- wicklung eines Unternehmens hat. Trotz aller Erfolge ist die Energieversorgung gerade in ländlichen Gebieten unzureichend und die produzierte Energiemenge insgesamt nach wie vor viel zu gering. Wir werden trotz aller Schwierigkeiten auch weiterhin alles tun, um diesen Sektor zu stärken. So vereinfacht diese Kausalkette klingt, so einleuchtend ist der folgende Gedanke als Leitfaden: ohne Energie keine wirtschaftli- che Entwicklung, keine Arbeitsplätze und damit keine Lebensperspektiven für die junge Bevölkerung, die da- mit empfänglich wird für radikale Ideen. In diesem Zusammenhang halte ich auch den Hinweis auf unser Engagement im Bildungssektor für wichtig: Trotz einzelner Fortschritte zählt das öffentliche Schul- wesen Pakistans zu den am schlechtesten entwickelten weltweit. Nur etwas mehr als die Hälfte aller fünf- bis neunjährigen Jungen und Mädchen besucht die Schule. Deshalb können wir das eingangs skizzierte Engagement von Malala Yousufzai gar nicht hoch genug loben und einschätzen. Daher kann ich aber auch die Behauptung im heute debattierten Antrag, die deutsche Außen- und Entwick- lungspolitik gegenüber Pakistan sei halbherzig und in- konsistent, nicht nachvollziehen. Dieser Vorwurf stimmt einfach nicht. Das gilt sowohl für die Entwicklungspoli- tik, das gilt aber auch für die außenpolitische Einbin- dung Pakistans. Ich kann mich nicht erinnern, dass je- mals so viele hochrangige Regierungskontakte stattge- funden haben wie in den letzten zwei, drei Jahren: Au- ßenminister Westerwelle besuchte im Januar 2011 Isla- mabad und traf sich zu Gesprächen mit Außenminister Qureshi, Armeechef Kayani und Premierminister Gilani. Der pakistanische Premierminister Gilani besuchte Deutsch- land Ende 2009 und besprach sich unter anderem mit Bundeskanzlerin Merkel. Und Entwicklungsminister Niebel besuchte Pakistan im Juni 2010. Daher genießen diese Bundesregierung und Deutsch- land zu Recht – vor allem im Vergleich zu anderen west- lichen Partnern – in Pakistan einen sehr guten Ruf und werden neben Großbritannien als wichtigster Fürspre- cher in der EU gesehen. Insofern sind viele Ihrer Be- hauptungen und Forderungen im Antrag populistisch und falsch. Und daher lehnen wir den Antrag ab. Johannes Pflug (SPD): Pakistan ist ein Land, das vor immensen Herausforderungen steht: Sein politisches und gesellschaftliches System ist hoch instabil: Die ak- tuelle Regierung wird voraussichtlich – sollte sie bis zur Wahl im nächsten Frühjahr an der Macht bleiben – die erste zivil gewählte Regierung Pakistans sein, die eine volle Amtsperiode durchhielt. Die Wirtschaftslage ist schlecht, die Energieversorgung mangelhaft, die Infla- tionsrate hoch und die Steuerquote eine der niedrigsten der Welt. Vielen jungen Pakistanis fehlt jede Zukunfts- perspektive. Die Sicherheitslage des Landes ist desas- trös. Seit Beginn des sogenannten Kriegs gegen den Ter- ror sind mehrere Zehntausend Menschen in Pakistan durch Terrorattentate, Einsätze des pakistanischen Mili- tärs und Drohnenangriffe der USA umgekommen. Auf besorgniserregende Weise nehmen religiöser Extremis- mus und hasserfüllter Antiamerikanismus im Land zu. Die schleichende Radikalisierung der Bevölkerung und der wachsende Einfluss von Islamisten müssen uns alarmieren. Es sind die Schicksale zweier junger Mäd- chen gewesen, die in den letzten Wochen dieses Problem erneut der Welt auf drastische Weise vor Augen geführt haben: Der Fall um die wohl geistig behinderte Christin Rimsha Masih, die in Untersuchungshaft saß, weil sie angeblich Seiten aus dem Koran verbrannt hatte. Dies stellt in Pakistan den Straftatbestand der Blasphemie dar. Selbst wenn die Angeklagten von Gerichten freigespro- chen werden, fallen sie nicht selten einem wütenden Mob zum Opfer. Besonders betroffen sind hiervon An- gehörige religiöser Minderheiten – Christen, Schiiten, Ahmadis und andere. Das zweite Mädchen, das in den letzten Wochen traurige Berühmtheit erlangte, ist die 14-jährige Malala Yousufzai. Sie wurde von einem Mordkommando der pakistanischen Taliban niederge- schossen, weil sie sich für die Bildung von Mädchen ein- setzte. Doch gleichzeitig haben uns diese Fälle auch ge- zeigt, dass es immer noch viele Menschen in Pakistan gibt, die sich Terror und Radikalismus nicht beugen wol- len. Die Anklage von Rimsha und erst recht der Mord- versuch an Malala haben landesweiten Protest ausgelöst. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24527 (A) (C) (D)(B) Regional eingebettet ist dieses instabile Land in eine durch Konflikte geprägte Region. Wir haben es hier mit einer Atommacht zu tun, die sich im Dauerspannungszu- stand mit einer zweiten Atommacht – Indien – befindet. Faktisch findet der Afghanistan-Krieg auch in der nord- westlichen Grenzregion Pakistans statt, in der die Taliban einen Rückzugsraum gefunden haben. Dabei spielt der pakistanische Staat bei der Bekämpfung des Terrorismus bestenfalls eine ambivalente Rolle. Während gegen die pakistanischen Taliban mit aller Macht vorgegangen wird, steht der pakistanische Geheimdienst gleichzeitig im Verdacht, die afghanischen Taliban zu unterstützen. Damit ist Pakistan also zugleich Teil des Problems und der Lösung: Eine Stabilisierung der Region und eine politische Lösung in Afghanistan werden nicht ohne Pa- kistan erreicht werden können. Offiziell hat der Abzug vom Hindukusch bereits be- gonnen. Deutschland, als diejenige Nation, die für den Norden Afghanistans zuständig ist, wird dabei eine ent- scheidende Rolle spielen müssen. Der Abzug wird zu ei- nem nicht unerheblichen Teil über Pakistan ablaufen. Dies bietet uns die Chance, Pakistan zu beweisen, dass es als Partner und nicht lediglich als „Bauer“ im Kampf gegen den Terrorismus von Bedeutung ist. Dass Pakistan von immenser geopolitischer Bedeu- tung ist, das ist allen beteiligten Akteuren klar. Und den- noch: Auch wenn die Bedeutung Pakistans immer wie- der hervorgehoben wird, fehlt es leider noch immer an einer kohärenten deutschen Außenpolitik für diesen Staat. Das bisherige deutsche Engagement ist nicht aus- reichend! Die im September unterzeichnete Roadmap für einen deutsch-pakistanischen strategischen Dialog geht zwar einen Schritt in die richtige Richtung. Jedoch kann auch sie nicht eine kohärente ressortübergreifende Gesamtstrategie für Pakistan ersetzen. Angesichts der komplexen Situation im Land und in der Region ist eine solche Gesamtstrategie jedoch drin- gend nötig! Deshalb ist es so wichtig, dass die SPD dies gemeinsam mit den Grünen mit dem vorliegenden An- trag thematisiert. Pakistan muss besser als bisher inter- national eingebunden werden. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass die Bundesregie- rung gut beraten wäre, Pakistan nicht primär unter strate- gischen Aspekten zu betrachten. Nötig ist eine aktive Pakistan-Politik, die der Bedeutung des Landes gerecht wird und die sicherheitspolitische, wirtschaftliche, so- zialpolitische und Governance-Aspekte vereinigt. Darun- ter verstehe ich nicht einfach die Summe von unkoordi- nierten Maßnahmen. Entscheidend für eine erfolgreiche Pakistan-Politik ist ein Gesamtkonzept, das Politikziele klar formuliert, Prioritäten bestimmt und diese zu einer Strategie zusammenführt. Entscheidend sind hierbei die Förderung von Rechts- staatlichkeit, die Bekämpfung der Korruption, die Ent- wicklung der pakistanischen Parteien von Elitegruppen hin zu demokratischen Organisationen und eine Stär- kung der Zivilregierung gegenüber dem Militär. Es gilt vor allem, Justiz, Zivilgesellschaft und demokratische Kräfte auf allen Ebenen zu unterstützen! Die unveränderte Praxis der USA, die staatliche Sou- veränität Pakistans zu missachten und Drohnenangriffe im Nordwesten Pakistans durchzuführen, befeuert den Antiamerikanismus im Lande. Der ehemalige Cricket- Star Imran Khan setzt im Wahlkampf mit seiner neuen Partei Pakistan Tehreek-e-Insaf gekonnt und mit popu- listischen Mitteln auf diese Karte – und stößt damit auf große Resonanz. Hier können sich die Bundesrepublik und die Euro- päische Union einbringen. Neben unterschiedlichen ent- wicklungspolitischen Instrumenten ist unsere größte Stärke das hohe Ansehen, welches Deutschland in Pakis- tan genießt. Diesen Vertrauensvorschuss dürfen wir nicht durch fahrlässige Politik verspielen. Wir müssen ihn nutzen, um gemeinsam mit der Europäischen Union eine Brückenfunktion einzunehmen. Außerdem sollten regionale Integrationsprozesse – wie durch den Istanbul- Prozess angestoßen – so stark wie nur möglich gefördert werden. Pakistan könnte immens von einer Öffnung hin zu Indien von dessen Wirtschaftsaufschwung profitieren. Und auch der sogenannte Allwetter-Freund China hätte das Potenzial, eine viel wichtigere Rolle als bisher zu spielen. Schließlich kann China genauso wenig wie wir an einem instabilen Pakistan interessiert sein. Wir fordern die Bundesregierung auf: Nutzen Sie Ihre Mittel und Möglichkeiten, um Pakistan in der deutschen Außenpolitik den Stellenwert zu verschaffen, der nötig ist! Bijan Djir-Sarai (FDP): Die angeblichen Mängel in der Pakistan-Politik der Bundesregierung hat die Oppo- sition in ihrem Antrag schon selbst widerlegt. Gerne fasse ich ihren eigenen Befund noch einmal kompakt zu- sammen: Die Bundesrepublik Deutschland genießt „große poli- tische Glaubwürdigkeit und ein hohes Ansehen in Pakis- tan“, Pakistan habe sich „nicht ernsthaft aktiv in die Friedensbemühungen in Afghanistan eingebracht“, „Deutschland und Europa brauchen in der Entwick- lungszusammenarbeit mit Pakistan weiterhin strategi- sche Geduld“. Diese Aussagen, die sich im vorliegenden Antrag wortwörtlich finden lassen, skizzieren meines Erachtens auch schon zutreffend die deutsch-pakistanischen Bezie- hungen. Kurz gesagt: Wir haben uns das Ansehen durch Zuverlässigkeit und stetigen Dialog erarbeitet und haben den Willen, Pakistan vollends einzubeziehen, aber das Land ist in mancher Hinsicht ein schwieriger Partner, mit dem man Geduld haben muss. Pakistan steht schon längst auf unserer Agenda. Dazu ein paar Beispiele: Deutschland kann auf eine über 50-jährige Entwicklungszusammenarbeit mit Pakistan verweisen. Die deutsche Entwicklungshilfe konzentriert sich seit Jahren auf die Förderung der Demokratie, auf Bildung, Good Governance und den Gesundheitsbe- reich. Im September dieses Jahres unterzeichnete Außen- minister Guido Westerwelle zusammen mit seiner Amts- kollegin Hina Rabbani Khar eine Roadmap für einen 24528 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 (A) (C) (D)(B) deutsch-pakistanischen strategischen Dialog – ein Mei- lenstein in den Beziehungen beider Länder. Einmal im Jahr sollen die Staatssekretäre der Außenämter zusam- menkommen und die Zusammenarbeit in allen wichtigen Bereichen vertiefen. Der Istanbul-Prozess soll Pakistan politisch und wirt- schaftlich enger einbinden und zur Friedensstabilität in der Region beitragen. Der vorliegende Antrag stellt diese Initiativen als nur kleine Fortschritte dar. Aber was wollen Sie? Aufmerk- samkeitsheischende Schlagzeilen und eine „Beste- Freunde-Partnerschaft“ im Hauruckverfahren? Partner- schaft braucht Zeit, sie muss auf festen Füßen stehen. Das Stichwort lautet, wie Sie es ja auch selber verwen- den, „strategische Geduld“. Es ist der Weg der kleinen, aber soliden Schritte, die Sie ausgerechnet aber im An- trag kritisieren. Trotz dieser Erfolge darf man nicht vergessen: Pakis- tan ist kein einfacher Partner, nicht in Afghanistan, nicht in Menschenrechtsfragen. Schauen wir uns die aktuells- ten Meldungen aus dem Land an: das Attentat auf Malala Yousufzai, die harsche Anwendung des umstrit- tenen Blasphemiegesetzes. Natürlich finden hauptsäch- lich negative oder schockierende Ereignisse Eingang in unsere Medien, aber die schleichende Radikalisierung weiter Teile der Bevölkerung, wie Sie es in Ihrem An- trag ganz richtig vermerkt haben, ist besorgniserregend. Die Lage der religiösen Minderheiten bleibt bedrohlich, die Situation der Frauen hat sich – wenn überhaupt – nur in den Städten leicht verbessert. Das ist zu wenig. Wir müssen Geduld haben. Dennoch muss gleichzei- tig das Prinzip „do ut des“ gelten. Pakistans Engagement im Friedensprozess mit Afghanistan ist ausbaufähig. Ge- nau darum setzt die Regierung auf eine Politik der lang- samen, aber stabilen Vertiefung der Beziehungen. Wir binden Pakistan ein. Wir unterstützen die demokratisch gesinnten Kräfte im Land. Wir helfen Pakistan. Pakistan ist, wie Sie also sehen, schon lange auf unse- rer Agenda. Wir arbeiten an einer verstärkten Partner- schaft, die aber nun mal nicht von heute auf morgen aus dem Boden gestampft werden kann. Unser Vorteil ist, wie Sie ganz richtig bemerkt haben, das hohe Ansehen Deutschlands und die guten Erfahrungen, die man mit uns in der Entwicklungszusammenarbeit gemacht hat. Doch auch Pakistan muss sich bewegen. Denn unsere Beziehung soll eine Partnerschaft, keine Vormundschaft sein. Wir müssen geduldig sein – und wir sind geduldig. Ihr Antrag ist in dieser Hinsicht zwar gut gemeint, aber meines Erachtens überflüssig. Denn entweder wer- den viele Ihrer Forderungen schon von der Bundesregie- rung erfüllt, oder aber Sie fordern Entscheidungen, die wir als Bundesregierung nur begleiten, nicht jedoch fäl- len können. Ich verweise auf das Stichwort „amerika- nisch-pakistanische Diplomatie“. Ich fühle mich daher in dem Weg bestätigt, den die schwarz-gelbe Regierungskoalition zu Pakistan einge- schlagen hat. Unsere Gesamtstrategie lautet: Die Kon- takte mit Pakistan noch enger knüpfen, als sie ohnehin schon sind, unter vernünftigen und weitsichtigen Rah- menbedingungen. Heike Hänsel (DIE LINKE): Sie alle erinnern sich an den brutalen Angriff auf Malala Youfsafzai, eine 14-jährige Schülerin, Anfang dieses Monats in Pakistan. Malala hatte sich im von den Taliban dominierten Swat- Tal für die Bildung von Mädchen und Frauen eingesetzt. Auf dem Weg zur Schule wurde dem Mädchen im Bus von Taliban-Kämpfern in den Kopf geschossen. Nach diesem aufsehenerregenden Vorfall gingen Tausende Menschen in Pakistan auf die Straße und forderten ein Ende der Taliban-Herrschaft im Norden und Süden Pa- kistans, wo seit der Machtübernahme im Jahre 2007 Mädchen von der Schulbildung ausgeschlossen sind und das Hören von Musik verboten ist. Malalas Fall hat die Weltöffentlichkeit auf die katas- trophale Situation in ihrem Land hingewiesen. Aber die Menschen haben nicht nur Angst vor den Taliban in ih- rem Land. Viele Pakistanerinnen und Pakistaner in den betroffenen Gebieten haben Angst, zu Hochzeiten oder Beerdigungen zu gehen, Rettungskräfte sind unwillig, Angriffsopfern zu helfen, aus Angst, Ziel weiterer An- griffe zu werden. Grund dafür sind die Angriffe durch US-amerikanische Drohnen. Mittlerweile befinden sich mehr als 600 Drohnen der USA im Einsatz über der af- ghanisch-pakistanischen Grenzregion und terrorisieren die Bevölkerung dort. Allein in Pakistan wurden durch Drohnen bisher mindestens 2 500 Menschen getötet, wahrscheinlich mehr, darunter bis zu 900 Zivilisten und fast 200 Kinder. In einer aktuellen US-Studie wurde nun belegt, dass die Angriffe von Drohnen in Pakistan politisch kontra- produktiv und völkerrechtlich fragwürdig sind. Das Ver- sprechen des gezielten Tötens sei eine Lüge, weil die Waffen längst nicht so präzise sind wie gedacht. Profes- sor James Cavallaro, Mitarbeiter der Studie, erklärte, dass die meisten Angriffe mit bewaffneten Drohnen nicht vereinbar mit dem Völkerrecht und damit Kriegs- verbrechen sind. Politisch stärken sie genau jene Kräfte, die damit angeblich bekämpft werden sollen. Viele Fa- milien, die Opfer durch Drohnenangriffe zu beklagen ha- ben, schicken junge Söhne zu den Taliban, um ihre An- gehörigen zu rächen, oder schlichtweg aus Armut und Perspektivlosigkeit. Dieses Muster kennen wir ja bereits aus Afghanistan, und die US-Regierung hat mit der Aus- weitung des Krieges auf Pakistan zur massiven Destabi- lisierung, zur Vertreibung Hunderttausender Menschen und zu Armut und Elend im Norden Pakistans beigetra- gen. Und was macht die Bundesregierung? Sie setzt eben- falls auf Drohnen und hat bereits ein Forschungsprojekt im Haushalt mit 480 Millionen Euro vorgesehen. Der Verteidigungsminister hat Anfang August angekündigt, dass es zusätzlich ein europäisches Forschungsprojekt zu Drohnen geben soll. Wenn es noch einmal so teuer wird, dann wird 1 Milliarde Euro in Drohnen investiert, ohne dass es überhaupt eine völkerrechtliche Klarstellung gibt, wo diese eingesetzt werden dürfen. Gezieltes Töten Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24529 (A) (C) (D)(B) von verdächtigen Personen ist staatlicher Mord und muss sofort beendet werden. Während Mädchen wie Malala nicht zur Schule ge- hen dürfen und in anderen Teilen des Landes Kinder aus Mangel an Geld dem Schulunterricht fernbleiben, hat der pakistanische Staatshaushalt für Waffen und Solda- ten genügend Finanzmittel. Mehr als 20 Prozent des Haushalts werden für das Militär ausgegeben. Einer pri- vilegierten und korrupten Militärelite steht eine unterpri- vilegierte und arme Bevölkerungsmehrheit gegenüber: 20 Prozent der Menschen leben unterhalb der Armuts- grenze, auf der Liste des Human Development Index liegt Pakistan gerade einmal auf Platz 145 von 187. Im Jahr 2010 hat Deutschland Rüstungsexporte mit einem Volumen von 97 Millionen Euro nach Pakistan genehmigt, ebenso viel wurde für Indien genehmigt. und das, obwohl beide Länder zu Konfliktregionen gehören. Wir fordern die Bundesregierung auf: Stoppen Sie die Rüstungsexporte nach Pakistan und Indien und setzen Sie sich stattdessen für eine regionale Sicherheitskonfe- renz der zentralasiatischen Staaten sowie ein Ende der US-geführten Kriege in der Region ein. Die aktuelle politische Situation in der ganzen Region zeigt, dass nur eine Einbeziehung aller Nachbarstaaten den Krieg in Af- ghanistan und Pakistan lösen kann. Der Antrag der SPD und der Grünen greift zwar ver- schiedene sehr wichtige Aspekte auf, wie die Stärkung der demokratischen und zivilgesellschaftlichen Kräfte in Pakistan; aber Pakistan wird ausschließlich durch die si- cherheitspolitische Brille betrachtet. In allererster Linie geht es in dem Antrag um Terrorismusbekämpfung. Vor- schläge zur Stärkung der Zivilgesellschaft oder zu einer dezentralen Entwicklungszusammenarbeit im Energie- sektor sind da eher begleitende Maßnahmen, aber nicht im Zentrum der politischen Konfliktlösung. Vor allem wird die immense Bedeutung der US-Politik in Pakistan unzureichend und falsch bewertet. Die regionale Verant- wortung Pakistans fokussiert voll auf Afghanistan; In- dien wird nur als nuklearer Kontrahent thematisiert, der Kaschmir-Konflikt bleibt völlig außen vor. Es ist kaum ein Geheimnis, dass Pakistan nach den Anschlägen von 9/11 den Taliban nie richtig den Rücken zugekehrt hat. Die US-Regierung hat Islamabad dabei unterstützt, den Rückzug der Taliban aus Afghanistan zu organisieren; der US-Geheimdienst ist auch heute dabei, wenn der pakistanische Geheimdienst Gespräche mit den Aufständischen führt. Die Taliban werden bekämpft und gleichzeitig strategisch gestärkt; wer darunter leidet, ist die Zivilbevölkerung. Als meine Fraktion in der letzten Wahlperiode argu- mentiert hat, dass eine Friedenslösung in Afghanistan nur unter Einbeziehung der umliegenden Länder mög- lich sei, wollte das keiner hören. Statt weiter auf Terro- rismusbekämpfung und Krieg zu setzen, muss die Bun- desregierung sich verstärkt auf Armutsbekämpfung konzentrieren, um die Lebens- und Entwicklungsper- spektiven für die Bevölkerung zu verbessern. Daher können wir die im Antrag geforderte Erhöhung der Gel- der für die Entwicklungszusammenarbeit unterstützen. Entwicklung ist dann möglich, wenn der Krieg beendet wird und die Truppen abgezogen werden. Die Linke fordert seit Jahren als einzige Fraktion im Bundestag den Abzug der Truppen aus Afghanistan. Der NATO-Krieg in Afghanistan hat die Situation vor Ort nur verschlimmert; verbrecherische Warlords wurden an die Macht gebracht. Malalai Joya ist eine Frauenrechtsaktivistin und ehe- malige Abgeordnete in Afghanistan. Joya ist in einem pakistanischen Flüchtlingslager groß geworden und wird in Afghanistan und Pakistan unter den Menschen ver- ehrt. Sie hat mehrere Mordanschläge überlebt und lebt im Untergrund. Vor einigen Jahren hatte ein Journalist die nun so schwer verletzte Kinderaktivistin Malala ge- fragt, die jetzt in einem britischen Krankenhaus behan- delt wird, was ihr Name bedeute. Sie antwortete, der Name stamme von der afghanischen Heldin Malalai Joya. „Ich will eine soziale Aktivistin und ehrliche Poli- tikerin sein wie sie.“ Ich hoffe, dass Malala überlebt und viele Menschen sich mit ihr auf den Weg machen, um für Veränderungen in ihrem Land zu streiten. Wir können von hier aus ver- suchen, diese progressiven Kräfte zu unterstützen und sie in ihrem Kampf um soziale Rechte zu stärken. Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Heute liegt Ihnen ein gemeinsamer Antrag von SPD und Bünd- nis 90/Die Grünen zu Pakistan vor. Eigentlich war es mein Anliegen, eine gemeinsame Position hier im Parla- ment gegenüber Pakistan zu finden, als wir im Frühjahr einen grünen Antrag diskutierten. Doch Kollege Kiesewetter von der CDU hat dieses Ansinnen zurück- gewiesen. Er warf uns Grünen mit Bezug auf unser Ziel „Einbindungsdiplomatie“ vor, dass wir letztlich keine Antwort darauf hätten, „wie man mit einem schwierigen Partner umgeht, der sich zumindest partiell schlichtweg einer Einbindung verweigert“. Mit Verlaub, Herr Kollege, das ist doch grotesk. Da kann ich Ihnen mehrere Länder nennen, für die dieses Kriterium ebenfalls gilt und mit denen wir trotzdem in Beziehungen stehen – und ich denke da nicht nur an Länder wie Kasachstan oder Usbekistan, sondern auch an Russland oder China. Die CDU teilt doch die Auffassung, dass Pakistan eine geostrategische Bedeutung hat – und wir haben gute, vernünftige Beziehungen zu diesem Land. Warum wollen Sie diese eigentlich nicht kohärenter nutzen? Ge- rade weil es so schwierig ist, aber auch weil Pakistan so wichtig ist, müssen wir doch mehr tun, als von hier aus die Lage zu analysieren und nur Schlechtwetterreden zu halten. Mir ist es nach meinen Erfahrungen in diesem Land wichtig, auch das „positive Pakistan“ auf die politische Agenda zu setzen. Wir erkennen die kritische Lage, und dennoch wollen wir über Pakistans entscheidende Rolle für die Region sprechen und über die Potenziale, die es zu nutzen gilt. In den letzten Wochen konnten wir etwas Bemerkens- wertes in Pakistan verfolgen, auf das schon mein Kol- lege Pflug hingewiesen hat. Nach dem unfassbaren At- 24530 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 (A) (C) (D)(B) tentat auf die 14 Jahre alte Malala gingen im ganzen Land Menschen auf die Straße. Sie haben gegen den Ta- liban-Terror demonstriert. Hier berichteten die Medien einmal nicht von fundamentalistischen und minderhei- tenfeindlichen Demonstrationen. Das Attentat hat die Aufmerksamkeit der pakistanischen und der Weltöffent- lichkeit darauf gelenkt, dass es viele Menschen in Pakis- tan gibt, eine pakistanische Zivilgesellschaft, die sich für die elementarsten Grundrechte einsetzen. Der Malala- Moment zeigt: Es gibt ein Potenzial in Pakistan und eben auch eine differenzierte, aktive und starke Zivilge- sellschaft – und nicht nur Taliban und Militärs. Selbst in einer abgelegenen Region wie dem Swat-Tal gibt es Menschen, Frauen wie Malala, die sich für Mäd- chen- und Frauenrechte einsetzen. Darauf können wir aufbauen und die Zivilgesellschaft stärker in eine Zu- sammenarbeit einbinden. Hier will uns der gemeinsame Antrag den Weg zeigen. Das heißt aber nicht, dass man nicht nachdenklich werden muss, wenn einer der wichtigsten Experten wie Ahmed Rashid in der Welt mit den Worten zitiert wird: „Aber wir konnten beobachten, was immer passiert in Pakistan: Die Zivilregierung überträgt die Verantwor- tung den Militärs, und die Armee wiederum gibt den Auftrag zurück an die Regierung mit dem Hinweis, es brauche eine politische Entscheidung, die von nationaler Zustimmung getragen sei. Aber im Parlament sitzen die religiösen Parteien, die keinem Vorgehen gegen die Tali- ban zustimmen werden. Am Ende passiert nichts.“ Die Bundesregierung betont gerne, dass wir strategi- sche Geduld in der inzwischen 50-jährigen Entwick- lungszusammenarbeit mit Pakistan benötigen. Dem stim- men wir uneingeschränkt zu. Aber wir gehen weiter. Wir fordern die Bundesregierung unter anderem auf, gemein- sam mit den EU-Partnern eine ressortübergreifende und kohärente Gesamtstrategie für Pakistan zu entwickeln. Der Angriff auf den Bildungswunsch eines Mädchens lenkt die Aufmerksamkeit auch auf einen weiteren As- pekt, der mir persönlich sehr am Herzen liegt. So wie jetzt auch Malala müssen unzählige Kinder und Erwach- sene in Pakistan mit schrecklichen Erfahrungen durchs Leben gehen. Auf meiner Reise im September letzten Jahres besuchte ich unter anderem das Swat-Tal. Dort er- läuterte mir ein wichtiger Behördenvertreter, dass aus seiner Sicht die Bevölkerung des Tals traumatisiert sei und hierfür eigentlich zuallererst eine Lösung gefunden werden muss. Auch deshalb finden Sie in unserem An- trag eine Passage mit Forderungen dazu, mit innovativen Ansätzen zur friedlichen Bewältigung der Folgen von Terrorismus und Taliban-Herrschaft beizutragen. Anlage 14 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Ge- setzes zur Änderung des Siebten Buches Sozial- gesetzbuch (Tagesordnungspunkt 26) Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Die gesetzliche Unfallversicherung ist ein Thema, das sehr viele Men- schen betrifft. Circa 75 Millionen Menschen in Deutsch- land sind aktuell gegen Arbeits-, Wege- und Schülerun- fälle sowie gegen Berufskrankheiten in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert. Neben der Leistungsge- währung an die Versicherten nach einem Unfall bzw. nach Eintreten einer Berufskrankheit gehören auch Prä- vention, Arbeitssicherheit, Unfallverhütung und Ge- sundheitsschutz zu den Aufgaben der Unfallversiche- rungsträger. Träger der gesetzlichen Unfallversicherung hierzu- lande sind die öffentlich-rechtlichen Unfallkassen und die gewerblichen Berufsgenossenschaften. Erst im Jahr 2008 gab es eine Organisationsreform zur Modernisierung der gesetzlichen Unfallversiche- rung. Seitdem hat sich die Zahl der gewerblichen Be- rufsgenossenschaften im Wege von Fusionen reduziert. Bei den Unfallkassen gibt es parallele Entwicklungen, wenn auch in geringerem Umfang. Die Reform betraf auch die Finanzierung der gesetzlichen Unfallversiche- rung in Deutschland. So wurde unter anderem der soge- nannte Lastenausgleich zwischen den Berufsgenossen- schaften neu geregelt. Denn jede Berufsgenossenschaft hat Versicherte mit unterschiedlich hohen Beiträgen und unterschiedlichen Unfalls- und Krankheitsrisiken. Ent- sprechend groß ist die Spannbreite beim Umfang der Leistungen an die Versicherten. Der solidarische Lasten- ausgleich versucht deshalb eine Balance für die Belas- tungen der einzelnen Berufsgenossenschaften zu finden. Allerdings wurden die Ziele der Organisationsreform nicht vollumfänglich umgesetzt. Aufgrund von zahlrei- chen Privatisierungen kam es in den letzten Jahren auch verstärkt zu Verschiebungen und Unstimmigkeiten im Zuständigkeitsbereich der Versicherungsträger. So ist das sogenannte Moratorium, das bereits 2005 zur Lösungs- findung beschlossen wurde, insgesamt noch zweimal verlängert worden. Nun hat der Spitzenverband der Deutschen Gesetzli- chen Unfallversicherungsträger, die DGUV, in Erfüllung der Moratoriumslösung im Frühjahr dieses Jahres ein Konzept vorgeschlagen. Dieses Konzept haben wir in der Union aufgegriffen und so weit wie möglich ausge- staltet. Der vorliegende Gesetzentwurf regelt die Zuständig- keit der Unfallkassen und der gewerblichen Berufsge- nossenschaften. Dies ist bei Unternehmen der öffentli- chen Hand zum Teil sehr schwierig, wenn sie beispiels- weise nicht ausschließlich öffentlich sind. Zur Abgren- zung wird auf die überwiegende Beteiligung von Län- dern und Gemeinden bzw. auf deren Einfluss auf die zu versichernden Unternehmen abgestellt. Sogenannte kom- munale Ausnahmebetriebe wie etwa Verkehrsunterneh- men oder Gas- und Wasserwerke bleiben nach dem Ge- setzentwurf dann im Zuständigkeitsbereich der Berufs- genossenschaften, wenn sie in selbstständiger Rechts- form betrieben werden, also zum Beispiel als GmbH. Dieser Entwurf bietet Rechtssicherheit und Verlässlich- keit für die Unternehmen und die Versicherungsträger. Darüber hinaus trifft dieses Gesetz eine wichtige Vor- kehrung für das Meldeverfahren, wonach die Arbeitge- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24531 (A) (C) (D)(B) ber Auskünfte zur Beitragsberechnung an die Berufsge- nossenschaften erteilen müssen. Die Meldungen der Arbeitgeber sollen künftig in das allgemeine sozialversi- cherungsrechtliche Meldeverfahren integriert werden. Um diese Umstellung jedoch zu 100 Prozent vollziehen zu können, bedarf es etwas mehr Zeit, als ursprünglich vorgesehen. Daher wird die Übergangszeit bis Ende 2015 verlängert. 2016 wird das neue Meldeverfahren hinreichend erprobt sein und ein qualitativ hochwertiges Verfahren bieten. Schließlich wurde das vorliegende Gesetz noch um eine weitere bedeutsame Regelung erweitert – der Ver- stetigung der Insolvenzgeldumlage. Bisher mussten alle Betriebe ihre Umlagesätze zur Absicherung der Beschäf- tigtenlöhne für den Fall eintretender Insolvenz auf der Grundlage prozyklischer Berechnungen entrichten. All- jährlich wurde anhand der Zahl voraussichtlicher Insol- venzen für das laufende Jahr ein Umlagesatz für die Un- ternehmen festgelegt. Das bedeutete zwangsläufig, dass die zu entrichtenden Abgaben immer dann besonders hoch ausfielen, wenn viele Insolvenzen zu erwarten wa- ren, also die wirtschaftliche Entwicklung nicht gerade gut verlief. In Zeiten, in denen weniger Insolvenzen pro- gnostiziert wurden, waren die Umlagesätze entspre- chend niedriger. Also immer dann, wenn man es sich hätte leisten können, musste man weniger bezahlen. Hin- gegen dann, wenn die finanzielle Situation etwas schlechter war, mussten die Betriebe ausgerechnet hö- here Zahlungen leisten. Die Gesetzesänderung sieht nun vor, dass der Umla- gesatz stets bei 0,15 Prozent des Beschäftigteneinkom- mens liegt. Bei schlechter Konjunkturlage werden die Unternehmen also entlastet, bei guter können sie dazu beitragen, eine Rücklage zu bilden. Diese soll übrigens zweckgebunden sein und nicht für sachfremde Maßnah- men verwendet werden. Das Insolvenzgeld wird damit in Zukunft antizyklisch ansetzen und in letzter Konsequenz für den Erhalt von Arbeitsplätzen sorgen. Wir haben damit eine arbeitneh- mer- und arbeitgeberfreundliche Regelung gefunden, die zugleich dem Wirtschaftsstandort Deutschland zugute- kommt. Insofern bleibt mir nur noch, Sie um Zustimmung zu diesem gelungenen Gesetz zu bitten und mich für Ihre Aufmerksamkeit zu bedanken. Paul Lehrieder (CDU/CSU): Die Frage, wann ein Unternehmen der öffentlichen Hand in die Zuständigkeit einer Unfallkasse oder Berufsgenossenschaft fällt, war lange umstritten. Die Entscheidung zur befristeten Rege- lung zur Zuständigkeit für Unternehmen, die in eigener Rechtsform betrieben werden und an denen die Länder bzw. Gemeinden beteiligt sind, wurde seit acht Jahren mit einem Moratorium vertagt. Die Moratoriumsrege- lung trat am 1. Januar 2005 in Kraft und regelte zeitlich befristet die Abgrenzung der Zuständigkeit von gewerb- lichen Berufsgenossenschaften und Unfallversiche- rungsträgern. 2004 war die Abgrenzung der Zuständig- keit zwischen den Unfallversicherungsträgern von Ländern und Gemeinden und den gewerblichen Berufs- genossenschaften neu gefasst worden, um zuvor beste- hende rechtliche Unsicherheiten auszuräumen. Mit dem heute hier debattierten Gesetzentwurf der Bundesregierung eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Siebten Buches Sozialgesetzbuch wird dieses Mora- torium ab 2013 durch eine dauerhafte Nachfolgerege- lung ersetzt. Zugegebenermaßen geschieht die Ablösung später als ursprünglich geplant, aber uns war wichtig, bei der Frage der Abgrenzung der Zuständigkeit von Berufs- genossenschaften und Unfallkassen für öffentliche Un- ternehmen zu einer langfristigen Lösung zu kommen. Um einen möglichst dauerhaft tragfähigen Konsens zu erreichen, wurden unterschiedliche Kriterien wie Rechts- sicherheit, zielgenaue Prävention und gleiche Wettbe- werbsbedingungen für konkurrierende Unternehmen ge- nauso berücksichtigt wie die Interessen von Ländern und Gemeinden. In der gesetzlichen Unfallversicherung sind die Zu- ständigkeiten prinzipiell klar geregelt: Unternehmen der freien Wirtschaft sind bei einer gewerblichen Berufsge- nossenschaft versichert, Gebietskörperschaften – also Bund, Länder und Kommunen – und ihre Unternehmen bei einem Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand, folglich bei der Unfallkasse oder dem Gemeinde- unfallversicherungsverband, und landwirtschaftliche Be- triebe beim berufsständischen Sicherungssystem der landwirtschaftlichen Sozialversicherung. Schwierig wurde die Frage der Zuständigkeit unter den Trägern dann, wenn es um die Verselbstständigung von landeseigenen oder kommunalen Unternehmen ging. Bei bestimmten Gemeindebetrieben, zum Beispiel bei Elektrizitäts-, Gas-, Wasserwerken und bei Verkehr, sieht das Gesetz noch die Zuständigkeit bei den Berufs- genossenschaften, sodass für die Gemeinde mehrere Un- fallversicherungsträger zuständig sind. Die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung, DGUV, der Spitzenverband der gewerblichen Berufsge- nossenschaften und der Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand, war durch das 4. SGB-IV-Ände- rungsgesetz beauftragt worden, innerhalb weniger Mo- nate für eine Nachfolgeregelung zum Moratorium einen Lösungsvorschlag zu unterbreiten. Danach werden Ab- grenzungskriterien präzisiert und Ausnahmeregelungen eingeschränkt. Der Ihnen vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung setzt den Vorschlag der DGUV um. Die Umsetzung der Konsenslösung der DGUV wird Rechtssicherheit und vor allem Klarheit schaffen: Es sieht vor, wann ein Unternehmen in der Unfallversiche- rung als öffentliches Unternehmen behandelt wird und somit Versicherungsträger eine Unfallkasse und nicht eine Berufsgenossenschaft ist. Eine Unfallkasse ist dem- zufolge dann für Unternehmen zuständig, wenn die öf- fentliche Hand mehrheitlich an einer Kapitalgesellschaft beteiligt ist oder bei anderen Unternehmen die Majorität im Leitungsorgan hat. Unabhängig von ihrer Rechtsform sind sämtliche anderen Unternehmen entweder bei der gewerblichen oder bei der landwirtschaftlichen Unfall- versicherung versichert. Bei unselbstständigen Betrieben der öffentlichen Hand, für die bisher eine oder mehrere Berufsgenossenschaften zuständig waren, ist künftig die 24532 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 (A) (C) (D)(B) jeweilige Unfallkasse zuständig. Das von der DGUV vorgelegte Konzept soll schrittweise auch für bereits be- stehende Unternehmen gelten. Nachdem ich nun ausführlich auf die Nachfolgerege- lung zum Moratorium eingegangen bin, möchte ich gern noch einen anderen Aspekt kurz ansprechen. Denn da- rüber hinaus werden mit dem vorliegenden Gesetzent- wurf die Übergangszeit für die endgültige Ablösung des Lohnnachweises der Arbeitgeber durch die Integration in das allgemeine Meldeverfahren um zwei Jahre verlän- gert und klarstellende Regelungen zum Antragsverfah- ren bei der freiwilligen Versicherung getroffen. Den Wettbewerbsaspekt hat die DGUV bei ihrem Konzept allerdings noch außen vor gelassen; hierzu wird zur Problemanalyse eine längere Frist benötigt. Diesem Wunsch entsprechen wir, denn eine einfache Lösung gibt es hier nicht. Auch bei dieser Gesetzesänderung wollen wir nach dem Grundsatz „Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit“ handeln. Dennoch brauchen wir aber auch bei diesem wichtigen Punkt eine klare zeitliche Perspektive, weshalb der DGUV im Gesetzentwurf ein Folgeauftrag mit Frist Ende nächsten Jahres erteilt wird. Die DGUV prüft danach die Auswirkungen der Zustän- digkeit der Unfallkassen auf die Belastung der öffentli- chen Unternehmen durch Unfallversicherungsbeiträge im Verhältnis zu gleichartigen Unternehmen, für die die Berufsgenossenschaften zuständig sind. Stellt die DGUV wettbewerbsrelevante Unterschiede fest, wird sie Vorschläge zur Herstellung gleicher Wettbewerbsbedin- gungen unterbreiten. Wie Kollege Dr. Wadephul bereits ausführlich darge- stellt hat, beinhaltet der vorliegende Änderungsantrag auch die Verstetigung der Insolvenzgeldumlage. Bisher wurde der Umlagesatz jährlich entsprechend dem aktuel- len Bedarf durch – zustimmungspflichtige – Rechtsver- ordnung festgesetzt. Nunmehr wird ein fester Umlage- satz in Höhe von 0,15 Prozent bestimmt und die Möglichkeit einer abweichenden Rechtsverordnung nur noch für besondere Fälle beibehalten. Abschließend möchte ich nicht versäumen, auszufüh- ren, dass ein weiterer wichtiger Aspekt im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung ebenfalls geregelt wird: Hierzu zählt der freiwillige Versicherungsschutz von Eh- renamtsträgern, der auch weiterhin von den Vereinen und Organisationen unbürokratisch beim Unfallversi- cherungsträger beantragt werden kann. In der Praxis wa- ren Irritationen durch ein Verfahren vor dem Bundesso- zialgericht aufgekommen, wonach strengere Formerfor- dernisse gelten sollten. Zu guter Letzt möchte ich all denjenigen, die an der Konsenslösung beteiligt waren, von Herzen für ihren Einsatz danken. Josip Juratovic (SPD): Der vorliegende Entwurf des 2. Gesetzes zur Änderung des SGB VII ist unseres Erachtens weithin unproblematisch. Es soll dauerhaft geregelt werden, wie die Abgrenzung der Zuständigkeit zwischen den gewerblichen Berufsgenossenschaften und den öffentlichen Unfallversicherungsträgern im SGB VII erfolgt. Der Gesetzentwurf setzt damit ein Konzept um, das die Mitgliederversammlung der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung am 24. Mai 2012 ohne Gegenstim- men beschlossen hat. In diesem Zusammenhang möchte ich daran erinnern, dass mit dem von der Bundesregie- rung eingebrachten „Gesetzentwurf eines Vierten Geset- zes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze“, das die schwarz-gelbe Koalition mit ihrer Mehrheit am 1. Dezember 2011 im Bundestag verabschiedet hat, die Frist für die Erstellung eines ent- sprechenden Konzeptes von ursprünglich dem 31. De- zember 2013 auf den 31. Mai 2012 verkürzt worden ist. Dass die Gremien der Deutschen Gesetzlichen Unfall- versicherung es trotzdem geschafft haben, ein allseitig akzeptiertes Verfahren zur Abgrenzung der Zuständig- keiten fristgerecht zu entwickeln, zeigt, wie sinnvoll und funktionsfähig die Selbstverwaltung in den Sozialversi- cherungen ist. Wir sollten uns daran erinnern, wenn es gilt, aus dem kürzlich vorgelegten Bericht des Bundes- wahlbeauftragten für die Sozialversicherungswahlen die Konsequenzen zu ziehen. Weiterhin soll die Frist für die Einführung des neuen Meldeverfahrens hinsichtlich der Meldung der Arbeitge- ber an die Berufsgenossenschaften über die Entgelte der Beschäftigten bis 2016 verlängert werden. Nach Ein- schätzung der Bundesregierung trägt man so dem Um- stand Rechnung, dass es kein sicheres Meldeverfahren gäbe, wenn das bisherige Verfahren wie im Unfallversi- cherungsmodernisierungsgesetz geregelt 2014 außer Kraft träte. Dass eine einmal gesetzlich anvisierte Ziel- marke verfehlt wurde, ist bedauerlich. Wir hoffen, dass wir mit unserer Zustimmung zu diesem Gesetz dazu bei- tragen können, dass sich dies nicht ein zweites Mal er- eignet. Lassen Sie mich noch ein aktuelles Problem hervor- heben, das die Unfallversicherung in die Aufmerksam- keit der politischen Akteure rückt. Derzeit besteht ein großes Problem für die Vereine des bezahlten Sports da- rin, dass sie sich aufgrund anhaltend hoher Unfallzahlen einer Steigerung der Beiträge zur Berufsgenossenschaft gegenübersehen. Ich hoffe, dass wir hier bald zu einer Lösung kommen. Miriam Gruß (FDP): Ende diesen Jahres läuft das sogenannte Moratorium in der gesetzlichen Unfallversi- cherung ab. Der Gesetzgeber ist gefragt, Unternehmen, an denen die öffentliche Hand beteiligt ist, endlich ein- deutig entweder den gewerblichen Berufsgenossenschaf- ten oder den Unfallversicherungsträgern der öffentlichen Hand zuzuordnen. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird zum 1. Ja- nuar 2013 eine Lösung gefunden – und ich bin über- zeugt, dass wir damit in die richtige Richtung gehen. Der Spitzenverband Deutsche Gesetzliche Unfallversiche- rung, DGUV, war durch das vierte SGB-IV-Änderungs- gesetz beauftragt worden, ein entsprechendes Konzept vorzulegen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24533 (A) (C) (D)(B) Der Gesetzentwurf setzt diesen Vorschlag der DGUV um. Dadurch erfolgt jetzt eine klare rechtliche Zuord- nung der Unternehmen mit Beteiligung der öffentlichen Hand. Diese können ihre Mitarbeiter in Zukunft dann über die Berufsgenossenschaft versichern, wenn das Un- ternehmen zu weniger als der Hälfte unmittelbar in staat- lichem Besitz ist. Das Gleiche gilt, wenn die mittelbar überwiegende Beteiligung nicht durchgängig auf allen Ebenen besteht oder wenn die öffentliche Hand nur Ein- fluss in Form von Minderheitenrechten oder Sperrmino- ritäten hat. Der Gesetzentwurf beschränkt sich also auf die Zu- ständigkeitszuordnung. Daher ist klar, dass es sich hier- bei nur um einen ersten Schritt handeln kann; weitere müssen folgen. Beispielsweise müssen wir das Thema der Wettbewerbsungleichheiten bei den Beitragsbelas- tungen dringend in einem folgenden Gesetzgebungsver- fahren angehen. Dabei sollte auch die Frage der Zahl der Unfallkassen eine Rolle spielen. Es ist dem steten Bemühen und Drängen der FDP zu verdanken, dass jetzt immerhin schon einmal dem Mora- torium eine eindeutige Regelung folgt und wir damit in dieser Legislaturperiode zu einer Teillösung kommen. Wir sind also bei der Unfallversicherung auf einem sehr guten Weg. Ein Wort noch zum Änderungsantrag: Er beinhaltet die Verstetigung der Insolvenzgeldumlage. Bisher wurde der Umlagesatz jährlich entsprechend dem aktuellen Be- darf durch eine zustimmungspflichtige Rechtsverord- nung festgesetzt. Nunmehr wird ein fester Umlagesatz in Höhe von 0,15 Prozent bestimmt und die Möglichkeit ei- ner abweichenden Rechtsverordnung nur noch für be- sondere Fälle beibehalten. Auch dieser Schritt war über- fällig. Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Mit dem Ge- setzentwurf wird ein jahrelanger Schwebezustand been- det. Obschon die von der Bundesregierung vorgelegten gesetzlichen Änderungen des Siebten Buches Sozialge- setzbuch recht kompliziert wirken, stellen sie letztend- lich doch eine tragfähige Lösung dar. Im Kern geht es im vorliegenden Gesetzentwurf um die Frage, wie die Zuständigkeiten zwischen öffentlichen Unfallversicherungsträgern und gewerblichen Berufsge- nossenschaften möglichst eindeutig und damit konflikt- frei geregelt werden können. Mit der Neureglung sollen „Praktikabilität, Rechtssicherheit und die Gewährleis- tung einer zielgenauen und erfolgreichen Prävention“ Kriterien der Zuständigkeitszuteilung werden. Im Wesentlichen gehen die Regelungen, die der Ge- setzentwurf trifft, auf ein Konzept zurück, dass der Spit- zenverband Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung, DGUV, im gesetzlichen Auftrag erstellt und dem Bun- desministeriums für Arbeit und Soziales zur Verfügung gestellt hat. Der mit dem Gesetzentwurf vorgeschlagenen Rege- lung, dass eine öffentliche Unfallkasse immer dann für ein Unternehmen zuständig sein soll, wenn die öffent- liche Hand mehrheitlich an einer Kapitalgesellschaft be- teiligt ist oder bei anderen Unternehmen über die Mehr- heit der Stimmen im Leitungsorgan verfügt, ist weder von einer im Bundestag vertretenen Fraktion noch öf- fentlich bekannt von anderer Seite widersprochen wor- den. Auch dem im Ausschuss für Arbeit und Soziales eingebrachten Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP haben alle Fraktionen zuge- stimmt. Warum es also zu dem vorliegenden Gesetzentwurf in dieser zweiten und dritten Beratung überhaupt noch eine Aussprache geben muss, ist nicht nachvollziehbar. Die Linke wird – wie zuvor bekannt – dem Gesetzent- wurf zustimmen. Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der vorgelegte Entwurf eines zweiten Gesetzes zur Ände- rung des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (BT- Drucksache 17/10750) sowie der Änderungsantrag der Koalition auf der Ausschussdrucksache 17(11)992 finden unsere Unterstützung. Bündnis 90/Die Grünen hatten in der Vergangenheit kritisiert, dass öffentliche und erwerbswirtschaftlich be- triebene Unternehmen unterschiedlich behandelt wer- den. Diese Unterscheidung hat nicht zuletzt zu zahlrei- chen Verfahren vor den Sozialgerichten geführt. Da die sogenannte Moratoriumsregelung zum 31. Dezember dieses Jahres ausläuft, war eine Nachfolgeregelung von- nöten. Das von der Mitgliederversammlung der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung, DGUV, verabschie- dete Konzept zur Neuordnung der Zuständigkeiten findet sich nun im vorliegenden Gesetzentwurf. Es ist zu begrüßen, dass der DGUV zudem ein Folge- auftrag zur Prüfung der Wettbewerbsfrage erteilt wird. Auch den vorgeschlagenen Regelungen zu den klar- stellenden Regelungen bei Ehrenamtlichen und dem Meldeverfahren können wir zustimmen. Auch der Bun- desrat hat in seiner 900. Sitzung am 21. September 2012 keine weiteren Einwände erhoben Zum Änderungsantrag. Mit dem Änderungsantrag soll die Insolvenzgeldumlage konjunkturunabhängig verstetigt werden. Zukünftig werden die Unternehmen nicht länger gerade dann mit einem höheren Umlagesatz belastet, wenn aufgrund schlechter wirtschaftlicher Rahmenbedingungen ein erhöhter Bedarf für die Finan- zierung des Insolvenzgeldes besteht. Dies ist aus wirt- schaftspolitischer Sicht sinnvoll. Auch aus Sicht der Bundesagentur für Arbeit ist die Neufassung ein Fort- schritt. Alles in allem können wir der im federführenden Arbeits- und Sozialausschuss einstimmig beschlossenen Beschlussempfehlung nur zustimmen. 24534 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 (A) (C) (D)(B) Anlage 15 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Neunten Buches Sozialgesetz- buch (Tagesordnungspunkt 28) Maria Michalk (CDU/CSU): Wir haben uns in den zurückliegenden Wochen mit einem Gesetzesantrag aus dem Bundesrat zur Änderung des SGB IX auseinander- gesetzt. Ausgangspunkt ist die einvernehmliche Feststellung, dass für die Mobilität von schwerbehinderten Kindern, Jugendlichen, Frauen und Männern die unentgeltliche Beförderung im öffentlichen Personennahverkehr uner- lässlich ist. Alle Leistungserbringer erhalten für die un- entgeltliche Beförderung bzw. für die ihnen dadurch ent- standenen Einnahmeverluste eine Erstattung. An diesem Verfahren sind sowohl der Bund als auch die Länder be- teiligt. Wir wissen, dass dies ein kompliziertes Verrech- nungsverfahren ist, verbunden mit einem erheblichen Verwaltungsaufwand. Die freifahrtberechtigten Menschen haben einen Ei- genbeitrag zu leisten. Sie erwerben dazu eine sogenannte Wertmarke bei ihrem Versorgungsamt. Seit 1984 hat sich der Eigenanteil nicht verändert, und das, obwohl sich der Service der Nahverkehrsbetriebe über die Jahre verbes- sert hat, die Angebote erweitert und vor allem die Reich- weiten der Streckennetze erheblich ausgedehnt wurden. Der Bundesrat schlägt vor, die Kosten zur Beförde- rung von schwerbehinderten Menschen stärker an das aktuelle Preissystem anzupassen. Zudem soll künftig auch die Möglichkeit bestehen, die Kosten für die Wert- marke dynamisch anzuheben. Dies ist adäquat zu den Regelungen im SGB IX zur Ausgleichsabgabe bzw. zu den Kinderbetreuungskosten. Wir haben entschieden, diesen Vorschlag aufzuneh- men. Die Eigenbeteiligung an der Wertmarke wird von derzeit 60 auf 72 Euro angehoben. Das bedeutet pro Mo- nat eine Erhöhung von 1 Euro. Aus Sicht der Behindertenverbände ist diese Erhö- hung ungerecht. Das geht aus den Stellungnahmen her- vor. Wir müssen aber wissen und berücksichtigen, dass diejenigen Schwerbehinderten, die bedürftig sind und etwa Leistungen der Grundsicherung beziehen, nach wie vor von dem Betrag freigestellt bleiben. Für sie über- nimmt der Steuerzahler den vollen Ausgleich. Das Soli- darprinzip bleibt erhalten und wirkt weiter. Ich will hier noch einmal darauf hinweisen, dass von einer realen Preiserhöhung bereits im Vorfeld Abstand genommen wurde. Denn würde die Eigenbeteiligung in Anlehnung an die tatsächliche Verbraucherpreisentwick- lung in den Bereichen Mobilität und Verkehr angepasst werden, müsste die Jahreswertmarke etwa 100 Euro kos- ten. Insofern ist die im heute zu beschließenden Gesetz vorgesehene Erhöhung auf 72 Euro aus unserer Sicht durchaus angemessen und zumutbar. Wir setzen darauf, dass sich alle auf ein sich stetig verbesserndes Nahver- kehrsnetz verlassen können. An dieser Stelle möchte ich noch einmal auf die über- fraktionelle Initiative zur Personenbeförderungsgesetz- novelle hinweisen, auf die sich die Fraktionen von Union, FDP, SPD und Bündnis 90/Die Grünen geeinigt haben, um den ÖPNV sowie den Fernbuslinienverkehr bis zum Jahr 2022 vollständig barrierefrei zu machen. Dies nur als Hinweis darauf, dass sich in vielen Berei- chen sehr viel tut, um die Teilhabechancen von Men- schen mit Behinderung durch Optimierung der Mobilität zu steigern. Zurück zu den geplanten Änderungen zum SGB IX. Mit dem heutigen Gesetz wird die Regelung über die Er- stattung bei einer Rückgabe der Wertmarke optimiert, um den Verwaltungsaufwand zu verringern. Einen An- spruch auf Erstattung sollen Menschen mit Behinderung nur noch für die Jahreswertmarken haben, sofern die Hälfte der Gültigkeit der Wertmarke noch nicht abgelau- fen ist. Für Halbjahreswertmarken, die vor Ablauf zu- rückgegeben werden, können die Kosten nicht mehr zu- rückerstattet werden. In all diesen Punkten sind wir uns hier im Deutschen Bundestag mit dem Bundesrat einig. Aber es gibt noch einen weiteren Aspekt im Gesetzentwurf, den wir diffe- renzierter sehen. In Zukunft sollen die Aufwendungen für eine unent- geltliche Beförderung schwerbehinderter Menschen, die nach dem Bundesversorgungsgesetz anspruchsberechtigt sind, allein von den Ländern übernommen werden. Zum Ausgleich sollen die Länder ihre Abführungen aus dem Wertmarkenverkauf an den Bund entsprechend reduzie- ren. Diese Regelung betrifft ausschließlich die Finanzbe- ziehungen zwischen Bund und Ländern. Die Interessen schwerbehinderter Menschen sind davon nicht berührt. Für sie ändert sich dadurch nichts. Aus diesem Grund tragen wir in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion diesen Vorschlag mit, zumal er den Verwaltungsaufwand erheb- lich reduziert. Das ist vernünftig. Darüber hinaus wurde vorgeschlagen, die Lastenver- teilung zwischen dem Bund und den Ländern zu verän- dern. Auf der Grundlage des jetzigen Rechts hat der Bund 2011 32 Prozent der Einnahmen erhalten. Der ak- tuelle Vorschlag der Länder basiert auf 20 Prozent. Fakt ist, dass die Aufwendungen des Bundes in den vergange- nen zehn Jahren für die Anspruchsberechtigten nach dem Bundesversorgungsgesetz ständig gesunken sind. Und sie werden mit Blick auf die demografische Ent- wicklung weiter sinken. Deshalb ist es gerechtfertigt, für die Neufestsetzung der Lastenregelung die Entwicklung der vergangenen zehn Jahre zugrunde zu legen. Der § 152 des SGB IX regelt den Erstattungsanspruch. Es wurde beantragt, von den durch diese Ausgabe der Wert- marke erzielten jährlichen Einnahmen dem Bund einen Anteil von 20 Prozent zu erstatten. Das aber entspricht nicht der tatsächlichen Lastenverteilung zwischen Bund und Ländern. Der Bund hat für schwerbehinderte Men- schen, die nach dem Bundesversorgungsgesetz an- spruchsberechtigt sind und für die er deshalb die Kosten trägt, im Jahr 2002 13 637 710 Euro ausgegeben. Im Jahr 2011 waren es 4 581 699 Euro. Deshalb ist die Sen- kung der Erstattung gerechtfertigt. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24535 (A) (C) (D)(B) Die Berechnung ergibt einen Prozentsatz von 27 Pro- zent. Diesen werden wir heute beschließen. Das bedeutet auf der Grundlage der Zahlen aus 2011 9,2 Millionen Euro. Die mit dem Gesetz beschlossene Dynamisierung der Eigenbeteiligung muss maßvoll geschehen; denn wir ha- ben den Grundsatz zu berücksichtigen, dass sich Leis- tungsbereitschaft letztlich in der persönlichen Situation widerspiegeln muss. Der Vollständigkeit halber weise ich darauf hin, dass Grundsicherungs- und Sozialhilfe- empfänger sowie blinde und hilflose Menschen weiter- hin von der Eigenbeteiligung befreit sind. Generell möchte ich noch einmal daran erinnern, dass in Zukunft die Schwerbehindertenausweise nur noch im Scheckkartenformat ausgehändigt werden. Das soll ab 1. Januar 2013 gelten. Ich hoffe, dass die Umstellung klappt, weil sie benut- zerfreundlich ist. Und wenn wir heute die optimierte Mobilität schwer- behinderter Menschen im Fokus haben, dann will ich noch einmal mit einem großen Dank an die Deutsche Bahn erwähnen, dass seit 1. September 2011 schwerbe- hinderte Menschen alle Züge des Nahverkehrs uneinge- schränkt nutzen können. Die zuvor geltende 50-Kilome- ter-Beschränkung wurde seinerzeit aufgehoben. Bundesweit können Menschen mit ihrem Schwerbehin- dertenausweis und der dazugehörigen Wertmarke kos- tenlos reisen. Diese Regelung betrifft gehbehinderte, außergewöhn- lich gehbehinderte, hilflose, gehörlose und blinde Men- schen – Merkzeichen G, aG, H, Gl und Bl im Schwer- behindertenausweis. Das Merkzeichen B berechtigt darüber hinaus zur kostenfreien Mitnahme einer Begleit- person. Nahverkehr heißt: ÖPNV in Verkehrsverbünden in ganz Deutschland, außerhalb von Verkehrsverbünden: Omnibusse, Straßenbahnen, S-Bahnen in ganz Deutsch- land sowie Nahverkehrszüge der Bahn. Wer diesen Fakt und diese Verbesserung nicht als großen Erfolg würdigt, ist realitätsfremd. Die Fraktion Die Linke hat heute kurzfristig einen Änderungsantrag zum vorliegenden Gesetzentwurf des Bundesrates eingebracht. Das war zu erwarten. Keine Überraschung ist leider auch die darin geäu- ßerte Behauptung, dass Bund und Länder sich auf Kos- ten von Menschen mit Behinderung gesundsparen wür- den. Angesichts der enormen Haushaltsmittel, die für die Förderung der Teilhabe von Menschen mit Behinderung in vielen Lebensbereichen jedes Jahr aufgewendet wer- den, ist diese Behauptung nicht nur eine Frechheit. Sie verzerrt auch das Bild der Behindertenpolitik in Deutschland. Sie suggerieren, dass denjenigen, die gar nichts ha- ben, noch tiefer in die Tasche gegriffen wird. Das ist schlicht und einfach falsch. Ich hatte es bereits gesagt: Besonders bedürftige Menschen mit Behinderung müs- sen nach wie vor keinen Eigenanteil an der Wertmarke leisten. Sie können völlig kostenneutral den gesamten ÖPNV nutzen. Unstrittig ist, dass weitere Verbesserungen hinsicht- lich der Barrierefreiheit nötig sind – und das in allen Be- reichen, nicht nur im Verkehr. Gleichzeitig wissen wir auch, dass wir diese Verbesserungen nicht zum Nulltarif bekommen. Dazu passt die im Änderungsantrag der Lin- ken erwähnte Rundfunkgebührenerhöhung, die im Übri- gen die Länder und nicht der Bund beschlossen haben. Auch hier sollen mit den Mehreinahmen unter anderem ein Mehr an barrierefreien Angeboten für Zuschauerinnen und Zuschauer sowie Zuhörerinnen und Zuhörer mit Be- hinderung geschaffen werden. Barrierefreiheit ist nicht nur eine Grundvoraussetzung zur Teilhabe, sie kostet eben auch Geld. Und wir alle ge- meinsam müssen und werden für diese Kosten aufkom- men. Wir Menschen haben alle sehr individuelle Bedürf- nisse. Auch Menschen mit Behinderung sind sehr ver- schieden in ihren Bedürfnissen. So verschieden, wie die Beeinträchtigungen von Sehen und Hören sind, so ver- schieden ist es, was Menschen als Barrieren erfahren oder empfinden. Wir müssen es schaffen, in der Un- gleichheit die Normalität zu sehen. Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Haben Sie schon ein- mal Ihre täglichen Wege in Begleitung eines Rollstuhl- fahrers oder eines blinden Menschen gemacht? Spätes- tens dann werden Sie erfahren, wie stark schwerbehinderte Menschen im Straßenverkehr beein- trächtigt sind. Deshalb ist es richtig, dass sie Anspruch darauf haben, im öffentlichen Personennahverkehr un- entgeltlich befördert zu werden. Dies ist in den §§ 145 ff. SGB IX geregelt. Es betrifft gehbehinderte, außerge- wöhnlich gehbehinderte, hilflose, gehörlose und blinde Menschen, also die Merkzeichen G, aG, H, Gl und Bl im Schwerbehindertenausweis. Ob diese Voraussetzungen vorliegen, wird vom Versorgungsamt geprüft. Schwerbe- hinderte Menschen, die freifahrtberechtigt sind, erhalten dann einen Schwerbehindertenausweis in Grün-Orange. Der hier vorliegende Gesetzentwurf des Bundesrates zur Änderung des Sozialgesetzbuchs IX enthält viele richtige Regelungen, aber leider auch eine für die aktive gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinde- rung nicht hinnehmbare Änderung. Die einmalige Anhebung der Eigenbeteiligung um 1 Euro pro Monat ist angemessen, denn es ist die erste Anhebung seit 1984. Darum geht es uns nicht. Seither sind auch die Leistungen für behinderte Menschen im ÖPNV deutlich verbessert worden. Auch die vorgesehe- nen Verwaltungsvereinfachungen sind nachvollziehbar. Problematisch ist aber, dass für die Freifahrten behin- derter Menschen nunmehr jährliche automatische Anhe- bungen der Eigenbeteiligung erfolgen sollen – die nicht gedeckelt sind! Diese Steigerungen sollen sich nicht etwa am Leistungsvermögen der Betroffenen ausrichten – das hätte man noch nachvollziehen können –, sondern am Durchschnittsverdienst der Versicherten der gesetzli- 24536 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 (A) (C) (D)(B) chen Rentenversicherung. Schwerbehinderte sind aber keine Durchschnittsverdiener. Für das Jahr 2012 hätte diese Dynamisierung gegenüber 2011 eine Erhöhung um 5 Euro bedeutet. Menschen mit Behinderung werden so in kürzester Zeit eine weitaus höhere Eigenbeteiligung als den jetzt erfolgten Euro zu leisten haben, und das ohne adäquate Steigerung der Regelsätze, Entgelte und ohne wesentliche Steigerung der Barrierefreiheit im Bahnverkehr. Das darf nicht sein. Die Einkommen von Menschen mit Behinderung sind oft unterdurchschnittlich. Prekäre Beschäftigung und Niedriglöhne sind keine Seltenheit. Gründe hierfür sind insbesondere ihre deutlich schlechteren beruflichen Teilhabechancen, mangelhafte Barrierefreiheit sowie ge- sundheitliche Einschränkungen. Die Anspruchs- berechtigten einer Freifahrtmarke müssen meist ihre Teilhabeleistungen durch eine – nicht überall, aber durchaus vorhandene – strukturelle Verweigerungshal- tung der Sozialversicherungen und Rehabilitationsträger allein schultern oder darauf verzichten. Schon bei der Einführung dieses Gesetzentwurfs haben wir darauf hingewiesen, und ich wiederhole es gerne noch mal: Als SPD haben wir in unserem Antrag „Barrierefreie Mobilität und barrierefreies Wohnen – Vo- raussetzungen für Teilhabe und Gleichberechtigung“ (Drucksache 17/6295) geeignete Vorschläge zur Abstim- mung gestellt. Sie wurden von dieser Koalition aus CDU/CSU und FDP abgelehnt. Wir fordern, und die UN-Behindertenrechtskonven- tion gibt uns Recht: Die Barrierefreiheit im öffentlichen Personennahverkehr muss sich auf die gesamte Rei- sekette beziehen. Es muss der gesamte Weg – von der Haustür bis zum Ziel – für Mobilitätseingeschränkte zugänglich gemacht werden. Auch Fahrgast- und Tarif- informationen müssen barrierefrei und in leichter Spra- che formuliert und dargestellt werden. Forschungsvorha- ben und Modellprojekte zur barrierefreien Gestaltung von Fahrplanauskünften oder zur Unterstützung mobili- tätseingeschränkter Menschen bei der Nutzung öffentli- cher Verkehrsmittel müssen gefördert werden. Wir wol- len barrierefreien öffentlichen Personennahverkehr als Teil der Daseinsvorsorge in das Regionalisierungsgesetz aufnehmen. Und wir wollen gemeinsam mit der Deut- schen Bahn AG ausreichend finanzielle Mittel zur Verfü- gung stellen, damit alle Bahnhöfe bis 2020 barrierefrei umgebaut werden können – die Abschaffung der diskri- minierenden 1 000er-Regelung inklusive. Wenn diese Vorschläge umgesetzt werden, sehe ich auch Spielraum für eine deutliche Erhöhung der Kosten- beteiligung. Die hier und heute von Ihnen vorgeschlagene Rege- lung beinhaltet einiges Potenzial an sozialer Ungerech- tigkeit und finanzieller Überforderung der Betroffenen – ohne jede Gegenleistung. Deshalb hatten wir vorgeschla- gen, die Anpassung an die jährliche Entwicklung der So- zialhilferegelsätze vorzunehmen. Damit würde man der wirtschaftlichen Situation der Betroffenen eher gerecht, und es wäre eine deutlich realistischere Kopplung an die Leistungsfähigkeit der Betroffenen, wenn man die Dyna- misierung für notwendig erachtet. Aber dass sie wirklich notwendig ist, daran haben wir erhebliche Zweifel, mit uns auch Sozialverbände und Selbsthilfeverbände, die feststellen – so der Sozialver- band Deutschland in seiner Stellungnahme, ich zitiere –, „dass die Dynamisierung rechtssystematisch ein Novum im Recht der Nachteilsausgleiche darstellt. Mit der Dy- namisierung würde der Nachteilsausgleich nicht mehr vorrangig auf den Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile der Betroffenen, sondern zunehmend stärker auf die durchschnittliche Einkommenssituation der Be- völkerung ausgerichtet“. Betroffen hiervon sind vor al- lem Menschen mit Behinderung, die über ein niedriges Einkommen verfügen, so zum Beispiel Erwerbsminde- rungsrentner, die in Werkstätten zusammen mit ihrer Rente und ihrem Werkstatteinkommen auf rund 800 Euro im Monat kommen. Diese Rente bekommen Werkstattbeschäftigte nach 20 Jahren in der Werkstatt oder Menschen mit Schwerbehinderung, die auf dem all- gemeinen Arbeitsmarkt meist im Niedriglohnbereich ar- beiten. Für diese Menschen und ihre Familien kommt es auf jeden Euro an – das müssen wir gut verdienende Ab- geordnete uns immer wieder deutlich machen. Unserem Vorschlag ist man in diesem Hause leider nicht gefolgt. Da wir bei der einen Anpassung mitgehen, aber die – ungedeckelte – Dynamisierung ablehnen, wer- den wir uns bei der Beschlussfassung über den Gesetzentwurf enthalten. Gabriele Molitor (FDP): „Menschen bewegen“, „Einfach mitfahren“ und „Mehr als ein Ziel, bleiben Sie mobil“ – diese drei Slogans werben für Verkehrsleistun- gen der Kölner, Detmolder und Hamburger öffentlichen Nahverkehrsbetriebe. Bei diesen Verkehrsleistungen geht es darum, Bürgerinnen und Bürgern ein hohes Maß an Mobilität zu garantieren. Die Sicherstellung der Be- nutzung von U-Bahn, Bus, Straßenbahn oder S-Bahn gehört zu den wichtigen Aufgaben der grundgesetzlich fixierten Daseinsvorsorge. Kinder, Jugendliche, Frauen und Männer mit Schwer- behinderung haben das Recht, den öffentlichen Perso- nennahverkehr unentgeltlich zu nutzen. Voraussetzung dafür ist das Vorliegen des entsprechenden Merkzei- chens im Schwerbehindertenausweis wie beispielsweise blind, gehörlos oder hilflos. Viele blinde, gehörlose, kör- perbehinderte und hilfebedürftige Menschen nutzen das Angebot und erlangen so mehr Selbständigkeit und Mo- bilität. Die Eigenbeteiligung beträgt zurzeit 60 Euro. Die schwerbehinderten Menschen erhalten dafür eine Wert- marke, die zusammen mit dem Schwerbehindertenaus- weis als Nachweis für die Freifahrtberechtigung gilt. Der vorliegende Gesetzentwurf des Bundesrates zur Änderung des Neunten Sozialgesetzbuchs sieht vor, diese Eigenbeteiligung von 60 auf 72 Euro jährlich zu erhöhen. Eine Anhebung von 1 Euro mehr im Monat halte ich für maßvoll und ausgewogen. Im Gegensatz zu den regulären Ticketpreisen hat sich diese Eigenbeteili- gung seit 1984 nicht verändert. Die seit fast 30 Jahren unveränderte Eigenbeteiligung der freifahrtberechtigten Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 24537 (A) (C) (D)(B) Personen für den Erwerb der für die Fahrt notwendigen Wertmarke zu erhöhen, ist deshalb verantwortbar. Im Zuge der gestiegenen Nutzungsangebote für den Nahverkehr ist diese Anpassung zugleich nachvollzieh- bar. Denn das für Freifahrten zu nutzende Verkehrsnetz hat sich in den letzten Jahren erheblich weiterentwickelt. Seit mehr als einem Jahr können freifahrtberechtigte schwerbehinderte Menschen über einen Radius von 50 Kilometern hinaus kostenlos die Nahverkehrszüge der Deutschen Bahn nutzen. Dafür werden keine zusätz- lichen Tickets benötigt. Es reicht das entsprechende Bei- blatt mit Wertmarke und der Schwerbehindertenausweis. Das Mitführen eines Streckenverzeichnisses, in dem der 50-Kilometer-Radius eingetragen wird, ist damit nicht mehr nötig. So können schwerbehinderte Menschen ohne großen Vorbereitungsaufwand bei der Ticketbe- schaffung Zugfahren. Mit dieser Regelung wurde die Nutzung des Angebots für Menschen mit Behinderung sehr erleichtert. Über 1,4 Millionen Menschen mit Be- hinderung können von dieser Regelung profitieren. Dies wirkt sich auch auf das Arbeitsleben aus, da schwerbe- hinderten Menschen die Fahrt zu ihrem Arbeitsplatz oder ihrer Ausbildungsstätte erleichtert wird. Gerade Menschen mit Einschränkungen gewinnen durch diese persönliche Mobilität mehr Freiräume für ein eigenver- antwortliches Leben. So fordert es auch die UN-Behin- dertenrechtskonvention. Eine Dynamisierung der Eigenbeteiligung, wie es der Gesetzentwurf vorsieht, halte ich für sinnvoll, da Anpas- sungen im Preissystem alle Fahrgäste im öffentlichen Nahverkehr betreffen. Einkommensschwache wie Grundsicherungsempfänger bleiben auch in Zukunft von jeder Eigenbeteiligung befreit. Im Interesse der schwer- behinderten Menschen halte ich eine Aufrundung auf den nächsten vollen Euro-Betrag für angemessen. Mit der Änderung des IX. Sozialgesetzbuches kommt es auch zu einer Reduzierung des Verwaltungsaufwands. Die Aufwendungen für die unentgeltliche Beförderung schwerbehinderter Menschen hat der Bund künftig nicht mehr zu tragen. Mit der Gesetzesänderung werden die Aufwendungen künftig von den Ländern übernommen. Im Gegenzug dazu werden die Abführungen aus dem Wertmarkenverkauf an den Bund reduziert. Nach wie vor trägt der Bund den Aufwand für die Anspruchsbe- rechtigten nach dem Bundesversorgungsgesetz. Diese Vereinfachung der komplizierten Ausgleichsre- gelungen zwischen Bund und Ländern auf der einen und den Verkehrsunternehmen auf der anderen Seite ist sinn- voll. So wird der bürokratische Aufwand so gering wie möglich gehalten. Zusätzliche Belastungen für Men- schen mit Behinderung müssen dabei ausgeschlossen sein. Als FDP-Bundestagsfraktion setzen wir uns für eine effiziente und bürgerfreundliche Verwaltung ein. Daher freue ich mich über weniger Verwaltungsauf- wand, der auf die Gesetzesänderung folgen wird. Ich begrüße den Vorschlag des Bundesrates, den Er- stattungszeitraum von Wertmarken in Zukunft auf ein halbes Jahr festzulegen. Bislang werden nicht einge- setzte Wertmarken erstattet, wenn sie noch mindestens drei Monate gültig sind. Der Vorschlag des Bundesrates, den Erstattungszeitraum in Zukunft auf ein halbes Jahr festzulegen, scheint einen ausgewogenen Ausgleich zwi- schen den Interessen aller Beteiligten darzustellen. Die Gesetzesinitiative des Bundesrates ist dahin gehend zu begrüßen, dass sich die Zahl der Tatbestände, für die Bund oder Länder kostenerstattungspflichtig sind, ver- ringern. Durch den Ersatz individueller Regelungen durch pauschalisierte Prozentsätze werden die Finanzbe- ziehungen zwischen Bund und Ländern vereinfacht. Der dadurch sinkende Verwaltungsaufwand wird Kosten ein- sparen und Bürokratie abbauen. Abschließend möchte ich noch auf die Bedeutung des öffentlichen Nahverkehrs hinweisen. In meiner Arbeit als behindertenpolitische Sprecherin spreche ich viel mit Menschen mit Schwerbehinderung. Die eigenständige Nutzung von Bus und Bahn ohne auf Hilfe und Unter- stützung angewiesen zu sein, hat für den Alltag große Bedeutung. In den letzten Jahren haben sich Bahnhöfe, U-Bahnwaggons, Busse und weitere Fahrzeuge des öf- fentlichen Nahverkehrs in Richtung mehr Barrierefrei- heit entwickelt. Die eingangs erwähnten Slogans wie „Einfach mitfahren“ treffen also vielerorts auf mobili- tätseingeschränkte Menschen zu. Die Internetseiten der Verkehrsbetriebe verweisen immer öfter auf ihre barrie- refreien Angebote. Natürlich ist das Verkehrsnetz noch nicht überall im Land barrierefrei nutzbar. Aber Aus- und Umbauten werden nach und nach zu Verbesserun- gen führen. Mehr Menschen mit Behinderung können das Ver- kehrsangebot nutzen und sind nicht auf den Sonderfahr- dienst angewiesen. Auch das ist für mich gelebte Inklu- sion. Menschen mit Behinderung werden gesehen – in U-Bahn, S-Bahn, Regionalbahn und Bus. Sind mehr rollstuhlfahrerende, blinde, hilfsbedürftige oder gehör- lose Fahrgäste unterwegs, so fördert das auch die Akzep- tanz und baut Berührungsängste ab. Es wird deutlich, dass Behinderung zum gesellschaftlichen Leben gehört. Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Still und leise, also ohne Debatte im Bundestag, sollte dieser Gesetzentwurf beschlossen werden. Das hat die Linke weder bei der ersten Lesung am 27. September noch heute zugelassen. Nun gibt es wenigstens zu Protokoll gegebene Redebei- träge der Fraktionen, und die Öffentlichkeit kann erfah- ren, worum es bei dieser Änderung des Neunten Sozial- gesetzbuches geht. Als eine Form des Nachteilsausgleiches und zur Ver- besserung der Mobilität gibt es das Recht auf – fast – un- entgeltliche Beförderung für einige schwerbehinderte Menschen im öffentlichen Personennahverkehr. Dies ist im SGB IX geregelt. Der vorliegende Gesetzentwurf hat zwei Ziele: Erstens. Das Verwaltungsverfahren zwischen Bund, Ländern und Verkehrsträgern zu vereinfachen. Das müsste auch zu Kosteneinsparungen führen. Dagegen ist nichts einzuwenden, und den dazu vorgeschlagenen Än- derungen stimmt die Linke – wie alle anderen Fraktio- nen – auch zu. 24538 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Oktober 2012 (A) (C) (D)(B) Zweites Ziel ist, die Eigenbeteiligung der berechtig- ten Personen durch Erhöhung des Preises der Wertmarke um 20 Prozent, von 60 auf 72 Euro, zum 1. Januar 2013 und weitere Erhöhungen in den Folgejahren durch „Dy- namisierung“ zu vergrößern. Die Begründungen dafür sind zum Teil absurd. Eine Begründung ist, dass sich die Nutzungsmöglich- keiten erhöht haben, insbesondere durch den seit 2012 von der Deutschen Bahn gewährten erweiterten Bewe- gungsradius, bisher 50 Kilometer, bei Fahrten mit Nah- verkehrszügen. Diese Regelung der Deutschen Bahn – nicht der Bundesregierung – ist die bisher einzige wirkliche Verbesserung seit Inkrafttreten der UN-Behin- dertenrechtskonvention am 26. März 2009 für Menschen mit Behinderungen. Und weil sich etwas verbessert, sol- len es die Betroffenen gleich durch Kürzung der insge- samt viel zu geringen Nachteilsausgleiche bezahlen. Im- merhin: Bund und Länder wollen damit ihre jährlichen Einnahmen auf dem Rücken der Betroffenen von rund 45 Millionen Euro auf 55 Millionen Euro erhöhen. Wird damit die angeblich kostenfreie Ausgabe der neuen Schwerbehindertenausweise – im Scheckkartenformat – gegenfinanziert? Noch absurder ist eine zweite Begründung, nachzule- sen in der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ar- beit und Soziales, Drucksache 17/11184; „Durch die Er- höhung der Eigenbeteiligung ist zugleich sichergestellt, dass weder der Bund noch die Länder aufgrund dieser Änderungen mit Einnahmeverlusten zu rechnen haben.“ Wie können Verwaltungsvereinfachungen und Bürokra- tieabbau eigentlich zu Einnahmeverlusten führen? Für die CDU/CSU, SPD, FDP und die Grünen ist die Erhöhung der Gebühren angemessen und gerechtfertigt. Sicher: 12 Euro mehr oder weniger fallen im Portemon- naie eines Abgeordneten nicht auf, bei den betroffenen schwerbehinderten Menschen jedoch sehr. Es sind die vielen kleinen Beiträge, die hier zu Buche schlagen. Es sind die Mehrkosten infolge der Gesundheitsreformen, es sind die überproportional gestiegenen Ausgaben für Miete und Mietnebenkosten, die hohen Benzinkosten, es ist die Absenkung der Grundsicherungsleistungen durch Einführung der Regelbedarfsstufe 3, und es sind für mehr als 580 000 Menschen mit Behinderungen auch die ab 1. Januar 2013 zu zahlenden Rundfunkgebühren. Deswegen hat die Linke einen Änderungsantrag vor- gelegt, mit dem die Gebühren für die Wertmarke in der bisherigen Höhe beibehalten werden soll. Sollte der Än- derungsantrag keine Mehrheit finden, werden wir den Gesetzentwurf in Gänze ablehnen müssen. Bei allem Verständnis für leere öffentliche Kassen – hier soll das Geld an falscher Stelle kassiert werden. Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Schwerbehinderte Menschen können für 60 Euro im Jahr eine Wertmarke erwerben, die sie zur Beförderung im öffentlichen Personenverkehr berechtigt. Wir haben hier erst vor zwei Wochen über eine Erhöhung der Kosten für diese Wertmarke diskutiert. Im Ausschuss haben fast alle Fraktionen Änderungsanträge eingebracht, sodass wir heute über eine nur leicht veränderte Vorlage abstim- men. Ich möchte meinen Ausführungen insofern nicht viel mehr hinzufügen. Die Höhe der Eigenbeteiligung wird umgerechnet monatlich um 1 Euro erhöht. Die Begrenzung des Gel- tungsbereichs der Wertmarke wurde kürzlich aufgeho- ben. Wer sie erwirbt, kann nun auch weitere Distanzen im öffentlichen Verkehr zurücklegen. Zudem wurden in den letzten Jahren, bei allen noch bestehenden Mängeln, zahlreiche Barrieren im öffentlichen Personenverkehr abgebaut. Ich habe in meiner letzten Rede zu diesem Thema be- reits etwas zum gesamten System der Nachteilsausglei- che für Menschen mit Behinderungen gesagt; das möchte ich hier nicht wiederholen. Ich möchte aber aus- drücklich noch einmal darauf hinweisen, dass an diesen Nachteilsausgleichen von unterschiedlichen Seiten be- ständig „genagt“ wird: Das ist zum Beispiel der Fall, wenn Sozialhilfeträger in manchen Ländern flächende- ckend Anträge auf Kindergeldabzweigung stellen, oder bei den Pflegekassen, die vor einem Jahr das anteilige Pflegegeld neu berechnet und faktisch gekürzt haben. Ich halte das Verhältnis von Kosten und Leistungen bei diesem spezifischen Nachteilsausgleich auch nach der Erhöhung für gerechtfertigt. Grundsicherungsbezie- hende, blinde Menschen und Personen mit dem Merk- zeichen „h“ sind von der Eigenbeteiligung befreit. Sicher ist eine Erhöhung von Kosten nicht erfreulich, im Ver- hältnis ist sie aber vertretbar. Die Politik steht allerdings in der Verantwortung, Nachteilsausgleiche für Menschen mit Behinderungen nicht nur anzupassen, wenn damit höhere Einnahmen oder Einsparungen einhergehen. Im Fall der Kindergeldabzweigung hat meine Fraktion be- reits einen Antrag eingebracht. Wir werden uns weiter- hin dafür stark machen, behinderungsbedingte Nach- teilsausgleiche so zu gestalten, dass sie behinderten Menschen ohne Anrechnung auf Einkommen und Ver- mögen zugutekommen. 201. Sitzung Inhaltsverzeichnis ZP 2 Wahl Vizepräsident Bundesrechnungshof TOP 3 Geringfügige Beschäftigung ZP 3 Praxisgebühr TOP 48, ZP 4 Überweisungen im vereinfachten Verfahren TOP 49 Abschließende Beratungen ohne Aussprache ZP 5 Aktuelle Stunde zu Äußerungen des Vizekanzlers Dr. Rösler zum Betreuungsgeld TOP 7 Beitragssätze in der Rentenversicherung TOP 6 Psychische Belastungen in der Arbeitswelt TOP 9 Steuerabkommen mit der Schweiz TOP 8, ZP 6 Wirtschaft im Umbruch TOP 11 Stärkung der deutschen Finanzaufsicht TOP 10 Zukunft des Mautkonzeptes in Deutschland TOP 15 Jahressteuergesetz 2013 TOP 12 Arbeitsmarktchancen bei Migrationshintergrund TOP 13 Unternehmensbesteuerung TOP 14 Hochschulzugang TOP 20 Gerichtsstand bei Auslandsverwendung TOP 16, ZP 7 Bildungspolitik TOP 17 Bundeswehreinsatz in Darfur (UNAMID) TOP 18 Bundeswehreinsatz in Südsudan (UNMISS) TOP 19 Zusammenarbeit mit Pakistan TOP 26 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch TOP 21 Verfahrenssicherheit beim Anti-D-Hilfegesetz TOP 28 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch TOP 23 Situation contergangeschädigter Menschen TOP 30 Altersversorgung der Bezirksschornsteinfegermeister TOP 25 Wertstoffsammlung TOP 32 Gewerbeordnung TOP 27 Situation Minderjähriger im Aufenthaltsrecht TOP 33 Freizügigkeitsgesetz/EU TOP 29 Soziale Ziele im Nationalen Reformprogramm 2012 TOP 35 Straßentransport von Euro-Bargeld im Euroraum TOP 31 Mineralölhaltige Druckfarben bei Verpackungen TOP 37 Entbürokratisierung im Unterhaltsvorschussrecht TOP 39 Fakultativprotokoll Rechte des Kindes TOP 34 Transparenz in öffentlich finanzierter Wissenschaft TOP 41 Steuerabkommen mit Liechtenstein TOP 36 Myanmar TOP 38 Arbeitsplätze und Sicherheit bei Port Package III TOP 40 Israelisch-palästinensischer Konflikt TOP 42 Rechtssicherheit für WLAN-Betreiber Anlagen
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720100000


Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie zu unserer Plenarsitzung.

Bevor wir in die heutige Tagesordnung eintreten,
möchte ich zunächst dem Kollegen Reinhold Sendker
zu seinem 60. Geburtstag gratulieren, den er gestern ge-
feiert hat. Alle guten Wünsche im Namen des gesamten
Hauses!


(Beifall)


Nun müssen wir noch drei Wahlen durchführen:

Die CDU/CSU-Fraktion schlägt vor, den Kollegen
Dr. Michael Meister für eine weitere Amtszeit als Mit-
glied des Verwaltungsrates der Kreditanstalt für
Wiederaufbau zu berufen. Die SPD-Fraktion benennt
für die neue Amtsperiode erneut den Kollegen Hubertus
Heil als Mitglied des Verwaltungsrates. Sind Sie mit bei-
den Vorschlägen einverstanden? – Das ist offensichtlich
der Fall. Dann sind die Kollegen Dr. Michael Meister
und Hubertus Heil für eine weitere Amtszeit als Mitglie-
der des Verwaltungsrates gewählt.

Für die neue Amtszeit des Beirates beim Bundes-
beauftragten für die Unterlagen des Staatssicher-
heitsdienstes der ehemaligen DDR gemäß § 39 Abs. 1
des Stasi-Unterlagen-Gesetzes schlägt die FDP-Fraktion
vor, den Kollegen Patrick Kurth als Mitglied zu wäh-
len. Darf ich auch zu diesem Vorschlag Ihr Einverständ-
nis feststellen? – Das ist offensichtlich der Fall. Damit
ist der Kollege Kurth für die neue Amtszeit als Mitglied
des Beirates gewählt.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Schließlich schlägt die SPD-Fraktion vor, als Nach-
folgerin der ausgeschiedenen Kollegin Nicolette Kressl
die Kollegin Petra Hinz als stellvertretendes Mitglied in
den Beirat zur Auswahl von Themen für die Sonder-
postwertzeichen ohne Zuschlag beim Bundesfinanz-
ministerium zu wählen.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)


– Ich nehme mit besonderer Erleichterung zur Kenntnis,
dass Sie offenkundig auch die einschränkende Bemer-
kung, dass damit kein Zuschlag verbunden ist, demütig
akzeptieren. – Sind Sie mit diesem Vorschlag einverstan-
den? – Das ist offensichtlich der Fall. Damit ist die Kol-
legin Petra Hinz „ohne Zuschlag“ für die neue Amtszeit
als Mitglied des Programmbeirates gewählt.

Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge-
führten Punkte zu erweitern:

ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und FDP:

Soziale Situation der Kinder in Deutschland
verbessert in Zeiten christlich-liberaler Regie-
rungspolitik


(siehe 200. Sitzung)


ZP 2 Wahl des Vizepräsidenten des Bundesrech-
nungshofes

ZP 3 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl
Lauterbach, Elke Ferner, Bärbel Bas, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Praxisgebühr sofort abschaffen

– Drucksache 17/11192 –

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Weinberg, Dr. Martina Bunge, Diana Golze, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Praxisgebühr jetzt abschaffen

– Drucksache 17/11141 –

c) Beratung des Antrags der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Praxisgebühr und Zusatzbeiträge jetzt ab-
schaffen

– Drucksache 17/11179 –





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)


ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren

Ergänzung zu TOP 48

Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerold
Reichenbach, Michael Hartmann (Wackernheim),
Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD

Europäische Harmonisierung im Datenschutz
auf hohem Niveau sicherstellen

hier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta-
ges nach Artikel 23 Absatz 3 des Grundgeset-
zes i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zusam-
menarbeit von Bundesregierung und
Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der
Europäischen Union

– Drucksache 17/11144 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Rechtsausschuss 
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales 
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 
Ausschuss für Kultur und Medien

ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD:

Haltung der Bundesregierung zu Äußerungen
des Vizekanzlers Dr. Rösler, das Betreuungs-
geld koste viel Geld, sei nicht gegenfinanziert
und eine Bildungskomponente fehle völlig

ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge-
ordneten Garrelt Duin, Hubertus Heil (Peine),
Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD

Chancen nutzen – Vorsorgende Wirtschafts-
politik jetzt einleiten

– Drucksachen 17/8346, 17/8642 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Georg Nüßlein

ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Rosemarie Hein, Dr. Ilja Seifert, Diana Golze,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Gemeinsam lernen – Inklusion in der Bildung
endlich umsetzen

– Drucksache 17/11143 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)
Ausschuss für Arbeit und Soziales 
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 
Haushaltsausschuss

Außerdem werden die Tagesordnungspunkte 4, 5, 22
und 24 abgesetzt.

Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden.

Darüber hinaus kommt es zu den in der Zusatzpunkt-
liste dargestellten weiteren Änderungen des Ablaufs un-
serer Tagesordnung.

Schließlich darf ich noch auf mehrere nachträgliche
Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunkt-
liste aufmerksam machen:

Der am 27. September 2012 (195. Sitzung) überwie-
sene nachfolgende Gesetzentwurf und die mit diesem
verbundene Unterrichtung sollen zusätzlich dem Aus-

(15. Ausschuss)


Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Energiesteuer- und des Strom-
steuergesetzes

– Drucksache 17/10744, 17/10797 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung 
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

Der am 18. Oktober 2012 (198. Sitzung) überwiesene
nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Aus-
schuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher-
schutz (10. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen
werden:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes und
anderer umweltrechtlicher Vorschriften

– Drucksache 17/10957 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
Rechtsausschuss 
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

Gibt es Widerspruch hierzu im Ganzen oder zu einer
einzelnen der vorgetragenen Veränderungen? – Das ist
nicht der Fall. Dann ist das hiermit so beschlossen.

Wir kommen nun zu unserem Zusatzpunkt 2:

ZP 2 Wahl des Vizepräsidenten des Bundesrech-
nungshofes

Nach § 5 Abs. 1 des Gesetzes über den Bundes-
rechungshof wählen der Deutsche Bundestag und der
Bundesrat jeweils ohne Aussprache auf Vorschlag der
Bundesregierung den Vizepräsidenten des Bundesrech-
nungshofes.

Zur Wahl sind die Stimmen der Mehrheit der Mitglie-
der des Bundestages, das heißt mindestens 311 Ja-Stim-
men erforderlich.





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)


Die Bundesregierung schlägt mit Schreiben vom
24. Oktober 2012 vor, den Kollegen Christian Ahrendt
zum Vizepräsidenten des Bundesrechnungshofes zu
wählen.

Ich gebe Ihnen einige Hinweise zum Wahlverfahren.
Für die Wahl benötigen Sie Ihren blauen Wahlausweis,
den Sie bitte, soweit Sie das noch nicht getan haben, Ih-
rem Stimmkartenfach entnehmen. Weiterhin benötigen
Sie den blauen Stimmzettel mit Wahlumschlag. Diese
Unterlagen erhalten Sie von den Schriftführerinnen und
Schriftführern an den Ausgabetischen vor den Wahlkabi-
nen. Dort zeigen Sie bitte Ihren Wahlausweis vor.

Die Wahl ist geheim. Das heißt, Sie dürfen Ihren
Stimmzettel nur in einer der Wahlkabinen ankreuzen und
dort in den Wahlumschlag legen. Andernfalls wäre die
Stimmabgabe ungültig. Die Wahl kann gegebenenfalls
vorschriftsmäßig wiederholt werden. Die Schriftführe-
rinnen und Schriftführer bitte ich, darauf zu achten. Gül-
tig sind nur Stimmzettel mit einem Kreuz bei „Ja“,
„Nein“ oder „Enthalte mich“. Ungültig sind demzufolge
Stimmzettel, die entweder kein Kreuz oder mehr als ein
Kreuz, andere Namen oder Zusätze enthalten.

Übergeben Sie bitte, bevor Sie den Wahlumschlag in
eine der Wahlurnen werfen, Ihren Wahlausweis einem
der Schriftführer an der Wahlurne. Die Abgabe des
Wahlausweises dient als Nachweis der Teilnahme an der
Wahl. Kontrollieren Sie daher, ob der Wahlausweis Ihren
Namen trägt.

Ich darf nun die Schriftführerinnen und Schriftführer
bitten, die vorgesehenen Plätze einzunehmen und mir zu
signalisieren, ob das jeweils in der erforderlichen Anzahl
der Fall ist. – Links fehlt noch ein Schriftführer.

Dann eröffne ich hiermit die Wahl.

Haben alle Mitglieder des Hauses ihre Stimmzettel
abgegeben?


(Zuruf: Nein!)


– Okay.

Zweiter Versuch: Haben nun alle anwesenden Mit-
glieder des Bundestages ihre Stimmzettel abgegeben? –
Das scheint der Fall zu sein.

Dann schließe ich hiermit den Wahlgang und bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-
lung zu beginnen. Das Ergebnis der Wahl geben wir Ih-
nen nach der Auszählung, während des nächsten Tages-
ordnungspunktes, bekannt.1)

Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b
auf:

a) – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zu Änderungen im Be-
reich der geringfügigen Beschäftigung

– Drucksache 17/10773 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss)


– Drucksache 17/11174 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Max Straubinger

– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)

gemäß § 96 der Geschäftsordnung

– Drucksache 17/11178 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land)
Bettina Hagedorn
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Gesine Lötzsch
Priska Hinz (Herborn)


b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales

(11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-

ten Sabine Zimmermann, Jutta Krellmann, Diana
Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE

Minijobs mit sozialversicherungspflichtiger
Arbeit gleichstellen

– Drucksachen 17/7386, 17/11174 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Max Straubinger

Über den Gesetzentwurf werden wir später nament-
lich abstimmen.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 75 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nächst dem Kollegen Karl Schiewerling für die CDU/
CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Karl Schiewerling (CDU):
Rede ID: ID1720100100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Union und FDP legen heute
einen Gesetzentwurf zu Änderungen im Bereich der ge-
ringfügigen Beschäftigung vor.


(Elke Ferner [SPD]: Das hätten Sie besser mal bleiben lassen!)


Grund ist, dass wir seit 2003 im Bereich der geringfü-
gigen Beschäftigung keine Anhebung der Geringfügig-
keitsgrenze hatten und dass es um einen Inflationsaus-
gleich geht, was ein Stück Gerechtigkeit zu den in dieser
Zeit tatsächlich stattgefundenen Reallohnsteigerungen
herstellt.

Meine Damen und Herren, wir wissen, dass Minijobs
in der Diskussion sind. Minijobs sind nichts Neues. Vor
100 Jahren, 1911, wurde in der Reichsversicherungsord-
nung festgelegt, dass vorübergehende Dienstleistungen
versicherungsfrei blieben. 1977 wurde zum ersten Mal
der Begriff „geringfügige Beschäftigung“ eingeführt. 1) Ergebnis Seite 24238 A





Karl Schiewerling


(A) (C)



(D)(B)


1999 hatten wir die Angleichung zwischen Ost und
West. Im Rahmen dieser Angleichung war geklärt wor-
den, dass die Menschen unter gleichen Bedingungen ar-
beiten sollen.

Die Entwicklung der Minijobs bekam allerdings ei-
nen Schub, und zwar 2003, als im Rahmen der Hartz-II-
Gesetze eine neue Regelung eingeführt wurde, nämlich
dass man zu seiner ordentlichen sozialversicherungs-
pflichtigen Beschäftigung noch einen Minijob dazu ha-
ben konnte. Seitdem ist die Zahl der Minijobs explo-
sionsartig auf 2,5 Millionen gestiegen.

Minijobs sind geschaffen worden, um Menschen aus
der Schwarzarbeit herauszuholen.


(Elke Ferner [SPD]: Das hat aber nicht funktioniert!)


Sie sind geschaffen worden, um das einzubeziehen, was
bisher unter steuerlichen und sozialrechtlichen Gesichts-
punkten nicht berücksichtigt wurde, und um den Men-
schen die Möglichkeit zu geben, sich in der Sozialversi-
cherung abzusichern.

Unser Gesetz, dessen Entwurf Ihnen vorliegt, sieht
eine Erhöhung der Entgeltgrenze bei der geringfügigen
Beschäftigung von 400 auf 450 Euro und beim Gleitzo-
nenentgelt von 800 auf 850 Euro vor. Gleichzeitig legen
wir mit diesem Gesetz fest, dass Menschen, die eine ge-
ringfügige Beschäftigung ausüben, von Anfang an ren-
tenversicherungspflichtig sind; das ist neu. Bisher sind
sie es nicht. Bisher müssen sie ausdrücklich erklären,
wenn sie es sein wollen. Mit diesem Gesetz ändern wir
die geltende Regelung. Die Betreffenden müssen aus-
drücklich erklären, dass sie nicht rentenversicherungs-
pflichtig sein wollen. Ich halte das für einen wichtigen
Schritt im Bereich der Sozialpolitik. Ich glaube, dass wir
vielen Menschen in diesem Land damit einen Gefallen
tun und so das Bewusstsein dafür, dass man mit einem
Minijob den Schutz der Rentenversicherung bekommen
kann, schärfen. Ich hoffe sehr, dass es viele Menschen
gibt, die die Chancen, die damit verbunden sind, tatsäch-
lich erkennen und nutzen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


In Zukunft wird es so sein, dass nach einer bestimm-
ten Karenzzeit der Arbeitgeber die Verantwortung dafür
trägt, dass die Arbeitnehmer, die er im Rahmen eines ge-
ringfügigen Beschäftigungsverhältnisses einstellt, über
die Vorteile der Rentenversicherung informiert werden. Er
muss dokumentieren, dass er die Unterlagen der Knapp-
schaft ausgehändigt hat und seiner Informationspflicht
nachgekommen ist. Die Vorteile der Rentenversicherung
sind eindeutig. Mit der Rentenversicherungspflicht er-
wirbt man schon in jungen Jahren Rentenanwartschaf-
ten. Man erwirbt über diesen Weg die Möglichkeit,
Schutz vor Invalidität zu bekommen. Man hat zudem ein
Recht auf Rehabilitation. Die sozialversicherungspflich-
tige Beschäftigung eröffnet den Arbeitnehmern die
Möglichkeit, am Riester-Sparen teilzunehmen. Ich halte
das für einen wichtigen Fortschritt. In der Anhörung ist
dieser Schritt einhellig von allen begrüßt worden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Anette Kramme [SPD]: Waren Sie bei einem anderen Termin, Herr Schiewerling?)


Wir haben heute 7,3 Millionen geringfügige Beschäf-
tigungsverhältnisse. Davon üben 2,5 Millionen Beschäf-
tigte die geringfügige Beschäftigung als Nebenjob aus.
Das heißt, sie haben eine ordentliche sozialversiche-
rungspflichtige Beschäftigung und verdienen sich da-
rüber hinaus im Rahmen einer geringfügigen Beschäfti-
gung Geld hinzu. Ich weiß, dass schnell gesagt wird, das
sei Ausdruck purer Armut und Verelendung. Könnte es
sein, dass die Menschen die Freiheit, die sich hier ergibt,
gerne nutzen wollen? Könnte es sein, dass sie die Mög-
lichkeit nutzen wollen, sich über diesen Weg den ein
oder anderen Wunsch zu erfüllen? Aber es kann auch
sein – das will ich nicht in Abrede stellen –, dass die
Menschen über diesen Weg die Möglichkeit haben, ihre
finanziellen Grundlagen bzw. ihr Familieneinkommen
zu verbessern.

Insgesamt ist festzustellen, dass von den 7,3 Millio-
nen geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen etwa
20 Prozent Rentnerinnen und Rentner und etwa 20 Pro-
zent Jugendliche, Schüler und Studenten sind. Das
macht deutlich, dass es gerade in diesem Bereich trotz
der große Spannbreite viele Menschen gibt, die ein Inte-
resse haben, dass Minijobs als gestaltende Möglichkeit
erhalten bleiben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Natürlich will ich nicht in Abrede stellen, dass Minijobs
Gefahren mit sich bringen, dass es Branchen gibt, die
glauben, allein über den Weg der geringfügigen Beschäf-
tigungsverhältnisse ihren Betrieb aufrechtzuerhalten. Ich
halte das auch unter betrieblichen Gesichtspunkten für
einen völligen Irrglauben. Das wird nicht gut gehen. Der
Handelsverband Deutschland hat uns mitgeteilt, dass nur
2 000 der in den letzten Jahren entstandenen 26 000 Be-
schäftigungsverhältnisse Minijobs sind; dem stehen
24 000 ordentliche sozialversicherungspflichtige Be-
schäftigungsverhältnisse gegenüber.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht in Ihrer schriftlichen Stellungnahme aber anders!)


Das zeigt: Die Branche beschreitet in diesem Bereich
neue Wege. Dies begrüßen wir ausdrücklich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich hoffe sehr, dass die Menschen die Möglichkeiten
nutzen, die wir ihnen eröffnen, und dass wir sie auf ih-
rem weiteren Weg in eine sozialversicherungspflichtige
Beschäftigung ein gutes Stück unterstützen. Immerhin
hat ein Drittel aller Minijobber den Weg in ein sozialver-
sicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis gefun-
den.


(Elke Ferner [SPD]: Aber zwei Drittel nicht!)


– Frau Kollegin Ferner, wenn zwei Drittel den Weg dort-
hin nicht gefunden haben, dann heißt das nicht, dass sie
ihn nicht gehen durften. Viele von ihnen wollten ihn
auch nicht gehen,





Karl Schiewerling


(A) (C)



(D)(B)



(Elke Ferner [SPD]: Zehn Jahre und mehr sind viele in einem Minijob!)


weil sie sich bewusst für diesen Schritt entschieden ha-
ben.

Ich hoffe sehr, dass der jetzt eingeschlagene Weg zu
einer guten Entwicklung führen wird.


(Elke Ferner [SPD]: Ich hoffe, dass diese Regierung bald am Ende ist!)


Wir bitten Sie um Ihre Unterstützung unseres Gesetzent-
wurfs.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720100200

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf der Ehrentri-

büne hat die Präsidentin des Parlaments der Republik
Island, Frau Asta Johannesdottir, mit ihrer Delega-
tion Platz genommen.


(Beifall)


Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich
begrüße Sie im Namen des ganzen Hauses. Für Ihren
Aufenthalt in Deutschland, Ihre Besuche sowie für die
weiteren Gespräche wünschen wir Ihnen alles Gute. Wir
freuen uns über die immer enger werdenden Verbindun-
gen zwischen unseren beiden Parlamenten. Vielen Dank
für Ihr Interesse.


(Beifall)


Nächste Rednerin ist die Kollegin Anette Kramme für
die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Anette Kramme (SPD):
Rede ID: ID1720100300

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wir haben folgende Tatsache zu beobachten:
In dieser Legislaturperiode wurde uns bislang von der
Arbeitsministerin lediglich eine Handvoll von Gesetzen
vorgelegt. Jetzt aber geht es wahrlich Schlag auf Schlag,
ein Gesetzentwurf jagt den anderen – zum Rentenbei-
trag, zur Unfallversicherung, zu den Minijobs.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Hier wird regiert! Die Fraktion arbeitet!)


Sogar bei den Regelungen für die Bezirksschornsteinfe-
ger wird an den Stellschrauben gedreht. Das artet in ge-
radezu hektischen Aktionismus aus. Aber Sie wissen:
Mit hektischem Aktionismus geht immer schlechte Qua-
lität einher.


(Beifall bei der SPD – Max Straubinger [CDU/ CSU]: Also, Frau Kramme!)


Man glaubt nicht, dass diese Arbeitsministerin sage und
schreibe drei Jahre Zeit hatte, um über die erwähnten
Gesetzentwürfe nachzudenken.

Heute beraten wir abschließend über das Thema Mini-
jobs. Am Freitag hat Ministerin Schröder auf einer Kon-
ferenz des Bundesministeriums für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend 45 Minuten über die Minijobs gespro-

chen, den eigenen Gesetzentwurf jedoch noch nicht ein-
mal erwähnt.

Die Unionsabgeordnete Winkelmeier-Becker hat ge-
sagt: Dieser Gesetzentwurf ist nicht das Konzept der
Unionsfraktion. – Herr Schiewerling, bei Ihnen hat sich
das etwas anders angehört. Auf der Webseite des Fami-
lienministeriums – Sie gestatten mir, dass ich zitiere –
heißt es:

Im Idealfall sind Minijobs ein Übergang in die so-
zialversicherungspflichtige Beschäftigung. Häufig
werden sie aber diesem Anspruch nicht gerecht.

… Die Attraktivität einer Beschäftigung im Mini-
job … wandelt sich mit der Zeit oftmals in Ernüch-
terung über Entwicklungschancen, Einkommens-
perspektiven und Alterssicherungsansprüche um.

Im ersten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung
aus dem Jahr 2011 heißt es, Lebensverläufe in Minijobs
seien desaströs.


(Elke Ferner [SPD]: Ja!)


Meine Damen und Herren in der Union, ist das nicht
ziemlich eindeutig? Für Rentner und Studenten mögen
Minijobs eine gewisse Attraktivität haben. Dabei wäre
es manchmal sinnvoller, wenn auch Studenten einer so-
zialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgingen.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Sollen sie studieren, oder sollen sie arbeiten?)


Aber für die meisten anderen Menschen werden Minijobs
zur biografischen Sackgasse. Minijobber erhalten weit-
aus weniger Stundenlohn. Im Jahr 2006 waren es im
Durchschnitt 9 Euro; Vollzeitbeschäftigte hatten 18 Euro.
Es gibt Diskriminierung bei bezahltem Urlaub oder beim
Mutterschutz. Im Jahr 2004 erhielt nicht einmal jeder
Dreizehnte Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall; von
den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten waren es
weitaus mehr. Es gibt Rentenarmut bei Frauen vor allen
Dingen aus dem Westen. Ich habe mir gestern die Zahlen
aus der AVID-Studie herausgesucht. 50 Prozent Frauen
im Westen haben im Durchschnitt sieben Jahre einen Mi-
nijob in ihrer Erwerbsbiografie. Das bedeutet massive
Einbußen bei der Altersrente.


(Elke Ferner [SPD]: So ist das!)


10 Prozent der Frauen üben 13, 14, 15 oder sogar
16 Jahre einen Minijob aus.


(Elke Ferner [SPD]: Eine tolle Perspektive!)


Viele Frauen haben oft keine Wahl – gerade nach der
Babypause –, einen anderen Job als einen Minijob zu be-
kommen. Im Handel sind über viele Jahre sozialversi-
cherungspflichtige Jobs vernichtet worden. Genauso
sieht es in der Gastronomie aus. Wenn Sie sagen, Herr
Schiewerling, im Bereich des Handels habe sich etwas
verändert, dann kann ich nicht nachvollziehen, dass die
Zahl der Minijobs dennoch weiter ansteigt.


(Beifall bei der SPD)


All diese Probleme kommen aber in Ihrem Gesetzent-
wurf nicht vor. Sie machen zweierlei: Sie nehmen eine





Anette Kramme


(A) (C)



(D)(B)


Ausweitung der Minijobgrenzen vor und sorgen damit
für eine Verfestigung dieser katastrophalen Beschäfti-
gungsform. Sie sagen, es solle eine Versicherungspflicht
mit der Möglichkeit des Opt-out geben, schreiben aber
gleichzeitig, dass diese Möglichkeit so gut wie gar nicht
in Anspruch genommen werden wird.


(Elke Ferner [SPD]: Ja!)


Die Erhöhung der Schwellenwerte ermöglicht es noch
leichter, normale Jobs in Minijobs zu zerlegen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist Quatsch!)


Es geht angeblich um eine Anpassung an die allgemeine
Einkommensentwicklung. Aber der Durchschnittsver-
dienst liegt nur bei 220 Euro. Es ist eine Illusion, davon
auszugehen, dass Arbeitgeber die Stundenlöhne erhöhen
werden, und auch Minijobber wollen tatsächlich höhere
Stundenzahlen haben; wir haben dies erst in der Sach-
verständigenanhörung vernommen. Tatsächlich wollen
sie circa 20 Stunden und nicht lediglich 12 Stunden in
der Woche arbeiten.

Wir brauchen etwas anderes. Wir brauchen eine
Rückführung der Minijobs.


(Beifall bei der SPD)


Es geht im Prinzip um Folgendes: Wir brauchen eine
Änderung des Teilzeit- und Befristungsgesetzes, sodass
Teilzeitbeschäftigung auch befristet ausgeübt werden
kann und Frauen so wieder einer regulären Vollzeitbe-
schäftigung nachgehen können. Es gibt im Teilzeit- und
Befristungsgesetz einen Rechtsanspruch auf Aufsto-
ckung der Arbeitszeit. Leider kennt niemand diesen An-
spruch; vielleicht müssen wir ihn noch genauer und bes-
ser formulieren, damit sich daraus mehr Chancen
ergeben.

Wir sollten überlegen, das Nachweisgesetz zu ändern,
weil gerade Minijobber häufig keine Arbeitsverträge be-
kommen. Wir sollten überlegen, dies – genauso wie im
Berufsausbildungsgesetz – strafbewehrt zu gestalten,
also Verstöße mit einer Geldbuße zu belegen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wir sollten, damit die Hürde bei 400 auf 401 Euro leich-
ter überwunden wird, über die Einführung einer Gleit-
zeitzonenregelung nachdenken, wie es beispielsweise
das Institut Arbeit und Qualifikation vorsieht.

Meine Damen und Herren, zuallerletzt sei noch etwas
zur Rentenversicherung gesagt: Ihre angebliche Absi-
cherung verkommt zur Marginalie. Ihr Tiger ist nicht nur
zahnlos, er ist ein pazifistischer Vegetarier.

In diesem Sinne herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720100400

Das Wort erhält nun der Kollege Johannes Vogel für

die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1720100500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Entgegen dem, was hier jetzt wieder von der Opposition
behauptet wurde, sind Minijobs ein Teil des erfolgrei-
chen deutschen Arbeitsmarkts, der von vielen Menschen
gebraucht und gewollt wird. Das werden Sie nicht weg-
diskutieren können.


(Beifall bei der FDP)


Das ist so, weil Minijobs Menschen in ganz unterschied-
lichen Lebenssituationen die Möglichkeit geben, sich
unkompliziert etwas dazuzuverdienen. Da sind in der Tat
die Studenten. Ich kenne das aus eigener Erfahrung:
Auch ich habe als Schüler und Student schon im Minijob
dazuverdient. So ist es auch heute. So sind heute Mini-
jobber zum Beispiel in großer Zahl Menschen wie eine
Studentin, die nebenher kellnert, um sich das Studium zu
finanzieren.

Minijobs sind aber noch mehr. Sie eröffnen zum Bei-
spiel einem Feuerwehrmann die Möglichkeit, am Wo-
chenende im Cateringservice noch tätig zu sein und sich
etwas dazuzuverdienen. Sie stellen zum Beispiel auch
eine Möglichkeit für eine Seniorin dar, die im Haushalt
ihrer Nachbarin noch aushelfen will, dies ebenso un-
kompliziert zu tun –


(Zuruf der Abg. Elke Ferner [SPD])


– weil sie es will –, um nur drei Beispiele aus meinem
persönlichen Bekanntenkreis zu nennen. Weil Minijobs
den Menschen diese Möglichkeiten bieten und gewollt
und gebraucht werden, ist es auch richtig und nur fair,
nach zehn Jahren einen Inflationsausgleich zu ermög-
lichen und die Grenze auf 450 Euro anzuheben.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es ist auch richtig, dass wir das Versicherungsprinzip
in der Rentenversicherung umkehren und einen Wechsel
von Opt-in zu Opt-out vornehmen. So wird dafür ge-
sorgt, dass der, der sich keine Gedanken macht, automa-
tisch in der Rentenversicherung abgesichert ist und zum
Beispiel eine Erwerbsminderungsrente und die Riester-
Förderung in Anspruch nehmen kann. Gleichzeitig wird
aber niemand, der das in seiner Lebenssituation nicht
will, gezwungen, mehr abzuführen als heute. Das ist eine
maßvolle Regelung, und auch das hat uns die Anhörung
am vergangenen Montag bestätigt, wie Herr Kollege
Schiewerling schon gesagt hat.

Schauen wir uns doch einmal an, was den Minijobs
alles vorgeworfen wird – Sie haben das ja eben auch
wieder ausgeführt –: Es kam eben bei Ihnen, liebe Frau
Kollegin Kramme, zum Beispiel die Behauptung, Mini-
jobs hätten in einigen Branchen dazu geführt, dass
sozialversicherungspflichtige Beschäftigung durch Mi-
nijobs ersetzt wurde. Machen wir einmal einen Realitäts-
test. Interessanterweise beschäftigen drei Viertel der Ar-
beitgeber, die Minijobber haben, überhaupt nur drei
Minijobber. Um eine sozialversicherungspflichtige
Stelle zu ersetzen, brauchten sie schon vier. Das kann
also nicht aufgehen, liebe Kolleginnen und Kollegen.





Johannes Vogel (Lüdenscheid)



(A) (C)



(D)(B)



(Elke Ferner [SPD]: Das ist eine Milchbubenrechnung, Herr Vogel!)


Folgerichtig ist in den vergangenen Jahren die sozialver-
sicherungspflichtige Beschäftigung stärker gestiegen als
die Zahl der Minijobs. Dies führt dazu, dass der Anteil
der Minijobs am Arbeitsmarkt eben nicht zunimmt. Weil
Sie das nicht glauben, habe ich Ihnen einmal die Grafik
der Minijobzentrale mitgebracht. Hier ist die Kurve des
Anteils der Minijobs an der sozialversicherungspflichti-
gen Beschäftigung zu sehen. Gäbe es eine Ersetzung,
müsste die Kurve hochgehen; sie ist aber flach.


(Elke Ferner [SPD]: Ihre Rede ist flach!)


Das zeigt: Ersetzung sieht anders aus, sie findet einfach
nicht statt.


(Beifall bei der FDP – Elke Ferner [SPD]: Nein, nein, nein!)


Der zweite Vorwurf, der immer wieder erhoben wird,
lautet, Minijobs würden niedrig entlohnt. Da zitiere ich,
weil Sie es uns nicht glauben, einmal das Statistische
Bundesamt. Ihm werden Sie ja wohl glauben und es
nicht in Abrede stellen.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 8,4 Prozent!)


Es sagt uns:

Für geringfügig Beschäftigte ist zu beachten, dass sie
im Unterschied zu anderen Beschäftigungsformen
kaum Abzüge für Lohnsteuer und Sozialversiche-
rung haben. Viele geringfügig Beschäftigte stehen
deshalb netto besser da, als der am Bruttoverdienst
gemessene … Anteil an Niedriglohnbeziehern ver-
muten lässt.


(Elke Ferner [SPD]: Das ist eine Milchbubenrechnung!)


Der mittlere Nettoverdienst von Minijobbern liegt bei
70 Prozent des Durchschnittsverdienstes. Die Kenner im
Ausschuss wissen, dass dies oberhalb der Niedriglohn-
schwelle liegt. Im Klartext, auf Deutsch: Minijobs haben
mit Niedriglohn im Regelfall eben nichts zu tun,


(Lachen bei der SPD und der LINKEN)


und das, obwohl Minijobs ja nun in aller Regel nicht in
der Neurochirurgie angeboten werden. Das sollten Sie
zur Kenntnis nehmen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das sagt nicht die Koalition, sondern das sagt uns das
Statistische Bundesamt.

Das dritte Argument, das immer genannt wird, lautet,
Minijobs stellten eine Sackgasse für Frauen dar.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Damit muss man sich ernsthaft beschäftigen, weil wir
alle wollen, dass der Anteil der Frauen an der Erwerbstä-
tigkeit gerade in Zeiten des Fachkräftemangels hoch-
geht.


(Elke Ferner [SPD]: Sie wollen das offenbar nicht!)


Nur, stellen die Minijobs hier das Problem dar? Da muss
man sich erst einmal vergegenwärtigen, dass die über-
große Mehrheit der Minijobber nicht mehr als einen
Minijob ausüben will; das zeigen uns alle Umfragen. Sie
sind in einer Lebenssituation, in der sie nur einen Mini-
job wollen. Ein Drittel der Minijobber ist übrigens unter
25 oder über 60 Jahre alt. Sie wollen nur einen Minijob
machen.


(Elke Ferner [SPD]: Oh, mein Gott, wie peinlich!)


Die Altersgruppe der 20- bis 25-Jährigen ist unter den
Minijobbern am stärksten vertreten. Das sind in der Re-
gel Studenten, die nur einen Minijob machen wollen.
Das dürfen Sie auch nicht vergessen, wenn Sie sich die-
ses Instrument anschauen.

In der Tat sind Frauen unter den Minijobbern – die
gerne mehr arbeiten würden, das ist die Minderheit – in
der Mehrheit; das stimmt.


(Elke Ferner [SPD]: Zwei Drittel der Minijobber sind Frauen!)


Die Frage ist aber doch: Liegt das an den Minijobs, dass
sie nicht mehr als einen Minijob ausüben können, ob-
wohl sie mehr arbeiten wollen? Liegt das nicht an etwas
anderem, Frau Kollegin Ferner, zum Beispiel daran, dass
es nicht genug Betreuung gibt? Oder liegt das nicht zum
Beispiel daran, dass es immer noch die Steuerklasse V
gibt?


(Elke Ferner [SPD]: Vielleicht liegt das am Ehegattensplitting!)


Und sollten wir das dann nicht ändern? Da könnten wir
gemeinsam agieren. Nur dafür kann der Minijob nichts.
Insofern ist es falsch, dass Sie hier die Minijobs diskre-
ditieren; das bringt nichts.

Ich habe es Ihnen schon in erster Lesung gesagt:
Wenn Ihr Auto einen Motorschaden hat und Sie es sich
nicht leisten können, den Motor auszutauschen, dann
wechseln Sie auch nicht das Getriebe aus. Das wäre rei-
ner Aktionismus und würde nichts zur Lösung des Pro-
blems beitragen. Ein solcher Aktionismus würde aber
auf dem Rücken der Minijobber ausgetragen, die einen
Minijob wollen und brauchen. Sie sollten mit solchen
Argumenten nicht die Minijobs diskreditieren.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720100600

Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.


Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1720100700

Ich halte abschließend fest: Die Kritikpunkte betref-

fend die Minijobs halten einer Überprüfung nicht stand.
Sie sollten die These, auf dem deutschen Arbeitsmarkt
sei alles schlecht, überdenken – Sie versuchen immer
wieder, dies anhand der Minijobs zu belegen – und die
Diskussion nicht auf dem Rücken der Minijobber austra-





Johannes Vogel (Lüdenscheid)



(A) (C)



(D)(B)


gen. Wir machen das nicht, nehmen stattdessen den
überfälligen Inflationsausgleich vor und erhöhen die
Verdienstgrenze auf 450 Euro; wir werden das machen.
Ich finde es schade, dass Sie nicht zustimmen. Für die
7 Millionen Minijobber draußen im Land ist es in jedem
Falle das Richtige.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720100800

Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile,

komme ich zu unserem Zusatzpunkt 2 zurück und gebe
Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern
ermittelte Ergebnis der Wahl des Vizepräsidenten des
Bundesrechnungshofes bekannt: abgegebene Wahlaus-
weise 561, abgegebene Stimmen 561. Davon haben mit
Ja gestimmt 449,


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


mit Nein haben gestimmt 55. 57 Mitglieder des Hauses
haben sich der Stimme enthalten.1) Ungültige Stimmen
hat es nicht gegeben. Damit hat der Kollege Christian
Ahrendt die erforderliche absolute Mehrheit erreicht. Ich
darf dem Kollegen Ahrendt zu seiner Wahl durch den
Deutschen Bundestag die herzlichen Glückwünsche des
Hauses aussprechen.


(Beifall)


Das Ergebnis der Wahl werde ich der Frau Bundeskanz-
lerin und dem Herrn Präsidenten des Bundesrates zu
weiterer Veranlassung mitteilen.

Wir setzen nun die Aussprache zum Tagesordnungs-
punkt 3 fort. Nächste Rednerin ist die Kollegin Diana
Golze für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Diana Golze (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720100900

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und

Kollegen! Ich habe einmal ein paar Zeitungsüberschrif-
ten mitgebracht, übrigens nicht aus der taz oder der jun-
gen Welt. Zum Beispiel titelte Die Welt am 3. Oktober:
„Studie: Minijobs sind ‚Falle‘ für Frauen“. Die Rheini-
sche Post erklärte am gleichen Tag: „Minijobs verschär-
fen den Fachkräftemangel“. Die Welt titelte am 18. Ok-
tober: „DGB warnt Bundesregierung vor Ausweitung
der Minijobs“. Der Stern schrieb: „Zahl der Zweitjobs
verdoppelt – Regierung meint: Kein Anlass zur Sorge“.
Im Internetportal Telepolis ist gar vom „gescheiterten
Arbeitsmodell Minijob“ die Rede. Ich finde, das sind
keine guten Schlagzeilen für einen Gesetzentwurf der
Regierung, den sie doch als so wichtig erachtet und in
den höchsten Tönen lobt.

Worüber reden wir also? Wir sprechen über 7 Millio-
nen Menschen, die in Minijobs beschäftigt sind, davon
4,8 Millionen ausschließlich in einem Minijob. Fast eine

halbe Million davon, 477 000, muss ihren Minijoblohn
mit Hartz-IV-Leistungen aufstocken. Die Mehrheit der
Minijobbenden sind Frauen. Sie arbeiten als Reinigungs-
kräfte, in der Gastronomie, in Hotels, im Einzelhandel
und zunehmend auch in Gesundheitsberufen.

Die Koalitionsfraktionen wollen nun die Verdienst-
grenze bei der geringfügigen Beschäftigung anheben.
Aber ich sage: Das ist die falsche Medizin.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Denn nicht die Löhne der Minijobbenden werden stei-
gen, sondern die Zahl der Minijobs wird zunehmen, mit
all den Problemen, die damit einhergehen. Seit der Re-
form im Jahr 2003 unter Rot-Grün haben sich die Pro-
bleme verschärft, und zwar unter allen Regierungskon-
stellationen. Ich möchte auf drei Schwerpunkte der
Fehlentwicklungen eingehen.

Erstens. Minijobs bedeuten organisiertes Lohndum-
ping; denn sie werden fast immer unterhalb der Niedrig-
lohnschwelle entlohnt. Laut Angaben des Statistischen
Bundesamtes werden mehr als 80 Prozent der Minijob-
ber unterhalb der Niedriglohnschwelle entlohnt, Herr
Vogel.


(Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Brutto! Sie müssen auch die zweite Zeile lesen!)


Schon jetzt ist das Verhältnis von Minijobs zu sozialver-
sicherungspflichtiger Beschäftigung eins zu fünf. Wenn
bereits 20 Prozent der Beschäftigungsverhältnisse Mini-
jobs sind, sollte dies Anlass zu großer Sorge sein über
den Verfall der regulären Strukturen am Arbeitsmarkt.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es hat sich ein subventionierter Parallelarbeitsmarkt
gebildet, der dringend abgeschafft werden muss.


(Beifall bei der LINKEN)


Was macht die Regierung? Frau von der Leyen weitet
das Problem durch die vorgesehene Neuregelung aus,
statt es zu bekämpfen. Das ist mir vor allem deshalb ein
Rätsel, weil sie in Talkshows immer mit sorgenvollem
Gesicht sagt, dass man doch etwas dagegen tun müsse
und dass gerade Frauen davon betroffen seien.

Herr Vogel, ich möchte ihr Beispiel vom Feuerwehr-
mann aufgreifen, der sich am Wochenende bei einem
Cateringservice etwas dazuverdient.


(Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Dazuverdienen will!)


Mehr als 2 Millionen in Vollzeit arbeitende Menschen
wie der Feuerwehrmann müssen sich nebenbei mit ei-
nem Minijob etwas dazuverdienen.


(Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Sie wollen!)


Haben die alle feuchte Wände zu Hause? Können die
ihre Familienmitglieder nicht mehr ertragen? Haben die
zu viel Zeit? Ist das ihr Hobby?1) Anlage 2





Diana Golze


(A) (C)



(D)(B)



(Zuruf von der CDU/CSU: Es gibt Menschen, die arbeiten gern!)


– Ja, sie arbeiten gerne. Ich bin mir aber sicher, dass der
von Ihnen als Beispiel genannte Feuerwehrmann gerne
ein Gehalt hätte, von dem er leben und mit dem er seine
Familie ernähren kann.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jörg van Essen [FDP]: Ja, vielleicht hat er Spaß daran! Dann lassen Sie es ihm doch!)


Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Feuerwehrmann
als Hobby am Wochenende bei einem Cateringservice
arbeitet. Seine Kinder bekommt er dann überhaupt nicht
mehr zu Gesicht.

Um Menschen wie dem Feuerwehrmann zu helfen,
brauchen wir einen flächendeckenden gesetzlichen Min-
destlohn. Nur so bekommen die Menschen ein Gehalt,
von dem sie leben können. Es darf nicht sein, dass sie
trotz Arbeit arm sind.


(Beifall bei der LINKEN)


Herr Vogel, was Sie hier vortragen, ist so was von le-
bensfremd. Ich bitte Sie: Sprechen Sie einmal mit Ihrem
Feuerwehrmann!


(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf des Abg. Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP])


– Das können wir gerne machen, Herr Vogel.

Minijobs sind bei den Arbeitgebern nicht nur wegen
der niedrigen Löhne beliebt, sondern auch wegen der ge-
ringen Standards, die sich eingeschliffen haben. Zum
Beispiel gibt es in der Regel keine Lohnfortzahlung im
Krankheitsfall. Der Mutterschutz ist nur bedingt gege-
ben. Bezahlter Urlaub für Minijobbende ist die Aus-
nahme und nicht die Regel. Dadurch sparen die Arbeit-
geber noch mehr Kosten. Das ist zwar gesetzwidrig, aber
die Minijobber machen den Mund nicht auf, weil sie die
400 Euro brauchen. Übrigens bekommen die meisten
nicht einmal 400 Euro. Im Durchschnitt bekommen sie
260 Euro, weil die Minijobs eben so schlecht bezahlt
sind. Sie machen den Mund nicht auf, weil sie diesen
Zusatzverdienst brauchen, weil sie finanziell von ihm
abhängig sind. Das darf nicht sein! Wir dürfen keine Be-
schäftigten erster und zweiter Klasse in einer demokrati-
schen Gesellschaft wie der unseren zulassen, und des-
halb müssen Minijobs abgeschafft werden.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Elke Ferner [SPD])


Zweiter Schwerpunkt. Minijobs sind aus gleichstel-
lungspolitischer Sicht eine Katastrophe; denn zwei Drit-
tel der Minijobbenden sind Frauen. Sie bewegen sich da-
mit beruflich in einer Sackgasse mit hohen persönlichen
Risiken. Selbst im Gleichstellungsbericht der Bundesre-
gierung – bitte hören Sie auf Ihre Sachverständigen! –
werden Minijobs als nicht mehr zeitgemäß eingeschätzt.
Die Frauen verbleiben in wirtschaftlicher Abhängigkeit,

entweder von ihrem Mann oder vom Jobcenter. Beides
ist für Frauen nicht gerade attraktiv.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Altersarmut ist für sie vorprogrammiert. Deshalb besteht
dringender Handlungsbedarf. Die Anhebung der Ver-
dienstgrenzen führt zu einer Ausweitung dieser Form
prekärer Beschäftigung. Wir müssen aufhören, die Mini-
jobs auszubauen; vielmehr müssen wir sie mit sozialver-
sicherungspflichtiger Beschäftigung gleichsetzen.


(Beifall bei der LINKEN)


Dritter Schwerpunkt. Minijobs bedeuten Alters-
armut. Auch die Einführung einer Rentenversicherungs-
pflicht für Minijobs ändert nichts daran, dass Minijobs
Minilöhne bedeuten und daher Minirenten die Folge
sind. Die Deutsche Rentenversicherung hat festgestellt:
Derzeit wird für einen Minijob, der monatlich mit
400 Euro vergütet wird – wenn denn überhaupt so viel
gezahlt wird –, ein Rentenbeitrag von 3,18 Euro im Jahr
erworben. Mit der neuen Regelung sind wir bei
4,15 Euro – im Jahr!


(Elke Ferner [SPD]: Sensationell!)


Ich habe im März die Bundesregierung gefragt, was
sie zu diesen Zahlen der Deutschen Rentenversicherung
sagt. Mir wurde schriftlich bestätigt: Nach 45 Jahren in
einem Minijob mit 450 Euro Verdienst bekommt man
eine Rente von 205,70 Euro.


(Elke Ferner [SPD]: Sensationell!)


Da wir wissen, dass vor allem Frauen lange in Minijobs
verharren, und da wir wissen, dass die Minijobs kein
Sprungbrett in den ersten Arbeitsmarkt, zu einer so-
zialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigung sind,
wissen wir auch, auf welche Katastrophe – Altersarmut
von Frauen – wir mit diesen Minijobs zusteuern. Das
kann doch wirklich nicht Ihr Ernst sein.


(Beifall bei der LINKEN)


Daran müssen wir etwas ändern, und wir dürfen das Pro-
blem nicht auch noch verschärfen.

Die Koalitionsfraktionen gehen übrigens davon aus
– das zeigt ihr Gesetzentwurf –, dass 90 Prozent der Mi-
nijobbenden das sogenannte Opt-out-Verfahren wählen
werden, das heißt, dass sie darauf verzichten, in die Ren-
tenversicherung einzuzahlen, weil sie von dem wenigen,
was sie haben, nicht auch noch etwas in die Rentenversi-
cherung einzahlen können.

Das zeigt, dass mit diesem Vorschlag nur Sand in die
Augen gestreut wird. Das ist keine Verbesserung für die
Rente. Das ist kein Ausweg aus der Altersarmut. Mit
Minijobs kann man keine eigenständige Altersvorsorge
aufbauen. Auch das ist ein Grund, sie abzuschaffen.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Mechthild Rawert [SPD])


Wir müssen diese Fehlanreize beseitigen. Wir müssen
Minijobs endlich mit sozialversicherungspflichtiger
Beschäftigung gleichsetzen. Das entspricht auch dem





Diana Golze


(A) (C)



(D)(B)


Wunsch der Beschäftigten, gerade dem von Frauen. Zwei
Drittel der minijobbenden Frauen, Herr Vogel – er ist lei-
der nicht mehr da –,


(Jörg van Essen [FDP]: Doch! Er ist noch da! – Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Doch!)


wünschen sich eine längere Arbeitszeit. Das ist das Er-
gebnis von Umfragen, die nicht von der Linken gemacht
worden sind, sondern diese Zahlen stammen vom Statis-
tischen Bundesamt.

Wir fordern mehr Gleichberechtigung auf dem Ar-
beitsmarkt. Wir fordern einen gesetzlichen Mindestlohn.
Wir fordern, dass das Lohndumping endlich beendet
wird. Es darf keine unterschiedliche Behandlung von
Beschäftigungsformen geben.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Mechthild Rawert [SPD])


Aus der Wissenschaft gibt es dazu verschiedene Vor-
schläge. Wenn wir uns in dem Ziel einig sind, dass wir
keine zweite und dritte Klasse von Beschäftigten in die-
sem Land haben wollen, dann lassen Sie uns über den
Weg streiten. Lassen Sie uns diese Verschärfung bei den
prekären Beschäftigungsverhältnissen endlich beenden.

Ich bitte Sie um Zustimmung zu unserem Antrag. Wir
werden den Gesetzentwurf natürlich ablehnen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720101000

Brigitte Pothmer ist die nächste Rednerin für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720101100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Wirk-

lichkeit weiß es jeder hier im Saal:


(Elke Ferner [SPD]: Die da drüben nicht!)


Die Ausweitung von Minijobs ist falsch.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Minijobs haben als Brücke in versicherungspflichtige
Beschäftigung versagt. Minijobs sorgen für lebenslange
ökonomische Abhängigkeit von Frauen, entweder von
ihrem Ehemann oder von staatlichen Transferleistungen.
Dies ist nicht allein meine Erkenntnis. Diese Erkenntnis
können Sie einem Gutachten entnehmen, das die Bun-
desfrauenministerin in Auftrag gegeben und letzte Wo-
che Freitag öffentlich vorgestellt hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Jetzt stellt sich natürlich die Frage: Warum finanziert
das Bundesfrauenministerium teure Gutachten aus Steu-
ergeldern und ignoriert dann die Erkenntnisse, die aus
diesem Gutachten hervorgehen?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Elke Ferner [SPD]: Genau!)


Ich frage Sie: Wo ist in dieser Debatte eigentlich die
Bundesfrauenministerin?


(Elke Ferner [SPD]: Da, wo sie immer ist! Abgetaucht!)


Warum trägt sie heute hier, in dieser Debatte, die Er-
kenntnisse aus diesem Gutachten nicht vor?


(Elke Ferner [SPD]: Genau!)


Sie ignoriert nicht nur die Erkenntnisse aus dem Gutach-
ten, das sie selbst in Auftrag gegeben hat, nein – Frau
Kramme hat bereits darauf hingewiesen –, sie ignoriert
auch den eigenen Gleichstellungsbericht, also den
Gleichstellungsbericht der Bundesregierung. In diesem
Gleichstellungsbericht steht: Minijobs wirken „desas-
trös“ auf die Erwerbsbiografien von Frauen. Vielleicht
sollten Sie, Herr Vogel, sich diese Lektüre einmal zu Ge-
müte führen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich finde, es ist die Aufgabe von Frau Schröder, es ist
die Aufgabe der Bundesfrauenministerin, einer Politik
entgegenzuwirken, die sich so negativ auf die Erwerbs-
biografien von Frauen auswirkt. Dafür wird sie gut be-
zahlt. Das ist ihr Job.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Aber nicht nur Frau Schröder duckt sich weg, wenn es
um die Minijobs geht, auch Frau von der Leyen prakti-
ziert in dieser Frage einen Totstellreflex. Frau von der
Leyen, noch vor einem Jahr haben Sie der Wochenzei-
tung Die Zeit ins Blatt diktiert – ich zitiere –:

… ich bin eine entschiedene Gegnerin der Auswei-
tung der Minijobs.


(Elke Ferner [SPD]: Das kann sie ja nachher unter Beweis stellen!)


Frau von der Leyen, seit Jahren erklären Sie Frau
Schröder, was in der Frauenpolitik wichtig und richtig
ist. Ich bin die Letzte, die behaupten würde, das sei nicht
notwendig. Aber jetzt sind Sie gefordert. Jetzt geht es
um Ihren ureigenen Verantwortungsbereich. Ich finde,
wenn wir heute diesen Gesetzentwurf hier verabschie-
den, dann haben Sie kläglich versagt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die Ausweitung von Minijobs ist nicht nur frauen-
politisch desaströs, sondern auch aus arbeitsmarktpoliti-
scher Sicht ein kapitaler Fehler. Sie weiten damit den
Niedriglohnsektor aus und treiben die Spaltung auf dem
Arbeitsmarkt weiter voran. Außerdem wirkt – das ist
hier schon gesagt worden – die Ausweitung von Mini-
jobs kontraproduktiv beim Kampf gegen den Fachkräfte-
mangel. Sie wissen genauso gut wie ich – alle möglichen
Untersuchungen zeigen das –: Frauen wollen mehr ar-
beiten. Sie wollen ihr Erwerbsarbeitsvolumen ausdeh-





Brigitte Pothmer


(A) (C)



(D)(B)


nen. Frauen wollen mehr als Minijobs. Die Wirtschaft
braucht diese gut qualifizierten Frauen. Aber Minijobs
halten die Frauen am Arbeitsmarkt klein.


(Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Was hindert sie, Frau Kollegin? Doch nicht die Minijobs! Steuern! Betreuung! All das!)


Ihr Potenzial verkümmert. Die Qualifikationen werden
abgewertet. Nur die wenigsten schaffen den Sprung in
sozialversicherungspflichtige Beschäftigung und in ein
auskömmliches Einkommen. Ich frage Sie, Frau von der
Leyen: Sieht so Ihr Kampf gegen den Fachkräftemangel
aus?


(Beifall der Abg. Elke Ferner [SPD])


Sieht so Ihr Kampf für bessere Erwerbsbiografien von
Frauen aus? Das kann nicht Ihr Ernst sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Außerdem – auch das ist bekannt –: Altersarmut und
Minijobs gehen Hand in Hand. Sie behaupten, der Al-
tersarmut den Kampf anzusagen. Die Ausweitung von
Minijobs ist die Ausweitung von Altersarmut.


(Beifall der Abg. Elke Ferner [SPD])


So schlicht ist die Gleichung.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Dass Ihre Opt-out-Regelung daran wirklich gar nichts
ändern wird, das wissen Sie. Das schreiben Sie selbst in
Ihrem Gesetzentwurf.


(Elke Ferner [SPD]: Genau! 90 Prozent! – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weiße Salbe!)


Sie schreiben: 90 Prozent werden diese Regelung nicht
in Anspruch nehmen. Für diesen minimalen Effekt be-
treiben Sie einen maximalen bürokratischen Aufwand.


(Elke Ferner [SPD]: Ja!)


Ich habe Ihnen das schon bei der Einbringung des Ge-
setzentwurfes vorgerechnet. 787 500 Arbeitsstunden
werden in Betrieben gebraucht. Sie verbrennen in den
Betrieben 22 Millionen Euro nur für den bürokratischen
Aufwand. Den Beschäftigten bringt das nichts.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Lieber Herr Vogel, ich habe mich einmal ein bisschen
auf der Homepage der FDP getummelt.


(Jörg van Essen [FDP]: Wie schön! – Max Straubinger [CDU/CSU]: Oh!)


– Ja, wir alle hier erhalten ein gutes Schmerzensgeld. Ich
finde, da muss man sich das einmal zumuten.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie haben dort eine Rubrik: Meilensteine zum Büro-
kratieabbau. – Herr Vogel, da lacht doch die Koralle.


(Heiterkeit)


Das, was Sie hier mit diesem Gesetzentwurf vorlegen, ist
ein Meilenstein für Bürokratieaufbau.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Waren Sie bei der Anhörung?)


Sie stellen sich jetzt hierhin und versuchen, den Ein-
druck zu erwecken, als würde ausgerechnet die FDP das
Füllhorn über die Arbeitenden, über die Armen und Ent-
rechteten ausschütten. Herr Vogel, das ist zynisch. Wenn
Sie wirklich etwas für Geringverdiener tun wollten, dann
gäben Sie endlich Ihre Bockbeinigkeit beim gesetzlichen
Mindestlohn auf.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)


Kommen Sie nicht immer mit dem Ammenmärchen vom
Inflationsausgleich. Sie wissen genauso gut wie ich:
Drei Viertel aller Minijobber und Minijobberinnen kom-
men an die 400-Euro-Grenze überhaupt nicht heran.


(Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Ein Drittel arbeitet über der Grenze!)


Was Sie wollen, ist eine Ausweitung des Niedriglohnbe-
reichs. Sie wollen mehr Niedriglohn, noch mehr Nie-
driglohn und noch mehr Niedriglohn.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Nach diesen Aussagen weint die Koralle!)


Das wollen wir ausdrücklich nicht.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)


Wir wollen mehr gute Arbeit, von der die Menschen
auch leben können. Wir wollen Arbeit, die auch vor Al-
tersarmut schützt. Das alles bietet Ihr Gesetzentwurf
nicht. Deswegen lehnen wir ihn ab.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720101200

Frau Kollegin Enkelmann will zur Geschäftsordnung

sprechen. Bitte schön.


Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720101300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

glaube, der Verlauf der Debatte macht eines sehr deut-
lich: Es geht hier um ein wichtiges Thema, um ein
Thema, das Millionen Frauen in diesem Land beschäf-
tigt. Wir können nicht nachvollziehen, weshalb die Frau-
enministerin nicht im Plenum ist.





Dr. Dagmar Enkelmann


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Caren Marks [SPD]: Jetzt fragt sich die Koalition: Wer ist eigentlich die Frauenministerin? – Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN, der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Wir beantragen deswegen nach § 42 der Geschäftsord-
nung die Herbeirufung der Ministerin.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Die Regierungsbank ist doch hervorragend besetzt!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720101400

Wird das Wort zur Gegenrede gegen den Geschäfts-

ordnungsantrag gewünscht? – Bitte schön, Herr Kollege
Grosse-Brömer.


Michael Grosse-Brömer (CDU):
Rede ID: ID1720101500

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich bedaure, dass zwischendurch immer wie-
der diese Spielchen gespielt werden müssen.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das ist kein Spiel, das ist Geschäftsordnung!)


Auf der Regierungsbank sitzen die Ministerin für Arbeit
und Soziales und der Parlamentarische Staatssekretär
aus dem Familienministerium, Dr. Hermann Kues.

Man kann natürlich der Auffassung sein, man müsse
regelmäßig Minister herbeizitieren.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das ist Geschäftsordnung, Herr Grosse-Brömer!)


– Das ist Ihr gutes Recht. Ich appelliere ja nur, darüber
nachzudenken, ob es wirklich Sinn macht, diesen Mei-
nungsaustausch zu unterbrechen,


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das liegt an Ihrer Frauenministerin! – Gegenruf des Abg. Max Straubinger [CDU/CSU]: Es geht doch gar nicht um die Frauenministerin!)


nur weil Ihnen eine sehr gut besetzte, fast vollständig be-
setzte Regierungsbank immer noch nicht ausreicht.


(Widerspruch bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN – Elke Ferner [SPD]: Wo denn? – Zuruf von der Linken: Auf der Regierungsbank ist fast niemand da!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720101600

Ich lasse über den zweifellos zulässigen Geschäfts-

ordnungsantrag abstimmen. Wer dem Antrag der Frak-
tion Die Linke zustimmen will, den bitte ich um das
Handzeichen. – Wer ist dagegen? – Wer enthält sich der
Stimme? – Nach meinem Eindruck hat die Mehrheit die-
sen Antrag abgelehnt.


(Widerspruch bei Abgeordneten der LINKEN)


– Dafür ist, wie Sie wissen, nach der Geschäftsordnung
das Präsidium zuständig. Diesem Eindruck hat niemand
widersprochen. Damit ist der Antrag abgelehnt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wir setzen die Debatte fort. Nächster Redner ist der
Kollege Max Straubinger für die CDU/CSU-Fraktion.


Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1720101700

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Das zeigt sehr deutlich: Die Oppositionsfraktionen wol-
len lieber Klamauk machen, als sich mit den Tatsachen
auseinanderzusetzen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Um bei den Worten von Frau Pothmer zu bleiben: Da
weint die Koralle.

Es geht hier nämlich um eine ganz ernste Angelegen-
heit: Wollen wir die Preissteigerungsraten der vergange-
nen zehn Jahre anrechnen und die Geringfügigkeits-
grenze dementsprechend anheben? Frau Pothmer, Ihre
Partei und auch die SPD haben 2003 der Neuregelung
der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse zuge-
stimmt – aber mit Begründungen, die völlig anders sind
als die, die Sie heute dargelegt haben.


(Elke Ferner [SPD]: Sie haben es im Vermittlungsausschuss verschlimmbessert!)


Insofern ist es richtig, wenn wir die Grenzen anpassen
und eine Erhöhung von 400 auf 450 Euro vornehmen so-
wie die Midijobgrenze von 401 auf 850 Euro ausdehnen.
Dies ist sachgerecht, zumal wir es zusätzlich sozialpoli-
tisch hervorragend untermauern. Kollege Schiewerling
hat bereits darauf hingewiesen, dass wir jetzt eine gene-
relle Rentenversicherungspflicht einführen, aus der man
sich nur per Antrag verabschieden kann. Für Rentnerin-
nen und Rentner ist das auch sinnvoll. Schülern und Stu-
denten würde ich eine solche Antragstellung gar nicht
empfehlen, weil sie bereits mit geringsten Beiträgen An-
wartschaftszeiten in der gesetzlichen Rentenversiche-
rung erwerben und damit schneller die fünfjährige War-
tezeit nachweisen können.

Unter diesen Gesichtspunkten haben wir, glaube ich,
eine großartige, auch sozialpolitisch orientierte Rege-
lung in das Gesetz aufgenommen, verehrte Damen und
Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Anette Kramme [SPD]: Sie sollten sich schämen!)


Von den Kolleginnen und Kollegen wurde schon dar-
gelegt, was die Rentenversicherungspflicht bedeutet.
Damit werden Altersrentenanwartschaften erworben.
Vor allen Dingen wird auch eine Anwartschaft für Reha-
leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung und
für eine Erwerbsunfähigkeitsrente erworben. Außerdem
kann man dann die Riester-Rente abschließen. Darüber
hinaus hat man die Möglichkeit, zusätzliche Anwart-
schaftszeiten wie Zeiten für langjährig Versicherte und





Max Straubinger


(A) (C)



(D)(B)


dergleichen mehr in der Rentenversicherung nachzuwei-
sen. Das zeigt sehr deutlich, dass wir damit eine gute ge-
setzliche Grundlage geschaffen haben, die sich in keiner
Weise von der Grundlage sozialversicherungspflichtiger
Beschäftigung unterscheidet.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720101800

Herr Kollege Straubinger, darf der Kollege

Strengmann-Kuhn Ihnen eine Zwischenfrage stellen?


Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1720101900

Gerne.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720102000

Bitte schön.


(BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Herr Kollege Straubinger, Sie haben gerade die Be-
deutung der Rentenversicherungspflicht, des Zugangs
zur Erwerbsminderungsrente, zur Reha und zur Riester-
Rente erläutert. Nicht zu vergessen ist, falls das irgend-
wann einmal kommen sollte, der Zugang zur Zuschuss-
rente zwecks Bekämpfung der Altersarmut.

Warum führen Sie, wenn Sie das so sehen, nicht eine
Rentenversicherungspflicht für die Minijobber ein, son-
dern dieses merkwürdige Opt-out-Modell? Schließlich
gehen Sie selbst davon aus – Brigitte Pothmer hat das
eben schon beschrieben –, dass sich nur 10 Prozent für
die Rentenversicherung entscheiden werden und die
restlichen 90 Prozent dagegen. Sie haben gerade noch
einmal an die Studierenden appelliert, sich doch eben-
falls sozialversicherungspflichtig beschäftigen zu lassen.
Das ist durchaus vernünftig. Warum sind Sie dann nicht
konsequent und führen eine Rentenversicherungspflicht
für die Minijobber ein? Dann gibt es zumindest für die
entsprechenden Fälle eine Absicherung. Es bestünde so-
gar eine Absicherung gegen Altersarmut, wenn es ir-
gendwann einmal eine Zuschussrente, eine Garantie-
rente oder was auch immer gibt. Warum lassen Sie sich
da von der FDP über den Tisch ziehen? Ich weiß, dass
Sie selbst – aus den Gründen, die Sie genannt haben –
durchaus gegen das Opt-out-Modell sind.


Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1720102100

Herr Kollege Strengmann-Kuhn, ich bin Ihnen sehr

dankbar für diese Frage. Natürlich könnte man es gene-
ralisieren. Dann müsste man aber auch Ausnahmen for-
mulieren. Wir sind, glaube ich, beide der Meinung, dass
man aktiven Rentnerinnen und Rentnern nicht zumuten
kann, Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung
zahlen zu müssen. Bei Schülern, die Zeitungen, Rekla-
meheftchen und dergleichen austragen, ist eine Beitrags-
zahlung in meinen Augen ebenfalls nicht sinnvoll. Inso-
fern müsste man bei ihnen Ausnahmen machen.

Man kann sich über die Opt-out-Regelung streiten;
das ist völlig klar. Meines Erachtens ist es aber eine
Fehlannahme – das ist auch im Gesetzentwurf der Koali-
tionsfraktionen niedergeschrieben –, dass sich mögli-

cherweise 90 Prozent verabschieden werden. Ich bin
überzeugt, dass es weit weniger sein werden.

Allerdings liegt es in der Natur der Sache, dass diese
Bundesregierung und unsere Fraktionen vorsichtig
schätzen. Das machen wir ja auch beim Haushalt.


(Lachen der Abg. Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


– Natürlich. Wir haben in den Haushaltsgesetzen bisher
immer Schulden in einer Höhe veranschlagt, die das
überstieg, was dann tatsächlich an Schulden aufgenom-
men werden musste. – Ähnlich verfahren wir bei vielen
Prognosen, bei Wirtschaftsprognosen und dergleichen
mehr. Damit sind wir gut gefahren.

Ich bin überzeugt, dass weit mehr als von Ihnen er-
wartet die Rentenversicherungspflicht in Anspruch neh-
men bzw. sich nicht daraus verabschieden werden. Wir
sollten uns überraschen lassen. Mit den positiven Zah-
len, die dann festzustellen sind, können wir uns noch
trefflich auseinandersetzen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich wende mich
gegen die Dämonisierung der Minijobs, die heute stattfin-
det. Ich habe es bereits ausgeführt: Wer die Versiche-
rungsfreiheit in der Rentenversicherung aufgibt, hat den
Vorteil, dass der pauschale Betrag in Höhe von 15 Pro-
zent, den der Arbeitgeber zahlt, ihm persönlich zugerech-
net wird. Wenn er das nicht tut, dann hat er persönlich
nichts davon, sondern es profitiert nur die allgemeine
Rentenversicherung. Auch unter diesem Gesichtspunkt
lohnt es sich also, die Rentenversicherungsfreiheit aufzu-
geben. Damit wird natürlich genauso ein Anspruch auf
Altersrente begründet.

Frau Kollegin Pothmer und Frau Kollegin Kramme,
ob Sie 400 Euro in einem rein sozialversicherungspflich-
tigen Beschäftigungsverhältnis oder in einem Minijob
verdienen, ist egal. Der Rentenanspruch wird nicht hö-
her, wenn wir an der beitragsbezogenen Rente festhal-
ten.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gibt doch keine Rentenversicherungspflicht! – Anette Kramme [SPD]: Es geht doch um die Stellenzahlerhöhung! – Elke Ferner [SPD]: Also ist das jetzt die Beerdigung der Zuschussrente von Frau von der Leyen?)


Wenn ich das SPD-Rentenkonzept betrachte, das Sie zu-
künftig noch überarbeiten sollten, habe ich den Ein-
druck, dass sich die SPD davon verabschieden will.
Auch unter diesen Gesichtspunkten lohnt es sich also,
dies hier sehr sachgerecht zu beurteilen und zu betrach-
ten.


(Elke Ferner [SPD]: Sie müssen das mit Frau von der Leyen besprechen!)


Ich wende mich gegen die Dämonisierung der Mini-
jobregelung, zu der es heute vor allen Dingen aus der
Fraktion Die Linke wieder gekommen ist. Diese ist letzt-
endlich in keiner Weise mit dem Ausdruck „prekäre





Max Straubinger


(A) (C)



(D)(B)


Beschäftigung“ zu stigmatisieren. Hier gelten genau die-
selben Arbeitsbedingungen: Jeder ganz normale Tarif-
vertrag, die Urlaubsregelungen und die Regelungen zur
Lohnfortzahlung im Krankheitsfall sind einzuhalten.


(Elke Ferner [SPD]: Das tun die aber nicht!)


Sie können nicht pauschal jedem Arbeitgeber unter-
stellen, sie würden das nicht einhalten, und ständig nur
Misstrauen gegenüber allen Arbeitgebern ausdrücken.
Das nicht einzuhalten, wäre bei einer sozialversiche-
rungspflichtigen Beschäftigung genauso möglich, indem
man sagt: Ich entlohne Sie für sieben Stunden, aber zehn
Stunden müssen Sie arbeiten. Das wäre ganz genau das-
selbe.

Das, was Sie betreiben, ist unstatthaft. Sie stellen hier
alle Arbeitgeber letztendlich so dar, als ob sie die Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer um ihren Lohn betrügen
würden. Das ist aber Ihre Sache. Wir machen das nicht
mit, und das lassen wir auch nicht gelten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Diana Golze [DIE LINKE]: Sie sind dafür verantwortlich!)


Sie haben dann auch noch dargestellt, dass ein Mini-
job bedeutet, dass man mit Hartz IV aufstocken muss.


(Diana Golze [DIE LINKE]: Nein, mit der Grundsicherung!)


In der Regel ist das ganz anders: Die Hartz-IV-Leistun-
gen werden durch einen Minijob aufgestockt, weil durch
einen 400-Euro-Minijob 160 Euro zusätzlich verdient
werden, die nicht auf die Hartz-IV-Leistung angerechnet
werden. Das ist die Erfahrung – nicht umgekehrt. Die
Hartz-IV-Leistung wird aufgestockt und nicht umge-
kehrt der Minijob durch eine Hartz-IV-Leistung. Hier
verkennen Sie die Realität.

Sie müssen noch einmal in Ihren Antrag hinein-
schauen, der von Fehlinformationen nur so strotzt. Dort
wird dargestellt, dass die Arbeitgeber einen Vorteil hät-
ten, wenn sie Beschäftigungsverhältnisse in Form von
Minijobs einführen würden. Bei diesem Beschäftigungs-
verhältnis werden die Arbeitgeber aber mit einer Pau-
schale von 30 Prozent belastet, während sie nur mit
20 Prozent Lohnnebenkosten belastet werden, wenn sie
ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsver-
hältnis anbieten.

Es ist sehr deutlich, dass letztendlich sowohl die Mi-
nijobber als auch die Betriebe ein Interesse an dieser
Form der Beschäftigung haben können. Bei mir in der
Heimat zum Beispiel wird die örtliche Tankstelle als ein-
facher Familienbetrieb geführt. Der Inhaber ist froh,
wenn ein Student dort ein paar Stunden lang aushilft, da-
mit sich die Familie auch einmal in Ruhe einen freien
Sonntag gönnen kann.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720102200

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.


Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1720102300

Für diese Tätigkeit könnte niemals ein ganztägiges

Beschäftigungsverhältnis bzw. eine Vollzeitbeschäfti-
gung angeboten werden. Minijobs sind deshalb notwen-
dig zur Flexibilisierung und vor allen Dingen zum Abar-
beiten von Arbeitsspitzen.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Beim
Herrn Präsidenten bedanke ich mich herzlich für die Ge-
duld.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Diana Golze [DIE LINKE]: Setzen! Sechs!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720102400

Nun erhält die Kollegin Gabriele Hiller-Ohm das

Wort für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
Rede ID: ID1720102500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

debattieren heute über zwei parlamentarische Initiativen,
die unterschiedlicher nicht sein können. Auf der einen
Seite haben wir den Gesetzentwurf von CDU/CSU und
FDP zur Ausweitung der Minijobs, und auf der anderen
Seite fordert die Linke die Abschaffung selbiger.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir haben folgende Ausgangslage: Ungefähr 7,5 Mil-
lionen Menschen in Deutschland arbeiten ohne eigen-
ständige Krankenversicherung, ohne vollwertige Ren-
tenansprüche und ohne ein Recht auf Arbeitslosengeld I.
Lohnfortzahlung bei Krankheit oder bezahlter Urlaub
werden ihnen in der Regel verwehrt. Sie verdienen, ob-
wohl die meisten von ihnen eine abgeschlossene Berufs-
ausbildung haben, durchschnittlich etwa 5 Euro in der
Stunde und 300 Euro im Monat. So, lieber Herr Kollege
Vogel und Herr Straubinger, sieht die Wirklichkeit aus.
Wenn Sie, Herr Kollege Straubinger, in diesem Zusam-
menhang von Dämonisierung sprechen, dann haben Sie
wirklich keine Ahnung, wie die Wirklichkeit aussieht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Der Niedriglohnsektor weitet sich aus – durch Ihr Mi-
nijobgesetz noch mehr –, und im Niedriglohnsektor wird
niedrig bezahlt. Deshalb heißt er auch so, Herr Kollege
Vogel. Der Übergang in existenzsichernde Beschäftigung
gelingt nur selten. Die meisten dieser Beschäftigten sind
Frauen, Minijobberinnen. Für Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen von Schwarz-Gelb, sind diese Minijobs ganz
offensichtlich der Hit; denn Sie wollen noch mehr davon.
Deshalb schlagen Sie in Ihrem Gesetzentwurf vor, die
Verdienstgrenze von 400 auf 450 Euro für die geringfü-
gig Beschäftigten anzuheben.

Welche Folgen wird dieses Gesetz haben? Die Mini-
jobberinnen werden nicht etwa mehr verdienen, was
vielleicht ganz gut wäre. Nein, es wird lediglich noch
mehr Minijobberinnen geben.


(Elke Ferner [SPD]: So ist das!)


Damit steigt der Anteil der Frauen, die entweder von ih-
rem Partner oder von Sozialleistungen abhängig sind.





Gabriele Hiller-Ohm


(A) (C)



(D)(B)


Es wird im Zusammenhang mit den Minijobs viel von
der „dazuverdienenden Ehefrau“ gesprochen. Die Wirk-
lichkeit ist: Nicht einmal die Hälfte aller Minijobberin-
nen hat heute einen Partner, der in einem regulären Ar-
beitsverhältnis steht und sie mitversorgen könnte. Alle
anderen, wenn sie nicht gerade Studentinnen oder Rent-
nerinnen sind, müssten eine aufstockende Sozialleistung
in Anspruch nehmen; denn weder 300 noch 450 Euro
Monatsgehalt sind existenzsichernd. Unser gemeinsa-
mes Ziel muss doch aber die wirtschaftliche Unabhän-
gigkeit von Männern und Frauen auf der Basis eines ei-
genen Einkommens sein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


In unserem Unterhaltsrecht und in unserer Hinterblie-
benenversorgung wird davon im Übrigen schon lange
ausgegangen. Davon, liebe Kolleginnen und Kollegen
von Schwarz-Gelb, lese ich in Ihrem Gesetzentwurf
nichts.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Im Gegenteil: Sie halten eine Beschäftigungsform, die
einen Partner, zumeist die Frau, in einer Zuverdiener-
rolle sieht, ganz offensichtlich für zukunftsweisend.
Diese Vorstellung ist zwar von vorvorgestern,


(Elke Ferner [SPD]: Von vorvorvorgestern!)


Sie halten aber daran fest und zementieren dieses Frau-
enbild mit Ihrem Minijobgesetz. Ehegattensplitting und
die kostenlose Krankenmitversicherung tun ihr Übriges.
Frauen werden so wichtiger Perspektiven auf dem Ar-
beitsmarkt beraubt, jetzt und später. Jetzt bedeutet der
Minijob Entgeltdiskriminierung, Abhängigkeit und in
der Regel eine berufliche Sackgasse. Später führt er in
die Altersarmut.

Ich komme zu der von Ihnen vorgeschlagenen Ren-
tenversicherungspflicht, die automatisch gilt, wenn die
Minijobberin nicht widerspricht. Dies macht die Sache
aber nicht leichter. Zwar rückt damit eine eigenständige
Alterssicherung näher, aber aus zwei Gründen wird sie
das Problem drohender Altersarmut nicht lösen.

Erstens. Der Rentenanspruch, der erworben werden
kann, ist sehr gering. Laut Rentenversicherung beträgt er
maximal 4,30 Euro pro Jahr. Erst nach etwa 200 Jahren
im Minijob würde man die Grenze der Grundsicherung
im Alter erreichen.

Zweitens muss davon ausgegangen werden – das
wurde auch in unserer Anhörung am Montag deutlich –,
dass mehr als neun von zehn geringfügig Beschäftigten
nicht in die Rentenversicherung einzahlen werden.

Eines steht fest: Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
von Schwarz-Gelb, verstehen nichts von Gerechtigkeit.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Das haben Sie inzwischen zur Genüge bewiesen, und
zwar mit ihrem Betreuungsgeld, mit der Flexi-Quote und
jetzt mit diesem Frauenbenachteiligungsgesetz. Sie
ignorieren dabei selbst knallharte Fakten Ihrer eigenen
Bundesregierung; es wurde schon darauf hingewiesen.

Der Gleichstellungsbericht bezeichnet bereits die jetzt
bestehende Minijobregelung gleichstellungspolitisch als
desaströs. Die jetzige Ausweitung setzt dem noch eins
obendrauf. So viel zur Geschlechtergerechtigkeit. Aber
auch volkswirtschaftlich gesehen ist diese – so wurde es
in unserer Anhörung am Montag genannt – Ausweitung
der „Stilllegung von Arbeitsvermögen“ nicht vertretbar.

Herr Kollege Straubinger, Sie haben darauf hingewie-
sen, dass sich die SPD und die Grünen 2003 für die Aus-
weitung der Minijobs ausgesprochen haben. Das ist rich-
tig. Ich möchte allerdings darauf hinweisen, dass wir
damals auf Ihren Druck hin im Vermittlungsausschuss so
gehandelt haben. Zudem hatten wir damals eine andere
Arbeitsmarktsituation. Wir hatten eine sehr hohe Ar-
beitslosigkeit. Auch wir hatten die Hoffnung, durch die
Minijobs eine Brücke in reguläre Beschäftigung, in den
ersten Arbeitsmarkt schlagen zu können. Leider hat sich
das als Illusion, als falsch erwiesen. Deshalb müssen wir
nachsteuern.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wir haben heute eine ganz andere Arbeitsmarktsitua-
tion. Wir brauchen dringend Fachkräfte, liebe Kollegin-
nen und Kollegen. Das diskutieren wir immer wieder.
Wer nun meint, ausgerechnet mit der Ausweitung von
Minijobs Fachkräfte gewinnen zu können, hat schlicht-
weg keine Ahnung vom Arbeitsmarkt.


(Beifall bei der SPD)


Ich fasse zusammen:


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720102600

Das muss jetzt sehr konzentriert erfolgen.


Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
Rede ID: ID1720102700

Ihr Gesetzentwurf ist inakzeptabel. Er gehört in die

Tonne.

Danke.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720102800

Sehr schön! Geht doch. – Sebastian Blumenthal ist

der nächste Redner für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Sebastian Blumenthal (FDP):
Rede ID: ID1720102900

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man kann

nur noch staunen, in welche Richtung Rot-Rot-Grün die
Debatte lenkt.

Frau Kramme, Sie hatten vorhin ausgeführt, das In-
strument der Minijobs sei ein katastrophales Instrument,
das nun ausgeweitet werden solle.


(Elke Ferner [SPD]: Sagt im Gleichstellungsbericht Ihre Expertin!)






Sebastian Blumenthal


(A) (C)



(D)(B)


Ich frage Sie und die SPD-Fraktion: Wie stehen Sie
dazu, dass wir den 163 geringfügig beschäftigten Mitar-
beitern bei Ihnen in der Bundestagsfraktion – ich habe
mir einmal angeschaut, wie viele bei Ihnen auf Basis der
Minijobregelung beschäftigt sind – mit der Ausweitung
der Verdienstgrenze neue Möglichkeiten eröffnen? – Sie
sprechen von der Ausweitung eines katastrophalen Ar-
beitsmarktinstruments, arbeiten aber in Ihrer Bundes-
tagsfraktion selbst mit diesem Instrument. Das ist auf gar
keinen Fall glaubhaft, und das diskreditiert schon Ihre
ganze Argumentationsführung.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Elke Ferner [SPD]: Das sind Praktikantenverträge! Bei uns bekommen die Praktikanten wenigstens noch Geld! – Anette Kramme [SPD]: Da sind die Auszubildenden drin!)


Ich komme zu den Grünen. Frau Pothmer, Ihr Bei-
trag war nicht nur frei von biologischen Grundkenntnis-
sen – Stichwort: Da lacht doch die Koralle –, sondern
auch Sie müssen einen Widerspruch aufklären: Obwohl
Sie das Instrument hier sehr stark negativ dargestellt
haben, sind in der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/
Die Grünen 43 Mitarbeiter auf genau dieser Basis be-
schäftigt. Ich kann Ihnen sogar noch weitere Beispiele
nennen, die belegen, dass in Wahlkreisbüros, in den
Kreisverbänden usw. sowie in weiteren Untergliederun-
gen genau mit diesem Arbeitsmarktinstrument Arbeits-
plätze auch im Umkreis von Bündnis 90/Die Grünen ge-
schaffen werden. Ihre Argumentation ist genauso wenig
glaubhaft wie die Argumentation der SPD. Ansonsten
müssten Sie ja auf dieses Instrument verzichten.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Elke Ferner [SPD]: Im Gegensatz zu Ihnen bezahlen wir unsere Praktikanten!)


Ich komme zur Fraktion Die Linke. Frau Golze, Sie
hatten dem Kollegen Vogel vorhin unterstellt, er würde
lebensfremd argumentieren.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Völlig zu Recht!)


Ich möchte Ihnen zurückgeben: Auch Ihre Argumenta-
tion scheint realitätsfremd zu sein. In der Bundestags-
fraktion Die Linke werden 67 Mitarbeiter genau auf die-
ser Basis beschäftigt. Das sind mehr als 10 Prozent der
Mitarbeiter, die bei der Fraktion Die Linke insgesamt im
Einsatz sind.

Ich möchte Ihnen noch ein weiteres Beispiel nennen.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720103000

Darf die Kollegin Golze Ihnen eine Zwischenfrage

stellen, bevor Sie ein weiteres Beispiel nennen?


Sebastian Blumenthal (FDP):
Rede ID: ID1720103100

Bitte schön.


Diana Golze (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720103200

Sehr geehrter Herr Kollege, vielen Dank, dass Sie die

Zwischenfrage zulassen.

Ich möchte Sie einfach nur fragen, ob Sie bereit sind,
zur Kenntnis zu nehmen, dass im Gegensatz zu der
Unionsfraktion und der FDP-Fraktion – zumindest nach
meinen Informationen – bei den anderen Fraktionen
Praktikantinnen und Praktikanten, zum Beispiel auch
Studentinnen und Studenten, die innerhalb ihrer Ausbil-
dung ein Praktikum bei einem Bundestagsabgeordneten
machen, eine Aufwandsentschädigung bekommen


(Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Das ist schlicht falsch!)


und dass viele meiner Kollegen – ich gehe davon aus,
dass das auch in den anderen Fraktionen so ist –


(Anette Kramme [SPD]: So ist es!)


diesen Praktikantinnen und Praktikanten dafür etwas
zahlen


(Elke Ferner [SPD]: Bei Ihnen! Bei denen aber offenkundig nicht!)


und dass das als ordentliches Beschäftigungsverhältnis
über die Bundestagsverwaltung abgewickelt wird.


(Zuruf von der FDP: Wo ist denn da der Gegensatz?)


Mich würde Ihre Meinung dazu interessieren. Ich
glaube, wenn man sich die Zahlen genauer anschaut,
zieht Ihr Argument nicht.


(Beifall bei der LINKEN)



Sebastian Blumenthal (FDP):
Rede ID: ID1720103300

Vielen Dank für die Anregung, Frau Kollegin. Damit

bringen Sie mich jetzt aber nicht wirklich in Verlegen-
heit.


(Elke Ferner [SPD]: Doch!)


Wenn Sie suggerieren wollen, die Fraktion der FDP
würde eine solche Bezahlung nicht vornehmen,


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Ihre Zahlen stimmen nicht!)


kann ich Ihnen das Gegenteil darlegen.


(Elke Ferner [SPD]: Wie viel zahlen Sie denn Ihren Praktikanten? – Anette Kramme [SPD]: Wie viel zahlen Sie denn Ihren Praktikanten?)


Sie lösen damit auch den Widerspruch nicht auf, dass Sie
in Ihren Reihen mit dem Instrument der Minijobs Abge-
ordnetenmitarbeiter beschäftigen. Diesen Widerspruch
konnten Sie auch in Ihrer Zwischenfrage nicht auflösen.
Insofern ist das meine Antwort darauf: Wir zahlen auch,
und Sie können den Widerspruch nicht auflösen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Elke Ferner [SPD]: Setzen! Sechs! – Anette Kramme [SPD]: Welche Regelung gibt es denn bei Ihnen? Können Sie die darlegen?)






Sebastian Blumenthal


(A) (C)



(D)(B)


Ich komme zu einem weiteren Beispiel aus den Rei-
hen der Linken, das hochinteressant ist. Sie intonieren
hier immer den Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche
Arbeit“. Von einer Ihrer Landtagsfraktionen gibt es eine
Stellenausschreibung, die auf Basis von 450 Euro im
Monat ausgeschrieben wird. Das Ganze ist als Vollzeit-
stelle ausgeschrieben. Wenn wir das herunterrechnen,
kommen Sie mit der Ausschreibung auf einen Stunden-
lohn von 2,92 Euro.


(Zurufe von der LINKEN: Quatsch! – Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Das glauben Sie doch selber nicht!)


Das sind die Ausschreibungen, die Sie veröffentlichen;
uns unterstellen Sie, wir würden unlauter agieren. Auch
das ist widersprüchlich, Frau Kollegin.

Das ist die Klammer um die Argumentationslinie von
Rot-Rot-Grün: Sie unterstellen uns mit der Skandalisie-
rung und dem Vorwurf, wir würden für prekäre Beschäf-
tigungsverhältnisse sorgen,


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Das ist unredlich, was Sie machen, Herr Kollege! Das ist wirklich unredlich!)


dass wir Menschen in Situationen bringen, in denen kein
vernünftiger Lohn mehr gezahlt wird. Sie selbst bieten
aber in Ihrem realen Handeln genau solche Stellen an, ob
in der Bundestagsfraktion, in den Parteiuntergliederun-
gen oder auf der Ebene der Landesparlamente.


(Elke Ferner [SPD]: Sie lügen, ohne rot zu werden! – Anette Kramme [SPD]: Sie lügen, ohne rot zu werden! Wirklich!)


Mit solchem Verhalten können Sie uns mit Sicherheit
nicht dazu bringen, dass wir sagen, das Instrument sei
nicht gerechtfertigt.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich komme noch zu weiteren Punkten. Sie haben von
der Anhörung berichtet. Ich glaube, das waren Sie, Frau
Pothmer. Sie hatten aus dem Gutachten für das BMSFJ
zur Situation der Frauen zitiert. Meine Bitte ist: Zitieren
Sie dann vollständig! Ich werde jetzt das vortragen, was
Sie nicht vorgetragen haben. Das Zitat aus der Studie
„Frauen im Minijob“ lautet wie folgt:

Diese Entwicklung hängt eng mit den sozial- und
steuerrechtlichen Regelungen für Verheiratete zu-
sammen.



84 % der aktuell im Minijob pur tätigen Frauen sind
verheiratet (nur 10 % sind ledig).


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ehegattensplitting!)


Vor allem folgenden Satz haben Sie vergessen:

Die gelegentlich geäußerte These von der Ausbeu-
tung von Frauen im Minijob durch den Arbeitgeber
bestätigt sich im Horizont der subjektiven Wahr-

nehmung und Erfahrungen von Frauen im Minijob
pur nicht.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Elke Ferner [SPD]: Aber wenn Sie nicht mehr im Minijob sind, schon!)


Sie sehen, dass wir bei allen Punkten, die Sie uns ent-
gegenzustellen versucht haben, mit Fakten und nackten
Zahlen dagegen argumentieren können. Wir verwahren
uns gegen die Art und Weise, wie Sie eine Skandalisie-
rung dieses Instruments herbeiführen wollen.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fragen Sie das doch einmal Frau von der Leyen! Fragen Sie das doch einmal Frau Schröder!)


Für uns gibt es gute Gründe, dem Gesetzentwurf zu-
zustimmen. Ich denke, dass ich auf die meisten Ihrer
Punkte die entsprechende Antwort geben konnte.


(Elke Ferner [SPD]: Nein! – Mechthild Rawert [SPD]: In keinster Weise!)


Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720103400

Nächste Rednerin für die SPD-Fraktion ist die Kolle-

gin Gabriele Lösekrug-Möller.


(Beifall bei der SPD)



Gabriele Lösekrug-Möller (SPD):
Rede ID: ID1720103500

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber

Kollege Blumenthal, ich glaube, so etwas nennt man
Entlastungsangriff. In der Regel gehen die schief. So war
das bei Ihnen auch.

Ich werde wie die Kollegin Pothmer nicht davor
zurückschrecken, heute Mittag mit Interesse auf der
Homepage der FDP-Bundestagsfraktion nachzusehen.


(Jörg van Essen [FDP]: Das lohnt sich immer!)


Ich erwarte eine lückenlose Darstellung, wie Sie mit
Ihren Praktikanten und Mitarbeitern umgehen. Das
wüssten wir jetzt alle gerne ganz genau.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich verstehe auch, dass Sie diesen Entlastungsangriff
gestartet haben. Wir erleben ja im Deutschen Bundestag
zum wiederholten Male, dass diese Regierungskoalition
wider besseres Wissen handelt. Das erste Beispiel ist das
Betreuungsgeld. Wider besseres Wissen werden Sie es
einführen.


(Holger Krestel [FDP]: Bleiben Sie mal beim Thema!)


Das zweite Beispiel ist genau das, über das wir heute
diskutieren. Nach dem Gesetz der Serie fürchte ich: Sie





Gabriele Lösekrug-Möller


(A) (C)



(D)(B)


werden in den wenigen Monaten, die Sie noch Zeit
haben, erneut vielfach wider besseres Wissen handeln.

Wer hätte gedacht, meine Damen und Herren, dass
Frauenministerin Schröder


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Die nicht da ist, kein Interesse hat!)


mit der Vorstellung des Gutachtens die amtierende Ar-
beits- und Sozialministerin frauenpolitisch überholen
könnte?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich finde, das ist ein besonderer Moment in unserer
Republik.

Ich habe den großen Wunsch, dass wir in Sachen
Minijobs alle miteinander die rosaroten Brillen ablegen.
Dann würde es allerdings kräftige Fallgeräusche in Ihren
Reihen geben, weil Sie im Gegensatz zu uns den Ar-
beitsmarkt nicht realistisch sehen. Wenn Sie diese Bril-
len abnehmen würden, könnten Sie das aber auch.


(Elke Ferner [SPD]: Das Problem ist nur, dass sie unter den Brillen auch noch Scheuklappen haben!)


Wir diffamieren keinen Arbeitgeber, aber wir sagen:
Es gibt solche und solche. Leider – das werden Sie nicht
entkräften können, aber Sie haben ja gleich noch das
Wort – gibt es Arbeitsverhältnisse, bei denen viele Mini-
jobber ihre Rechte nicht kennen und deshalb nicht nut-
zen. Das gilt für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer, und leider, leider nutzen das auch einige
Arbeitgeber aus. Dass das nicht wenige sind, das konn-
ten wir bei der Anhörung am Montag erfahren.

Ich zitiere aus der Stellungnahme von Frau Dr.
Weinkopf in der Anhörung:

Ich befürchte …, dass die Zahl der Minijobs weiter
steigen wird. Durch die Anhebung der Verdienst-
grenze rutschen einige hinein, die bislang sozialver-
sicherungspflichtig waren. Von daher ist eine Aus-
weitung zu erwarten, die dem Arbeitsmarkt aus
meiner Sicht überhaupt nicht guttut. Wir haben jetzt
schon einen Minijob auf etwa fünf sozialversi-
cherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse. Wir
erweitern also den Anteil derjenigen …, die nicht
voll in die Sozialversicherungspflicht einbezogen
sind …

Das ist die Wahrheit; darüber reden wir hier, und Sie ge-
ben Gas an dieser Stelle. Eine Regelung, über die Sie
heute sagen: „90 Prozent werden sie gar nicht nutzen“,
die ist ja nur 10 Prozent wert.


(Elke Ferner [SPD]: Genau!)


Deshalb frage ich mich: Warum regeln Sie das gesetzlich
dann eigentlich so?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich finde, das heißt, Leute hinter die Fichte zu führen,
und insbesondere betrifft das Frauen.

Als ich mir den Gesetzentwurf ansah, dachte ich: Das
ist wie bei den Berliner Hinterhöfen. Die sind ja bekannt
dafür: ein schickes Vorderhaus, dann kommt ein Hinter-
hof, und dann gibt es ein erstes und ein zweites Hinter-
haus. Wir reden bei Minijobs im Augenblick über dieses
letzte Hinterhaus.


(Elke Ferner [SPD]: Den Keller!)


Da gibt es keinen Aufzug nach oben, da gibt es kaum
Tageslicht, und – das will ich Ihnen sagen – da gibt es
eben auch nicht den wunderbaren Aufstieg oder die Brü-
cke, über die hier vielfach geredet wurde.

Sie finden es gut, dass ein Drittel einen vermeint-
lichen Übergang in den ersten Arbeitsmarkt findet. Mich
interessieren die anderen zwei Drittel noch viel mehr.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die erwarten, dass wir hier handeln, und zwar auf eine
Weise, die sie unterstützt.

Dass das ein Gleichstellungsproblem ist, ist heute
deutlich geworden. Ich bin mehr als betrübt darüber,
dass Sie an dieser Stelle gar kein Wort darüber verlieren.
Wir reden nicht über jene kleinen Arbeitsverhältnisse,
die die Gattin eines gutverdienenden Ehemanns neben-
her haben mag – das ist eine persönliche Lebensplanung,
die jedem freisteht, die aber mancher Frau auch schon
zum Verhängnis wurde –; wir reden darüber, dass Frauen
und Männer in ordentlichen sozialversicherungspflichti-
gen Jobs Vollzeit arbeiten. Diese Zielperspektive haben
Sie offenkundig aus den Augen verloren.


(Elke Ferner [SPD]: Genau!)


Das ist das eigentliche Drama, das wir heute feststellen
müssen.


(Beifall bei der SPD)


Wo ich schon bei diesem Bild „Hinterhof und Hinter-
haus“ bin, will ich Ihnen auch sagen: Genau deshalb
haben der DGB und die Regierung in NRW gute Über-
legungen dazu angestellt, welche Lösungen wirklich
zielführend sind. Darüber höre ich überhaupt nichts von
Ihnen. Haben Sie sich beschäftigt


(Elke Ferner [SPD]: Nein!)


mit der Begrenzung der Wochenarbeitszeit bei Mini-
jobs?


(Elke Ferner [SPD]: Nein, haben die nicht!)


Ein interessanter Vorschlag! Haben Sie sich beschäftigt
mit Gleitzonen? Ich finde, das ist ein kluger Vorschlag;
er ist diskussionswürdig. Nichts höre ich davon. Deshalb
befürchte ich leider, dass Sie weiterhin einen gespalte-
nen Arbeitsmarkt haben wollen und nicht davor zurück-
schrecken, den Graben tiefer zu machen. Ich bedaure
dies sehr. Deshalb kann es keine Zustimmung geben zu
Ihrem Entsetzesentwurf – – Gesetzentwurf, der entsetz-
lich ist.

Vielen Dank.





Gabriele Lösekrug-Möller


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Elke Ferner [SPD]: „Entsetzesentwurf“, das ist gut!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720103600

Die Kollegin Heike Brehmer hat nun für die CDU/

CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Heike Brehmer (CDU):
Rede ID: ID1720103700

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen
wir heute Änderungen im Bereich der geringfügigen Be-
schäftigung vornehmen.

Nach der Wirtschaftskrise hat sich der deutsche Ar-
beitsmarkt erfolgreich entwickelt. Die gute Entwicklung
der deutschen Wirtschaft hat dazu geführt, dass sich
viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer über Lohn-
erhöhungen freuen können. So konnten die Renten so-
wie die Sätze für das Arbeitslosengeld II angehoben und
die Rentenbeitragssätze für Arbeitnehmer gesenkt wer-
den.


(Zuruf von der FDP: Sehr gut!)


Wir als christlich-liberale Koalition wollen mit den
Änderungen im Bereich der geringfügig Beschäftigten
der positiven Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt Rech-
nung tragen. Angesichts der Lohnentwicklung der
letzten Jahre sehen wir es als notwendig an, die Arbeits-
entgeltgrenze von 400 auf 450 Euro anzuheben. Entspre-
chend wird die Grenze für das Gleitzonenentgelt von
800 auf 850 Euro angepasst.


(Zuruf von der FDP: Hört! Hört!)


Die vielfach von der Opposition vorgebrachte Be-
hauptung, dass Minijobs sozialversicherungspflichtige
Beschäftigung verdrängen, ist bei genauer Betrachtung
nicht haltbar.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Mechthild Rawert [SPD]: Stimmt nicht!)


Seit 2005 ist die Zahl der Minijobber lediglich um
2,9 Prozent gestiegen. Im gleichen Zeitraum haben die
sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisse um
9 Prozent zugelegt.

Die Einführung der Minijobs im Jahr 2003 durch Rot-
Grün hat zur Umwandlung der Schwarzarbeit in reguläre
Beschäftigung geführt. Ein Hinweis darauf ist der starke
Aufwuchs der Beschäftigungszahlen in den letzten Jah-
ren. Hier zeigt sich, dass die Einführung der Minijobs
eine richtige Entscheidung war; denn dadurch wurde
Schwarzarbeit erfolgreich bekämpft.

Minijobs eignen sich für Studenten, die sich etwas da-
zuverdienen wollen, aber auch für rüstige Senioren, wel-
che sich etwas zu ihrer Rente dazuverdienen wollen.

In den letzten Wochen bin ich wiederholt im Wahl-
kreis darauf angesprochen worden, wann wir nun end-
lich die Erhöhung im Deutschen Bundestag beschließen.
Viele Menschen in geringfügiger Beschäftigung erwar-

ten von uns, dass die Geringfügigkeitsgrenze angehoben
wird. Viele Betroffene – Frau Kramme, da gebe ich Ih-
nen recht – wollen mehr verdienen und würden natürlich
auch gern mehr arbeiten.

Mit Blick auf die demografische Entwicklung werden
wir mit Minijobs dem Fachkräftemangel nicht begegnen
können. Zur Wahrheit gehört aber auch, zu sagen, dass
für viele Bürger der Minijob die einzige Möglichkeit ist,
etwas Geld dazuzuverdienen. Besonders in struktur-
schwachen ländlichen Regionen fehlen Vollzeitarbeits-
plätze. Durch die weiten Entfernungen sind Familie und
ein Vollzeitjob oft nicht unter einen Hut zu bringen. Das
Fehlen von Kindertagesstätten und schlechte Verkehrs-
anbindungen kommen in manchen Regionen noch er-
schwerend dazu. Ein flexibler Minijob, mit dem man Be-
ruf und Familie in Einklang bringen kann, ist für viele
eine gute Möglichkeit, um das Haushaltsbudget etwas
aufzubessern.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Fakt ist, dass be-
reits heute in dünn besiedelten Gebieten keine Tageszei-
tung pünktlich im Briefkasten wäre oder die Tankstelle
nicht so lange geöffnet hätte, wenn es keine Minijobs
gäbe.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das könnte man auch anders regeln, Frau Kollegin!)


Ohne die geringfügig Beschäftigten wäre vieles in unse-
rem Alltag nicht möglich. Eine Dankeschön an dieser
Stelle einmal allen, die sich tagtäglich einbringen und in
einem Minijob eine gute Arbeit verrichten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Mit unserem vorliegenden Gesetzentwurf zur gering-
fügigen Beschäftigung wollen wir einen besseren Ein-
stieg in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen
ermöglichen. Minijobs sollten nur eine vorübergehende
Beschäftigungsform sein. Eine jahrelange Dauerbe-
schäftigung in Minijobs führt später zu einer unzurei-
chenden Altersvorsorge.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber genau das ist doch die Realität! Was erzählen Sie denn da?)


Genau deswegen wollen wir mit der beabsichtigten Neu-
regelung eine Verbesserung der Rentenversicherungs-
möglichkeiten für die geringfügig Beschäftigten schaf-
fen.

Im Zuge der Einführung der Rentenversicherungs-
pflicht für geringfügig Beschäftigte, verbunden mit der
Opt-out-Regelung, müssen sich die Arbeitnehmer mit
der eigenen Altersvorsorge befassen. Die Arbeitnehmer
können so für die Zeit in geringfügiger Beschäftigung
Entgeltpunkte für die Rentenversicherung sammeln und
zu Anwartschaften für ihre Rente beitragen. Damit sind
sie auch im Falle einer Erwerbsunfähigkeit abgesichert.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)






Heike Brehmer


(A) (C)



(D)(B)


Auch Riestern – Herr Schiewerling hat vorhin schon da-
rauf hingewiesen – ist für die betroffene Gruppe mög-
lich. Darüber hinaus sichern sich die Minijobber mit ih-
ren Beiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung einen
Anspruch auf Rehabilitationsmaßnahmen. Mit dieser
Neuregelung wollen wir entscheidend den Versiche-
rungsschutz für geringfügig Beschäftigte verbessern.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser gemeinsames
Ziel muss es sein, die gesetzlichen Rahmenbedingungen
so zu setzen, dass mehr sozialversicherungspflichtige
Arbeitsplätze entstehen und ein Minijob im Erwerbsle-
ben nur eine Ausnahme bleibt.

Die CDU/CSU lehnt den Antrag der Fraktion Die
Linke ab.

Ich würde Sie, meine Damen und Herren, bitten, un-
serem Gesetzentwurf zuzustimmen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720103800

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der

Kollege Peter Tauber, auch für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Peter Tauber (CDU):
Rede ID: ID1720103900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir schreiben
heute eine Erfolgsgeschichte fort, bei der wir – das kann
man ganz offen sagen – nicht die Urheberschaft haben.
Die Urheberschaft haben Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen von SPD und Grünen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Vor diesem Hintergrund ist es schon bezeichnend, auf
welche Art und Weise Sie ein Instrument, von dem Mil-
lionen Menschen in diesem Land profitieren, selbst in-
frage stellen. Das zeugt von einem Selbstverständnis
– damit müssen Sie am Ende des Tages klarkommen –,
das sich für mich nur sehr schwer erschließt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Mechthild Rawert [SPD]: Wir kommen damit moralisch klar!)


Wenn wir uns die Situation der Minijobber in diesem
Land anschauen, dann müssen wir – da haben Sie recht –
auch auf die Bereiche schauen, wo es Probleme gibt, wo
Erwerbsbiografien entstehen, die uns nicht kalt lassen
können, weil sie im Zweifel zu Altersarmut führen kön-
nen, wo es vor allem um die Frauen geht und um die
Frage: Gelingt es, aus einem Minijob heraus oder im An-
schluss an einen Minijob


(Elke Ferner [SPD]: Was sagt denn die Studie von Frau Schröder dazu? Haben Sie sich die einmal angeguckt?)


in ein vollwertiges sozialversicherungspflichtiges Be-
schäftigungsverhältnis zu wechseln?

Zur Wahrheit gehört es aber auch, zu sagen, dass die
Legende, die Sie hier stricken, dass wir eine Ausweitung
der Minijobs wollen, nichts anderes ist als eine Legende.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wir wollen lediglich die Rahmenbedingungen für die
Minijobber, die es gibt, verbessern. Sie wollen es ihnen
dagegen verwehren, an der Lohnentwicklung der letzten
Jahre und am wirtschaftlichen Aufschwung zu partizi-
pieren, indem Sie die Minijobber in dem 400-Euro-Getto
festmauern wollen. Wir wollen, dass sie mehr bekom-
men können, und zwar 450 Euro. Das haben die meisten
Minijobber auch verdient. Sie müssen sich dann der
Frage stellen: Was antworten Sie den Minijobbern, wenn
sie fragen, warum sie weiterhin 400 Euro und nicht
450 Euro bekommen sollen? Darauf bin ich sehr ge-
spannt.


(Zurufe der Abg. Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Dass die Rede von der Ausweitung eine Legende ist,
weil Sie damit unterstellen, dass es zulasten der sozial-
versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse
geht, belegen schon die Zahlen. Während die Zahl der
Minijobber seit Einführung nur leicht gestiegen ist, zwi-
schenzeitlich sogar im ersten Quartal dieses Jahres rück-
läufig war, wächst die Zahl der sozialversicherungs-
pflichtigen Jobs in diesem Land überproportional. Wir
haben bei den sozialversicherungspflichtigen Beschäfti-
gungsverhältnissen einen Anstieg um 9 Prozent. Das
sind 2,4 Millionen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ehe Sie unterstellen, dass Minijobs dies verhinderten,
sollten Sie lieber etwas Mathematik machen und sich nur
diese Statistik anschauen. Dann werden Sie ein bisschen
schlauer.


(Elke Ferner [SPD]: Eine Milchbubenrechnung ist das, was Sie gerade aufmachen!)


– Schade, dass ich diesen Zwischenruf nicht verstanden
habe, Frau Kollegin.


(Elke Ferner [SPD]: Eine Milchbubenrechnung ist das!)


Ich werde das mit großem Interesse im Protokoll nachle-
sen. Vielleicht stellen Sie das nächste Mal eine Zwi-
schenfrage.

Wir müssen also mit dieser Legende aufräumen. Wir
dürfen dabei die Probleme – das gestehe ich Ihnen zu –
natürlich nicht aus dem Blick verlieren. Wir müssen aber
auch die Fortschritte klar benennen. Das haben die Kol-
leginnen und Kollegen, die hier gesprochen haben, ein-
drucksvoll getan. Die Regelung, die wir jetzt bei der
Rentenversicherung treffen wollen, ist ein solcher Fort-
schritt mit den beschriebenen Effekten.

Einen Punkt muss man noch etwas näher benennen,
weil er in der Debatte viel zu kurz kam: der Erfolg im
Kampf gegen die Schwarzarbeit.





Dr. Peter Tauber


(A) (C)



(D)(B)



(Elke Ferner [SPD]: Schauen Sie doch einmal in die Studie von Frau Schröder! Das stimmt nicht, was Sie da erzählen!)


Das betrifft gerade den Bereich der häuslichen Beschäf-
tigungsverhältnisse. Schauen Sie sich doch die Wirklich-
keit an. Es mag nicht in Ihr vorgeprägtes Weltbild pas-
sen,


(Elke Ferner [SPD]: Das steht in der Studie Ihrer eigenen Regierung!)


aber meistens ist die Wirklichkeit nicht so, wie man sie
sich wünscht.

Schauen Sie sich doch an, wie viele 400-Euro-Jobs im
Haushaltsbereich entstanden sind.


(Elke Ferner [SPD]: 220 000! – Zurufe der Abg. Anette Kramme [SPD])


Diese Tätigkeiten wurden früher in Schwarzarbeit aus-
geübt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Darüber muss man reden. Es ist ein großer Erfolg, dass
uns dies gelungen ist, und es ist wichtig, dass es diese
Möglichkeiten gibt.

Werfen wir einen Blick auf diejenigen, die einen Mi-
nijob haben. Allein in meinem Wahlkreis sind das
32 000 Menschen, davon 7 000 junge Menschen, die ei-
nen Minijob neben ihrem Studium, neben der Schule
oder vielleicht sogar neben der Berufsausbildung aus-
üben. Diese jungen Menschen sagen möglicherweise:
Das Ganze ist für mich eine tolle Chance, andere Berei-
che des Arbeitslebens kennenzulernen. Das sind immer-
hin 400 Euro, um die ich nicht Mama und Papa bitten
muss, sondern über die ich frei verfügen kann. – Das ist
für junge Menschen viel Geld.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Insofern muss man festhalten: Es ist gut, dass es diese
Jobs für junge Leute gibt, weil sie auf diese Weise ler-
nen, wie unsere Arbeitswelt funktioniert, weil sie sich
ausprobieren können,


(Elke Ferner [SPD]: Weil sie sich ausbeuten lassen können!)


weil sie unterschiedliche Bereiche des Arbeitslebens
kennenlernen, weil sie auch die Belastungen kennenler-
nen, denen man sich im Arbeitsleben stellen muss.

Wenn Sie das gleich als Ausbeutung definieren, dann
haben Sie eines nicht verstanden: Es gibt viele Men-
schen, die gerne arbeiten und nicht nur deshalb neben ei-
nem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsver-
hältnis zusätzlich einen Minijob ausüben, weil es mit
dem Gehalt nicht reicht. Das mag es auch geben.


(Elke Ferner [SPD]: Das ist die Regel!)


– Das ist nicht die Regel. – Die Frage lautet aber: Was
machen Sie mit diesen Menschen, wenn Sie ihnen den
400-Euro-Job wegnehmen? Es gibt sehr viele Menschen,
die sagen: Ich arbeite gerne, ich möchte gerne zusätzlich
in einem anderen Bereich arbeiten, und deshalb mache
ich neben meinem Job noch einen Minijob. Es gibt bei-
des. Es gehört zur Ehrlichkeit dazu, dass Sie endlich auf-

hören, nur ein einseitiges Bild der Minijobber in diesem
Land zu zeichnen.

Dasselbe gilt übrigens auch für die Älteren. Natürlich
gibt es auch die dramatischen Fälle, in denen die Rente
nicht ausreicht und die Menschen gezwungen sind, mit
einem 400-Euro-Job noch etwas hinzuzuverdienen. Es
gibt jedoch sehr viele Rentnerinnen und Rentner, die so
rüstig sind, dass sie noch etwas tun wollen und zum Bei-
spiel mit einem 400-Euro-Job in ihrer alten Firma wei-
terarbeiten.

Unsere Aufgabe ist es, diese Bandbreite abzudecken.
Hierum geht es, wenn wir diesen Gesetzentwurf disku-
tieren. Man darf nicht pauschal sagen: Das taugt alles
nichts, hier ist damals nicht ordentlich gearbeitet wor-
den, wir krempeln das jetzt um. Das wäre der völlig fal-
sche Ansatz bei diesem Thema.

Lassen Sie mich zum Schluss noch Folgendes sagen:
Wir hören, dass quer durch alle Fraktionen Praktikanten
und Mitarbeiter auf 400-Euro-Basis beschäftigt werden.
Das sind wohl eher junge Menschen, die neben dem Stu-
dium in einer Bundestagsfraktion arbeiten oder dort ein
Praktikum machen und davon profitieren. Das ist ja auch
in Ordnung. Das ist übrigens gängige Praxis in allen
Fraktionen. Es ist nun extrem unredlich von Ihnen, den
Kollegen von der FDP zu unterstellen, sie würden nach
anderen Maßstäben verfahren, als wir das alle gemein-
sam tun.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Elke Ferner [SPD]: Das tun die doch ständig!)


Umgekehrt müssen Sie sich die Frage gefallen lassen,
ob Sie bei Ihren Praktikanten oder Mitarbeitern, die Sie
auf 400-Euro-Basis beschäftigen, auch die Arbeitszeiten
einhalten.


(Elke Ferner [SPD]: Ja! Doch!)

Ich behaupte, nein.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Elke Ferner [SPD]: Das ist eine Lüge, die Sie da aufstellen!)


Diese Leute werden nämlich viel länger im Büro sitzen.
Den gegenteiligen Nachweis müssen Sie erbringen,
wenn Sie den Kollegen von der FDP entsprechende Vor-
würfe machen. Sie müssen sich an denselben Maßstäben
messen lassen, die Sie an andere anlegen.


(Elke Ferner [SPD]: Ich habe damit überhaupt keine Probleme! Im Gegensatz zu Ihnen!)


Das ist die Wahrheit.
Als Letztes gebe ich Ihnen Folgendes mit auf den

Weg: Wenn wir das nächste Mal über Minijobs diskutie-
ren, dann lassen Sie sich Ihre Reden besser von Ihren
Minijobbern schreiben; dabei kommt mehr rum, als
wenn Sie es machen.


(Elke Ferner [SPD]: Und Sie halten Ihre Reden am besten gar nicht!)


Danke.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zurufe von der SPD)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720104000

Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den

Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ge-
setzentwurf zu Änderungen im Bereich der geringfügi-
gen Beschäftigung.

Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt un-
ter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/11174, den Gesetzentwurf der Fraktionen der
CDU/CSU und FDP auf der Drucksache 17/10773 in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Damit ist der Gesetzentwurf in zwei-
ter Beratung angenommen.

Wir kommen nun zur
dritten Beratung

und Schlussabstimmung. Wir stimmen dabei über den
Gesetzentwurf auf Verlangen der Fraktion der SPD na-
mentlich ab. Bei der Stimmabgabe bitte ich alle Kolle-
ginnen und Kollegen sorgfältig darauf zu achten, dass
die Stimmkarten, die sie verwenden, auch Ihren Namen
tragen. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer,
die vorgesehenen Plätze einzunehmen.

Bevor ich die Abstimmung eröffne, weise ich darauf
hin, dass mir drei Erklärungen zur Abstimmung vorlie-
gen. Falls es noch weitere geben sollte, fügen wir sie wie
üblich dem Protokoll bei.

Sind alle Abstimmungsplätze von jeweils zwei
Schriftführern besetzt? – Dort ist das der Fall. Links
auch? – Dann eröffne ich die Abstimmung.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720104100

Ich stelle die obligate Frage: Haben alle anwesenden

Mitglieder an der Abstimmung teilgenommen? – Aha,
da kommt noch jemand.

Ich glaube, jetzt haben alle an der Abstimmung teilge-
nommen. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte
die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Aus-
zählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung
wird Ihnen später bekannt gegeben.1)

Wir setzen jetzt die Abstimmungen fort. Zunächst zur
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und
Soziales zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem
Titel „Minijobs mit sozialversicherungspflichtiger Ar-
beit gleichstellen“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buch-
stabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/11174, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/7386 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung?


(Unruhe)

– Ich bitte darum, sich an der Abstimmung zu beteiligen.
Wie ist es bei der CDU/CSU? Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung?


(Zurufe von der CDU/CSU: Alle!)


Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU und
FDP gegen die Stimmen von SPD und Linken bei Ent-
haltung der Grünen angenommen.

Ich rufe die Zusatzpunkte 3 a bis 3 c auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl
Lauterbach, Elke Ferner, Bärbel Bas, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Praxisgebühr sofort abschaffen
– Drucksache 17/11192 –

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Weinberg, Dr. Martina Bunge, Diana Golze, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Praxisgebühr jetzt abschaffen
– Drucksache 17/11141 –

c) Beratung des Antrags der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Praxisgebühr und Zusatzbeiträge jetzt ab-
schaffen
– Drucksache 17/11179 –

Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen verlangt, über
ihren Antrag in der Sache namentlich abzustimmen.
Diese namentliche Abstimmung werden wir aber nur
durchführen, wenn nicht, wie von den Koalitionsfraktio-
nen beantragt, zuvor die Ausschussüberweisung be-
schlossen wird.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das beschlos-
sen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile Karl
Lauterbach für die SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Karl Lauterbach (SPD):
Rede ID: ID1720104200

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und

Kollegen! Die Praxisgebühr wurde in der Großen Koali-
tion eingeführt. Mit ihr waren damals drei Hoffnungen
verbunden: Wir wollten damals die Anzahl überflüssiger
Arztbesuche reduzieren, wir wollten die Anzahl unnöti-
ger Facharztbesuche ohne vorherigen Hausarztbesuch re-
duzieren, und wir wollten mehr Kostenbewusstsein bei
den Patienten säen.

Der Erfinder der Praxisgebühr ist heute nicht bei uns;
er verantwortet sich in München. Das ist Horst Seehofer
gewesen. Ich erlaube hier ausdrücklich dem ZDF die Be-
richterstattung über diesen Punkt.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Thomas Oppermann [SPD]: Das darf gesendet werden! – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/ CSU]: Sie sind ja ein Scherzkeks!)


Horst Seehofer hat damals im Vermittlungsausschuss
– ich sage dies deshalb, weil man das selten hört – darum 1) Ergebnis Seite 24254 A





Dr. Karl Lauterbach


(A) (C)



(D)(B)


gebeten, dass die Praxisgebühr eingeführt wird. Er war
damals in einem regelrechten Zuzahlungsrausch und for-
derte, die Praxisgebühr bei jedem Arztbesuch zu erhe-
ben. Wir haben damals als SPD verhindern können, dass
die Praxisgebühr bei jedem Arztbesuch gezahlt werden
muss. Wir haben – so sage ich es einmal – das
Schlimmste verhindert. Aber der Erfinder der Praxisge-
bühr – Unehre, wem Unehre gebührt – war Horst
Seehofer.


(Beifall bei der SPD)


Unsere damaligen Bedenken haben sich bestätigt: Die
Zahl der Arztbesuche ist gestiegen, sie ist nicht zurück-
gegangen. Auch die Zahl unnötiger Facharztbesuche
ohne steuernde Wirkung hat zugenommen. Das Kosten-
bewusstsein bei den Patienten ist nicht besser geworden.
Wir haben mehr Bürokratie in den Praxen; die Ärzte leh-
nen daher die Praxisgebühr zu Recht ab. Alte und
Kranke fühlen sich diskriminiert. Sie fragen sich: Wes-
halb müssen wir dieses Sonderopfer erbringen, während
die Krankenkassen fast 30 Milliarden Euro Überschuss
erwirtschaften?

Die Praxisgebühr gehört somit abgeschafft; das ist
eine richtige Entscheidung. Dies bleibt auch dann eine
richtige Entscheidung, wenn sich die FDP dafür einsetzt.
Nicht alles, was die FDP für richtig hält, ist automatisch
falsch.


(Lachen des Abg. Heinz Lanfermann [FDP])


Hier sind wir mit der FDP in einem Boot. Die Praxisge-
bühr muss ersatzlos gestrichen werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Unsere Sorge ist – ich will es gleich auf den Punkt
bringen –, dass die unstrittig unsinnige Praxisgebühr
durch ein noch unsinnigeres Betreuungsgeld ersetzt
wird. Das ist unsere Sorge. Wir wissen alle: Es ist ein
Kuhhandel in Vorbereitung, der als solcher noch ver-
deckt werden soll. Das gelingt aber, ehrlich gesagt, recht
schlecht. Die Praxisgebühr, die aus Perspektive der FDP
unsinnig ist, soll gegen die Einführung des Betreuungs-
geldes eingetauscht werden, das aus Sicht der FDP eben-
falls unsinnig ist. Der Vizekanzler und FDP-Vorsitzende
Rösler trug vor, das Betreuungsgeld koste viel Geld, sei
nicht gegenfinanziert und eine Bildungskomponente
fehle völlig. Da muss man sagen: Chapeau, Herr Rösler!
Damit haben Sie es auf den Punkt gebracht. Dann ist es
aber völlig unklar, weshalb Herr Brüderle darauf hin-
weist, dass das unsinnige Betreuungsgeld jetzt einge-
führt werden soll.

Der Eindruck, der sich hier aufdrängt, ist: Die Praxis-
gebühr schadet in erster Linie Alten und Kranken; sie
soll jetzt durch ein Betreuungsgeld ersetzt werden, wel-
ches in erster Linie Kindern schadet. Ich sage: Das ist
der Tiefpunkt des schwarz-gelben Regierungshand-
werks, wenn man hier noch von „Handwerk“ zu spre-
chen wagt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Hier wird Murks gegen Murks getauscht. Seien wir doch
ehrlich: Hier wird ein Murks zugelassen, damit ein ande-
rer Murks abgeschafft werden kann. Es wird für
Deutschland nichts erreicht. Es ist unklar, was dem Land
mehr schadet: der abgeschaffte Murks oder der neu ein-
geführte Murks. Insofern ist die Regierungskoalition
hier in einen Kuhhandel verwickelt, der zum Schluss al-
len Beteiligten schadet.

Vizekanzler Rösler wurde vom Parlamentarischen
Geschäftsführer Oppermann als „Umfaller“ bezeichnet.
Ich muss sagen: Besser kann man es nicht ausdrücken;
es ist tatsächlich so. Vizekanzler Rösler hat sich selbst
früher einmal als „Bambus im Sturm“ bezeichnet. Wenn
ich ehrlich sein soll: Er erinnert heute eher an einen ein-
geknickten Strohhalm als an einen Bambus im Sturm.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben der FDP und auch der Union heute ein fai-
res Angebot zu machen. Das faire Angebot ist Folgen-
des: Wir haben unseren Antrag modifiziert. Wir verzich-
ten auf jedes Beiwerk. Mit unserem heutigen Antrag gibt
es die Abschaffung der Praxisgebühr pur, ohne jedes
Beiwerk, keine anderen Inhalte.


(Gisela Piltz [FDP]: Keine Inhalte! Das kennen wir von Ihnen!)


Das heißt: Wenn es die FDP ehrlich meint, dann kann sie
heute mit uns abstimmen. Ein Kuhhandel ist bei uns
nicht nötig. Bei uns bekommen Sie die sinnvolle Ab-
schaffung der Praxisgebühr, ohne dass Sie dafür einem
anderen Unsinn zustimmen müssen.

Die Bundeskanzlerin, die gerade gekommen ist, er-
weckt den Eindruck, als ob sie dies alles nichts angehe.
Tatsache ist aber, dass der Murks, der hier getauscht
wird, zum Schluss auch in ihrer Verantwortung liegt. Da-
her ist es nicht unwichtig, was wir hier beschließen. Die
wichtigen Entscheidungen, die im Ausland für unser
Land zu treffen sind, ersetzen kein aktives Regierungs-
handeln, das unsere Kinder und die alten und kranken
Menschen im Land betrifft. Daher möchte ich appellie-
ren, diese Debatte ernst genug zu nehmen.

Wir bringen heute unseren Antrag ein, mit dem die
Praxisgebühr abgeschafft werden kann, ohne dass sich
jemand verbiegen muss, ohne Kuhhandel. Es ist eine
ehrliche Abschaffung. Meine sehr verehrten Kollegen
von der FDP, hier können Sie einmal Ehrlichkeit und
Rückgrat zeigen.


(Beifall bei der SPD)


Sie können zeigen, dass Sie nicht nur Taktiker und Strate-
gen sind, dass Sie es ernst meinen, dass Sie nicht zum Ver-
druss beitragen. Denn genau diese Kuhhandel, die zulas-
ten der Menschen gehen, führen zu Politikverdrossenheit.
Das ist der Grund, weshalb Sie in Umfragen bei 3 Prozent
liegen und die Union in keiner Großstadt mehr ernst ge-
nommen wird und keine Wahl mehr gewinnen kann.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720104300

Liebe Kolleginnen und Kollegen, zwischendurch

gebe ich das von den Schriftführerinnen und Schriftfüh-
rern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstim-
mung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und

FDP eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu Ände-
rungen im Bereich der geringfügigen Beschäftigung
bekannt: abgegebene Stimmen 583. Mit Ja haben ge-
stimmt 315, mit Nein haben gestimmt 268, Enthaltungen
keine. Der Gesetzentwurf ist damit angenommen.

Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 580;
davon

ja: 314
nein: 266

Ja

CDU/CSU

Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Manfred Behrens (Börde)

Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen


(Bönstrup)

Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer (Hamburg)


(Karlsruhe Land)

Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich


(Hof)

Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Ingo Gädechens
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Thomas Gebhart

Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung (Konstanz)

Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster

(Villingen Schwenningen)

Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer

Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers


(Heidelberg)

Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer (Altötting)

Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Maria Michalk
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller (Erlangen)

Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann (Bremen)

Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche (Potsdam)

Lothar Riebsamen
Josef Rief

Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht (Weiden)

Anita Schäfer (Saalstadt)

Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt (Fürth)

Patrick Schnieder
Nadine Schön (St. Wendel)

Dr. Kristina Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer

(Weil am Rhein)

Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl (Heilbronn)

Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel (Kleinsaara)

Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg (Hamburg)

Peter Weiß (Emmendingen)

Sabine Weiss (Wesel I)

Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Elisabeth Winkelmeier-
Becker

Dagmar G. Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew

FDP

Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine Aschenberg-

Dugnus
Daniel Bahr (Münster)

Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Hans-Werner Ehrenberg
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Joachim Günther (Plauen)

Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth (Kyffhäuser)

Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine Leutheusser-

Schnarrenberger
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner (Berlin)

Michael Link (Heilbronn)

Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller (Aachen)

Burkhardt Müller-Sönksen

Dr. Martin Neumann

(Lausitz)


Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto


(Frankfurt)

Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Manfred Todtenhausen
Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel


(Lüdenscheid)

Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)


Nein

SPD

Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding (Heidelberg)

Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann


(Hildesheim)

Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Elvira Drobinski-Weiß
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher

Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf (Rosenheim)

Gabriele Groneberg
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann


(Wackernheim)

Hubertus Heil (Peine)

Wolfgang Hellmich
Rolf Hempelmann
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz (Essen)

Frank Hofmann (Volkach)

Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe (Leipzig)

Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)

Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel (Berlin)

Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Dietmar Nietan
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix

René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth (Esslingen)

Michael Roth (Heringen)

Marlene Rupprecht


(Tuchenbach)

Annette Sawade
Anton Schaaf
Axel Schäfer (Bochum)

Bernd Scheelen
Marianne Schieder


(Schwandorf)

Werner Schieder (Weiden)

Ulla Schmidt (Aachen)

Carsten Schneider (Erfurt)

Swen Schulz (Spandau)

Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff


(Wolmirstedt)

Uta Zapf
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries

DIE LINKE

Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jan Korte
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Petra Pau
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Paul Schäfer (Köln)


Michael Schlecht
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Jörn Wunderlich

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Kerstin Andreae
Marieluise Beck (Bremen)

Volker Beck (Köln)

Cornelia Behm
Birgitt Bender
Agnes Brugger
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner

Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz (Herborn)

Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Stephan Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth (Quedlinburg)

Monika Lazar
Dr. Tobias Lindner

Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller (Köln)

Beate Müller-Gemmeke
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann E. Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth (Augsburg)

Krista Sager
Manuel Sarrazin
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Ulrich Schneider
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang Strengmann-

Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Arfst Wagner (Schleswig)

Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms

Wir fahren in der Diskussion zum jetzigen Tagesord-
nungspunkt fort. Ich erteile Johannes Singhammer für
die CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1720104400

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Herr Lauterbach, Ihnen von der Opposition geht es
nicht um die Praxisgebühr. Es geht Ihnen auch nicht um
die Sorgen der Patientinnen und Patienten.


(Widerspruch bei Abgeordneten der SPD)


Ihnen geht es um ein schräges, taktisches Spielchen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Sie hoffen und glauben, dass Sie mit Ihrem Antrag die
Koalition in Bedrängnis bringen könnten.


(Elke Ferner [SPD]: So einen Antrag schaffen Sie von ganz alleine!)


Lassen Sie mich eines sagen: Ihr schiefer Winkelzug
ist zum Misserfolg verdammt. Warum? Weil er den Cha-
rakter einer unfreiwilligen Vorlage hat.


(Elke Ferner [SPD]: Was? – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Zur Sache!)


Sie können über die Abschaffung der Praxisgebühr und
die Verringerung der Überschüsse der gesetzlichen
Krankenversicherung nur sprechen, weil wir die histo-
risch einmalige Situation von gefüllten Kassen im Ge-
sundheitsfonds und bei den Krankenkassen haben.


(Elke Ferner [SPD]: Über 12 Milliarden nur aus Beitragsanhebungen!)


Dieses historisch Einmalige, das hat diese Koalition ge-
schafft, weil wir die richtigen Rahmenbedingungen ge-
setzt und eisenharte Sparmaßnahmen verfügt haben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Lachen der Abg. Elke Ferner [SPD])


Das war nicht planlos, sondern planvoll.


(Thomas Oppermann [SPD]: Waren Sie ein paar Jahre im Ausland?)


Im vergangenen Jahr sind allein bei den Arzneimitteln
1,1 Milliarden Euro eingespart worden. Das ist der
Grund für die jetzige komfortable Situation. Viele erin-
nern sich noch: Vor nicht weniger als zwei Jahren haben
wir diskutiert: Wie können wir das sich abzeichnende
Defizit von 11 Milliarden Euro vermeiden? Wie können
wir das schwarze Loch im Bereich Finanzen beseitigen?
Heute führen wir eine Diskussion, die im Deutschen
Bundestag in den vergangenen Jahrzehnten so noch
nicht geführt worden ist: Wie gehen wir mit Überschüs-
sen im Fonds, mit Reserven bei den Kassen um? Was
soll mit diesen Überschüssen geschehen?


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil Sie den Beitragssatz großzügig angehoben haben! Das ist doch ganz klar!)


Eine solche Diskussion ist für uns komfortabel, sie ist
angenehm, und wir werden dafür sorgen, dass uns die
Überschüsse nicht zerrinnen, sondern dass der Aspekt
der Sicherheit bei der gesetzlichen Krankenversicherung
gewahrt wird.





Johannes Singhammer


(A) (C)



(D)(B)


Zur Praxisgebühr. Sie ist natürlich auch zum Zweck
der Einnahmegewinnung eingeführt worden. In den ver-
gangenen Jahren – darauf hat der Kollege Zöller immer
wieder hingewiesen – hat die Praxisgebühr 16 Milliar-
den Euro eingebracht.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: In einem Jahr? Niemals! – Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Niemals! – Elke Ferner [SPD]: Die Zahlen sollten Sie noch einmal überprüfen, Herr Singhammer! – Gegenruf des Abg. Jens Spahn [CDU/CSU]: In acht Jahren! – Gegenruf der Abg. Elke Ferner [SPD]: Das hat er aber nicht dazu gesagt! – Gegenruf des Abg. Heinz Lanfermann [FDP]: Sie wissen doch noch, wann sie eingeführt worden ist!)


– Frau Ferner, Sie kommen mir gerade recht. Sie haben
Ihren Antrag ursprünglich überschrieben mit: „Hausärz-
tinnen und Hausärzte stärken“. So haben Sie Ihren An-
trag ursprünglich genannt.


(Mechthild Rawert [SPD]: Toller Titel! Sehr gut!)


Nun haben Sie ihn wieder beseitigt. Das ist auch gut
so.


(Mechthild Rawert [SPD]: Genau!)


Denn die Praxisgebühr hat insbesondere bei den soge-
nannten Hausarztverträgen zu einer Steuerungswirkung
geführt. Viele Hausarztverträge sind deshalb angestrebt
worden und haben sich deshalb als attraktiv erwiesen,
weil ein Bestandteil vieler dieser Verträge war, dass die
Praxisgebühr in diesem Komplettpaket nicht mehr ent-
halten ist. Wenn jetzt die Praxisgebühr abgeschafft wird,
dann bedeutet das eine massive Verringerung der Attrak-
tivität von Hausarztverträgen. Insofern ist es richtig, dass
Sie Ihren ursprünglichen Antragstext leicht verändert ha-
ben. Ich kann Ihnen nur sagen: Machen Sie weiter so!

Ich darf daran erinnern – Sie haben das so beiläufig
erwähnt –: Die Praxisgebühr ist in der Zeit der rot-grü-
nen Koalition beschlossen worden,


(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Genau!)


mit Zustimmung der Union. Ja, so war es.


(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auf Betreiben der Union!)


2009 – auch das kann ich Ihnen nicht ersparen – hat die
frühere Gesundheitsministerin Ulla Schmidt – nicht
2004, sondern 2009 – erklärt: Im Gegensatz zu Ländern,
wo Patienten bei jedem Arztbesuch zuzahlen müssen, sei
die Praxisgebühr moderat und sozial ausgewogen. Sie
sagte: „Wir planen keine Erhöhung, aber auch keine
Rücknahme.“ Das war vor drei Jahren. Ich stelle fest:
Die politische Halbwertszeit von derartigen Bekundun-
gen beträgt bei den Sozialdemokraten genau drei Jahre.


(Elke Ferner [SPD]: Wollen wir einmal sehen, wie lange Ihre dauert!)


Was machen Sie nach der Bundestagswahl als Nächs-
tes? Wie werden Sie Ihre Meinung wieder geändert ha-
ben?


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich sage Ihnen: Wichtiger als all diese Diskussionen
ist für die Patientinnen und Patienten, dass sie jederzeit
und überall in unserem Land eine qualitätsvolle gesund-
heitliche Versorgung erhalten.


(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Das ist doch trivial! Allgemeinplätze!)


Das interessiert die Menschen draußen. Sie wollen, dass
es in der Stadt und auf dem Land gleichermaßen eine
qualitativ gute Versorgung gibt.


(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Wer will das nicht?)


Deshalb fördern wir die Struktur der Gesundheitsversor-
gung gleichmäßig und bewerten auch die Gesundheits-
versorgung als eine Strukturleistung.


(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Fangen Sie doch damit an!)


Das wird auch künftig nicht ohne Mehrausgaben zu
bewältigen sein. Wir haben mit Maßnahmen zur Steige-
rung der Attraktivität des ländlichen Raumes begonnen,
damit sich mehr Ärzte im ländlichen Raum niederlassen.
Mit 120 Millionen Euro wollen wir die Feiertags- und
Notdienste der Apotheken im ländlichen Raum honorie-
ren. Damit stärken wir die Struktur in den ländlichen Re-
gionen. Wir werden die Strukturleistung, die das Ge-
sundheitswesen darstellt, weiterhin unterstützen. Denn
der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur und des schnellen
Internets im ländlichen Raum kann keine positive Wir-
kung entfalten, wenn in den ländlichen Regionen keine
ausreichende qualitätsvolle Gesundheitsversorgung vor-
handen ist. Dann werden alle anderen Strukturmaßnah-
men nichts nützen. Deshalb nehmen wir nochmals Geld
in die Hand. Deshalb setzen wir hier einen Schwerpunkt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Heinz Lanfermann [FDP])


Darum sage ich Ihnen: Lasst uns darüber diskutieren.
Lasst uns den Menschen die Sicherheit geben, dass die
Versorgung auch weiterhin garantiert ist, und lasst uns
nicht mit schrägen taktischen Spielchen, die erkennbar
und durchschaubar sind, die Menschen verunsichern.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Fasst euch mal an eure Nase!)


Wir machen eine nachhaltige Gesundheitspolitik auf ei-
ner gesicherten finanziellen Basis. Diese Politik wird die
Koalition in den verbleibenden Monaten dieser Legis-
laturperiode und in der nächsten Legislaturperiode fort-
setzen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Mechthild Rawert [SPD]: Der Wunschzettel wird noch geschrieben zu Weihnachten!)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720104500

Das Wort hat nun Dietmar Bartsch für die Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720104600

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol-

lege Singhammer, mich hat gewundert, dass Sie allen
hier unterstellen, dass es ihnen nur um Taktik geht. Was
glauben Sie eigentlich, was die Leute, die uns hier zu-
hören, denken? Einigen von ihnen, die heute noch die
Praxisgebühr zahlen müssen, fällt es vielleicht wirklich
schwer, sie zu bezahlen.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: 52 Prozent sind befreit! Reden Sie doch nicht so einen Schwachsinn!)


Lassen Sie uns doch einmal über die Sache sprechen,
darüber, worum es hier geht, über die Anträge der Oppo-
sition. Lassen Sie uns beleuchten, ob die Abschaffung
der Praxisgebühr machbar ist oder ob das nicht machbar
ist. Die Linke hat schon vor längerer Zeit einen solchen
Antrag gestellt.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Richtig!)


Sie haben im Ausschuss verhindert, dass dieser Antrag
auf die Tagesordnung gekommen ist.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Genau so ist es!)


In diesem Sinne: Lieber Karl Lauterbach, die Linke hat
damals ein ehrliches Angebot unterbreitet, dem die SPD
hätte zustimmen können.


(Beifall bei der LINKEN)


Eines ist doch ganz klar: Die Praxisgebühr ist unso-
zial, die Praxisgebühr ist überflüssig, und die Praxisge-
bühr gefährdet letztlich die Gesundheit. Wir haben schon
bei der Einführung gesagt, dass wir dagegen sind. Seit
langem versuchen wir, die Praxisgebühr abzuschaffen.
Jetzt gibt es einen großen Wettlauf: Die Grünen sind für
die Abschaffung. Die Sozialdemokraten sind für die Ab-
schaffung. Heute habe ich gelesen, dass das rot-grüne
Nordrhein-Westfalen die Abschaffung im Bundesrat be-
antragen will. Die FDP ist für die Abschaffung der
Praxisgebühr. Selbst bei der Union gibt es viele, die die
Praxisgebühr abschaffen wollen. Eigentlich könnten wir
heute ruhig abstimmen und die Praxisgebühr schlicht ab-
schaffen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Schauen Sie, es ist doch so: Auf der Gesundheitsmi-
nisterkonferenz haben sich elf Länder dafür ausgespro-
chen, dass die Praxisgebühr abgeschafft wird. Das
schwarz-gelb regierte Hessen ist dafür. Das zeigt doch
ganz klar: Das sollten wir machen. Warum machen wir
das nicht? Aus einem Grund: Im Koalitionsausschuss
– da wird wie auf einem Basar oder bei einem Kuhhan-

del verhandelt – steht die Praxisgebühr mit auf der Ta-
gesordnung. Das kann doch wohl nicht wahr sein! Wie
wollen Sie den Menschen erklären, dass das die Politik
hier im Bundestag ist?


(Beifall bei der LINKEN)


Ich will aber auch daran erinnern – das ist schon ge-
sagt worden; das sollten wir alle nicht vergessen –, wann
die Praxisgebühr eingeführt worden ist. Das war 2004.
Das hat Rot-Grün im Rahmen des GKV-Modernisie-
rungsgesetzes gemacht, mit Zustimmung der CDU/CSU.
Das war im Rahmen der Agenda 2010. Es ging darum,
die Lohnnebenkosten zu senken, die Krankenversiche-
rungsbeiträge zu senken und eine Steuerungswirkung zu
entfalten. Die Praxisgebühr war Teil eines Pakets.

Ich will den Anlass nutzen, um zu sagen, was alles
damals von Rot-Grün beschlossen worden ist. Es wur-
den ja nicht nur die 10 Euro pro Quartal beschlossen. Es
wurden eine Zuzahlung von 10 Prozent zu Arznei- und
Hilfsmitteln und bei einem Krankenhausaufenthalt an
den ersten 28 Tagen 10 Euro pro Tag beschlossen. Es ist
beschlossen worden, dass die Kosten für nicht verschrei-
bungspflichtige Arzneimittel und die Fahrtkosten zur
ambulanten Behandlung komplett von den Patientinnen
und Patienten getragen werden müssen. Das Entbin-
dungs- und das Sterbegeld sind gestrichen worden. Die
Belastungsobergrenze für Zuzahlungen ist auf 2 Prozent
des jährlichen Bruttoeinkommens erhöht worden. Das
alles ist damals von Rot-Grün im Rahmen der Agenda
2010 zulasten der Patientinnen und Patienten beschlos-
sen worden.

Die Praxisgebühr – das ist sonnenklar; ich glaube, da
gibt es Konsens hier im Haus – hat ihre Ziele nicht er-
reicht. Die Steuerungswirkung ist nicht eingetreten. Wir
können feststellen, dass es insgesamt nicht weniger
Arztbesuche gibt. Es gibt sogar mehr Arztbesuche. Aber
einige Versicherte verzichten deswegen auf Arztbesu-
che. Das sind nicht wir Bundestagsabgeordnete und an-
dere Gutverdienende. Wer verzichtet darauf? Die Ge-
ringverdienenden sowie Rentnerinnen und Rentner.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Das ist doch Quatsch!)


Der Verzicht auf Arztbesuche führt zur Verschleppung
von Krankheiten und hat negative Folgen für die Ge-
sundheit. Letztlich führt dies sogar zu Zusatzkosten. Ei-
nige Versicherte gehen oft zum Arzt, aber gerade die so-
zial Schwächeren verzichten auf Arztbesuche.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Die sind alle befreit!)


Dazu kommt der bürokratische Aufwand; das wissen
wir alle. Auch die FDP weist darauf hin. Die Bürokratie-
kosten für Arztpraxen betragen 360 Millionen Euro.
Dieses Geld steht für die Patientinnen und Patienten
letztlich nicht zur Verfügung. Die zusätzlichen Einnah-
men betragen nicht 8 Milliarden Euro. Es sind nicht
einmal 2 Milliarden Euro pro Jahr. Wenn man diese Ein-
nahmen einmal in Relation zu den Einnahmen des Ge-
sundheitsfonds betrachtet – diese liegen bei ungefähr
180, 190 Milliarden Euro –, dann sieht man, dass sie





Dr. Dietmar Bartsch


(A) (C)



(D)(B)


circa 1 Prozent der Einnahmen des Gesundheitsfonds
ausmachen. Das hat die Praxisgebühr eingebracht.

Noch einmal: Die anderen Maßnahmen haben für die
Patientinnen und Patienten insgesamt zusätzliche Belas-
tungen in Höhe von 46 Milliarden Euro gebracht. Das
Ergebnis ist – dies verkünden Sie jetzt mit großem
Stolz –: Die Krankenversicherungen haben einen Über-
schuss von über 20 Milliarden Euro. Ich finde, dass es
nicht in Ordnung ist, wenn auf der einen Seite die Kran-
kenkassen einen Überschuss von 20 Milliarden Euro ha-
ben und auf der anderen Seite die Ärmsten der Bevölke-
rung eine Praxisgebühr zahlen müssen. Das ist nicht
akzeptabel.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Wolfgang Zöller [CDU/ CSU]: Von den Ärmsten zahlt sie niemand!)


Im Übrigen gibt es auch bei den Kassen sehr wohl
differenzierte Sichtweisen. Es ist nicht so, dass alle Kas-
sen das ganz toll finden. Es ist im Übrigen auch eine
schreiende Ungerechtigkeit, dass 9 Millionen Privatver-
sicherte diese Gebühr nicht zahlen. Dies ist eine Zwei-
klassenmedizin.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Geht es noch ein bisschen plumper?)


Nun möchte ich einen Satz zur SPD sagen. Man kann
es ja nett ausdrücken, lieber Karl Lauterbach, und es eine
Weiterentwicklung von Positionen nennen und von Er-
kenntniszuwachs sprechen. Eines allerdings geht nicht:
dass sich die SPD in dieser Frage als Speerspitze der Be-
wegung geriert. Das ist sie nicht.


(Beifall bei der LINKEN)


Es gibt nämlich eine andere Fraktion, die die Abschaf-
fung der Praxisgebühr seit vielen Jahren fordert.

Ich finde es zwar gut, dass sich Ihre Position verän-
dert hat; letztlich müssen wir aber auf etwas anderes
drängen. Wir brauchen eine solidarische Bürgerversiche-
rung, damit wir diesen Bereich insgesamt verändern.
Nicht nur die Praxisgebühr muss weg. Die Beitragsbe-
messungsgrenze muss natürlich auch aufgehoben wer-
den. Wir müssen Beamte, Abgeordnete und Selbststän-
dige in das allgemeine System einzahlen lassen. Dann
werden wir dieses Problem lösen können.

Wir als Linke haben eine Studie anfertigen lassen. Die
Ergebnisse dieser Studie sind sonnenklar. Ähnliche Er-
kenntnisse gibt es auch bei den Sozialdemokraten. Ak-
tuell liegen die Beiträge bei 15,5 Prozent, nicht einmal
paritätisch zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf-
geteilt. Wir wollen eine Bürgerversicherung mit einem
Beitrag in Höhe von 10,5 Prozent, wobei beide, Ar-
beitgeber und Arbeitnehmer, 5,25 Prozent übernehmen.
Dann könnten wir alle Zuzahlungen abschaffen, wir
könnten die Praxisgebühr abschaffen, und wir könnten
das Ganze finanzieren. Das wäre der Weg; das wäre
wirklich eine große Lösung.


(Beifall bei der LINKEN)


Es ist natürlich interessant, dass auch Sie das wollen.
Wir alle wissen, dass die Privatversicherungen im Nie-
dergang sind. Das wird sich so ergeben.


(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Wir wollten die Bürgerversicherung zuerst! – Elke Ferner [SPD]: Die haben wir schon beschlossen, da gab es die Partei Die Linke noch gar nicht!)


– Nur zu, ich bin ja für die Bürgerversicherung. Sie müs-
sen mir aber eines erklären: Wenn Sie wirklich für die
Bürgerversicherung sind, dann müsste doch für Sie – an-
ders als für Ihren Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück –
die FDP ein Albtraumpartner sein; denn die wollen das
nicht.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Linke wäre der Traumpartner; denn wir wollen eine
Bürgerversicherung. Lassen Sie uns das doch gemein-
sam machen. Das wäre eine vernünftige Variante. Wir
sollten darüber nachdenken, hier einen großen Schnitt zu
machen, und nicht nur kurzfristig handeln.

Sie haben jetzt gesagt, dass Sie einen Antrag vorle-
gen, in dem Sie ausschließlich die Abschaffung der Pra-
xisgebühr fordern. Ich sage Ihnen: Wir werden Ihrem
Antrag bei allen Differenzen – die Linke verhält sich da
ein bisschen anders –, zustimmen. Die Grünen haben ei-
nen Antrag gestellt. Ich sage ganz klar: Die Fraktion Die
Linke stimmt diesem Antrag zu. Die FDP ist für die Ab-
schaffung der Praxisgebühr. Es könnte heute eine ganz
einfache Angelegenheit sein: Wir stimmen ab, und wir
schaffen die Praxisgebühr ab. Ich glaube, im Lande wür-
den sich ganz viele darüber freuen.

Ganz nebenbei: Es wäre ein Gewinn für die Demo-
kratie, wenn wir einmal außerhalb dieser Basarhandlun-
gen und außerhalb von Anrufen und Ähnlichem etwas
im Bundestag klärten, wovon die Mehrheit des Hauses
überzeugt ist. Die Mehrheit hält die Einführung der Pra-
xisgebühr für einen großen Fehler, weil alles das, was
man sich davon erwartet hat, nicht eingetroffen ist. Wir
sollten endlich eine Entscheidung treffen, die im Sinne
der Ärztinnen und Ärzte, im Sinne der Patientinnen und
Patienten, im Sinne der Krankenkassen, also im Sinne
der Mehrheit in diesem Lande ist.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720104700

Das Wort hat nun Heinz Lanfermann für die FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Heinz Lanfermann (FDP):
Rede ID: ID1720104800

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Da-

men und Herren! Wir haben hier schon eine Vielzahl von
Debatten zur Gesundheitspolitik erlebt. Mit einer ganzen
Reihe von Gesetzen haben wir die Finanzen wieder in
Ordnung gebracht. Wir haben den Arzneimittelmarkt völ-
lig neu organisiert, wir haben das GKV-Versorgungs-
strukturgesetz durchs Parlament gebracht, das insbeson-





Heinz Lanfermann


(A) (C)



(D)(B)


dere für den ländlichen Raum viele Verbesserungen
bringt. Zuletzt haben wir das Pflege-Neuausrichtungs-
Gesetz beschlossen, von dem insbesondere Menschen mit
Demenz profitieren.

Wir kümmern uns um eine Verbesserung der gesund-
heitlichen Versorgung, die schon sehr gut ist in diesem
Lande. Das, was noch verbessert werden kann, gehen
der liberale Gesundheitsminister und die Gesundheits-
politiker von CDU/CSU und FDP gemeinsam an.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Elke Ferner [SPD]: Das kann ja noch lange dauern!)


„Worum geht es heute?“, wird sich mancher Zu-
schauer fragen. Angeblich geht es um die Praxisgebühr;
doch das stimmt so nicht ganz.

Herr Kollege Lauterbach, Sie haben versucht, sich in
ein fremdes Boot zu setzen. Als Kuckucksei werden Sie
bei uns nicht unterkommen. Sie wollen gerne teilhaben
an einer Diskussion, die in den letzten anderthalb Jahren
in der Hauptsache von der FDP angestoßen wurde.


(Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Ach nein!)


Es geht darum, Ideen zu entwickeln, gute Gründe vorzu-
tragen, sich aber auch Argumente anzuhören, die dage-
gen sprechen könnten. In dieser Debatte befinden wir
uns im Übrigen noch.

Indem hier Anträge gestellt werden, die aus Versatz-
stücken früherer Anträge bestehen, wird in der Öffent-
lichkeit der Eindruck erweckt, die Opposition würde an
der Mitarbeit gehindert. Damit muss ich aufräumen. Wir
wären ganz im Gegenteil froh, wenn aus der Opposition
konstruktive Vorschläge kämen und die Debatte mit uns
wirklich geführt würde.

Die drei Anträge der einzelnen Oppositionsfraktio-
nen, die heute wieder neue Anträge gestellt haben, sind
im Plenum bereits ausführlich behandelt worden. Wie es
sich gehört – so werden wir es auch heute halten –, ha-
ben wir die Anträge an den Gesundheitsausschuss über-
wiesen. Im Ausschuss sind die Anträge auf die Tages-
ordnung gesetzt und aufgerufen worden. Über die Sache
sprechen wollten die Oppositionsfraktionen nicht. Sie
wollten, dass möglichst schnell abgestimmt wird, damit
die Anträge wieder ins Plenum gehen. So wiederholt
sich ein seltsames Schauspiel im Gesundheitsausschuss,
über das man hier durchaus einmal berichten sollte: Ich
habe im Ausschuss mehrfach den Antrag gestellt, dass
wir diskutieren, man aber bitte darauf Rücksicht nehmen
möge, dass innerhalb der Koalition eine diesbezügliche
Diskussion läuft. Wir wollen, wie es im Koalitionsver-
trag steht, prüfen, ob die Praxisgebühr sinnvoller und un-
bürokratischer erhoben werden kann. Das hängt zusam-
men mit der generellen Frage – auch das ist kein
Geheimnis –, welche Steuerungsinstrumente es denn ge-
ben könnte, die womöglich sinnvoller sind als die Pra-
xisgebühr, über die zumindest die Mehrheit der Betrach-
ter sagt, dass sie ihre Lenkungsfunktion nicht oder
jedenfalls nicht sehr gut erfüllt. Das haben Sie leider
nicht wahrgenommen. Das heißt, dieser Tagesordnungs-
punkt wird seit mehreren Sitzungswochen jedes Mal im

Ausschuss auf die Tagesordnung gesetzt und von der
Vorsitzenden aufgerufen; aber es meldet sich aus der Op-
position niemand zu Wort, um entsprechende Beiträge
vorzubringen. Das Einzige, was Sie wollen, ist, dass ab-
gestimmt wird. Wir sagen: Wir haben hier noch Bera-
tungsbedarf untereinander.


(Elke Ferner [SPD]: Sie drücken sich vor der Abstimmung!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720104900

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?


Heinz Lanfermann (FDP):
Rede ID: ID1720105000

Nein, danke. – Diese Beratung führen wir, und wir

sind kurz vor dem Ziel, zusammen eine vernünftige Lö-
sung zu erarbeiten. Das können Sie übrigens alles den
Tageszeitungen entnehmen, weil darüber auch genügend
geschrieben und gesprochen wird.

Deswegen verwahre ich mich in aller Form gegen
das, was Herr Bartsch gesagt hat. Ich bedaure übrigens,
dass weder der Kollege Weinberg noch die Kollegin
Bunge dazu reden, die sich tatsächlich schon seit länge-
rem mit diesem Thema beschäftigen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Immer dann, wenn es angeblich wichtig wird, sprechen
andere aus der Fraktion. Die Kollegin Bender hat das mit
dem Kollegen Kuhn auch erlebt. Die Stuttgarter Wähler
haben sie jetzt davon erlöst, sodass das hier nicht mehr
vorkommen wird.

Ich habe hier mit Erstaunen festgestellt, dass Sie ge-
sagt haben, wir hätten das von der Tagesordnung abge-
setzt, Herr Bartsch. Das stimmt so nicht. Es ist niemals
im Gesundheitsausschuss von der Tagesordnung abge-
setzt worden. Sie haben nur die Gelegenheit zur Diskus-
sion erst gar nicht wahrgenommen. Ich möchte Sie doch
bitten, dass Sie da bei der Wahrheit bleiben.

Meine Damen und Herren, wir haben erlebt, dass die
SPD einen Antrag gestellt hat. Herr Lauterbach hat dann
versucht, uns einzuladen. Sie haben aber in der Tat ge-
trickst. Zuerst haben Sie einen Antrag verschickt, in dem
es hauptsächlich um das Hausarztmodell ging, weil Sie
es hier wieder heimlich auf die Tagesordnung bringen
wollten. In allerletzter Minute haben Sie dann gemerkt,
dass das vielleicht nicht ganz passt. Der Kollege
Singhammer hat schon einiges dazu gesagt. Deswegen
haben Sie Ihren Antrag schnell noch abgeändert und auf
die Praxisgebühr beschränkt.

Ich sage Ihnen in aller Offenheit: Es gibt gute Gründe,
zu diskutieren. Wir haben über die Steuerungswirkung
zu sprechen. Wir haben über die Finanzwirkung zu spre-
chen. Wir haben über die Konstruktion zu sprechen. Ein
Inkasso für Dritte ist nämlich immer eine unglückliche
Konstruktion. Die Ärzte haben ja niemals die Praxisge-
bühr für sich eingetrieben, sondern das immer für die
Krankenkassen getan. Zuerst haben sie sogar noch Ver-
luste damit gemacht, weil sie hinter Geld herlaufen
mussten, was dann noch mehr Geld gekostet hat. Außer-
dem gibt es Bürokratiekosten.





Heinz Lanfermann


(A) (C)



(D)(B)


Wir haben uns bereits Gedanken darüber gemacht.
Bis hin zur Kanzlerin haben wir erreicht, dass jetzt da-
rüber nachgedacht wird. Wir stehen kurz vor einem, wie
ich glaube, erfolgreichen Ende.

Liebe Kollegen, deswegen appelliere ich an Sie: Las-
sen Sie uns das Ganze weiter im Ausschuss beraten – da,
wo es hingehört.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720105100

Das Wort hat nun Birgitt Bender für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720105200

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jetzt re-

den wir einmal nicht über Geschäftsordnung und Gedan-
ken, sondern über die Politik, die diese Regierung
macht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Nach acht Jahren Geltung der Praxisgebühr kann man
ganz nüchtern feststellen: Die Praxisgebühr ist ein büro-
kratisches Ärgernis in den Praxen und ein soziales Är-
gernis im Hinblick auf Arme und Kranke, die – Überfor-
derungsklausel hin oder her – deswegen Arztbesuche
hinausschieben. Das können wir nicht wollen. Deswegen
gibt es gute Gründe, die Praxisgebühr abzuschaffen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir stellen auch fest: Im Gesundheitsfonds ist im Mo-
ment – auch unter Beachtung der notwendigen Rückla-
gen – genügend Geld, um die Abschaffung der Praxisge-
bühr zweieinhalb Jahre lang zu finanzieren. Also spricht
eigentlich alles dafür, es zu tun.

Wir stellen nun aber fest: In der Regierung gibt es ei-
nen Kuhhandel. Die FDP hat jetzt ein Thema entdeckt,
das „Entlastung der Versicherten“ heißt. Entlastung der
Versicherten? Geht es Ihnen wirklich darum? Was dür-
fen wir denn allen Berichten entnehmen? Die FDP ist
jetzt bereit, einer schuldenfinanzierten Ausgabe von
1,5 Milliarden Euro zuzustimmen – das sogenannte Be-
treuungsgeld; der Sache nach nichts anderes als eine
Fernhalteprämie für Kinder aus der Kita; mithin 1,5 Mil-
liarden Euro Schulden dafür, dass Kinder aus armen Fa-
milien weniger Chancen auf Förderung haben, als sie in
der Kita hätten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die FDP weiß sogar, dass das so ist, und hat es auch
gesagt. Sie ist aber bereit, das dafür mitzumachen, dass
es 2 Milliarden Euro weniger bei der Praxisgebühr gibt.
Das nennen Sie Entlastung? Das ist doch lächerlich. Das
ist ein politischer Kuhhandel. Er stinkt zum Himmel.
Dafür kann man Sie in keiner Weise loben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie haben aber Gelegenheit, heute unseren Anträgen
hier zuzustimmen. In diesem Zusammenhang muss man
noch einmal sagen, worum es bei der Praxisgebühr auch
geht. Ich habe gesagt, dass im Moment im Gesundheits-
fonds genügend Geld vorhanden ist, um ihre Abschaf-
fung zu finanzieren. Dass Geld vorhanden ist, ist aber
nicht das Ergebnis guter Politik. Warum haben wir denn
Überschüsse im Gesundheitsfonds? Warum haben wir
Überschüsse bei den Kassen? Weil Sie, aufbauend auf
den Vorarbeiten der Großen Koalition, ein Modell ge-
schaffen haben, bei dem es nicht nur einen Einheitsbei-
trag gibt, sondern auch eine Unterfinanzierung der Kas-
sen, die sich das Geld über einen Zusatzbeitrag holen
sollen.

Schwarz-Gelb hat diesen von Beschäftigten und Ar-
beitgebern zu zahlenden Beitrag eingefroren. Sie wollen,
dass in Zukunft nur noch die Versicherten für die Bewäl-
tigung jeglicher Kostensteigerung im Gesundheitswesen
zuständig sind. Weil Sie aber Angst vor Ihrer eigenen
Courage hatten, haben Sie den einheitlichen Beitragssatz
geschwind noch einmal erhöht. Deswegen ist so viel
Geld im Gesundheitsfonds.

Weil die Kassen Angst vor dem Zusatzbeitrag hatten,
haben sie das Geld die ganze Zeit festgehalten, kein
Geld für neue Versorgungsmodelle ausgegeben und bei
der Reha gespart. Das Ganze ist eine Innovationsbremse
im Gesundheitswesen par excellence.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sozial ist daran überhaupt nichts. Wenn es nämlich
keinen Regierungswechsel gäbe, dann würde die Ab-
schaffung der Praxisgebühr mittelfristig natürlich wieder
zu Zusatzbeiträgen führen. Sie würden mit den Versi-
cherten also „Linke Tasche – rechte Tasche“ spielen. Ge-
nau das wollen wir verhindern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Veronika Bellmann [CDU/ CSU]: Warum schreien Sie so laut! – Gegenruf des Abg. Heinz Lanfermann [FDP]: Sie schreit, weil sie Unrecht hat!)


Wir wollen, dass das Gesundheitswesen wieder ge-
scheit finanziert ist. Der Weg dahin ist die Bürgerversi-
cherung.

Als Erstes müssen die Kassen wieder entscheiden
können, welche Beiträge sie erheben. Dann werden etli-
che die Beiträge senken, und das Geld geht direkt in die
Taschen der Versicherten.

Abgeschafft werden müssen dabei die Zusatzbeiträge,
und abgeschafft wird dabei auch die Praxisgebühr. Mit-
telfristig wird sie durch die Bürgerversicherung finan-
ziert, wodurch es zu größerer Solidarität und mehr Ein-
nahmen kommt. Das muss die Perspektive sein – und
kein Kuhhandel, bei dem man noch Geld dafür heraus-
wirft, die sozialen Chancen Benachteiligter noch weiter
zu vermindern. Das kann es nicht sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE])







(A) (C)



(D)(B)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720105300

Das Wort hat nun Jens Spahn für die CDU/CSU-Frak-

tion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Jens Spahn (CDU):
Rede ID: ID1720105400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

finde es wichtig, sich angesichts der Debatte noch ein-
mal in Erinnerung zu rufen, warum wir überhaupt in der
Lage sind, eine solche Debatte zu führen,


(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Richtig!)


und dass es eigentlich ein Novum in der längeren, jünge-
ren deutschen Krankenversicherungsgeschichte ist, dass
wir mittlerweile seit Wochen öffentlich an vielen Stellen
darüber reden, wie wir mit Rücklagen in der gesetzli-
chen Krankenversicherung umgehen.

Über Jahrzehnte wurde immer darüber gesprochen,
wie wir mit Defiziten umgehen und dass wir im Gesund-
heitswesen Kostendämpfung betreiben müssen. Unsere
erfolgreiche Politik hat uns dahin gebracht, dass wir in
den sozialen Sicherungssystemen Rücklagen haben. Ich
finde, das gehört am Anfang einer solchen Debatte erst
einmal entsprechend gewürdigt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Diese Rücklagen haben für sich genommen tatsäch-
lich große Formen angenommen. Sie betragen im Ge-
sundheitsfonds 10 Milliarden Euro. Bei einzelnen Kas-
sen sind es noch einmal Rücklagen in Höhe von
14 Milliarden Euro. Das muss man übrigens bitte wirk-
lich differenzieren, Herr Kollege Lauterbach; das kön-
nen Sie nicht einfach zusammenzählen. Das heißt also,
einzelne Kassen haben sehr hohe Rücklagen, während
andere auch heute noch Zusatzbeiträge erheben. Ge-
nauso wie es früher Unterschiede beim Beitragssatz gab,
gibt es heute Unterschiede in der Finanzsituation der
Kassen. Die einen schütten Prämien aus, andere müssen
Zusatzbeiträge erheben. Das ist gelebter Preiswettbe-
werb.

Die Summen sind für sich genommen natürlich hoch.
10 Milliarden Euro: Das ist und bleibt eine Menge Geld.
Zur Wahrheit gehört aber auch, zu sagen: Bei Gesamt-
ausgaben für die gesetzliche Krankenversicherung im
nächsten Jahr von 190 Milliarden Euro reichen 10 Mil-
liarden Euro nicht einmal, um sie einen halben Monat
lang zu finanzieren. Auch das müssen wir in der Debatte
einmal deutlich machen: Es sind Rücklagen da, und es
ist gut, dass es Rücklagen gibt, aber wir sollten es auch
einmal ertragen, diese Rücklagen zu behalten, für den
Fall, dass wieder schlechtere Zeiten kommen. Dafür
werben wir in der Union jedenfalls massiv.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Elke Ferner [SPD]: Und bei der Rente?)


Rücklagen auch einmal ertragen und erhalten zu kön-
nen und in der Politik nicht gleich wieder Debatten da-
rüber führen zu müssen, wie wir Rücklagen möglichst

schnell wieder ausgeben können, ist wichtig und im Üb-
rigen insbesondere auch im Interesse von Patientinnen
und Patienten;


(Zuruf von der LINKEN: Was ist bei der Rente?)


denn zum einen kann uns keiner garantieren, dass die
gute wirtschaftliche Lage in einer Zeit, in der es in fast
allen Ländern auf der Welt wirtschaftlich nicht ganz so
gut läuft, für uns, die Exportnation Deutschland, weiter-
hin so bestehen bleibt, und zum anderen erwartet uns
eine demografische Veränderung – wir werden weniger
und älter –, die sich natürlich auch im Gesundheitswesen
und bei der Bekämpfung und Behandlung von Krankhei-
ten bemerkbar machen wird.

Deswegen ist es im Interesse von Patientinnen und
Patienten, aber auch von denjenigen, die im Gesund-
heitswesen tätig sind, dass wir einmal drei, vier, fünf,
sechs Jahre lang und idealerweise noch länger Stabilität
in der gesetzlichen Krankenversicherung haben.


(Elke Ferner [SPD]: Für die Rente gilt das nicht, oder wie?)


Dafür sind Rücklagen gut. Deswegen wollen wir gerne
von diesen Rücklagen möglichst viel erhalten.


(Beifall bei der CDU/CSU – Elke Ferner [SPD]: Gilt das nicht für die Rente?)


– Das gilt im Übrigen auch für die Rente. Darauf weise
ich hin, weil Sie hier immer „Rente“ schreien. Ja, wir
senken den Beitragssatz in der Rentenversicherung, aber
es bleiben selbst nach der Senkung des Beitragssatzes
noch 20 Milliarden Euro an Rücklagen in der Rentenver-
sicherung übrig.


(Elke Ferner [SPD]: Wie lange, Herr Spahn?)


Das heißt, auch dort betreiben wir Vorsorge für schlech-
tere Zeiten. Auch dort wollen wir Geld zurücklegen,
weil das eben im Interesse derjenigen ist, die damit viel-
leicht dieses Jahr nichts zu tun haben, aber in drei, vier
oder fünf Jahren mit diesem sozialen Sicherungssystem
umgehen müssen.

Ein anderer Punkt ist die Praxisgebühr und Ihre
Frage, Herr Lauterbach: Wer hat sie denn eigentlich ein-
geführt? Wissen Sie, das ist das grundsätzliche Problem
jenseits der Praxisgebühr, das Sie bzw. Rot-Grün mit
dem haben, was Sie im Übrigen zusammen mit uns an
vielen Stellen, auch in der Opposition, eine verantwor-
tungsvolle Rolle übernehmend, unter dem Oberbegriff
„Agenda 2010“ beschlossen haben. Es ging um die Ge-
sundheitsreform, eine Rentenreform, eine Steuerreform,
die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe,
Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt.

Genau diese Maßnahmen, vor sechs, sieben, acht Jah-
ren beschlossen, haben den deutschen Aufschwung, den
wir heute haben, das zweite große deutsche Wirtschafts-
wunder, erst möglich gemacht. Wir stehen heute wirt-
schaftlich so gut da wie nie zuvor, im Grunde genommen
seit vielen Jahrzehnten. Wir haben in vielen Regionen
des Landes Vollbeschäftigung. Wir haben in Deutsch-
land so viele Menschen in Beschäftigung wie noch nie





Jens Spahn


(A) (C)



(D)(B)


zuvor. Das hat mit den Reformen vor sechs, sieben, acht
Jahren zu tun. Sie schämen sich aber für das, was Sie ge-
tan haben. Deswegen stellen die Menschen diesen positi-
ven Kontext zwischen „Es wurden Reformen gemacht“
und „Diese Reformen haben Erfolg gehabt“ nicht her,
weil Sie sich ständig populistisch in die Büsche schla-
gen. Das ist an dieser Stelle ein grundsätzliches Problem.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Die Praxisgebühr ist ein Ausfluss dieses grundsätz-
lichen Problems. Ulla Schmidt ist gerade schon zitiert
worden. Sie hat sich zu Recht bis 2009 – heute traut sie
sich wahrscheinlich nicht mehr, das zu sagen, weil das
bei Ihnen nicht mehr angesagt ist – dazu bekannt. Wir
haben die Zuzahlungen gemeinsam eingeführt: Zuzah-
lungen als Steuerungselement,


(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da hat aber nichts gesteuert!)


aber auch als eine Form von Solidarität desjenigen, der
auf eines der besten Gesundheitswesen der Welt zählen
kann. Herr Bartsch, Sie sollten nicht so unehrlich daher-
reden, wie Sie das gerade gemacht haben.


(Elke Ferner [SPD]: Sie haben einen sehr merkwürdigen Solidaritätsbegriff!)


Wir haben für die sogenannte Chronikerregelung ge-
sorgt: Ein chronisch Kranker muss nicht mehr als 1 Pro-
zent seines Einkommens für die Praxisgebühr aufwen-
den.


(Elke Ferner [SPD]: Sie wollten sie doch abschaffen! Unglaublich!)


– Frau Ferner, ich glaube, wir haben diese Regelung
gemeinsam eingeführt. Sie stehen zwar nicht mehr dazu.
Dafür schreien Sie ganz schön laut herum.


(Elke Ferner [SPD]: Sie wollten sie doch in der letzten Wahlperiode abschaffen!)


Von den allgemein Versicherten muss niemand mehr als
2 Prozent seines Einkommens dafür aufwenden. Das
heißt, dass Geringverdiener, dass chronisch Kranke
durch Zuzahlungen natürlich nicht überfordert werden.

Wir haben das bewusst sozial ausgewogen.


(Elke Ferner [SPD]: Sie wollten sie doch abschaffen!)


Deswegen muss jemand, der beispielsweise nur
1 000 Euro im Monat hat, niemals mehr als 10 Euro im
Monat für Zuzahlungen oder für die Praxisgebühr ausge-
ben und kann gleichzeitig darauf hoffen, dass eines der
besten Gesundheitswesen der Welt mit guten Leistungen
in jeder Lebenslage und bei jeder Erkrankung, egal wie
teuer die Behandlung ist, für ihn zur Verfügung steht.
Auch das ist eine Form von Solidarität.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720105500

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Lauterbach?


Jens Spahn (CDU):
Rede ID: ID1720105600

Jederzeit mit Freude.


Dr. Karl Lauterbach (SPD):
Rede ID: ID1720105700

Vielen Dank. – Sie haben gerade den Kollegen

Bartsch gemaßregelt,


(Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Nein!)


er hätte fälschlicherweise die Chronikerregelung kriti-
siert, die Sie eingeführt hätten. Ist es richtig, dass die
Union damals gegen die Einführung der Chronikerrege-
lung gewesen ist? Ist es richtig, dass Sie in der letzten
Legislaturperiode die bestehende Chronikerregelung, die
Sie sich gerade noch selbst zugeschrieben haben, ab-
schaffen wollten?


(Elke Ferner [SPD]: Genau!)



Jens Spahn (CDU):
Rede ID: ID1720105800

Es ist erst einmal richtig, wie ich das schon festge-

stellt habe, dass wir die Chronikerregelung vor acht Jah-
ren gemeinsam eingeführt haben.


(Elke Ferner [SPD]: Sie eiern herum!)


– Sie müssen einmal differenziert debattieren lernen,
finde ich manchmal.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD – Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


– Sie machen das immer mit dem Vorschlaghammer.


(Mechthild Rawert [SPD]: Herr Spahn, der Spiegel ist groß gewesen!)


– Nein, ein chronisch Kranker ist nicht per se sozial
schwach.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: So ist es!)


Es gibt Millionäre mit Diabetes. Auch in diesem Land
gibt es sie.


(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann sind sie aber nicht gesetzlich versichert!)


Deswegen haben wir einmal gesagt: Lasst uns doch ein-
mal schauen, ob die Chronikerregelung nicht zu weit
gefasst ist; denn darüber, dass wir den Millionär mit Dia-
betes nur 1 Prozent und nicht 2 Prozent seines Einkom-
mens zuzahlen lassen, kann man einmal reden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Elke Ferner [SPD]: Sie wollten sie abschaffen! Stehen Sie zu dem, was Sie gefordert hatten! – Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Millionär ist nicht gesetzlich versichert!)


Dass aber diejenigen, die nur ein geringes Einkommen
haben, insbesondere dann, wenn sie chronisch krank
sind und regelmäßig Medikamente brauchen, natürlich
nicht überfordert werden dürfen,


(Elke Ferner [SPD]: Das haben Sie doch nicht gefordert!)






Jens Spahn


(A) (C)



(D)(B)


und dass es dafür natürlich eine prozentuale Begrenzung
braucht, haben wir nie infrage gestellt. Das ist sogar eine
elementare Regelung eines fairen, eines gerechten Sys-
tems. Wir wollen allerdings dieses Instrument zielgenau
bei denen einsetzen, die ein geringes Einkommen haben.
Heute profitieren aber auch viele davon, die gut verdie-
nen. Wir wollen es gerechter machen, und wenn es da-
rum geht, sind wir jederzeit dabei.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich bleibe dabei: Die Praxisgebühr als Form der Zu-
zahlung ist grundsätzlich auch eine Form von Solidari-
tät. Das heißt, wenn ich Krebs habe, wenn ich Multiple
Sklerose habe, wenn ich Parkinson habe, kann ich damit
rechnen, dass mir eines der besten Gesundheitssysteme
der Welt zur Verfügung steht und dass mir von der Soli-
dargemeinschaft geholfen wird. Im Rahmen dessen, was
ich leisten kann, und unter Berücksichtigung von Ein-
kommensgrenzen bringe ich mich aber auch ein. Ich
glaube – das erlebt man auch in zahlreichen Veranstal-
tungen –, viele Menschen sind genau dazu bereit.

Wir haben aber auch gesagt – es ist richtig, darüber zu
diskutieren –, dass man die hohen Rücklagen auch dazu
nutzen kann, die Bürgerinnen und Bürger moderat zu
entlasten. Der größte Teil sollte aber für schlechte Zeiten
zurückgelegt werden. Gleichzeitig können wir in der ge-
setzlichen Krankenversicherung eine moderate Entlas-
tung vornehmen in einer Phase, in der es sinnvoll ist, Im-
pulse für wirtschaftliches Wachstum im nächsten Jahr zu
setzen. Darüber reden wir gerade in der Großen Koali-
tion.


(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


– Das war ein klassischer Freud’scher Versprecher. Ich
meinte natürlich unsere großartige Koalition. Ich musste
heute so oft unsere gemeinsamen Beschlüsse loben, dass
ich gedanklich in der falschen Richtung unterwegs war.

Diese großartige Koalition diskutiert darüber, wie wir
die Rücklage im Bestand sichern können, aber gleichzei-
tig zu moderaten vernünftigen Entlastungen für die Men-
schen im Lande kommen können. Glauben Sie mir, wir
werden auch zu einem guten Kompromiss kommen.

Eines wird aber zu keinem Zeitpunkt passieren. Das
kann ich Ihnen versprechen. Wir werden nicht um der
billigen Überschrift willen – das ist genau das, was Sie
mit der Debatte heute Morgen bezwecken wollen –


(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Nein! Nein! Nein!)


und um des Populismus willen politisch aktiv werden.
Ob es die Rente mit 67 ist, ob es die Praxisgebühr ist
oder ob es um höhere Steuern geht, Sie schlagen sich bei
alldem in die Büsche und laufen weg vor dem, was Sie
einmal gemeinsam mit uns beschlossen haben. Sie lau-
fen außerdem weg vor dem, was die Basis für den gro-
ßen wirtschaftlichen Erfolg war, den wir heute zu ver-
zeichnen haben.

Mit uns wird es das nicht geben. Wir werden verant-
wortungsvoll und vor allem auch über den Wahltag

hinaus planen und zudem mit den Finanzen in der ge-
setzlichen Krankenversicherung vernünftig umgehen.
Das jedenfalls kann ich Ihnen versprechen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720105900

Das Wort hat nun Edgar Franke für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Edgar Franke (SPD):
Rede ID: ID1720106000

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In be-

stimmten Medien in Deutschland liest man manchmal
jede gängige Geschichtsfälschung. Wenn man heute den
einen oder anderen Redner gehört hat, so konnte man
den Eindruck gewinnen, dass das ein bisschen in diese
Richtung ging. Es wurde gesagt, Rot-Grün mit der Ge-
sundheitsministerin Ulla Schmidt wollte 2003 bzw.
2004 diese Praxisgebühr. Richtig ist vielmehr, Herr
Singhammer: Die jetzige Praxisgebühr ist von CDU und
CSU durchgesetzt worden.


(Zuruf des Abg. Johannes Singhammer [CDU/ CSU])


CDU und CSU wollten im Rahmen der Erarbeitung des
Gesundheitsmodernisierungsgesetzes diese Praxisge-
bühr. Rot-Grün hatte aber damals im Bundesrat nicht die
Mehrheit.

Ich erinnere daran, dass die Union damals 10 Prozent
der Behandlungskosten als Selbstbeteiligung und 5 Euro
für jeden Arztbesuch forderte. Das ist die historische
Wahrheit, Herr Singhammer. Das darf man nicht verges-
sen.


(Beifall bei der SPD)


Herr Seehofer hat einmal von der schönsten Nacht
seines Lebens mit Ulla Schmidt gesprochen. In dieser
schönsten Nacht wurde ein Kompromiss vereinbart. Der
Kompromiss war die Praxisgebühr von 10 Euro.

Herr Spahn, ich habe vorhin noch persönlich mit Ulla
Schmidt gesprochen.


(Zurufe von der CDU/CSU und FDP)


Sie hat gesagt, man habe dem Kompromiss nur zuge-
stimmt, um weitergehende Zuzahlungen zu verhindern.
Das ist etwas ganz anderes als das, was Sie gesagt haben.

Rot-Grün wollte nämlich Praxisgebühren gerade
beim Hausarzt und insbesondere bei den Standardfach-
ärzten verhindern. Wir wollten lediglich eine Gebühr für
den Besuch bei teuren Fachärzten, um unnötige Appara-
temedizin und unnötige Kosten zu verhindern. Diese
Richtung hat Rot-Grün damals in der Gesundheitspolitik
eingeschlagen, meine sehr verehrten Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD)


Wir wollten nämlich gerade das Facharzt-Hopping ver-
meiden und Kosten einsparen und effizienter gestalten.

Viele Geschichtsfälschungen – ich habe es eben
schon erwähnt – gingen hier weiter. Man muss deshalb
fragen: Warum diskutieren wir die Abschaffung der Pra-





Dr. Edgar Franke


(A) (C)



(D)(B)


xisgebühr? Es ist richtig: Wir haben 20 Milliarden Euro
Überschüsse bei der gesetzlichen Krankenversicherung
und im Gesundheitsfonds. Aber diese Überschüsse ha-
ben wir auch deshalb, weil diese Regierung nicht richtig
rechnen kann. Die Beiträge sind nämlich viel zu hoch.
Die FDP wollte immer „Mehr Netto vom Brutto“, aber
was hat sie gemacht? Sie haben die Beiträge zur Kran-
kenversicherung erhöht. Das ist auch eine Wahrheit.


(Beifall bei der SPD – Jens Ackermann [FDP]: Aber Sie haben ein Minus gehabt! Ein Minus!)


Den Versicherten ist somit Geld vorenthalten worden.

Herr Spahn hat angesprochen, warum wir so gute Be-
schäftigungszahlen haben. Es ist richtig, Herr Spahn:
Wir haben so gute Beschäftigungszahlen, weil unter Rot-
Grün Strukturreformen realisiert worden sind.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Nein!)


Wir haben den Reformstau unter Kohl aufgelöst. So wird
die Katze bunt; so ist die Wahrheit, mein sehr verehrter
Herr Spahn.

Was erleben wir heute? Chaotische Zustände in der
Regierungskoalition.


(Zuruf von der CDU/CSU: Wo denn?)


Was will die Regierung? Zur Abschaffung der Praxisge-
bühr hört man das eine oder das andere. Wollen Sie die
Beiträge senken? Wollen Sie am Einheitsbeitragssatz
festhalten? Frau Bender hat zu Recht darauf hingewie-
sen. Über die Beitragssatzautonomie wäre nachzuden-
ken. Wollen Sie die Rücklage als Finanzpolster? Kein
Mensch weiß so richtig, was diese Regierung will.


(Jens Ackermann [FDP]: Gute Qualität für die Patienten!)


Mein geschätzter Kollege Lauterbach hat schon ge-
sagt: Der Geburtshelfer der Praxisgebühr, CSU-Chef
Seehofer, will die Beibehaltung. Auch der geschätzte
Kollege Singhammer hat in der Rheinischen Post aus-
drücklich gesagt:

Die CSU in Berlin ist weiter der Meinung, dass die
Praxisgebühr ihre Berechtigung hat.

Söder will die Abschaffung. Hasselfeldt will die Sen-
kung. Frau Bundeskanzlerin Merkel war ein bisschen
dagegen und lässt jetzt durch ihren Regierungssprecher
erklären, dass sie ein bisschen dafür sei. Herr
Lanfermann hat sich eben selber zitiert. Er sagt in jeder
Ausschusssitzung treuherzig, dass noch Beratungsbedarf
besteht. Die FDP hat noch keine konkrete Position.


(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Natürlich haben wir die!)


Wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, wissen, glaube
ich, wie es geht. Wir wollen die Krankenversicherung
entlasten. Ich darf noch einmal die drei Punkte nennen,
die für unseren Antrag „Praxisgebühr sofort abschaffen“
sprechen.

Erstens. Allen ist klar, dass die Praxisgebühr keine
Steuerungswirkung mehr hat. Sie ist lediglich ein Finan-
zierungsinstrument.

Zweitens. Die Kranken und Einkommensschwachen
werden durch die Praxisgebühr einseitig besonders be-
lastet.

Drittens – das darf man nicht vergessen, und das muss
man hier noch einmal ausdrücklich sagen – hat die Pra-
xisgebühr zu erheblichen Bürokratie- und Verwaltungs-
kosten geführt. Der Normenkontrollrat hat festgestellt,
dass 300 Millionen Euro Bürokratiekosten für den Ein-
behalt und die Dokumentation anfallen. Auch das spricht
ganz klar dafür, die Praxisgebühr abzuschaffen.

Der Zoff in der Koalition um die Praxisgebühr zeigt
erneut die Zerrissenheit von Schwarz-Gelb. Er zeigt mir
vor allen Dingen auch, dass es in der Sozialpolitik kei-
nen Konsens zwischen CDU/CSU und FDP mehr gibt.

Die SPD ist für die Abschaffung der Praxisgebühr.
Noch einmal: Sie belastet einseitig die Einkommens-
schwachen und Kranken. Die erhoffte Lenkungswirkung
hin zu den Hausärzten ist ausgeblieben. Es ist lediglich
Bürokratie erzeugt worden.

Ich kann nur an die Vertreter der Koalition appellie-
ren, dass sie mit uns für die Abschaffung der Praxis-
gebühr stimmen. Ich hoffe, dass Sie, liebe Kolleginnen
und Kollegen, auch einmal etwas Vernünftiges machen.
Machen Sie etwas Vernünftiges: Stimmen Sie einfach
für unseren Antrag!

Danke schön.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720106100

Das Wort hat nun Christine Aschenberg-Dugnus für

die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Christine Aschenberg-Dugnus (FDP):
Rede ID: ID1720106200

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Meine Damen und Herren! Bevor ich auf
unser eigentliches Thema komme, möchte ich – wie der
Kollege Spahn es getan hat – auf unsere gute Finanzsi-
tuation eingehen; das ist nämlich das Positive, das wir
haben. Ich kann nur sagen: Sie hätten sich zu rot-grünen
Regierungszeiten darüber gefreut, aber Sie haben nicht
im Traum daran gedacht, dass einmal eine Zeit kommen
würde – zu Ihrer Zeit war das nämlich nie der Fall –, in
der die Kassen und der Fonds so gut dastehen würden
wie jetzt.


(Elke Ferner [SPD]: Das stimmt doch nicht! Frau Kollegin, Sie haben keine Ahnung und davon eine ganze Menge!)


Das kann man den Menschen draußen gar nicht oft ge-
nug sagen.

Wir haben hier gute Politik abgeliefert. Unser Minis-
ter Daniel Bahr macht gute Politik. Nur deswegen stehen
wir überhaupt hier, um dieses Thema zu debattieren.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)






Christine Aschenberg-Dugnus


(A) (C)



(D)(B)


Nun komme ich zum eigentlichen Thema. Lieber
Kollege Franke, ich schätze Sie als Mensch ja sehr, aber
nach dem, was Sie eben zum Thema Geschichtsfäl-
schung gesagt haben, muss ich Ihnen raten: Sie sollten
sich mal an die eigene Nase fassen. Das war schon eine
Nummer aus dem Tollhaus: Rot-Grün als Regierung ist
von der Opposition genötigt worden, bestimmte Dinge
zu verabschieden. – Das können Sie hier doch keinem
erzählen und draußen auch keinem erzählen.


(Mechthild Rawert [SPD]: Bundesrat!)


Wenn ich mir einmal Ihren Antrag anschaue, sehe ich:
Da steht: „die von CDU/CSU … durchgesetzte Praxisge-
bühr“. In dem gesamten Antrag wird so getan, als wären
Sie von der SPD überhaupt nicht daran beteiligt gewe-
sen.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: So ist das! – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Sie waren doch überhaupt nicht dabei! Sie wissen das doch gar nicht!)


Wem wollen Sie draußen eigentlich Sand in die Augen
streuen? Damit lassen wir Sie nicht durchkommen!


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Öffentlichkeit weiß, dass Sie es waren, die die Pra-
xisgebühr installiert haben.


(Elke Ferner [SPD]: Die Öffentlichkeit weiß, dass Sie gegen die Abschaffung sind! – Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stimmen Sie der Abschaffung zu, ja oder nein?)


Wir haben eben vom Kollegen Singhammer gehört
– vielen Dank dafür! –, dass Frau Schmidt noch im Jahr
2009 gesagt hat, sie ist für die Beibehaltung der Praxis-
gebühr; sie möchte sie nicht abschaffen.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Hat keiner widersprochen!)


Genau vor diesem Hintergrund müssen wir den Antrag
der SPD sehen.

Sie schreiben dann noch, wir als FDP würden nur öf-
fentlich so tun, als wollten wir die Praxisgebühr abschaf-
fen.


(Beifall der Abg. Dr. Marlies Volkmer [SPD])


Das empfinde ich persönlich als Frechheit. Sie werfen
uns Täuschung vor.


(Elke Ferner [SPD]: Deshalb sind wir ja gespannt, wie Sie gleich abstimmen werden!)


Sie sind die Pharisäer, die hier etwas behaupten, aber Ihr
Agieren in der Vergangenheit war völlig anders.


(Beifall bei der FDP)


Sie machen die taktischen Spielchen hier, und dazu kann
ich nur sagen: Wir werden diese taktischen Spielchen
aufdecken.


(Mechthild Rawert [SPD]: Welche Karte heben Sie gleich, rot, blau oder weiß? – Elke Ferner [SPD]: Dann sind Sie gegen die Abschaffung der Praxisgebühr?)


Die Bevölkerung wird mitbekommen, dass das zu über-
haupt nichts führt.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720106300

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?


Christine Aschenberg-Dugnus (FDP):
Rede ID: ID1720106400

Nein, ich würde gerne weitermachen.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Lauterbach mit Tarnkappe! – Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Anfangen!)


Meine Damen und Herren, die Koalition braucht Ihre
Anträge nicht, um gute Gesundheitspolitik mit Augen-
maß zu machen.


(Beifall bei der FDP)


Das schaffen wir auch ohne die Opposition.

Ich muss sagen: Ja, natürlich, wir haben in der Koali-
tion unterschiedliche Auffassungen. Das ist so in einer
Demokratie. Das können einige hier im Hause vielleicht
nicht so nachvollziehen,


(Heinz Lanfermann [FDP]: Das haben die schon wieder vergessen!)


aber das ist so.

Es wird jetzt gesagt, man mache uns ein faires Ange-
bot. Ich empfinde das nicht als faires Angebot; das ist
ein unmoralisches Angebot.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Jawohl!)


Wir gehen nicht fremd.


(Lachen der Abg. Elke Ferner [SPD])


Wir werden die Sache mit unserem Koalitionspartner re-
geln, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein Kuhhandel mit dem Betreuungsgeld!)


Der Kollege Lanfermann hatte vollkommen recht. Es
geht Ihnen gar nicht um eine sachliche Diskussion; es
geht Ihnen darum, hier Schaufensteranträge zu stellen.
Sie haben gemerkt: Aha, es steht auf einmal eine Eini-
gung kurz bevor. Da müssen wir aber schnell noch ein-
mal unsere Spielchen hier im Plenum treiben.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Das ist der Hintergrund dieser Debatte, die wir hier
heute zum x-ten Male führen.


(Elke Ferner [SPD]: Was denn jetzt, jetzt erst oder zum x-ten Male?)


Ich sage Ihnen: Das machen wir nicht mit.





Christine Aschenberg-Dugnus


(A) (C)



(D)(B)


Wir werden in der Koalition weiter beraten. Wir wer-
den im Ausschuss weiter beraten. Wir werden gemein-
sam zu einem guten Ergebnis kommen.


(Elke Ferner [SPD]: Das wäre was ganz Neues!)


– Das ist nichts Neues; das machen wir in der Koalition
schon von Anfang an so, meine Damen und Herren. –
Ich kann der Öffentlichkeit immer nur sagen: Ihre Spiel-
chen, vor allen Dingen die der SPD, machen wir nicht
mit. Ich nehme da Sie von den Grünen aus, weil Ihr An-
trag anders aussieht. Sie haben Ihren Antrag heute Vor-
mittag noch einmal geändert.


(Elke Ferner [SPD]: Ja, wir wollten Ihnen die Zustimmung erleichtern!)


Bei Ihnen – das muss ich jetzt wirklich sagen – geht es
auch noch um andere Dinge. Aber bei Ihnen von der
SPD ist es wirklich so, dass ich sage: Da sitzen die Pha-
risäer im Plenum.


(Elke Ferner [SPD]: Jetzt aber mal halblang hier!)


Das müssen wir ganz klar aufzeigen. Das machen wir
nicht mit. Wir werden uns in der Koalition einigen.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Heinz Lanfermann [FDP]: Und die Schaufenster sind auch noch schlecht dekoriert!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720106500

Das Wort hat nun Karin Maag für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Karin Maag (CDU):
Rede ID: ID1720106600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

haben das heute schon mehrfach gehört: Die Debatte
wird offensichtlich nur deshalb geführt, weil die Opposi-
tion meint, sie könne einen Keil zwischen Union und
FDP treiben.


(Zuruf von der FDP: So ist es! – Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Der Keil fällt durch, so weit sind Sie auseinander!)


Ich bin mir sehr sicher: Das wird ihr nicht gelingen.

Der fundamentale Unterschied zwischen Ihnen und
uns ist: Wir, Union und FDP, ringen mit Argumenten in
der Sache. Die Opposition insgesamt hingegen streitet
ausschließlich um ihr Führungspersonal. Wir diskutieren
zuerst und stimmen dann ab. Offensichtlich ist es bei Ih-
nen genau umgekehrt. Auch den Versicherten, liebe Kol-
leginnen und Kollegen von der SPD, nützt diese Debatte
nichts.

Die Zuzahlungen – das muss man einfach einmal sa-
gen – sind eine wichtige Einnahmequelle für die Kassen,
und sie entlasten die Beitragszahler.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber den Patienten würde es was nützen!)


– Nein, liebe Frau Kollegin. Die dauerhaft fehlenden
Einnahmen müssen ja irgendwo ausgeglichen werden.


(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eben!)


Ich habe von Ihnen noch nicht gehört, dass Sie irgendwo
weniger Ausgaben vorsehen wollen. Dies geht nur über
andere Einnahmearten, und dafür kämen wieder die Bei-
tragszahler infrage.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bürgerversicherung!)


Insofern halte ich von Ihren Anträgen nichts.


(Elke Ferner [SPD]: Was erzählen Sie für einen Unsinn? Eben erzählten Sie noch was von Überschüssen!)


– Ich komme dazu, Frau Ferner.

Diese Debatte hat natürlich etwas Gutes – jetzt sind
wir bei den Überschüssen –: Sie ist doch ein Kompli-
ment an die Leistung von Union und FDP.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Elke Ferner [SPD]: Mit Beitragssatzanhebungen! Damit haben Sie die Überschüsse generiert!)


Uns ist es gelungen, die Finanzierung in der GKV si-
cherzustellen, und zwar ohne Leistungseinschränkung
und vielen Unkenrufen zum Trotz. Es wurde immer ge-
schrien: Priorisierung, Rationierung! – Wir sichern eine
dauerhafte, gute Versorgung für unsere Patienten und für
die Versicherten. Das ist doch ein Wert. Darauf können
wir aufbauen.


(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Das glauben Sie doch selbst nicht!)


Klar ist – Sie selbst haben es gesagt –: Im Moment
geht es den meisten – ich betone: den meisten – Kassen
gut. Wenn wir das weiterhin gewährleisten wollen, brau-
chen wir eine verlässliche Finanzierung. Wir wollen,
dass sich die Menschen weiterhin darauf verlassen kön-
nen, in jeder Lebenssituation eine medizinische Versor-
gung auf höchstem Niveau zu bekommen. Aber das kos-
tet. Dafür wurde mit der Praxisgebühr nicht nur
Preisbewusstsein geschaffen, sondern vor allen Dingen
ein stabilisierendes Element der Finanzierung, und das
ist mir wichtig.

Wir wissen, dass Wirtschaftswachstum nicht von Gott
gegeben ist. Die Liquiditätsreserve über die Mindestre-
serve hinaus – wir reden hier von 25 Prozent, also einem
Viertel einer durchschnittlichen Monatsausgabe; wir re-
den hier nicht über Vermögen – ist deshalb ökonomisch
sinnvoll und vor allem auch wieder im Interesse der Ver-
sicherten.

Meine Damen und Herren insbesondere von den Lin-
ken, würden wir die Praxisgebühr oder die Zuzahlungen
insgesamt abschaffen, wie Sie es fordern, dann hätten





Karin Maag


(A) (C)



(D)(B)


uns in den letzten 8 Jahren – das bezieht sich jetzt auf die
Praxisgebühr – 16 Milliarden Euro im System gefehlt.
Jedes Jahr waren das 2 Milliarden Euro aufgrund der
Praxisgebühr. Wenn wir die Zuzahlungen insgesamt ab-
schaffen, fehlen jährlich 5 Milliarden Euro in den Kas-
sen. Das würde übrigens einer dauerhaften Erhöhung der
Kassenbeiträge um 0,5 Beitragssatzpunkte entsprechen.
Ohne Ausgleich würde jede kleine Delle in der Konjunk-
tur zu einem Zusatzbeitrag führen. Insofern ist das ein
völlig sinnloses Unterfangen.

Auch über die Mär davon, dass sich Arztbesuche
– diese haben insbesondere Sie wieder vorgebracht – ein
Teil der Bevölkerung nicht leisten kann, haben wir schon
gesprochen. Die Überforderungsklausel gilt. Es gibt sie,
und niemand will sie abschaffen.

2003 wurde unter anderem als Ziel eine Stärkung der
Eigenverantwortung der Versicherten genannt. Lieber
Herr Lanfermann, die Eigenverantwortung ist Ihr Thema.
Deswegen wäre es mir schon wichtig, dass Sie zuhören.
Danke. – Es geht um Leistung gegen Kostenbeteiligung.
Damit sollte bei den Versicherten ein Gefühl für Preissen-
sibilität und Ressourcenverantwortlichkeit geschaffen
werden. Das hat wenig mit einer dauerhaften steuerlichen
Entlastung zu tun, die Sie, liebe Kollegen von Rot-Grün,
im Bundesrat nachhaltig blockieren.

Mit der Praxisgebühr, die einmal im Quartal anfällt,
ist diese Selbstbeteiligung sehr moderat ausgefallen. Das
ist mir wichtig, weil rund 20 Prozent der Versicherten
80 Prozent der Kosten tragen. Ähnlich wie bei der Rente
alimentieren doch hier innerhalb des Systems die Jünge-
ren die Älteren und die eher Gesunden die eher Kranken.


(Elke Ferner [SPD]: Also, Solidarität ist für Sie Alimentation! Das ist ja ein tolles Solidaritätsverständnis!)


Ohne die Praxisgebühr würde dieser Transfergedanke
noch mehr ausgeweitet. Mit welchen Argumenten wen-
den Sie sich gegen den Verzicht auf weitere Zuzahlun-
gen? Wo ist hier die Grenze; bei den Krankenhäusern, in
den Apotheken usw.? Ich jedenfalls will den Gedanken
der Eigenverantwortung nicht ohne Not aufgeben.

Jetzt noch ein Satz zur Steuerungswirkung. Lieber
Kollege Franke, das Gesetz ist nicht im Vermittlungsaus-
schuss entstanden. Bei aller Liebe, Sie waren an der Re-
gierung.


(Elke Ferner [SPD]: Ich weiß nicht, was Sie für ein Verständnis und für ein Wissen haben, aber offenbar kein gutes!)


Das nur als Hinweis. Die Debatte wird vor allen Dingen
auf der Basis von Untersuchungen zur Häufigkeit von
Arztbesuchen geführt.


(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Ausscheren aus dem Bundesrat! Das föderale System gilt für Sie nicht?)


– Ich habe den Vermittlungsausschuss angeführt, und
dort ist das Gesetz nicht entstanden.


(Elke Ferner [SPD]: Aber dort ist das Gesetz vorgeschlagen und beschlossen worden!)


– Liebe Frau Ferner, das nächste Mal lassen Sie sich von
Ihrer Fraktion Redezeit geben, und dann können Sie al-
les, was Sie jetzt so vor sich – schwäbisch gesagt – brud-
deln, ordentlich vortragen.


(Elke Ferner [SPD]: „Bruddeln“ ist eine Beleidigung, Frau Kollegin! Als Saarländerin verstehe ich das sehr wohl! Das gebe ich zurück! Das gebe ich zurück, was Sie hier vorne machen! Sie machen es selbst! – Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)


– Frau Ferner, machen Sie einfach einen Punkt und halb-
lang.

Wir reden jetzt über die Steuerungswirkung. Tatsache
ist, dass diese Debatte vor allem auf der Basis von Un-
tersuchungen zur Häufigkeit der Arztbesuche geführt
wird. Richtig ist, dass es im Durchschnitt 17 Kontakte
im Jahr sind. Richtig ist aber auch, dass 16 Prozent der
Patienten für 50 Prozent der Kontakte zuständig sind.
Ich habe schon in der letzten Debatte darauf verwiesen,
dass es immer noch eine ordentliche und gute Steue-
rungswirkung gibt, dass die Praxisgebühr vor allem die
Hinwendung der Patienten zu Selektivverträgen, zu
Hausarztverträgen und damit zu den Hausärzten fördert.
Es gibt entsprechende Modelle, zum Beispiel der Bar-
mer GEK und vieler Betriebskrankenkassen. Ich nenne
als Beispiel für eine gute Steuerungswirkung die Zuzah-
lungen im Generikamarkt. Erst das In-Aussicht-Stellen
des Verzichts auf die Gebühr veranlasst viele Patienten
dazu, sich in die Verträge einzuschreiben. Ohne Praxis-
gebühr werden wir wieder das Facharzthopping erleben.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720106700

Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.


Karin Maag (CDU):
Rede ID: ID1720106800

Wir werden ohne Not wieder volle Notfallambulan-

zen am Wochenende haben. Und die sinnvolle Stärkung
der Hausärzte im System können wir wieder zu den Ak-
ten legen. Genau deshalb werden wir ohne Ihre Hilfe in-
nerhalb der Koalition das Notwendige überlegen und zu
guten und richtigen Entscheidungen kommen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720106900

Das Wort hat nun Steffen-Claudio Lemme für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Steffen-Claudio Lemme (SPD):
Rede ID: ID1720107000

Sehr geehrter Herr Präsident! Herr Minister Bahr!

Frau Staatssekretärin Widmann-Mauz! Frau Flach!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Praxisgebühr“: Al-
lein der Name ist irrsinnig. Eine Gebühr, wie man sie
sonst vielleicht von Parkgebühren oder den unsäglichen
Studiengebühren kennt, zu entrichten, um im Krank-
heitsfall behandelt zu werden, widerspricht dem sozialen
und solidarischen Grundgedanken der gesetzlichen





Steffen-Claudio Lemme


(A) (C)



(D)(B)


Krankenversicherung. Kurzum: Die Praxisgebühr gehört
abgeschafft.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Auch darum, weil sich der erhoffte Nutzen nicht gezeigt
hat: Weder konnte die Anzahl der Arztbesuche signifikant
gesenkt noch die hausarztzentrierte Versorgung gestärkt
werden. Noch immer sind die Deutschen Spitzenreiter in
den Wartezimmern mit durchschnittlich 17 Arztbesuchen
pro Jahr gegenüber nur 6 Arztbesuchen in den Niederlan-
den. Die Praxisgebühr verursacht zusätzliche Kosten für
die Versicherten ohne zusätzlichen Nutzen. Eigentlich ist
es noch schlimmer; denn es entstehen zusätzliche Kosten
bei geringerem Nutzen für die Versicherten, da die Pra-
xisgebühr manchen Kranken davon abgehalten hat, zum
Arzt zu gehen. Das macht nicht nur aus gesundheitsöko-
nomischer Sicht absolut keinen Sinn, nein. Da müsste
doch selbst bei Schwarz-Gelb der Groschen fallen. Statt-
dessen spielen Sie die Praxisgebühr gegen das Betreu-
ungsgeld aus.

Um eines an dieser Stelle klipp und klar zu sagen: Wir
Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind gegen
die Praxisgebühr und gegen das Betreuungsgeld.


(Beifall bei der SPD)


Ich finde es moralisch verwerflich, dass Sie Ihre Zanke-
reien auf dem Rücken der emanzipierten Familien aus-
tragen; denn mit dem Betreuungsgeld kommen wir wie-
der in der Steinzeit an.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Wir haben es ja nicht gemacht damals!)


Ich weiß nicht, ob es Ihnen entgangen ist: Führende
Ökonominnen und Ökonomen, Soziologinnen und So-
ziologen, Juristinnen und Juristen sagen Ihnen: Stoppen
Sie das Betreuungsgeld! – Aber auf diesem Ohr moder-
ner wissenschaftlicher Erkenntnisse scheint die Bundes-
regierung taub zu sein.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Wie bitte?)


Doch zurück zur Praxisgebühr. Die Abschaffung
kommt den Patientinnen und Patienten in vielerlei Hin-
sicht zugute. Wir kommen damit der paritätischen Finan-
zierung wieder ein Stück näher. Betrachtet man die Fi-
nanzierung des Gesundheitssystems, stellt man fest, dass
der Anteil der sogenannten Out-of-Pocket-Zahlungen,
also der Zuzahlungen, die von den Patientinnen und Pa-
tienten direkt aus der eigenen Tasche geleistet werden
müssen, bereits im Jahr 2009 bei 13 Prozent lag.

Die Daten von der Organisation für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung, kurz OECD, zeigen
darüber hinaus, dass der Anteil der Selbstbeteiligung
zwischen den Jahren 2000 und 2009 in nicht unerhebli-
chem Maße gestiegen ist. Das bedeutet eine stetige Zu-
nahme und einseitige finanzielle Belastung der Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem Land; denn
die Arbeitgeber sind hier ja fein raus.

Besonders hervorzuheben ist die Tatsache, dass der
Anteil der Selbstbeteiligung im Durchschnitt aller
OECD-Mitgliedstaaten gesunken ist. Deutschland steht
mit der Privatisierung von Gesundheitskosten und der
Individualisierung von gesundheitlichen Risiken im in-
ternationalen Vergleich fast alleine da.

Was sind die Folgen? Wir haben: die Praxisgebühr in
Höhe von 10 Euro pro Quartal, Zuzahlungen zu Medika-
menten und Hilfs- und Heilmitteln, 10 Euro pro Kalen-
dertag im Krankenhaus – und das bis zu 28 Tagen – und
noch vieles mehr. Wie sollen sich das Alleinerziehende
oder Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit gerin-
gem Einkommen leisten, wie beispielsweise im Osten,
wo das Lohnniveau spürbar unter dem der westdeut-
schen Bundesländer liegt? Da tun die 10 Euro Praxisge-
bühr deutlich mehr weh.

Ihre Reaktion darauf fällt eindeutig aus. Sie gehen
trotz Krankheit entweder gar nicht zum Arzt, oder aber
sie schieben den Arztbesuch ins nächste Quartal, um für
das auslaufende Quartal die Praxisgebühr zu sparen. Das
ist aber nicht nur schlecht für die Kranken, sondern führt
auch für uns alle zu weiter steigenden Kosten.

Gewerkschaften, Patientenorganisationen, Sozial- und
Wohlfahrtsverbände weisen seit längerem auf die negati-
ven Steuerungseffekte der Praxisgebühr hin und betonen
dabei die Verschärfung der sozialen und gesundheitlichen
Ungleichheit in Deutschland. Wir müssen endlich han-
deln. Die Praxisgebühr muss weg!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, Hausärztinnen und
Hausärzte sind wichtige Akteure in der Versorgungsland-
schaft. Leider wird ihnen bislang noch nicht der Stellen-
wert beigemessen, den sie verdienen. Ihre Funktion wird
unterschätzt. Durch die Praxisgebühr war beabsichtigt,
dass die Hausärztinnen und Hausärzte die Patientinnen
und Patienten durch das ambulante Versorgungssystem
navigieren und damit als Lotsen fungieren. Auch dieser
erhoffte Effekt ist nicht eingetreten. Die Hausärztinnen
und Hausärzte leiden noch immer unter einem schlechten
Image, auch bei den Medizinstudenten.

Im Vergleich zu anderen Facharztgruppen verdienen
Hausärzte deutlich weniger, und ihre Arbeit ist noch nicht
so hoch angesehen wie beispielsweise die eines Kardio-
logen. Dabei müsste den Hausärztinnen und Hausärzten
in einer immer älter werdenden Gesellschaft eine Schlüs-
selfunktion zukommen. Doch der Hausärztemangel ist in
manchen Regionen Deutschlands fatal.

Lassen Sie mich kurz zusammenfassen: Die Praxisge-
bühr hat in keinster Weise dazu geführt, positive Effekte
im deutschen Gesundheitssystem hervorzurufen. Im Ge-
genteil: Sie hat einen Beitrag zur sozialen und gesund-
heitlichen Ungleichheit geleistet. Ihre Abschaffung ist
überfällig. Daher bitte ich Sie um breite Zustimmung zu
unserem Antrag, die Praxisgebühr abzuschaffen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720107100

Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich Kol-

legen Rudolf Henke für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Rudolf Henke (CDU):
Rede ID: ID1720107200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren!

Im Alter, bei Krankheit oder in anderen schwieri-
gen Lebenssituationen kann es für jeden von uns
Momente geben, in denen wir auf die Solidarität
der anderen angewiesen sind. Diese Solidarität un-
ter veränderten ökonomischen Bedingungen in ei-
ner globalisierten Welt, aber auch angesichts der
veränderten demographischen Entwicklung zu ge-
währleisten ist unsere Aufgabe. Dass wir alle
glücklicherweise immer älter werden und die Le-
benserwartung steigt, auf der anderen Seite aber zu
wenig Kinder geboren werden, ist die größte He-
rausforderung des 21. Jahrhunderts.

Das waren Worte aus der Debatte vom 9. September
2003, vorgetragen von der damaligen Bundesgesund-
heitsministerin Ulla Schmidt. Im Anschluss daran wurde
im Deutschen Bundestag die Einführung der Praxisge-
bühr als Teil eines Sanierungskonzepts für die sozialen
Versicherungssysteme beschlossen. Es ist im Protokoll
registriert: „Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/
Die Grünen“. Wenn ich das Gleiche sage, hätte ich jetzt
gern den gleichen Beifall.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Aber Sie haben sich ja von Ihrer damaligen Haltung
abgewendet. Sie nennen die Praxisgebühr heute ja sogar
„irrsinnig“.


(Zuruf von der CDU/CSU: Wendehälse!)


Sie erwecken den Anschein, es sei moralisch verwerf-
lich, was damals Ihre eigene Politik war,


(Mechthild Rawert [SPD]: Wir schauen nach Evidenz!)


und Sie stellen sich hin und tun so, als wäre das im
Grunde gänzlich unehrenhaft.


(Mechthild Rawert [SPD]: Wo ist denn die Evidenz?)


Sie bringen drei Argumente. Das erste lautet, die Pra-
xisgebühr ist unwirksam; das zweite lautet, sie ist unso-
zial, und das dritte lautet, sie ist unnötig. Mit allen drei
Argumenten möchte ich mich auseinandersetzen.

Zur Frage der Wirksamkeit. Wenn man sich das me-
thodisch einmal genau anguckt, merkt man: Es ist ja eine
superkomische Konstruktion, zu sagen: Weil nach der
Einführung der Kassengebühr die Arztbesuche trotzdem
angestiegen sind, ist das der Beweis dafür, dass die Kas-
sengebühr auf Arztbesuche keinen Einfluss hatte; sie hat
bei der Steuerungswirkung versagt. – Das ist relativ al-
bern. Denn es kann ja dafür, warum die Zahl der Arztbe-

suche steigt, eine Begründung geben, die gar nichts mit
der Kassengebühr zu tun hat. Dann hat die Kassenge-
bühr trotzdem eine Wirkung, die darin liegt, dass sie ei-
nen Anstieg, der darüber läge, dämpft. Ich halte das je-
denfalls für methodisch genauso gut belegt, genauso gut
vertretbar wie die Aussage, sie sei unwirksam.


(Mechthild Rawert [SPD]: Darüber gibt es nur keine Untersuchungen! Über das andere ja!)


Im Übrigen möchte ich aus einem Interview mit der
damals immer noch amtierenden Bundesgesundheits-
ministerin Ulla Schmidt mit der Welt online aus dem
Jahr 2004 zitieren, wo sie erklärt hat:

Sie bringt jedes Jahr 1,5 Milliarden Euro. Sie war
ein Kompromiss. … Sie ist nicht beliebt, aber die
Mehrheit der Versicherten hat sie akzeptiert. …

Es stimmt, dass die Praxisgebühr mittlerweile nur
eine geringe Lenkungswirkung hat. Aber sie ist
eine Form der Zuzahlung und bringt eine Menge
notwendiger Einnahmen.

So weit Ulla Schmidt, die ja zu Ihren Reihen gehört –
egal, worüber Sie, Herr Franke, mit ihr telefoniert haben.
Das müsste dann ja im Gegensatz zu dem stehen, was sie
noch 2004 der Öffentlichkeit gegenüber erklärt hat.


(Elke Ferner [SPD]: Wir können Ihnen dann ja auch Ihre Rede vorhalten!)


Dann zu der Frage, ob die Praxisgebühr denn unsozial
ist. Es ist ja schon viel darüber gesprochen worden, dass
Zuzahlungen nicht einen Wert von 1 Prozent oder 2 Pro-
zent des Jahreseinkommens überschreiten können. Aber
ich glaube, es gibt noch einen zweiten Punkt. Worum
machen sich die Menschen Sorgen, wenn sie über die
Sozialkassen in Deutschland sprechen und nachdenken?
Sie machen sich Sorgen darum, dass die Finanzkraft der
sozialen Kassen angesichts der demografischen Ent-
wicklung, angesichts des medizinischen Fortschritts, an-
gesichts berechtigter Erwartungen an Lohnerhöhungen
bei den Beschäftigten im Gesundheitswesen möglicher-
weise nicht reichen könnte, um die Versicherungsver-
sprechen einzulösen.

Das Wichtigste, was wir für Patientinnen und Patien-
ten in Deutschland tun können – noch wichtiger viel-
leicht als all das, was wir mit dem Patientenrechtegesetz
bewirken, jedenfalls aber zusätzlich nötig –, ist, dass wir
die Finanzkraft der gesetzlichen Krankenkassen so stark
machen, dass sich jeder, der heute in dieses System hi-
neinkommt, darauf verlassen kann, dass dieses System
auch dann, wenn er älter ist, finanziell tragfähig sein
wird. Dies erfordert natürlich, dass man sich auf die gro-
ßen Risiken konzentriert und sie zuverlässig absichert.
Wo ist denn dann das Problem für jemanden, der durch-
schnittlich verdient, eine Eigenbeteiligung von 10 Euro
zu leisten? Im Übrigen, verehrte SPD-Kollegen, wollen
Sie ja auch gar keine Abschaffung der übrigen Zuzah-
lungen, jedenfalls jetzt nicht, oder Sie machen die Ab-
schaffung der Praxisgebühr zu einem Schritt auf dem
Weg dazu.

Dritte Bemerkung: Die Praxisgebühr ist unnötig. – Ja,
es ist wahr und mit Recht betont worden, dass die Koali-





Rudolf Henke


(A) (C)



(D)(B)


tion erreicht hat, dass die Finanzlage der gesetzlichen
Krankenkassen unendlich viel besser ist, als sie es früher
war.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Zulasten der Versicherten!)


Die Koalition hat dies erreicht, weil die Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer in den Betrieben die Grundlage
dafür erwirtschaftet haben und weil wir auf einen
Wachstumspfad zurückgekehrt sind, der heute zu Re-
kordzahlen an sozialversicherungspflichtig Beschäftig-
ten geführt hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Elke Ferner [SPD]: Trotz dieser Regierung, nicht wegen!)


Das ist eine Leistung, die uns diese Situation erst ermög-
licht.

Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, in meiner Hei-
matstadt Aachen, in meinem Wahlkreis kämpfen jetzt
zur Stunde 600 Arbeiter der Firma Bombardier um ihre
Arbeitsplätze, weil das Unternehmen angekündigt hat,
600 Stellen zu streichen und das Werk, das 174 Jahre alt
ist, zu schließen, da man angeblich in einem wachsenden
Markt für Ausrüstungsinvestitionen bei der Bahn keine
Aufträge mehr bekommt. In einer Situation, wo das auch
anderswo eintreten kann, soll ich mich jetzt hierher stel-
len und sagen: „Wir sind sicher, dass das Geld, das in
den Kassen ist, für alle reicht, um in Zukunft die Sozial-
versicherungsaufgaben zu finanzieren“, und ich soll auf
Einnahmen in Höhe von 1,5 oder 1,6 Milliarden Euro
verzichten?


(Elke Ferner [SPD]: Dann stimmen Sie doch wohl gegen die Absenkung der Rentenversicherungsbeiträge?)


Das ist kurzsichtig, das geht in meiner Wahrnehmung
weit über das hinaus, was Sie an Prognosekraft aufbrin-
gen können. Deswegen sage ich: Die Finanzkraft der so-
zialen Kassen zu erhalten, ist für deren Verlässlichkeit
und für die Gültigkeit des Versicherungsversprechens
viel wichtiger als die Frage, ob wir jetzt den Ärzten oder
den Versicherten gefallen und Applaus dafür bekommen,
dass wir uns für die Abschaffung der Praxisgebühr ein-
setzen.

Zum Schluss noch eine letzte Bemerkung. Lieber
Herr Kollege Lauterbach, Sie haben Horst Seehofer als
Erfinder der Kassengebühr angegriffen. Ich weiß nicht,
ob er das war; ich war nicht dabei, ich kann das nicht sa-
gen.


(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Er war es, ich war dabei!)


Sie haben dazu gesagt: Unehre, wem Unehre gebührt. –
Herr Lauterbach, wenn das der Stil der Debatte ist,


(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Ja! Die Wahrheit!)


dass Sie, wenn jemand eine neue Idee hat und sie vor-
trägt, anschließend sagen: Ich bin derjenige, der hier die
Schulnote verteilt, der ihn moralisch abwertet und der

dann erklärt, wer eine neue Idee hat, verdient das Urteil
„Unehre, wem Unehre gebührt“, dann machen Sie parla-
mentarische Debatte im Sachkern unmöglich und sorgen
dafür, dass nur noch populistisch und polemisch gestrit-
ten werden kann. Das dürfen wir uns nicht gefallen las-
sen.


(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Heuchelei! Wie gehen Sie denn miteinander um? – Elke Ferner [SPD]: Die klatschen aber auch bei jedem Müll!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720107300

Ich schließe die Aussprache.

Die Fraktionen der SPD, der Linken und von Bünd-
nis 90/Die Grünen wünschen die Abstimmung ihrer
Anträge auf Drucksachen 17/11192, 17/11141 und
17/11179 in der Sache. Die Fraktionen von CDU/CSU
und FDP wünschen jeweils Überweisung, und zwar fe-
derführend an den Ausschuss für Gesundheit. Die An-
träge auf den Drucksachen 17/11192 und 17/11179 sol-
len darüber hinaus mitberatend an den Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie, den Ausschuss für Arbeit
und Soziales sowie an den Haushaltsausschuss überwie-
sen werden.

Nach ständiger Übung stimmen wir zuerst über die
Anträge auf Ausschussüberweisung ab. Ich frage des-
halb: Wer stimmt für die beantragten Überweisungen? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen?


(Thomas Oppermann [SPD]: Mehrheit! Sofortige Abstimmung!)


– Es besteht Uneinigkeit im Präsidium. Ich wiederhole
die Abstimmung.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Wolfgang Zöller [CDU/CSU], zum Abg. Thomas Oppermann [SPD] gewandt: Das haben Sie doch schon vorher ausgemacht, Sie scheinheiliger Tropf!)


Wer stimmt für die Überweisungen? – Wer stimmt dage-
gen? –


(Zurufe von der SPD: Mehrheit!)


Enthaltungen? – Es herrscht Uneinigkeit. Sie kennen das
Verfahren: Es folgt jetzt ein Hammelsprung.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU], zum Abg. Thomas Oppermann [SPD] gewandt: Schämen Sie sich!)


Ich bitte Sie also, den Plenarsaal zu verlassen und dann
durch die entsprechenden Türen – Ja, Nein, Enthaltung –
den Plenarsaal wieder zu betreten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf Sie bitten,
den Plenarsaal zu verlassen, damit wir eine ordnungs-
gemäße Durchführung des Hammelsprungs garantieren
können.

Ich habe den Eindruck, alle Kolleginnen und Kolle-
gen haben den Plenarsaal verlassen, sodass wir jetzt mit
der Abstimmung beginnen können. Die Abstimmung ist
eröffnet.





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Darf ich fragen, ob alle werten Abgeordneten den Ple-
narsaal wieder betreten haben? – Das ist der Fall. Ich
schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerin-
nen und Schriftführer, mir das Ergebnis zu übermitteln.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich teile Ihnen das
von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte
Ergebnis der Abstimmung mit – Sie wissen, es geht um
die Frage der Überweisung an die Ausschüsse –: Mit Ja
haben gestimmt 297, mit Nein 225, Enthaltungen keine.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Damit sind die Überweisungen so beschlossen. Das
heißt, wir stimmen heute nicht in der Sache über die An-
träge ab; daher entfällt auch die namentliche Abstim-
mung.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe die Tages-
ordnungspunkte 48 a bis 48 h sowie Zusatzpunkt 4 auf:
48 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-

gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Auswandererschutzgesetzes
– Drucksache 17/11047 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Innenausschuss

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpas-
sung der Vorschriften des Internationalen Pri-
vatrechts an die Verordnung (EU) Nr. 1259/
2010 und zur Änderung anderer Vorschriften
des Internationalen Privatrechts
– Drucksache 17/11049 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Vor-
schlägen für einen Beschluss des Rates über
die Unterzeichnung und für einen Beschluss
des Rates über den Abschluss des Abkommens
zwischen der Europäischen Union und der
Schweizerischen Eidgenossenschaft über die
Zusammenarbeit bei der Anwendung ihres
Wettbewerbsrechts
– Drucksache 17/11050 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Rechtsausschuss

d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des AZR-Gesetzes
– Drucksache 17/11051 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Rechtsausschuss

e) Erste Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Interna-
tionalen Übereinkommen von 2004 zur Kon-
trolle und Behandlung von Ballastwasser und
Sedimenten von Schiffen (Ballastwasser-Gesetz)

– Drucksache 17/11052 –

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver
Krischer, Ute Koczy, Beate Walter-Rosenheimer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Transparenz bei Steinkohleimporten

– Drucksache 17/10845 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Auswärtiger Ausschuss 
Innenausschuss 
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate
Walter-Rosenheimer, Dr. Thomas Gambke, Ingrid
Hönlinger, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Erleichterungen für Klein- und Kleinstkapi-
talgesellschaften bei der Offenlegung der Jah-
resabschlüsse

– Drucksache 17/11027 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Finanzausschuss 
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Stephan
Kühn, Renate Künast, Dr. Anton Hofreiter, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Aufsichtsrat neu besetzen, Geschäftsführer
entlassen und den Flughafen Berlin-Branden-
burg skandalfrei fertigstellen

– Drucksache 17/11168 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Ausschuss für Tourismus

ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerold
Reichenbach, Michael Hartmann (Wackernheim),
Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD

Europäische Harmonisierung im Datenschutz
auf hohem Niveau sicherstellen
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundes-
tages nach Artikel 23 Absatz 3 des Grund-
gesetzes i. V. m. § 10 des Gesetzes über die
Zusammenarbeit von Bundesregierung und
Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der
Europäischen Union

– Drucksache 17/11144 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Rechtsausschuss 
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales 
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 
Ausschuss für Kultur und Medien

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 49 a
bis 49 l. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu
Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.

Tagesordnungspunkt 49 a:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die weitere Bereinigung von Übergangs-
recht aus dem Einigungsvertrag

– Drucksache 17/10755 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)


– Drucksache 17/11092 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Marco Wanderwitz
Sonja Steffen
Marco Buschmann
Jens Petermann
Ingrid Hönlinger

Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/11092, den Gesetzentwurf
der Bundesregierung auf Drucksache 17/10755 in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Was ist mit der FDP und
den Grünen? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Be-
ratung mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD, Linken
und FDP bei Enthaltung der Grünen angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen?


(Markus Grübel [CDU/CSU], an BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN gerichtet: Aufstehen! – Gegenruf der Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben eine Lücke!)


– Die Lücke ist geschlossen. Das Haus stimmt zu bei
Enthaltung der Grünen.

Tagesordnungspunkt 49 b:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Feststellung des Wirtschaftsplans des
ERP-Sondervermögens für das Jahr 2013

(ERP-Wirtschaftsplangesetz 2013)


– Drucksache 17/10915 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-

(9. Ausschuss)


– Drucksache 17/11165 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Heinz Riesenhuber

Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/11165, den Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung auf Drucksache 17/10915 anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera-
tung einstimmig angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist damit in dritter Lesung einstimmig angenom-
men.

Tagesordnungspunkt 49 c:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Durchführung der Verordnung (EU)

Nr. 1177/2010 des Europäischen Parlaments
und des Rates vom 24. November 2010 über
die Fahrgastrechte im See- und Binnenschiffs-
verkehr sowie zur Änderung des Luftver-
kehrsgesetzes

– Drucksache 17/10958 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

(15. Ausschuss)


– Drucksache 17/11181 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Thomas Lutze

Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick-
lung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/11181, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf Drucksache 17/10958 anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera-
tung mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen
bei Enthaltung der drei Oppositionsfraktionen angenom-
men.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie in
der zweiten Beratung angenommen.





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Tagesordnungspunkt 49 d:

– Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei-
nes Gesetzes zu dem Abkommen vom 23. April
2012 zwischen der Bundesrepublik Deutsch-
land und dem Großherzogtum Luxemburg
zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und
zur Verhinderung der Steuerhinterziehung auf
dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und
vom Vermögen

– Drucksache 17/10751 –

– Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Abkommen vom 12. April 2012 zwi-
schen der Bundesrepublik Deutschland und
dem Königreich der Niederlande zur Vermei-
dung der Doppelbesteuerung und zur Verhin-
derung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet
der Steuern vom Einkommen

– Drucksache 17/10752 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses (7. Ausschuss)


– Drucksache 17/11106 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Kolbe
Lothar Binding (Heidelberg)


Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11106,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Druck-
sache 17/10751 anzunehmen.

Zweite Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP
gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der Grü-
nen angenommen.

Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11106, den Ge-
setzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/10752
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-
wurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von
CDU/CSU, SPD und FDP bei Enthaltung von Linken
und Grünen angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zu-
stimmen will, möge sich erheben. – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit den
gleichen Mehrheitsverhältnissen wie in der zweiten Be-
ratung angenommen.

Tagesordnungspunkt 49 e:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung (15. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Sören
Bartol, Uwe Beckmeyer, Martin Burkert, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Klimagerechte Stadtpolitik – Potentiale
nutzen, soziale Gerechtigkeit garantieren,
wirtschaftliche Entwicklung unterstützen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Bettina
Herlitzius, Daniela Wagner, Stephan Kühn,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Klimaschutz in der Stadt

– zu dem Antrag der Abgeordneten Daniela
Wagner, Bettina Herlitzius, Ingrid Nestle, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Energieeffizienz und Klimaschutz im Ge-
bäudebereich

– Drucksachen 17/7023, 17/5368, 17/5778,
17/8384 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Götz

Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick-
lung empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/8384 die Ablehnung des An-
trags der SPD-Fraktion auf Drucksache 17/7023 mit dem
Titel „Klimagerechte Stadtpolitik – Potentiale nutzen,
soziale Gerechtigkeit garantieren, wirtschaftliche Ent-
wicklung unterstützen“. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der bei-
den Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei
Oppositionsfraktionen angenommen.

Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die
Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/5368 mit dem Titel „Klima-
schutz in der Stadt“. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der bei-
den Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Linken
und Grünen bei Enthaltung der SPD angenommen.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-
stabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/5778 mit dem Titel „Energieeffizienz und Kli-
maschutz im Gebäudebereich“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Grünen bei Enthaltung von SPD und Linken ange-
nommen.

Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Tagesordnungspunkt 49 f:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 480 zu Petitionen

– Drucksache 17/11020 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 480 ist einstimmig an-
genommen.

Tagesordnungspunkt 49 g:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 481 zu Petitionen

– Drucksache 17/11021 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 481 ist einstimmig an-
genommen.

Tagesordnungspunkt 49 h:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 482 zu Petitionen

– Drucksache 17/11022 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 482 ist einstimmig an-
genommen.

Tagesordnungspunkt 49 i:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 483 zu Petitionen

– Drucksache 17/11023 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 483 ist mit den Stim-
men von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen
von Linken und Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 49 j:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 484 zu Petitionen

– Drucksache 17/11024 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 484 ist mit den Stim-
men von CDU/CSU, FDP und Linken gegen die Stim-
men von SPD und Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 49 k:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 485 zu Petitionen

– Drucksache 17/11025 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 485 ist mit den Stim-
men von CDU/CSU, FDP und Grünen gegen die Stim-
men von SPD und Linken angenommen.

Tagesordnungspunkt 49 l:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 486 zu Petitionen

– Drucksache 17/11026 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Sammelübersicht 486 ist mit den Stimmen der
beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei
Oppositionsfraktionen angenommen.

Ich rufe nun den Zusatzpunkt 5 auf:

Aktuelle Stunde

auf Verlangen der Fraktion der SPD

Haltung der Bundesregierung zu Äußerungen
des Vizekanzlers Dr. Rösler, das Betreuungs-
geld koste viel Geld, sei nicht gegenfinanziert
und eine Bildungskomponente fehle völlig


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich eröffne die Aussprache und erteile Frank-Walter
Steinmeier für die SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD):
Rede ID: ID1720107400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Das … Betreuungsgeld kostet viel Geld, ist nicht
gegenfinanziert und eine Bildungskomponente fehlt
völlig.


(Beifall bei der SPD)


Ich muss Ihnen offen und ehrlich sagen: Ich hatte bisher
nicht viel Gelegenheit, Übereinstimmung mit Herrn
Rösler zu suchen, aber hier hat er recht.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich finde es schön, dass im Laufe der Zeit Entwick-
lung möglich ist. Sie begreifen jetzt, was Opposition,
Wissenschaft, Verfassungsjuristen, Kinderschutzbund,
Migrantenverbände, Gewerkschaften, Arbeitgeber,
Evangelische Kirche und vor allen Dingen die große
Mehrheit der Bevölkerung schon seit langem wissen:
Das Betreuungsgeld ist Geldverschwendung, setzt völlig
falsche Anreize, taugt nichts und muss vom Tisch.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Vor ziemlich genau einem Jahr habe ich hier auch
zum Betreuungsgeld geredet. Dass das Thema noch im-
mer „hängt“, hat natürlich Gründe. Wenn Sie in der Ko-
alition davon überzeugt wären, dass das Betreuungsgeld





Dr. Frank-Walter Steinmeier


(A) (C)



(D)(B)


wirklich das Richtige ist, dann hätten Sie es längst um-
gesetzt. Was Sie, meine Damen und Herren von den Ko-
alitionsfraktionen, in Wahrheit beunruhigt,


(Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Wir sind die Ruhe selbst!)


ist, dass Sie in diesem Falle nicht nur Kritik aus der Op-
position bekommen, sondern dass die Verständnislosig-
keit in den eigenen Reihen von Monat zu Monat wächst.

Viele Ihrer Kolleginnen und Kollegen von FDP und
CDU glauben selbst nicht an dieses Instrument. Sie haben
aber nicht die Kraft – und das ist das Entscheidende –, aus
der wachsenden Verständnislosigkeit in den eigenen Rei-
hen die richtigen Schlüsse zu ziehen. Sie lassen die
Dinge treiben und hoffen auf Ermüdung der Öffentlich-
keit bei diesem Thema. Genau das werden wir Ihnen
aber nicht durchgehen lassen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Dass ich mich zu diesem Thema nach einem Jahr hier
im Bundestag wieder zu Wort melde, hat nichts damit zu
tun, dass ich das Betreuungsgeld für eine der vielen nicht
finanzierten sinnlosen Maßnahmen zur Klientelbefriedi-
gung halte, sondern weil ich noch immer – heute sogar
immer mehr – der Meinung bin, dass Sie in unserem Bil-
dungssystem an einer verhängnisvoll falschen Weichen-
stellung arbeiten. Die Tragweite dessen, was Sie hier
jetzt auf den Weg schicken wollen, erkennen Sie bei Ih-
rem koalitionären Tunnelblick inzwischen gar nicht
mehr.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie müssen sich doch über eines im klaren sein: Sie
können in der nächsten Woche im Koalitionsausschuss
irgendeinen krummen Kompromiss zurechtzimmern,
den der Finanzminister am Ende bezahlt und der Ihnen
in der Koalition vielleicht über die nächsten vier Wochen
hilft. Es bleibt aber bei der Wahrheit, die ich vor einem
Jahr von diesem Pult aus auch schon gesagt habe: Das,
was Sie hier vorbereiten, ist eine bildungspolitische Ka-
tastrophe. Ein anderes Wort habe ich dafür nicht zur Ver-
fügung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Was immer Sie in der Koalitionsküche jetzt zusam-
menbrutzeln: Sie verantworten am Ende einen grundle-
gend falschen Anreiz, nämlich eine Prämie dafür, dass
Kinder zu Hause bleiben. Viele von Ihnen wissen ver-
mutlich, was Sie damit anrichten: Gerade viele der Kin-
der, die wir viel mehr in öffentlichen Betreuungseinrich-
tungen sehen möchten, gerade viele der Kinder, die erst
durch die Betreuung in öffentlichen Einrichtungen über-
haupt eine Chance im Bildungssystem bekommen, ge-
rade auch viele Kinder aus Familien mit Migrationshin-
tergrund, die eine möglichst frühzeitige Sprachförderung

erhalten müssen, werden durch Ihre Prämie und Ihren
Fehlanreiz zu Hause bleiben. Sie wissen das, machen es
aber trotzdem. Das ist das Verantwortungslose.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich meine, wir müssen familienpolitisch argumentie-
ren. Aber auch ökonomisch verstehe ich Sie nicht, ge-
rade diese Koalition nicht, gerade wenn Sie, wie viele
von Ihnen, bei der letzten BDA-Jahrestagung geredet
und gehört haben, was Ihnen die Unternehmer in diesem
Lande berichten, nämlich von ihrer Sorge um den Man-
gel an Arbeitskräften. Nun besteht aber die Hälfte der
gut ausgebildeten jungen Menschen in diesem Lande aus
Frauen. Deren Erwerbstätigkeit – daran haben wir ein
Interesse – müssen wir fördern und nicht behindern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Aber es scheint so zu sein, dass Ideologie oder Koali-
tionsarithmetik auch die einfachsten Gesetze der Logik
außer Kraft setzen.

Vor einem Jahr kam ich aus einem Gespräch mit den
kommunalen Spitzenverbänden zu der Debatte zum Be-
treuungsgeld hierher. Zufälligerweise hat ein solches
Treffen gerade gestern wieder stattgefunden. Ich will Ih-
nen noch einmal sagen: Die Botschaft, die von unseren
Kommunen kommt, ist immer noch dieselbe. Sie ist
ganz einfach und klar: Hört damit auf, Geld auszugeben,
damit Kinder zu Hause bleiben! Ganz im Gegenteil: Je-
der Euro, jeder Cent, der für diesen Unsinn verschleudert
wird, der wird für den Kitaausbau dringend gebraucht. –
Recht haben die kommunalen Spitzenverbände!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb zum Schluss. Mit Verlaub: Alle Argumente
liegen auf dem Tisch, aber sie sind eben nicht auf Ihrer
Seite. Auf Ihrer Seite ist der ominöse Koalitionsfrieden.
Nicht aber dem sind Sie mit Ihrem Mandat verpflichtet,
sondern dem Wohl von Familien und der Zukunft der
Kinder hier in Deutschland. Deshalb muss das Betreu-
ungsgeld vom Tisch.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1720107500

Vielen Dank, Kollege Dr. Frank-Walter Steinmeier. –

Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist un-
ser Kollege Markus Grübel. Bitte schön, Kollege
Markus Grübel.


(Beifall bei der CDU/CSU – Martin Burkert [SPD]: Wo sind denn eure Frauen?)







(A) (C)



(D)(B)



Markus Grübel (CDU):
Rede ID: ID1720107600

Die kommen noch. – Herr Präsident! Liebe Kollegin-

nen und Kollegen! Wir haben hier im Deutschen Bun-
destag schon eine sehr seltsame Opposition. Wenn das
Thema Betreuungsgeld auf der regulären Tagesordnung
des Bundestages steht, dann verweigert sich die Opposi-
tion, dann versucht die Opposition mit allen Verfahrens-
tricks, auch mit schlechten, die Debatte hier im Parla-
ment zu verhindern.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wenn dieses Thema in einer Woche einmal nicht auf der
Tagesordnung steht, dann können wir uns blind darauf
verlassen, dass es dazu eine Aktuelle Stunde gibt. Ich
kann die Zahl der Aktuellen Stunden zum Betreuungs-
geld schon nicht mehr zählen.


(Caren Marks [SPD]: Es reicht noch nicht einmal mehr, bis zehn zu zählen!)


Ich habe die Hoffnung aufgegeben, dass wir Sie noch
durch Sachargumente überzeugen können.

Aber zur Sache. Zur Grundsatzfrage hat der Vorsit-
zende der FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag,
Rainer Brüderle, gestern alles gesagt. Herr Brüderle hat
noch einmal betont, dass er zum Betreuungsgeld steht.


(Caren Marks [SPD]: Was zählt denn nun?)


Ich zitiere: Wir sind vertragstreu, das ist vereinbart.


(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Brüderle oder Rösler?)


Das sagt Rainer Brüderle. Wir werden in naher Zukunft
den Gesetzentwurf hier im Deutschen Bundestag zu ei-
nem guten Abschluss bringen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Es wird noch ein paar Änderungen geben, zum Beispiel
Wahlleistungen für eine kapitalgedeckte Rente, oder die
FDP hat noch Wünsche für eine Bildungskomponente,
aber im Kern wird es beim vereinbarten Betreuungsgeld
bleiben.


(Katrin Kunert [DIE LINKE]: Jetzt kommen aber wir ins Grübeln, Herr Grübel!)


Um was geht es beim Betreuungsgeld? Bund, Länder
und Gemeinden fördern jeden Platz für jedes Kind unter
drei Jahren mit 900 bis 1 000 Euro im Monat. Eltern, die
die Betreuung selbst organisieren oder eine Betreuung,
die nicht öffentlich gefördert wird, in Anspruch nehmen,
sollen künftig 150 Euro im Monat erhalten. Als Aner-
kennung für ihre Betreuungsleistung, aber auch als
Unterstützung für die selbstorganisierte Betreuung, die
nicht staatlich gefördert wird,


(Caren Marks [SPD]: Wer keine Bibliothek nutzt, kriegt auch Geld jeden Monat?)


fördern Bund, Länder und Gemeinden jeden Platz für ei-
nen unter Dreijährigen mit 900 Euro bis 1 000 Euro im
Monat. Dabei geht es um ein- oder zweijährige Kinder.


(Iris Gleicke [SPD]: Kriegen jetzt Nichtschwimmer, die nicht ins Schwimmbad gehen, auch Geld?)


Meine Damen und Herren, wir wollen die Wahlfrei-
heit. Dazu gehört einerseits das Betreuungsgeld und an-
dererseits der massive Ausbau der Kinderbetreuungs-
plätze auch für die unter Dreijährigen. Noch nie wurden
in Deutschland so viele Betreuungsplätze für unter Drei-
jährige geschaffen wie in den letzten drei Jahren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Das ist auch notwendig!)


Noch nie wurde so viel Bundesgeld eingesetzt, um
Betreuungsplätze zu schaffen. In den letzten drei Jahren
haben wir 4 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. In
vielen Ländern sind diese Mittel jetzt aufgebraucht. Da-
rum haben wir jetzt zusätzliche Mittel, nämlich 580 Mil-
lionen Euro, für zusätzliche 30 000 Betreuungsplätze be-
reitgestellt.

Was machen nun aber manche Länder bzw. die Län-
der? Sie blockieren, weil sie nicht regelmäßig berichten
wollen, wie viele Betreuungsplätze zur Verfügung ste-
hen. Diese Zahl brauchen wir aber, um garantieren zu
können, dass wir im August 2013 auch wirklich den
Rechtsanspruch erfüllen können.

Ich kann mich noch gut an das Tagesbetreuungsaus-
baugesetz erinnern – Herr Steinmeier; Frau Künast, Sie
reden nachher –, das von Rot-Grün auf den Weg ge-
bracht worden ist. Dabei sind auch Milliarden eingesetzt
worden. Ich habe aber noch keinen SPD-Bürgermeister
und noch keinen SPD-Kämmerer gefunden, der mir ge-
sagt hat: Das Geld ist in meiner Kommune angekom-
men.

Das haben wir beim Kinderförderungsgesetz besser
gemacht. Damals haben wir gemeinsam regiert. Wir ha-
ben gesagt: Es muss nachweisbar sein, dass die Kom-
mune das Geld bekommt, die tatsächlich Betreuungs-
plätze für unter Dreijährige schafft. – Heute kann jeder
im Haushaltsplan seiner Gemeinde nachlesen, zu wel-
chem Anteil der Bund beispielsweise einen Neubau be-
zuschusst und wie hoch die laufende Förderung des Bun-
des ist. Dabei können sich die Kommunen auf den Bund
verlassen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn man sich auf Sie verlässt, ist man verlassen! Das ist die Wahrheit!)


Diese guten Erfahrungen wollen Sie jetzt wieder auf-
geben. Insbesondere die rot-grün regierten Länder wol-
len das ändern und das Geld wieder in ihre Taschen lei-
ten. Deshalb haben wir die Sorge, dass nur wenig oder
gar nichts bei den Kommunen ankommt. Dabei machen
wir nicht mit.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Caren Marks [SPD]: Am Thema vorbei!)


Meine Damen und Herren, schauen wir doch einmal
auf den Ausbauzustand. Wer hat sich in den letzten Jah-





Markus Grübel


(A) (C)



(D)(B)


ren angestrengt? Es gibt eine neue Studie vom Deut-
schen Jugendinstitut. Danach ist der Fehlbedarf in einem
SPD-regierten Land am größten, nämlich in Bremen.
Dann folgt Nordrhein-Westfalen. Im Osten ist der Fehl-
bedarf in Mecklenburg-Vorpommern am größten. Wer
ist denn dort Sozialministerin? Das ist doch eine von der
SPD,


(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Eine gute!)


die hier immer dicke Backen macht, es aber nicht hinbe-
kommt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen stehen bes-
ser da. Deshalb kann man wirklich sagen, dass die Vo-
raussetzungen ähnlich sind.


(Caren Marks [SPD]: Niedersachsen! Schwarz-gelb!)


Schauen wir doch einmal in den Westen. Wer hat im
Westen den geringsten Fehlbedarf? Dies ist der Freistaat
Bayern.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Bayern ist für das Betreuungsgeld, tut aber etwas für den
Ausbau der Betreuung der unter Dreijährigen und ist da-
bei vorbildlich. Bayern hat sich wirklich angestrengt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Bei dieser Lage sollten Sie Ihre Länder beeinflussen,
dass sie die 580 Millionen Euro für die 30 000 neuen
Betreuungsplätze nehmen, nicht weiter blockieren und
ihrer Berichtspflicht nachkommen.


(Caren Marks [SPD]: Reden Sie einmal zum Betreuungsgeld!)


Vielleicht ist der wirkliche Grund für die heutige Ak-
tuelle Stunde, von diesem Problem und von Ihrem eige-
nen Versagen abzulenken. Dabei machen wir aber nicht
mit.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Caren Marks [SPD]: Thema verfehlt!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1720107700

Vielen Dank, Kollege Markus Grübel. – Nächster

Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion
Die Linke unser Kollege Dr. Gregor Gysi. Bitte schön,
Kollege Dr. Gregor Gysi.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720107800

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich be-

schäftige mich jetzt einmal mit dem Frauenbild der Män-
ner der CDU/CSU. Ich kenne Ihr Frauenbild. Sie stellen
sich Frauen so vor: Frauen sitzen zu Hause, betreuen,
versorgen und erziehen die Kinder. Dann machen sie die

Wohnung sauber. Dann kümmern sie sich um die Wä-
sche aller Familienmitglieder. Dann bügeln sie die Hem-
den des Ehemannes. Dann gehen sie einkaufen. Dann
stellen sie ihrem Mann die Puschen hin, damit er abends
bequem vor dem Fernseher sitzen kann.


(Markus Grübel [CDU/CSU]: Realitätsfremd!)


Ich sage Ihnen aber: Dieses Frauenbild ist so etwas
von veraltet, dass ich mich wundere, dass Frau
Hasselfeldt in der CSU nicht darum kämpft, dass das
endlich einmal überwunden wird.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Zwischendurch müssen sie beim ZDF anrufen!)


Davon gibt es auch eine Folge: In Ihrer Fraktion gibt es
wenig Frauen, nämlich nur 18,98 Prozent. In unserer
Fraktion gibt es mehr Frauen als Männer, nämlich
55,2 Prozent. Erreichen Sie das erst einmal.


(Beifall bei der LINKEN – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Einen Fraktionsvorsitzenden!)


Ich weiß natürlich auch, dass es Frauen gibt, die eine
solche Rolle übernehmen und sich sogar darin wohlfüh-
len. Ich habe vor ihnen auch vollen Respekt. Aber das
heißt nicht, dass man das politisch als Bundestag noch
finanziell fördern und unterstützen muss. Ganz im Ge-
genteil: Wenn man die Gleichstellung der Geschlechter
erreichen will, muss man zumindest in der CDU/CSU
erst einmal das Bild der Männer von den Frauen grund-
sätzlich ändern.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es gibt wissenschaftliche Untersuchungen, die ein-
deutig beweisen, dass es ein großer Vorteil für Kinder
ist, wenn sie Kindertageseinrichtungen aufsuchen.


(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Ab drittem Lebensjahr! – Daniela Ludwig [CDU/ CSU]: Kindergärten sind super!)


Warum nehmen Sie sie nicht zur Kenntnis? Die Kinder
lernen von anderen Kindern. Sie lernen auch sozial. Das
gilt übrigens nicht nur für Kinder von Alleinerziehen-
den, sondern gerade auch für Kinder aus betuchten Ver-
hältnissen. Sie lernen dann nämlich auch den Umgang
mit anderen Verhältnissen und werden wieder natürli-
cher, als sie es von zu Hause mitbekommen haben.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


In der Schule zeigt sich, dass diese Kinder, die vorher
Kindertagesstätten besucht haben, aufgeschlossener sind
und leichter den Lehrstoff erfassen als jene Kinder, die
nur zu Hause waren.


(Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Klassenkampf in der Kita, oder was?)


Nach den Kindertagesstätten müsste der Besuch einer
Ganztagsschule beginnen, und zwar auch deshalb, weil
es den Kindern hilft und gleichzeitig ermöglicht, dass





Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)


Frauen und Männer sich gleichberechtigt beruflich ent-
wickeln können.


(Beifall bei der LINKEN)


Es gibt eine Studie, die Folgendes besagt – ich zitiere
wörtlich –:

Besonders für die Kinder von Alleinerziehenden
hat die Ganztagsbetreuung einen positiven Effekt.
Ihre Schulleistungen lassen sich durch die Betreu-
ung signifikant verbessern.

Dann wird in der Studie Folgendes festgestellt: Der An-
teil der Kinder von Alleinerziehenden an Gymnasien
würde von 36 auf 62 Prozent steigen, wenn alle Kinder
diese Angebote hätten und auch wahrnehmen könnten.

Mit Ihrem Geld wollen Sie genau das verhindern. Er-
klären Sie doch einmal den Kindern, was Sie damit ei-
gentlich anrichten.


(Beifall bei der LINKEN – Markus Grübel [CDU/CSU]: Wir brauchen keine Betreuungsplätze, damit sie leer bleiben!)


– Ja, natürlich. Sie wollen ja dann bezahlen, wenn die
Eltern die Kinder nicht dort hinschicken. Damit richten
Sie sich geradezu an die ärmeren Eltern, nach dem
Motto: Wenn ihr Knete haben wollt, dann bringt eure
Kinder nicht in die Kindertageseinrichtungen. – Ich bitte
Sie, das ist 19. Jahrhundert. Das hat mit dem 21. Jahr-
hundert nichts mehr zu tun.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Übrigens haben die Kindertageseinrichtungen im Os-
ten einen Vorsprung. Warum können wir das nicht in
ganz Deutschland einführen? Man kann doch auch ein-
mal einen Vorsprung im Osten für ganz Deutschland nut-
zen. Was spricht eigentlich dagegen?


(Lachen des Abg. Holger Krestel [FDP])


– Ja, da reagieren Sie sofort arrogant. Das ist eine völlige
Fehlleistung. Schauen Sie sich einmal die Studien etc.
zur beruflichen Entwicklung von Frauen aus dem Osten
an! Wenn Sie das nicht zur Kenntnis nehmen, dann hilft
es nichts. Es tut mir leid: Dann bleiben Sie im Kalten
Krieg stecken.


(Beifall bei der LINKEN – Holger Krestel [FDP]: Gucken Sie mal, wo der Osten damit hingekommen ist! Sie waren am Ende pleite, und zwar nicht nur finanziell!)


Ab 1. August gibt es einen Rechtsanspruch auf Kin-
derbetreuungsstellen. Vielen Kommunen fehlt aber das
Geld. Warum geben Sie das für diesen Unsinn vorgese-
hene Geld nicht den Kommunen, um die Kinderbetreu-
ungsstellen zu finanzieren? Sie haben von Bayern und
vielen anderen Ländern gesprochen, die auf den Ausweg
setzen, eine Mutter zu finden, die mehrere Kinder be-
treut. Das ist natürlich nur die halbe Miete.


(Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Haben Sie ein Problem mit Tagesmüttern, oder was?)


Eine Kindertageseinrichtung mit hochqualifiziertem Per-
sonal ist wesentlich besser. Das müssen wir übrigens
auch erreichen, und zwar verstärkt.


(Beifall bei der LINKEN)


Also: Ich halte von diesem Zwischenweg relativ wenig.

Nun sage ich Ihnen – auch an die Adresse der FDP –:
Das Geschacher in der Koalition ist nicht nachvollzieh-
bar. Ich frage Sie von der FDP: Was hat ein ohnehin
nicht zu rechtfertigender Zuschuss zur privaten Pflege-
versicherung mit dem Betreuungsgeld zu tun? Was hat
die Berücksichtigung von Rentenpunkten für Frauen, die
vor 1992 Kinder zur Welt gebracht haben, mit dem Be-
treuungsgeld zu tun? Was hat die Verpflichtung zur
Wahrnehmung von Vorsorgeuntersuchungen von Kin-
dern mit dem Betreuungsgeld zu tun? Was hat ein soge-
nanntes Bildungssparen für Kinder – fragen Sie das mal
Herrn Brüderle! – mit dem Betreuungsgeld zu tun?

Was ist das für ein Kuhhandel, den Sie organisieren?
71 Prozent aller Befragten in Deutschland wollen kein
Betreuungsgeld, übrigens auch 62 Prozent aller Anhän-
gerinnen und Anhänger der CDU. Das sollten Sie beden-
ken.

Deshalb sage ich Ihnen: Lassen Sie diesen Blödsinn,
diesen Rückfall in ein völlig antiquiertes Frauenbild und
ins 19. Jahrhundert! Das brauchen wir nicht. Wir brau-
chen dieses Geld dringend für die Kinderbetreuungsstel-
len.


(Beifall bei der LINKEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1720107900

Vielen Dank, Kollege Dr. Gregor Gysi. – Nächster

Redner für die Fraktion der FDP, unser Kollege Patrick
Meinhardt. Bitte schön, Kollege Patrick Meinhardt.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Patrick Meinhardt (FDP):
Rede ID: ID1720108000

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Steinmeier, ich darf einmal zitieren:

Ab 2013 soll für diejenigen Eltern, die ihre Kinder
von ein bis drei Jahren nicht in Einrichtungen be-
treuen lassen wollen oder können, eine monatliche
Zahlung (zum Beispiel Betreuungsgeld) eingeführt
werden.

So beschlossen bei der Änderung des Sozialgesetzbuchs
durch die Große Koalition – mit Ihrer Stimme, Herr
Steinmeier.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


An dieser Stelle muss man einmal sehr deutlich sa-
gen: Stehen Sie zu dem, was Sie in der Vergangenheit in
das Sozialgesetzbuch hineingeschrieben haben!


(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Gott sei Dank haben wir es nicht!)






Patrick Meinhardt


(A) (C)



(D)(B)


Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen, Herr
Steinmeier.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Caren Marks [SPD]: Da drückt sich aber einer vor der Verantwortung!)


Fühlten Sie sich dem Koalitionsfrieden oder fühlten Sie
sich dem deutschen Volk verpflichtet?

Aus dem gleichen Jahr darf ich den Kollegen
Steinbrück zitieren. Da kam die Meldung über die Ti-
cker: Koalition konnte sich einigen. „Das Veto des Fi-
nanzministers ist weg“, sagte die damalige Ministerin
von der Leyen. – Was sagte Herr Steinbrück dazu, zu
diesem Betreuungsgeldkompromiss? – „Es sei ein ver-
nünftiger Kompromiss.“ Damit sind Sie als Sozialdemo-
kraten aus der Debatte herausgekommen. Stellen Sie
sich doch Ihrer eigenen Verantwortung und schlagen Sie
sich hier nicht in die Büsche!


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Caren Marks [SPD]: Wer führt es jetzt ein? Sie! Wir nicht! – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Was sagt die FDP heute?)


Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir haben ein
wichtiges Datum; das ist der 1. August nächsten Jahres.
Alle Anstrengungen müssen darauf hinauslaufen, den
Ausbau der Krippenplätze genau so umzusetzen, wie er
verabschiedet worden ist. Diese Bundesregierung stellt
die Mittel hierfür in vollem Umfang zur Verfügung. Sie
legt noch einmal 580 Millionen Euro obendrauf.


(Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Das wird nicht reichen! – Caren Marks [SPD]: Die wir Ihnen mühselig abgetrotzt haben!)


Deswegen: Kümmern Sie sich darum, dass Ihre Landes-
regierungen diese Mittel abrufen, die Auszahlung nicht
blockieren, sondern den Weg freimachen, sodass wir am
1. August kommenden Jahres auch das erreichen, was
wir in diesem Land gesellschaftspolitisch erreichen wol-
len.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir haben
eine ganze Reihe von Herausforderungen, die wir in
diese Diskussion um die Frage des Betreuungsgeldes,
die Frage der richtigen Familienpolitik und die Frage der
richtigen gesellschaftspolitischen Schwerpunkte mit
hineinbringen wollen. Logischerweise – das gehört zu
einer Koalition – gibt es bei Wegen zu einem Ziel unter-
schiedliche Akzentuierungen und auch eine Diskussion
darüber, wie die Ausgestaltung optimal laufen soll.

Als FDP-Bundestagsfraktion haben wir klare Akzente
in der Debatte gesetzt. Zum Ersten geht es darum, dass
wir so schnell wie möglich eine schwarze Null im Bun-
deshaushalt wollen;


(Caren Marks [SPD]: Wir haben eine Null in der Regierung sitzen! – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben nur Nullen in der Regierung!)


das hat für uns oberste Priorität. Wir wollen erreichen,
dass eine solide Finanzierung sichergestellt ist; denn
eine solide Haushaltspolitik ist die beste Generationen-
politik.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Zum Zweiten – das ist für uns der zentrale Punkt –:
Wir wollen als Liberale und wir wollen auch in dieser
Regierungskoalition ein bildungspolitisches Signal set-
zen.


(Caren Marks [SPD]: Das haben Sie auch nötig!)


Es geht um eine starke Bildungskomponente, wie es der
Bundesvorsitzende der Freien Demokratischen Partei
formuliert hat. Es geht darum, für die Kinder Bildungs-
chancen für die Zukunft zu eröffnen.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was denn jetzt?)


Deswegen ist das Ziel der Liberalen, in dieser Debatte,
in dieser gesellschaftspolitisch wichtigen Debatte, ein
kluges Zeichen für ein intelligentes Bildungssparen zu
setzen.


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Wo ist es denn? Wo denn?)


Bildungspolitische Fragestellungen an dieser Stelle zu
diskutieren, ist aus liberaler Sicht der richtige Ansatz-
punkt.


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Machen Sie doch einmal einen Vorschlag!)


Monat für Monat sind hier Möglichkeiten gegeben,
die wir im Koalitionsvertrag auch schon angedeutet und
aufgetan haben, nämlich beispielsweise über ein Bil-
dungskonto, über einen Bildungsbonus Schwerpunkte zu
setzen. Das wäre der Einstieg in ein modernes und sozial
gerechtes Bildungssparen. Unser Ziel ist es, dass wir in
dieser gesellschaftspolitischen Debatte einen starken
Akzent, ein starkes Zeichen für die Bildung setzen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesem Zusam-
menhang ist es auch wichtig und gut, dass das Bundes-
wirtschaftsministerium ein Gutachten zur Zukunft des
Vermögensbildungsgesetzes in Auftrag gegeben hat,


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Meinhardt, wir reden doch zum Betreuungsgeld!)


um zu schauen, auf welche Art und Weise wir Vermö-
gensbildung über die Frage des Bildungssparens und die
Frage der stärkeren Akzentuierung hier miteinander er-
reichen können.


(Mechthild Rawert [SPD]: Soziale Chancengleichheit!)


Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Es lohnt
sich, in diesem Hohen Hause darum zu streiten, wie wir
Zukunftschancen für Kinder verbessern können. Es
lohnt sich, auch darum zu streiten, wie wir einen Bil-
dungsbonus schaffen können. Es lohnt sich mit Sicher-
heit, darum zu streiten, wie wir die Bildungschancen in





Patrick Meinhardt


(A) (C)



(D)(B)


diesem Land noch weiter erhöhen können. Das ist die
Debatte, die wir hier auch führen müssen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1720108100

Vielen Dank, Kollege Patrick Meinhardt. – Nächste

Rednerin in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin Renate Künast.
Bitte schön, Frau Kollegin Renate Künast.


Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720108200

Danke. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren!

Ich will einmal sagen: Bisher habe ich kein entscheiden-
des Argument für das Betreuungsgeld gehört.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Mein letzter Vorredner, Herr Meinhardt, hat gesagt, das
wichtigste Datum im nächsten Jahr sei der August 2013,
wenn es den Rechtsanspruch gibt. Ich habe eher den Ein-
druck: Bei Ihnen ist das wichtigste Datum der 1. April
nächsten Jahres; denn so agieren Sie.


(Markus Grübel [CDU/CSU]: Inkrafttreten Betreuungsgeld! Da haben Sie recht!)


Anders kann ich das nicht verstehen; denn mit dem
1. April verbindet man doch immer einen Aprilscherz.


(Holger Krestel [FDP]: Hören Sie die Bartwickelmaschine klappern?)


Was soll man denn davon halten: Herr Rösler läuft he-
rum und kritisiert zu Recht: Das Betreuungsgeld ist zu
teuer. Es ist ein falsches Instrument. Es ist nicht gegen-
finanziert und hat keine bildungspolitische Komponente. –
Da denken wir schon: Wow! Endlich legt sich jetzt die
FDP einmal ins Zeug – ganz modern – und tut etwas für
die Kinder und für die Frauen. – Kurz danach kommt
Herr Brüderle, springt Rösler in den Nacken und sagt:
Nein, wir sind vertragstreu. – Dann gilt wieder das.

Herr Meinhardt hat gerade hier am Redepult einen
doppelten Rittberger zur Aufführung gebracht und ge-
sagt:


(Patrick Meinhardt [FDP]: So etwas schaffe ich gar nicht!)


Beide haben recht. Wir sind vertragstreu. – Dann kommt
mit Bildungssparen sozusagen die bildungspolitische
Komponente ins Spiel. Wollen Sie uns und auch die
Frauen in diesem Land eigentlich veräppeln?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Wer über Bildung redet, weiß: Auf den Anfang
kommt es an. Wollen Sie uns jetzt erzählen, dass ein
Kind das erste, zweite, dritte, vierte Lebensjahr zu Hause
bleiben soll, obwohl es auf den Anfang ankommt, um
Bildung zu erleben – wir wissen, der Kindergarten hat
einen Bildungsauftrag –,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


und dass man mit 100 oder 150 Euro für Bildungssparen
für später vorsorgen soll?

Sie müssen wissen: Die Entscheidung darüber, ob
sich ein Kind auf seinem Schulweg tapfer und mutig
zum Beispiel zum Abitur und um zu studieren auf den
Weg macht, wird nicht dadurch gefällt, dass man sicher-
heitshalber schon im Kindesalter Bildungssparen für das
Studium macht. Vielmehr wird dies dadurch entschie-
den, dass dieses Kind seine Kompetenzen und Möglich-
keiten kennenlernt und ausleben und entwickeln kann.
Und da gehen Sie wieder nicht ran! Insofern: Vergessen
Sie Ihr Bildungssparen an dieser Stelle!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Zuruf des Abg. Patrick Meinhardt [FDP])


– Über das Bildungssparen können wir gerne diskutie-
ren. Aber vorher machen wir das Betreuungsgeld nicht.
Dann würde Bildungssparen Sinn machen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das alles ist doch von vorgestern und keine Antwort
auf die Frage, die die meisten Eltern haben, die sagen,
sie seien hinsichtlich der Vereinbarkeit von Beruf und
Familie aufgerieben.

Der Bedarf an Krippenplätzen steigt immer noch wei-
ter. In manchen Kommunen liegt er schon heute bei über
50 Prozent. Viele Väter wollen gerne weniger erwerbstä-
tig und Frauen mehr erwerbstätig sein. Für solche Dinge
muss man doch einen familienpolitischen und bildungs-
politischen Rahmen schaffen. Aber ich habe den Ein-
druck: Hier sollen nicht die Familien gerettet werden,
sondern hier soll die Koalition gerettet werden, weil Sie
sich gerade noch durchmauscheln wollen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das ist nichts als ein Versuch, irgendwie davon abzulen-
ken, dass die Aufgaben für den August 2013 in Bezug
auf den Rechtsanspruch nicht realisiert werden können.

Der nationale Bildungsbericht, von Frau Schavan in
Auftrag gegeben, hat vor der Leistung Betreuungsgeld
gewarnt. Bei den Empfehlungen aus Europa für unseren
Haushalt wird gesagt: keine steuerlichen finanziellen
Anreize dieser Art für das Zuhausebleiben.

Die Mehrheit der Eltern will das Betreuungsgeld
nicht. Selbst der Sozialdienst katholischer Frauen in
Bayern will das Elterngeld nicht.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Elterngeld?)


– Betreuungsgeld. Entschuldigung. – Alle wollen an die-
ser Stelle eine bessere Infrastruktur mit mehr Personal
und individueller Förderung.

Dann frage ich mich noch, warum Sie und Frau von
der Leyen an dieser Stelle so gern von einer drohenden
Altersarmut der Frauen reden. Sie bekämpfen doch die
Altersarmut der Frauen nicht damit, dass Sie ihnen heute
100 oder 150 Euro geben. Vor drei, vier Wochen sollte
das noch sein, damit die Frauen ihre Altersvorsorge be-





Renate Künast


(A) (C)



(D)(B)


zahlen können. Aber auch das ist offensichtlich schon
wieder vergessen.


(Markus Grübel [CDU/CSU]: Nein! Das steht noch auf der Tagesordnung! Abwarten!)


Was soll denn sein? – Die Frauen brauchen eine echte
Wahlfreiheit. Das heißt, es muss mehr Kindergarten-
plätze geben, und es muss irgendwann einmal einen
Rechtsanspruch auf einen Ganztagskindergartenplatz ge-
ben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Nur so funktioniert das.

Wir müssen für Frauen auf dem Arbeitsmarkt noch
viel mehr erreichen, zum Beispiel die Schließung der
Lohnlücke und einen Mindestlohn. Was ich bei Ihnen
kritisiere, ist ganz klar: Nach Ihrer Vorstellung soll mit
dem Betreuungsgeld die Erziehungsleistung gesetzlich
anerkannt werden. Aber am Ende bekommen auch die,
die gar nicht erziehen, sondern die 100 oder 150 Euro als
Taschengeld für das Au-pair-Mädchen nehmen, das
Geld. Was wollen Sie denn nun: eine Erziehungsleistung
an dieser Stelle rechtfertigen oder einen Bildungsauftrag
wahrnehmen?

Mein letzter Gedanke in meiner Rede gilt Ihnen,
Herrn Grübel. Herr Grübel, Sie haben sich hier durch das
Thema gegrübelt. Sie haben gesagt, Sie würden den Län-
dern 580 Millionen Euro zusätzlich geben. Sie haben
aber nicht gesagt, dass die 580 Millionen Euro von den
Bundesländern kofinanziert werden sollen und es eine
regelmäßige Berichtspflicht geben soll.


(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Aha! – Markus Grübel [CDU/CSU]: Das ist doch Aufgabe der Länder!)


Ausgemacht war an dieser Stelle: Länder und Kommu-
nen übernehmen die Personalkosten, während der Bund
eine einmalige finanzielle Leistung als Investition er-
bringt. Sie haben nicht die Wahrheit gesagt. Sie geben
den Kommunen nicht das Unterstützungsgeld, sondern
stattdessen das Betreuungsgeld.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das lehnen wir ab. Im Notfall schaffen wir es im nächs-
ten Jahr wieder ab.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1720108300

Vielen Dank, Frau Kollegin Renate Künast. – Nächs-

ter Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kol-
lege Norbert Geis.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1720108400

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Liebe Frau Künast, Sie bringen eini-
ges durcheinander. Sie verwechseln nicht nur das Be-

treuungs- mit dem Elterngeld, sondern Sie unterscheiden
auch nicht zwischen Krippe und Kindergarten.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der eine Versprecher!)


Die Krippe betreut Kinder in den ersten drei Jahren, und
dann beginnt der Kindergarten. Wir alle sind dafür, dass
möglichst viele Kinder in den Kindergarten gehen. Wir
stimmen mit Ihnen darin überein, dass die Kinder ab die-
sem Alter in den Kindergarten kommen sollen, damit de-
ren Kommunikationsfähigkeit wächst. Das wollen wir
genauso wie Sie.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Sie dürfen uns das Gegenteil nicht vorwerfen.

In dieser Debatte ist nichts Neues hervorgebracht
worden, und es wird auch nichts Neues hervorgebracht.


(Caren Marks [SPD]: Ja, dann können Sie sich ja setzen!)


Wir reden hier im Parlament zum siebten oder achten
Mal über das Betreuungsgeld. Sieben oder acht Mal sind
dieselben Argumente vorgetragen worden. Um was geht
es Ihnen eigentlich? Es geht Ihnen gar nicht mehr um die
Argumente, sondern darum, aus einer vielleicht koali-
tionsinternen Meinungsverschiedenheit Kapital für Ihre
eigene Partei zu schlagen.


(Caren Marks [SPD]: Nein, die Kinder! Es geht um die Kinder!)


– Darum geht es nicht. Es geht Ihnen nicht um die Kin-
der. – Es geht Ihnen ganz billig um einen Vorteil für Ihre
eigene Partei. Den brauchen Sie natürlich auch, weil Sie
sonst keinen bekommen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Caren Marks [SPD]: Wir kämpfen für die Kinder!)


– Lassen Sie mich doch einmal ausreden!

Ich will Ihnen sagen, was ich am Betreuungsgeld kri-
tisiere. Ich kritisiere am Betreuungsgeld die Bezeich-
nung. Früher haben wir dazu Erziehungsgeld gesagt. Es
wurde zwei Jahre das Erziehungsgeld und in einigen
Bundesländern ab dem dritten Jahr das Landeserzie-
hungsgeld gezahlt. Das gab es beispielsweise in Bayern,
Baden-Württemberg, Thüringen und Sachsen. Wir haben
es damals Erziehungsgeld genannt. Es geht hier schließ-
lich um Erziehung. Es geht darum, dass durch dieses
Geld die Erziehungsleistung der Eltern unterstützt wird.
Dazu hat der Staat nach Art. 6 Grundgesetz eine Ver-
pflichtung. Er muss die Erziehungsleistung der Eltern
unterstützen.


(Ralph Lenkert [DIE LINKE]: Aller Eltern!)


– Aller Eltern. – Deswegen sollten wir es nicht Betreu-
ungsgeld nennen; denn es geht nicht um Betreuung, son-
dern um Erziehung. Eine bessere Bezeichnung wäre also
Erziehungsgeld.


(Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Warum denn nur dann, wenn die Krippe nicht besucht wird?)






Norbert Geis


(A) (C)



(D)(B)


Herr Steinmeier und viele andere haben vorgetragen,
dass Kinder, wenn sie in den ersten drei Jahren bei ihren
Eltern bleiben und daheim erzogen werden,


(Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Das steht nicht drin im Gesetz!)


einen Nachteil gegenüber Kindern haben, die eine Kita
besucht haben.


(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Nein, nein, nein!)


– Okay, ich nehme Ihre Korrektur entgegen. – Das kann
auch nicht richtig sein. Aber es wird so verstanden. Es
kann nicht sein, dass Sie die Erziehung durch die Eltern,
die Mutter oder den Vater, disqualifizieren.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Das kann doch nicht sein. Damit will ich aber nicht sa-
gen, dass die Eltern, die ihr Kind in die Kita geben, nicht
in gleichem Maße Nähe und Bindung zum Kind auf-
bauen können. Ich gehe davon aus, dass dies ebenfalls
der Fall ist.


(Ralph Lenkert [DIE LINKE]: Nein, das sagen Sie überhaupt nicht!)


– Nein, ich sage das nicht. Aber ich sage Ihnen: Sie kön-
nen auch nicht das Gegenteil behaupten, nämlich dass
ein Kind einen Nachteil hätte, wenn es nicht in die Kita
kommt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das ist weit hergeholt und völlig falsch.

Des Weiteren wird immer wieder behauptet – auch
von Ihnen, Herr Steinmeier –, das Betreuungsgeld sei
verfassungswidrig.


(Caren Marks [SPD]: Das sagen Verfassungsexperten! – Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Nicht das Betreuungsgeld, der Entwurf ist verfassungswidrig!)


Das kann ich nun überhaupt nicht nachvollziehen. Was
geschieht denn hier? Meine sehr verehrten Damen und
Herren von der SPD, im Jahr 2008 haben Sie zuge-
stimmt, dass die Erziehungsleistungen der Eltern unter-
stützt werden sollen. Das sollte zum einen durch die Ki-
tas erfolgen; hier sind wir voll bei Ihnen. Hierfür hat der
Staat bereits über 4 Milliarden Euro geleistet. Es sind die
SPD-regierten Länder, die ihre Leistung noch nicht er-
bracht haben. Das müssen Sie sich vorhalten lassen.
Zum anderen sollte eine Unterstützung durch das Be-
treuungsgeld erfolgen. Das haben Sie im Jahr 2008 sel-
ber so entschieden. Sie haben mit uns entschieden, dass
der Staat die Unterstützung der Erziehungsleistungen auf
zweierlei Weise vornehmen kann


(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Jetzt brauchen Sie uns, um Ihr Betreuungsgeld zu rechtfertigen?)


– nein, ich will Ihnen nur die Wahrheit sagen –, nämlich
auf der einen Seite durch die Kita als Sachleistung und
auf der anderen Seite durch das Betreuungsgeld als
Geldleistung. Was soll daran verfassungswidrig sein?

Wir geben den Eltern Wahlfreiheit. Wir sagen ihnen: Ihr
könnt wählen, ob ihr euer Kind in die Kita gebt oder ob
ihr das Betreuungsgeld nehmt. – Eine solche Wahlfrei-
heit kann doch nicht verfassungswidrig sein. So etwas
kann doch nur einem seltsam gewundenen juristischen
Hirn einfallen. Damit können Sie bei uns nicht anlanden.

Ich möchte einen weiteren Punkt hervorheben. Der
Staat wird meiner Meinung nach in eine Gerechtigkeits-
lücke geraten, wenn er nur die Eltern unterstützt, die ihr
Kind in die Kita geben. Das sind ja maximal 40 Prozent
der Eltern. 60 Prozent der Eltern, die ihr Kind in den ers-
ten drei Jahren daheim erziehen wollen, soll der Staat
nicht unterstützen? Das führt meiner Meinung nach zu
einer Gerechtigkeitslücke.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das können wir so nicht stehen lassen.

Bitte werfen Sie einen kurzen Blick zu unseren Nach-
barn in Frankreich. Dort werden die Kinder landesweit
zu maximal 15 Prozent in die Krippe gebracht, 25 Pro-
zent gehen zur Tagesmutter. Frankreich zahlt aber ein
einkommensabhängiges Betreuungsgeld von 300 bis
500 Euro. Ähnlich verhält es sich in Skandinavien. In
Norwegen werden einkommensabhängig pro Monat und
Kind mindestens 300 Euro als Betreuungsgeld gezahlt.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die schaffen das Betreuungsgeld gerade ab!)


In Schweden wird es ähnlich gehandhabt. Nur wir sind
wieder einmal klüger. Wir sollten etwas bescheidener
sein und uns lieber ein Beispiel an unseren Nachbarn
nehmen.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Skandinavien schafft es ab, Herr Geis!)


Vielleicht kommen Sie dann auf andere Ideen.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1720108500

Vielen Dank, Kollege Norbert Geis. – Nächste Red-

nerin für die Fraktion der Sozialdemokraten ist unsere
Kollegin Caren Marks. Bitte schön, Frau Kollegin Caren
Marks.


(Beifall bei der SPD)



Caren Marks (SPD):
Rede ID: ID1720108600

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-

nen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren!
Herr Geis, wenn Ihre Argumentation so überzeugend
wäre, dann hätte das vielleicht auch zu einer erneuten
Aufstellung in Ihrem Wahlkreis geführt. Das sei nur ne-
benbei bemerkt.


(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Oh! Oh!)


Herr Meinhardt, das ist doch der verzweifelte Versuch
der FDP, sich hier einen schlanken Fuß zu machen.





Caren Marks


(A) (C)



(D)(B)



(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Wenn Ihnen die Argumente ausgehen, kommen persönliche Verleumdungen! Pfui!)


Im KiföG steht ausdrücklich, dass das Betreuungsgeld
2013 eingeführt werden soll. Das heißt, diejenigen, die
jetzt regieren, kommen nicht aus der Verantwortung he-
raus.


(Patrick Meinhardt [FDP]: Sie aber auch nicht!)


Wer den Gesetzentwurf zum Betreuungsgeld einbringt
und verabschiedet, der ist dafür verantwortlich.


(Patrick Meinhardt [FDP]: Sie haben es verabschiedet!)


Frau von der Leyen, die im Übrigen genauso wie die
SPD immer ganz klar gegen das Betreuungsgeld war, hat
es nicht vermocht, die CSU im Zaum zu halten und zu
verhindern, dass das Betreuungsgeld im KiföG aufge-
nommen wird. Hätten wir in dem Gesetzentwurf nicht
die unverbindliche Sollbestimmung aufgenommen, hätte
der Bund damals nicht den gesamten U-3-Ausbau voran-
gebracht und 4 Milliarden Euro bereitgestellt. Es ging
uns um die Kinder und die Familien; das war wichtiger.
Jetzt liegt es alleine an Ihnen, die Einführung des Be-
treuungsgeldes scheitern zu lassen. Aus dieser Nummer
kommen Sie als FDP nicht heraus; das sage ich Ihnen.


(Beifall bei der SPD)


Wer die Debatte über das Betreuungsgeld in den ver-
gangenen Monaten verfolgt hat, dem wird sicherlich auf-
gefallen sein, dass sich die Regierungskoalition stets um
die Beantwortung einer ganz entscheidenden Frage he-
rumdrückt: Wer soll das bezahlen? Der FDP – genauer
gesagt: dem FDP-Vorsitzenden und Vizekanzler Rösler –
fällt auf einmal ein, dass die Regierungskoalition hierauf
ja noch eine Antwort schuldig ist. Plötzlich stellt er das
Betreuungsgeld unter Finanzierungsvorbehalt.


(Zuruf von der CDU/CSU: Nicht plötzlich!)


Ist das vielleicht ein Versuch, sich – auch in den eigenen
Reihen – als Hardliner zu profilieren, Herr Rösler? Wa-
rum Sie nicht schon von Anfang an auf die Finanzierung
des Betreuungsgeldes gepocht haben – gerade bei einem
derart umstrittenen Gesetzentwurf –, findet meine Frak-
tion wirklich mehr als rätselhaft. Wir haben immer da-
rauf gedrängt, Ross und Reiter bei der Finanzierung zu
nennen.

Dann kommt wenige Tage nach Ihnen, Herr Rösler,
Ihr Fraktionsvorsitzender Brüderle als Versöhner um die
Ecke gebogen und sagt: Das Betreuungsgeld wird von
der FDP mitgetragen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Guter Mann!)


Meine Herren von der FDP, welches Wort gilt denn nun?
Auch die Berliner Zeitung spricht bereits von einer De-
batte in der FDP, die verzweifelte Formen angenommen
habe. Aber der Gipfel in dieser Debatte ist, dass die CSU
öffentlich ein Finanzierungskonzept ablehnt. So sieht
Frau Hasselfeldt – so in öffentlichen Erklärungen –
keine Notwendigkeit einer Gegenfinanzierung. Solide

Haushaltspolitik, meine Kolleginnen und Kollegen von
Schwarz-Gelb, geht definitiv anders. Wo kommen wir
hin, wenn die Bundesregierung in Zukunft nicht mehr
verpflichtet ist, zu sagen, woher das Geld für ein neues
politisches und vor allem unsinniges Vorhaben kommt?
Zu Recht gibt es große Befürchtungen, dass vor allem im
Bereich des Bundesfamilienministeriums wirklich herbe
Einschnitte drohen. Kürzungen zulasten von Familien,
Kindern, Jugendlichen und Älteren – so wird das Gegen-
finanzierungskonzept zum Betreuungsgeld aussehen.
Das geht auf Kosten der Familien, für die Sie angeblich
mit dem Betreuungsgeld Politik machen wollen.

Meine Kolleginnen und Kollegen, Fakt ist: Das ge-
plante Betreuungsgeld ist wirklich nichts anderes als der
verzweifelte Versuch der CSU, die Kosten für ein baye-
risches Wahlversprechen dem Bund aufs Auge zu drü-
cken.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Ihnen lassen wir das nicht durchgehen.


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Sie haben es doch damals als SPD vereinbart!)


Das ist die Wahrheit, der Sie sich, meine Damen und
Herren von der Regierungskoalition, stellen müssen und
die nun endlich auch dem kleinen Koalitionspartner, zu-
mindest dem Vizekanzler, zu dämmern scheint.

Meine Damen und Herren von der Koalition, jenseits
der Finanzierungsfrage ist noch etwas ganz anderes
wichtig: Die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bür-
ger und die große Mehrheit der Familien in unserem
Land verstehen nicht, warum Sie so vehement dieses Be-
treuungsgeld durchdrücken wollen. Erst recht durch-
schaut wirklich niemand mehr die Vorschläge, die wie
Tennisbälle aus einer Ballmaschine auf uns niederpras-
seln. Mal soll das Betreuungsgeld an alle ausgezahlt
werden, dann wieder nur an bestimmte Gruppen, aber
nicht an Empfängerinnen und Empfänger von Transfer-
leistungen. Dann kommt ein neuer Vorschlag: Empfän-
gerinnen und Empfänger von Arbeitslosengeld II sollen
vielleicht doch das Betreuungsgeld bekommen, aber na-
türlich nicht bar, sondern quasi als Gutschein. Mal for-
dern Sie, das Betreuungsgeld an die Wahrnehmung von
Vorsorgeuntersuchungen zu knüpfen, dann wieder nicht.
Ein anderes Mal verknüpfen Sie es mit der Praxisgebühr.
Ich fürchte, Schwarz-Gelb blickt hier selbst nicht mehr
durch.

Für meine Fraktion und für die Menschen wird diese
Diskussion von Tag zu Tag absurder. Wir bleiben bei un-
serer klaren Haltung: Das Betreuungsgeld ist und bleibt
Unsinn, egal wie es ausgestaltet wird. Es schadet dem
Ausbau der frühkindlichen Bildung und Betreuung. Es
konterkariert Bildungs-, Gleichstellungs- und Sozial-
politik.


(Zuruf von der CDU/CSU: Mein Gott!)


Es widerspricht einer modernen Familienpolitik, wie
übrigens auch vier ehemalige Familienministerinnen,
darunter auch zwei aus den Reihen der Union, öffentlich
deutlich gesagt haben. Vielleicht denken Sie einmal da-
rüber nach.





Caren Marks


(A) (C)



(D)(B)


Wir appellieren erneut an Sie, insbesondere an Sie,
Herr Rösler, den Vizekanzler: Stehen Sie als FDP zu Ih-
rem Wort! Stehen Sie als FDP-Vorsitzender zu Ihrem
Wort! Lassen Sie die Finger von diesem Vorhaben! Es
wird uns gesellschaftspolitisch um Jahre zurückwerfen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1720108700

Vielen Dank, Kollegin Caren Marks. – Nächster Red-

ner für die Fraktion der FDP ist unser Kollege Florian
Toncar. Bitte, Kollege Toncar.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Iris Gleicke [SPD]: Frauenstreik! – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: FDP-Frauen ins Plenum!)



Dr. Florian Toncar (FDP):
Rede ID: ID1720108800

Danke schön, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Ich habe Verständnis dafür, dass wir heute
eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema haben, auch
wenn es eigentlich in fast jeder Woche der letzten Mo-
nate dazu eine Debatte gegeben hat; aber es ist ja auch
ein kontroverses Thema. Neue Argumente hat die heu-
tige Debatte nicht hervorgebracht; das muss man auch
sagen. Frau Kollegin Marks, ich glaube, dass Sie nicht
verstanden haben oder nicht verstehen wollten, dass es
nicht darum geht, dass sich irgendjemand in der Koali-
tion um die Verantwortung für das Betreuungsgeld drü-
cken möchte. Vielmehr verantworten alle, die darüber zu
beschließen haben, das, was letztlich beschlossen wird.
Das war und ist so.


(Iris Gleicke [SPD]: Eure Frauen haben sich schon aus dem Plenum verabschiedet, weil es ihnen so peinlich ist!)


Aber worum es natürlich schon geht, ist die Frage Ihrer
eigenen Glaubwürdigkeit, und das hat der Kollege
Meinhardt thematisiert. Ich halte es für nicht besonders
glaubwürdig, dass diejenigen, die schon einmal eine
Barleistung akzeptiert hatten – das Wort „Zahlung“ steht
in Ihrem Konzept von 2008 –,


(Caren Marks [SPD]: Soll!)


nun die Allerersten sind, die solche Aktuellen Stunden
beantragen. Darum geht es und nicht um die Frage der
Verantwortung der Regierungskoalition.


(Beifall bei der FDP)


Der Bundeswirtschaftsminister Dr. Rösler hat am ver-
gangenen Sonntag nochmals auf zwei Sachargumente
hingewiesen, die es zu berücksichtigen gilt. Es geht um
die Frage, wie man das Betreuungsgeld so ausgestalten
kann, dass es bildungspolitisch die richtigen Folgen zei-
tigt, dass es eine Bildungskomponente gibt, und um die
Frage, wie wir es in Zeiten abkühlender Konjunktur mit
dem Ziel der Haushaltskonsolidierung vereinbaren kön-
nen.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann können Sie den Quatsch doch einfach wegstreichen!)


Das sind berechtigte Argumente. Sie sind im Übrigen
nicht zum ersten Mal geäußert worden. Sie wurden von
meiner Fraktion hier immer wieder vorgetragen. Das ist
nichts Neues; aber es bleibt natürlich richtig, dies auch
so zu sagen.


(Beifall bei der FDP)


Über diese Fragen wird jetzt gesprochen. Es wird in
den nächsten Wochen darüber Gespräche geben,


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Drei Jahre schon!)


und wenn es etwas gibt, was entscheidungsfähig ist,


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Seit drei Jahren schon!)


dann wird es hier im Deutschen Bundestag vorgelegt.
Die FDP ist vertragstreu; aber Gründlichkeit geht uns
vor Schnelligkeit. Es kann keine Rede davon sein, dass
hier etwas durchgedrückt wird, wie Sie gesagt haben,
Frau Kollegin. Ganz im Gegenteil: Es wird gründlich
diskutiert, und der Vizekanzler hat dazu berechtigte An-
merkungen gemacht.


(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Herr Brüderle auch?)


Sie haben aber auch zur Kenntnis zu nehmen, dass
diese Koalition in dieser Wahlperiode viele echte Ver-
besserungen für Familien bereits beschlossen hat, und
das übrigens in einer sehr angespannten finanziellen Si-
tuation. Ich will darauf noch einmal hinweisen, weil ich
glaube, dass die Debatte einen falschen Eindruck er-
weckt, wenn hier immer nur über ein Thema diskutiert
wird und viele Verbesserungen für Familien und im Bil-
dungsbereich in den letzten Jahren völlig ignoriert wer-
den. Die Familien sind von dieser Koalition steuerlich
entlastet worden; das Kindergeld ist erhöht worden. Wir
haben beschlossen, in vier Jahren 12 Milliarden Euro zu-
sätzlich für Bildung und Forschung auszugeben. Das ist
etwas, wovon Familien sehr profitieren, gerade auch im
Bereich der frühkindlichen Bildung.

Wir haben beispielsweise 300 Millionen Euro dafür
zur Verfügung gestellt, dass es in den Kindertagesstätten
eine qualifizierte Sprachförderung durch zusätzliches
Personal gibt, damit unter drei Jahre alte Kinder, die
nicht ausreichend Deutsch können, dort Deutsch lernen.
Dies kostet übrigens die Kommunen keinen einzigen
Euro; das zahlt alles der Bund. Das heißt, wir haben
nicht nur in die Quantität, also in Betreuungsplätze, son-
dern auch in die Qualität der Betreuung, in die Bildung
in den Kindertageseinrichtungen investiert. Die Ange-
bote vor Ort werden hervorragend angenommen, und
das zeigt auch, dass man im Bereich der frühkindlichen
Bildung wirklich etwas getan hat.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir haben in diesem Jahr beschlossen, dass der Bund
nochmals 580 Millionen Euro für zusätzliche Plätze bei





Florian Toncar


(A) (C)



(D)(B)


der Kinderbetreuung ausgibt. Früher haben alle drei
staatlichen Ebenen ihren Anteil geleistet und sich betei-
ligt, also auch Länder und Kommunen. Jetzt füllt der
Bund die Lücke und stellt die zusätzlichen Mittel allein
bereit.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stimmt ja gar nicht! Sie wollen eine Kofinanzierung!)


Ich würde von Ihnen gern einmal wissen, was Sie dazu
sagen, dass die Länder nicht eine ähnliche Verpflichtung
wie der Bund übernommen haben. Wenn die Länder dies
getan hätten, wären wir weiter, was die Zahl der Betreu-
ungsplätze angeht. Dann hätten wir mehr Geld zur Ver-
fügung, um die frühkindliche Bildung zu verbessern. Da
sind Sie wiederum aus der Debatte ausgestiegen. Ihre
Länder haben da nichts gemacht, und auch darauf muss
man an dieser Stelle einmal hinweisen.

Wir haben dafür gesorgt, dass der Bund über das hi-
naus, was bereits den Kommunen zugesagt wurde, Ver-
pflichtungen bei den Betriebskosten der Kitas übernimmt,
weil es eben nicht reicht, nur Gebäude herzustellen und
auszustatten und Plätze zu schaffen. Schließlich haben
die Kommunen Folgekosten zu tragen. Auch da engagie-
ren wir uns stärker, als es ursprünglich im Jahr 2007 zu-
gesagt worden war.

Diese Koalition kümmert sich also um frühkindliche
Bildung. Sie nimmt dafür auch eine ganze Menge Geld
in die Hand. Auch das soll heute erwähnt werden.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Ganz allgemein will ich darauf hinweisen, dass wir
auch in Zeiten der Schuldenbremse die Kommunen in
Deutschland um über 4 Milliarden Euro jährlich entlas-
ten, weil wir wissen, dass sie gerade wegen dieser Mam-
mutaufgabe, dieser riesigen Aufgabe des Kinderbetreu-
ungsausbaus, mit den herkömmlichen finanziellen
Mitteln alleine nicht klargekommen wären. Wir werden
– aufwachsend in den nächsten Jahren – über 4 Milliar-
den Euro zur Verfügung stellen und so den Kommunen
zusätzlichen Spielraum verschaffen. Sie wissen genauso
gut wie wir, dass Kommunen besonders stark in Bildung
investieren, dass also eine Entlastung der Kommunen
immer direkte Folgen für die Qualität der Bildungsarbeit
vor Ort hat. Wir tun etwas für die frühkindliche Bildung.
Alle anderslautenden Behauptungen gehen an den Tatsa-
chen vorbei. Wir werden uns deswegen in dieser Frage
über Lösungen verständigen, aber ansonsten unseren
Kurs weiterverfolgen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1720108900

Vielen Dank, Kollege Toncar. – Nächster Redner für

die Fraktion der Sozialdemokraten ist unser Kollege
Rolf Schwanitz. Bitte schön, Kollege Rolf Schwanitz.


(Beifall bei der SPD)



Rolf Schwanitz (SPD):
Rede ID: ID1720109000

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol-

lege Geis, nach Ihrem ergreifenden Bekenntnis, dass wir
alle dafür sind, dass möglichst viele Kinder im Alter von
unter drei Jahren in die Kindertagesstätten gehen,


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das habe ich nicht gesagt! In den Kindergarten!)


will ich auf den Zusammenhang zwischen Kitaausbau
und Betreuungsgeld hinweisen. Ich will dazu einfach aus
dem Gesetzentwurf zitieren, den die Regierung im Kabi-
nett beschlossen hat. Da heißt es nämlich zum Betreu-
ungsgeld:

Es schließt die verbliebene Lücke im Angebot
staatlicher Förder- und Betreuungsangebote für
Kinder bis zum dritten Lebensjahr.

Das Betreuungsgeld soll den Bedarf im Kitabereich ver-
ringern. Darum geht es, meine Damen und Herren; das
ist der Zusammenhang.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie der Abg. Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Sie wissen das und schreiben das sogar in den Gesetzent-
wurf. Das geht schon knapp an Heuchelei vorbei.

Ich will etwas zur Finanzierung dieses Rückschrittspro-
jekts sagen, weil sie mich als Haushälter natürlich ganz
besonders berührt. Das Betreuungsgeld ist im Haushalts-
entwurf 2013 mit 300 Millionen Euro etatisiert, im Fa-
milienetat als gesetzliche Leistung ausgewiesen. Ich
habe die Ministerin bei den Berichterstattergesprächen
gefragt: Wie sieht denn die Gegenfinanzierung aus? Die
Ministerin hat in der ihr eigenen schmallippigen Art ge-
sagt: Herr Schwanitz, Sie sehen doch, dass dies nicht mit
Mitteln aus meinem Etat gegenfinanziert wird. – Das ist
richtig. Aber richtig ist auch, dass es 2013 über die Net-
tokreditaufnahme finanziert wird. Ich halte also zunächst
einmal für das Jahr 2013 fest: Das, was Sie als 300-Mil-
lionen-Euro-Block für das Betreuungsgeld in den Haus-
halt eingestellt haben, muss auf Pump, über neue Schul-
den, finanziert werden. Sie finanzieren das zulasten der
künftigen Generationen, die das mit Zinsen und Zinses-
zinsen zurückzuzahlen haben, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD)


Das dicke Ende kommt erst noch; denn bei voller
Haushaltswirkung im Jahr 2014 sind es 1,1 Milliarden
Euro. 2015 wären es – wenn der Wähler Sie im nächsten
Jahr gewähren ließe – 1,2 Milliarden Euro, die hier
finanziert werden müssten, und das alles unter den Vor-
gaben der Schuldenbremse. Es geht also nicht, dass Sie
hier den Notausgang für Helden nutzen, nach dem
Motto: Wir machen mal neue Schulden. – Dieser Betrag
von 1,2 Milliarden Euro muss durch Kürzungen in glei-
cher Größenordnung direkt gegenfinanziert werden; da-
rum geht es.

Nun habe ich aufmerksam gehört, was Sie, Herr FDP-
Generalsekretär Döring, gestern Morgen im Deutsch-
landfunk gesagt haben. Sie haben auf die Frage, wo die
1,2 Milliarden Euro eigentlich eingespart werden sollen,





Rolf Schwanitz


(A) (C)



(D)(B)


gesagt: Dort, wo es eingeführt wird, also im Familien-
etat.


(Caren Marks [SPD]: Genau wie ich es gesagt habe!)


Er hat gleich zwei Tipps hinterhergeschoben und gesagt:
Da gibt es ja die familienpolitischen Leistungen und die
kinderpolitischen Leistungen.

Die inhaltliche, politische Seite – es ist rückschrittli-
che Politik, ein Rückfall in das 19. Jahrhundert – ist das
eine. Das andere ist, dass es faktisch einen Kahlschlag
bei den familienpolitischen Leistungen geben muss, da-
mit diese Vergangenheitspolitik finanziert werden kann.


(Beifall bei der SPD – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schade, dass Frau Schröder wieder nicht spricht! Sonst könnte sie uns dazu etwas sagen!)


Ich will einmal die Dimensionen ins Verhältnis setzen.
Die Zuschüsse für Gleichstellungspolitik, Familien und
Ältere, die aus dem Familienetat von Frau Schröder auf-
gebracht werden, haben ein Volumen von 37 Millionen
Euro. Das sind schlappe 3 Prozent dessen, was Sie für
das Betreuungsgeld aufbringen und an anderer Stelle
kürzen müssten.


(Patrick Döring [FDP]: Die familienpolitischen Leistungen sind doch nicht im Etat von Frau Schröder!)


Wo wollen Sie denn da eigentlich kürzen? Das würde
mich einmal interessieren, Herr Döring. Der Kinder- und
Jugendplan, das zentrale Förderinstrument im Familien-
etat für die Kinder- und Jugendpolitik in Deutschland,
hat ein Volumen von knapp 150 Millionen Euro. Das
sind 12 Prozent dessen, was Sie für das Betreuungsgeld
kürzen müssten. Was wollen Sie denn eigentlich kürzen,
Herr Döring? Das würde mich schon einmal interessie-
ren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Nein, dieser Irrsinn, meine Damen und Herren, muss
gestoppt werden. Hier wird faktisch – ich bin fest davon
überzeugt, dass das in den Hinterzimmern der Koalition
schon längst diskutiert wird – der Kahlschlag einer zeit-
gemäßen Familienpolitik erwogen und vorbereitet, nur
damit die CSU ihren Fetisch bekommt. Das ist die Situa-
tion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die eigentliche Schuld liegt nicht bei Frau Schröder
– mit Verlaub, von Frau Schröder erwarte ich an dieser
Stelle nichts mehr –,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


sondern bei der Bundeskanzlerin. In dieser Bundesregie-
rung wird nicht geführt. In dieser wunderbaren schwarz-
gelben Koalition kann sich jeder austoben, wie er will:

vom kleinen liberalen Hanswurst bis zum Politiker aus
bajuwarischen Ländern mit verstaubten Vorstellungen
von vorgestern.


(Widerspruch bei der CDU/CSU – Patrick Meinhardt [FDP]: Bewahren sie Haltung im Spiel!)


Man wolle Nachteile vom deutschen Volk abwenden, hat
Frau Merkel gesagt. Dieses Schauspiel muss nächstes
Jahr beendet werden.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1720109100

Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist für die

Fraktion der CDU/CSU unsere Kollegin Daniela
Ludwig. Bitte schön, Kollegin Daniela Ludwig.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Daniela Raab (CSU):
Rede ID: ID1720109200

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und

Kollegen! Frau Marks, zu Ihrer Rede möchte ich eigent-
lich gar nichts sagen, außer vielleicht zu Ihrer allerersten
Äußerung.


(Caren Marks [SPD]: Dann ist ja gut! – Martin Burkert [SPD]: Ja, das ist auch besser!)


– Ja, das sehen Ihre Kollegen selber so, dass man Sie
besser nicht kommentieren sollte.


(Caren Marks [SPD]: Nein! Dass Sie besser nichts dazu sagen, das sehen die so! – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Ja, ja, bei der SPD ist Fremdschämen angesagt!)


Wenn Ihnen gar nichts mehr einfällt – Ihre Taktik ken-
nen wir aus den letzten Aktuellen Stunden –, dann müs-
sen Sie offenbar gegenüber jemandem aus meiner Kolle-
genschaft – in diesem Fall gegenüber Herrn Geis –
persönlich und diffamierend werden. Das möchte ich an
dieser Stelle in aller Deutlichkeit zurückweisen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Man muss andere Meinungen aushalten können, ohne
gleich unter die Gürtellinie zu schlagen. Vielleicht neh-
men Sie sich das beim nächsten Mal mehr zu Herzen.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann fangen Sie doch mal an! – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Es wäre eine Entschuldigung angebracht!)


Lieber Herr Steinmeier, Sie sagen, es sei eine bil-
dungspolitische Katastrophe,


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, das ist Frau von der Leyen!)


wenn Eltern ihre Kinder im Alter von ein oder zwei Jah-
ren selbst betreuen wollen.





Daniela Ludwig


(A) (C)



(D)(B)



(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Das ist doch Quatsch! Jetzt hören Sie doch mit diesem Unsinn auf!)


– Hätten Sie diesen Unsinn nicht gesagt, dann bräuchte
ich ihn nicht zu zitieren.


(Caren Marks [SPD]: Ja, dann zitieren Sie mal richtig!)


Herr Steinmeier, Sie sagen, es sei eine bildungspolitische
Katastrophe,


(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Das sagt Frau von der Leyen!)


wenn Eltern eine andere Betreuung als eine staatliche
Krippe für ihre ein- und zweijährigen Kinder in An-
spruch nehmen wollten.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war Ihre Ministerin! Reden Sie in Richtung Regierungsbank, nicht zu uns!)


Herr Steinmeier, Sie sagen, es sei eine bildungspolitische
Katastrophe,


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann redet Frau Schröder eigentlich?)


wenn Eltern frei und individuell entscheiden, was sie mit
ihren Kleinst- und Kleinkindern im Hinblick auf die Be-
treuung machen wollen.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darum geht es doch gar nicht!)


Das ist peinlich. Schämen Sie sich!


(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Sie werden es nie verstehen! – Gegenruf der Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie will es nicht verstehen!)


– Ich fürchte, Sie verstehen es nicht.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben gar nichts verstanden!)


Ich gestehe Ihnen aber eines zu: Zumindest haben Sie
seit der letzten Aktuellen Stunde zum Betreuungsgeld, in
der Sie gesprochen haben, den Unterschied zwischen
Krippe und Kindergarten gelernt. Das muss man bei Ih-
nen schon als Fortschritt bezeichnen.


(Caren Marks [SPD]: Oh Gott!)


Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, was ist ei-
gentlich so schwierig daran, zu akzeptieren, dass Eltern,
wenn sie ein sehr kleines Kind haben, frei darüber ent-
scheiden wollen, ob und in welche Betreuung sie ihr
Kind geben wollen? Was ist eigentlich so schwierig da-
ran, anzuerkennen, dass es neben einer massiven, guten
und richtigen Förderung von Kinderkrippen von staatli-
cher Seite andere Möglichkeiten einer Kleinst- und
Kleinkindbetreuung geben kann und dass diese mit ei-
nem ohnehin ausgesprochen geringen Betrag von
100 bzw. 150 Euro ein Stück weit unterstützt werden
sollen? Was spricht eigentlich dagegen?


(Martin Burkert [SPD]: Dass die CSU nicht mit Geld umgehen kann, das wissen wir mittlerweile!)


Worauf gründet sich eigentlich Ihr ständig vorgetragenes
Misstrauen gegenüber Eltern? Sie behaupten: Wenn je-
mand nicht genug Einkommen hat, nicht mindestens
Abitur oder die deutsche Staatsbürgerschaft vorweisen
kann, dann kann er darüber nicht verantwortungsbe-
wusst entscheiden. Das verstehe ich nicht.


(Caren Marks [SPD]: Das glauben wir!)


Ich habe es heute leider wieder nicht verstanden. Noch
einmal: Wir vertrauen Eltern, wir misstrauen ihnen
nicht.


(Ralph Lenkert [DIE LINKE]: Gar nicht wahr! – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stehen Sie eigentlich noch zum Rechtsanspruch? – Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Dem ZDF vertrauen Sie ja auch! – Weiterer Zuruf von der SPD: Sie vertrauen Ihrem Pressesprecher! – Heiterkeit bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deswegen können wir mit ausgesprochen gutem Gewis-
sen hinter dem Konzept des Betreuungsgeldes stehen.

Die FDP will noch eine Bildungskomponente ein-
bauen. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Da es um ein- oder
zweijährige Kinder geht, bin ich gespannt, was Sie vor-
schlagen wollen, aber ich bin offen für alles.


(Zurufe von der SPD: Oh! Oh!)


Wir können aber nicht darüber reden, dass es die
Mehrheit der linken Seite dieses Hauses als schlecht an-
sieht, wenn Kinder im Alter von einem Jahr zu Hause
bleiben und erst in den Kindergarten gehen, wenn sie
drei Jahre alt sind. In Bayern haben wir eine 99-prozen-
tige Abdeckung mit Kindergartenplätzen. Ich glaube,
den bayerischen Kindern geht es gut. Wer möchte, dass
sein Kind in eine Krippe geht, findet in Bayern in quanti-
tativer und qualitativer Hinsicht die besten Vorausset-
zungen. Unser Haushalt ist so gesund, dass wir uns einen
ordentlichen Krippenausbau locker leisten können.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Zuruf von der SPD: Die Landesbank lässt grüßen! Herzlichen Glückwunsch!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1720109300

Nächste Rednerin ist für die Fraktion der Sozialdemo-

kraten unsere Kollegin Marianne Schieder. Bitte schön,
Frau Kollegin Marianne Schieder.


(Beifall bei der SPD)



Marianne Schieder (SPD):
Rede ID: ID1720109400

Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kolle-

gen! Ich hatte das große Glück, auf einem Oberpfälzer
Bauernhof groß werden zu dürfen, zusammen mit Ge-
schwistern und in einer ganz typischen bäuerlichen
Großfamilie, vor allen Dingen aber mit einer Großmut-





Marianne Schieder (Schwandorf)



(A) (C)



(D)(B)


ter, die für nahezu alle Lebenssituationen die richtige Le-
bensweisheit parat hatte. Kurz, knapp, prägnant und sehr
bildhaft wurde die Sache auf den Punkt gebracht. Eine
dieser Lebensweisheiten passt so gut zu dieser wirklich
unsäglichen Diskussion über das Betreuungsgeld, dass
ich sie Ihnen nicht vorenthalten möchte. Immer dann,
wenn wir Kinder unsere Aufgaben so gar nicht auf die
Reihe gebracht haben und wenn das Ergebnis alles an-
dere als zufriedenstellend war, sagte unsere Oma – sie
sagte es natürlich auf Oberpfälzisch –: Du bist wia da
söll Schneinda, der hot gsagt, des gibt se scho mi’m
Biegln’, wäi a kennt hot, dass a an seina Hosn des
Hosndial hint und niat vorn eingnaht hot.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Da ich natürlich wusste, dass ein Großteil der Kolle-
ginnen und Kollegen unsere wunderbare Sprache nicht
kann, habe ich auch die Übersetzung dabei. Also, meine
Oma hätte auf Hochdeutsch gesagt: Du bist wie jener
Schneidermeister, der bei näherer Betrachtung der von
ihm genähten Hose leider feststellen musste, dass er den
Reißverschluss, der zum Öffnen derselbigen Hose ge-
braucht wird, am Hinterteil angebracht hatte und eben
nicht vorn. Der sagte dann: Ja, das wird sich schon ge-
ben beim Bügeln.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich glaube, ich brauche nicht zu erklären, dass diesem
guten Schneidermeister das Bügeln nicht helfen wird. So
ist es auch mit den Vorstellungen der Bundesregierung
zum Betreuungsgeld: Man kann die Sache drehen und
wenden, wie man will – das ganze Ding ist von Grund
auf eine Fehlkonstruktion.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es ist rückwärtsgewandt und absolut nicht geeignet, sei-
nen Zweck zu erfüllen. Ganz bestimmt ist es absolut un-
geeignet, um jungen Menschen die zu Recht eingefor-
derte Unterstützung bei ihrer Erziehungsleistung
zukommen zu lassen.

Nun werden Sie nicht müde, zu betonen – Frau Raab
hat es gerade wieder gesagt –, das Betreuungsgeld müsse
kommen, weil die Leistung der Eltern, die ihre Kinder zu
Hause erziehen, honoriert werden müsse. Ja, was meinen
Sie denn, was Eltern tun, deren Kinder vier oder acht
Stunden in der Krippe sind? Der Tag hat 24 Stunden und
nicht 8 Stunden! Diese Eltern erziehen ihre Kinder ge-
nauso zu Hause.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Übrigens, lesen Sie doch einmal Ihren Gesetzentwurf.
Da ist von der Betreuung durch die Eltern keine Rede.


(Caren Marks [SPD]: Ganz genau!)


Da geht es einzig und allein darum: Wird eine Kita auf-
gesucht oder nicht? Dort heißt es wörtlich: Anspruch auf
Betreuungsgeld hat, wer „für das Kind keine dauerhafte

durch öffentliche Sach- und Personalkostenzuschüsse
geförderte Kinderbetreuung, insbesondere keine Betreu-
ung in Tageseinrichtungen“ in Anspruch nimmt.


(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Ja!)


Ferner heißt es in der Begründung: Für den Bezug
von Betreuungsgeld ist es nicht relevant, „in welchem
Umfang die Eltern erwerbstätig sind“, und es ist nicht
nötig, dass die Eltern für die Betreuung ihre Berufstätig-
keit reduzieren.


(Beifall des Abg. Florian Toncar [FDP])


Das heißt de facto: Wie und wo das Kind betreut wird,
ist egal. Für den Bezug ist einzig und allein wichtig, dass
das Kind nicht in einer Kita betreut wird.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Kolleginnen und Kollegen, das kann doch nicht Ihr Ernst
sein. Das kann doch nicht Ihre Vorstellung von mög-
lichst guter frühkindlicher Bildung sein.

Alle Welt erkennt inzwischen die enorme Bedeutung
der frühkindlichen Bildung. Überall wird heftig darüber
diskutiert, wie man das Wissen über die frühkindliche
Bildung besser in die Köpfe der Eltern bringen kann.
Überall wird darüber diskutiert, wie man die Ausbildung
der Erzieherinnen und Erzieher noch besser gestalten
kann. Die Kommunen investieren landauf, landab in
gute Kitas, weil sie deren Bedeutung für die Entwick-
lung der Kinder kennen. Dennoch kommen Sie daher
und wollen einen Gesetzentwurf durchdrücken, in dem
steht: Liebe Eltern, wichtig ist, dass Sie keine Kita in
Anspruch nehmen. Dann sparen Sie nicht nur Geld, son-
dern bekommen von uns auch noch Geld bar auf die
Hand. – Das hat mit Familien- und Kinderfreundlichkeit
nichts zu tun.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CSU, seien
Sie zumindest ehrlich: In Wahrheit hoffen Sie doch, dass
Sie sich mit dem Betreuungsgeld darüber hinwegretten
können, dass am 1. August 2013 in Bayern bei weitem
nicht genügend Kitaplätze vorhanden sein werden, um
den Rechtsanspruch zu erfüllen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Sie alle kennen die Zahlen zum Stand des Aufbaus der
U-3-Betreuung: Mecklenburg-Vorpommern 52 Prozent,
Bayern 21 Prozent.


(Caren Marks [SPD]: Das sind die Zahlen! – Max Straubinger [CDU/CSU]: Und Nordrhein-Westfalen, Marianne?)


Ich komme zurück auf meine Großmutter, Herr Kol-
lege, und appelliere an Sie, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen von CDU/CSU und FDP: Versuchen Sie, sich nicht
länger einzureden, dass dieser Murks von Gesetzentwurf
noch zu retten ist. Schmeißen Sie das Ding weg! Denn es
wird nichts mehr.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Marianne Schieder LINKEN – Max Straubinger [CDU/CSU]: Im Sinne der Großmutter!)





(A) (C)


(D)(B)


– Ja. – Der FDP möchte ich einen Spruch eines berühm-
ten bayerischen Volksschauspielers mit auf den Weg ge-
ben, einen Spruch von Karl Valentin.


(Patrick Meinhardt [FDP]: Toller Mann!)


Er hat einmal gesagt: „Mögen hätt ich schon wollen,
aber dürfen hab ich mich nicht getraut.“


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Trauen Sie sich, zu dürfen, und versenken Sie mit uns
diesen Gesetzentwurf.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1720109500

Frau Kollegin Marianne Schieder, ich hätte Ihnen

gern noch einen Zeitzuschlag für die Übersetzung gege-
ben; aber Sie haben dies nicht benötigt.


(Heiterkeit – Caren Marks [SPD]: Sie hat es untertitelt!)


Nächster und letzter Redner in dieser Aktuellen
Stunde ist Kollege Dr. Peter Tauber für die Fraktion der
CDU/CSU.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Peter Tauber (CDU):
Rede ID: ID1720109600

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eigentlich

kann man über die Frage, ob man neben den jeweils mit
knapp 1 000 Euro von der Solidargemeinschaft finan-
zierten Krippen- und Kitaplätzen einen Ausgleich für die
Eltern, die dieses Angebot nicht in Anspruch nehmen
wollen, schaffen will, ganz rational und ruhig diskutie-
ren. Rein theoretisch kann man nach einer sehr ruhigen
und besonnenen Überlegung oder Debatte zu dem Er-
gebnis kommen: Na ja, vielleicht wollen wir das Geld an
dieser Stelle nicht investieren. Ich sage Ihnen ganz ehr-
lich, dass ich diese Diskussion mit mir selbst und mit
Freunden und Kollegen immer wieder geführt habe und
führe. Ich sage Ihnen aber auch ganz ehrlich: Ich brau-
che nur eine einzige Debatte mit Ihnen in diesem Haus,
und ich weiß, dass ich dafür stimmen werde.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dies mache ich aus einem einfachen Grund; man
kann es in zwei Sätzen zusammenfassen. Herr Präsident,
ich zitiere aus dem Kurznachrichtendienst Twitter. Dort
hat jemand die Debatte und Ihre Wortbeiträge mit einem
schönen Satz in 140 Zeichen zusammengefasst: „Ah!
SPD, Grüne und Linke heute wieder so: ‚Eltern schaden
ihren Kindern.‘“ Das ist die Quintessenz Ihrer Aussagen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie wollen eben nicht das, was wir wollen. Wir wollen,
dass beides gleichberechtigt akzeptiert und wertge-
schätzt wird. Wir wollen auch, dass es gute, qualifizierte
Betreuung für unter Dreijährige gibt.

Ein kleiner Hinweis an die Kollegen von den Grünen:
Ich hätte mich hier lieber mit Frau Dörner gestritten.
Auch sie ist eine sehr große Gegnerin des Betreuungs-
geldes; aber sie kennt sich zumindest in der Sache, in der
Materie aus, nicht wie Frau Künast, die über Vierjährige
und über Bildung schwadroniert.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Über Vierjährige reden wir nicht. Wir sprechen über
Kinder, die jünger als 36 Monate sind. Sie erwecken den
Eindruck, dass wir über Bildungspolitik reden und dass
es darum gehe, 15 Monate alten Kindern frühkindliches
Englisch beizubringen. Das ist sehr weit weg von der
Lebenswirklichkeit. Es ist fast unerträglich, was Sie hier
von sich geben. Für wie dumm halten Sie die Menschen?


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Natürlich geht es auch um Bildung, aber um eine an-
dere Art von Bildung. Es geht um Zuwendung, Liebe
und Betreuung,


(Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Wo steht dies?)


und zwar sowohl in der Krippe als auch zu Hause. Sie
unterstellen permanent, dass es eine große Zahl von El-
tern in diesem Land gibt, die das nicht leisten.


(Iris Gleicke [SPD]: Sie unterstellen gerade allen anderen etwas!)


Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Das ist der erste
Punkt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Lesen Sie einmal in den Protokollen Ihre Reden dazu in
den letzten Debatten nach. Dann werden Sie das feststel-
len.

Man kann zu dem Ergebnis kommen: Ja, wir wollen
einen solchen Ausgleich, ein solches Angebot für die El-
tern schaffen, die ihr 15 Monate altes Kind noch nicht in
eine Krippe geben wollen, die es vielleicht erst mit drei
Jahren in den Kindergarten geben wollen. Das ist der
Gegenstand dieser Aktuellen Stunde. Die spannende
Frage ist: Auf welche Art und Weise wird das organi-
siert, was ist die Grundlage, wie sieht das genaue Modell
aus?

Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Es ist gar nicht schlimm,
dass wir mit den Kollegen der FDP über den richtigen
Weg streiten. Das hat einen einfachen Grund: Nicht die
Kollegen der FDP haben das erfunden, Sie haben das mit
uns erfunden.


(Caren Marks [SPD]: Nein! – Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Finnen haben das erfunden? Wie war das mit sachlich und fachlich?)






Dr. Peter Tauber


(A) (C)



(D)(B)


– Sie können dazwischenrufen und das abstreiten, so viel
Sie wollen, Frau Marks. Ich bin Ihre Zwischenrufe ge-
wöhnt.

Im Bundesgesetzblatt, Jahrgang 2008, Teil I, Nr. 57,
ausgegeben zu Bonn am 15. Dezember 2008, steht
– Herr Präsident, mit Ihrer Erlaubnis zitiere ich –:

Ab 2013 soll für diejenigen Eltern, die ihre Kinder
von ein bis drei Jahren nicht in Einrichtungen be-
treuen lassen wollen oder können, eine monatliche
Zahlung (zum Beispiel Betreuungsgeld) eingeführt
werden.


(Caren Marks [SPD]: „Soll“ heißt nicht, dass man das machen muss!)


Dieses Gesetz hat die Große Koalition beschlossen, Sie
haben das mit beschlossen. Unter dem Gesetz steht
– vielleicht ist das der Grund, warum er in der Debatte
heute nicht da ist – zum Beispiel der Name Peer
Steinbrück.

Bis zum Beschluss des Gesetzes in diesem Hohen
Hause, aber auch darüber hinaus werden Sie in zwei
Punkten Ihre Ansichten ändern müssen:

Erstens. Das Misstrauen, das Sie Eltern entgegenbrin-
gen, die sich dafür entscheiden, keinen Krippenplatz in
Anspruch zu nehmen, müssen Sie ablegen. Dieses Miss-
trauen ist eine Unverschämtheit.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und was ist mit Ihrem Misstrauen gegenüber erwerbstätigen Eltern? – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieso misstrauen Sie den Erzieherinnen und Erziehern? – Anton Schaaf [SPD]: Sie reden gerade zum Teil Unfug!)


Zweitens. Sie müssen anerkennen – wir tun das; das
ist der große Unterschied zwischen Ihnen und uns; des-
wegen sind wir in der Debatte sehr viel sachlicher und
ruhiger als Sie –, dass manche Eltern, auch wenn es gute
Betreuungseinrichtungen gibt,


(Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Das war auch nicht immer so!)


diese Einrichtungen erst später in Anspruch nehmen
wollen. Ich finde, diese Eltern müssen Wahlfreiheit ha-
ben, und wir müssen ihnen die Wahl erleichtern.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Soll es demnächst auch ein Bibliotheksgeld oder ein Schwimmbadgeld geben?)


In Wahrheit ist es doch so: Weil es Ihrem Gesell-
schaftsmodell entspricht, wollen Sie alle Kinder in die
Krippe zwingen. Von der Lufthoheit über den Kinderbet-
ten träumen die Sozis schon immer. Die wollen Sie jetzt
erringen. Da machen wir nicht mit.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Anton Schaaf [SPD]: Das war unterirdisch!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1720109700

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Kollege

Dr. Peter Tauber war der letzte Redner in unserer Ak-
tuellen Stunde.


(Iris Gleicke [SPD]: Stimmt, das war das Letzte!)


Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 c auf:

a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Festsetzung der Beitragssätze in der ge-
setzlichen Rentenversicherung für das Jahr
2013 (Beitragssatzgesetz 2013)


– Drucksachen 17/10743, 17/11059 (neu)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss)


– Drucksache 17/11175 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Matthias W. Birkwald

– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)

gemäß § 96 der Geschäftsordnung

– Drucksache 17/11177 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land)
Bettina Hagedorn
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Gesine Lötzsch
Priska Hinz (Herborn)


b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Anton Schaaf, Anette Kramme, Petra
Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes über die Schaffung eines Demographie-
Fonds in der gesetzlichen Rentenversicherung
zur Stabilisierung der Beitragssatzentwick-
lung (Demographie-Fonds-Gesetz)


– Drucksache 17/10775 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss)


– Drucksache 17/11175 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Matthias W. Birkwald

c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales

(11. Ausschuss)






Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Matthias W.
Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Rentenbeiträge nicht absenken – Spielräume
für Leistungsverbesserungen nutzen

– zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Kerstin
Andreae, Markus Kurth, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN

Beitragssätze nachhaltig stabilisieren, Er-
werbsminderungsrente verbessern, Reha-
Budget angemessen ausgestalten

– Drucksachen 17/10779, 17/11010, 17/11175 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Matthias W. Birkwald

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Sie sind da-
mit einverstanden. Dann ist das so beschlossen.

Erster Redner in unserer Aussprache ist der Kollege
Peter Weiß für die Fraktion der CDU/CSU. Bitte schön,
Kollege Peter Weiß.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1720109800

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Im deutschen Rentenrecht steht eine eindeutige und
klare Formulierung – ich zitiere –:

Der Beitragssatz in der allgemeinen Rentenversi-
cherung ist vom 1. Januar eines Jahres an zu verän-
dern, wenn am 31. Dezember dieses Jahres bei Bei-
behaltung des bisherigen Beitragssatzes die Mittel
der Nachhaltigkeitsrücklage … das 1,5fache der …
Ausgaben für einen Kalendermonat … voraussicht-
lich übersteigen.

Nach Feststellung des unabhängigen Schätzerkreises für
die Rentenversicherung, der Mitte dieses Monats getagt
hat, bedeutet diese gesetzliche Bestimmung, dass der
Beitragssatz in der gesetzlichen Rentenversicherung
zum 1. Januar 2013 auf 18,9 Prozent gesenkt werden
muss.

Das Gesetz ist eindeutig


(Anton Schaaf [SPD]: Eindeutig änderbar!)


und lässt keine andere Entscheidung zu.


(Iris Gleicke [SPD]: Wir sind der Gesetzgeber, Herr Weiß!)


Die Bundesregierung und das Parlament sind gehalten,
die Gesetze zu achten. Deswegen entspricht das, was wir
heute beschließen, schlichtweg dem, was im Gesetz
steht. Es ist auch richtig, dass Regierung und Deutscher
Bundestag das tun, was ihnen gesetzlich vorgegeben ist.


(Beifall bei der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Gesetze kann man ändern! Dafür sind wir da!)


Weil in dieser Debatte vonseiten der Opposition ande-
res vorgetragen wird, noch der freundliche Hinweis:
Diese Gesetzesformulierung ist im Jahr 2001 so von der
damaligen rot-grünen Koalition hier im Deutschen Bun-
destag beschlossen worden. Deswegen ist es umso ver-
wunderlicher, dass die damaligen Regierungsparteien
diese Gesetzesbestimmung offensichtlich nicht mehr
kennen oder kennen wollen.


(Iris Gleicke [SPD]: Wir sind der Gesetzgeber und nehmen unsere Verantwortung hier wahr!)


Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es ist ein erfreu-
licher Tag, da wir über die Möglichkeit einer Beitrags-
senkung sprechen können. Der Unterschied zur Zeit von
Rot-Grün ist, dass die Rentenkasse damals ins Minus
fiel. Erstmals musste der Bundesfinanzminister der Ren-
tenkasse mit einem staatlichen Zuschuss aushelfen, da-
mit Renten ausbezahlt werden konnten.


(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: So ist es!)


Heute haben wir eine Rücklage in der Rentenkasse; wir
haben ein Plus in der Rentenkasse. Insofern ist es eine
gute Nachricht für die Rentnerinnen und Rentner in
Deutschland, dass die Rente nicht auf Pump ausgezahlt
werden muss, sondern aus einer prall gefüllten Renten-
kasse ausgezahlt werden kann. Das ist eine tolle Leis-
tung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Wir reden lieber über Überschüsse als über Defizite!)


Nun ist es sehr verwunderlich, dass der Vorschlag ge-
macht wird, wir sollten diese Absenkung gar nicht vor-
nehmen. Das hat zwei unterschiedliche Folgen. Die erste
Folge ist: Eine Beitragssenkung führt automatisch dazu
– so die Rentenformel, die Rot-Grün ebenfalls beschlos-
sen hat –, dass die Rentenerhöhung der Rentnerinnen
und Rentner zum 1. Juli höher ausfällt. In diesem Jahr
hat dies ungefähr 0,4 Prozentpunkte zusätzliche Renten-
erhöhung ausgemacht, im nächsten Jahr würde es vo-
raussichtlich 0,9 Prozentpunkte zusätzliche Rentenerhö-
hung ausmachen.


(Zuruf von der FDP: Da freuen sich die Rentner!)


Wenn die Opposition heute beantragt, die Beitragsab-
senkung nicht zu beschließen, dann soll ebendiese Op-
position den deutschen Rentnerinnen und Rentnern bitte
auch erklären, warum sie ihnen eine Rentenerhöhung
vorenthalten will. Wir wollen ein Plus für die Rentnerin-
nen und Rentner.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Dann streichen Sie lieber alle Kürzungsfaktoren aus der Rentenformel! Dann ist das Sparpotenzial größer!)


Richtig ist, dass zu Zeiten, als Helmut Kohl und
Norbert Blüm noch die Verantwortung für die deutsche





Peter Weiß (Emmendingen)



(A) (C)



(D)(B)


Rentenversicherung als Regierungschef und Bundes-
arbeitsminister getragen haben, in der Rentenversiche-
rung eine höhere Rücklage gebildet werden konnte. Ich
finde es schon ein wenig verwunderlich, dass bei den
Sozialdemokraten und den Grünen offensichtlich die
Meinung vorherrscht, Helmut Kohl und Norbert Blüm
seien Sozialdemokraten gewesen. Mitnichten!


(Anton Schaaf [SPD]: Da lege ich auch Wert drauf!)


Natürlich kann man auch dafür plädieren, zum alten
Recht zurückzukehren. Der Punkt ist nur der – das ist der
große Unterschied –: Die Rentenpläne, die von der Op-
position vorgelegt werden, zeigen uns, dass es den Op-
positionsfraktionen gar nicht darum geht, noch mehr
Rücklage in der Rente zu ermöglichen. Vielmehr wollen
sie Geld ausgeben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wenn ich die Rücklage aber verjubeln will, dann habe
ich für die Rentenversicherung nichts gewonnen, son-
dern werde sie auf alle Zeit mit höheren Belastungen
versehen


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Aber für die Rentnerinnen und Rentner hat man was gewonnen!)


und künftig immer höhere Beiträge der Beitragszahlerin-
nen und Beitragszahler erheben müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Max Straubinger [CDU/CSU]: Jugendfeindlich ist das!)


Es gibt keinen ungeschickteren Augenblick als den
heutigen, mehr Rücklage in der Rentenversicherung zu
fordern. Warum? Die Rentenversicherung sollte ihr Geld
in unser aller Interesse und im Interesse der Rentnerin-
nen und Renten gut anlegen können. Bei den niedrigen
Zinssätzen, die die Rentenversicherung wegen der stren-
gen Vorschriften,


(Anton Schaaf [SPD]: Dann sollte auch keiner privat vorsorgen im Moment! Da ist doch das gleiche Argument! Das ist doch unterirdisch!)


die wir ihr machen, derzeit erzielt, liegt sie allerdings un-
terhalb der Inflationsrate. Insofern ist der heutige Zeit-
punkt der ungeschickteste Zeitpunkt, einen solchen An-
trag zu stellen.


(Iris Gleicke [SPD]: Deswegen brauchen wir Leistungsverbesserungen! – Anton Schaaf [SPD]: Dann sollten Sie den Leuten auch nicht empfehlen, zu riestern!)


Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, es
gibt einen grundlegenden Unterschied zwischen den Op-
positionsfraktionen und den Regierungsfraktionen.


(Anton Schaaf [SPD]: Ja, in der Tat!)


Für eine sichere Rente unserer Rentnerinnen und
Rentner und auch für Rentensteigerungen sorgt nur eine
solide, vor allem eine auf solider Finanzierung aufbau-
ende Rentenpolitik. Was die Opposition vorlegt, ist

keine solide Rentenpolitik, sondern bedeutet zusätzliche
Ausgaben zulasten der nächsten Generationen. Weiter-
hin gilt: Eine sichere Rente ist ein Markenzeichen der
Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP. Dazu ste-
hen wir. Das zeigt auch die heutige Verabschiedung die-
ses Gesetzentwurfs.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1720109900

Vielen Dank, Kollege Peter Weiß. – Nächster Redner

ist unser Kollege Anton Schaaf für die Fraktion der So-
zialdemokraten. Bitte schön, Kollege Anton Schaaf.


(Beifall bei der SPD)



Anton Schaaf (SPD):
Rede ID: ID1720110000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Peter Weiß, das war gerade wirklich abenteuerlich.
Heute Morgen stand hier die Koalition, diskutierte über
die Gesundheitspolitik und die Praxisgebühr


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Minijobs!)


und sagte: Wir müssen das Geld im Bereich der Gesund-
heitspolitik zusammenhalten, und wir müssen sparsam
damit umgehen. Deswegen wollen wir die Praxisgebühr
nicht abschaffen, sondern wir wollen Rücklagen bilden,
damit wir die Leute auch in Zukunft sicher versorgen
können. – Das war das Argument heute Morgen.

Jetzt argumentieren Sie genau gegenteilig. Wir wollen
diese Rücklage behalten, damit die Rente sicher bleibt.
Sie sagen: Lasst uns die Nachhaltigkeitsrücklage wieder
auf 0,2 Monatsausgaben senken; das Geld gehört ande-
ren. – Nein, wir wollen Sicherheit bezogen auf die Ren-
tenkasse. Deswegen fordern wir, die Beiträge jetzt nicht
zu senken. Damit stehen wir übrigens nicht allein. Ge-
meinsam mit den Gewerkschaften und den Sozialver-
bänden sagen wir: Lasst die Finger davon.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Max Straubinger [CDU/CSU]: Und verbraten!)


Ihre Argumentation lautet: Im Gesetz steht, dass der
Beitragssatz gesenkt werden muss. Ja, das steht im Ge-
setz. Aber wir sind der Gesetzgeber. Wir können Gesetze
verändern.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Gute Gesetze soll man nicht verändern!)


Wir haben Ihnen einen Gesetzentwurf vorgelegt, über
den heute ebenfalls abgestimmt wird, den Sie aber ab-
lehnen. Offensichtlich sind Sie nur noch Vollzugsbeamte
und nicht mehr Gesetzgeber in diesem Land, Herr Peter
Weiß. So habe ich zumindest Ihre Argumentation hier
verstanden.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Gute Gesetze soll man nicht verändern!)


Man muss sich einmal anhören, was Sie beim Thema
Rente noch vorhaben. Die Ministerin war beim Thema





Anton Schaaf


(A) (C)



(D)(B)


„Rente“ in dieser Legislaturperiode ein Totalausfall; das
lässt sich ja nun konstatieren. Mit ihrer Zuschussrente ist
sie voll vor die Wand gefahren. Von ihren Plänen ist
nichts mehr übrig. Uns werfen Sie vor, immer mehr Geld
ausgeben zu wollen, weswegen wir die Rücklage behal-
ten und die Beiträge nicht senken wollten. Diesen Vor-
wurf kann man von mir aus erheben.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Ja, zu Recht!)


Aber Sie selber verweisen beispielsweise darauf, dass
Sie in Bezug auf die Kindererziehungszeiten von Eltern,
deren Kinder vor 1992 geboren sind, etwas machen wol-
len. Das kostet übrigens viel Geld. Wenn ich mir ansehe,
was dabei herauskommt, dann muss ich sagen, dass Sie
die Menschen ganz gewaltig hinter die Fichte führen. Sie
wollen nämlich nicht allen, deren Kinder vor 1992 gebo-
ren worden sind, sondern nur denen, die neu in Rente ge-
hen, einen halben und nicht etwa einen ganzen Entgelt-
punkt gewähren. Diejenigen, die schon jetzt in Rente
sind, bekommen gar nichts. Mit solchen Regelungen
führen Sie die Menschen hinter die Fichte, meine Damen
und Herren von der Koalition. Eine Reform in dieser Art
und Weise geht nicht. Sie wollten sogar die Zuschuss-
rente – verfassungswidrig – über Beiträge finanzieren;
sie wollten einen Griff in die Rentenkasse vornehmen.

Daneben philosophieren Sie jetzt über die Erwerbs-
minderungsrente. Ich sage Ihnen: Ja, da muss man etwas
machen. Sie wollen aber – das habe ich in der Zeitung
gelesen – erst ab dem Jahre 2030 1 Milliarde Euro zu-
sätzlich für Verbesserungen bei der Erwerbsminderungs-
rente einsetzen. Das, was Sie hier veranstalten wollen,
ist geradezu lächerlich. Lassen Sie es lieber sein. Ab
2013 werden wir einige Korrekturen vornehmen, auch
was die Rentenpolitik angeht.

Ich sage Ihnen auch: Wenn wir wollen, dass ein höhe-
res Renteneintrittsalter für die allermeisten Menschen in
diesem Lande, die schwer und hart arbeiten, akzeptabel
wird, dann müssen wir die notwendigen Voraussetzun-
gen dafür schaffen. Dafür muss man Geld in die Hand
nehmen. Die Erwerbsminderungsrente ist dabei ein zen-
traler Punkt. Die Abschläge müssen weg, und die Zu-
rechnungszeit muss heraufgesetzt werden. Ansonsten
wird die Rente mit 67 von den Menschen, die in diesem
Lande hart arbeiten, nie akzeptiert. Man muss das also
schon im Zusammenhang sehen.


(Beifall bei der SPD)


Dafür nehmen wir Geld in die Hand, wenn wir wieder
die Verantwortung in diesem Land bekommen haben.

Schauen Sie sich an, was die geplante Beitragssen-
kung für einen durchschnittlichen Arbeitnehmer bringt:
etwa das, was die berühmte Maß Bier kostet. Eine Maß
Bier mag in Bayern eine besondere Einheit sein. Für die
restliche Republik spielt es aber überhaupt keine Rolle,
ob man eine Maß Bier mehr oder weniger hat.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Was ist mit Kölsch?)


Die Menschen wollen Sicherheit und nicht 8 Euro mehr
in der Tasche. Das Ganze nützt ja letzten Endes übrigens

nur Gutverdienern und Durchschnittsverdienern. Wenn
man sich Niedrigverdiener anschaut, dann sieht man,
dass bei ihnen durch eine Rentenbeitragssenkung nur
2 bis 4 Euro übrig bleiben.

Schaut man sich unseren Gesetzentwurf an, dann
sieht man, dass es möglich ist, Gesetze zu ändern. Man
hat sich an den Begrifflichkeiten ein wenig gestört. Ich
kann das nachvollziehen, wenn von Begriffen wie De-
mografiereserve gesprochen wird. Wenn man diesen Ge-
setzentwurf zur Rentenpolitik isoliert betrachtet, ist es
sogar berechtigt, das so zu sehen. Aber wenn man ihn in
einem größeren Zusammenhang sieht, Stichwort „Ein-
führung einer Erwerbstätigenversicherung“, dann er-
kennt man, dass aus Ihrem Vorwurf ein Schuh wird.
Mich selber stört diese Begrifflichkeit an dieser Stelle
persönlich nicht; aber ich kann nachvollziehen, dass sich
andere daran stören. Allerdings muss man das im Kon-
text sehen, und dann macht es wieder Sinn, darüber zu
diskutieren.

Wenn wir jetzt den Rentenbeitragssatz bei 19,6 Pro-
zent belassen würden, dann wäre es so, dass wir bis Ende
des Jahrzehnts eine Ansparphase hätten und bis zum Jahr
2025 den Beitragssatz ohne Mehrausgaben nicht anhe-
ben müssten. Das wäre Ausdruck von Verlässlichkeit.
Auch für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wäre
das verlässlich. Aber diese Verlässlichkeit wollen Sie
nicht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich sage Ihnen, was dabei herauskommen wird – das
ärgert mich dabei maßlos –, wenn der Rentenbeitragssatz
jetzt auf 18,9 Prozent gesenkt wird: Am Ende dieses Jahr-
zehnts wird der Beitragssatz sprunghaft ansteigen müs-
sen. Ich hoffe, dass Sie dann nicht in der Verantwortung
sind. Aber wenn ja, dann müssten Sie auch rechtfertigen,
warum man so große Sprünge in der Rentenversicherung
zulässt. Ich finde solche großen Sprünge unzulässig.

Jemand muss mir einmal erklären: Was ergibt sich
dann im Zusammenhang mit der Schuldenbremse?
Wenn die Konjunktur schwächelt und die Einnahmen
der Rentenversicherung nachlassen und Sie keinen Kre-
dit an die Rentenkasse wegen der Schuldenbremse aus-
zahlen können, was ist dann? Dann muss man die Bei-
träge erhöhen. Davon werden Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer unmittelbar betroffen sein. Das ist das,
was dabei herauskommen wird.

Zu den Erziehungszeiten habe ich bereits etwas ge-
sagt.

Sie wollen nun doch so etwas Ähnliches wie eine Zu-
schussrente einführen, sagen das aber nicht mehr. Das ist
auch nicht mehr durchsetzbar; dieses Thema ist durch.
Dabei wollen Sie Menschen, die lange gearbeitet haben,
über das jetzige Rentensystem mit einer Rente nach
Mindestentgeltpunkten helfen. Da bin ich sofort bei Ih-
nen, absolut und ohne jeden Zweifel.

Was ich aber auf keinen Fall mitmachen werde – das
sage ich den Menschen im Lande ganz laut –: Diese Ko-
alition will mit dieser Lösung vor allen Dingen die Ver-





Anton Schaaf


(A) (C)



(D)(B)


sicherungswirtschaft in Deutschland stärken. Sie sagen:
Voraussetzung dafür, dass wir das machen, ist die Be-
schäftigungszeit; aber einen Freibetrag gibt es nur bei
Riester-Rente oder einer betrieblichen Altersvorsorge,
also einer kapitalgedeckte Altersvorsorge. Ich sage Ih-
nen: Das ist eine massive Ungleichbehandlung gegen-
über allen anderen Sparformen, übrigens auch gegen-
über der Rentenversicherung. So kann man mit dem
Thema aus meiner Sicht nicht umgehen. Wir schlagen
etwas anderes vor, nämlich dass ausschließlich die Be-
schäftigungszeiten dazu berechtigen, eine auf 850 Euro
aufgestockte Rente in Anspruch zu nehmen.


(Beifall bei der SPD)


Es war einmal ein Reisender in Österreich unterwegs,
der aus seiner Reise einen Reisebericht gemacht hat. Da-
bei war er auch im Stubaital gewesen. Die Menschen
dort hat er folgendermaßen beschrieben: ein kleines, lis-
tiges Bergvolk, das sich im Wesentlichen durch Jodeln
verständigt.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Und den Reißverschluss hinten hat!)


Klein sind Sie in der Rentenpolitik, weil Sie nichts
auf die Reihe bekommen haben. Listig sind Sie, wenn
Sie die Menschen mit Ihren Modellen hinter die Fichte
führen. Jodeln kann wohl der eine oder andere bei Ihnen,
aber eines ist völlig klar: Die Politik von Ihnen versteht
kein Mensch.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1720110100

Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP unser

Kollege Dr. Heinrich Kolb. Bitte schön, Kollege
Dr. Heinrich Kolb.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1720110200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lieber Toni Schaaf, das war ja eine Reise quer durch den
Garten der Rentenpolitik mit anekdotischen Anwandlun-
gen. Wenn man so redet, dann meidet man damit das
Kernthema der Debatte. Insofern will ich gerne auf das
zurückverweisen, worüber wir heute reden, nämlich da-
rüber, dass es in Deutschland möglich ist, in krisenhaften
Zeiten eine kräftige Rentenbeitragssenkung vorzuneh-
men. Das ist alles andere als selbstverständlich; das ist
vielmehr der Erfolg der guten Politik dieser Bundesre-
gierung. Das will ich hier zu Beginn meiner Rede sehr
deutlich feststellen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wenn wir es nämlich nicht geschafft hätten durch die
Nutzung eines ganzen Repertoires von Beschäftigungs-
formen einen zahlenmäßigen Höchststand an sozialver-
sicherungspflichtiger Beschäftigung in Deutschland zu
erreichen – darüber haben wir hier öfters debattiert –,
dann hätten wir überhaupt nicht die Spielräume, um

heute diese Rentenbeitragssatzsenkung zu beschließen.
Wenn Sie so wollen, ist das ein Luxusproblem, um das
uns ganz Europa beneidet. Ich bin sicher, die SPD hätte
jede Woche ein Freudenfeuer angezündet, wenn sie an-
nähernd solche Zahlen vorzuweisen gehabt hätte.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Der zweite Punkt. Die Nachhaltigkeitsrücklage ist ein
Liquiditätspuffer, der unterjährige Schwankungen, auch
kurzfristige konjunkturelle Schwankungen, ausgleichen
soll; sie ist nicht mehr und nicht weniger. Deswegen ist
es gut, das auch der Höhe nach zu bemessen. Ich will
diejenigen, die immer noch so ein bisschen den Julius-
turm aus den frühen Adenauer-Zeiten im Hinterkopf ha-
ben, darauf hinweisen: In heutigen Werten war der Juli-
usturm nicht viel höher als die Nachhaltigkeitsrücklage,
die wir trotz Senkung des Rentenbeitragssatzes am Ende
des Jahres 2013 voraussichtlich haben werden, nämlich
knapp 30 Milliarden Euro. Das ist die Wahrheit, und das
muss man hier auch einmal sagen.

Sie sagen: Gesetze kann man ändern. Ich finde aber,
seine Überzeugungen sollte man nicht unbedingt ändern,
jedenfalls nicht ohne Not. Deswegen muss man noch
einmal darauf hinweisen: Es gab Zeiten, in denen die
SPD in diesem Haus über die Notwendigkeit gesprochen
hat, die Lohnnebenkosten zu begrenzen. Als im Jahr
2001 die Automatik eingeführt wurde, dass die Beiträge
gesenkt werden, wenn die Nachhaltigkeitsrücklage ein
bestimmtes Maß überschreitet, hieß es damals von Rot-
Grün, konkret von Arbeitsminister Walter Riester: Die
Stabilisierung des Beitragssatzes zur gesetzlichen Ren-
tenversicherung wendet den Anstieg der Lohnnebenkos-
ten ab. Dies hat eine stabilisierende Wirkung auf die Ent-
wicklung des Preisniveaus. Die Lohnkosten sind eine
wichtige Einflussgröße für das Preisniveau. – Die Parla-

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1720110300
Das erhöht
unsere Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt. Das
stärkt das Wirtschaftswachstum und hilft, dass neue Jobs
entstehen.

Das war die SPD des Jahres 2001. Leider klingt das
im Jahr 2012 ganz anders. Für uns ist es aber unverän-
dert wichtig, dass wir mit der Absenkung des Rentenbei-
tragssatzes in einer Schlüsselsituation der konjunkturel-
len Entwicklung einen Wachstumsimpuls dadurch
geben, dass wir die Beitragszahlerinnen und Beitrags-
zahler um knapp 7 Milliarden Euro entlasten. Diesen
könnte man verstärken, wenn Sie im Bundesrat endlich
Ihre Blockadehaltung gegenüber der Beseitigung der
kalten Progression aufgeben würden. Dies sind jeweils
circa 6,5 Milliarden Euro, also 13 Milliarden Euro ins-
gesamt. Das würde nicht einfach in der Volkswirtschaft
verpuffen, sondern uns helfen, Beschäftigung auf hohem
Niveau in Deutschland zu stabilisieren.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Es ist schon gesagt worden, dass viele von dieser Sen-
kung profitieren. Deswegen kann ich Ihre Verbohrtheit
auch gar nicht verstehen. Der Bundeshaushalt profitiert
in doppelter Weise, nämlich durch einen niedrigeren
Bundeszuschuss, aber auch durch höhere Steuereinnah-
men, weil die steuerlich absetzbaren Rentenversiche-





Dr. Heinrich L. Kolb


(A) (C)



(D)(B)


rungsbeiträge niedriger ausfallen werden. Die Haushalte
von Bund, Ländern und Kommunen profitieren bei der
Vergütung der Arbeit ihrer Angestellten davon. Vor allen
Dingen profitieren aber die Rentner.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das Rentenniveau sinkt weiter!)


Ich halte es auch für außerordentlich wichtig, dass wir
nicht durch dauerndes Herumfummeln an den Stell-
schrauben der Rentenpolitik das Vertrauen in die Ren-
tenversicherung beschädigen. Vielmehr müssen wir den
Rentnern das Zeichen geben: Wir halten an der Rentenfor-
mel und an den Stellschrauben der Rentenversicherung
auch dann fest, wenn dies zu euren Gunsten wirkt. – Des-
wegen muss der Beitragssatz heute gesenkt werden,
liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sie geben ihnen Krümel und nehmen ihnen den Kuchen!)


In der Anhörung ist sehr deutlich geworden, dass ein
Demografiefonds, wie ihn sich die SPD vorstellt, nicht
funktioniert. Die Sachverständigen haben das sehr deut-
lich gesagt. Wenn es einen Peak bei der Beitragssatzent-
wicklung geben würde, dann könnte man diesen tunneln.
Wir steuern aber auf ein Plateau zu. Deshalb kann man
nicht, indem man über wenige Jahre hinweg Beiträge an-
spart, eine Entwicklung aushebeln, die unvermeidlich
ansteht. Auch wenn der Beitragssatz nicht gesenkt wer-
den würde, muss der Beitragssatz ab 2020, spätestens ab
2025 angehoben werden, weil die demografische Ent-
wicklung nun einmal so ist, wie sie ist, weil die Men-
schen in unserem Land länger leben und weil der Anteil
der Menschen im Alter von mehr als 65 Jahren steigt.
Diese Grundgesetze kann man nicht aushebeln. Die Ein-
richtung eines Demografiefonds heißt für Sie: Es soll ein
bisschen Geld zurückgelegt werden, damit man sich
möglicherweise ein paar Wünsche erfüllen kann. – Ich
bin aber sicher, Sie werden überhaupt nicht in die Situa-
tion kommen, dass das am Ende möglich wäre.


(Zuruf des Abg. Anton Schaaf [SPD])


Wenn Sie noch ein bisschen Verantwortung für die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland
empfinden, lieber Toni Schaaf, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der SPD – früher sind Sie ja immer ange-
treten, Politik für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer in Deutschland zu machen –,


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das ist schon lange vorbei!)


dann können Sie heute nicht wirklich den Menschen
diese Entlastung verweigern, so wie Sie bisher ihnen
schon die steuerliche Entlastung im Zusammenhang mit
der kalten Progression verweigert haben. Es handelt sich
hier nicht um Menschen, deren Einkommen an der Bei-
tragsbemessungsgrenze liegt oder darüber hinausgeht.
Diese Menschen spüren diese Entlastung überhaupt
nicht. Sondern es handelt sich um Menschen mit einem
kleinen oder mittleren Einkommen, die das, was sie an
dieser Stelle erhalten, unmittelbar zu Konsumzwecken

verwenden können und teilweise auch verwenden müs-
sen. Diese Entlastung sollten wir den Menschen geben.
Das ist mein Plädoyer, und darum bitte ich Sie alle.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1720110400

Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Frak-

tion Die Linke unser Kollege Matthias W. Birkwald.
Bitte schön, Kollege Matthias W. Birkwald.


(Beifall bei der LINKEN)



Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720110500

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Herr Kolb, es gibt für Regierungsparteien nichts
Schöneres, als mit Geschenken in den Wahlkampf zu ge-
hen.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das hat mit Wahlkampf nichts zu tun!)


Genau das machen CDU/CSU und FDP, wenn sie jetzt
die Beitragssätze von 19,6 auf 18,9 Prozent senken wol-
len.

Manchmal bleibt von Geschenken wenig übrig, wenn
man sie erst einmal ausgepackt hat. Genau so ist es mit
der Rentenbeitragssenkung: mit viel Tamtam verpackt,
aber letztendlich doch nur Kleinkram und obendrein
auch noch vergiftet. Ein solches Geschenk lehnen wir
ab.


(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Eine Dachdeckergesellin erhält nach zweijähriger Tä-
tigkeit ein Tarifgehalt von 2 707 Euro brutto im Monat.
Wenn der Beitragssatz um 0,7 Prozentpunkte gesenkt
wird, muss sie knapp 9,50 Euro weniger Beitrag in die
Rentenkasse zahlen. Das heißt in Köln-Lindenthal: in
der Mittagspause einmal Currywurst mit Pommes und
zwei Mineralwasser.


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Und was macht sie bei der Praxisgebühr von 10 Euro?)


Ein Kölner Friseur mit Tarifgehalt müsste da schon auf
die Currywurst verzichten und sich auf Pommes und
Kakao beschränken. Denn bei einem Bruttomonatsver-
dienst von 1 326 Euro kommen bei der von den Christ-
demokraten und den Liberalen gewollten Beitragssen-
kung nur noch 4,60 Euro bei ihm an. Dabei wird aber
eines vergessen: Diese mit großer Geste verteilte kleine
Gabe führt dazu, dass die Menschen im Alter noch
schlechter vor Altersarmut geschützt sein werden.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein! Ausdrücklich nein, Herr Birkwald! Das wissen Sie auch!)


Sie, meine Damen und Herren von den Koalitions-
fraktionen, beschenken heute die Menschen mit Curry-
wurst und Pommes, die sich diese Beschäftigten morgen





Matthias W. Birkwald


(A) (C)



(D)(B)


als Rentnerinnen und Rentner nicht mehr werden leisten
können. Ihre Rentenpolitik, Herr Kolb – vor allem die
Rente erst ab 67 und die Absenkung des Rentenni-
veaus –, wird am Ende zu Rentenkürzungen führen. Ge-
nau das müssen Sie den Menschen aber auch sagen. Hö-
ren Sie auf, die Menschen an der Nase herumzuführen!


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sagen Sie ihnen, dass das bisschen mehr Netto vom
Brutto heute zu mehr Altersarmut morgen und übermor-
gen führen wird! Seien Sie einfach ehrlich! Oder noch
besser: Ziehen Sie den Gesetzentwurf zurück!


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1720110600

Herr Kollege Birkwald, gestatten Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Dr. Kolb?


Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720110700

Gerne.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1720110800

Bitte schön, Kollege Dr. Kolb.


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1720110900

Herr Kollege Birkwald, wären Sie bereit, mir zuzu-

stimmen,


(Anton Schaaf [SPD]: Kann ich mir schwer vorstellen!)


dass die erworbenen Rentenanwartschaften in einem
Jahr nicht von der Höhe des in diesem Jahr geltenden
Rentenbeitragssatzes abhängen, sondern allein vom Ver-
hältnis des verbeitragten Entgeltes eines Versicherten
zum Durchschnittsentgelt in diesem Jahr, dass also der,
der genau das Durchschnittsentgelt verdient, einen Ent-
geltpunkt bekommt? Dieser Entgeltpunkt ist aktuell
28,07 Euro wert, und zwar unabhängig von dem Beitrag,
den man dafür bezahlt.

Wären Sie auch bereit, mir zuzustimmen, dass nie-
mand, nicht einmal ein Matthias Birkwald, heute voraus-
sehen kann, wie hoch der Rentenwert im Jahr 2030 sein
wird, dass es jedenfalls keinen Automatismus gibt, dass
das Nettostandardrentenniveau vor Steuern auf 43 Pro-
zent absinkt, sondern dass wir derzeit eine deutlich güns-
tigere Entwicklung haben? Wären Sie bereit, mir in die-
sen Punkten zuzustimmen?


Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720111000

Herr Kollege Kolb, Sie haben das gestern im Aus-

schuss schon einmal versucht.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber es hat nichts genutzt! – Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU sowie des Abg. Anton Schaaf [SPD])


Ich will Ihnen gerne sagen, dass Sie gerade am Schluss
Ihrer Frage den wesentlichen Punkt genannt haben: Ihre
Politik ist es, das Rentenniveau abzusenken.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein!)


Ob am Schluss 43 Prozent oder 44,5 Prozent heraus-
kommen – all das sichert deutlich nicht mehr den Le-
bensstandard.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir sind besser als die Opposition!)


Es ist deutlich weniger als heute, wo das Rentenniveau
bei knapp 50 Prozent liegt. Gerade diejenigen, die
Durchschnittseinkommen oder niedrigere Einkommen
haben, schicken Sie damit in die Altersarmut. Das hat
Ministerin von der Leyen – das habe ich ausdrücklich
gewürdigt – mit ihrer Schocktabelle in der Bild am Sonn-
tag deutlich gemacht.

Wenn Sie an der Rentenformel nichts ändern und die
Kürzungsfaktoren nicht streichen, dann werden die Ren-
ten weiter absinken und dann werden Sie damit Millio-
nen Menschen in die Altersarmut treiben. Daran führt
kein Weg vorbei.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir sind viel besser unterwegs als Walter Riester!)


Meine Damen und Herren, wer jetzt den Rentenbei-
trag senkt, tut nichts dafür, dass die Rente zum Leben
reicht. Das habe ich gerade noch einmal erläutert. Die
Rente muss wieder den Lebensstandard sichern, und sie
muss vor Altersarmut schützen. Mit der ständigen Bei-
tragssatzsenkerei ist das nicht zu machen, Herr Kolb.
Das sollten Sie nicht behaupten. Das sind wenige Euro
im nächsten und übernächsten Jahr, aber auf Dauer geht
das Rentenniveau herunter, und damit ist das die falsche
Politik.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie sollten auch sagen, dass die Zahl der Beitragszahler eine Rolle spielt! Eine entscheidende sogar!)


Der DGB hat erkannt, dass die Beitragssatzsenkerei
nichts nützt, und die CDU/CSU hat das auch verstanden;
bei der FDP bin ich mir jetzt nicht so sicher. Aber den-
noch wollen Sie das Problem verschlimmern. Auch die
SPD tut, bisher jedenfalls, nichts gegen den freien Fall
des Rentenniveaus. Die Kollegin Pothmer von den Grü-
nen findet sogar die Absenkung des Rentenniveaus auf
bis zu 43 Prozent richtig. Das Motto bei mehreren im
Hause lautet also: Hauptsache, die Rentenbeiträge stei-
gen nicht zu sehr. Das bedeutet dann aber, dass die Ar-
beitgeberinnen und Arbeitgeber ordentlich entlastet blei-
ben und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer privat
vorsorgen sollen. Wer das nicht schafft, wird in die
Grundsicherung abgeschoben. – Das ist zynisch, das ist
unverantwortlich, und da macht die Linke aus guten
Gründen nicht mit.


(Beifall bei der LINKEN)


Meine Damen und Herren, die Rentenversicherung
hat kürzlich auf das besonders hohe Armutsrisiko für Er-





Matthias W. Birkwald


(A) (C)



(D)(B)


werbsgeminderte hingewiesen. Wer im Jahr 2000 in eine
volle Erwerbsminderungsrente ging, erhielt im Durch-
schnitt, Herr Kolb, 738 Euro. Im vorigen Jahr waren es
noch 634 Euro, also 104 Euro weniger. Wenn die Kölner
Dachdeckerin vor ihrem 63. Geburtstag erkrankt und
nicht mehr arbeiten kann, wird ihr die Rente um bis zu
10,8 Prozent gekürzt werden. Diese ungerechten Ab-
schläge zu streichen, würde die Betroffenen im Durch-
schnitt immerhin aus der Grundsicherungsbürokratie he-
rausholen. Das wäre zwar noch lange nicht genug, aber
es wäre ein erster wichtiger Schritt. Und er ist finanzier-
bar! Die Abschläge abzuschaffen, würde bis zum Jahr
2030 insgesamt circa 4,6 Milliarden Euro kosten. Durch
die Beitragssatzsenkung gehen der Rentenkasse 8 Mil-
liarden Euro verloren – jedes Jahr.

Meine Damen und Herren, niemand wird freiwillig
krank, und deshalb müssen die Abschläge in der Er-
werbsminderungsrente gestrichen werden. Das wäre lo-
cker zu finanzieren.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1720111100

Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn. Bitte schön, Kollege
Dr. Strengmann-Kuhn.


(BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Damen und Herren auf den Tribünen und vor den
Fernsehschirmen! Was wir jetzt hier erleben, ist eine
reine Showveranstaltung der schwarz-gelben Koalition.


(Widerspruch bei der CDU/CSU)


Eigentlich ist es völlig unnötig, hierzu einen Gesetzent-
wurf vorzulegen. Peter Weiß hat vorhin selber gesagt: Es
gibt ein Gesetz, und es ist ein reiner Automatismus, der
jetzt abläuft. Das hätte man normalerweise einfach per
Verordnung machen können. Das haben viele von den
Sachverständigen in ihren schriftlichen Stellungnahmen
zu der Anhörung am Montag auch geschrieben und ihr
Befremden darüber bekundet, dass überhaupt ein Ge-
setzentwurf vorgelegt wird; man hätte es über eine Ver-
ordnung machen müssen und können.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Dann könnten Sie nicht diskutieren, Herr StrengmannKuhn!)


Man brauchte einfach eine Bühne, um sich hinzustellen
und zu sagen: Wir tun Tolles für die armen Rentnerinnen
und Rentner


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Endlich sagt es mal einer! Prima!)


und für die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler. Ich
glaube, dass diese Show nicht aufgeht.


(Abg. Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Aber jetzt kommt erst mal eine Zwischenfrage des
Kollegen Peter Weiß.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1720111200

Ja. Da Sie die schon zugelassen haben und der Präsi-

dent damit einverstanden ist, sage ich: Bitte schön. Es ist
ja gut, wenn das alles so läuft.


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1720111300

Verehrter Herr Kollege Strengmann-Kuhn, Sie haben

mit Ihrem Hinweis recht: Man kann es auch per Rechts-
verordnung machen. – Bedeutet die Tatsache, dass Sie
gleich zu Beginn Ihrer Rede dieses Thema ansprechen,
dass die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sich wünscht,
dass man kein Gesetz macht, sondern eine Rechtsverord-
nung, und dass dann, wenn eine solche Rechtsverordnung
vorgelegt würde, die Grünen den Landesregierungen, an
denen sie beteiligt sind, empfehlen, im Bundesrat dieser
Rechtsverordnung mit Freude zuzustimmen?


(BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Vielen Dank für die Frage; denn jetzt kann ich aus-
führlich auf das eingehen, was Sie in Ihrer Rede gesagt
haben.

Die Regelungen zur Obergrenze und Untergrenze ha-
ben ja wir unter Rot-Grün im Gesetz eingeführt.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Richtig!)


Nun ist das zehn Jahre her. Nach zehn Jahren kann man
sich die Lage durchaus neu anschauen und überlegen, ob
die Ober- und Untergrenze, die wir damals festgelegt ha-
ben, heutzutage noch Sinn machen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: 20 Prozent sind immer noch 20 Prozent!)


Dazu kann ich sowohl die Sachverständigen aus der
Anhörung zitieren als auch einige Kolleginnen und Kol-
legen aus Ihrer eigenen Fraktion, die durchaus auch hier
im Plenarsaal schon gesagt haben, dass man darüber
nachdenken könnte, die Obergrenze von 1,5 Monatsaus-
gaben zu erhöhen, nämlich auf zwei Monatsausgaben,
wie ein Sachverständiger gesagt hat, oder auf drei Mo-
natsausgaben, was Herr Schiewerling ins Spiel gebracht
hat. Die meisten Sachverständigen waren bezüglich der
Untergrenze der Meinung, man sollte nicht auf 0,2 Mo-
natsausgaben, sondern auf 0,5 Monatsausgaben gehen,
damit die Rücklage nicht komplett abgesenkt wird. Die
Debatte darüber sollten wir hier sehr sachlich führen.
Wenn man das gemacht hätte, dann wäre man nicht un-
bedingt zu dem Ergebnis gekommen, dass es tatsächlich
sinnvoll ist, jetzt die Beiträge zu senken.

Wir beide waren gestern bei einer Veranstaltung der
AWO, auf der Sie selbst gesagt haben, Sie hätten durch-





Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn


(A) (C)



(D)(B)


aus Sympathie für den Vorschlag, die Beiträge jetzt nicht
zu senken, sondern sie langfristig konstant zu halten.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Hört! Hört! – Zurufe von der SPD)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1720111400

Ihr macht jetzt aber keinen Dialog!


(BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich sage: Herzlichen Glückwunsch! Genau das bean-
tragen wir. In Ihrer Rede gerade haben Sie aber gesagt,
die Beiträge nicht zu senken, mache wenig Sinn, weil die
Renditen auf dem Finanzmarkt im Moment zu gering
sind. Wir finden, das ist nicht so ein starkes Argument.
Wir wollen vielmehr langfristig konstante Beitragssätze
und sie jetzt nicht senken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Abends spricht er so und jetzt so! Hört! Hört! – Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Also Zustimmung zur Verordnung! Das war aber keine Antwort auf die Frage!)


– Die Antwort auf die Frage habe ich im Prinzip gege-
ben.


(Iris Gleicke [SPD]: Nicht nur im Prinzip!)


Sie haben ja gefragt, was wir den Bundesländern raten
würden. Wir würden ihnen raten, der Verordnung nicht
zuzustimmen. Vielmehr wäre jetzt die Gelegenheit, das
Gesetz im Rahmen der ganzen Debatten zu verändern,
die wir ohnehin über die Rente führen und in der die
Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen nach wie
vor überhaupt nichts vorlegen, außer dieses eine Gesetz,
das eigentlich unnötig wäre, weil man dies als Verord-
nung machen könnte, und das Schornsteinfegergesetz,
bei dem wir als Parlament gezwungen sind, etwas zu
machen. Auch da haben Sie reagiert, weil Sie den Geset-
zen und Gerichtsurteilen nicht widersprechen wollen.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Gutes Gesetz! – Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Gutes Gesetz!)


Insofern ist das, was Sie hier machen, wieder einmal
großartig. Eigentlich sind Sie bei der Rentenpolitik völ-
lig blank. Da hat der Kollege Schaaf – er hat das gerade
schon angesprochen – völlig recht: Da passiert nichts.
Das alles, was hier wieder einmal stattfindet, ist nichts
anderes als eine große Rentenshow von Frau von der
Leyen.

Warum wir der Meinung sind, dass die Rentenbei-
träge jetzt nicht gesenkt werden sollen, habe ich eben
schon angedeutet, nämlich weil das ein sehr kurzsichti-
ges Vorgehen ist. In der Tat ist es meines Erachtens kein
Zufall, dass die Rentenbeiträge kurz vor der Bundestags-
wahl gesenkt werden sollen. Das hat natürlich etwas mit
Wahlkampf zu tun.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir haben auch letztes Jahr gesenkt!)


Auch intern gab es bei Ihnen eine Diskussion darüber, ob
man nicht besser andere Wege geht. Aber das macht sich
vielleicht ganz gut; denn schließlich ist das insbesondere
für die FDP der letzte Strohhalm, vielleicht doch noch
dazu zu kommen, mehr – wie hieß es doch gleich? –
Netto vom Brutto hinzubekommen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir lösen das ein!)


Das ist aber sehr kurzfristig gedacht. Die meisten Bürge-
rinnen und Bürger durchschauen das. Zumindest diejeni-
gen, mit denen ich rede, fragen: Was soll das, jetzt die
Rentenbeiträge zu senken, wenn sie in wenigen Jahren
wieder steigen und wir dann wieder mehr zahlen müs-
sen?

Es ist in der Tat eine Frage der Generationengerech-
tigkeit, ob wir es hinbekommen, die Beiträge dauerhaft
konstant zu halten. Da gehen wir auch konform mit der
Debatte über die Krankenversicherungsbeiträge. Auch
da ist unsere Position, dass wir sagen: Man muss die
Beiträge in der Krankenversicherung durch eine Bürger-
versicherung dauerhaft und nachhaltig niedrig halten.
Langfristig müssen wir das auch bei der Rente hinbe-
kommen, um stabile Beitragssätze mit einem vernünfti-
gen Rentenniveau zu gewährleisten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sie sagen weiterhin, es mache keinen Sinn, so wie
SPD und Linke es vorschlagen, die Obergrenze bei der
Nachhaltigkeitsrücklage komplett abzuschaffen und das
Geld auf dem Kapitalmarkt anzulegen. Richtig! Deswe-
gen sagen wir, dass man das Geld teilweise verwenden
sollte, nicht um einen Tunnel zu bohren, sondern um von
der jetzigen Beitragssenkung zur Beitragssteigerung eine
Brücke zu schaffen. Dann könnte man die Beiträge auf
der einen Seite längerfristig konstant halten und auf der
anderen Seite gemäßigte Leistungsverbesserungen durch-
führen. Von Vervespern oder Verschleudern zu reden,
wenn wir fordern, Verbesserungen bei der Erwerbsmin-
derungsrente vorzunehmen und das Rehabudget bedarfs-
gerecht auszustatten, finde ich wirklich hanebüchen.

Unsere Position ist: keine Beitragssatzsenkung jetzt,
stabile Beitragssätze in der Zukunft – das ist generatio-
nengerecht –


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das geht nicht zusammen!)


und Leistungsverbesserung insbesondere für diejenigen,
die aus gesundheitlichen Gründen eine Erwerbsminde-
rungsrente beziehen. Für diese müsste es möglich sein,
ohne Abschläge in Rente zu gehen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja, das ist gut!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1720111500

Bevor Sie mit einem neuen Gedanken beginnen,

schauen Sie bitte schnell einmal auf die Uhr.






(A) (C)



(D)(B)



(BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich habe keinen neuen Gedanken mehr, sondern will
nur noch sagen: Noch ein Jahr geht diese schwarz-gelbe
Show weiter. Danach machen wir wieder eine nachhal-
tige, solide Rentenpolitik.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Lachen bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das warten wir einmal gelassen ab!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1720111600

Nächster und letzter Redner in unserer Aussprache ist

für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Paul Lehrieder.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1720111700

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposi-
tionsfraktionen, sofern Sie es vergessen haben, rufe ich
Ihnen gerne in Erinnerung, dass wir mit der Absenkung
des Beitragssatzes zum 1. Januar 2013 auf 18,9 Prozent
in der gesetzlichen Rentenversicherung und auf 25,1 Pro-
zent in der knappschaftlichen Rentenversicherung gel-
tendem Recht folgen; Recht aus rot-grüner Zeit. Das will
ich noch einmal ausdrücklich betonen.

Lieber Anton Schaaf, wenn ich deine Währungsein-
heit von einem Maß Bier nehme, dann sind das jetzt fünf
kleine Kölsch. Die 10,50 Euro, über die wir reden, sind
sehr wohl keine Peanuts.


(Anton Schaaf [SPD]: Trinkt keiner! – Gegenruf des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Weitere Zurufe von der SPD)


– Herr Präsident, ich brauche jetzt erst einmal wieder die
Aufmerksamkeit der SPD.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Lieber Kollege Schaaf, wenn Sie im selben Atemzug die
heute Morgen diskutierte Praxisgebühr anführen, so ge-
bietet es die Ehrlichkeit, zu sagen, dass die Praxisgebühr
mit 10 Euro einmal im Quartal anfällt. Die Entlastung,
die wir heute vornehmen, beträgt bei einem Durch-
schnittseinkommen jeden Monat immerhin 10,50 Euro.
Das heißt, wir entlasten um dreimal so viel, wie die Pra-
xisgebühr maximal bringen könnte.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


So gesehen handelt es sich keinesfalls um Kleinkram,
wie Sie ausgeführt haben. Zur Währungseinheit Curry-
wurst, Herr Kollege Birkwald, fällt mir momentan auch
nichts ein.

Nach § 158 SGB VI ist der Beitragssatz zu Beginn ei-
nes Jahres zu senken, wenn die Mittel der Nachhaltig-
keitsrücklage zum Ende des Jahres – –


(Abg. Anton Schaaf [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Herr Präsident, ich bin selbstverständlich bereit, die
Frage des Kollegen Schaaf anzunehmen.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1720111800

Alles läuft gut. Hier sieht man auch das gute kollegi-

ale Verhältnis im Ausschuss. Bitte schön.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das stimmt!)



Anton Schaaf (SPD):
Rede ID: ID1720111900

In der Tat, es ist ein sehr gutes kollegiales Verhältnis.

Deswegen werde ich den Kollegen Lehrieder auch nicht
bitten, zu jodeln, sondern bitte ihn, mir Folgendes zu be-
antworten: Heute Morgen beim Thema Gesundheit war
die Argumentation, man müsse die Kasse beieinander-
halten und sparsam mit dem Geld umgehen und dürfe
deswegen die Praxisgebühr nicht abschaffen. Gilt bei der
Rentenkasse nicht das gleiche Argument, und zwar im
Hinblick auf die Schuldengrenze, die wir im Grundge-
setz vereinbart haben, und im Hinblick darauf, dass es
vielleicht einmal schlechtere Zeiten geben könnte und
wir damit eine schlechtere Einnahmesituation haben
könnten? Sie haben dabei auch nicht berücksichtigt, was
die Sachverständigen zur Obergrenze gesagt haben. Das
Gleiche gilt auch für die Untergrenze. Hier wurde ge-
sagt, man solle eine Rücklage von 0,5 Monatsausgaben
halten. All das ist überhaupt nicht berücksichtigt wor-
den. Hier geht es nur darum, einen maximalen Effekt ge-
genüber der Bevölkerung zu erreichen. Das habe ich
schon im Zusammenhang mit der Praxisgebühr moniert.


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1720112000

Lieber Kollege Anton Schaaf, jodeln und Schuhplatt-

ler tanzen werde ich hier nicht. Da kann ich Sie beruhi-
gen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Schade eigentlich!)


Ich komme aus Franken. Da ist es nicht üblich, Schuh-
plattler zu tanzen. Wir haben andere, gleichwohl schöne
Tänze. Den Gefallen werde ich Ihnen aber nicht tun.

Sie haben ausgeführt: Wir entlasten die Mitbürgerin-
nen und Mitbürger; dabei müssen wir aber auch die Kas-
sen zusammenhalten. Das ist auch der Kern dessen, was
die Sachverständigen am Montag ausgeführt haben.

Die Demografierücklage, die immer angesprochen
wird und für die ich am Anfang zugegebenermaßen ein
hohes Maß an Sympathie hatte – wir lassen das Geld an-
sparen, weil wir es in den nächsten Jahren brauchen –,
wird eben nicht so lange reichen, wie es für eine nach-
haltige Senkung der Beiträge notwendig wäre.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann aber gleich ganz weg?)


Die Demografierücklage beträgt maximal etwas über
80 Milliarden Euro. Wir hätten in den Wahljahren 2017
eine Rücklage von etwa 79 Milliarden Euro und 2021





Paul Lehrieder


(A) (C)



(D)(B)


von etwa 80 Milliarden Euro, wenn wir auf die Absen-
kung verzichten. Auch das gehört zur Wahrheit. Das
heißt, die Chance, dass wir diese Demografierücklage
zweckmäßig verwenden, ist außerordentlich gering.

Zur Frage der Verwendung der Demografierücklage
im Umlageverfahren: Die Beträge, die hier aufgebaut
werden, sind, wenn wir die Gesamtsumme, die für die
Renten ausgegeben werden, ansehen, relativ bescheiden.
Das war die Aussage der Sachverständigen am vergan-
genen Montag. Im Übrigen ist dies auch nur ein tempo-
räres Problem, worauf schon hingewiesen wurde. Die
Demografierücklage ist, wenn wir diese Berechnungen
nehmen, spätestens im Jahr 2024, 2025 verbraucht.
Dann gehen wir in das normale Verfahren hinein. 2030
liegen alle Schätzungen zu den Beitragssätzen, Herr
Kollege Schaaf, bei 21,8 bzw. 21,9 Prozent, also knapp
unter der 22-Prozent-Grenze. Wir reden hier also über
einen ganz bescheidenen Zeitraum.

Deshalb ist die Gefahr groß – auch darauf müssen wir
achten –, dass wir im Hinblick auf die derzeit günstige
Finanzierung – –


(Abg. Anton Schaaf [SPD] nimmt wieder Platz)


– Aufstehen bitte, ich bin noch nicht fertig. Herr Präsi-
dent, kann er sich wieder hinstellen? Ich bin noch bei der
Beantwortung.


(Zurufe von der SPD)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1720112100

Braucht ihr jetzt doch einen Präsidenten dazu? Vorher

ging es ohne.


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1720112200

Es geht um die Beantwortung der Frage, was mit dem

Geld zu geschehen hat.

Wenn Leistungen ausgebaut werden, haben diese
Leistungen finanzielle Folgen, die weit über das Jahr
2024 hinausgehen und die dann ohnehin schwierige
Finanzierung der Rentenversicherung weiter erschwe-
ren. Deshalb kann man davor nur warnen, lieber Anton
Schaaf.

Das Geld, das sich heute in der Rücklage befindet, ha-
ben die jetzigen Beitragszahler aufgebracht. Genau de-
nen steht das Geld auch zu. Deshalb sind wir der Auffas-
sung – im Übrigen ähnlich wie die Große Koalition beim
Thema Arbeitslosenversicherung –, dass die Beiträge in
den sozialen Sicherungssystemen da abgesenkt werden
sollten, wo man die Menschen entlasten kann. Eine Ent-
lastung der kleinen Bürger und der Arbeitnehmer war
früher auch Augenmerk der SPD. Ich würde mir wün-
schen, dass Sie in diesem Verfahren wieder einer Entlas-
tung zustimmen könnten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Jetzt bin ich fertig, Herr Präsident.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1720112300

Jawohl. Damit darf sich der Kollege wieder setzen.


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1720112400

Unter Anwendung des gesetzlichen Anpassungs-

mechanismus sowie auf der Grundlage der Ergebnisse
der turnusgemäßen Einschätzung der Rentenfinanzen
durch den Rentenversicherungsschätzerkreis, verbun-
den mit der guten wirtschaftlichen Entwicklung, ergibt
sich die Absenkung des Beitragssatzes auf 18,9 Prozent.

Lieber Herr Kollege Schaaf, es ist längst nicht so,
dass wir diesen Zeitpunkt beeinflussen können. Schön
wäre es ja. Es ist Zufall, dass uns jetzt die gut laufende
Konjunktur ein Dreivierteljahr vor der nächsten Wahl
die Möglichkeit gibt, diese Absenkung vorzunehmen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Aha! Also die Bundesregierung ist unschuldig daran! Schön, dass man das auch einmal hört!)


Das liegt aber daran, dass in Deutschland die Arbeitge-
berverbände und die Gewerkschaften die Krise gut über-
standen haben, im Übrigen auch mit gemeinsam hier in
diesem Hause entwickelten Szenarien, zum Beispiel der
Verlängerung des Kurzarbeitergeldes usw. Das heißt:
Wir befinden uns derzeit in der günstigen Situation – an-
ders als alle Länder um uns herum –, dass wir Absen-
kungen in den Sozialabgabebereichen vornehmen kön-
nen. Das sollten wir tun. Das sind wir unseren Bürgerinnen
und Bürgern schuldig.

Lieber Anton Schaaf, wenn Sie Ihren Beitrag zur Ent-
lastung der Bürgerinnen und Bürger leisten wollen, dann
bitte ich Sie höflich: Sprechen Sie mit Ihren Ministerprä-
sidenten, damit sie die Blockade im Bundesrat gegen die
Absenkung der Steuertarife, gegen die Verbesserungen
im Bereich der kalten Progression endlich aufgeben.
Dann können wir die kleinen und mittleren Bürger noch
besser entlasten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Absen-
kung des Beitragssatzes führt im Jahr 2013 zu einer
deutlichen Erhöhung der verfügbaren Einkommen der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Die Interessen
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit kleinen
Einkommen sind in dieser christlich-liberalen Koalition
gut aufbewahrt. Wir sind die Anwälte der kleinen Leute.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lachen bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])


Das führt zu einer spürbaren Entlastung der Arbeitneh-
mer und Unternehmen in Höhe von etwa 3,2 Milliarden
Euro. Hiermit werden deutliche Impulse für die gesamt-
wirtschaftliche Entwicklung und positive Signale auf
dem Arbeitsmarkt gesetzt.

Des Weiteren profitieren auch die Rentnerinnen und
Rentner davon; denn die Senkung des Rentenbeitragssat-
zes zum 1. Januar 2013 wirkt sich auch auf die Renten-
anpassungsformel aus und somit steigernd auf die Ren-
tenanpassung zum 1. Juli 2014. Die Renten werden dem-
nach in den nächsten beiden Jahren um 1,3 Prozent stei-
gen. Neben der normalen Erhöhung erhält ein Rentner
mit einer Rente von etwa 1 000 Euro im Monat durch die





Paul Lehrieder


(A) (C)



(D)(B)


Absenkung der Beitragssätze zur Rentenversicherung im
Monat circa 13 Euro zusätzlich.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das Rentenniveau sinkt trotzdem weiter!)


Es gehört zur Generationengerechtigkeit dazu, dass die
Menschen, die unser Land aufgebaut haben, jetzt auch
von einer Entlastung profitieren können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wie Sie sehen, steht die Beitragssatzsenkung – anders
als von Ihnen behauptet –, keineswegs im Widerspruch
zu unserem Ziel der Vermeidung von Altersarmut.

Schließlich leisten wir einen weiteren wichtigen Bei-
trag zur Konsolidierung der öffentlichen Haushalte von
Bund, Ländern und Kommunen; denn die Anpassung
des Beitragssatzes bedeutet zugleich eine Entlastung um
etwa 1,6 Milliarden Euro für den Bund, um 80 Millionen
Euro für die Länder und um 150 Millionen Euro für die
Kommunen, also insgesamt um 1,9 Milliarden Euro. Al-
lein der Bundeszuschuss zur Rentenversicherung sinkt
um 1,1 Milliarden Euro.

Wir entlasten die Länder, wir entlasten die Kommu-
nen, nicht nur im SGB-XII-Bereich, über den wir
nächste Sitzungswoche reden werden, sondern auch
durch die Absenkung der Rentenbeiträge. Ich stelle fest:
Die Interessen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer,
aber auch der Kommunen sind in dieser christlich-libera-
len Koalition in guten Händen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Im Übrigen, meine sehr geehrten Damen und Herren
auf der linken Seite des Hohen Hauses, hat die Sachver-
ständigenanhörung am vergangenen Montag doch ganz
klar und deutlich gezeigt, dass Ihre Vorhaben nicht das
Geringste mit Nachhaltigkeit zu tun haben. Im Gegen-
teil: Ihre Forderungen würden in den nächsten Jahrzehn-
ten unweigerlich zu Kostenexplosionen führen, die nicht
zu verantworten wären. Über den Leistungsausbau habe
ich vorhin bereits ausgeführt.

Der Verzicht auf die Absenkung der Beitragssätze zur
gesetzlichen Rentenversicherung und damit der Aufbau
einer sogenannten Demografiereserve würde lediglich
zu einer zeitlichen Verschiebung der Beitragssatzerhö-
hung ab 2025 führen.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: 13 Jahre später!)


Ich habe es bereits ausgeführt: Von den Sachverständi-
gen wurde das Problem des Tunnels unter einem Plateau
angesprochen. Sie können sich unschwer vorstellen:
Wenn Sie unter einem Plateau einen Tunnel bauen, kön-
nen Sie sehr lange bohren, Sie werden das Ende aber nie
erreichen.

Genau in diese Richtung dürfen wir uns nicht bewe-
gen. Deshalb ist die Absenkung richtig. Deshalb bitte ich
Sie: Helfen Sie mit, für die Bezieher von kleinen und
mittleren Einkommen in Deutschland etwas Gutes zu
tun. Stimmen Sie für unsere Anträge.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Auf gar keinen Fall!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1720112500

Das war eine punktgenaue Landung, Herr Kollege

Paul Lehrieder. – Ich schließe nun die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Festset-
zung der Beitragssätze in der gesetzlichen Rentenver-
sicherung für das Jahr 2013. Der Ausschuss für Arbeit und
Soziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/11175, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksachen 17/10743
und 17/11059 (neu) in der Ausschussfassung anzuneh-
men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt
dagegen? – Das sind die drei Oppositionsfraktionen.
Enthaltungen? – Keine. Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben.
– Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dage-
gen? – Das sind die drei Oppositionsfraktionen. Enthal-
tungen? – Keine. Somit ist der Gesetzentwurf angenom-
men.

Tagesordnungspunkt 7 b, Abstimmung über den Ge-
setzentwurf der Fraktion der Sozialdemokraten über die
Schaffung eines Demographie-Fonds in der gesetzlichen
Rentenversicherung zur Stabilisierung der Beitragssatz-
entwicklung. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales
empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/11175, den Gesetzentwurf der
SPD auf Drucksache 17/10775 abzulehnen. Ich bitte die-
jenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um
das Handzeichen. – Das ist die Fraktion der Sozialdemo-
kraten. Wer stimmt dagegen? – Das sind die Koalitions-
fraktionen und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Enthaltungen? – Die Fraktion Die Linke. Der Gesetzent-
wurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt
nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.

Tagesordnungspunkt 7 c. Wir setzen die Abstimmun-
gen zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für
Arbeit und Soziales auf Drucksache 17/11175 fort. Der
Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion Die Linke auf Drucksache 17/10779 mit dem Titel
„Rentenbeiträge nicht absenken – Spielräume für Leis-
tungsverbesserungen nutzen“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktionen
und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Gegenprobe! –
Fraktion Die Linke. Enthaltungen? – Fraktion der So-
zialdemokraten. Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men.

Unter Buchstabe d empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 17/11010 mit dem Titel „Beitragssätze





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)


nachhaltig stabilisieren, Erwerbsminderungsrente ver-
bessern, Reha-Budget angemessen ausgestalten“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die
Koalitionsfraktionen und die Linksfraktion. Gegen-
probe! – Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? – Die
Sozialdemokraten. Die Beschlussempfehlung ist ange-
nommen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720112600

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta
Krellmann, Sabine Zimmermann, Dr. Martina
Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE

Psychische Belastungen in der Arbeitswelt re-
duzieren

– Drucksache 17/11042 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 
Ausschuss für Gesundheit

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate
Müller-Gemmeke, Markus Kurth, Brigitte
Pothmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Psychische Gefährdungen mindern – Alters-
und alternsgerecht arbeiten

– Drucksache 17/10867 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 
Ausschuss für Gesundheit

Verabredet ist, hierzu eine halbe Stunde zu debattie-
ren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann
ist das so beschlossen.

Ich gebe das Wort der Kollegin Jutta Krellmann für
die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Jutta Krellmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720112700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wachsen-
der Leistungsdruck prägt immer mehr die Arbeitswelt in
dieser Gesellschaft. Die Zunahme von Arbeitsstress hat
gravierende gesundheitliche Folgen für Millionen von
Menschen. Der jährliche Fehlzeiten-Report der AOK be-
legt, dass die Zahl der Krankheitstage wegen psychi-
scher Belastungen von 1994 bis heute um 120 Prozent
gestiegen ist. Psychische Erkrankungen sind in Deutsch-
land mittlerweile die Hauptursache für Frühverrentun-
gen.

Die Bundesregierung hat dieses Thema neuerdings
für sich entdeckt. Die Gründe für wachsenden Arbeits-
stress sind aber eigentlich schon lange bekannt:

Die erste und wichtigste Ursache in diesem Zusam-
menhang ist die Verdichtung von Arbeit. Die meisten
Beschäftigten müssen heute mehr Arbeit in derselben
Zeit leisten als vor wenigen Jahren. Krankenhäuser sind
mittlerweile ein sehr gutes Beispiel dafür. So wurde in
der Berliner Charité jahrelang Personal gekürzt. Jetzt ist
eine einzelne Pflegerin in der Nachtschicht für die Pflege
von 31 Patienten verantwortlich. Das ist Akkord im
Krankenhaus, das verursacht Stress. Einen solchen Job
macht man nicht nur wegen des Geldes, sondern auch
aus sozialem Engagement und aus Liebe zu den Men-
schen.

Zweitens führt die zunehmende Entgrenzung von Ar-
beit zu Stress. Viele Beschäftigte können sich nicht mehr
ausreichend von der Arbeit erholen. Der Achtstundentag
ist für sie längst Vergangenheit. Unbezahlte Mehrarbeit
nimmt breitflächig zu.

Drittens führt die Zunahme von unsicheren Arbeits-
verhältnissen zu wachsendem Stress in vielen Unterneh-
men. Befristete Arbeitsverhältnisse nehmen seit einigen
Jahren kontinuierlich zu, gleichzeitig Leiharbeit und
Werkverträge. All dies zwingt Beschäftigte zum häufige-
ren Wechsel ihres Arbeitsplatzes, was auch wieder Stress
bedeutet. Dies bedeutet auch größeren Konkurrenzdruck
in den Belegschaften. Die Politik der Bundesregierung
hat diese Entwicklung gefördert ebenso wie zuvor die
Agenda 2010 von Rot-Grün.

Die Linke will mit drei gesetzlichen Maßnahmen den
Stress am Arbeitsplatz verringern:

Erstens. Wir wollen den Arbeitsschutz verbessern.
Konkret heißt dies: Wir unterstützen die Forderung meiner
Gewerkschaft, der IG Metall, nach einer Anti-Stress-
Verordnung. Damit werden im betrieblichen Arbeits-
schutz verbindliche Standards zur Prüfung von Stressbe-
lastungen verankert.

Zweitens. Wir wollen die Arbeitszeiten klarer regeln.
Die gesetzliche Höchstarbeitszeit muss auf 40 Stunden
verringert werden,


(Beifall bei der LINKEN)


und Überstunden müssen stärker begrenzt werden. Frei-
zeit muss Freizeit bleiben.


(Beifall bei der LINKEN)


Drittens. Wir wollen die Einflussmöglichkeiten der
Beschäftigten auf die Organisation der Arbeitsprozesse
im Betrieb deutlich verbessern. Dies bedeutet: Beschäf-
tigten und ihren Betriebsräten muss Einfluss auf die Per-
sonalausstattung ihres Arbeitsbereichs gegeben werden,
um die gestellten Anforderungen erfüllen zu können. Sie
müssen an diesen Entscheidungen beteiligt werden. Sie
brauchen Vetorechte gegen den Einsatz von Leiharbeit
und Werkverträgen, wenn Stammbeschäftigte ersetzt
werden sollen.


(Beifall bei der LINKEN)


All diese Maßnahmen hätte die Bundesregierung
längst anpacken können, wenn sie dieses Thema ernst
genommen hätte. Stattdessen hat sie jahrelang von flexi-
bler Arbeit geschwärmt und dabei billigend in Kauf ge-





Jutta Krellmann


(A) (C)



(D)(B)


nommen, dass private Unternehmen ihre Gewinne auf
Kosten der Gesundheit ihrer jeweiligen Beschäftigten er-
höhen. Damit muss Schluss sein.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Bedürfnisse der Beschäftigten müssen Vorfahrt be-
kommen vor den Profitinteressen der Unternehmen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720112800

Das Wort hat der Kollege Dr. Matthias Zimmer für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Matthias Zimmer (CDU):
Rede ID: ID1720112900

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist

richtig, Frau Krellmann: Die Verdichtung von Arbeit ist
in der Tat zu einem Problem geworden. Auch die Tat-
sache, dass wir die Arbeitseffizienz in den letzten Jahren
in einem erheblich höheren Maße steigern konnten als
die Materialeffizienz und die Energieeffizienz, spricht
sicherlich nicht für Nachhaltigkeit. Arbeit nur als einen
Produktionsfaktor zu sehen und sie nur als Human Re-
source zu bezeichnen, entspricht aus unserer Sicht nicht
der Personalität der Arbeit, die zum Ausdruck kommen
sollte. Es überrascht dann nicht, dass 67 Prozent der
Menschen in ständiger Hektik und Unruhe die größten
Auslöser von Stress sehen und dass die Weltgesundheits-
organisation beruflichen Stress zu einer der größten Ge-
sundheitsgefahren des 21. Jahrhunderts erklärt hat.

Nun hat die IG Metall – die Kollegin Krellmann hat
das erwähnt – eine Anti-Stress-Verordnung vorgelegt.
Ein wenig aufbauend auf der Anti-Stress-Verordnung,
diskutieren wir heute einen Antrag der Linken und einen
Antrag der Grünen. Mir ist bei der Lektüre sowohl der
Anti-Stress-Verordnung als auch der beiden Anträge
nicht so ganz klar geworden, ob es tatsächlich richtig ist,
die psychischen Belastungen im Arbeitsleben vorrangig
über gesetzliche Maßnahmen oder über Verordnungen
zu regeln. Ich glaube, uns tut es gut, dass wir erst einmal
vornehmlich in die Betriebe hineinschauen. Dabei geht
es für mich im Wesentlichen um vier zentrale Punkte:

Erstens. Der Erhalt der psychischen Gesundheit von
Beschäftigten muss zur Selbstverständlichkeit in jeder
Unternehmenskultur werden. Die besten Lösungen können
partnerschaftlich zwischen Arbeitgebern und Arbeitneh-
mern gefunden werden. Dabei sollen sie von Kranken-
kassen, Rentenversicherungen, Werks- und Betriebs-
ärzten, Arbeitgeberverbänden, Gewerkschaften, Innungen
und Kammern Unterstützung erhalten. Das entspricht
dem Prinzip der Subsidiarität.

Zweitens. Wir sollten einen gesamtgesellschaftlichen
Prozess initiieren, damit psychische Erkrankungen, vor
allen Dingen Depressionen, enttabuisiert werden, damit
Erkrankungen dieser Art und Weise nicht als Schwach-
heit oder Mangel ausgelegt werden, sondern als etwas,
das jedem Arbeitnehmer passieren kann. Wir müssen

also darangehen, diese Dinge zu enttabuisieren und ein
Klima der Wertschätzung zu erreichen.

Drittens. Wir müssen auch darangehen, eine genaue
Diagnostik und Klassifikation des Begriffes „Burn-out“
zu erreichen. Ich habe manchmal den Eindruck, dass der
Begriff „Burn-out“ ein bisschen den Stellenwert des Be-
griffes der Hysterie im 19. Jahrhundert hat: Man klebt
das Label auf unterschiedlichste Symptome, ohne genau
zu wissen, was man damit letztendlich meint.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Wissenschaft weiß das schon!)


Ich bin der Meinung, eine geeignete wissenschaftliche
Begründung, Diagnostik und Therapie von Burn-out
wäre hier ausgesprochen hilfreich.

Viertens. Last, not least bin auch ich der Überzeu-
gung, dass eine stärkere Beteiligung der Arbeitnehmer
– über eine Kapitalbeteiligung, eine Prozessbeteiligung
oder andere Formen der Beteiligung – ebenfalls hilfreich
ist, wenn es darum geht, die psychischen Belastungen
am Arbeitsplatz deutlich zu senken.

Meine Damen und Herren, große Entwürfe treffen auf
konkrete Lebenswelten. Wir können natürlich ganz prak-
tisch etwas tun; denn wir sind als Bundestagsabgeord-
nete auch Arbeitgeber. Und wir alle sind vorbildliche
Arbeitgeber.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Na ja!)


Wir rufen unsere Mitarbeiter nie am Wochenende oder
abends, nach Feierabend, an.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich nicht!)


Wir bestehen natürlich darauf, dass keiner der Mitarbei-
ter länger als 40 Stunden arbeitet, und sind natürlich der
Meinung, dass die Tätigkeit unserer Mitarbeiter, wie es
die Anti-Stress-Verordnung der IG Metall vorsieht, „der
Gesundheit zuträglich“ ist. Oder nicht?

Nur selten finden gegenteilige Erfahrungen den Weg
in die Presse. Das zeigt aber auch, wie schwierig der
Umgang mit diesem Themenfeld ist. Letztendlich, denke
ich, fangen die Veränderungen bei uns an. Wenn wir ver-
nünftig sind, wenn wir vernünftig mit unseren Mitarbei-
terinnen und Mitarbeitern umgehen, dann brauchen wir
keine Gesetze. Wenn wir nicht vernünftig sind, dann hel-
fen keine Gesetze.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720113000

Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Josip

Juratovic.


(Beifall bei der SPD)



Josip Juratovic (SPD):
Rede ID: ID1720113100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Schon seit Jahrzehnten wird über das Projekt
„Humanisierung der Arbeit“ diskutiert. Als ehemaliger





Josip Juratovic


(A) (C)



(D)(B)


Betriebsrat war ich mit dabei, wenn es darum ging, die
Arbeitswelt an die Bedürfnisse der Arbeitnehmer anzu-
passen. Das Ziel ist es, die Arbeitswelt so zu gestalten,
dass Arbeit nicht krank macht.

Die Humanisierung der Arbeitswelt ist ein immer-
währendes Thema. Während der Industrialisierung ging
es darum, schwere körperliche Arbeit zu vereinfachen.
Später mussten in der Industrie die Taktzeiten arbeitneh-
merfreundlich gestaltet werden. Das Problem ist jedoch,
dass die Arbeitswelt insgesamt nicht unbedingt humaner
geworden ist. Die Probleme haben sich nur verlagert und
haben ein anderes Gesicht als früher. Heute ist es in Be-
zug auf die Humanisierung der Arbeitswelt die große
Aufgabe, darauf zu achten, psychische Belastungen zu
vermeiden.

Die Belastungen in unserer Arbeitswelt haben sich
zwar verändert, aber es sind Belastungen geblieben. Das
Problem ist, dass die Belastungen heute nicht mehr auf
den ersten Blick zu erkennen sind. Früher war es offen-
sichtlich, dass es Probleme mit dem Rücken gibt, wenn
man permanent über Kopf arbeiten muss. Heute sind die
Belastungen subtiler, wenn Arbeitnehmer viel Stress ha-
ben.

Viele Unternehmen operieren heute nur noch nach
reiner Wachstumslogik und schauen nur auf die kurzfris-
tige Rendite. Es wird großer Druck auf die Mitarbeiter
ausgeübt, die sich ständigen Optimierungsprozessen
ausgesetzt sehen. Diese Leistungsverdichtung bedeutet
für viele Arbeitnehmer Stress. Zudem bestimmen mo-
derne Informations- und Kommunikationsmedien die
meisten Bereiche unserer Arbeit. Technische Innovatio-
nen führen zu immer schnelleren Veränderungen. Das
Wissen, das man gestern noch brauchte, ist heute schon
nichts mehr wert. Die Arbeitnehmer brauchen immer
mehr Flexibilität und Lernbereitschaft.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch die Entwick-
lung von prekärer Arbeit hat Einfluss auf Stress in der
Arbeitswelt. Wenn ein Arbeitnehmer weiß, dass er be-
fristet, über Leiharbeit oder auf der Grundlage eines
Werkvertrags arbeitet, lebt er in der ständiger Unsicher-
heit in Bezug auf seinen Arbeitsplatz. Er kann seine
Zukunft nicht planen, geschweige denn eine Familie
gründen. Zudem will er dauernd Höchstleistungen voll-
bringen, um eventuell vom Unternehmen übernommen
zu werden.

Außerdem hat in vielen Berufen die Arbeitszeit zuge-
nommen. Im Sommer veröffentlichte das Statistische
Bundesamt Daten zur Qualität der Arbeit. Seit Mitte der
90er-Jahre ist die Wochenarbeitszeit um etwa 40 Minu-
ten angestiegen, ein Viertel der Beschäftigten arbeitet
auch samstags – in den 90er-Jahren waren es nur
18,8 Prozent –, und immer mehr Beschäftigte arbeiten
nachts. Die Zahlen belegen, dass die Arbeitnehmer im-
mer flexibler werden müssen, um ihre Arbeit zu erfüllen.

All diese Trends zeigen, dass sich unsere Arbeitswelt
verändert hat. Mit diesen Veränderungen kommen neue
Herausforderungen auf uns zu, auf die wir reagieren
müssen. Wir brauchen neue Regelungen im Arbeits- und
Gesundheitsschutz, um auf die steigenden psychischen

Belastungen zu reagieren. Im Arbeitsschutz ist alles
Mögliche detailliert geregelt; ich denke zum Beispiel an
die Biostoffverordnung. Eine Verordnung im Bereich der
psychischen Belastungen fehlt jedoch. Wir brauchen
dringend eine Anti-Stress-Verordnung, um diese Rege-
lungslücke zu schließen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Gestaltung unserer Arbeitswelt und die konkreten
Arbeitsbedingungen müssen stärker in den politischen
Fokus rücken. Zu oft wird der Arbeits- und Gesundheits-
schutz in die technische Ecke von DIN-Normen und Ver-
ordnungen gedrängt. Wir brauchen hier mehr politische
Gestaltung im Sinne der Humanisierung der Arbeitswelt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Darüber hinaus müssen wir sicherstellen, dass die Ar-
beitsschutzaufsicht gut und effektiv arbeiten kann. Ich
appelliere an die Länder, die Personalsituation zu verbes-
sern. Zudem müssen wir uns dafür starkmachen, dass
Gefährdungsbeurteilungen häufiger genutzt werden. Der
Arbeits- und Gesundheitsschutz hängt davon ab, dass
bekannt ist, welche Belastungen der jeweilige Arbeits-
platz beinhaltet. Diese Gefährdungsbeurteilungen müs-
sen auch alterssensibel durchgeführt werden. Wir müssen
dringend dafür sorgen, dass alle Betriebe Gefährdungs-
beurteilungen erstellen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch im Bereich
Arbeitszeit müssen wir Lösungen finden. Wir müssen re-
geln, bis wann ein Mitarbeiter für den Arbeitgeber er-
reichbar sein muss. Oft machen sich die Mitarbeiter auch
selbst oder untereinander Druck und arbeiten deshalb bei
Projektarbeiten mit kurzen Fristen abends und nachts
weiter. Hier müssen auch die Unternehmen handeln;
denn kein Arbeitgeber kann ein Interesse daran haben,
dass sein Mitarbeiter aufgrund überlanger Arbeitszeiten
nach ein paar Jahren ein Burn-out-Syndrom hat. Unsere
Fachkräfte dürfen nicht durch enorm lange Arbeitszeiten
und eine enorme Arbeitsbelastung verbraten werden.

Dies ist auch ein entscheidender Punkt im Zusam-
menhang mit dem Thema „Vereinbarkeit von Familie
und Beruf“. Wenn die Arbeitszeiten nicht so geregelt
sind, dass Zeit für die Familie bleibt, bringt das alles
nichts. Unser Ziel im Bereich des Arbeits- und Gesund-
heitsschutzes muss sein, möglichst viele psychische Be-
lastungen präventiv zu verhindern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des Abg. Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wir müssen die Arbeitswelt so gestalten, dass psychi-
sche Belastungen erst gar nicht entstehen.





Josip Juratovic


(A) (C)



(D)(B)


An einem besseren Arbeits- und Gesundheitsschutz
sollten alle in unserer Gesellschaft ein Interesse haben:
die Arbeitnehmer, damit sie nicht krank werden, die Ar-
beitgeber, damit ihre Arbeitnehmer nicht aufgrund von
Krankheit fehlen, und der Staat, weil wir damit Kosten
für unser Gesundheitssystem vermeiden.

Es ist dringend notwendig, dass im Bereich der psy-
chischen Belastungen endlich konkret etwas geschieht.
Bisher fällt Ministerin von der Leyen vor allem dadurch
auf, dass sie medienwirksam Regelungen für die Er-
reichbarkeit über das Smartphone fordert. Konkret aber
passiert nichts. Zur Anti-Stress-Verordnung sagt unsere
Ministerin zum Beispiel nichts. Herr Zimmer, Sie haben
hier hervorragend analysiert. Ich wünsche Ihnen viel
Glück bei der Erstellung eines entsprechenden Antrags
bzw. Gesetzentwurfs.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir müssen das neue Ziel der psychischen Gesund-
heit in der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrate-
gie stärker nutzen. Es reicht nicht, warme Worte an die
Presse zu richten. Die Bundesregierung muss endlich ge-
setzlich handeln; denn viele Arbeitgeber handeln nicht
aus Eigeninteresse, sondern nur, wenn sie dazu ver-
pflichtet sind, wie Studien belegen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Arbeits- und
Gesundheitsschutz ist entscheidend für die Lebensquali-
tät in unserem Land. Arbeit darf nicht krank machen,
insbesondere nicht psychisch. Wir müssen Arbeit so ge-
stalten, dass die Menschen ihr Leben genießen können
und genug Freizeit und Zeit für ihre Familie haben. Wir
brauchen gute und gesunde Arbeit, um die Lebensquali-
tät in unserem Land zu steigern. Die SPD wird in den
nächsten Wochen einen umfassenden Antrag zur Moder-
nisierung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes vorle-
gen.

In diesem Sinne: Vielen Dank für Ihre Aufmerksam-
keit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und der Abg. Beate MüllerGemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720113200

Pascal Kober hat das Wort für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1720113300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

In den beiden Anträgen von Linken und Grünen, die wir
heute beraten, wird ein durchaus wichtiges Thema auf-
gegriffen: die psychische Gesundheit am Arbeitsplatz.
Dieses Thema ist wichtig. Dieses Thema hat die Regie-
rungskoalition allerdings schon etwas früher erkannt als
Sie. Sie hat schon im Koalitionsvertrag vor drei Jahren
vereinbart, eine umfassende Präventionsstrategie zu er-

arbeiten. Diese Strategie ist gründlich ausgearbeitet wor-
den; die Arbeiten stehen kurz vor ihrem Abschluss.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schon! Vor drei Jahren! Da haben Sie noch gar nicht lesen können!)


Parallel dazu wurden vonseiten der christlich-libera-
len Regierungskoalition entscheidende Schritte zur För-
derung der psychischen Gesundheit am Arbeitsplatz un-
ternommen. So hat das Bundesgesundheitsministerium
die Kampagne „Unternehmen unternehmen Gesundheit“
im Jahr 2011 gestartet. Ziel dieser Kampagne ist es vor
allem, die Zahl von kleinen und mittleren Unternehmen
zu erhöhen, die sich aktiv im Bereich der betrieblichen
Gesundheitsförderung engagieren. So gibt es auf der
Homepage des Bundesministeriums für Gesundheit eine
Sammlung von hundert vorbildlichen Projekten der
Krankenkassen, die den kleinen und mittleren Unterneh-
men als Ideenbörse dienen können.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir reden hier über den Arbeitsschutz!)


Der demografische Wandel und der damit einherge-
hende Fachkräftemangel werden dazu führen, dass das
Thema der psychischen Gesundheit und die Notwendig-
keit, die Gesundheit von Mitarbeiterinnen und Mitarbei-
tern zu fördern, bei der Gestaltung des Arbeitsplatzes
und der Arbeitsabläufe in den Unternehmen in Zukunft
noch mehr in den Vordergrund gerückt werden.

Klar ist aber auch, dass die Zahl der psychisch be-
dingten Krankheiten in den vergangenen Jahren zuge-
nommen hat. 2010 verursachten psychische Erkrankun-
gen 53,5 Millionen Krankheitstage; das sind 80 Prozent
mehr als 1997. Mittlerweile sind fast 40 Prozent der
Neuzugänge bei Frühverrentungen darauf zurückzufüh-
ren. Ich denke, dass man aber auch genau prüfen muss,
inwieweit die zunehmende Zahl wirklich auf steigende
Erkrankungsfälle zurückzuführen ist und nicht zum Teil
auch auf verbesserte Diagnosemöglichkeiten.

Peter Weiß hat gestern in der Ausschusssitzung fol-
gendes Beispiel genannt: Was früher vielleicht als ein
Rückenleiden diagnostiziert wurde, aber in Wahrheit
eine psychische Erkrankung war, kann und wird mittler-
weile als solche diagnostiziert. Es ist gut, dass das
Thema enttabuisiert wurde und man sich nicht mehr für
psychische Erkrankungen schämen muss.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Gerade im Bereich des Sports gibt es prominente Bei-
spiele wie den Skispringer Sven Hannawald oder den
Fußballtrainer Ralf Rangnick, die durch ihr öffentliches
Bekenntnis zu ihrer Burn-out-Erkrankung Verständnis
und gesteigerte Aufmerksamkeit für das Thema erzeugt
haben. Das ist gut.

Nicht nur das Bundesgesundheitsministerium hat be-
reits entsprechende Maßnahmen auf den Weg gebracht,
sondern auch das Bundesministerium für Arbeit und So-
ziales hat Programme aufgelegt und arbeitet tatkräftig
daran. So hat es beispielsweise die Gemeinsame Deut-
sche Arbeitsschutzstrategie von Bund, Ländern und





Pascal Kober


(A) (C)



(D)(B)


Kommunen fortgeführt, die nun das Thema „Schutz und
Stärkung der Gesundheit bei arbeitsbedingter psychi-
scher Belastung“ zu einem der drei Schwerpunktthemen
für das Jahr 2013 erklärt hat.

Bereits im Frühjahr dieses Jahres hatte das BMAS ei-
nen Expertenworkshop organisiert, um den gegenwärti-
gen Forschungsstand zum Thema „Psychische Erkran-
kungen in der Arbeitswelt“ zu erheben, und darauf
folgend weitere Forschungsvorhaben zum Schließen von
wissenschaftlich-medizinischen Erkenntnislücken in die-
sem Bereich in Auftrag gegeben. Das ist nur ein kleiner
Teil der Maßnahmen dieser christlich-liberalen Bundes-
regierung. Sie sehen daran, wie wichtig uns dieses Thema
ist.

Die Maßnahmen, die die Linken und die Grünen in
ihren Anträgen vorschlagen, gehen am Ziel weit vorbei.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wohl wahr!)


So will die Linke ein Vetorecht für Betriebs- und Perso-
nalräte beim Einsatz von Zeitarbeit oder Werkverträgen.
In anderen Anträgen, die Sie schon in den Bundestag
eingebracht haben, fordern Sie gar das Verbot dieser bei-
den Instrumente der Arbeitsteilung.


(Zuruf von der LINKEN: Ja, richtig so!)


Dies würde jedoch die psychische Gesundheit nicht er-
höhen, sondern bedeuten, dass viele Menschen ihren Ar-
beitsplatz verlieren würden,


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Leider wahr!)


mit allen negativen Auswirkungen, die Arbeitslosigkeit
auf das psychische Befinden eines Menschen hat.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Psychische Gesundheit am Arbeitsplatz zu fördern, ist
gut und wichtig, aber dies sollte nicht auf Kosten des Ar-
beitsplatzes geschehen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Kolleginnen und Kollegen der Grünen stellen in
ihrem Antrag ähnliche Forderungen; damit gehen Sie
das Thema von der falschen Seite an. Sie fordern in Ih-
rem Antrag einen gesetzlichen flächendeckenden Min-
destlohn sowie die Einschränkung von Zeitarbeit und be-
fristeter Beschäftigung. Auch hier kann ich Ihnen nur
entgegnen, dass diese Maßnahmen mehr Menschen in
die Arbeitslosigkeit bringen würden. Daher können wir
dem auf gar keinen Fall zustimmen.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Woher wissen Sie denn das?)


Ziel muss es sein, die Gesundheit der Menschen am Ar-
beitsplatz zu fördern, aber nicht auf Kosten der Arbeits-
plätze.

Zum Abschluss, lieber Herr Ernst, möchte ich noch
einen anderen Aspekt einbringen. Ich halte es für einen
ein wenig verengten Blickwinkel, wenn man das Thema

„psychische Erkrankungen“ nur auf der Ebene der Ar-
beitswelt betrachtet. Uns allen muss doch klar sein, dass
Arbeit nur ein Teil des Lebens ist. Auch die privaten Le-
bensumstände haben Auswirkungen auf das psychische
Befinden eines Menschen und können Ursache von
Krankheiten sein. Jemand, der frisch verliebt ist, ist ge-
wöhnlich in besserer Stimmung als jemand nach einer
Trennung. Wem gerade ein Kind geboren worden ist,
dem geht es besser als jemandem nach einem Trauerfall
in der Familie. Entsprechend werden dann auch Belas-
tungen am Arbeitsplatz unterschiedlich wahrgenommen
und wirken sich entsprechend unterschiedlich auf den
Einzelnen aus. Ich möchte uns daher davor warnen, das
Thema ausschließlich aufseiten der Arbeitswelt anzuge-
hen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Auch andere gesellschaftliche Bereiche wie beispiels-
weise die Schule – auch Schülerinnen und Schüler sind
psychischen Belastungen ausgesetzt – gehören in den
Blickwinkel der gesellschaftlichen Debatte über dieses
Thema.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das eine schließt das andere nicht aus!)


Psychische Erkrankungen können mannigfaltige Ursa-
chen haben, deren wir uns als Gesellschaft insgesamt an-
nehmen müssen. Diese Regierungskoalition hat das
Thema angepackt. Wir werden den Menschen zur Seite
stehen und diese gesellschaftliche Debatte gemeinsam
führen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720113400

Das Wort hat Beate Müller-Gemmeke für Bündnis 90/

Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Gute und gesunde Arbeitsbedingun-
gen sind eine Zukunftsinvestition, die sich für alle lohnt:
für die Betriebe, für den öffentlichen Dienst und ins-
besondere für die Beschäftigten. Schlechte Arbeits-
bedingungen machen hingegen krank.

Heute sind – das wurde schon gesagt – die psychi-
schen Belastungen mit 37 Prozent die Hauptursache für
Frühverrentungen. Wer zu früh in Rente geht, bekommt
weniger Geld; in der Folge droht Altersarmut. Dieses
Problem hat inzwischen auch die Ministerin entdeckt.
Mit ihrer Zuschussrente hat sie allerdings nur die Symp-
tome im Blick.

Entscheidend sind jedoch die Ursachen. Wer Alters-
armut bekämpfen will, der muss auch dafür sorgen, dass
die Menschen gesund bis zur Rente arbeiten können.





Beate Müller-Gemmeke


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Gestern haben wir zum ersten Mal im Ausschuss über
dieses Thema diskutiert. Unstrittig war, dass die Zahl der
Krankheitstage aufgrund von psychischen Belastungen
von Jahr zur Jahr zunimmt. Die vagen Lösungsansätze
waren für mich aber nicht überzeugend. Es ging um
deklaratorische Klarstellung, um Sensibilisierung. Das
alles hat sich sehr unverbindlich angehört. Das ist mir
schlichtweg zu wenig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Was wir brauchen, sind konkrete Werkzeuge, die wir
den Betrieben an die Hand geben können. Notwendig
sind klare Definitionen und Vorgaben. Die Betriebe müs-
sen wissen, wann und wie psychische Gefährdungen am
Arbeitsplatz entstehen und wie sie, zum Beispiel bei
Schichtarbeit oder bei Taktarbeit, vermieden werden
können. Die Betriebe müssen wissen: Was bewirkt Mob-
bing? Wo liegen die Grenzen bei der Rufbereitschaft?
Wo liegen die Grenzen bei Arbeitsverdichtung und
Mehrarbeit? Betriebswirtschaftliche Ziele und die Leis-
tungsfähigkeit der Menschen müssen schlicht zusam-
menpassen.

Geht es um den Lärmschutz oder um giftige Chemi-
kalien, dann existieren Verordnungen. Für den Bereich
der psychischen Belastungen fehlen aber entsprechende
Regelungen. Das ist nicht akzeptabel. Der Schutz vor
psychischen Gefährdungen und Stress am Arbeitsplatz
muss im System der Arbeitsschutzgesetze konkretisiert
werden. Deshalb fordern auch wir mit unserem Antrag,
dass endlich eine Anti-Stress-Verordnung auf den Weg
gebracht wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Das reicht aber nicht. Die Arbeitsbedingungen müs-
sen auch alters- und alternsgerecht ausgestaltet werden.
Zentral dafür sind die Gefährdungsbeurteilungen; sie
müssen zukünftig verbindlich durchgeführt werden, und
zwar auch altersbezogen. Hier greift der Antrag der
Linken zu kurz. Notwendig sind Arbeitsbedingungen,
die dem jeweiligen Alter der Beschäftigten angemessen
sind und perspektivisch das gesamte Erwerbsleben im
Blick haben.

Dem Arbeitsschutz fehlt bisher auch eine Geschlech-
terperspektive; denn was für Männer akzeptabel ist,
muss noch lange nicht für Frauen gesundheitsförderlich
sein. Gerade wenn es um arbeitsbedingte psychische
Belastungen geht, sind Frauen doppelt so stark betroffen
wie Männer. Das liegt zum einen daran, dass ein
beträchtlicher Anteil der Frauen in prekären Jobs arbei-
tet. Andererseits ist es auch ein Indiz dafür, dass in
Deutschland die angebliche Vereinbarkeit von Familie
und Beruf immer noch auf Kosten von Frauen geht.

Sehr geehrte Regierungsfraktionen, bei diesem
Thema geht es um die Gesundheit und die Lebensquali-
tät der Beschäftigten. Psychische Erkrankungen sind
schrecklich; denn sie isolieren die Menschen und belas-

ten zugleich die gesamte Familie. Nehmen Sie dieses
Thema bitte endlich ernst!

Aber es geht auch um die Betriebe; denn nur mit einer
tragfähigen Arbeitskultur, die Jungen und Älteren
ebenso wie Männern und Frauen gleichermaßen gerecht
wird, sind der demografische Wandel und der drohende
Fachkräftemangel in den Betrieben zu bewältigen. Neh-
men Sie sich des Themas an, machen Sie sich zusammen
mit den Sozialpartnern auf den Weg. Wir brauchen eine
alters- und alternsgerechte Arbeitswelt.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720113500

Es spricht jetzt der Kollege Ulrich Lange für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Ulrich Lange (CSU):
Rede ID: ID1720113600

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Wir haben – ich glaube, da sind wir uns in diesem
Hause einig – das Problem sehr wohl als drängendes
Problem erkannt. Liebe Kollegin Krellmann, allzu oft
stimme ich Ihnen ja nicht zu, aber ich bedanke mich für
den Hinweis, dass sich die Bundesregierung dieses
Themas angenommen hat. Das sehen wir durchaus als
positives Zeichen von Ihrer Seite für unsere Arbeit.
Herzlichen Dank dafür.

Ich will nicht alle Zahlen wiederholen, die wir jetzt
schon gehört haben, beispielsweise wie viel Prozent der
Frühverrentungen aus psychischer Erkrankung resultie-
ren und in welchem Maße dieses Krankheitsbild in der
Arbeitswelt auftritt.

Kollege Kober hat, glaube ich, sehr richtig ausge-
führt, dass wir es hier mit einer multikausalen Kette zu
tun haben, die zu diesen Erkrankungen führt. Auch die
Entstigmatisierung, eine bessere Kenntnis über diese
Erkrankungen und natürlich auch das offene Umgehen
der Betroffenen selber mit dieser Krankheit führen dazu,
dass man diesem Krankheitsbild heute anders entgegen-
tritt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, mit den
Eingangssätzen genug des Lobes von mir. Die Vor-
schläge, die Sie machen, halten wir in Gänze für nicht
zielführend; ich erwähne beispielhaft das individuelle
Vetorecht, eine Kommission zur Umsetzung des Arbeits-
schutzgesetzes, Meldepflicht.

Wir haben durchaus Vertrauen in unsere Unterneh-
men, in unsere Unternehmer und Unternehmerinnen,
dass das Arbeitsschutzgesetz in den Betrieben angewen-
det wird. Man sollte hier nicht immer das Negativ-
beispiel nennen, auf das schwarze Schaf abzielen. In vie-
len Betrieben wird mit den Arbeitnehmervertretungen
zusammen sehr wohl, sehr gut und sehr konstruktiv an
diesem Thema gearbeitet.





Ulrich Lange


(A) (C)



(D)(B)


Ich möchte auch ausdrücklich unterstreichen, dass ich
davon überzeugt bin, dass wir ein sehr gutes Arbeitszeit-
gesetz haben und wir hier nicht über das Arbeitszeit-
gesetz, Kollegin Krellmann, eingreifen sollten.

Zum Betriebsverfassungsgesetz. Mit dieser Keule,
mit der Sie schlagen, sind Sie bei einem alten Thema.
Immer dann, wenn wir hier irgendetwas diskutieren,
wollen Sie über das Betriebsverfassungsrecht Dinge re-
geln, womit letztlich die Systematik dieses Gesetzes und
das Grundverständnis über die Stellung unserer Betriebe
verändert würden. Sie wollen ein Mitbestimmungsrecht
bei wirtschaftlichen Fragen und bei der strategischen
Ausrichtung.


(Zuruf von der LINKEN)


Das betrifft nicht die Frage der psychischen Belastung
am Arbeitsplatz, sondern zielt in Richtung einer grund-
sätzlichen Veränderung unserer Wirtschaftsstruktur, die
Sie damit erreichen wollen.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. KlausPeter Flosbach [CDU/CSU])


Solche Gesetze, liebe Kolleginnen und Kollegen,
brauchen wir mit Sicherheit nicht. Vielmehr brauchen
wir das Verständnis in den Betrieben.

Ich will auf die Vorschläge der Grünen auch nur mit
einem Satz eingehen: Es geht nicht darum, dem Problem
mit mehr Verordnungen oder mehr Bürokratie, sondern
mit konkreten Ansätzen in den Betrieben zu begegnen.
Ich glaube, dass unsere Bundesregierung hier mit
zahlreichen Initiativen über die Häuser hinweg auf dem
richtigen Weg ist: ob es um die Initiative Neue Qualität
der Arbeit – hier schon mehrfach besprochen – geht, ob
es die Initiativen für mehr Familienfreundlichkeit und
flexiblere Arbeitszeiten sind, ob es mit dem Ausbau von
Kitas um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf geht, ob
es um die Initiative „Unternehmen unternehmen Gesund-
heit“ aus dem Gesundheitsministerium für die betriebliche
Gesundheitsförderung oder ob es um die schon genannte
Koordinationsplattform Nationale Arbeitsschutzkonfe-
renz geht.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Es geht um den Gesundheitsschutz der Beschäftigten!)


Insgesamt gesehen sind wir hier auf einem guten
Weg, weil wir alle wissen, dass wir dem Problem nur
über eine ressortübergreifende Strategie


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie müssen doch für diejenigen eine Antwort haben, die es nicht machen wollen! Das ist doch das Problem!)


begegnen können.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Die Zahlen zeigen doch das Problem!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir von der Koali-
tion wollen, dass der Erhalt der psychischen Gesundheit
von Beschäftigten Teil einer jeden Unternehmenskultur
– ich unterstreiche das Wort „Unternehmenskultur“ –


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist schön, aber es reicht nicht!)


und Teil unserer Gesellschaft wird und dass wir mit
diesem Thema offen umgehen. Helfen wir zusammen.
Dann werden wir dieses Problem auch in den Griff
bekommen.


(Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720113700

Herr Ernst hätte Ihnen gerne eine Frage gestellt, aber

das möchten Sie wohl nicht mehr zulassen.

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/11042 und 17/10867 an die
Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tagesordnung
finden. – Damit sind Sie einverstanden. Das ist dann so
beschlossen.

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 9 auf:

– Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Abkommen vom 21. September 2011
zwischen der Bundesrepublik Deutschland
und der Schweizerischen Eidgenossenschaft
über Zusammenarbeit in den Bereichen Steu-
ern und Finanzmarkt in der Fassung vom
5. April 2012

– Drucksache 17/10059 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses (7. Ausschuss)


– Drucksache 17/11093 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Olav Gutting
Martin Gerster
Holger Krestel
Dr. Barbara Höll
Dr. Thomas Gambke

– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)

gemäß § 96 der Geschäftsordnung

– Drucksache 17/11096 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider (Erfurt)
Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Priska Hinz (Herborn)


Hierzu liegen ein Entschließungsantrag der Fraktion
der SPD und ein solcher der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen vor. Am Ende der Beratung werden wir über die-
sen Gesetzentwurf namentlich abstimmen.





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


Es ist vorgesehen, eine Dreiviertelstunde zu debattie-
ren. – Dazu sehe und höre ich ebenfalls keinen Wider-
spruch.

Ich eröffne die Aussprache und gebe dem Kollegen
Olav Gutting für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Olav Gutting (CDU):
Rede ID: ID1720113800

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen!

Meine Herren! Wir stimmen heute über den Gesetzent-
wurf zum Deutsch-Schweizer Abkommen über die
Zusammenarbeit im Bereich Steuern ab.

In den Beratungen wurde immer wieder der Vorwurf
erhoben, dieses Abkommen sei ungerecht; vor allem
seien die Steuersätze zu gering. Allerdings ist diese
Behauptung bei nüchterner Betrachtung nicht haltbar.
Die Steuersätze liegen im Bereich zwischen 21 und
41 Prozent. Diese beziehen sich wohlgemerkt auf das
Kapitalvermögen, also nicht auf die Erträge, sondern auf
die Substanz, und zwar auch dann, wenn die Steueran-
sprüche eigentlich bereits verjährt wären.

Natürlich kann man sich bei einem solchen Abkom-
men immer wieder Einzelfälle in der Theorie denken,
bei denen man auf individuelle Steuersätze kommt, die
in der Tat nicht ganz befriedigen können. Man muss aber
immer bedenken: Wir haben es hier mit einem Abkom-
men zu tun, das nicht im luftleeren Raum entstanden ist,
sondern zwischen zwei souveränen Staaten ausgehandelt
wurde.


(Michaela Noll [CDU/CSU]: Genau!)


Wie immer bei Verhandlungen zwischen gleich
starken Partnern gibt es nicht nur Weiß und Schwarz,
sondern Kompromisse. Kompromisse bedeuten auch
Grautöne. Es ist eben nicht so, dass wir uns in der Regie-
rungskoalition das einfach nur ausgedacht und aufge-
schrieben haben, sondern das, was heute vorliegt, ist das
Ergebnis von langwierigen, zähen, am Ende aber erfolg-
reichen Verhandlungen mit der Schweiz.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir werden jetzt gleich in der weiteren Debatte erle-
ben, wie die Opposition über dieses Abkommen her-
zieht. In dieser Diskussion muss man deshalb schon
auch einmal erwähnen, dass die rot-grüne Bundesregie-
rung, als sie noch in Amt und Würden war, ein Steuer-
amnestiegesetz vorgelegt hat, mit dem den Steuersün-
dern weltweit ein Discountsteuersatz von 15 Prozent und
Straffreiheit angeboten wurden. Wir sprechen heute über
ein Abkommen mit Steuersätzen, die fast dreimal so
hoch liegen wie der von Ihnen mit 15 Prozent gesetzte
Standard. Hier muss man sich schon einmal überlegen,
ob man sich an der einen oder anderen Stelle vielleicht
ein bisschen zurücknehmen sollte.

Wie immer in der Politik muss man sich, wenn man
Kompromisse eingehen muss, die Frage stellen: Wie ist
die Situation jetzt und heute, und wie ist sie mit diesem
Abkommen in der Zukunft?


(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Viel besser!)


Die Situation jetzt ist die: Die Besteuerung von deut-
schem Vermögen in der Schweiz erfolgt nur auf freiwil-
liger Basis oder eben aufgrund von Zufallserkenntnissen
im Zusammenhang mit den Ankäufen von Steuer-CDs.
Ich glaube, damit werden wir dem Gleichheitsgrundsatz
nicht gerecht. Ich denke, wir sind uns in diesem Hause
zumindest diesbezüglich einig, dass das nicht dem
Grundsatz gleicher Besteuerung entspricht.

Dass das Modell der CD-Ankäufe auch in Zukunft
nicht funktioniert, sollte eigentlich bei allen hier Kon-
sens sein.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Die haben richtig Kohle hereingebracht!)


Diese CD-Ankäufe können kein Zukunftsmodell sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Nun zum Vergleich mit der Situation in der Zukunft:
Mit diesem Steuerabkommen ist zukünftig sichergestellt,
dass die Besteuerung erstmals überhaupt in einer gleich-
mäßigen Weise durchgeführt wird.


(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Ja, aber in einer schlechten!)


Die Steuer auf die Geldanlagen in der Schweiz bildet in
Zukunft genau das ab, was auch in Deutschland durch-
geführt wird, nämlich die anonyme Quellenbesteuerung.
Genau das Gleiche, was wir in Deutschland haben, wer-
den wir zukünftig auch in der Schweiz haben. Diese ano-
nyme Quellenbesteuerung wurde im Übrigen von einem
Finanzminister der SPD, Ihrem heutigen Kanzlerkandi-
daten, eingeführt. Es tut mir leid: Ich kann nicht erken-
nen, dass das, was in Deutschland rechtmäßig ist, in der
Schweiz unrechtmäßig sein soll.

Zu der Höhe der Einnahmen. Nun, was die Höhe der
Einnahmen aus diesem Abkommen anbelangt, da be-
steht zugegebenermaßen ein gewisses Maß an Unsicher-
heit. Wenn wir die exakte Summe dessen kennen wür-
den, was in der Schweiz an unversteuerten Vermögen
liegt, dann bräuchten wir dieses Abkommen nicht. Wir
wissen es nicht. Trotzdem halte ich es für plausibel, für
nachvollziehbar und realistisch, dass wir mit Einnahmen
von circa 10 Milliarden Euro für die Nachversteuerung
rechnen können und danach dann jährlich mit einem
Aufkommen in Höhe eines dreistelligen Millionenbetra-
ges;


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Milchmädchenrechnung!)


das ist Geld, das unsere Kommunen und die Länder drin-
gend brauchen.

Ich weiß wirklich nicht, wie Sie von der Opposition
sich das vorstellen. Was sind denn die Alternativen zu
diesem Abkommen?


(Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Abkommen mit automatischem Informationsaustausch!)


Ist es denn etwa gerecht, dass wir es mit dem Ankauf
von CDs vom Zufall abhängig machen, ob eine Besteue-





Olav Gutting


(A) (C)



(D)(B)


rung von Vermögensanlagen in der Schweiz stattfindet
oder nicht? Ich glaube das nicht. Bei denjenigen, die un-
ehrlich sind und die nicht durch Zufall erwischt werden,
verjähren nämlich zwischenzeitlich die Steueransprüche
munter weiter, Jahr für Jahr. Mit jedem Jahr, in dem die-
ses Steuerabkommen von Ihnen aus parteitaktischen Grün-
den blockiert wird, verliert der deutsche Staat, verlieren
die deutschen Bürgerinnen und Bürger Steueransprüche
im Milliardenbereich.


(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Ja, das stimmt!)


Wenn Sie weiter im Bundesrat blockieren, wie Sie das
schon angekündigt haben, dann werden Sie auf abseh-
bare Zeit gar nichts haben.


(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt nicht!)


Wer die Stimmung in der Schweiz aufmerksam verfolgt
hat, dem dürfte nicht entgangen sein, dass es keine neuen
Verhandlungen geben wird. Die Schweiz wird sich eben
nichts diktieren lassen. Ihre Ministerpräsidenten Beck
und Kretschmann waren erst vor kurzem in der Schweiz.
Seit sie dort waren und die Lage sondiert haben, ist es
um sie relativ still geworden.

Ich kann Ihnen abschließend nur raten: Erkennen Sie
an, dass wir heute mit diesem Abkommen einen Zwi-
schenschritt erreicht haben. Das ist nicht das Abkommen
für alle Zeiten, sondern das ist die Basis für weitere Ver-
handlungen, die wir heute abschließen können.


(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Quatsch!)


Erlauben Sie mir noch eine Empfehlung zum Ab-
schluss an Sie in der Opposition.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720113900

Herr Kollege.


Olav Gutting (CDU):
Rede ID: ID1720114000

Ich möchte Ihnen raten: Klettern Sie nicht allzu hoch

auf die Bäume; denn Sie werden bei diesem Abkommen
ziemlich bald wieder heruntersteigen müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Volker Kauder [CDU/CSU]: Die werden nicht heruntersteigen, die fallen runter!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720114100

Für die SPD-Fraktion hat Joachim Poß jetzt das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Joachim Poß (SPD):
Rede ID: ID1720114200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Stimmung in der Schweiz war jedenfalls nach der
ersten Paraphierung des Abkommens glänzend. Da ha-
ben die Champagnerkorken geknallt, Herr Kollege Gutting.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Quatsch!)


Das hatte seine Gründe:


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Reden Sie doch mal mit der Kavallerie!)


Ihr Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hat sich
nämlich mit diesem Abkommen zum Komplizen einer
fragwürdigen Weißgeldstrategie der Schweiz und der
Schweizer Banken gemacht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Klaus-Peter Flosbach [CDU/ CSU]: Das ist unverschämt!)


Auch nach intensiven Beratungen, Gesprächen mit
Praktikern, Finanzbeamten, Kriminalbeamten, nach der
Anhörung der Sachverständigen ist die Beurteilung der
SPD eindeutig: Dieses Abkommen muss aus Gründen
der Steuergerechtigkeit und aus vielen anderen Gründen
abgelehnt werden.


(Beifall bei der SPD – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Aus parteitaktischen Gründen!)


Es bringt für den deutschen Rechtsstaat und die ehrli-
chen deutschen Steuerzahler mehr Nachteile als Vorteile.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das kann belegt werden.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Hehlerei und Datenklau – ist das Rechtsstaat?)


Dieser Vorgang ist im Übrigen, Herr Kauder, für mich
ein Präzedenzfall, wie ernst es diese Bundesregierung im
Kampf gegen die Steueroasen meint,


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sagen Sie mal was zur Hehlerei!)


die auszutrocknen Sie bei den G-20-Konferenzen ver-
sprochen haben.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Der Hehler ist so gut wie der Stehler!)


Mit bilateralen Abkommen dieser Qualität kommt man
nicht gegen die Steueroasen und deren Wirksamkeit an.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dieses Abkommen würde eine wirksame europäische
Strategie gegen Steuerhinterziehung auf Jahre verzö-
gern, wenn nicht ganz unterlaufen. Dieses Abkommen
ist deshalb ein Hindernis im weiteren Kampf gegen die
Steueroasen.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Der Verzögerer ist der Steuerhinterzieher!)


– Herr Kollege Michelbach, Sie kennen sich in der Ge-
schäftswelt doch gut aus.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Ja klar!)






Joachim Poß


(A) (C)



(D)(B)


Mit dem vorliegenden Abkommen werden auch zu-
künftig unversteuerte Gelder aus Deutschland unent-
deckt in die Schweiz fließen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Die mit dem Abkommen verbundene Legalisierung
von Steuerkriminalität bei fortbestehender Anonymität
können wir nicht akzeptieren. Kollege Gutting, das ist
der Unterschied. Was zu Zeiten von Hans Eichel ge-
macht wurde, war von den Steuersätzen her bescheiden,
wie Sie es zu Recht geschildert haben. Die Betreffenden
mussten aber, anders als beim vorliegenden Abkommen,
sozusagen die Hosen herunterlassen. Die Anonymität
wurde aufgehoben. Sie wollten in die Steuerehrlichkeit
zurück. Nach Ihren Vorstellungen können sie jedoch in
der Steuerunehrlichkeit verbleiben. Es sind nicht nur
Steuersünder, sondern auch Kriminelle ganz anderer Art,
die im Schutz der Anonymität verbleiben wollen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die USA geben sich mit diesen Qualitäten und Stan-
dards nicht zufrieden. In diesem Fall sollten wir den
USA beipflichten, was deren Standards angeht. Die USA
geben sich jedenfalls nicht mit der Anonymität zufrie-
den.

Es gibt eine Alternative – warum beschreiten Sie
nicht diesen Weg, Herr Schäuble? –, die besser ist und
für die Sie – dies gilt für die gesamte Koalition – eigent-
lich kämpfen müssten. Das ist der umfassende automati-
sche Informationsaustausch, der auch die Aufdeckung
unbekannter Steuerfälle ermöglicht.

Herr Schäuble, Sie haben aber von vornherein das
Ziel verfolgt, überhaupt zu einem Abkommen zu gelan-
gen. Deshalb haben Sie die Position der Schweizer Re-
gierung und der Schweizer Banken weitgehend über-
nommen.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Elf Jahre habt ihr nichts geschafft!)


Deutschland ist der wichtigste Wirtschaftspartner der
Schweiz.


(Olav Gutting [CDU/CSU]: Also erpressen wir sie?)


Daher frage ich: Vor diesem Hintergrund sollte nicht
mehr zu erreichen gewesen sein? Die Schweiz verfolgt
doch eigene Interessen. Sie will auch bei uns wirtschaft-
lich tätig sein, wie sie auch in den USA wirtschaftlich tä-
tig sein will. Darauf haben die USA Bezug genommen.

Es gibt auch keine Entwicklungen in neuerer Zeit, die
das Abkommen akzeptabler machen würden. Weder das
von Ihnen gefeierte neue Doppelbesteuerungsabkommen
Deutschlands mit Singapur, das im Übrigen noch gar
nicht unterzeichnet worden ist, noch die mögliche Zulas-
sung von Gruppenanfragen durch die Schweiz beheben
die großen Lücken im vorliegenden Abkommen.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie des Abg. Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Was sind also die Hauptpunkte, die einzuwenden
sind? Die Legalisierung der Steuerhinterziehung bei
fortbestehender Anonymität ist ein ganz wichtiger
Punkt. Die pauschale Einmalzahlung hebt im Kern auf
die über die Jahre unversteuerten Kapitalerträge ab und
berücksichtigt deshalb nicht wirklich, dass die in der
Schweiz angelegten und jetzt nachversteuerten Vermö-
gen oftmals bereits das Ergebnis von Steuerhinterzie-
hung sind. Das ist ein Sachverhalt, den der nordrhein-
westfälische Finanzminister zu Recht stark betont.


(Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: Herr Poß, erst lesen, dann reden!)


Dies alles ist und bleibt ein Schlag ins Gesicht aller
Steuerehrlichen.


(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Fachlich falsch!)


Vermögenswerte können trotz Abkommen über Fami-
lienstiftungen, Trusts oder Schließfächer anstelle von
Konten und Depots leicht und legal der Besteuerung ent-
zogen werden. Steuerpflichtige können ihre Konten und
Depots bis zum Jahresanfang 2013 auflösen und die Ver-
mögenswerte unerkannt und sanktionslos aus der Schweiz
in Drittländer abziehen. Insofern ist das vorliegende Ab-
kommen wie ein Schweizer Käse.

Wie so die 10 Milliarden Euro, von denen oft die
Rede ist, für den deutschen Fiskus zustande kommen
sollen, mit denen Sie werben, das weiß allein der liebe
Gott. Belastbar sind diese Zahlen jedenfalls nicht. Das
alles spricht dafür, dass wir dieses Abkommen im Deut-
schen Bundestag ablehnen. Meine Parteifreunde und, ich
denke, auch die Parteifreunde der Grünen werden das
auch im Bundesrat machen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720114300

Das Wort hat der Kollege Dr. Volker Wissing für die

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Volker Wissing (FDP):
Rede ID: ID1720114400

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Lieber Kollege Poß, ich finde es nicht
schlimm, dass Sie die Meinung vertreten, die Sie hier
vorhin kundgetan haben. Schlimm finde ich aber, dass
Sie das wider besseres Wissen tun.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dieses Abkommen regelt zwei Bereiche: zum einen
geht es um die Altfälle, und zum anderen schafft es eine
Lösung für die Zukunft.

Es ist nicht richtig, dass bei den Altfällen nur die Ka-
pitalerträge besteuert werden, sondern es wird die ge-
samte Vermögenssubstanz, das heißt die Summe, die





Dr. Volker Wissing


(A) (C)



(D)(B)


sich auf dem Konto befindet, in vollem Umfang besteu-
ert, also das gesamte Anlagevermögen und die Kapital-
erträge.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Genau! Das hat er immer noch nicht begriffen!)


Das wissen Sie auch. Dass Sie das Gegenteil behauptet
haben, finde ich nicht in Ordnung; denn die Menschen
wollen zu Recht, dass wir mit dem Thema Steuerhinter-
ziehung und der Bekämpfung von Steuerhinterziehung
seriös und sachlich umgehen.

Wer wider besseres Wissen behauptet, nach dem Ab-
kommen würden nur Kapitalerträge, aber keine Vermö-
genssubstanz besteuert, der leistet keinen Beitrag zur
sachlichen Auseinandersetzung mit dem wirklich erns-
ten Problem.


(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: So ist es!)


Herr Kollege Poß, Sie haben eben gesagt, es gebe
eine Alternative auch für die Altfälle, indem man über
einen vollständigen Informationsaustausch mit der
Schweiz verhandelt.


(Joachim Poß [SPD]: Nicht nur mit der Schweiz! Mit Österreich geht es auch!)


Sie wissen, dass auch das nicht wahr ist; denn die
Schweiz ist ein Rechtsstaat wie die Bundesrepublik
Deutschland auch. Wir haben eine Verfassung, die ver-
bietet, dass man Gesetze rückwirkend ändern kann. Die-
ses Prinzip des Rückwirkungsverbotes nach unserem
deutschen Grundgesetz nehmen wir alle im Deutschen
Bundestag sehr ernst.

Ich finde, es ist eine Frage des Respekts vor Abgeord-
neten anderer Parlamente, in diesem Fall vor den
Schweizer Kollegen, anzuerkennen, dass sie das Rück-
wirkungsverbot in ihrer Verfassung ebenso ernst nehmen
wie wir. Deswegen sagen wir ganz klar: Es ist nicht
wahr, dass es eine Alternative für die Altfälle gibt. Das
Rückwirkungsverbot gilt in Deutschland wie in der
Schweiz. Deswegen sollten Sie sich endlich von Ihrer
Scheinlösung verabschieden und sich den konkreten
Problemen zuwenden. Sie haben keine Lösung für die
Altfälle – wir haben heute eine in Gesetzesform.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Sie haben eine für die neuen Fälle!)


Auch das verbale Aufrüsten gegenüber der Schweiz,
dass man die Kavallerie dorthin schicken will oder die
Schweiz in die Nähe der Kriminalität rückt,


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Steueroasen!)


wie Sie es eben gemacht haben – Sie haben gesagt, die
Schweiz verfolge mit ihrer Weißgeldstrategie irgendwel-
che kriminellen Ziele und man mache sich zum Kompli-
zen; das alles waren Ihre Worte –, ist kein seriöser Bei-
trag zur Lösung des ernsten Problems der Steuerhinter-
ziehung; denn Sie wissen, dass das alles nicht wahr ist.

Was das Problem in der Zukunft angeht, ist in dem
Abkommen klar geregelt, dass die Kapitalerträge in der

Schweiz in Zukunft ebenso besteuert werden wie in
Deutschland. Jetzt muss ich alle Bürgerinnen und Bürger
fragen: Finden Sie es gerecht, dass man auf Kapitaler-
träge in der Schweiz genauso viel Steuern zahlt wie in
Deutschland? Wir finden das gerecht, und deswegen
wollen wir dieses Gesetz.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Warum sind Sie dagegen? Wenn Sie dazu etwas ge-
sagt hätten, wären wir einen Schritt weiter; denn die
Anonymität gilt bei den Kapitalerträgen in Deutschland
genauso wie in der Schweiz.


(Ralph Lenkert [DIE LINKE]: Aber nicht für illegales Geld! Sie legalisieren damit Steuerhinterziehung!)


Also gibt es auch da keinen Unterschied. Deswegen soll-
ten wir, finde ich, den Menschen sagen, dass dieses Ab-
kommen ein Problem löst, und zwar mit maximaler Ge-
rechtigkeit: gleiches Steuerrecht für Deutsche in der
Schweiz wie in Deutschland. Was will man denn noch
mehr erreichen? Warum wollen Sie denn die Kavallerie
ausrücken lassen, wenn Ihnen so ein gutes Abkommen
vorliegt?


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wo ist denn der Kavallerieführer? – Gegenruf der Abg. Michaela Noll [CDU/CSU]: Er hält Vorträge, aber dafür gibt es nichts mehr!)


Deswegen: Wir brauchen dieses Abkommen. Ich
finde es hervorragend, dass Sie, Herr Minister Schäuble,
in Verhandlungen mit der Schweiz auch erreicht haben,
dass es Gruppenanfragen gibt, dass für die Zukunft mehr
Kontrollmöglichkeiten geschaffen werden und dass
Steuerhinterziehung über die Schweiz der Vergangenheit
angehört, sobald dieses Abkommen in Kraft tritt. Das ist
auch Ihr Verdienst. Wir wissen, dass Sie sich sehr darum
bemüht haben. Deswegen auch ein ganz herzliches Dan-
keschön vom Deutschen Bundestag an Sie persönlich,
Herr Minister Schäuble, für dieses hervorragende Ver-
handlungsergebnis im Sinne der Steuergerechtigkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, die Steuerhinterziehung ist
nicht nur ein Problem mit der Schweiz, sondern auch mit
anderen Ländern. Dass Sie, Herr Minister Schäuble,
auch mit anderen Steueroasen auf der Welt Gespräche
führen, um das System der Steuerhinterziehung durch
mangelnden Informationsaustausch und fehlende Steuer-
abkommen systematisch zu schließen, sind wir den
Menschen schuldig, die in Deutschland ehrlich ihre
Steuern zahlen. Fair ist ein Staat nur dann, wenn er
gleichmäßig Steuern erhebt.

Jetzt komme ich zu Ihren Steuer-CDs. Sie sagen ge-
nauso wie wir: Der Staat soll seinen Steueranspruch
gleichmäßig durchsetzen. Die Frage ist aber: Schafft
man das mit ordentlichem Recht und guten Gesetzen wie
mit dem Gesetzentwurf, den wir vorgelegt haben,


(Widerspruch bei der LINKEN)






Dr. Volker Wissing


(A) (C)



(D)(B)


oder schafft man das durch Kooperation mit Kriminel-
len, die in ihren Heimatländern gegen Datenschutzbe-
stimmungen und ihre arbeitsrechtlichen Pflichten versto-
ßen und Daten von Bürgerinnen und Bürgern entwenden,
um sie an den deutschen Staat zu veräußern?

Nun können wir lange diskutieren, ob solche Daten-
ankäufe nach deutschem Recht möglich sind oder nicht
möglich sind. Wir können lange darüber diskutieren, ob
das im Strafprozess verwertbar ist oder nicht. Die Recht-
sprechung des Bundesgerichtshofs spricht dafür, dass es
eine Verwertbarkeit gibt. Aber was Sie nicht wegdisku-
tieren können, ist, dass es eines Rechtsstaats – für mich
ist und bleibt die Bundesrepublik Deutschland ein
Rechtsstaat – unwürdig ist, den eigenen Steueranspruch
nur durchsetzen zu können, indem man mit Kriminellen
in anderen Staaten kooperiert.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Was Sie den Menschen, die in Deutschland ehrlich
Steuern zahlen, auch sagen müssen, ist, dass das Geld,
das Sie den Datendieben in der Schweiz bezahlen, von
den deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern er-
wirtschaftet werden muss.


(Ingo Egloff [SPD]: Beschäftigen Sie sich mal mit Steuerkriminellen, die das Geld ins Ausland bringen!)


Ich bin nicht der Meinung, dass die Deutschen Steuern
zahlen sollen, damit der Staat mit den Steuereinnahmen
Kriminelle im Ausland finanziert, sondern ich erwarte
ein konsistentes, rechtsstaatlich einwandfreies Steuer-
recht und saubere Doppelbesteuerungsabkommen, damit
Ordnung und Recht und Klarheit und Fairness und Ge-
rechtigkeit im Steuersystem herrschen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Das ist ein gutes Abkommen, weil es ein Beitrag zu
rechtsstaatlichem Steuervollzug ist.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Nein! Das Abkommen hilft Steuerhinterziehern!)


Es ist ein gutes Abkommen, weil es die Altfälle abarbei-
tet und besteuert und dabei die Möglichkeiten maximal
ausschöpft. Und es ist ein gerechtes und gutes Abkom-
men, weil für die Zukunft gleiches Steuerrecht für Deut-
sche in der Schweiz wie in Deutschland gilt. Deswegen
finde ich es richtig, wenn Kollege Gutting sagt: Rüsten
Sie bei diesem Thema ab! Hören Sie auf, den Menschen
zu erklären, dass es eine Alternative gibt! Diese Alterna-
tive wird von Ihnen schlicht und einfach nur erfunden.
Sagen Sie den Menschen doch die Wahrheit, nämlich
dass man mit den Altfällen nicht mehr anders umgehen
kann als so und dass die Alternative zu diesem Abkom-
men keine gerechtere Besteuerung ist –


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720114500

Herr Kollege.


Dr. Volker Wissing (FDP):
Rede ID: ID1720114600

– ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin –, son-

dern dass die Alternative zu diesem Abkommen die Ver-

jährung für alle Zeit ist! Das ist die ungerechteste Va-
riante gegenüber den ehrlichen Steuerzahlerinnen und
Steuerzahlern.

Deswegen: Denken Sie noch einmal darüber nach!
Stimmen Sie dem Abkommen zu! Es ist das beste, was
mit der Schweiz jemals ausgehandelt worden ist.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720114700

Die Kollegin Dr. Barbara Höll hat jetzt das Wort für

die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720114800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Wissing, das war ja mal wieder ein Tiefpunkt.


(Lachen des Abg. Holger Krestel [FDP])


Wenn man seine Politik ständig als alternativlos darstellt
und Alternativen nicht mehr wahrnimmt, ist man in der
Politik wirklich überflüssig; denn Politik ist der Kampf
um Alternativen, um verschiedene Lösungsmöglichkei-
ten.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Herr Schäuble erklärte vorgestern, der weitere Ankauf
von Steuer-CDs sei keine Alternative zu einer vernünfti-
gen gesetzlichen Regelung. Ich finde, dem kann man zu-
stimmen. Hätten Sie doch eine vernünftige Regelung vor-
gelegt! Aber Ihr Vorschlag ist einfach ein Geschenk für
Steuerbetrüger, für die Schweizer Finanzindustrie und
eine Einladung zu organisierter Steuerkriminalität, und es
widerspricht dem, was wir hier in Sachen Schwarzgeld-
bekämpfung versucht haben. Das ist ein Schlag gegen all
diese Bemühungen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Nein!)


Sie sagen einfach: Entweder dieses schlechte Abkom-
men oder gar keines. – Nein, die Alternative ist: entwe-
der ein Abkommen oder automatischer Informationsaus-
tausch.


(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Das stimmt doch einfach nicht!)


Um das einmal zu erklären: Der automatische Informa-
tionsaustausch ist das effektivste Mittel, um Steuerhin-
terziehung wirklich zu bekämpfen. Das heißt einfach,
dass zwischen den Ländern vereinbart wird, dass steuer-
relevante Daten wie Person, Vermögenswerte, Erträge,
Kontodaten automatisch zwischen den Finanzbehörden
der Länder ausgetauscht werden.

Wenn Sie jetzt dieses Abkommen beschließen, ver-
hindern Sie vor allem auf internationaler Ebene und in
der EU den weiteren Kampf um diesen automatischen
Informationsaustausch; und das ist ein großer Skandal.


(Beifall bei der LINKEN)






Dr. Barbara Höll


(A) (C)



(D)(B)


Es ist doch völlig klar: Wir sind die größte Volkswirt-
schaft in Europa. Wenn wir jetzt hier klein beigeben, hat
kein anderes Land in der Europäischen Union überhaupt
nur den Hauch einer Chance, mit der Schweiz einen au-
tomatischen Informationsaustausch zu vereinbaren.

Dass es anders geht, das haben die USA bewiesen.


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Das stimmt doch gar nicht! Das ist doch nicht wahr!)


Da gelten jetzt solche Bedingungen, dass de facto ein au-
tomatischer Informationsaustausch besteht. Es geht also
anders.

Es ist nachgewiesen, dass heute schon zum Beispiel
Österreich mit Hinweis auf die Unterzeichnung des Ab-
kommens Deutschland/Schweiz sagt: Wir werden uns an
der weiteren Erarbeitung der europäischen Zinsrichtlinie
– hin zum automatischen Informationsaustausch – nicht
mehr beteiligen. – Damit behindern Sie wirklich den
Kampf gegen Steuerhinterziehung. Das wirft uns um
Jahre zurück. Auch das ist ein Grund, warum wir dieses
Abkommen ablehnen.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn Sie sich einigermaßen bemüht hätten, hätte sich
das auch in der Anhörung im Finanzausschuss wider-
spiegeln müssen. Sie haben zu der Anhörung im Finanz-
ausschuss interessanterweise vor allem Vertreter der
Schweizer Finanzindustrie eingeladen, nämlich von
UBS, SwissBanking und dem Eidgenössischen Finanz-
departement.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720114900

Frau Höll, Herr Wissing würde Ihnen gerne eine Zwi-

schenfrage stellen.


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720115000

Ja.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720115100

Bitte schön.


Dr. Volker Wissing (FDP):
Rede ID: ID1720115200

Frau Kollegin, Sie haben eben gesagt, dass die

Schweiz mit den USA einen automatischen Informa-
tionsaustausch vereinbart hat.


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720115300

Nein.


Dr. Volker Wissing (FDP):
Rede ID: ID1720115400

In der Öffentlichkeit wird immer wieder behauptet,

mit den USA seien weitergehende Informationsabkom-
men getroffen worden als mit der Bundesrepublik
Deutschland.

Nun hat der Finanzausschuss eine Anhörung mit vie-
len Sachverständigen durchgeführt. Sind Sie bereit, zur
Kenntnis zu nehmen, dass alle Sachverständigen gegen-
über dem Deutschen Bundestag bestätigt haben, dass das
Abkommen mit den USA, was den Datenaustausch an-

geht, nicht über das hinausgeht, was wir zwischen
Deutschland und der Schweiz ausgehandelt haben?


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720115500

Danke für die Frage. – Nach den weiteren Beratungen

im Finanzausschuss habe ich sowieso den Eindruck,
dass wir in verschiedenen Anhörungen saßen; davon ein-
mal ganz abgesehen.


(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Da gibt es Protokolle, Frau Höll!)


Klar ist: Ich habe hier nicht gesagt, dass ein automati-
scher Informationsaustausch vereinbart wurde. Ich habe
soeben gesagt, dass die Kriterien für die Auskünfte mas-
siv abgesenkt wurden. Dadurch wird faktisch erzwun-
gen, dass es zu einem Informationsaustausch kommt, der
zwar noch kein automatischer Informationsaustausch ist,
der aber kurz davor ist, einer zu sein. Und das, finde ich,
kann man auch tatsächlich zur Kenntnis nehmen.

Wir sollten uns wirklich einmal mit den Meinungen
der Sachverständigen in der Anhörung beschäftigen. Ich
habe mir extra einmal einige Zitate herausgesucht. Herr
Thomas Eigenthaler von der Deutschen Steuergewerk-
schaft sagte – Zitat –: „Wir lehnen das Abkommen ab.“
Er verweist auf Art. 108 des Grundgesetzes mit der ent-
sprechenden Vorschrift, wonach für den Vollzug von
Steuergesetzen nun einmal die Finanzbehörden zustän-
dig sind. Das gilt ja wohl noch. Aber was machen Sie in
dem Abkommen? Sie übertragen die definitive Besteue-
rung, die abschließende Besteuerung an Banken in der
Schweiz, Banken, die jahrelang mit dem Geschäftsmo-
dell „Schweizer Bankgeheimnis“ Geld verdient haben.


(Olav Gutting [CDU/CSU]: Dasselbe Problem wie in Deutschland! Kontrolle durch die Behörden!)


Sie haben jetzt auf einmal das Grundvertrauen, dass
diese Banken die Vorreiter bei der Bekämpfung der
Steuerhinterziehung sind. Das ist doch einfach Augenwi-
scherei.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Steinbrück hat ja auch keine Zeit! Sonst hätten wir den hingeschickt!)


Herr Eigenthaler kritisiert das geplante Verbot von CD-
Käufen, weil er sagt: Das ist natürlich eine massive Be-
hinderung der Steuerfahnder.

Die vereinbarte Zahl von 1 300 Anfragen, die die
deutschen Finanzbehörden innerhalb von zwei Jahren an
die Schweizer stellen dürfen, ist einfach aus der Luft ge-
griffen. Das wird kein wirksames, effektives Mittel sein.

Ich verweise auf Markus Meinzer vom Netzwerk für
Steuergerechtigkeit. Er verwies auf die Behinderung der
EU-Zinsrichtlinie, weil sich, wie ich es eben gesagt
habe, Österreich und Luxemburg schon jetzt darauf be-
rufen, dass Deutschland dieses Steuerabkommen ab-
schließen will. Er hat auch auf den hohen Verwaltungs-
aufwand verwiesen, der mit dem Abkommen verbunden
ist, weil in weiteren Verhandlungen die Staaten jeweils





Dr. Barbara Höll


(A) (C)



(D)(B)


bilaterale Abkommen abschließen müssen, wenn es
keine EU-einheitliche Zinsrichtlinie gibt.

Professor Grinberg von der Georgetown University
sagte, die Ratifizierung des Abkommens sei ein Rück-
schlag für die deutschen Bemühungen, die Steuerflucht
deutscher Staatsbürger mittels ausländischer Konten zu
bekämpfen.

Das alles sind Aussagen der Sachverständigen.

Sebastian Fiedler vom Bund Deutscher Kriminalbe-
amter hatte eine klar ablehnende Haltung. Das muss ich
einfach zitieren:

Es führt dazu, dass diese Gelder nach wie vor
anonym bleiben. Und das ist im Grunde das, was
uns in der Tat sehr schockiert hat. … Wir erkennen
eine gewisse Beratungsresistenz der Bundesregie-
rung.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Eine gewisse Erkenntnisresistenz der Opposition!)


„Gewisse Beratungsresistenz“ – das ist sehr freund-
lich formuliert. Aber klar ist – darauf hat er hingewie-
sen –, dass alles das, was intern auf Selbstregulierungs-
maßnahmen hinausläuft, immer nur ein Feigenblatt ist.

Die Schweizer Banken haben im Rahmen ihrer Bera-
tung Bürgerinnen und Bürger angeschrieben, die bei ih-
nen Konten haben, dass sie das Geld pauschal nachver-
steuern können und dafür anonym bleiben. Das heißt,
das ist wirklich ein Ablasshandel. Also, ich habe krimi-
nelle Energie entwickelt – – Ich nicht!


(Heiterkeit)


Wenn man kriminelle Energie entwickelt hat und Geld
schwarz in die Schweiz verbracht hat, besteht nun die
Möglichkeit einer pauschalen Nachbesteuerung mit
21 Prozent. Das wird bei den meisten zum Tragen kom-
men. Das ist oftmals weniger, als man bei einer norma-
len Besteuerung zahlen müsste. Hinzu kommt: Ich
bleibe anonym. Ich entziehe mich dem Zugriff für diese
kriminellen Handlungen und bekomme einen Persil-
schein. Ich frage mich wirklich, wo wir leben. Herr
Wissing, Sie haben eben die Rechtsstaatlichkeit hochge-
halten. Das hat nichts mit Rechtsstaatlichkeit zu tun.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das zu der Nachbesteuerung.

Wir lehnen natürlich auch ab, dass Sie nichts tun, um
Möglichkeiten für zukünftige Steuerhinterziehungen, die
die Schweizer Banken schon wieder aufgezeigt haben,
zu beseitigen. Wenn man einen Trust oder eine Stiftung
in Luxemburg oder Liechtenstein gründet und diese von
einer Schweizer Bank verwalten lässt, dann bleibt es da-
bei, dass dem Staat das Geld entzogen wird.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720115600

Frau Kollegin.


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720115700

Mein letzter Satz. – Wir reden hier über Bürgerinnen

und Bürger, die über sehr hohe Einkommen verfügen
und sich ihrer Pflicht entziehen, entsprechend ihrer wirt-
schaftlichen Leistungsfähigkeit etwas zum Gemeinwe-
sen beizutragen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720115800

Frau Kollegin.


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720115900

Ich frage mich, warum Sie dafür so viel Kraft aufwen-

den. Wir lehnen das Abkommen konsequent ab.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord neten der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720116000

Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort der Kollege

Dr. Gerhard Schick.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-
legen! Dieses Abkommen geht sowohl beim Umgang
mit der Vergangenheit als auch beim Weg in die Zukunft
in die falsche Richtung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Was die Vergangenheit angeht: Es ermöglicht eine
Amnestie ohne Aufdeckung; das heißt, es wird ein
Mantel des Schweigens nicht nur über die Steuerhinter-
ziehung, sondern auch über damit verbundene Straftaten
gelegt, weshalb nicht nur die Steuerbehörden, sondern
auch Experten aus dem Bereich der Justizverwaltung sa-
gen: Das darf nicht passieren.

Was die Zukunft betrifft: Es wird mit der Abgeltung-
steuer etwas festgelegt, was schon in Deutschland unge-
recht ist. Ist es denn gerecht, dass man Kapitalerträge,
die insbesondere Menschen mit sehr hohen Einkommen
haben, mit einem niedrigeren Satz besteuert als Arbeits-
erträge? Nein, das ist ungerecht, und es wäre falsch, das
über das Schweizer Steuerabkommen für die Zukunft
festzuschreiben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Olav Gutting [CDU/ CSU]: Meinen Sie Steinbrück?)


Stellen wir einmal die Frage: Wem nützt eigentlich
das Abkommen? Wie ist die Situation mit und wie ist die
Situation ohne Abkommen? Es ist interessant, welche
Einschätzungen wir aus der Schweiz erhalten können.
Ich zitiere aus dem Tagesspiegel vom 10. Oktober den
Leiter des German Tax and Legal Center der KPMG AG
in Zürich: Ohne Steuerabkommen wird der Druck auf
Steuerhinterzieher in der Schweiz größer werden. – Ich
zitiere Herrn Odier, den Präsidenten der Schweizeri-
schen Bankiervereinigung:

Sollte das Abkommen scheitern, „müssten die Kun-
den mit erhöhter Unsicherheit rechnen. …“


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)






Dr. Gerhard Schick


(A) (C)



(D)(B)


Ja, dieses Abkommen schafft Sicherheit für Steuerhin-
terzieher statt Unsicherheit. Und das ist falsch.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Sie verwirklichen im Endeffekt die Strategie der
Schweizerischen Bankiervereinigung. Angesichts des
Drucks, der nach der Aufdeckung der skandalösen Steu-
erhinterziehungsfälle aufgebaut worden ist, hat man in
der Schweiz überlegt: Wie können wir diesem Druck
standhalten? Was können wir dem entgegensetzen? –
Die Idee war: Wir schaffen eine Abgeltungsteuer. Sie
können das sehr genau in der Publikation der Schweize-
rischen Bankiervereinigung, Faktenblatt Steuerabkom-
men 2012, nachlesen. Dort heißt es:

Um das zu verhindern, hat die Schweiz ein eigen-
ständiges Gegenkonzept entwickelt: die Abgel-
tungssteuer.

Es soll damit genau das erreicht werden, was nicht im
Interesse aller ehrlichen Steuerzahler sein kann. Ich zi-
tiere wieder:

Das bewahrt die Privatsphäre der Bankkunden.

Also das Bankgeheimnis.

Und da machen wir Grüne nicht mit; denn nur die Of-
fenlegung gegenüber dem Finanzamt stellt sicher, dass
es eine faire Besteuerung für alle gibt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das Schöne ist: Sie haben uns ja demonstriert, wem
dieses Abkommen nutzt. Von den 18 Sachverständigen,
die Stellung genommen haben, hat sich die Mehrheit ge-
gen dieses Abkommen ausgesprochen – und das, obwohl
Sie die Mehrheit benennen konnten –, und nur eine Min-
derheit von sieben Sachverständigen war dafür. Von diesen
sieben kamen vier aus der Schweiz.


(Lachen des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Und welche Sachverständigen aus der Schweiz waren
das? Das war zunächst ein Vertreter der UBS, des größ-
ten Vermögensverwalters, der mit üblen Steuerhinterzie-
hungsfällen und Fällen von Beihilfe zur Steuerhinterzie-
hung in den USA, in Frankreich, in der Schweiz und in
Deutschland in Verbindung gebracht wird. Das war die
Credit Suisse, das waren die Schweizerische Bankierver-
einigung sowie ein Vertreter der Schweizer Regierung.
Das sind die Sachverständigen, die der Meinung sind,
dass dieses Steuerabkommen gut sein soll.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Aha!)


Ich glaube, das ist Beweis genug.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Interessant ist auch, wen Sie befragt haben: Von
16 Fragen der Koalitionsfraktionen gingen 10 Fragen an

die Vertreter aus der Schweiz, die in ihren Antworten he-
rausgearbeitet haben, dass dieses Abkommen nicht den
ehrlichen deutschen Steuerbürgern nutzt.


(Joachim Poß [SPD]: Kumpanei! Üble Kumpanei!)


Danke, dass Sie das so deutlich gemacht haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich will noch einen weiteren Punkt ansprechen, der
sehr wichtig ist, wenn man das Wesen der Steuerhinter-
ziehung erfassen will. Ein Großteil der Steuerhinter-
ziehung läuft heute nicht mehr so wie früher ab, dass
einfach jemand mit einem Köfferchen eine Grenze über-
quert – also bilateral –,


(Zuruf von der FDP: Jetzt kommt der Mann vom Fach!)


sondern es handelt sich häufig um Konstruktionen, die
mehrere Staaten berühren. Mal sind es die Schweiz und
Liechtenstein, mal sind es die Schweiz und Panama etc.
Deswegen muss jeder rein bilaterale Ansatz zwangsläu-
fig zu Problemen führen.

Deswegen ist es ein strategischer Fehler, Herr
Schäuble, dass Sie die jahrelange produktive Zusam-
menarbeit zwischen Deutschland und Frankreich auf
diesem Gebiet beendet haben, die Ihre beiden Amtsvor-
gänger erfolgreich betrieben haben – im Rahmen der Eu-
ropäischen Union durch das Vorantreiben der Zinssteu-
errichtlinie und im Rahmen der OECD –, und uns jetzt
auf einem bilateralen Weg in die Sackgasse führen.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Das ist der größte Quatsch, den ich je gehört habe!)


Ich zitiere dafür den Vertreter aus den USA, der bei
der Anhörung dabei war:

Für Deutschland und die EU insgesamt wird es …
schwieriger werden, Druck auf andere Rechtsge-
biete auszuüben, sich am automatischen Informa-
tionsaustausch zu beteiligen, sobald Deutschland
mit der Schweiz eine anonyme Abgeltungssteuer
vereinbart hat.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720116100

Herr Kollege!


Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720116200

Das zeigt genau: Der von Ihnen gewählte bilaterale

Ansatz führt in die Irre. Wir brauchen einen europäi-
schen Ansatz gegen die Steuerhinterziehung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720116300

Das Wort für die Bundesregierung ergreift der Bun-

desminister Dr. Wolfgang Schäuble.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-
zen:

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Ich möchte zunächst darum bitten, dass wir in einer Zeit,
in der in Europa vielfältige Diskussionen geführt wer-
den, in der Art, wie wir unsere nationalen politischen
Debatten führen, immer daran denken, dass unsere Part-
ner in Europa einen Anspruch darauf haben, dass wir mit
Respekt über sie reden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Es schadet Deutschland und es schadet Europa,


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Sie haben Stil!)


wenn wir bloß aus innenpolitischen Gründen in einer
Weise über andere reden, die unerträglich ist.

Ich möchte gerne eine zweite Bemerkung machen.
Herr Kollege Schick, man kann ja unterschiedlicher
Meinung sein, ob man die geltende deutsche Steuerge-
setzgebung, also das System der Kapitalertragsbesteue-
rung mit der definitiven Abgeltungsteuer, für richtig hält
oder nicht. Ich glaube, Sie haben das damals nicht für
richtig gehalten. Das ist Ihr gutes Recht. Das Gesetz
trägt allerdings die Unterschrift des damaligen Finanz-
ministers, und das war Herr Steinbrück. Wir haben dem
Gesetz auch zugestimmt; es ist in Kraft.

Mit diesem Abkommen – wenn es in Kraft tritt – stel-
len wir sicher, dass Kapitalanlagen von deutschen Steuer-
flüchtigen in der Schweiz genauso steuerlich behandelt
werden, wie wenn sie in Deutschland angelegt worden
wären. Etwas anderes kann man nicht machen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Behauptung also, wir würden durch das Abkommen
mit der Schweiz etwas anderes schaffen, ist Unsinn. Das
ist nun wirklich unterhalb dessen, was man als Niveau
parlamentarischer Auseinandersetzung akzeptieren sollte.
Wir schaffen damit die Möglichkeit, und die Schweizer
Banken machen dann dasselbe, was die deutschen Ban-
ken auch machen. Das muss auch der Vorsitzende einer
Gewerkschaft einsehen. Ob ihm das passt oder nicht, ist
eine andere Frage; aber in Deutschland ist es mit Spar-
kassen und Banken genauso.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deswegen ist das ein Abkommen für die Zukunft; es
sei denn, man sagt, das deutsche Gesetz sei falsch. Das
darf man aber nicht der Schweiz vorwerfen, sondern das
ist unsere deutsche Verantwortung. Wir können jederzeit
neue Gesetze machen; daran haben wir ja keinen Man-
gel. Aber solange das betreffende deutsche Gesetz so
gilt, müssen wir dafür sorgen, dass es gesetzmäßig voll-
zogen wird, nicht allein durch Zufallsfunde, womöglich
in der Zusammenarbeit mit mehr oder weniger Kriminel-
len, sondern durch einen verwaltungsmäßigen, einen
ordnungsgemäßen rechtsstaatlichen Vollzug. Dies sichert
das Abkommen mit der Schweiz für die Zukunft.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Das ist der erste Punkt. Daran können Sie überhaupt
nicht rütteln.

Es entspricht im Übrigen dem Informationsaustausch.
Dazu haben wir den OECD-Standard mit der Schweiz ja
vereinbart. Das ist alles international; das sind die multi-
lateralen Bemühungen. Sie werfen die Dinge völlig
durcheinander.


(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Richtig!)


Die zweite Bemerkung bezieht sich auf die Vergan-
genheit. Liebe Kolleginnen und Kollegen, man muss
einfach zur Kenntnis nehmen – der Kollege Wissing hat
es gesagt –: Belastende Gesetze können nach unserem
Verfassungsverständnis rückwirkend nicht eingeführt
werden. Angesichts dessen, was für uns gilt, müssen wir
doch respektieren, dass es in der Schweiz nicht anders
ist. Die Schweiz hat ein Bankgeheimnis; es ist integraler
Bestandteil der Schweizer Rechtsordnung seit 70 oder
mehr Jahren. Wenn dies so ist, dann kann man für die
Vergangenheit nicht erreichen, dass die Schweiz dies
rückwirkend ändert. Das wäre bei uns verfassungswid-
rig, und das ist es in der Schweiz auch. Daher sollte man
die Schweiz deswegen nicht beschimpfen, sondern man
sollte sich anschauen, welche Lösung wir mit der
Schweiz verhandelt haben.

Zwei Möglichkeiten hat der Steuerpflichtige, und das
teilen ihm die Banken auch mit. Entweder kann er eine
Mitteilung seines Finanzamts bringen, dass er seine steuer-
lichen Pflichten erfüllt hat, oder der Bestand seines Ver-
mögens – Herr Kollege Poß, Sie sollten schon zwischen
Erträgen und Vermögensbestand unterscheiden –


(Joachim Poß [SPD]: Ich habe von der technischen Durchführung gesprochen! Ich habe nicht gesagt, das ist das Vermögen!)


wird mit einem Pauschalsatz an Steuer belegt. Jetzt sage
ich Ihnen, wie er sich berechnet. Wenn ein Vermögen
schon seit zehn Jahren in der Schweiz liegt, dann – es
mag wie auch immer entstanden sein – sind die steuer-
und strafrechtlichen Ansprüche verjährt. Diese Verjäh-
rung kann auch rückwirkend nicht aufgehoben werden.
Auch das ist ein festes Verfassungsprinzip.

58 Prozent aller Konten und Depots in der Schweiz
bestehen seit mehr als zehn Jahren. Dies sage ich, damit
wir wissen, wovon wir reden. Daher können steuerlich
also nur diejenigen Erträge von Belang sein, die in die-
sen zehn Jahren angefallen sind und zu besteuern sind.
Dafür gilt ein Satz von 21 Prozent auf die Summe, auf
die Substanz des Kapitals. Das ist ein höherer Satz, als
man ihn bei einer Regelbesteuerung erzielt. Deswegen
gehen alle davon aus – Schweizer Banken haben ja Un-
tersuchungen dazu durchgeführt –, dass in mehr als
90 Prozent aller Fälle die Durchführung der Regel-
besteuerung für den Steuerpflichtigen günstiger ist. Das
ist aber der Sinn einer Pauschalregelung. Wenn Sie
100 Prozent erreichen wollen, bekommen Sie keine Pau-
schalregelung zustande.

Was ist mit den Vermögen, die in den letzten zehn
Jahren angewachsen sind oder überhaupt erst in den letz-
ten zehn Jahren in die Schweiz verbracht worden sind?





Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble


(A) (C)



(D)(B)


Dort wird ein höherer Prozentsatz auf das Kapital erho-
ben, aus genau diesem Grund, damit man nämlich auch
den Teil erfasst, der möglicherweise in der Substanz der
Besteuerung liegt. Es kann auch die Erbschaftsteuer ge-
wesen sein, die hinterzogen wurde.

Wir haben noch gar nicht darüber diskutiert, dass in
der Zukunft, wenn der Steuerpflichtige verstirbt, ent-
weder die Erbschaftsbesteuerung regulär durchgeführt
wird oder der höchstmögliche Erbschaftsteuersatz von
50 Prozent von der Schweizer Bank abgeführt wird.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: So ist es!)


Meine Damen und Herren, was wollen wir denn eigent-
lich mehr?


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wenn dies nicht der Fall ist, dann beendet die Schweizer
Bank ihre Geschäftsbeziehung mit dem Kunden. Die
Schweiz teilt uns mit, wohin die Vermögen verlagert
werden, damit wir mit den betreffenden Ländern Kon-
takt aufnehmen können. Sie haben ja diese sogenannte
Abschleichbewegung in den letzten Monaten zum gro-
ßen Thema gemacht. Inzwischen haben wir uns belehren
lassen: Nur bei 0,5 Prozent der Vermögenswerte sind in
den letzten Monaten Konten aufgelöst worden. Das ist
der ganz normale Schwund; bei jeder Bank werden im-
mer mal Konten aufgelöst. Also kann davon überhaupt
keine Rede sein. Darüber hinaus bekommen wir die Ant-
wort, in welche Länder es abfließt, sodass wir in Zukunft
auch die entsprechenden Möglichkeiten haben.

Das Abkommen ist – auch diese wahrheitswidrige
Behauptung darf hier nicht unwidersprochen stehen blei-
ben – von der Kommission der Europäischen Union ge-
prüft und für gut befunden worden. Es gibt keine Ein-
wendungen aus dem europäischen Recht heraus. Das
heißt, Sie reden wider besseres Wissen, meine Damen
und Herren, und verunsichern die Menschen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Alternative zu diesem Abkommen ist, dass die
Steueransprüche verjähren. Die Verjährungsfrist beträgt
in aller Regel zehn Jahre. Da 58 Prozent aller Depots
und Konten bereits länger als zehn Jahre bestehen, muss
jedermann wissen: Das meiste wird in kurzer Zeit ver-
jährt sein. Entweder wird dieses Abkommen zum 1. Ja-
nuar 2013 in Kraft treten, oder wir werden kein Abkom-
men haben. Dann wird weiterhin ein Zustand bestehen,
in dem wir die Besteuerung von Einkünften, die deutsche
Steuerpflichtige aus Kapitalvermögen in der Schweiz
haben, von Zufallsfunden und von der Zusammenarbeit
mit mehr oder weniger rechtsstaatlich einwandfreien Per-
sönlichkeiten abhängig machen. Das kann doch nicht im
Sinne einer gesetzmäßig handelnden Verwaltung sein.

Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, sage ich
mit allem Ernst und in aller Ernsthaftigkeit: Wenn wir un-
sere Verantwortung für einen gerechten Vollzug der deut-
schen Steuergesetze einigermaßen wahrnehmen wollen,
dann erfüllen wir mit diesem Abkommen unsere Pflicht.
Deswegen werbe ich um Ihre Zustimmung zu diesem
Abkommen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Hören Sie auf, aus vordergründigen parteistrategischen
Überlegungen Unbehagen gegen Banken, Steuerhinter-
ziehung und was weiß ich zu schüren!


(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Natürlich habe ich Unbehagen gegen Steuerhinterziehung! Das ist wohl gerechtfertigt!)


– Nein, nein, ich habe doch gar nichts dagegen. Ich sage
nur: Wenn Sie Steuerhinterziehung bekämpfen wollen,
müssen Sie dieses Abkommen in Kraft setzen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das Gegenteil ist der Fall! Das wissen Sie auch!)


Anderenfalls laden Sie die Verantwortung dafür auf sich,
dass wir auch weiterhin auf Zufallsfunde angewiesen
sind und unserer Verpflichtung, für die Gleichmäßigkeit
der Besteuerung und die Rechtsstaatlichkeit des Gesetzes-
vollzugs zu sorgen, nicht gerecht werden.

Dieses Abkommen wird zum 1. Januar in Kraft treten,
oder es wird gescheitert sein. Sie werden in absehbarer
Zeit kein anderes Abkommen bekommen. Sie werden
als Alternative zu diesem Abkommen haben, dass die
Steueransprüche verjähren.

Das Bundesfinanzministerium hat nie von 10 Milliar-
den Euro gesprochen; davon haben wir überhaupt nichts
gesagt.


(Joachim Poß [SPD]: Aber Ihre Redner haben das so erwähnt!)


– Nein, ich erkläre es Ihnen doch. Herr Kollege Poß, ich
kann es Ihnen genau erklären. Wir haben mit der
Schweiz verabredet, dass die Schweizer Banken bei Ab-
schluss des Abkommens eine anzurechnende Vorauszah-
lung, die gilt und definitiv ist, von 2 Milliarden Schweizer
Franken leisten werden. Großbritannien hat ein ähnliches
Abkommen mit der Schweiz. Großbritannien bekommt
eine Vorauszahlung Schweizer Banken in Höhe von
500 Millionen Schweizer Franken. In Großbritannien hat
man eine bestimmte Summe, die man dort aus der rück-
wirkenden Besteuerung erwartet, in den Haushalt einge-
stellt. Wenn man die britischen Zahlen mit vier multipli-
ziert, was nach der Logik einigermaßen richtig sein
könnte, dann kommt man auf einen Betrag, Herr Kollege
Poß, der größer als 10 Milliarden Euro ist. Nur dies ha-
ben wir gesagt. Wir selber haben nichts anderes als die
2 Milliarden Schweizer Franken in unsere Planungen
eingestellt. Alles andere warten wir ab.

Aber darüber hinaus ist klar: Für die Zukunft werden
wir die normalen Kapitalertragsteuern aus der Schweiz
genauso abgeführt bekommen, wie wir sie auch von
deutschen Banken bekommen. Wenn Sie das Abkom-
men scheitern lassen, dann werden wir auch für die Zu-
kunft allenfalls auf Zufallsfunde angewiesen sein. Das
ist nicht zu verantworten. Deswegen werbe ich mit allem
Ernst und in aller Sachlichkeit um Ihre Zustimmung zu
diesem Abkommen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720116400

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem

Kollegen Jürgen Trittin.


Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720116500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber

Herr Schäuble, ich habe mich gemeldet, weil Sie davon
gesprochen haben, man solle mit seinen Nachbarn re-
spektvoll umgehen. Ich rate sehr dazu. Aber dazu passt
es nicht, dass Sie diejenigen, die sich in Deutschland da-
rum bemühen, Steuerhinterziehung zu verfolgen, zum
Beispiel den nordrhein-westfälischen Finanzminister,
hier in Ihrer Rede klandestin und hintenherum der Zu-
sammenarbeit mit Kriminellen bezichtigen. Das ist keine
Zusammenarbeit mit Kriminellen, sondern Strafverfol-
gung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Wenn Sie sich heute hier einer Garantiesumme von
2 Milliarden Euro rühmen, dann muss ich Sie darauf hin-
weisen, dass diejenigen, die Sie der Zusammenarbeit mit
Kriminellen zeihen, durch den Ankauf von Steuer-CDs
mittlerweile fast das Doppelte für den deutschen Steuer-
zahler hereingeholt haben. Das sollte Ihnen zu denken
geben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Sie haben schon 2009 einer Bundesregierung ange-
hört. Im Jahre 2009 war die Bundesregierung beim G-20-
Gipfel in London vertreten. Sie haben ein Schlusskom-
muniqué verabschiedet. Darin steht wörtlich: „Die Ära
des Bankgeheimnisses ist vorbei.“ Aber das Abkommen,
das Sie heute vorlegen, ist nichts anderes, als eine über-
lebte Ära mit aller Gewalt in die Zukunft zu retten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Ich sage Ihnen eines: Sie überantworten den Vollzug
deutscher Steuergesetze Banken wie der UBS und der
Credit Suisse, die in diversen Verfahren in den USA, in
Frankreich und auch in Deutschland der Beihilfe zur
Steuerhinterziehung nicht nur bezichtigt, sondern auch
überführt worden sind. Was ist das für eine Vorstellung
von Rechtsstaatlichkeit, Herr Minister?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt ist Schluss!)


Bis heute habe ich gedacht, Sie wären ein großer
Europäer.


(Unruhe bei der CDU/CSU)


Aber Ihre Haltung, mit der Schweiz ein bilaterales Ab-
kommen abzuschließen, führt dazu, dass die Umsetzung
der europäischen Zinssteuerrichtlinie von Österreich und
Luxemburg mehr und mehr infrage gestellt wird.

Sie sagen, man solle respektvoll mit den Nachbarn
umgehen. Auch ich bin der Auffassung, dass man re-
spektvoll mit der Schweiz umgehen sollte. Aber mit ei-

nem sollte man keinen Schindluder treiben: mit der
Freundschaft und der guten Nachbarschaft zu Frank-
reich. Was Sie mit diesem bilateralen Abkommen ange-
fangen haben, ist eine Absage an Europa. Das ist nicht
im Interesse der Bundesrepublik Deutschland und nicht
im Interesse von Europa.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720116600

Der Herr Bundesminister zur Antwort.

Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-
zen:

Herr Kollege Trittin, ich habe eine lange parlamenta-
rische Erfahrung und habe meine Vorstellungen vom
Sinn der parlamentarischen Kurzintervention und davon,
was nicht ihr Sinn ist. Ich weiß auch, dass es zurzeit in
Parteien Mitgliederbefragungen und Ähnliches gibt.
Aber lassen wir das einmal dahingestellt,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


obwohl ich mir nicht ganz sicher bin, ob man das unbe-
dingt miteinander vermischen sollte.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es scheint ja gesessen zu haben!)


– Herr Kollege Trittin, wissen Sie: Ich bin vom Inhalt Ih-
rer Ausführungen wenig beeindruckt. Jeder hat gehört,
was Sie hier gesagt haben. Jeder hat auch gehört, was Sie
vorher gesagt haben.

Ich habe gesagt, dass es besser ist, wir setzen den
Vollzug unserer Gesetze durch, die wir verabschiedet ha-
ben, die aber von Ihrer Fraktion infrage gestellt werden;
denn Ihr Kollege hat gesagt, es sei ganz schlimm, dass
wir eine Abgeltungsteuer, die Kapitalertragsteuer, haben.
Herr Kollege Trittin, das ist aber geltendes Recht. Dieses
Gesetz ist vom Deutschen Bundestag mit Zustimmung
des Bundesrats so beschlossen worden. Es ist in Kraft; es
gilt.

Da wir nun verpflichtet sind, den rechtmäßigen Voll-
zug, die Steuergerechtigkeit sicherzustellen, ist es rich-
tig, dafür zu sorgen, dass dieses Gesetz auch auf Steuer-
pflichtige, die ihr Kapitalvermögen in der Schweiz
haben, angewandt wird. Dies sichert dieses Abkommen,
und wenn das Abkommen nicht zustande kommt, dann
ist der Vollzug der Gesetze in der Schweiz nicht sicher-
gestellt. Dann ist man – auch das habe ich gesagt – auf
Zufallsfunde und auf eine entsprechende Zusammenar-
beit angewiesen. Ich habe nicht irgendeinen Kollegen
der Zusammenarbeit mit Kriminellen bezichtigt, sondern
ich habe gesagt: Wir sind beim Vollzug der Gesetze.

Ich habe an solchen Entscheidungen, Daten anzukau-
fen, mitgewirkt. Aber das ist die schlechtere Lösung.
Herr Kollege Trittin, die bessere Lösung ist, dass wir uns
bemühen, durch Gesetze und Verträge sicherzustellen,
dass Regeln allgemein und rechtsstaatlich einwandfrei
angewandt werden. Wenn Sie dagegen sind, dann ist das





Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble


(A) (C)



(D)(B)


Ihre Position. Ich rate jedem, die Position der Bundesre-
gierung und der Koalition einzunehmen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720116700

Martin Gerster hat jetzt das Wort für die SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD)



Martin Gerster (SPD):
Rede ID: ID1720116800

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrter Herr Bundesminister Schäuble, Sie haben
davon gesprochen, dass wir respektvoll mit der Schweiz
umgehen sollen. Wir gehen respektvoll mit der Schweiz
um. Ich glaube nicht, dass der Konflikt zwischen der
Schweiz und Deutschland besteht. Die Konfliktlinie ist
vielmehr eine ganz andere. Da gibt es auf der einen Seite
die ehrlichen Steuerzahler bei uns, die ihren Beitrag zu
einem funktionierenden Gemeinwesen leisten. Da gibt
es auf der anderen Seite die Steuerkriminellen und ihre
Hintermänner und zuweilen eben auch die Schweizer
Kreditinstitute, die einen Beitrag dazu leisten, dass Steu-
erhinterziehung überhaupt stattfinden kann. Das ist doch
die Konfliktlinie.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie mahnen einen respektvollen Umgang an. Ich sage
Ihnen: Auch die Sachverständigen im Finanzausschuss
und auch unsere Beamten, die sich äußern und ihre Mei-
nung kundtun, haben einen Anspruch darauf, fair und re-
spektvoll behandelt zu werden. Aber was wir in der An-
hörung und anschließend auch in den Beratungen im
Finanzausschuss erlebt haben, ist alles andere als re-
spektvoll gewesen; denn dort wurden die Sachverständi-
gen, die Kriminalbeamten und die Steuerbeamten von
den Regierungsfraktionen diskreditiert.


(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Das stimmt doch gar nicht! Das stimmt überhaupt nicht! Das ist doch unmöglich!)


In dem Bericht des Finanzausschusses, Frau Vorsit-
zende Reinemund, heißt es:

In der Anhörung zum Gesetzentwurf habe es auch

– so sagen es Union und FDP –

kritische Stimmen gegeben.

– Immerhin, Sie gestehen das wenigstens ein.

Dies sei z. B. bei Vertretern der Steuergewerkschaft
und dem Bund Deutscher Kriminalbeamter aus de-
ren Perspektive auch zu erwarten gewesen. Ein ent-
sprechendes Abkommen mit der Schweiz führe zu
einer Aufgabenminderung bei diesen Gruppen, was
deren kritische Haltung selbstverständlich mache.

Es ist unglaublich, wie die Regierungsfraktionen, wie
Schwarz-Gelb die eigenen Beamtinnen und Beamten

und ihre sachkundige Meinung diskreditieren. Das darf
doch wohl nicht wahr sein!


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Daniel Volk [FDP]: Was ist denn daran diskriminierend?)


Warum soll es zu einer Aufgabenminderung kom-
men? Sie haben doch selbst die Bedingungen mit ausge-
handelt, die dazu führen, dass sie enorme Einschränkun-
gen bei der Ermittlung von Steuerhinterziehung in Kauf
nehmen müssen. Das ist doch die Wahrheit. Deshalb war
im Finanzausschuss von den Sachverständigen eine der-
art kritische Meinung zu hören.

Nächster Punkt. Auch wir Parlamentarier, Herr
Minister Schäuble, haben einen Anspruch auf respekt-
vollen und ehrlichen Umgang. Ich wundere mich sehr,
wie hier mit Zahlen gespielt wird. Kurz vor der Land-
tagswahl in Nordrhein-Westfalen haben wir gehört, was
diese Steuerabkommen für unsere Kassen bringen sol-
len.


(Zuruf von der SPD: Genau!)


Es wurde für jedes Bundesland detailliert aufgelistet,
wie hoch die Mehreinnahmen wären. Als wir im Finanz-
ausschuss nachgefragt haben, sagte Staatssekretär
Koschyk, eine Berechnung sei überhaupt nicht möglich.
Zwischendurch hören wir wieder, dass es 10 Milliarden
Euro Steuereinnahmen sind und dass wir Sozialdemo-
kraten darauf doch nicht verzichten könnten,


(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Der Minister hat es doch gerade erklärt!)


weil wir inzwischen in so vielen Bundesländern regieren
würden. Ich kann nur sagen: Gut, dass wir Sozialdemo-
kraten wieder in so vielen Bundesländern regieren. Herr
Schäuble, mit solchen Zahlenbeispielen können Sie uns
jedenfalls nicht davon überzeugen, diesem Steuerab-
kommen zuzustimmen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wesentliche Gründe dafür, warum wir dem Abkom-
men nicht zustimmen können, sind, dass die Anonymität
der Steuerhinterzieher gewahrt bleibt, dass es sanktions-
los bleibt und dass man bis zum Ende des Jahres noch
Zeit hat, seine Gelder in andere Steueroasen zu verschie-
ben. Das ist das sogenannte Abschleichen.

Herr Schäuble, Sie haben gesagt – ich habe es mir
aufgeschrieben –, Sie hätten sich beraten lassen. Ich
frage mich: Von wem haben Sie sich beraten lassen und
diese Zahl, 0,5 Prozent, erfahren? Das würden wir schon
sehr gerne wissen. Wir haben den Eindruck, dass Sie in
dieser ganzen Angelegenheit die falschen Berater haben.


(Beifall des Abg. Joachim Poß [SPD])


Anders kann man gar nicht auf die Idee kommen – auch
mit Blick auf die Zukunft Europas –, ein solches Steuer-
abkommen abschließen zu wollen.





Martin Gerster


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Für die SPD bleiben unter dem Strich viele Gründe,
warum wir dieses Steuerabkommen ablehnen. Ich kann
nur hoffen – das sage ich auch im Namen meiner Frak-
tion –, dass sich im Bundesrat keine Mehrheit für dieses
Steuerabkommen findet.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720116900

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Ab-
kommen vom 21. September 2011 mit der Schweizeri-
schen Eidgenossenschaft über Zusammenarbeit in den
Bereichen Steuern und Finanzmarkt in der Fassung vom
5. April 2012. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11093, den
Gesetzentwurf auf Drucksache 17/10059 anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter
Beratung bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktio-
nen angenommen. Die Oppositionsfraktionen haben da-
gegen gestimmt. Enthaltungen gab es keine.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wir stimmen über den Gesetz-
entwurf auf Verlangen der Fraktionen der SPD, der Lin-
ken und des Bündnisses 90/Die Grünen namentlich ab.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. Fehlen noch Schrift-
führerinnen oder Schriftführer? – Das scheint nicht der
Fall zu sein. Dann eröffne ich die Abstimmung.

Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das trotz um-
fassender Möglichkeiten und eigenem Bemühen seine
Stimme bis jetzt noch nicht abgeben konnte? – Das
scheint nicht der Fall zu sein. Dann schließe ich die Ab-
stimmung.1)

Ich bitte Sie herzlich, die Gänge zu räumen und Ihre
Plätze wieder einzunehmen, damit wir in der Beratung
fortfahren können. Vielleicht hilft es, wenn ich Ihnen
mitteile, dass wir noch einige namentliche Abstimmun-
gen vor uns haben und dass sich durch den relativ gro-
ßen Zeitverzug die Abendtermine verschieben können.

Wir setzen jetzt die Abstimmungen fort. Wir kommen
zu den Entschließungsanträgen.

Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak-
tion der SPD auf Drucksache 17/11152? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag
ist bei Zustimmung durch die einbringende Fraktion ab-
gelehnt. Enthalten haben sich Linke und Bündnis 90/Die

Grünen. Die Koalitionsfraktionen haben dagegen ge-
stimmt.

Entschließungsantrag von Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 17/11153. Wer stimmt dafür? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Dieser Entschlie-
ßungsantrag ist ebenfalls abgelehnt bei Zustimmung
durch die einbringende Fraktion und die Linke. Die SPD
hat sich enthalten. Die Koalitionsfraktionen haben dage-
gen gestimmt.

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 sowie Zu-
satzpunkt 6 auf:

8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Andreae, Dr. Tobias Lindner, Beate Walter-
Rosenheimer, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Wirtschaft im Umbruch – Wandel ökologisch,
sozial und europäisch gestalten

– Drucksache 17/11162 –

ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge-
ordneten Garrelt Duin, Hubertus Heil (Peine),
Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD

Chancen nutzen – Vorsorgende Wirtschafts-
politik jetzt einleiten

– Drucksachen 17/8346, 17/8642 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Georg Nüßlein

Es ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debat-
tieren. Damit sind Sie einverstanden? – Dann verfahren
wir so.

Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der
Kollegin Kerstin Andreae für Bündnis 90/Die Grünen.


Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720117000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ludwig Erhard hat gesagt: Wirtschaft ist zu 50 Prozent
Psychologie. – Dieser Satz wird von Wirtschaftsminis-
tern und von der FDP gerne zitiert. Meinetwegen, dann
ist es halt zu 50 Prozent Psychologie, aber dann entfallen
immer noch 50 Prozent darauf, etwas zu tun. Das Ein-
zige, was man bei diesem Wirtschaftsminister und dieser
Koalition im Bereich der Wirtschaftspolitik erkennen
kann, ist 100 Prozent Stillstand:


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


keine steuerliche Forschungsförderung, kein besserer
Zugang zu Wagniskapital. Der Bürokratieabbau stockt.
Seit Juli 2011 sind rund 1,1 Milliarden Euro Bürokratie-
kosten durch neue Gesetze entstanden.

Eines dieser neuen Gesetze umfasste im Übrigen die
von uns unterstützte Anerkennung ausländischer Berufs-
abschlüsse. Dieses Gesetz gilt seit April dieses Jahres. 1) Ergebnis Seite 24325 A





Kerstin Andreae


(A) (C)



(D)(B)


Sie waren damals davon ausgegangen, dass ungefähr
300 000 Menschen von diesem Gesetz profitieren wer-
den. Seit Inkrafttreten des Gesetzes sind 270 Personen
zusätzlich in Deutschland angekommen, so die Zahlen
des DIHK.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh!)


Wenn Sie bei diesem Tempo bleiben, brauchen Sie noch
625 Jahre, um die Zahl 300 000 zu erreichen. Erzählen
Sie mir nicht, dass Sie hier kraftvoll gegen den Fachkräf-
temangel und für die Erleichterung bei der Zuwanderung
handeln.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Vor einem Jahr hat die Zeitschrift Cicero den Wirt-
schaftsminister Rösler zu einem der Absteiger des Jahres
erklärt. Die Überschrift dieses Artikels war: „Keine ein-
zige große Idee“. Ich hatte damals gehofft, dass viel-
leicht etwas passieren wird. Wenn ich mir aber anschaue,
was dann wirtschaftspolitisch geschehen ist, muss ich in
der Tat sagen: Da gibt es keine einzige große Idee. Sie
ruhen sich auf dem Argument mit der Psychologie aus,
haben aber keine Vorstellung davon, wo und wie wir
weitermachen sollten. Sie haben keine große Idee.

Ökologische Modernisierung kann die industrielle Er-
folgsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland wer-
den; das wäre eine große Idee.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Darum geht es in dem Antrag, den wir Ihnen heute vor-
legen. Die Wirtschaft steht vor einem tiefgreifenden
Wandel, sie befindet sich im Umbruch. Ein Wirtschafts-
minister muss diesen Umbruch zum einen erkennen – er
muss ihn zum Teil auch einfordern –, zum anderen muss
er ihn begleiten, ihn in allen Bereichen durchdeklinieren.
Dann nimmt ein Wirtschaftsminister seine Aufgabe
wahr.

Zurück zur Ökologie. Traditionelles Wirtschaften mit
diesem gigantischen Rohstoffhunger, mit diesem gigan-
tischen Energiehunger ist nicht zukunftsfähig. Den Zah-
len für die EU 27 können Sie entnehmen, dass wir ein
Außenhandelsdefizit in Höhe von 120 Milliarden Euro
haben, auch aufgrund der Importe von Rohstoffen. Wir
sind auf dem falschen Pfad. Wir verbrauchen zu viel.
Wir brauchen eine Antwort darauf, wie wir von diesem
falschen Wirtschaftsmodell wegkommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie kennen den Kampf des Wirtschaftsministers ge-
gen die Energieeffizienzrichtlinie. Wir müssen aber end-
lich eine Strategie entwickeln, wie wir im Bereich Roh-
stoffeffizienz, im Bereich Energieeffizienz und im
Bereich Einsparungen wirklich vorangehen können, und
dies nicht etwa nur deswegen, weil Rohstoffe und Ener-
gie so teuer geworden sind, sondern weil dies wirtschaft-
liche Perspektiven und Chancen für neue Jobs bietet.
Von einem Wirtschaftsminister hätte ich erwartet, dass er
eine große Idee entwickelt, wie wir dieses Land zu-

kunftsfähig aufstellen. Aber hier herrscht bei Ihnen ab-
solute Fehlanzeige.

Wir werden immer weniger innovativ. Wenn Sie sich
den Innovationsindikator anschauen, können Sie genau
erkennen: Deutschland rutscht ab. Uns fehlen die Ideen,
die Innovationen, uns fehlt kraftvolles Handeln, obwohl
wir vorangehen und große Ideen entwickeln müssen. Sie
ziehen sich immer darauf zurück, Wirtschaft sei zu
50 Prozent Psychologie. Das ist viel zu wenig. Diese
große Idee, die ich geschildert habe, scheint leider viel
zu groß für Sie zu sein.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Wolfgang Tiefensee [SPD] – Zuruf von der FDP: Ganz schwach!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720117100

Das Wort hat der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Joachim Pfeiffer (CDU):
Rede ID: ID1720117200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich möchte zuerst auf Frau Andreae eingehen. Wenn ich
das richtig gesehen habe, wird unsere erfolgreiche Re-
gierungsarbeit in Ihrem Antrag als „Stillstandspolitik“
bezeichnet.


(Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist denn der Erfolg, Herr Pfeiffer?)


Was verstehen Sie unter Stillstand? Verstehen Sie un-
ter Stillstand, dass wir in den letzten Jahren die höchsten
Wachstumsraten der Wirtschaft seit der Wiedervereini-
gung hatten? Ist Stillstand, dass wir mit 41,5 Millionen
Menschen die höchste Beschäftigungsquote in Deutsch-
land überhaupt haben? Ist Stillstand, dass wir die ge-
ringste Jugendarbeitslosigkeit in Europa haben? Ist Still-
stand, dass die Erwerbsbeteiligung der 55- bis 64-
Jährigen in den letzten zehn Jahren von 38 Prozent auf
60 Prozent gestiegen ist? Ist Stillstand, dass wir die
höchsten F-und-E-Ausgaben in der Geschichte der Bun-
desrepublik haben? Liebe Frau Andreae, da muss einer
von uns etwas falsch verstanden haben. Eine solche Be-
deutung des Begriffes „Stillstand“ finden Sie im Duden
nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wenn man sich genau anschaut, was Sie in Ihrem An-
trag fordern, findet man viele gute Dinge; da will ich gar
nicht widersprechen. Sie fordern zum Beispiel, dass der
Zugang zu Wagniskapital erleichtert wird. Diese Auffas-
sung teilen wir. Mit dem Haushaltsentwurf wollen wir
erreichen, dass für die nächsten vier Jahre eine Wagnis-
kapitalförderung von 150 Millionen Euro bereitgestellt
wird. Gefördert werden private Investoren. Insbesondere
Business Angels und jungen innovativen Unternehmen
soll Beteiligungskapital zur Verfügung gestellt werden.





Dr. Joachim Pfeiffer


(A) (C)



(D)(B)


Insoweit haben wir die Dinge schon gemacht, bevor Sie
Ihren Antrag geschrieben haben.

Dann sprechen Sie viel von Binnenmarkt, von Kauf-
kraft und davon, was man da alles stärken sollte. Sie ha-
ben in den nächsten Tagen und Wochen noch Gelegen-
heit dazu, sich zu beweisen und genau dies mit uns
gemeinsam zu tun. Wir haben verabschiedet, dass der
Grundfreibetrag im nächsten Jahr erhöht werden soll.
Wir haben verabschiedet, dass die Menschen in diesem
Land von den Lohnerhöhungen auch etwas spüren sol-
len, indem die kalte Progression, letztlich die kalte Ent-
eignung, abgemildert wird. Der entsprechende Gesetz-
entwurf liegt im Bundesrat. Sie können dafür sorgen,
dass nicht nur Baden-Württemberg, sondern der Bundes-
rat insgesamt zustimmt. Dann haben wir eine effektive
Steuerentlastung der kleinen und mittleren Leistungsträ-
ger und eine größere Wirksamkeit des Inflationsaus-
gleichs.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie sprechen über den Abbau von Bürokratie. Auch
da können wir gemeinsam viel erreichen. Wir haben auf
den Weg gebracht, dass die steuerlichen Aufbewah-
rungsfristen in einem ersten Schritt auf acht Jahre, dann
auf sieben Jahre und in einer längeren Perspektive auf
fünf Jahre verkürzt werden.


(Beifall der Abg. Rita Pawelski [CDU/CSU])


Das ist das größte Bürokratieabbauprogramm, das man
sich für die Freien Berufe, für das Handwerk und für den
Mittelstand vorstellen kann. Es entfaltet auch eine psy-
chologische Wirkung. Wir freuen uns daher auf Ihre Zu-
stimmung zum Jahressteuergesetz, das demnächst im
Bundesrat zur Abstimmung ansteht.

Sie fordern im energetischen Bereich Nachhaltigkeit
und andere Dinge mehr. Auch da können Sie mitmachen,
indem Sie damit aufhören – ihre Verweigerung können
wir nicht mehr länger akzeptieren –, die steuerliche Ab-
zugsfähigkeit der energetischen Sanierung im Bundesrat
zu blockieren. Dies tun Sie seit knapp eineinhalb Jahren,
obwohl Sie im letzten Jahr zusammen mit den Bundes-
ländern dem Energieprogramm zugestimmt haben. Des-
halb werden wir jetzt im Interesse der energetischen Sa-
nierung, im Interesse der von Ihnen angesprochenen
Nachhaltigkeit Ersatzmaßnahmen auf den Weg bringen.
Wir werden andere Möglichkeiten schaffen, durch die
wir diese Zielgruppe erreichen. Dies wird leider nicht
mit steuerlichen Entlastungen und der Schaffung von
Abzugsmöglichkeiten verbunden sein, weil Sie es ver-
hindern. Das müssen Sie den Menschen draußen sagen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie sprechen auch den Arbeitsmarkt an. Da hätten Sie
heute schon – ein paar Tagesordnungspunkte zuvor,
nämlich bei der Erhöhung der Grenze für Minijobs von
400 auf 450 Euro – Gelegenheit gehabt, Nägel mit Köp-
fen zu machen. Ihre Redner haben aber nicht nur dage-
gen gesprochen, sondern Ihre Fraktion hat heute dage-
gen gestimmt, dass die Minijob-Beschäftigten einen
Inflationsausgleich bekommen. Sie haben dagegen ge-

stimmt, dass sie einen Reallohnzuwachs von 400 auf
450 Euro erfahren. Sie haben dagegen gestimmt, dass
zukünftig eine Erhöhung der sozialen Sicherheit durch
eine automatische Rentenversicherungspflicht erreicht
werden kann. Sie haben für mehr Schwarzarbeit ge-
stimmt, indem Sie dies alles abgelehnt haben. Das ist für
mich nicht die Beschäftigungs- und Arbeitsförderung,
die ich mir vorstelle und die Sie in Ihrem Antrag mit vie-
len wolkigen Worten beschreiben.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie verharren in alten Strukturen!)


Sie haben bei einem der vorherigen Tagesordnungs-
punkte gegen eine Senkung der Rentenbeiträge ge-
stimmt. Dabei ist das im Bereich der Sozialversicherung
das größte Programm zur Stärkung des Binnenkonsums,
das wir für das nächste Jahr auf den Weg bringen kön-
nen. Die Menschen, die arbeiten und in die Rentenversi-
cherung einzahlen, müssen weniger Beiträge zahlen und
haben dadurch mehr Geld zur Verfügung. Sie können
entweder konsumieren oder vielleicht auch entsprechend
privat vorsorgen. Aber Sie sind dagegen.

Sie sind auch gegen höhere Rentenerhöhungen. Ein
komplizierter Mechanismus, den Sie kennen, Frau
Andreae, führt nämlich dazu, dass die Renten im nächs-
ten Jahr sogar überproportional steigen.


(Beifall der Abg. Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Aber dieses Signal für mehr Binnenkonsum, Wachstum
und Beschäftigung, das mit Blick auf Europa wichtig ist,
geht von Ihnen nicht aus.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie unterstellen uns – damit komme ich zum
Schluss – Engstirnigkeit. Dabei haben Sie anscheinend
wenig von Technologieoffenheit gehört. Sie sprechen
viel von Nachhaltigkeit – ich hätte es zählen können,
habe aber irgendwann aufgehört –, von Zukunftstechno-
logien, von Nanotechnologie, Biotechnologie und Gen-
technologie. Andere Begriffe finden wir in Ihrem Antrag
für Wachstum und Beschäftigung aber nicht.

Insofern kann ich nur feststellen und zum Abschluss
Churchill zitieren – das darf ich noch schnell machen –:


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720117300

Sie kommen jetzt schon zum zweiten Mal zum Ab-

schluss.


Dr. Joachim Pfeiffer (CDU):
Rede ID: ID1720117400

Es gibt Leute, die halten Unternehmer für einen
räudigen Wolf, den man totschlagen müsse, andere
meinen, der Unternehmer sei eine Kuh, die man un-
unterbrochen melken kann. Nur ganz wenige sehen
in ihm das Pferd, das den Karren zieht.

Wir sehen das Pferd, das den Karren zieht.






(A) (C)



(D)(B)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720117500

Herr Kollege.


Dr. Joachim Pfeiffer (CDU):
Rede ID: ID1720117600

Die ganz Linken wissen nicht, was sie sehen, und Sie

sind wohl irgendwo dazwischen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die FDP liegt unter 3 Prozent! Da ist es mit dem Pferd nicht ganz so weit her!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720117700

Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, gebe ich Ih-

nen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern
ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung
zum Entwurf des Gesetzes zum Abkommen mit der
Schweiz auf den Drucksachen 17/10059 und 17/11093
bekannt: abgegebene Stimmen 569. Mit Ja haben ge-
stimmt 312 Kolleginnen und Kollegen,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


mit Nein haben gestimmt 256, und es gab 1 Enthaltung.
Damit ist der Gesetzentwurf angenommen.

Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 568;
davon

ja: 311
nein: 256
enthalten: 1

Ja

CDU/CSU

Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Manfred Behrens (Börde)

Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen


(Bönstrup)

Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer (Göttingen)

Dirk Fischer (Hamburg)


(Karlsruhe Land)

Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser

Dr. Hans-Peter Friedrich

(Hof)


Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Ingo Gädechens
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung (Konstanz)

Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl

Bernhard Kaster

(Villingen Schwenningen)

Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers


(Heidelberg)

Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer (Altötting)

Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller (Erlangen)


Dr. Philipp Murmann
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche (Potsdam)

Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht (Weiden)

Anita Schäfer (Saalstadt)

Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt (Fürth)

Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön (St. Wendel)

Dr. Kristina Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer

(Weil am Rhein)

Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl (Heilbronn)

Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel (Kleinsaara)

Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg (Hamburg)

Peter Weiß (Emmendingen)

Sabine Weiss (Wesel I)

Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-

Becker
Dagmar G. Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew

FDP

Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine Aschenberg-

Dugnus
Daniel Bahr (Münster)

Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Hans-Werner Ehrenberg
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Joachim Günther (Plauen)

Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin

Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth (Kyffhäuser)

Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine Leutheusser-

Schnarrenberger
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner (Berlin)

Michael Link (Heilbronn)

Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller (Aachen)

Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann


(Lausitz)

Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto


(Frankfurt)

Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Manfred Todtenhausen
Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel


(Lüdenscheid)

Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)


Nein

SPD

Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold

Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding (Heidelberg)

Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf (Rosenheim)

Gabriele Groneberg
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann


(Wackernheim)

Hubertus Heil (Peine)

Wolfgang Hellmich
Rolf Hempelmann
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz (Essen)

Frank Hofmann (Volkach)

Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe (Leipzig)

Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Angelika Krüger-Leißner
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)

Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme

Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth (Heringen)

Marlene Rupprecht


(Tuchenbach)

Annette Sawade
Anton Schaaf
Axel Schäfer (Bochum)

Bernd Scheelen
Marianne Schieder


(Schwandorf)

Werner Schieder (Weiden)

Ulla Schmidt (Aachen)

Carsten Schneider (Erfurt)

Swen Schulz (Spandau)

Ewald Schurer
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff


(Wolmirstedt)

Uta Zapf
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


DIE LINKE

Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Jan Korte
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Stefan Liebich
Ulla Lötzer

Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Petra Pau
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Paul Schäfer (Köln)

Michael Schlecht
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Kathrin Vogler
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Jörn Wunderlich

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Kerstin Andreae
Marieluise Beck (Bremen)

Volker Beck (Köln)

Cornelia Behm

Birgitt Bender
Agnes Brugger
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz (Herborn)

Dr. Anton Hofreiter
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Stephan Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth (Quedlinburg)

Monika Lazar
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Jerzy Montag

Kerstin Müller (Köln)

Beate Müller-Gemmeke
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth (Augsburg)

Krista Sager
Manuel Sarrazin
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Ulrich Schneider
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang Strengmann-

Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Arfst Wagner (Schleswig)

Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms

Enthalten

SPD

Hans-Ulrich Klose

Wir kommen zurück zu unserer Debatte, und ich gebe
das Wort dem Kollegen Ingo Egloff für die SPD-Frak-
tion.


(Beifall bei der SPD)



Ingo Egloff (SPD):
Rede ID: ID1720117800

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Herr Pfeiffer, Sie haben hier eben versucht,
deutlich zu machen, dass es keinen Stillstand in der
Wirtschaftspolitik gibt. Wenn Sie aber mit den Betroffe-
nen reden, beispielsweise mit der Energiewirtschaft oder
der Industrie, dann erzählen sie Ihnen etwas ganz ande-
res. Sie haben nämlich das Gefühl, dass Sie sowohl in
der Energiepolitik als auch in der Industriepolitik keinen
Plan haben, wo es hingehen soll. Sie, die Sie sich immer
so gerieren, als seien Sie die Parteien der Wirtschaft,
sind an dieser Stelle eine einzige Enttäuschung für die
deutsche Wirtschaft.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Klaus Breil [FDP]: Außer dass wir das beste Wirtschaftswachstum seit langem haben!)


Sie stellen sich hier hin und sagen, das Steuergesetz,
das im Bundesrat liegt, würde die kalte Progression be-
seitigen. Wenn Sie die kalte Progression wirklich beseiti-
gen wollen, dann müssen Sie 30 Milliarden Euro in die

Hand nehmen. Dieses Geld haben Sie bzw. hat dieser
Staat nicht, um es in die Hand zu nehmen.

Sie haben weiße Salbe verteilt, nur um Ihren Koali-
tionspartner zu beruhigen. Sie wissen selber, dass dieje-
nigen, die ein kleines Einkommen haben, nur so viel von
dieser Steuerreform profitieren, dass sie sich davon eine
Currywurst kaufen können, aber nur dann, wenn sie zwei
Monate lang sparen. Das bewirkt das Gesetz, das im
Bundesrat liegt.


(Holger Krestel [FDP]: Sie gönnen den Leuten nicht einmal die Currywurst!)


Lassen Sie uns zu dem Antrag der Grünen zurück-
kommen. Ich meine, der Antrag weist in die richtige
Richtung. Ich finde es gut, dass wir hier die Gelegenheit
haben, einmal grundsätzlicher über die Frage zu disku-
tieren, in welche Richtung sich die Wirtschaft in diesem
Land, aber auch in Europa entwickeln soll.

Ich will hier nicht alle Bereiche aufgreifen. Das wäre
viel zu viel; dazu reicht die Zeit nicht. Ein paar Sachen
möchte ich aber herausgreifen.

Es ist kein Geheimnis, dass wir in vielen Bereichen
mit den Grünen übereinstimmen, wie zum Beispiel in
der Kritik an der nicht erfolgenden Energiewende durch
die Regierung. Wir Sozialdemokraten sind der Meinung,
dass die Bundesregierung die Energiewende endlich als
nationale Aufgabe begreifen muss und dass man nicht





Ingo Egloff


(A) (C)



(D)(B)


dabei stehen bleiben und darauf hoffen darf, dass der
Markt es regeln wird. Der Markt wird es nämlich nicht
alleine regeln. Das sehen wir im Moment.


(Klaus Breil [FDP]: So, so! – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Aha! „Im Moment“!)


Wir möchten, dass es einen nationalen Ausbauplan
gibt, und es wäre auch wünschenswert, wenn es eine
staatliche Beteiligung an den Netzgesellschaften gäbe,
die sich dieser Energiewende dann auch annähmen.

Damit, dass Sie nach dem beschlossenen Atomaus-
stieg ein Jahr lang nichts getan und bis zum heutigen Tag
noch nichts umgesetzt haben, obwohl zum Beispiel das
Konzept für den Anschluss von Offshoreanlagen seit
März abgestimmt vorliegt, zeigen Sie nur eines: Sie ha-
ben die Tragweite unserer gemeinsamen Entscheidung,
aus der Atomenergie und mittelfristig aus der fossilen
Energieerzeugung auszusteigen, nicht begriffen. Sie
wollen das wichtigste Industrieland Europas energiemä-
ßig umsteuern, aber Sie haben keinen tragfähigen Plan.
Das ist weder zukunftsgerichtet noch nachhaltig.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Allerdings teilen wir auch nicht die pauschale Kritik
an der Ausnahme bestimmter Branchen bei den Netzlei-
tungsgebühren. Wir sind jedoch der Auffassung, dass die
Ausnahmen, die die Regierung hier beschlossen hat, so
ausgeweitet worden sind, dass die Akzeptanz in der Be-
völkerung leidet. Trotzdem sind wir der Auffassung,
dass es richtig ist, energieintensive Industriebetriebe aus-
zunehmen, die für die Wertschöpfungsketten in diesem
Land wichtig sind und sonst nicht konkurrenzfähig wä-
ren; denn wir wollen die ganzen Wertschöpfungsketten
hier in Deutschland. Wir wollen die Grundstoffindustrie
in Deutschland; denn wir wollen hier nicht abhängig sein
von anderen. Auch das ist ein Gesichtspunkt der Nach-
haltigkeit in der Wirtschaft.


(Beifall bei der SPD – Klaus Breil [FDP]: Genau das machen wir!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,
auch wenn wir viele Ihrer Forderungen teilen und sie
hier zum Teil ja schon selbst in Antragsform eingebracht
haben, drückt Ihr Antrag an einigen Stellen etwas aus,
was zumindest mir nicht gefällt.

Natürlich brauchen wir Forschungsförderung für den
Mittelstand. Ich finde es aber auch nicht schlimm, dass
ein Großkonzern Forschungsförderung erhält, wenn er
damit etwas Vernünftiges macht.

Die Stärke der deutschen Wirtschaft ist es, dass wir
einerseits große Konzerne von Weltrang haben, anderer-
seits aber auch viele Mittelständler, zum Teil auch sol-
che, die als Hidden Champions auf dem Weltmarkt sehr
erfolgreich sind. Deshalb möchte ich an dieser Stelle
keinen Unterschied machen; denn nur gemeinsam ist der
Exporterfolg der deutschen Wirtschaft, ist das Aus-
schöpfen ihres Innovationspotenzials möglich.

Die SPD begrüßt ausdrücklich die Reindustrialisie-
rungsstrategie der Europäischen Union. Wir wollen ein

Europa, das wieder Vorreiter bei Wettbewerbsfähigkeit
und Innovation wird. Wir wollen Produkte, die dem Ziel
der Ressourcenschonung und dem Klimaschutz ver-
pflichtet sind. Wir wollen die Abhängigkeit von fossilen
Energieträgern überwinden. Aber wir wollen im Ver-
gleich zu anderen Gegenden der Welt auch konkurrenz-
fähig sein.


(Beifall bei der SPD – Klaus Breil [FDP]: Sie wollen, und wir haben schon gemacht!)


– Darauf warten wir schon lange, Herr Breil.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie reden und wir handeln!)


– Schön wäre das ja. – Deshalb müssen wir europäische
Leitmärkte definieren, in denen wir erfolgreich sind, wo
wir in der Lage sind, auf dem Weltmarkt mitzuhalten.
Wir müssen eine gemeinsame europäische Industriepoli-
tik formulieren. Leitmärkte sind unserer Meinung nach
zum Beispiel der Maschinenbau, der in Europa 10 Pro-
zent der industriellen Wertschöpfung ausmacht und in
dem in Deutschland 870 000 Menschen beschäftigt sind,
die Luft- und Raumfahrtindustrie, die mit Airbus und
EADS jetzt schon ein Beispiel europäischer Industrie-
kooperation ist.

Wir dürfen auch die Automobilindustrie nicht aus den
Augen verlieren, nicht nur, weil in Deutschland jeder
siebte Arbeitsplatz an dieser Branche hängt, sondern
auch, weil sich die Menschen in ihrer Mobilität nicht
werden einschränken lassen. Im Gegenteil: Auch in an-
deren Gegenden der Welt wird das Automobil eine zu-
nehmende Rolle spielen. Deshalb brauchen wir im Ge-
samtinteresse des Klimaschutzes innovative Techniken
wie Brennstoffzellen und Elektromobilität. Deshalb
brauchen wir hier auch die Forschung in der deutschen
Industrie. Deswegen sollten wir auch die Automobil-
industrie als einen der Leitmärkte ansehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Davon profitiert der Klimaschutz in der gesamten
Welt. Wir brauchen innovative Bahntechniken, und auch
der Bereich der Chemie- und Pharmaindustrie gehört zu
den sektoralen Leitmärkten, die für ein hohes Innova-
tionspotenzial stehen.

Eine zukünftige europäische Innovationsstrategie be-
nötigt neue Breitbandnetze. Hier steht Deutschland im
Vergleich zu anderen europäischen Ländern auf einem
hinteren Platz, was den Ausbau angeht.


(Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär: Du lieber Gott!)


Kommunikationsmöglichkeiten sind heute, insbesondere
für Mittelständler in ländlichen Regionen, der Schlüssel
zum Erfolg. Der Ausbau der europäischen Breitband-
netze, der Energienetze und der Bahnverbindungen ist
ein Baustein zum Erfolg der europäischen Reindustriali-
sierungspolitik.

Dieser Aspekt der europäischen Industriepolitik, liebe
Kolleginnen und Kollegen der Grünen, ist, auch wenn
Sie das in Ihrem Beitrag, Frau Andreae, angesprochen





Ingo Egloff


(A) (C)



(D)(B)


haben, in Ihrem Antrag, ich nenne es einmal so: ein biss-
chen unterbelichtet. Industrie ist unseres Erachtens nicht
alte Wirtschaft. Industrielle Beschäftigung und Wert-
schöpfung haben dazu geführt, dass Deutschland besser
durch die Krise gekommen ist als andere Länder.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Klaus Breil [FDP]: Dank der Regierung!)


Industrielle Innovation ist auch der Schlüssel zum Er-
folg bei Ressourceneinsparung und Energieeffizienz und
kann mit dazu beitragen, die Klimaschutzziele weltweit
zu befördern. Das ist eine echte Win-win-Situation.

Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, die Wirt-
schaft nachhaltiger und klimafreundlicher zu gestalten.
Diese Debatte lohnt. Insofern kann das nur ein erster
Auftakt sein.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720117900

Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Dr. Martin

Lindner das Wort.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Martin Lindner (FDP):
Rede ID: ID1720118000

Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Lie-

ber Herr Kollege Egloff, aus Ihren Worten und auch aus
Ihrem Gesicht sprachen so deutlich wie nie zuvor die
ganze Frustration, Depression und Traurigkeit der Oppo-
sition, dass es Deutschland in wirtschaftlicher Hinsicht
so gut wie nie zuvor gegangen ist.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Nie so wenig Arbeitslosigkeit, nie so viel Zuwachs,
gerade im Binnenbereich, aber auch im Export, Lohnzu-
wächse, wie wir heute gelesen haben, gerade im unteren
Segment: Es macht Sie wirklich traurig, dass Sie keinen
wirklichen Ansatzpunkt für Ihre Kritik haben, sondern
sich an so einem lächerlichen Hokuspokus abarbeiten
und solchen Schimären nachjagen, wie Sie das gerade
getan haben.

Dem schließt sich auch dieser Antrag an. Frau Kolle-
gin Andreae, Sie wollten mit den Forderungen Ihres An-
trags die Wirtschaftskraft stärken. Sie beginnen mit ei-
nem ökologischen Umbau. Statt zu sagen: „Wir können
an der einen oder anderen Stelle etwas weiterentwickeln,
was in diesem Land erfolgreich ist“, wollen Sie gleich
umbauen. In Wahrheit wollen Sie nicht einen wirtschaft-
lichen Umbau, einen ökologischen Umbau haben, son-
dern einen wirtschaftlichen Abbau bewirken. Das ist der
zentrale Punkt Ihres Antrags.


(Beifall bei der FDP – Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das machen Sie!)


Sie schreiben zum Beispiel davon, umweltschädliche
Subventionen abbauen zu wollen. In diesem Zusammen-
hang wagen Sie es, uns den Begriff „Lobbypolitik“ vor-
zuhalten. Wenn wir auf der anderen Seite hier Debatten
über die Energiepolitik führen, haben Sie überhaupt kein
Problem damit, dass aus der Opposition von SPD und
Grünen gleich drei Eurosolar-Lobbyisten aufmarschie-
ren und deutlich machen, dass sie gar keine Volksvertre-
ter sind, sondern pure Lobbyisten in diesen Fragen.
Dann sollten Sie sich mit diesen Worten wirklich deut-
lich zurückhalten. Das sage ich Ihnen an dieser Stelle
ganz deutlich.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Außerdem wollen Sie nachhaltige Finanzmärkte
schaffen. Dabei wollen Sie eine „Größenbremse für Ban-
ken einführen“. Herrschaften, wie viele Großbanken ha-
ben wir denn eigentlich in Deutschland? 80 Prozent der
deutschen Banken sind Genossenschaftsbanken, Spar-
kassen oder Landesbanken, an denen der Staat beteiligt
ist.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Die machen einen guten Job!)


Hinzu kommt die teilverstaatlichte Commerzbank. Dann
bleiben noch 20 Prozent übrig. Die Hälfte davon sind
Kleinstbanken oder private Banken. Dann gibt es noch
die Deutsche Bank. Dann schreiben Sie doch gleich in
Ihren Antrag hinein, dass Sie das einzige große deutsche
Bankinstitut auch noch abschaffen wollen. Für eine
Volkswirtschaft mit dieser Bedeutung ist dies aber deut-
lich zu wenig. Es geht nicht nur mit Sparkassen und Re-
gionalbanken, meine Damen und Herren. Das sage ich
Ihnen an dieser Stelle auch ganz deutlich.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dass wir das europäisch denken müssen, haben Sie schon noch drauf?)


Ihr Antrag enthält aber auch gute Ansätze. Dabei
möchte ich mich dem Kollegen Pfeiffer anschließen. Mit
Ihrer Forderung nach einer steuerlichen Forschungsför-
derung und einem besseren Zugang zu Wagniskapital
kämpfen Sie mit uns gemeinsam dafür, dass wir Spiel-
räume erarbeiten, dass wir an anderen Stellen kürzen
können, um diese wichtigen Projekte durchsetzen zu
können.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann hört auf mit Betreuungsgeld und Hotelsteuer!)


Dabei kann man auch etwas gemeinsam machen. Dazu
lade ich Sie ein.


(Beifall des Abg. Dr. Heinz Riesenhuber [CDU/CSU])


Das geht aber natürlich nicht mit solchen Schaufens-
teranträgen.


(Ingo Egloff [SPD]: Wenn Sie etwas so Qualifiziertes zustande bringen würden, würden wir uns freuen!)






Dr. Martin Lindner (Berlin)



(A) (C)



(D)(B)


Wenn Sie es mit diesem Antrag ernst meinten, dann wür-
den Sie darauf hinwirken, dass dieser Antrag im Aus-
schuss beraten wird. Aber einen so umfangreichen An-
trag hier vorzustellen und zur sofortigen Abstimmung zu
stellen, zeigt, dass Sie gar keine ernsthafte Debatte füh-
ren wollen, sondern dass Sie hier irgendetwas für Ihre
Klientel machen wollen. Mit seriöser Politik hat das aber
nichts zu tun.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir hatten bereits jeden einzelnen dieser Punkte als Antrag im Ausschuss!)


Es fehlen zentrale Punkte und Punkte, denen Sie sich
in Ihrer Partei stellen müssen.


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Keine Ratschläge von 3 Prozent!)


Erstens meine ich damit die Infrastrukturprojekte. Dabei
müssen Sie sich einmal zu Projekten bekennen – auch
wenn die Kugeln pfeifen –, die für die Fortentwicklung
und den Bestand dieser Industriegesellschaft eminent
sind. Das sind Projekte im Straßenverkehr, im Schienen-
verkehr und im Flugverkehr.

Wenn Sie der Meinung sind, es müsse überall restrik-
tiv und einschränkend vorgegangen werden – hier keine
Startbahn, da keine Schienen, hier keine Autobahnver-
bindung, wobei Sie wegen 2 Kilometern Autobahn sogar
eine Koalition nicht eingehen –, dann erklären Sie doch
bitte auf der anderen Seite den Leuten, dass die Realisie-
rung dieser ökologischen Politik mit erheblichen und
dramatischen Einbußen des Wohlstands dieses Landes
einhergeht.

Sagen Sie den Leuten, dass heute in einem Super-
markt etwa 10 000 Produkte verfügbar sind. Sagen Sie
ihnen, dass in den 70er- und 80er-Jahren noch 700 bis
800 Produkte verfügbar waren. Sagen Sie ihnen, dass es
sich nur noch Bestverdiener leisten können, in Feinkost-
läden einzukaufen, wenn Sie das realisieren, was Sie
realisieren wollen, Normalbürger an diesen Wohlstands-
errungenschaften aber nicht mehr teilhaben. Sagen Sie
den Leuten, dass Fliegen dann nur noch für Topverdie-
ner möglich ist, wie dies in den 50er- und 60er-Jahren
der Fall war. Sagen Sie ihnen, dass Mallorca dann nicht
mehr drin ist. Sagen Sie den Leuten die Wahrheit. Dies
ist manchmal besser, als es in Ihrem Soziologendeutsch
immer wieder zu verklausulieren.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Worauf Ihr Ansinnen hinausläuft und was Ihre wich-
tigsten Fragen sind, das erwähnen Sie am Anfang Ihres
Antrags – dies ist der ökologische Umbau – sowie am
Ende Ihres Antrags. Am Ende Ihres Antrags fallen aber
nur noch Schlüsselworte, die Sie für wichtig halten, die
aber nichts mit Wirtschaftspolitik zu tun haben: Gleich-
stellungsgesetz für die Privatwirtschaft, Geschlechter-
quote, Benachteiligungen, Mindestlohn, Mitbestimmung
und Equal Pay. In irgendwelchen sozialpolitischen An-
trägen mag das alles richtig sein. Sie erheben aber hier
den Anspruch, Wirtschaftspolitik zu betreiben. Das hat
mit Wirtschaftspolitik aber nichts zu tun. Das ist eine Art

Antimaterie zur Wirtschaftspolitik, meine Damen und
Herren.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Das lehnen wir ab. Mit uns wird es kein Programm
geben, das absichtlich zu Rezession in diesem Land
führt. Davon haben wir eine durchaus andere Vorstel-
lung.

Der letzte Punkt: Wenn Sie wirklich einen Eindruck
davon bekommen wollen, was die Menschen in den klei-
nen Betrieben, den Familienbetrieben zurzeit bedrückt,
dann reden Sie mit ihnen über Ihre Lieblingsprojekte
Vermögensteuer und Vermögensabgabe. Dann kriegen
Sie einen Eindruck davon, was gerade Familienunter-
nehmen, Schlosserbetriebe, Schreinerbetriebe und an-
dere Handwerke davon halten, weil sie genau wissen
– das können Sie gerade in Frankreich studieren –: Wer
glaubt und postuliert, er würde den Reichen ans Fell ge-
hen, wie Herr Hollande in unserem Nachbarland, der
kriegt aus der Millionärsteuer einen Ertrag von 250 Mil-
lionen Euro. Die Leute lesen das, und sie wissen genau,
dass es bei solchen Sachen nicht um Millionäre geht,
sondern dass einem ganz normalen Mittelständler und
der Mittelschicht das Fell über die Ohren gezogen wer-
den soll. Darum geht es, und darüber werden wir auch
im kommenden Jahr die Auseinandersetzung sehr inten-
siv führen, meine Damen und Herren.

Wir stehen für Fortschritt. Wir stehen für Wachstum.
Wir wollen, dass Deutschland weiter stark bleibt. Sie
haben genau das Gegenteil vor. Dagegen werden wir
kämpfen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720118100

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der

Kollegin Kerstin Andreae vom Bündnis 90/Die Grünen
das Wort.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie hat doch schon gesprochen!)



Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720118200

– Das ist richtig. Ich habe schon gesprochen. Aber ich

muss einen Punkt weit von mir weisen.

Sie hatten den Herrn Kollegen Egloff angesprochen,
es dann aber auf die Opposition insgesamt bezogen. Sie
haben gesagt, die Opposition würde sich freuen, wenn es
der Wirtschaft und den Menschen schlecht geht. Das
finde ich unglaublich. Wir alle sind Parlamentarier und
nehmen unsere Verantwortung und unsere Arbeit sehr
ernst. Eine Hauptaufgabe unserer Arbeit ist, dass wir
versuchen, zum Besten der Menschen, der Wirtschaft,
der Gesellschaft und der Umwelt zu handeln. Genau dies
tun wir und nehmen es für uns in Anspruch.

Deswegen bin ich erstens überhaupt nicht bereit und
weise es auf das Vehementeste von mir, wenn Sie uns in
der Opposition alleine oder in Gänze vorwerfen, dass





Kerstin Andreae


(A) (C)



(D)(B)


wir uns freuen würden, wenn es irgendjemandem
schlecht geht, um dann unsere Politik erklären zu kön-
nen. Das weise ich auf das Allerschärfste von mir.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Zweitens will ich Ihnen sagen: Es ist doch nicht un-
sere Erfindung, dass wir uns in einem Strukturwandel
befinden und dass diese Regierung keine Antworten auf
diesen Strukturwandel hat. Der Ifo-Index ist zum sechs-
ten Mal in Folge gefallen. Die DIHK-Unternehmensum-
frage belegt verschlechterte Geschäftsaussichten. Die
Herbstprognose aus dem Hause Ihres Wirtschaftsminis-
ters Rösler musste wiederum nach unten korrigiert wer-
den. Entschuldigung, hat das die Opposition erfunden,
oder sind das Zahlen aus Studien und Untersuchungen
oder aus dem Wirtschaftsministerium? Es sind Belege
dafür, dass sich der Wind dreht.

Wir fordern ein, dass Sie auf diesen Wandel reagie-
ren, aber das tun Sie nicht. Das werfen wir Ihnen vor.
Das hat überhaupt nichts mit Freude über irgendetwas zu
tun, sondern das ist eine klare Analyse und Einforderung
von Handeln.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720118300

Herr Kollege Lindner zur Erwiderung.


Dr. Martin Lindner (FDP):
Rede ID: ID1720118400

Frau Kollegin Andreae, ich unterstelle weder Ihnen

noch der gesamten Opposition, dass Sie sich freuen wür-
den, wenn es Menschen schlechter geht.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben Sie doch eben gesagt!)


– Nein. Das müssen Sie im Protokoll nachlesen. Dann
werden Sie sehen, dass ich sagte: Ihre Verzweiflung da-
rüber, dass Sie keinen richtigen Ansatz finden, dieser
Regierung wirtschaftspolitisches Versagen vorzuwerfen,


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was? Jeden Tag!)


ist Ihr Problem. Wir haben jeden Tag Zahlen, von denen
Sie, als Sie regierten, geträumt hätten.


(Ingo Egloff [SPD]: Trotz dieser Regierung, nicht wegen!)


Sie hatten maximale Arbeitslosigkeit. Sie hatten maxi-
male Inflation. Das ist das, was Sie als rot-grüne Bun-
desregierung seinerzeit zusammengebracht oder auch
zusammengestümpert haben.

Natürlich verzweifeln Sie daran, dass selbst in einer
Abschwungphase, die eine ganz normale zyklische
Entwicklung darstellt, Erfolgsmeldungen kommen, etwa
dass Deutschland einer der attraktivsten Investitions-
standorte geworden ist und dass es in einem wachsenden
Prozess auch gelungen ist, beispielsweise Exportdefizite,

die wir im europäischen Bereich haben, im außereuropä-
ischen Bereich auszugleichen. Das sind Erfolgsmeldun-
gen. Ich rede nicht von Gutachten. Sie finden immer ein
paar griesgrämige Gutachten zu allem.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein Gutachten des Wirtschaftsministeriums!)


Sie müssen sich vielmehr an die volkswirtschaftlichen
Daten und an die echten Fakten und Zahlen halten statt
an das, was Ihnen Ihre Hausgutachter aufgeschrieben
haben. Das ist der entscheidende Punkt.

Sie müssen versuchen, in einer solchen Phase etwas
konstruktiver an die Dinge heranzugehen. Dass Sie jedes
Mal repetieren, dass die SPD ihren Anteil hatte, 2002
und 2003, als sie allmählich ihre Agenda-Politik machte,
ist schon peinlich. Es sind zehn Jahre verstrichen, und
jetzt – daran verzweifeln Sie natürlich – kriegen Sie
nichts mehr zustande. Jetzt machen Sie genau das
Gegenteil der Agenda-Politik. Sie wollen all das wieder
abräumen, was damals mit eine Ursache für die heutige
Situation gelegt hat. Sie sagen immer wieder: Das alles
hat mit der schwarz-gelben Regierung nichts zu tun. Das
waren alles wir, 2003. – Dass Sie es damals in den 50er-
Jahren des letzten Jahrhunderts mit Ihren programmati-
schen Entwicklungen waren, die die Grundlagen gelegt
haben, das werden Sie uns demnächst auch noch vorhal-
ten.


(Ingo Egloff [SPD]: Müssen wir nicht! Sie sind nicht mehr dabei!)


Die Wahrheit ist doch, dass es, seitdem diese Regie-
rung im Amt ist, Deutschland in wirtschaftlicher Hin-
sicht gut geht. Ich lade Sie herzlich ein, mit uns um noch
bessere Lösungen zu ringen – wie beispielsweise bei der
steuerlichen Forschungsförderung oder beim Wagnis-
kapital. Aber lassen Sie dieses lächerliche und unglaub-
würdige Kassandragerufe! Das hat keinen Sinn. Das
glaubt Ihnen auch keiner. Versuchen Sie, Ihre wirt-
schaftsfeindliche Politik im Zaum zu halten! Sie stellen
auf der einen Seite einen Kandidaten auf,


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er antwortet aber schon gar nicht mehr!)


der meint, mit Wirtschaftspolitik reüssieren zu können,
und auf der anderen Seite machen Sie genau das Gegen-
teil. Versuchen Sie erst einmal, Kandidat und Programm
zusammenzubringen! Dann reden wir hier über vernünf-
tige Programme weiter.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720118500

Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort die Kol-

legin Ulla Lötzer.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(D)(B)



Ursula Lötzer (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720118600

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Ach, wis-

sen Sie, Herr Lindner, mit den Exporterfolgen heften Sie
sich vor allem die Ergebnisse der Wirtschaftspolitik der
Regierungen Chinas, Lateinamerikas und anderer Staa-
ten als Ihre Erfolge an die Brust. Wenn der Abschwung
kommt, dann waren es wahrscheinlich die Märkte oder
sonst wer, aber nicht Sie. So simpel geht es einfach
nicht.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Frau Andreae, Sie haben recht, wenn Sie – im Gegen-
satz zu Herrn Lindner – sagen, dass wir einen grundle-
genden Wandel der Wirtschaft brauchen. Dazu gehören
auch Verteilungsgerechtigkeit und Chancengerechtigkeit
für alle; so schreiben Sie. Die Art, wie und was wir
arbeiten und wie wir wirtschaften, muss sich ändern. Na-
türlich brauchen wir auch, Herr Egloff, Maßnahmen zur
Stabilisierung der wirtschaftlichen Lage.

Herr Pfeiffer und Herr Lindner, genauso richtig ist,
dass Sie in dieser Hinsicht restlos versagen. „Stagna-
tion“ oder „Stillstand“ wäre ja noch ein Lob für das, was
Sie tun. Auf alle Herausforderungen hat Ihr Wirtschafts-
minister, Herr Rösler, nur eine Antwort: „Der Markt
wird es richten“, statt den Wandel in Industrie und
Dienstleistungsbereich tatsächlich politisch zu gestalten.


(Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: Die Zeit der Planwirtschaft ist vorbei!)


Armut und Armutslöhne werden von Ihnen zemen-
tiert und ausgeweitet. Das und nichts anderes haben die
Debatten über Minijobs und Rente gezeigt. Sie blockie-
ren die Energiewende, weil Sie die Kosten für die Ver-
braucherinnen und Verbraucher hochtreiben und die
Hand über die großen Vier halten, statt dezentrale Ener-
gieerzeugung, kleine und mittlere Ansätze, Genossen-
schaften und anderes zu stützen.


(Beifall bei der LINKEN)


Frau Andreae, auch wenn wir viele Forderungen und
Aspekte in dem von Ihnen vorgelegten Antrag teilen,
muss ich ein paar Tropfen Wasser in den Wein gießen.
Das betrifft vor allem: Gute Arbeit für alle. „Nach
30 Jahren Deregulierung liegt der Arbeitsmarkt in totaler
Unordnung, prekäre Beschäftigung und der Niedriglohn-
sektor nehmen zu“, schreibt der DGB in seinem Papier.
Sie aber weigern sich nach wie vor, den Bruch mit der
Agenda 2010 zu vollziehen.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auf jeden Fall!)


Es war Ihre Politik, die zur Ausweitung von Niedriglöh-
nen, Leiharbeit und Minijobs geführt hat.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deswegen muss man es korrigieren!)


Hartz IV hat Armut und Zukunftsängste vorangetrieben.
Bis heute verweigern Sie die Rücknahme der Rente mit 67,


(Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist auch richtig!)


obwohl das Rentenkürzungen und Altersarmut voran-
treibt. Angstfreiheit im Wandel sieht anders aus.

Statt immer mehr Reichtum für wenige wollen wir ein
gutes Leben für alle.


(Beifall bei der LINKEN)


Das geht nur mit Umverteilung von Vermögen, Arbeit
und Einkommen.

Auf europäischer Ebene stützen SPD und Grüne die
Bundesregierung bei ihren Kürzungsprogrammen, die
die Menschen in Armut und Massenarbeitslosigkeit
treiben und die Krise verschärfen. Ein ökologisches
Investitionsprogramm für Europa ist richtig, aber nicht
zusätzlich zu Kürzungsprogrammen, sondern statt
Kürzungsprogrammen.


(Beifall bei der LINKEN)


Gerade für Europa wären Festlegungen für einen neuen
sozialen Ausgleich und soziale Grundrechte wichtig.
Das fehlt mir bei Ihnen leider völlig.

Bei Herrn Lindner bleibt die Demokratie vor den
Werkstoren stehen. Das hat er mit dem, was alles seiner
Meinung nach nicht zur Wirtschaftspolitik gehört, deut-
lich gemacht.

Frau Andreae, ich meine, auch bei Ihnen kommt die
Frage der Demokratisierung von Wirtschaft und Gesell-
schaft zu kurz. Sie sagen zwar, die betriebliche Mitbe-
stimmung müsse gestärkt werden. Ich glaube aber, das
reicht nicht aus. Für die große Idee eines großen
Wandels braucht man viele Ideen zur direkten Bürger-
und Bürgerinnenbeteiligung und zur Ausweitung von
Demokratie innerhalb und außerhalb des Betriebs und
auch gegenüber der Wirtschaft.


(Beifall bei der LINKEN)


Bei diesen Punkten müssen Sie noch nachsitzen. Erst
dann wird aus dem Wandel tatsächlich ein grundsätzli-
cher sozialer und ökologischer Erneuerungswandel.

Danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720118700

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt

erteile ich das Wort dem Kollegen Andreas Lämmel von
der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Andreas G. Lämmel (CDU):
Rede ID: ID1720118800

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Wenn man sich den Antrag anschaut, dann stellt
man fest, dass das im ersten Moment ganz gut klingt.
Die Überschrift ist wie immer gut designt. Aber beim
genaueren Hinschauen fällt sofort auf: viele Zustandsbe-
schreibungen, langatmig geschrieben, Allgemeinplätze,
die jeden Tag in jeder Zeitung zu lesen sind.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Keine Noten hier verteilen, Herr Lämmel! Alles, was recht ist! Geht’s noch?)






Andreas G. Lämmel


(A) (C)



(D)(B)


Sie zählen eine Menge Dinge auf, Frau Andreae, die
längst erledigt sind.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein!)


Ich stelle mir manchmal die Frage, ob Sie im Wirt-
schaftsausschuss gar nicht anwesend sind, ob Sie den
Diskussionen dort nicht folgen können


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch!)


oder ob Sie vielleicht die Beschlüsse, die wir im Wirt-
schaftsausschuss schon gefasst haben, überhaupt nicht
verinnerlicht haben.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bringen Sie einmal Beispiele!)


Ein weiterer Punkt fällt mir bei den Grünen immer
mehr auf, nämlich dass Sie sich immer weiter von dem
Thema soziale Marktwirtschaft verabschieden. Ihnen
geht es im Wesentlichen um staatlichen Dirigismus, um
Planwirtschaft und vor allen Dingen um die Gängelung
der Unternehmen hier in Deutschland.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Beispiele!)


Von unternehmerischer Freiheit, unternehmerischer Mo-
tivation und den Fähigkeiten deutscher Unternehmer
kann ich in Ihrem Antrag nichts lesen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Echt nicht? Dann würde ich ihn noch einmal lesen!)


Eine Überraschung gibt es trotzdem, Frau Andreae,
nämlich weil in Ihrem Antrag steht – das habe ich von
Ihnen noch nie gehört –: „Es gibt keine gute oder
schlechte Industrie.“ Das ist ja einmal eine neue Er-
kenntnis. Das ist richtig toll.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Können Sie mal sehen!)


Denn wir haben früher immer genau gehört: Sie unter-
scheiden zwischen den Guten und den Schlechten. Die
Schlechten müssen weg, damit im Prinzip die Guten üb-
rig bleiben.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben immer nur behauptet, dass wir das tun!)


Die chemische Industrie, die Automobilindustrie und
vor allem die Grundstoffindustrie waren für Sie ständig
rote Tücher.

Wenn man diesen Absatz weiterliest, kommt der
entlarvende Satz: „Diese klassische Klientelpolitik auf
Druck einflussreicher Lobbys geht zu Lasten unserer
Zukunft.“ Ich erinnere mich noch genau an die Diskus-
sionen über das Erneuerbare-Energien-Gesetz, Frau
Andreae, in der die Lobbyisten der Solarindustrie, der
Windindustrie und weiterer Bereiche aufmarschierten
und die Novellierung des Erneuerbare-Energien-Geset-
zes verhindert haben. Selbst in Ihrer Partei und auch bei
der SPD ist man doch mittlerweile schon längst so weit,

zu erkennen, dass das EEG so, wie wir es heute haben, in
die Irre führt und klar zulasten der Zukunft geht, weil es
den Menschen enorme finanzielle Mittel aus der Tasche
zieht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Nun noch zu einigen konkreten Punkten: Das Thema
Ressourceneffizienz ist kein Thema, das die Grünen in
die politische Diskussion geworfen haben, sondern
Ressourceneffizienz bewegt uns alle. Aber da fordern
Sie wieder die Handhabe des Staates. Sie wollen
Verbrauchsobergrenzen einführen. Sie wollen eine Preis-
gestaltung für Energie und Rohstoffe in Form einer so-
zial-ökologischen Steuerreform.

Sie sollten gelegentlich wieder einmal ein Unterneh-
men besuchen und nachschauen, was deutsche Unter-
nehmer selbst unternehmen, um hohen Rohstoffpreisen
und hohen Energiekosten zu begegnen. Sie setzen näm-
lich von selbst auf Ressourceneffizienz und Energieeffi-
zienz. Als Staat muss man die Wirtschaft nicht ständig
mit neuen Verordnungen und Gängelungen dahin brin-
gen, sondern jeder Unternehmer, der im globalen Wett-
bewerb überleben will, muss das von sich aus machen.
Deswegen brauchen wir die Anträge der Grünen dazu
nicht.

Sie haben auch die Rohstoffstrategie der Bundes-
regierung überhaupt nicht gelesen und haben auch nicht
verstanden, worum es in der Rohstoffstrategie überhaupt
geht.

Dann zum Thema Innovationen: Das ist das wich-
tigste Feld für die deutsche Wirtschaft; denn ohne Inno-
vationen wird man im globalen Wettkampf nicht beste-
hen können. Sie kritisieren in Ihrem Antrag, dass kleine
und mittlere Unternehmen von der Förderung nicht pro-
fitieren. Wo sind wir denn? Sie haben offensichtlich die
Haushaltsverhandlungen in der letzten Woche nicht mit-
bekommen. Dass Sie gegen den Haushalt und damit
auch gegen die Mittel für kleine und mittlere Unterneh-
men gestimmt haben, sei einmal dahingestellt. Offen-
sichtlich haben Sie aber nicht mitbekommen, was sich in
den letzten Jahren getan hat. Es gibt das Zentrale Inno-
vationsprogramm Mittelstand. Es geht hier nicht um die
Großindustrie, wie Sie es in Ihrem Antrag suggerieren.
Wenn Sie mit Unternehmern sprechen, dann stellen Sie
fest, dass alle sagen, dass das Programm, das nach dem
Konjunkturpaket II auf ganz Deutschland ausgeweitet
wurde, das unbürokratischste und das technologie-
offenste ist, das es bisher in der Bundesrepublik
Deutschland gegeben hat. Dies ist doch ein toller Erfolg.

Schauen wir uns einmal die Zahlen an. Seit 2005,
Frau Andreae, seit die Grünen also in die Opposition ge-
gangen sind – das hat sich offensichtlich positiv ausge-
wirkt –, haben sich die Fördermittel, die direkt an die
KMU gegangen sind, mehr als verdoppelt, von einstmals
400 Millionen Euro auf über 1 Milliarde Euro. Dieses
Geld wurde in Innovationen, neue Produkte und neue
Verfahren gesteckt.

Meine Damen und Herren, der Antrag, in dem die
Grünen uns suggerieren wollen, dass sie etwas von Wirt-





Andreas G. Lämmel


(A) (C)



(D)(B)


schaftspolitik verstehen, ist ein Rohrkrepierer; das muss
man so sagen. Er ist das Papier nicht wert, auf dem er
geschrieben steht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Hätten Sie sich das geschenkt, hätten Sie dem Deutschen
Bundestag mindestens 50 Kilo Papier erspart und hätten
damit zur Ressourcenschonung in der Welt beigetragen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720118900

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/11162
mit dem Titel „Wirtschaft im Umbruch – Wandel ökolo-
gisch, sozial und europäisch gestalten“. Wer stimmt für
diesen Antrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der
Antrag ist abgelehnt mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen und der Fraktion Die Linke bei Zustimmung
von Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der SPD.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Techno-
logie zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel
„Chancen nutzen – Vorsorgende Wirtschaftspolitik jetzt
einleiten“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/8642, den Antrag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/8346 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-
empfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Ko-
alitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke gegen die
Stimmen der SPD-Fraktion bei Enthaltung von Bünd-
nis 90/Die Grünen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Stärkung der deutschen Finanzaufsicht

– Drucksachen 17/10040, 17/10252 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses (7. Ausschuss)


– Drucksache 17/11119 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Ralph Brinkhaus
Manfred Zöllmer
Björn Sänger
Dr. Gerhard Schick

Hierzu liegen ein Änderungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen sowie ein Entschließungsantrag
der Fraktion der SPD vor. Über den Gesetzentwurf wer-
den wir später namentlich abstimmen.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Peter Aumer von der CDU/CSU-Frak-
tion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Peter Aumer (CSU):
Rede ID: ID1720119000

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Gesetzent-
wurf, den wir heute in zweiter und dritter Lesung ab-
schließend beraten, kommen wir ein großes Stück in Sa-
chen Stärkung unseres Finanzsystems und der Ver-
braucherschutzinteressen in der Bundesrepublik Deutsch-
land voran.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Wer es glaubt, wird selig!)


Die Finanzkrise hat uns deutlich gemacht, dass das Auf-
sichts- und Regulierungssystem in Deutschland, in
Europa und in der Welt nicht ausreichend war; denn
Fehlentwicklungen und systemische Risiken wurden zu
spät oder gar nicht erkannt. Wir von der christlich-libera-
len Koalition haben uns daher seit Ausbruch der Krise
umfangreich mit der Stabilisierung, der Regulierung und
der Aufsicht über die Finanzmärkte auseinandergesetzt.
In dieser Legislaturperiode haben wir hier im Deutschen
Bundestag bereits knapp 20 Gesetze zur Bändigung und
Regulierung des Banken- und Finanzsektors auf den
Weg gebracht.


(Beifall bei der CDU/CSU – Bettina Hagedorn [SPD]: Hat doch alles nichts gebracht!)


– Ich komme gleich noch zu Ihnen. – Neun weitere Ge-
setze sind in Arbeit und stehen kurz vor dem Abschluss.
Auf europäischer Ebene kommen etwa 70 Gesetzesini-
tiativen seit Anfang der Krise hinzu.

Angesichts des Einwurfs der SPD-Kollegin, es habe
alles nichts genutzt, komme ich auf den Vorschlag Ihres
Kanzlerkandidaten zu sprechen, der ein fulminantes
Konzept der Finanzmarktregulierung angekündigt hat.
Was sich jedoch dahinter verbirgt, ist eine Blase von
Maßnahmen, die bereits umgesetzt sind oder die sich auf
deutscher oder europäischer Ebene in der Umsetzung be-
finden.


(Zuruf von der SPD: Auf europäischer Ebene?)


Ich glaube, hier sollte sich die SPD zurückhalten. Wenn
das alles ist, was Ihr Kanzlerkandidat in petto hat, dann
kann ich nur sagen: Armes Deutschland!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die christlich-liberale Koalition arbeitet verlässlich
an einer an Stabilität orientierten Finanzmarktregulie-
rung und vor allem daran, dass die Finanzmarktregulie-
rung nach den Grundsätzen der sozialen Marktwirtschaft
funktioniert. Unser Bundesminister Wolfgang Schäuble
ist ein verlässlicher Partner für eine effektive und strin-
gente Regulierung der Finanzmärkte. Vor kurzem hat er
bei einem Interview mit einer Zeitung Folgendes gesagt:





Peter Aumer


(A) (C)



(D)(B)


… ganz ohne Regeln und Grenzen geht es auch mit
Finanzmärkten nicht. Die zerstören sich selbst,
wenn sie keine Grenzen haben.

Das ist in der sozialen Marktwirtschaft unsere Aufgabe:
Regelungen auf den Weg zu bringen und Grenzen zu set-
zen, in denen sich die Banken und Kreditinstitute bewe-
gen können.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Mit dem Gesetz, dessen Entwurf vorliegt, stärken wir
die deutsche Finanzaufsicht und setzen weiterhin einen
effektiven Regulierungsrahmen für die Finanzmärkte. In
diesem Gesetzentwurf werden verschiedene Punkte ab-
gearbeitet. Die Verbesserung der Aufsichtsstruktur ist
dabei ein wesentlicher Aspekt. Mit einem Ausschuss für
Finanzstabilität, der eingerichtet werden soll und der
analog zu dem auf europäischer Ebene tätigen Aus-
schuss für Systemrisiken arbeitet, versuchen wir, ge-
meinsam die makroprudenzielle Aufsicht zu verbessern,
die Stabilität des Finanzsystems zu überwachen und
rechtzeitig vor Gefahren betreffend die Finanzmärkte zu
warnen.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Bezahlungsstruk-
tur der BaFin. Auch hier halten wir es für wichtig,
marktorientiert zu arbeiten und die Beamtinnen und Be-
amten entsprechend zu entlohnen.

Ich habe es bereits angesprochen: Auch der Verbrau-
cherschutz findet seine Berücksichtigung in diesem Ge-
setzentwurf. So soll ein Verbraucherbeirat installiert
werden. Erstmals wird auch ein Beschwerdeverfahren in
das Gesetz aufgenommen, das die Beziehungen zwi-
schen Kunden und Verbraucherschutzorganisationen re-
gelt.

Das Gesetz zur Stärkung der deutschen Finanzauf-
sicht zeigt, dass die christlich-liberale Koalition die Leh-
ren aus der Finanzmarktkrise gezogen und eine effektive
und schlagkräftige Aufsicht und Regulierung auf den
Weg gebracht hat. Deutschland leistet damit einen wich-
tigen Beitrag zur Regulierung der Finanzmärkte auf eu-
ropäischer und internationaler Ebene.

Ich habe ein weiteres Zitat von unserem Bundes-
finanzminister gelesen, das mir sehr gut gefallen hat; es
entstammt einer Rede, die er bei einem Kongress des
Handelsblatts gehalten hat. Dieses Zitat zeigt fünf we-
sentliche Punkte auf, die für die Finanzmarktregulierung
wichtig sind. All diese Punkte, meine sehr geehrten Da-
men und Herren der Opposition, haben wir umgesetzt.
Sie sollten dazu beitragen, dass wir hier gemeinsam vo-
rankommen. Die fünf Punkte lauten:

Wir wollen die Transparenz der Märkte und Pro-
dukte erhöhen. Wir wollen der Haftung wieder Gel-
tung verschaffen. Wir wollen die Verursacher an
den Kosten der Krise beteiligen. Wir wollen das
Finanzsystem insgesamt krisenfester machen. Und
wir wollen fünftens eine durchsetzungsstärkere
Aufsicht.

Dies haben wir versprochen, und das halten wir nun
mit dem vorliegenden Gesetzentwurf. Deswegen bitte
ich Sie, dem Gesetzentwurf zuzustimmen, sodass wir in

Deutschland weiterhin den Herausforderungen der
Finanzmarktregulierung begegnen können.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720119100

Für die SPD-Fraktion sprich jetzt der Kollege

Manfred Zöllmer.


(Beifall bei der SPD)



Manfred Zöllmer (SPD):
Rede ID: ID1720119200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lieber Herr Aumer, im vierten Jahr der Krise sollte es ei-
gentlich ein bisschen mehr als nur ein „Wir wollen“ sein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Da sollte man dann schon auf die Ergebnisse schauen.

Letzte Woche gab es im Europäischen Rat eine Ver-
ständigung, einen rechtlichen Rahmen für eine europäi-
sche Finanzaufsicht bis zum Ende dieses Jahres aufzu-
stellen. Dann soll im Laufe des nächsten Jahres die
Bankenaufsicht auf europäischer Ebene stufenweise in
Betrieb genommen werden.

Jetzt lassen Sie uns einmal gemeinsam einen Blick
auf den vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Re-
form der deutschen Finanzaufsicht werfen. Es soll zum
1. Januar 2013 in Kraft treten, also zu einem Zeitpunkt,
da es bereits einen Rechtsrahmen für eine europäische
Aufsichtsstruktur gibt. Wir sollen also nach dem Willen
der Koalition die deutsche Finanzaufsicht reformieren,
die im nächsten Jahr auf die europäische Ebene verlagert
wird. Mit Verlaub, ich weiß wirklich nicht, was das soll.
Wir werden, nein, wir müssen deshalb den vorliegenden
Gesetzentwurf ablehnen, denn mit diesem Gesetzent-
wurf wird das Thema, um das es geht, eindeutig verfehlt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir haben deshalb in unserem Entschließungsantrag ge-
fordert, diesen Gesetzentwurf zurückzuziehen und sich
intensiv um eine vernünftige europäische Lösung zu
kümmern.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Das haben wir letzte Woche schon entschieden! Das ist ein bisschen spät!)


Das ist auch wirklich notwendig. Aber die Koalitions-
fraktionen sind offensichtlich nicht bereit, diesem
Thema die nötige Aufmerksamkeit zu widmen. Wir ha-
ben das mit dem Entschließungsantrag erlebt, der aus der
Hüfte gekommen, hier vorgelegt und dann verabschiedet
worden ist.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Wir sind wie John Wayne! Wir treffen aus der Hüfte!)


– Herr Kollege Brinkhaus, für das, was Sie unter „tref-
fen“ verstehen, habe ich zwei gute Beispiele. Schauen
wir doch nur einmal Ihren Antrag zur europäischen Ban-





Manfred Zöllmer


(A) (C)



(D)(B)


kenunion an. Was steht darin? Sie fordern die Bundesre-
gierung auf, dafür zu sorgen, dass es einen Zugriff, eine
Regulierung auf europäischer Ebene nur bei den großen,
international tätigen Banken gibt. Jetzt blicken wir ein-
fach auf die letzte Woche zurück. Was hat denn die
Kanzlerin vereinbart? Sie finden in dieser Vereinbarung
nichts von einer Beschränkung. Es ist völlig klar, dass
die EZB in Zukunft Zugriff auf über 6 000 europäische
Banken hat. So viel vielleicht zum Schießen und Treffen
aus der Hüfte. Leider haben Sie danebengeschossen.


(Beifall bei der SPD)


Die Bundeskanzlerin hat sich nicht durchsetzen können,
und das wird natürlich ganz erhebliche Auswirkungen
auf die deutsche Aufsichtsstruktur haben. Wie, wissen
wir noch nicht genau. Aber gerade deshalb macht es ja
keinen Sinn, jetzt in einem Gesetzentwurf Regelungen
für eine Struktur zu treffen, die wir überhaupt nicht ken-
nen.

Dann gibt es einen weiteren Punkt. Sie haben gefor-
dert, dass nach wirksamer Einführung der Bankenauf-
sicht sich die Banken beim ESM nur dann refinanzieren
können, wenn sie sozusagen besenrein sind, wenn sie
keine Schulden haben. Dies wird – wenn ich mir die Er-
gebnisse vom letzten Donnerstag anschaue – ebenfalls
nicht der Fall sein.


(Beifall bei der SPD)


Dann lesen wir die Presse und sehen: Herr Brüderle


(Zuruf von der CDU/CSU: Ein guter Mann!)


bewertet das als „ein gutes Ergebnis für die Bundes-
regierung“. Herr Brinkhaus, ich frage Sie: Wenn das ein
gutes Ergebnis ist, wie sieht dann eigentlich ein schlech-
tes Ergebnis aus?


(Beifall bei der SPD)


Hier versucht Herr Brüderle, einfach nur schönzureden,
was eine eindeutige Niederlage für die Koalitionsfraktio-
nen ist. Schauen Sie noch einmal in Ihren Antrag!

Ein weiterer Punkt, warum wir den Gesetzentwurf ab-
lehnen müssen, ist Ihr Umgang mit dem Verbraucher-
schutz. Herr Aumer, es ist nicht so, dass Sie hier, bezo-
gen auf den Verbraucherschutz, neue Standards setzen.
Sie weigern sich, den kollektiven Verbraucherschutz ex-
plizit als Aufsichtsziel für die BaFin gesetzlich zu veran-
kern. Daran wird deutlich, wie Sie Verbraucherschutz
bewerten, nämlich als etwas, was völlig nachrangig ist.
Dies können und wollen wir angesichts der Ereignisse,
die wir alle gemeinsam beklagen, nicht akzeptieren.


(Beifall bei der SPD)


Zusammenfassend kann man nur sagen: Thema ver-
fehlt, zur Strafe bitte einen neuen Gesetzentwurf vorle-
gen!


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Da kommt der Lehrer wieder durch! Wir sollen nachsitzen!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720119300

Für die FDP-Fraktion spricht jetzt der Kollege Björn

Sänger.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Björn Sänger (FDP):
Rede ID: ID1720119400

Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Während der

Finanzkrise haben wir festgestellt: Das Vertrauen ist
weg, und an Kontrolle mangelte es. Deshalb hat diese
Regierungskoalition schon zu Beginn ihrer Tätigkeit im
Koalitionsvertrag festgelegt, dass wir die nationale
Finanzaussicht reformieren wollen. Wir hatten hier
ursprünglich eine andere Lösung vorgesehen; das ist
richtig. Aber der Erkenntnisgewinn hat dann schlussend-
lich zu einer guten Lösung geführt; diese liegt vor.

Herr Zöllmer, man kann natürlich darüber streiten, ob
es Sinn macht, so lange abzuwarten, bis auf EU-Ebene
irgendetwas reguliert wird. Aber ich sage Ihnen eines:
Es wird auch in Zukunft eine nationale Aufsicht geben,
und da ist es doch besser – zumindest aus unserer Sicht –,
wenn die nationale Aufsicht gut aufgestellt ist. Mögli-
cherweise ist die Lösung, die wir heute höchstwahr-
scheinlich mit großer Mehrheit beschließen werden, eine
Blaupause für eine europäische Regelung; es wäre nicht
das erste Mal.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Während der Finanzkrise sind einige Probleme offen-
bar geworden: Wir haben Mängel bei der Verzahnung
der makro- und der mikroprudenziellen Aufsicht festge-
stellt. Die Globalsicht und die Unternehmenssicht müs-
sen zusammengeführt werden. Das tun wir mit dem Aus-
schuss für Finanzstabilität. Wir institutionalisieren die
Zusammenarbeit von BaFin und Bundesbank und geben
der Bundesbank hier auch neue Analysetools an die
Hand, wobei uns an dieser Stelle auch wichtig ist – ich
betone dies noch einmal –, dass zunächst auf entspre-
chende Daten zugegriffen wird, die schon vorhanden
sind, und die Bundesbank hier nicht wahllos weitere Da-
ten zum Beispiel bei Versicherungsunternehmen erhebt.

Wir haben im Ausschuss für Finanzstabilität – auch
das ist uns wichtig – alle drei Säulen der Finanzbranche,
also Wertpapiere, Versicherung und Banken, erfasst, so-
dass wir hier wirklich eine umfassende Finanzstabilität
sicherstellen können.

Des Weiteren haben wir die Unabhängigkeit der Auf-
sicht klargestellt, indem wir den Verwaltungsrat entspre-
chend reformieren und dort die Lobbyverbände heraus-
nehmen. Wir beseitigen damit ein Konstrukt, Herr
Zöllmer, für das Ihr Finanzminister Hans Eichel verant-
wortlich ist. Man kann natürlich sagen: Wer die Chose
bezahlt, der soll auch im Verwaltungsrat mitbestimmen.
Aber mir persönlich ist nicht bekannt, dass der ADAC in
irgendeinem Verwaltungsrat des TÜV sitzt, und die
Autofahrer zahlen die entsprechenden Überwachungsge-
bühren auch vollkommen allein. Es sieht einfach
schlecht aus, wenn die Finanzlobby hier im Verwal-
tungsrat vertreten ist. Dies haben wir geregelt, indem wir





Björn Sänger


(A) (C)



(D)(B)


die zehn bislang von den Verbänden benannten Vertreter
auf sechs unabhängige Vertreter zurückfahren. Drei sol-
len auf Vorschlag der betreffenden Verbände – hier ist
wichtig, dass alle drei Säulen berücksichtigt werden –
hineinkommen und weitere drei über ein Anhörungs-
recht.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Dann kommen die ja doch rein!)


– Nein, es kommen unabhängige Experten hinein. Aber
man hört natürlich die entsprechenden Branchenver-
bände an, ob diese Experten auch über ausreichend
Expertise verfügen. Das ist im Verwaltungshandeln
vollkommen normal.

Des Weiteren haben wir den Verbraucherschutz ge-
stärkt, indem wir ein Beschwerdeverfahren institutiona-
lisiert und einen Verbraucherbeirat eingerichtet haben.
Damit geben wir der BaFin Möglichkeiten an die Hand,
strukturelle Defizite im Finanzvertrieb zu erkennen;
denn die BaFin ist dafür da, strukturelle Defizite und
Probleme, die möglicherweise institutionalisiert sind, zu
erkennen. Die Aufgabe der BaFin ist es nicht, eine Art
Finanz-Stasi zu sein, die Produkten und einzelnen Bera-
tern hinterherläuft, um Einzelfallentscheidungen zu tref-
fen. Dafür ist sie personell auch gar nicht aufgestellt.
Wir wissen, dass derzeit eine Menge Stellen nicht be-
setzt sind. Wir ändern die Besoldung, um marktfähig zu
werden.

Ich fasse zusammen: Wir haben die Zusammenarbeit
zwischen BaFin und Bundesbank institutionalisiert. Wir
haben damit eine strukturelle Qualitätsverbesserung in
der Allfinanzaufsicht in Deutschland erreicht und stabili-
sieren damit das System.

Wir stärken des Weiteren die Unabhängigkeit der
BaFin, indem wir die Lobbyverbände aus dem Verwal-
tungsrat herausnehmen. Das steigert das Vertrauen in die
Aufsicht in Deutschland. Wir stärken den Verbraucher-
schutz durch entsprechende Beschwerderechte und einen
Verbraucherbeirat.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, dieser Ge-
setzentwurf ist ein weiterer Beleg dafür, dass die Bun-
desregierung alles dafür tut, dass wir hier in Deutschland
ein stabiles Finanzsystem haben und die Trümmer aus
rot-grüner Vergangenheit, die wir vorgefunden haben,
beseitigen. Dieses Gesetz ist vorbildlich. Dem kann man
zustimmen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720119500

Jetzt hat das Wort der Kollege Dr. Axel Troost von

der Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Axel Troost (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720119600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Diejenigen, die sich vielleicht nicht mit dem Thema aus-
kennen, merken, dass wir hier heute eine Paralleldiskus-

sion führen. Eine Diskussion dreht sich um den Gesetz-
entwurf, der schon seit Mitte des Jahres diskutiert wird,
aber jetzt in vielen Bereichen obsolet geworden ist, weil
eine Bankenunion geschaffen werden soll, eine andersar-
tige europäische Bankenaufsicht. Wir führen hier eine
Debatte über drei Vorlagen und somit drei unterschiedli-
che Diskussionen.

Ich will zuerst etwas zur Frage der Bankenunion sa-
gen. Gestern war Herr Draghi zu Besuch, und ich habe
ihn gefragt – leider habe ich keine Antwort bekommen –,
ob er ernsthaft glaubt, dass die Europäische Zentralbank
6 000 bis 8 000 europäische Banken beaufsichtigen
kann. Das kann sie nicht – das ist völlig klar –, aber
trotzdem fährt der Zug im Augenblick immer noch in
diese Richtung. In der Tat ist nicht erkennbar, dass sich
die Bundesregierung diesem Prozess wirklich wider-
setzt. Im Augenblick sieht es so aus, als ob zum 1. Ja-
nuar 2013 zuerst nur die systemrelevanten Banken dran
sind und danach, bis Ende nächsten Jahres, eben andere
hinzukommen sollen. Das ist für uns völlig inakzeptabel.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Manfred Zöllmer [SPD])


Ich will in diesem Zusammenhang nur einmal darauf
hinweisen: Wir in Deutschland waren und sind stolz auf
die Allfinanzaufsicht, aber sehen da noch Schwierigkei-
ten. Wir brauchen eine Organisationsuntersuchung bei
der BaFin, weil wir wissen, dass die Verschränkungen
zwischen Banken und Versicherungen immer noch nicht
genug in den Blick genommen werden, dass es da noch
Fehler gibt. Wenn man all dies in einem europäischen
Prozess zur EZB verlagert, haben wir wieder nur eine
Bankenaufsicht und nicht mehr die Allfinanzaufsicht.
Das wäre ein Riesenproblem; das ist für meine Begriffe
nicht akzeptabel.


(Beifall bei der LINKEN)


Ein zweiter Punkt, der ganz wichtig ist, betrifft nicht
die Organisation, sondern den Inhalt der Aufsicht. Da
stellen wir fest, dass der Inhalt der Aufsicht vor dem
Hintergrund dessen, was notwendig wäre, nach wie vor
völlig unzureichend ist. Der ganze Bereich der Schatten-
banken, also derjenigen Institute, die über Geld in Billio-
nenhöhe verfügen, aber nicht dem Kreditwesengesetz
unterworfen sind, wird nach wie vor nicht kontrolliert.
Geschäftsmodelle von Banken werden nach wie vor
nicht zur Disposition gestellt. Das bleibt völlig unzurei-
chend und kann aus unserer Sicht so nicht bleiben, son-
dern muss unbedingt angegangen werden.

Der letzte Punkt betrifft den Änderungsantrag der
Grünen, dem wir zustimmen werden, und die Frage des
Verbraucherschutzes. Ich muss sagen: Ich halte es schon
für eine Zumutung, dass die FDP von einer Finanz-Stasi
spricht, wenn man versucht, Zockerprodukte, die nach
wie vor auf dem Markt sind, auszumachen und zu ver-
bieten.

Das, was von der Bundesregierung vorgelegt wird,
sorgt für einen sehr schwachen finanziellen Verbraucher-
schutz; es entspricht bei weitem nicht dem, worüber dis-
kutiert wurde. Wir haben gesagt: Wir brauchen eine Art
Finanzwächter, die gemeinsam mit Vertretern des Ver-





Dr. Axel Troost


(A) (C)



(D)(B)


braucherschutzes die Märkte beobachten. Wir brauchen
letztlich so etwas wie einen Finanz-TÜV. Dann brauchen
wir nämlich auch keine sogenannte Finanz-Stasi. Denn
Finanz-TÜV heißt in diesem Fall: Es gibt nur Geschäfts-
modelle und Produkte, die vorher genehmigt worden
sind. Nicht alles ist so lange erlaubt, bis es irgendwann
einmal verboten ist, und bevor wir überhaupt ein ent-
sprechendes Gesetz verabschieden können, haben
Anwaltskanzleien schon wieder ein Alternativprodukt
erfunden.

Das alles wird mit diesem Gesetz nicht geregelt. Inso-
fern ist zu befürchten, dass in den nächsten Wochen noch
sehr viel Hektik auf uns zukommt, wenn es um die euro-
päische Ebene geht. Mit diesem Gesetz wird man dem
aber noch nicht einmal in Ansätzen gerecht.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Manfred Zöllmer [SPD])



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720119700

Für Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege

Dr. Gerhard Schick.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Immer der Gleiche! – Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Die haben nur einen!)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei
wenigen Gesetzentwürfen der Bundesregierung ist der
Unterschied zwischen dem, was einmal gesagt worden
ist, und dem, was jetzt auf dem Tisch liegt, so groß wie
hier; ich finde es gut, dass Kollege Sänger das offen an-
gesprochen hat. Ich will klarmachen, was das bedeutet.

In sehr vielen Debatten zur Finanzkrise über Monate
und Jahre hinweg hat die FDP-Fraktion behauptet, dass
die Arbeitsteilung zwischen BaFin und Bundesbank, wie
sie unter Rot-Grün entstanden ist, ein großes Defizit
darstellt. Nach einem Prozess des Nachdenkens stellen
Sie fest, dass wir damals die richtige Struktur geschaffen
haben, und deswegen wollen Sie sie beibehalten. Das
muss einmal festgehalten werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Weil die Zeit knapp ist, möchte ich auf die für uns
zentrale Schwäche des Gesetzentwurfes eingehen, ob-
wohl es viele andere Punkte gibt, die wir im Ausschuss
ebenfalls thematisiert haben. Es geht um die Frage: Ist
die Finanzaufsicht in Deutschland nur dafür da, sich um
die Stabilität der Institute zu kümmern? Sollte ihre zen-
trale Aufgabe nicht auch darin bestehen, die Kunden als
Gruppe vor Fehlverhalten von Banken, Versicherungen
und Fonds zu schützen? Was macht die Koalition? Völ-
lige Fehlanzeige!

Lassen Sie mich durch zwei, drei internationale Ver-
gleiche deutlich machen, was passiert. In Frankreich
nutzt die Finanzaufsichtsbehörde das Beschwerdema-
nagement aktiv, um herauszufinden, was los ist. In

Deutschland lässt man diesen Bereich verkümmern, man
streicht sogar noch Stellen. In Großbritannien wird eine
neue Finanzaufsichtsbehörde, die Financial Conduct
Authority, geschaffen, die die Erlaubnis hat, Finanzpro-
dukte zu verbieten und sofort vom Markt zu nehmen.
Genau das wäre auch in Deutschland nötig, aber das
wollen Sie nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die SEC in den USA kann Sammelklagen initiieren. Sie
kann die Finanzinstitute auch dazu zwingen, Schadener-
satz an die Anleger zu zahlen, zum Beispiel für Zertifi-
kate, die die Citibank vertrieben hat. Warum erhält nicht
auch eine Aufsichtsbehörde in Deutschland die Möglich-
keit, die Kunden so zu schützen, wie das in anderen Län-
dern der Fall ist? Warum muss es so sein, dass der Anle-
ger, der Kunde auf dem Finanzmarkt in Deutschland so
viel schlechter geschützt ist als in anderen Ländern? Das
sehen wir nicht ein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Wir haben in die Beratungen im Ausschuss einen
Änderungsantrag zum Gesetzentwurf eingebracht, der
zum Ziel hat, das Aufgabenfeld der Aufsicht zu erwei-
tern. Die BaFin soll auch für Kundinnen und Kunden
zuständig sein. Sie haben das abgelehnt. Da sieht man,
bei wem in diesem Haus Kundinnen und Kunden in gu-
ten Händen sind, nämlich beim Bündnis 90/Die Grünen
und nicht bei dieser Koalition.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen des Abg. Olav Gutting [CDU/CSU])


Jetzt legen wir Ihnen einen Änderungsantrag vor.
Kollege Sänger hat gesagt: Vertrauen ist gut, Kontrolle
ist besser. – Zu Beginn dieser Legislaturperiode hat die
Ministerin für Ankündigungen und leere Drohungen,
Ilse Aigner, viel über Testkäufe gesprochen. Sie haben
das sogar in den Haushaltsplan der BaFin eingestellt.
Auf Kleine Anfragen konnten wir erfahren, was Sie
Großartiges vorhaben. Auch die Sprecherin des Finanz-
ministeriums hat 2010 noch gesagt: Das bereiten wir
ganz konkret vor. – Inzwischen ist keine Rede mehr da-
von. Auch die Haushaltsansätze enthalten keine entspre-
chende Position. Als es um die Kontrolle der Beratungs-
qualität ging, haben Sie den Mund sehr voll genommen.
Sie liefern aber nichts. Deswegen legen wir Ihnen jetzt
einen Änderungsantrag vor, der die gesetzliche Grund-
lage für Testkäufe schaffen soll. Wir intendieren damit
nicht, den Berater zu kontrollieren. Das Entscheidende
ist, dass wir falsche Vertriebsstrukturen und provisions-
orientierte Fehlberatung beseitigen. Die BaFin soll die
Möglichkeit bekommen, das zu unterbinden, weil
Falschberatung die Kundinnen und Kunden in Deutsch-
land jedes Jahr Milliarden kostet. Das muss beendet wer-
den.

Danke.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720119800

Das Wort hat jetzt der Kollege Ralph Brinkhaus von

der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ralph Brinkhaus (CDU):
Rede ID: ID1720119900

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir ver-

abschieden hier heute ein Gesetz, mit dem die Aufsichts-
strukturen und der Verbraucherschutz in Deutschland ver-
bessert werden.


(Zuruf von der SPD: Schön wäre es!)

Mit diesem Gesetz werden übrigens auch – darüber hat
bisher noch keiner gesprochen – die Vergütungsstruktu-
ren innerhalb der BaFin verbessert,


(Manfred Zöllmer [SPD]: Doch! Doch! Doch!)


damit wir gute Leute für diese Arbeit finden und die gu-
ten Leute, die dort arbeiten, gehalten werden können.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dieser Gesetzentwurf wurde von der Opposition kriti-

siert. Ich fange mit dem Kollegen Zöllmer an, der sich
ein bisschen widersprochen hat. Er hat gesagt: Warum
macht ihr dieses Gesetz eigentlich? Auf europäischer
Ebene passiert da doch so viel. – Okay. Das würde aber
bedeuten: keine Verbesserung der Vergütungsstruktur
bei der BaFin und kein verbesserter Verbraucherschutz.
Dann würden wir auch nicht so etwas Sinnvolles wie den
Stabilitätsrat einführen, der hier in Deutschland schauen
soll, ob es systemische Risiken gibt – Stichwort „Immo-
bilienblase“ –, ob es Probleme bei Versicherungen, Bau-
sparkassen oder mit Mittelstandskrediten gibt. Herr
Zöllmer, ich hielte das für fahrlässig.

Zweiter Punkt. Es wird kritisiert, dass wir uns von der
ursprünglichen Ankündigung, eine integrierte Aufsicht
bei einem Institut anzusiedeln, also eine Art Kombina-
tion aus Bundesbank und BaFin einzurichten, verab-
schiedet haben. Das ist richtig. Das war ein langer Er-
kenntnisprozess. Durch all die Probleme, die jetzt
dadurch auf uns zukommen, dass bei der EZB genau das
gemacht werden soll – es geht um die Trennung von
Geldpolitik und Aufsicht; damit sind Fragen der Unab-
hängigkeit und der Abgrenzung verbunden –, sind wir
doch eigentlich nur bestätigt worden. Viele Probleme
sind also nicht gelöst, und deswegen lösen wir die Pro-
bleme, die wir hier in Deutschland lösen können, und
zwar jetzt sofort. Genau das machen wir mit diesem Ge-
setzentwurf.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Dann wurde das Thema Verbraucherschutz angespro-
chen. Wir werden gleich feststellen, dass es diesbezüg-
lich einen kleinen Wertungswiderspruch zwischen Herrn
Zöllmer, der dieses Gesetz nicht haben will, und Frau
Tack gibt – sie wird nach mir für die SPD sprechen –, die
sagt: Wir brauchen noch viel mehr Verbraucherschutz im
Rahmen der BaFin.

Der Kollege Schick hat angeführt, dass es klasse in-
ternationale Beispiele gibt, beispielsweise die Financial

Conduct Authority, die zeigt, wie in Großbritannien Ver-
braucherschutz gemacht wird. Im Handelsblatt steht in
dieser Woche ein schönes Zitat des designierten Chefs
der Financial Conduct Authority: Wir sorgen dafür, dass
die richtigen Finanzinstitute die richtigen Produkte über
die richtigen Vertriebswege an die richtigen Kunden ver-
kaufen. – Da kann ich nur noch brechen. Das ist eine un-
glaubliche Geschichte. Das ist totalitärer Paternalismus.
Das ist ein Rückfall in sozialistische Zeiten. Heute
schreiben sie uns vor, welche Finanzprodukte richtig
sind, morgen schreiben Sie uns vor, was wir zu essen ha-
ben, und übermorgen, was wir zu reden haben. Das wer-
den wir nicht dulden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei Abgeordneten der SPD)


Man muss doch einmal schauen, was für ein Menschen-
bild dahintersteht. Das ist nicht unser Menschenbild.

Wenn man dann noch so tut, lieber Kollege Schick,
als wenn in den Bereichen Verbraucherschutz und Auf-
sicht nichts gemacht worden wäre, dann zeigt das nur,
dass die Grünen nicht wahrgenommen haben, was in den
letzten drei Jahren gemacht worden ist. In den letzten
drei Jahren ist nämlich eine ganze Menge gemacht wor-
den.

Wenn Sie dann auch noch behaupten, dass der kollek-
tive Verbraucherschutz bei der Bundesanstalt für Finanz-
dienstleistungsaufsicht nicht verankert ist, dann zeugt
das schlichtweg von einer Fehlwahrnehmung. Die Bundes-
anstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht hat das öffent-
liche Interesse zu wahren. Das ist kollektiver Verbrau-
cherschutz. Insofern ist dieses Gesetz eine Klarstellung,
eine Erweiterung und gut und richtig.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Die ganze Diskussion, die wir über diesen Gesetzent-
wurf führen, zeigt das ganze Elend der Opposition in den
letzten drei Jahren. Es wird nur kritisiert, nach mehr Da-
ten gefragt, genörgelt, problematisiert und gesagt, wor-
über man sonst noch alles diskutieren könnte. In der
Zeit, in der Sie sich hier am Herumnörgeln ergötzt ha-
ben, haben wir Folgendes gemacht: Wir haben europäi-
sches Recht umgesetzt, und wir haben viele deutsche
Gesetze auf den Weg gebracht.

Nur eine kleine Auswahl dessen, was wir gemacht ha-
ben: Wir haben die Vergütungsstrukturen reguliert; da
haben wir geliefert. Regulierung der Ratingagenturen:
Da haben wir geliefert. Regulierung der Großkredite: Da
haben wir geliefert. Regulierung der Verbriefungen: Da
haben wir geliefert. Regulierung des grauen Kapital-
markts: Auch da haben wir geliefert. Neuordnung der
nationalen Finanzaufsicht: Da haben wir geliefert. Neu-
ordnung der europäischen Finanzaufsicht: Auch da ha-
ben wir geliefert. Bankenrestrukturierungsgesetz: Da ha-
ben wir geliefert, und zwar als erstes Land in Europa und
in der Welt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Beteiligung der Banken an den Kosten der Krise: Wer
hat die Bankenabgabe eingeführt? Wir waren es. Wir ha-
ben reguliert. Wir haben geliefert.





Ralph Brinkhaus


(A) (C)



(D)(B)



(Widerspruch bei Abgeordneten der SPD)

Wir können die Liste noch weiterführen. Neuordnung

der Eigenkapital- und Liquiditätsregeln für Banken: Wir
haben geliefert. Wir warten auf die europäische Umset-
zung. Das Zeug steht auf der Rampe und muss nur abge-
holt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Neuordnung der Versicherungsaufsicht, Solvency II:
Auch dazu haben wir einen Gesetzentwurf vorgelegt und
warten auf die europäische Endfassung von Regelungen.
Auch da haben wir geliefert. Auch das steht auf der
Rampe und kann abgeholt werden. Auch da haben wir
geliefert.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Es gibt gar nicht so viel Redezeit für den Kollegen Brinkhaus, wie er braucht!)


Das Ganze geht noch weiter. Denn wir haben nicht
nur geliefert, sondern wir sind auch in der Produktion.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD)

Wir werden nächste Woche einen Vorschlag zur Umset-
zung der europäischen Richtlinie zur stärkeren Regulie-
rung der OTC-Derivatemärkte vorlegen, dieses großen
Finanzmarktbereiches, der uns allen so viel Sorgen be-
reitet. Nächste Woche ist die erste Lesung. Auch da wer-
den wir liefern.


(Zurufe von der SPD: Oh!)


Hochfrequenzhandel: Das ganze Projekt wird noch
vor der Winterpause von uns vorgelegt werden. Auch da
werden wir liefern. Regulierung der alternativen Invest-
mentfonds: Auch da werden wir liefern. Auch da wird
etwas vorgelegt werden. Ich könnte die Liste noch stun-
denlang weiterführen.

Fakt ist: Wir haben bei der Finanzmarktregulierung
geliefert, und zwar nicht nur heute mit diesem Gesetz-
entwurf, sondern auch schon in der Vergangenheit. Ihr
großer Regulierer, der hier in den letzten drei Jahren
kaum vertreten war – ich sehe ihn auch gerade jetzt
nicht; wahrscheinlich ist er wieder anderweitig unter-
wegs –, führt nur große Worte im Mund.

Insofern kann ich nur zu einem auffordern: Nörgeln
Sie nicht an diesem Gesetzentwurf herum! Machen Sie
es besser oder stimmen Sie heute zu!

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720120000

Das Wort hat jetzt die Kollegin Kerstin Tack von der

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Kerstin Tack (SPD):
Rede ID: ID1720120100

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Herr Brinkhaus, Ihre Rede war relativ laut. Da Sie
von Elend gesprochen haben: Ja, auch das war relativ
elend.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich will sagen: Sie haben völlig recht. Ich betrachte
das, was wir hier heute beschließen sollen, aus verbrau-
cherpolitischer Sicht. Es entspricht, wenn man Ihnen und
der FDP glauben soll, nicht einmal ansatzweise dem,
was Frau Aigner als Ministerin und die Kollegen aus der
Regierungskoalition versprochen haben, als sie im Koali-
tionsvertrag eine effizientere Aufsicht angemahnt haben.
Wir wollen, dass Verbraucherschutz explizit als Ziel der
Finanzaufsicht festgeschrieben wird. Wir wollen nicht,
dass er nur in der Begründung eines Gesetzentwurfes
steht, sondern wir wollen, dass er als Ziel in einem Ge-
setz festgeschrieben wird.


(Beifall bei der SPD)


Herr Schick, machen Sie es nicht zum Alleinstel-
lungsmerkmal der Grünen.


(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Okay!)


– Okay. – Dieses Ziel muss fest definiert werden. Diese
Auffassung eint uns;


(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber bei Herrn Steinbrück fehlt der Verbraucher!)


daher sollten wir uns nicht gegenseitig die Show stehlen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie können uns gar keine Show stehlen!)


Wir in der Opposition sind uns sehr einig, dass dieses
Ziel festgeschrieben werden muss.

Wir sind uns auch sehr einig in dem Punkt, dass wir
die Finanzaufsicht dadurch stärken können, dass wir ihr
einen Finanzmarktwächter zur Verfügung stellen. Es
geht um die Stärkung der Verbraucherzentralen, die ge-
nau das tun sollen, was sie am besten können: Sie sollen
beraten. Sie sollen zusammentragen. Sie sollen informie-
ren. Sie sollen aber ihre Erkenntnisse auch an die Auf-
sichtsbehörden geben können, damit Aufsichtsbehörden
tätig werden müssen.


(Beifall bei der SPD)


Genau dafür treten wir ein. Wir sehen, dass die BaFin
auch im Interesse des Verbraucherschutzes tätig werden
muss. Wir sind uns sicher – zumindest in den Opposi-
tionsreihen –, dass ein Finanzmarktwächter eine sinn-
volle, hilfreiche und gelingende Ergänzung zur staatlichen
Marktaufsicht ist.


(Beifall bei der SPD)


Der Verbraucherbeirat, der hier schon mehrfach posi-
tiv erwähnt wurde, wird ausschließlich in der Gesetzes-
begründung genannt und hat keinerlei Rechte, weder In-
formations- noch Anhörungsrechte. Wir wollen mehr.


(Beifall bei der SPD)


Ferner wollen wir, dass die blinden Flecken endlich
beseitigt werden. Wir wollen, dass alle, auch die freien
Finanzvermittler und künftig auch die Honorarberater,
unter die Aufsicht der BaFin fallen. Auch das wäre in Ih-





Kerstin Tack


(A) (C)



(D)(B)


rem Sinne, würden Sie Ihren Koalitionsvertrag ernst
nehmen.


(Beifall bei der SPD)


Zur Frage von Testkäufern wurde von der Grünen-
Fraktion ein eigener Antrag eingebracht. Auch wir wol-
len Testkäufer, und wir stehen damit nicht allein: Noch
Anfang des Jahres hat die Verbraucherministerin, Frau
Aigner, landauf, landab gefordert, dass die BaFin Test-
käuferinnen und Testkäufer einsetzt.


(Beifall der Abg. Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Bis heute gibt es solche Testkäufer nicht. Die Ministerin
kann sich nicht verteidigen: Sie ist nicht da. Heute würde
sie wahrscheinlich anders reden. Aber das war ihre For-
derung, diese Forderung hat sie Anfang des Jahres ge-
stellt. Heute will die Koalition davon nichts mehr wis-
sen. Auch das hat etwas mit Elend zu tun.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Sehr geehrte Damen und Herren, wenn wir heute die-
sen Gesetzentwurf ablehnen, dann hat das viele Gründe,
nicht nur den Verbraucherschutzgrund. Es hat explizit
auch den Grund, dass wir aus Europa etwas zu erwarten
haben. Wir regeln besser dann, wenn wir wissen, was auf
uns zukommt.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720120200

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Stärkung der deutschen Finanzaufsicht.

Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/11119, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung, Drucksachen 17/10040 und
10252, in der Ausschussfassung anzunehmen.

Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/11172 vor, über
den wir zuerst abstimmen. Zu diesem Änderungsantrag
hat die Fraktion der Grünen namentliche Abstimmung
beantragt. Anders als ursprünglich aufgeführt, ist der
Antrag auf namentliche Abstimmung zum Änderungsan-
trag der Grünen gestellt worden.

Damit es hier keine Missverständnisse gibt, sage ich
es noch einmal: Wir stimmen in namentlicher Abstim-
mung über den Änderungsantrag der Grünen ab. Das
heißt, Sie müssen anders abstimmen, als es ursprünglich
vorgesehen war.

Damit das ganz klar ist, wiederhole ich es zum dritten
Mal: Es gibt einen Änderungsantrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
hat beantragt, dass über ihren Änderungsantrag nament-
lich abgestimmt wird. Das heißt, wer für den Änderungs-
antrag der Grünen ist, muss mit Blau stimmen, wer dage-
gen ist, muss mit Rot stimmen. Ich hoffe, dass es jetzt
jeder verstanden hat. Auf Wunsch würde ich es auch ein
viertes Mal wiederholen.

Sind die Schriftführerinnen und Schriftführer auf ih-
ren Plätzen? – Ich eröffne die Abstimmung und bitte, die
Stimmkarten einzuwerfen.

Haben alle Kolleginnen und Kollegen ihre Stimmkar-
ten eingeworfen, oder gibt es Kolleginnen und Kollegen,
die das noch nicht getan haben oder die noch Entschei-
dungshilfe benötigen? – Nein. Wenn alle Kolleginnen
und Kollegen ihre Karten eingeworfen haben, dann
schließe ich den Wahlgang.

Bevor wir fortfahren können, müssen wir selbstver-
ständlich das Ergebnis abwarten. Ich möchte gleich da-
rauf hinweisen, dass wir nachher über den Gesetzent-
wurf nicht namentlich abstimmen, sondern, wie üblich,
durch Handzeichen und in dritter Lesung durch Erheben
vom Platz.

Ich unterbreche die Sitzung, bis das Ergebnis der na-
mentlichen Abstimmung vorliegt.


(Unterbrechung von 18.17 bis 18.24 Uhr)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720120300

Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.

Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, Platz zu neh-
men.

Ich gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen und
Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen
Abstimmung zu dem Änderungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen zu dem Entwurf eines Gesetzes
zur Stärkung der deutschen Finanzaufsicht bekannt: ab-
gegebene Stimmen 560. Mit Ja haben gestimmt 123, mit
Nein haben gestimmt 313, Enthaltungen 124. Der Ände-
rungsantrag ist abgelehnt.

Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 558;
davon

ja: 123
nein: 311
enthalten: 124

Ja

SPD

Ulla Burchardt

DIE LINKE

Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dağdelen

Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke

Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jan Korte
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Stefan Liebich
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Cornelia Möhring





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Petra Pau
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Paul Schäfer (Köln)

Michael Schlecht
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Kathrin Vogler
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Jörn Wunderlich

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck (Bremen)

Volker Beck (Köln)

Birgitt Bender
Agnes Brugger
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz (Herborn)

Dr. Anton Hofreiter
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Stephan Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth (Quedlinburg)

Monika Lazar
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller (Köln)

Beate Müller-Gemmeke
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann E. Ott
Lisa Paus

Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth (Augsburg)

Krista Sager
Manuel Sarrazin
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Ulrich Schneider
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang Strengmann-

Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Arfst Wagner (Schleswig)

Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms

Nein

CDU/CSU

Peter Altmaier
Peter Aumer
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Manfred Behrens (Börde)

Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen


(Bönstrup)

Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer (Göttingen)

Dirk Fischer (Hamburg)


(Karlsruhe Land)

Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich


(Hof)

Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel

Ingo Gädechens
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung (Konstanz)

Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster

(Villingen Schwenningen)

Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach

Dr. Karl A. Lamers

(Heidelberg)


Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer (Altötting)

Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller (Erlangen)

Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann (Bremen)

Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche (Potsdam)

Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht (Weiden)

Anita Schäfer (Saalstadt)

Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt (Fürth)

Patrick Schnieder





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön (St. Wendel)

Dr. Kristina Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer

(Weil am Rhein)

Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl (Heilbronn)

Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel (Kleinsaara)

Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg (Hamburg)

Peter Weiß (Emmendingen)

Sabine Weiss (Wesel I)

Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-

Becker
Dagmar G. Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew

SPD
Rolf Hempelmann

FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine Aschenberg-

Dugnus
Daniel Bahr (Münster)

Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Marco Buschmann
Sylvia Canel

Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Hans-Werner Ehrenberg
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Joachim Günther (Plauen)

Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth (Kyffhäuser)

Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine Leutheusser-

Schnarrenberger
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner (Berlin)

Michael Link (Heilbronn)

Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller (Aachen)

Burkhardt Müller-Sönksen
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto


(Frankfurt)

Gisela Piltz
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Manfred Todtenhausen
Florian Toncar
Serkan Tören

Johannes Vogel

(Lüdenscheid)


Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)


Enthalten

SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding (Heidelberg)

Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Gabriele Fograscher
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf (Rosenheim)

Gabriele Groneberg
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann


(Wackernheim)

Wolfgang Hellmich
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz (Essen)

Frank Hofmann (Volkach)

Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe (Leipzig)

Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme

Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)

Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth (Heringen)

Marlene Rupprecht


(Tuchenbach)

Annette Sawade
Anton Schaaf
Axel Schäfer (Bochum)

Bernd Scheelen
Marianne Schieder


(Schwandorf)

Werner Schieder (Weiden)

Ulla Schmidt (Aachen)

Carsten Schneider (Erfurt)

Swen Schulz (Spandau)

Ewald Schurer
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff


(Wolmirstedt)

Uta Zapf
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries

DIE LINKE
Ralph Lenkert





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


Wir kommen nun zum Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung. Wer dem Gesetzentwurf zustimmen will,
den bitte ich um sein Handzeichen. – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Bera-
tung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Ge-
genstimmen von SPD und Grünen und Enthaltung der
Fraktion Die Linke angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zu-
stimmen will, möge sich erheben. – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit gleichem
Stimmenergebnis angenommen.

Wir setzen die Abstimmungen fort und kommen zu
dem Entschließungsantrag der SPD auf Drucksa-
che 17/11173. Wer stimmt für diesen Entschließungsan-
trag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der
Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen abgelehnt, gegen die Stimmen der SPD-
Fraktion und bei Enthaltung der Linken und der Grünen.

Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 10 auf:

Beratung der Antwort der Bundesregierung auf
die Große Anfrage der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Sören Bartol, Martin Burkert, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Zukunft des Mautkonzeptes in Deutschland

– Drucksachen 17/9623, 17/11098 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Ge-
genstimmen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be-
schlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Uwe Beckmeyer von der SPD-Frak-
tion das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Uwe Beckmeyer (SPD):
Rede ID: ID1720120400

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Der Sinn dieser Großen Anfrage der SPD-Bundes-
tagsfraktion war es, etwas über die Pläne der amtieren-
den Bundesregierung zur Zukunft des Mautkonzeptes in
Erfahrung zu bringen. Uns liegt nach sechs Monaten des
Wartens jetzt eine Antwort vor. Ich hoffe nur, dass sie
auch der Bundesverkehrsminister als Person gelesen hat.

In der Rubrik „Neues aus dem Sommerloch“ sind Sie,
Herr Minister, mit verschiedensten Initiativen fest ge-
bucht. Aber diesmal, denke ich, geht es um den jährli-
chen Ruf der CSU nach Einführung einer Pkw-Maut,
dem, so erscheint es mir, mit der Antwort der Bundes-
regierung zumindest für diese Legislaturperiode endgül-
tig eine Absage erteilt wird.

Es wird auch mit einer zweiten Mär aufgeräumt, die
Sie immer wieder in die deutschen Lande streuen, nach
der Melodie: Hätten wir doch eine Vignette, könnten wir
für eine Kompensation für inländische Autofahrer sor-
gen. Auch da heißt es in der Antwort der Bundesregie-
rung – nicht Ihres Hauses, sondern der gesamten

Bundesregierung –, dass dies einen Verstoß gegen das
europarechtliche Diskriminierungsverbot darstellen könnte.

Um es einmal klarzustellen: Auch hier haben Sie eine
kurzfristige mediale Lufthoheit gehabt; aber verantwort-
liche Politik sieht anders aus. Ich denke, eine verant-
wortliche Politik kümmert sich um die Finanzierung der
Infrastruktur in Deutschland. Das aber vermissen wir bei
Ihnen.


(Beifall bei der SPD)


Beenden Sie diese Geisterdebatten; sonst werden Sie ir-
gendwann einmal der letzte Pkw-Maut-Dino.

Was ich gut finde – allerdings nicht unter dem Ge-
sichtspunkt, dass Sie sich hier ein Hintertürchen offen-
halten –, ist, wenn Sie sagen: In meinem Hause gibt es
keine Denkverbote. – Ich bin der Meinung: Das ist schon
einmal gut. Entweder muss der Minister denken oder das
Haus. Aber wenn Sie Aufträge erteilen, dann bitte ich
um Folgendes:

Erstens. Lassen Sie doch einmal darüber nachdenken,
wie Sie die teilweise selbst verursachten enormen Min-
dereinnahmen durch das Mautmoratorium abstellen. Die
Addition der Mindereinnahmen von 2009 bis Mitte 2012
betragen überschlägig mehr als 500 Millionen Euro.
Hier ist Handlungsbedarf, Herr Minister. Darauf komme
ich noch zurück.

Zweitens. Lassen Sie doch bitte einmal darüber nach-
denken, wie Sie eine Lkw-Maut auf allen Bundes-, Lan-
des- und Gemeindestraßen mit welchem technischen,
mit welchem elektronischen System, ob nun mit Toll
Collect oder nicht, realisieren können.

Drittens. Lassen Sie doch einmal darüber nachden-
ken, mit welchen rechtlichen Vereinbarungen Sie nach
August 2015 mit Toll Collect oder anderen weiterarbei-
ten wollen.

Viertens. Lassen Sie doch einmal darüber nachdenken,
wie Sie und vor allem wann Sie endlich die durch die EU-
Wegekostenrichtlinie empfohlene Anrechnung externer
Kosten des Straßengüterverkehrs auch in Deutschland im
Rahmen der Nutzerfinanzierung einführen wollen. Aus-
weislich der Antwort der Bundesregierung auf die Große
Anfrage haben Sie über all das bisher nicht nachgedacht.
Denn auf unsere Frage, ob eine mögliche „Anlastung ex-
terner Kosten des Verkehrs Teil der Vertragsverhandlun-
gen mit der Mautbetreiberfirma“ war, antwortet die Bun-
desregierung mit einem schlichten Nein.

Was mich beim Lesen Ihrer Antworten fassungslos
gemacht hat, ist, dass Sie überhaupt keine Prognosezah-
len haben, was denn wäre, wenn zum Beispiel alle Stra-
ßen bemautet werden. Dazu gibt es in Ihrem Haus keine
Zahlen. Ich finde das abenteuerlich. Ich muss ganz ehr-
lich sagen: So wird die Fortentwicklung des Mautsys-
tems von Ihnen ausgebremst. Wenn Sie am Ende dieser
Legislaturperiode abtreten, sind das vier verlorene Jahre.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Sabine Leidig [DIE LINKE])


Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich komme
zum Schluss. Ich möchte an dieser Stelle die Koalition





Uwe Beckmeyer


(A) (C)



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wirklich darum bitten, im letzten Jahr vielleicht noch ein
wenig Kraft aufzubringen, um bei der Frage der Infra-
strukturfinanzierung endlich in die Spur zu kommen.
Die Ausweitung der Maut, ob auf andere Fahrzeugklas-
sen oder andere Strecken, ist bei Ihnen nicht gut aufge-
hoben. Die entsprechenden Voraussetzungen hierzu er-
füllen Sie nicht. Die Koalition hat die Fortentwicklung
des Mautsystems offenkundig gar nicht auf der Agenda.
Außerdem haben Sie keine Prognosen zur Mautauswei-
tung, kein Konzept und keine Idee für Kostengerechtig-
keit. Damit haben Sie im Grunde die Zukunftsfragen
dieser Republik in diesem Themenfeld missachtet. Grei-
fen Sie dem Minister endlich ins Steuer, sofern Sie das
noch können! Ansonsten fährt der Minister weiter in die
falsche Richtung.

Der ADAC spottet: Populismus bayerischer Provinz-
politik. – Das ist das Ergebnis und die Summe dessen,
was wir hier erfahren haben.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720120500

Das Wort hat jetzt der Kollege Karl Holmeier von der

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Karl Holmeier (CSU):
Rede ID: ID1720120600

Sehr verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen

und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Zunächst möchte ich betonen, dass im ersten Absatz der
Vorbemerkung der Großen Anfrage der SPD absolut zu-
treffende Feststellungen getroffen werden. Die deutsche
Verkehrspolitik steht vor gewaltigen Herausforderungen,
vor allem bei der Straßeninfrastruktur. Dies haben wir
allerdings schon zu Beginn der Legislaturperiode er-
kannt. Hierzu hätten wir keine Große Anfrage der SPD
gebraucht.


(Lachen beim Abg. Uwe Beckmeyer [SPD])


So heißt es bereits im christlich-liberalen Koalitions-
vertrag:

Erhalt sowie Neu- und Ausbau der Verkehrsinfra-
struktur sind weit hinter dem Bedarf zurückgeblie-
ben.

Wir meinen damit die Zeit, in der die SPD Regierungs-
verantwortung trug. Sie ziehen daher falsche Schlussfol-
gerungen in Ihrer Großen Anfrage, werte Kolleginnen
und Kollegen der SPD.


(Florian Pronold [SPD]: Wenn man Fragen stellt, zieht man keine Schlussfolgerungen!)


Es war Ihre Politik, die die heutigen Engpässe verursacht
hat. Es war die Politik der SPD-Verkehrsminister, die es
über zehn Jahre hinweg versäumt haben, sich um den Er-
halt der Bundesstraßen, der Bundesautobahnen und der
zahlreichen Brücken zu kümmern. Der CSU-Verkehrs-
minister Dr. Peter Ramsauer muss heute die Suppe aus-
löffeln, die die SPD ihm eingebrockt hat.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Zuruf von der SPD: Oh, der Arme!)


Doch anstatt sich in Ihrer Großen Anfrage wenigstens
in großer Demut zu üben, schieben Sie die Schuld ein-
fach auf die Bundesregierung. So einfach geht es nicht,
meine sehr verehrten Damen und Herren. Schuld an der
Misere ist nicht das Mautmoratorium. Schuld ist allein
die SPD.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lachen bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Um eines klarzustellen: Die christlich-liberale Koali-
tion steht hinter dem Mautmoratorium; denn wir haben
eine gesamtstaatliche Verantwortung gegenüber dem
Speditionsgewerbe in Deutschland. Die deutschen Spe-
diteure sind einem ungeheuer harten internationalen
Wettbewerb ausgesetzt. Ihre Gewinnmargen sind mini-
mal. Spielraum gibt es kaum. Wir alle in unserem Land
sind auf die deutschen Spediteure angewiesen, um die
Wirtschaft und die Bevölkerung mit Gütern zu versor-
gen. Die christlich-liberale Koalition hat deshalb be-
schlossen, die Lkw-Maut nicht weiter zu erhöhen.

Wenn Sie sich anschauen, wie sich das Mautmorato-
rium auf die Einnahmesituation des Bundes ausgewirkt
hat, so werden auch Sie erkennen, dass darin mit Sicher-
heit nicht der Grund liegt für den schlechten Zustand der
Straßen und Brücken in Deutschland.

Klar ist: Wir haben eindeutig zu wenig Geld für neue
Investitionen.


(Florian Pronold [SPD]: Was haben Sie denn in den letzten Jahren gemacht?)


– Ich sage es Ihnen gleich. – Deshalb haben die Ver-
kehrspolitiker der Koalition bereits im vergangenen Jahr
eine zusätzliche Milliarde erkämpft,


(Lachen bei Abgeordneten der SPD)


und auch für das kommende Jahr 2013 bin ich sehr zu-
versichtlich. Mit dem Finanzierungskreislauf Straße ha-
ben wir außerdem einen historisch wichtigen Schritt für
mehr Unabhängigkeit im Verkehrsetat getan. Einen wei-
teren wichtigen Schritt, meine sehr verehrten Damen
und Herren, könnten wir gehen, wenn wir uns auf ein-
heitliche europäische Regelungen einschließlich der Ein-
führung einer Pkw-Maut in Form einer Vignette verstän-
digen könnten.

Sie sehen, dass die christlich-liberale Koalition die
Probleme anpackt und Minister Ramsauer die richtigen
Antworten darauf hat. Hätten die SPD-Verkehrsminister
seinerzeit ebenso beherzt gehandelt, dann stünden wir
heute besser da. Das steht eindeutig fest. Wären die
SPD-Verkehrsminister seinerzeit nicht so viele grenz-
überschreitende Verpflichtungen eingegangen, so hätten
auch wir heute mehr Geld für den Straßenbau. Und hätte
sich der SPD-Verkehrsminister Stolpe seinerzeit nur halb
so viele Gedanken über die Ausgestaltung des Betreiber-
vertrages mit Toll Collect gemacht wie Sie in Ihrer Gro-
ßen Anfrage, liebe Kolleginnen und Kollegen, dann





Karl Holmeier


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müssten wir heute nicht in zwei Schiedsverfahren über
mehrere Milliarden Euro streiten.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720120700

Herr Kollege Holmeier, erlauben Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Pronold?


Karl Holmeier (CSU):
Rede ID: ID1720120800

Gerne.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720120900

Bitte schön.


Florian Pronold (SPD):
Rede ID: ID1720121000

Herr Kollege Holmeier, Sie haben gerade wieder für

die schwarz-gelbe Koalition proklamiert, dass Sie an der
Einführung einer Pkw-Maut festhalten wollen. Wird
diese Regierung, die die Antworten zu dem vorliegenden
Fragenkatalog gegeben hat, von Ihnen noch getragen,
und können Sie mir sagen, welche Antwort unter
Punkt 87 auf die Frage steht, ob diese Regierung die Ein-
führung einer Pkw-Maut verfolgt?


Karl Holmeier (CSU):
Rede ID: ID1720121100

Die Regierung wird von mir und natürlich von uns al-

len bestens getragen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ziel ist, insgesamt mehr Geld für Verkehrsprojekte im
Bereich Straße zu bekommen. Dabei ist die Vignette ir-
gendwann eine Alternative.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD – Florian Pronold [SPD]: Sie sollten die Antworten Ihrer Regierung zu den Fragen lesen!)


– Ich habe sie gelesen.


(Florian Pronold [SPD]: Aber nicht zur Kenntnis genommen!)


Ich sage nochmals zur Klarstellung: Die Schiedsver-
fahren gibt es nur deshalb, weil Herr Stolpe als Ver-
kehrsminister dilettantisch verhandelt hat, weil er keine
klaren und eindeutigen vertraglichen Regelungen für den
Fall der verspäteten Einführung der Lkw-Maut getroffen
hat,


(Uwe Beckmeyer [SPD]: Das ist Quatsch!)


und weil er und seine SPD sich von Toll Collect über den
Tisch haben ziehen lassen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der SPD)


Wenn ich mir die Fragen in der Großen Anfrage so
durchlese, komme ich zu dem Schluss, dass sich ein
SPD-Verkehrsminister jederzeit wieder über den Tisch
ziehen lassen würde. Mit Ihren Fragen, warum man jetzt
eigentlich einen Beratervertrag für die Maut 2015
braucht und was ein solches Beraterteam eigentlich ma-
chen soll, geben Sie klar zu erkennen, dass Ihnen die Be-

deutung einer rechtssicheren Vertragsgestaltung immer
noch nicht bewusst ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dazu kann ich nur sagen: Große Ahnungslosigkeit in der
Großen Anfrage der SPD.


(Florian Pronold [SPD]: Wer schreibt Ihnen denn solche Reden auf?)


Nur gut, meine sehr verehrten Damen und Herren der
Opposition, dass Sie auch im nächsten Jahr nach der
Bundestagswahl wieder auf der Oppositionsbank sitzen
werden. So kann Minister Ramsauer einen ordentlichen
neuen Betreibervertrag aushandeln. Ich sage Ihnen im
Voraus: Damit wird die Maut 2015 ein Erfolg.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720121200

Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort die Kol-

legin Sabine Leidig.


(Beifall bei der LINKEN)



Sabine Leidig (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720121300

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Ich bin ein bisschen unzufrieden mit dieser Großen An-
frage, weil sie vor allen Dingen darauf fokussiert, wie
man den Güterverkehr am Rollen halten kann. Ich
glaube, dass ein großer Teil der Güterverkehre überhaupt
nichts mehr mit dem Wohlstand und der Lebensqualität
der Bevölkerung zu tun hat.


(Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Ah ja! Gewagte These!)


Ein großer Teil findet zwischen einzelnen Betriebsteilen
großer Firmen statt. Ein anderer Teil entfällt auf den
Austausch von Waren derselben Qualität: Milcherzeug-
nisse im Wert von 5 Milliarden Euro werden eingeführt;
gleichzeitig werden Milcherzeugnisse im Wert von
4 Milliarden Euro ausgeführt. Alles findet mit Lkw statt.
Das ist nichts, was wir wünschenswert finden.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Oliver Luksic [FDP]: Wir sind Exportweltmeister!)


Die Lkw-Kolonnen sind eine Last. Heutzutage fühlt sich
mehr als die Hälfte der Bevölkerung durch Verkehrslärm
und Folgen des Güterverkehrs beeinträchtigt.

Die Maut ist bei weitem nicht hoch genug – das ist
völlig klar –, und das sagen selbst die Studien aus dem
Verkehrsministerium. Heute werden 18 Cent pro Kilo-
meter auf der Autobahn bezahlt. Allein die Wegekosten,
also die Kosten für Bau und Erhalt von Straßen, betragen
30 Cent pro Kilometer. Wir fordern, dass die Maut sofort
auf diese Höhe angehoben und auch auf die Bundesstra-
ßen ausgedehnt wird; das ist das Mindeste.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Auf Feldwege!)


Aber eigentlich geht es darum, die Maut für Lkw so
zu erhöhen, dass schrittweise wirklich die gesellschaftli-





Sabine Leidig


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chen Folgekosten damit bezahlt werden können. Worum
geht es dabei? Es geht um Unfälle, um Luft-, Boden-
und Wasserverschmutzung, um Lärmerkrankungen, um
Klimaschäden. Das alles kostet nicht nur Lebensqualität,
sondern das kostet auch Geld, das die ganze Gesellschaft
aufbringen muss. Die EU-Kommission hat Szenarien
entwickelt. In einem Szenario hat sie nur einen kleinen
Teil dieser Folgekosten einbezogen. Schon dann, wenn
man nur diesen kleinen Teil einbezieht, müsste die Stra-
ßennutzungsgebühr verdoppelt werden.

Interessant ist, dass die Transportgewerbetreibenden
auf ihrem Gipfel vor zwei Wochen selbst gesagt haben,
dass es kein Problem ist, die Maut zu erhöhen, dass man
dann eben die Kosten auf diejenigen überwälzen muss,
die den Gewinn davon haben.

Die EU-Kommission hat auch ein Maximumszenario
aufgestellt, und das finde ich ganz bemerkenswert: Darin
sind unter anderem auch die Staukosten berücksichtigt.
Dabei kommt die EU-Kommission zu dem Ergebnis,
dass nicht 18 Cent pro Kilometer der angemessene Preis
wäre, der für die Lkw entrichtet werden müsste, sondern
3 Euro pro Kilometer.

Es ist so, dass bis zu dieser Summe gesellschaftlich
draufgelegt wird, und das ist eine ziemlich unmittelbare
Subvention der Global Player.


(Oliver Luksic [FDP]: Weltverschwörung!)


Schauen wir uns einmal an – auch das hat die EU-Kom-
mission in ihrer Studie gemacht –, wie es sich in Europa
ausgleichen würde, wenn man die Maut tatsächlich an-
heben würde: Einnahmen würden natürlich vor allen
Dingen dort anfallen, wo viel Lkw-Verkehr durch-
rauscht, nämlich in Deutschland, in Frankreich, in der
Schweiz, in Österreich, eben in den Ländern, die zentral
liegen. Wenn man dann gegenrechnet, was die eigenen
Verkehrsunternehmen in anderen Ländern zahlen müss-
ten, kommt man zu dem Ergebnis, dass 20 bis 23 Mil-
liarden Euro jährlich zusätzlich in den Bundeshaushalt
fließen würden.

Ich fände es wirklich gut, wenn die Bundesregierung
sich mit entsprechenden Plänen beschäftigen würde. Da-
mit könnte sie die Tradition der früheren Verkehrsminis-
ter brechen und einen neuen Weg einschlagen. Es geht
darum, einen Plan zu machen, wie man tatsächlich zu ei-
ner solchen Anrechnung der gesellschaftlichen Kosten
kommt. Mit den Einnahmen würden wir zum Beispiel
solche Unternehmen fördern, denen es gelingt, Wert-
schöpfungs- und Lieferketten zu organisieren, die mit
möglichst wenig Transporten und möglichst wenig Ma-
terialaufwand die Güterversorgung sicherstellen.

In diesem Sinne: Weniger Verkehr ist mehr.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720121400

Jetzt hat das Wort der Kollege Oliver Luksic von der

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Florian Pronold [SPD]: Der begründet, warum Schwarz-Gelb die Pkw-Maut doch einführt!)



Oliver Luksic (FDP):
Rede ID: ID1720121500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

wollen vor der Bundestagswahl Klarheit schaffen und
die Mauthöheverordnung verabschieden. Die Zukunft
der Lkw-Maut hängt natürlich vom Wegekostengutach-
ten ab, das erst im nächsten Frühjahr vorliegen wird.


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Das ist doch gar nicht wahr!)


Dann werden wir hier wie immer besonnen handeln.

Was haben wir bis jetzt getan?


(Florian Pronold [SPD]: Was haben Sie getan?)


Seit Einführung der Maut flossen die Einnahmen nicht in
den Ausbau und den Erhalt der Verkehrsinfrastruktur.
Weniger als 10 Prozent wurden reinvestiert. Erst die
christlich-liberale Bundesregierung hat der undurchsich-
tigen Verteilung der Mautmittel ein Ende gesetzt. Einge-
führt haben wir den Finanzierungskreislauf Straße


(Florian Pronold [SPD]: Ist dafür mehr Geld da?)


und dafür gesorgt, dass das Aufkommen auch wirklich
für die Bundesfernstraßen verwendet wird. Das ist ein
Erfolgsmodell. Wir haben die unter Rot-Grün einge-
führte Zweckentfremdung von Mautmitteln und damit
auch die Mautlüge endlich beendet, liebe Kolleginnen
und Kollegen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Das Mautmoratorium – Kollege Holmeier hat es zu
Recht angesprochen – ist richtig und wichtig. Es schafft
Vertrauen und Verlässlichkeit für den Mittelstand, für
das Transportgewerbe. Deswegen werden wir es bis zum
Ende der Legislaturperiode auch dabei belassen.

Liebe Kollegin Leidig, Sie fordern die Internalisie-
rung externer Kosten. Dabei dürfen Sie aber nicht nur
die Maut sehen; Sie müssen auch sehen, dass der Staat
noch zahlreiche andere Steuereinnahmen aus dem Ver-
kehrsbereich hat: Mineralölsteuer, Kfz-Steuer, Versiche-
rungsteuern. Das blenden Sie jedes Mal aus, wenn Sie
über die Maut reden.


(Zurufe der Abg. Sabine Leidig [DIE LINKE])


Wir ruhen uns nicht darauf aus. Wie gesagt: Wir wer-
den das Thema Mauthöheverordnung angehen. Das ist in
der Tat ein Unterschied zwischen uns und Ihnen: Wir
wollen keine zusätzlichen Belastungen für das Logistik-
gewerbe, für den Mittelstand. Wir wollen auch nicht, wie
Sie, die Ausweitung der Maut auf kleinere Fahrzeuge,
weil das den Mittelstand belasten würde. Deswegen ist
das unserer Meinung nach der falsche Weg, den wir
nicht mitgehen, Herr Kollege Beckmeyer.





Oliver Luksic


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Wir werden hingegen Anreize für den Einsatz von
schadstoffarmen Euro-6-Lkw setzen. Das wird ein wich-
tiges Thema sein, das wir im nächsten Jahr angehen.


(Uwe Beckmeyer [SPD]: Noch weniger Maut!)


Widmen wir uns nun einmal dem, was Sie alles, auch
in Anträgen, im Verkehrsausschuss gefordert haben, was
aber unserer Meinung nach so nicht geht:

Es kann doch nicht sein, dass wir den Menschen im-
mer mehr in die Taschen greifen. Wir müssen einmal se-
hen, dass wir ein Steueraufkommen aus dem Verkehrs-
bereich haben, das mittlerweile bei 53 Milliarden Euro
liegt. Deswegen wird die FDP-Bundestagsfraktion eine
Pkw-Maut, die einfach eine weitere Belastung darstellt,
nicht unterstützen.


(Florian Pronold [SPD]: Was hat da der Holmeier vorhin gesagt? Hat der Holmeier jetzt gelogen, oder wie?)


Sie wollen mit Ihren Anträgen die Citymaut einfüh-
ren. Sie wollen eine Verkehrsinfrastrukturabgabe, eine
Logistikabgabe, die Erhöhung der Kfz-Steuer und die
Ausweitung der Lkw-Maut. Was Sie dabei aber unter-
schlagen? Diese Kosten würden dann natürlich an die
Verbraucher weitergegeben, weil alle Produkte teurer
werden.


(Florian Pronold [SPD]: Gerade leidet noch der Mittelstand, jetzt der Verbraucher! Können Sie sich einmal entscheiden?)


Ihre Anträge – wir haben es einmal zusammengerechnet
– bedeuten 6,5 Milliarden Euro Mehrbelastung ohne jeg-
liche Gegenfinanzierung. Das ist keine solide Politik, die
Sie im Verkehrsbereich machen. Deswegen lehnen wir
das ab, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Uwe Beckmeyer [SPD]: Sie wissen es besser! – Florian Pronold [SPD]: Schwach begonnen, stark nachgelassen!)


Wir werden in dieser Legislaturperiode keine Pkw-
Maut beschließen. Das steht nicht im Koalitionsvertrag.
Aber wir werden natürlich dafür sorgen, dass wir die
vorhandenen Mittel priorisieren.


(Florian Pronold [SPD]: Was hat der Holmeier gerade erzählt? Ist sich die Koalition einmal einig? Sie müssen sich schon einmal einigen, was Sie reden!)


Wir werden die private Beteiligung von Unternehmen
verstärken. Wir wollen Planungs- und Genehmigungs-
verfahren verbessern, damit wir für einen Euro mehr ge-
baut bekommen. Wir werden uns im Haushaltsverfahren
auch dafür einsetzen, mehr Geld für den Verkehrsinves-
titionshaushalt zu bekommen.

Wie gesagt: Wir werden nächstes Jahr noch einmal
über das Thema Lkw-Maut diskutieren.


(Uwe Beckmeyer [SPD]: Ein bisschen spät!)


Dann wird es letzten Endes hier noch einmal zur Debatte
kommen.

Es gibt aber einen großen Unterschied zwischen uns
und Ihnen: Wir setzen auf eine solide, nachhaltige und
finanzierte Verkehrspolitik.


(Uwe Beckmeyer [SPD]: Das merkt man!)


Sie hingegen wollen weitere Belastungen für die Bürge-
rinnen und Bürger, für den Mittelstand sowie für das Ge-
werbe, und das ist mit dieser Koalition nicht zu machen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720121600

Das Wort hat der Kollege Dr. Anton Hofreiter von der

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Kollege Luksic, Sie haben gesagt, dass
die Logistikabgabe, die ein sehr modernes Instrument
war, das von Rot-Grün eingeführt worden ist, nicht
berücksichtigt habe, dass es inzwischen moderne Logis-
tikketten gibt. Das heißt, Güter werden nicht entweder
auf der Schiene, auf der Straße oder auf dem Seeweg
transportiert, sondern in der Regel gibt es Logistikketten.

Weiterhin haben Sie davon gesprochen, dass die Ver-
wendung der Mautmittel unklar und intransparent war.


(Oliver Luksic [FDP]: Ja, genau!)


Nun: 51 Prozent sind für die Straße verwendet worden,
38 Prozent für die Schiene und 11 Prozent für die Was-
serstraße. Es mag sein, dass das intransparent ist. Aber,
wenn wir einmal ehrlich sind, ist das gar nicht so kom-
plex.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Was haben Sie stattdessen gemacht? Sie setzen jetzt
die Mauteinnahmen nur noch für den Verkehrsträger
Straße ein.


(Oliver Luksic [FDP]: Das ist Kreislauf! Das wollen Sie doch sonst auch immer! – Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Die anderen kriegen Haushaltsmittel!)


Ist das wirklich ein modernes Logistikkonzept, das einer
der größten Exportnationen der Welt angemessen ist? Ist
das wirklich angemessen für ein Land, das so stark von
Export und Import abhängig ist, das so stark davon ab-
hängig ist, dass wir die Verkehrsinfrastruktur zukunfts-
fähig machen? Nein, das ist es natürlich nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Schauen wir uns einmal an, was Sie des Weiteren
noch gemacht haben. Sie beklagen jedes Mal wortreich,
dass die Einnahmen, dass die Gelder nicht ausreichen,
um die Verkehrsinfrastruktur auszubauen. Rot-Grün hat





Dr. Anton Hofreiter


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einen guten Einnahmetopf geschaffen. Und was haben
Sie als Erstes gemacht? – Sie haben beschlossen, dass
dieser Einnahmetopf nicht mehr wachsen darf. Warum
beklagen Sie dann das Ganze? Wie passt das zusammen?

Sie sprechen auch gerne davon, dass das Ganze ent-
sprechend marktwirtschaftlich organisiert werden muss.
Das ist sicher klug und richtig. Aber Marktwirtschaft
funktioniert nur dann richtig klug, wenn die Preise die
Wahrheit sagen. Die Preise sagen eben nicht die Wahr-
heit und können damit kein vernünftiges Signal an die
Märkte geben, wenn ein Teil der Kosten von der Allge-
meinheit übernommen wird. Und es ist völlig unstrittig,
dass ein Teil der Kosten von der Allgemeinheit über-
nommen wird. Das hat zur Folge, dass der Mitteleinsatz
ineffizient wird. Das haben Sie noch verschärft. Neben-
bei bemerkt – wenn ich es mir gestatten darf – finde ich
es lustig, dass ausgerechnet die Linksfraktion in dem
Fall so sehr für ein rein marktwirtschaftliches Instrument
streitet. Aber wie gesagt, man darf dazulernen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Widerspruch der Abg. Sabine Leidig [DIE LINKE])


Schauen wir uns einmal die Debatte insgesamt an:
Der Kollege von der FDP sprach davon, dass es keine
Pkw-Maut geben wird. Der Kollege der CSU, der der
gleichen Partei wie der Minister angehört, sprach von
der Pkw-Maut. Auch der Minister sprach des Öfteren da-
von. Es heißt ja, es gebe keine Denkverbote im Ministe-
rium. Fragt man jedoch das Verkehrsministerium: „Plant
die Bundesregierung noch in dieser Legislaturperiode,
die Einführung einer Pkw-Maut in Deutschland prüfen
zu lassen?“,


(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Nein!)


bekommt man die Antwort: Nein. Warum reden Sie dann
immer davon?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Warum beklagen Sie dann immer die nicht vorhandenen
Finanzen? Warum reden Sie immer davon, dass die Ös-
terreicher endlich bei uns zahlen sollen? Irgendetwas
stimmt hier nicht zwischen Worten und Taten.

Was brauchen wir? Wir brauchen endlich eine mo-
derne Verkehrspolitik, die erkennt, dass es nicht genügt,
Umgehungsstraßen zu eröffnen – allerdings gibt es im-
mer weniger neue Umgehungsstraßen – und sich dabei
feiern zu lassen. Wir brauchen eine moderne Verkehrs-
politik, die insbesondere die Kosten des Güterverkehrs
vernünftig einbezieht, die die externen Kosten vernünf-
tig einbezieht, damit die Marktwirtschaft funktioniert
und für Logistikketten zukünftig entsprechend aufeinan-
der abgestimmte Konzepte angeboten werden. Davon
konnten wir leider bis jetzt sehr wenig erkennen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720121700

Das Wort hat jetzt der Kollege Steffen Bilger von der

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Steffen Bilger (CDU):
Rede ID: ID1720121800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Zunächst herzlichen Dank an die SPD-Fraktion, dass Sie
uns mit Ihrer 87 Einzelfragen umfassenden Großen
Anfrage ein umfassendes Nachschlagewerk zur Lkw-
Maut in Deutschland verschafft hat.


(Florian Pronold [SPD]: Wenn es etwas helfen würde!)


Danke aber auch dafür, dass Sie der Bundesregierung
damit die Gelegenheit gegeben haben,


(Florian Pronold [SPD]: Ihr Scheitern zu erklären!)


aufzuzeigen, wie gut wir in der Koalition in der Ver-
kehrspolitik arbeiten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lachen bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von der SPD: Der war gut!)


Der Titel der Großen Anfrage der Sozialdemokraten
lautet: „Zukunft des Mautkonzeptes in Deutschland“.
Nach der Lektüre der Antwort wird klar: Mit uns hat das
deutsche Mautkonzept eine Zukunft.


(Florian Pronold [SPD]: Nur welche?)


Sie geben uns Gelegenheit, dies noch einmal zu verdeut-
lichen.

Zunächst will ich festhalten: Die Mautausweitung auf
vierspurige Bundesstraßen stellt eine gute Regelung dar.
Die Ausdehnung des Streckennetzes war schon lange
angedacht, selbst von der SPD bei der Einführung des
Systems. Es waren die in der Antwort beschriebenen
technischen Probleme, die einer schnelleren Einführung
im Wege standen. Daran hat die Bundesregierung keine
Schuld. Die Bundesregierung hat aber durch geschickte
Verhandlungen mit dem Betreiber eine realistische Re-
gelung gefunden, trotz der Differenzen wegen des
Schiedsverfahrens.


(Uwe Beckmeyer [SPD]: Wir sehen das aber anders!)


Außerdem ist es richtig und wichtig, dass der Bund
verschiedene Optionen für die Zukunft des Lkw-Maut-
systems für die Zeit nach 2015 ergebnisoffen prüft. Ein
Schnellschuss oder eine Vorfestlegung würde hier nie-
mandem nutzen.

Steigende Mauteinnahmen sind gut und wichtig. Sie
sind dringend nötig, um unsere Infrastruktur funktions-
fähig zu erhalten.


(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das verhindern Sie doch gerade!)


Dabei sollte uns aber auch wichtig sein, und das sollte
man noch einmal verdeutlichen: Es geht um Arbeits-





Steffen Bilger


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plätze, es geht um den Logistikstandort Deutschland,
und es geht nicht zuletzt um Kosten, die an die Verbrau-
cher weitergegeben werden, wenn wir leichtfertig über
Mauterhöhung diskutieren, ohne die Risiken abzuwägen.
Ich denke, dass wir bisher einen guten Mittelweg gefun-
den haben, den es auch weiter zu beschreiten gilt.

Meine Damen und Herren, ich finde es etwas merk-
würdig, dass die SPD mit ihrer Großen Anfrage ver-
sucht, Kritik an der Bundesregierung zu üben, ohne an-
scheinend selbst zu merken, woher die Grundprobleme
beim Mautkonzept kommen. Wenn damals unter einem
SPD-Bundesverkehrsminister sauber gearbeitet worden
wäre, würde es heute dieses Schiedsverfahren mit
seinem ungewissen Ausgang und seinen exorbitanten
Kosten vermutlich gar nicht geben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Sehr richtig! – Uwe Beckmeyer [SPD]: Wir haben wenigstens eine Maut geschaffen! Sie haben nichts geschaffen!)


Fast 100 Millionen Euro wurden bisher schon für dieses
Mautschiedsverfahren ausgegeben. Damit hätte man et-
liche Umgehungsstraßen bauen können.


(Zuruf von der FDP: Genau!)


Ich will aber nicht nur sagen, was schlecht war bei der
SPD, sondern auch, was gut läuft im Mautsystem. Ins-
gesamt pflegen wir ja doch ein konstruktives Miteinan-
der. Die Antwort der Bundesregierung zeigt deutlich,
dass das System funktioniert. Auf Mautausweichver-
kehre entfallen lediglich 4 Prozent, und der Anteil der
Mautpreller liegt gerade einmal bei unter 1 Prozent mit
sinkender Tendenz.


(Florian Pronold [SPD]: Dann reden Sie einmal mit den Leuten, die an den Bundesstraßen darunter leiden!)


An dieser Stelle möchte ich auch die Leistung von Toll
Collect durchaus anerkennen, denn das System funktio-
niert mittlerweile technisch gut.

Doch – das ist in den bisherigen Reden schon ange-
klungen – es geht nicht nur um die Lkw-Maut, sondern
es geht auch allgemein um das Stichwort „Nutzerfinan-
zierung“. Beinahe im Wochenrhythmus stellt eine der
Oppositionsfraktionen der Bundesregierung eine Frage
zum Thema Pkw-Maut. Die Antwort ist, wie vorhin be-
reits gesagt wurde, immer dieselbe: keine Denkverbote,
steht zurzeit aber nicht auf der Tagesordnung. So ist es,
und so ist es auch in Ordnung,


(Sören Bartol [SPD]: Super Formulierung! – Uwe Beckmeyer [SPD]: Hauptsache, ihr denkt einmal!)


auch wenn wir uns im Süden – das heißt, auch der grüne
Ministerpräsident in Baden-Württemberg – durchaus
vorstellen können, eine Maut- oder Vignettenlösung ein-
zuführen.

Wir haben in den letzten Wochen wieder gehört, wie
unterfinanziert die Straße ist: In der Finanzplanung bis
2016 fehlen 1,7 Milliarden Euro für laufende Vorhaben.

Dazu gibt es für 7 Milliarden Euro baureife und planfest-
gestellte, also demnächst baureife Projekte. Darin sind
die üblichen Kostensteigerungen noch nicht einmal
enthalten. Pro Mobilität schreibt dazu: „Vor allem
Menschen in Baden-Württemberg, Bayern und Hessen
warten auf die Lösungen ihrer Verkehrsprobleme.“ Wir
reden hier nicht von Wunschstraßen regionaler Vertreter,
sondern von für die Wirtschaft lebenswichtigen Bundes-
fernstraßen und von Umgehungsstraßen, die die Men-
schen von Lärm und Abgasen entlasten.

Allein mit Priorisierungen, Effizienzsteigerungen und
ähnlichen – durchaus auch wichtigen – Maßnahmen
kommen wir nicht weiter. Deswegen: Unsere Auffas-
sung zu diesem Thema als CDUler aus Baden-Württem-
berg ist klar: Es muss auch weiterhin Spielraum für
Neubaumaßnahmen geben. Da unterscheiden wir uns
von dem grün-roten Weg. Und wie gesagt: Um mehr
Geld für die Infrastruktur zur Verfügung stellen zu kön-
nen, darf es keine Denkverbote geben.

Ich möchte an dieser Stelle noch einmal daran erin-
nern, dass nach dem ursprünglichen Konzept der SPD
ein Mehr an Mauteinnahmen noch nicht einmal dem
Verkehrshaushalt zugutegekommen wäre.


(Florian Pronold [SPD]: Straßen oder Schienen oder was?)


Es war – das wurde vorhin schon gesagt – Bundesver-
kehrsminister Dr. Peter Ramsauer, der den Finanzie-
rungskreislauf Straße eingeführt hat. Und noch einmal in
aller Deutlichkeit, weil es, wie ich immer wieder fest-
stelle, viele Bürger gar nicht mitbekommen haben: Mitt-
lerweile kommen die Lkw-Mauteinnahmen direkt der
Straßeninfrastruktur zugute. So muss es auch sein.


(Uwe Beckmeyer [SPD]: Und der Rest?)


Vorhin wurde es bereits angesprochen, und Sie stellen
jetzt auch die Frage: Was ist mit der Schiene, und was ist
mit der Wasserstraße? Selbstverständlich erfolgt die
Finanzierung hierfür weiterhin aus dem Haushalt.

Nicht zuletzt: Es waren die Koalitionsfraktionen und
diese unionsgeführte Bundesregierung, die mit dem In-
frastrukturbeschleunigungsprogramm den Mut aufbrach-
ten, 1 Milliarde Euro zusätzlich in die Hand zu nehmen –
ein Vielfaches von dem also, was durch die von der SPD
beklagten Mautmindereinnahmen hereingekommen wäre.
Das nenne ich Prioritätensetzung.

Lassen Sie uns weiter darüber diskutieren, wie die
Mittel sinnvoll eingesetzt werden und wie es uns gelin-
gen kann, insgesamt mehr Geld für die Verkehrsinfra-
struktur zur Verfügung zu haben.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720121900

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt

erteile ich das Wort dem Kollegen Florian Pronold von
der SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(D)(B)



Florian Pronold (SPD):
Rede ID: ID1720122000

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich habe drei Minuten Redezeit.


(Steffen Bilger [CDU/CSU]: Deshalb die Zwischenfrage vorhin!)


Wenn ich alle Ankündigungen von Herrn Ramsauer zur
Einführung einer Pkw-Maut aus den letzten vier Jahren
hier vorlesen wollte – ich habe sie hier einmal ausge-
druckt –, würde das allein 30 Minuten dauern.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wir erleben hier ein Schauspiel, bei dem die schwarz-
gelbe Koalition in gewohnter Einigkeit auftritt. Der eine
sagt: Wir sind geschlossen für die Einführung der Pkw-
Maut. Der andere sagt: Nein, wir werden sie nicht ein-
führen. Der Dritte sagt: Es gibt keine Denkverbote; viel-
leicht sprechen wir einmal in der nächsten Wahlperiode
darüber, wenn wir nicht mehr regieren. Was ergibt denn
das für ein Bild? Die Bundesregierung sagt nüchtern und
knapp in der Antwort auf unsere Frage 87: Es wird in
dieser Wahlperiode keine Pkw-Maut geben.

Da frage ich mich: Was hat denn dieser Minister drei
Jahre lang gemacht? Warum debattiert er denn über die
Pkw-Maut, wenn sie zum Schluss sowieso nicht kommt?

Ich frage mich auch, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der CSU, warum Sie die Menschen im Rahmen der
Propaganda auf Ihrem Parteitag und der Anträge, die Sie
dort verabschieden, belügen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Ach geh!)


7. Oktober 2011, Beschluss des CSU-Parteitages zur
Einführung der Pkw-Maut mit einem ganz spannenden
letzten Absatz, in dem nämlich steht: Die deutschen Au-
tofahrer sollen nicht an den Kosten der Pkw-Maut betei-
ligt werden, sondern sie sollen durch andere Maßnah-
men entlastet werden.

Wenn das so ist, dann stellt sich erst einmal die Frage:
Woher kommt denn das Mehr an Geld für die Infrastruk-
tur? Die ausländischen Autofahrer, die 7 Prozent der Au-
tofahrer insgesamt ausmachen, können es nicht sein;
denn eine Erhebung der Pkw-Maut bei diesen würde ge-
rade einmal die Einführungskosten erbringen.

Dann lesen wir in der Antwort der Bundesregierung
auf Frage 86 der Großen Anfrage, dass dies europarecht-
lich gar nicht zulässig ist, was übrigens CSU-Abgeord-
nete schon vor diesem Beschluss des Parteitages vom
Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages
bescheinigt bekommen haben. Trotzdem lügen Sie die
Menschen an und sagen, das koste die deutschen Auto-
fahrer nichts, das zahlten bloß die Ausländer, und be-
schließen das mit dem stellvertretenden Parteivorsitzen-
den der CSU und Bundesverkehrsminister auf Ihrem
Parteitag. Das ist Lügen par excellence.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Steffen Bilger [CDU/CSU]: Lesen Sie mal die Antwort genau nach!)


Dann können wir uns noch über die hier vorgebrach-
ten Wehklagen über das fehlende Geld unterhalten. Der
Kollege Beckmeyer hat schon auf Folgendes hingewie-

sen: Wenn Sie sagen, dass schon mit 100 Millionen Euro
eine Menge Umgehungsstraßen gebaut werden können,
was könnte dann mit den 500 Millionen Euro gebaut
werden, die uns zusätzlich zur Verfügung stünden, wenn
Sie das mit der Lkw-Maut unter Ihrer Verantwortung
richtig gemacht hätten? 500 Millionen sind uns durch
die Lappen gegangen. Das sind fünfmal so viele Umge-
hungsstraßen.


(Beifall bei der SPD)


Da Sie beklagen, dass auch ansonsten Geld für den
Verkehrshaushalt fehlt, sage ich Ihnen eines: 1,5 Milliar-
den Euro haben Sie jedes Jahr im Haushalt aus dem Be-
reich des Verkehrs, über die Luftverkehrsteuer und über
die Bahndividende, mehr eingenommen. So gut wie
nichts davon ist für die Verkehrsinfrastruktur ausgege-
ben worden. Da helfen auch keine verkehrsträgereigenen
Finanzierungskreisläufe. Es ist zu wenig Geld vorhan-
den.

Wissen Sie, was das Schlimme ist? Schlimm ist nicht,
dass Herr Ramsauer Ankündigungen macht und sie nicht
einhält. Das Schlimme ist, dass dies drei verlorene Jahre
für die Infrastruktur, für die Zukunft von Deutschland,
für Wachstum und Arbeitsplätze waren.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720122100

Ich schließe die Aussprache.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b auf:

a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Jahres-
steuergesetzes 2013

– Drucksachen 17/10000, 17/10604 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses (7. Ausschuss)


– Drucksachen 17/11190, 17/11220 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Olav Gutting
Lothar Binding (Heidelberg)
Dr. Daniel Volk
Lisa Paus

– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)

gemäß § 96 der Geschäftsordnung

– Drucksache 17/11191 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider (Erfurt)
Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Priska Hinz (Herborn)


b) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Versicherungsteuergesetzes

(Verkehrsteueränderungsgesetz – VerkehrStÄndG)


– Drucksachen 17/10039, 17/10424 –





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses (7. Ausschuss)


– Drucksachen 17/11183, 17/11219 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Patricia Lips
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Dr. Daniel Volk
Lisa Paus

– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)

gemäß § 96 der Geschäftsordnung

– Drucksache 17/11187 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider (Erfurt)
Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Priska Hinz (Herborn)


Zu dem Jahressteuergesetz 2013 liegen ein Ände-
rungsantrag der Fraktion der SPD, ein Änderungsantrag
der Fraktion Die Linke, zwei Änderungsanträge der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sowie ein Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion der SPD vor. Über den Ände-
rungsantrag der Fraktion der SPD und über einen Ände-
rungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
werden wir später namentlich abstimmen.

Zu dem Verkehrsteueränderungsgesetz liegt ein Än-
derungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
derspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be-
schlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner das Wort dem Kollegen Olav Gutting von der CDU/
CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Olav Gutting (CDU):
Rede ID: ID1720122200

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! In

zweiter und dritter Lesung behandeln wir heute einen
Gesetzentwurf, der es schon aufgrund seines Umfangs in
sich hat.


(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)


Zusammen mit den Empfehlungen des Bundesrates wa-
ren es über 200 steuerrechtliche Maßnahmen, über die
wir zu beraten hatten.

Wie immer enthält das Jahressteuergesetz neben einer
Vielzahl von technischen und redaktionellen Änderun-
gen auch eine Reihe von politisch bedeutsamen Rege-
lungen und Maßnahmen. Ein Beispiel dafür ist die Ver-
kürzung der Aufbewahrungsfristen für Steuerunterlagen.
Im Interesse des Bürokratieabbaus, den diese Koalition
konsequent durchführt, werden die bisherigen Aufbe-
wahrungsfristen von zehn Jahre in einem ersten Schritt
auf acht Jahre abgesenkt und in einem weiteren Schritt

ab dem Jahr 2015 auf sieben Jahre verkürzt. Der Nor-
menkontrollrat, der sich diese Sache angeschaut hat, be-
stätigt uns hierfür eine Kostenersparnis bei den Bürokra-
tiekosten von circa 2,5 Milliarden Euro.

Mit unserem Jahressteuergesetz 2013 bauen wir auch
die steuerlichen Wettbewerbsnachteile für Elektro- und
Hybridfahrzeuge ab. Wir wollen Deutschland bis zum
Jahr 2020 zu einem Leitmarkt und zu einem Leitanbieter
für Elektromobilität entwickeln.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zukünftig wird deshalb der Listenpreis als Besteue-
rungsgrundlage für die 1-Prozent-Regelung bei den
Dienstwagen um die Kosten des Batteriesystems gemin-
dert.

Ebenfalls bedeutsam in diesem Gesetz ist, dass wir
die ursprünglich vorgesehene Besteuerung von Reservis-
tenbezügen nicht umsetzen. Wir wollen hiermit noch-
mals unterstreichen, dass wir die Bezüge bei den Reser-
visten wie bisher komplett steuerfrei belassen. Wir
halten dies auch angesichts der besonderen Belastung
von Reservisten, die ihr Berufsleben für die Wehrübun-
gen und -einsätze unterbrechen, für mehr als gerechtfer-
tigt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Kritik der gewerblichen Bildungsträger, die durch
eine Umsatzsteuerfreiheit den Vorsteuerabzug verlieren
würden, haben wir aufgegriffen und den in vielen Ge-
sprächen vorgetragenen Befürchtungen der Volkshoch-
schulen und der privaten Musik-, Tanz- und Ballettschu-
len zum Verlust ihrer bisherigen Umsatzsteuerfreiheit
Rechnung getragen.

Mit dem Jahressteuergesetz versuchen wir auch im-
mer, missbräuchlichen Gestaltungen, das heißt Gestal-
tungen mit dem Ziel der legalen Steuervermeidung, ei-
nen Riegel vorzuschieben. Bei diesen Steuervermei-
dungsmodellen, die immer wieder auftauchen, ist es ja
oft so wie bei Hase und Igel: Kaum haben wir ein Steu-
ersparmodell vom Markt genommen, tauchen bereits an-
dere kreative Modelle am Steuersparhorizont auf. Des-
wegen ist es wichtig, dass wir hier immer auf Zack sind
und rechtzeitig gegensteuern.

In letzter Zeit hat sich hier ein Modell etabliert, das
die arbeitsplatzerhaltende Privilegierung von Betriebs-
vermögen beim Betriebsübergang ausnutzt. Es ist das
vereinzelte Phänomen der sogenannten Cash-Gesell-
schaften, mit denen Barvermögen über eine Gesellschaft
als Vehikel quasi steuerfrei auf die nächste Generation
geschleust wird. Wir brauchen hier eine angemessene
Regelung, welche diese missbräuchliche Gestaltung ver-
hindert. Aber wir müssen gleichzeitig aufpassen, dass
wir bei einer solchen Regelung nicht den Betrieben und
Unternehmen in unserem Land die Liquidität entziehen.

Deswegen ist der zu diesem Bereich vorliegende Vor-
schlag der Opposition und des Bundesrates nicht taug-
lich; er schüttet das Kind mit dem Bade aus und gefähr-
det damit viele Arbeitsplätze beim Betriebsübergang.
Wir werden – das haben wir zugesagt – noch einmal ein-
gehend prüfen, wie wir das Gestaltungsmodell der Cash-





Olav Gutting


(A) (C)



(D)(B)


Gesellschaften trennscharf austrocknen können. Schnell-
schüsse sind allerdings bei der Vielzahl der hier auf dem
Spiel stehenden Arbeitsplätze und der Vielzahl der steuer-
ehrlichen Betriebe und Unternehmen in unserem Lande
nicht angezeigt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dass es uns ernst ist mit dem Ziel, Modelle zur Steu-
ervermeidung auszuschalten und zu unterbinden, zeigt
sich auch an der Tatsache, dass wir mit unserem Jahres-
steuergesetz 2013 den sogenannten Goldfinger-Model-
len einen Riegel vorschieben, bei denen ausländische
Rohstoffhandelsgesellschaften genutzt werden, um über
den negativen Progressionsvorbehalt und das DBA-Ab-
kommen eine Steuerminderung hinzubekommen. Dies
wird zukünftig nicht mehr möglich sein. Wir wollen in
dieser Regierungskoalition – darin sind wir uns einig –
missbräuchliche Steuergestaltungen ausschalten. Es geht
hier genauso um Gerechtigkeit wie heute Nachmittag
beim Schweizer Steuerabkommen; wir wollen, dass der
Steuerehrliche keine Nachteile hat.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Mit Blick auf dieses große Gesetzeswerk – ich habe
es vorhin gesagt: über 200 zu beratende Änderungen –
bedanke ich mich abschließend bei den Berichterstattern
der Koalition, aber auch der Opposition für die immer
gute, faire und zielorientierte Zusammenarbeit. In diesen
Dank beziehe ich auch die Mitarbeiterinnen und Mitar-
beiter des BMF und des Finanzausschusses ein, die sich
im Zusammenhang mit diesem Gesetzgebungsverfahren
teilweise weit über die normalen Dienstzeiten hinaus
eingesetzt haben. Dafür mein Dankeschön!

Jetzt ist es so weit, dass wir diesem Gesetz nach die-
ser Debatte zustimmen können. Es ist ein Omnibusge-
setz, und es braucht freie Fahrt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720122300

Das Wort erhält nun der Kollege Lothar Binding für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Lothar Binding (SPD):
Rede ID: ID1720122400

Schönen Dank, Herr Präsident. – Sehr verehrte Da-

men und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
haben vorhin in einer feurigen Rede von Herrn
Brinkhaus gehört: Die Koalition liefert.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das ist klar. Man sollte natürlich bei jeder Lieferung gu-
cken, ob die Produkte nicht faul sind, ob sie nicht defekt,
unvollständig oder alt sind.


(Beifall bei der SPD)


Da muss man immer ein bisschen genauer hingucken.

Ich möchte vorab sagen: Den Dank, den Herr Gutting
formuliert hat, nehmen wir an; denn wir haben uns wirk-
lich angestrengt, gut zu beraten. Dem Lob an die Verwal-
tung und die Mitarbeiter schließen wir uns an, weil sie

sehr viel arbeiten mussten und gute Vorlagen gemacht
haben.

Wir spüren aber doch: Es kommt in dieser Legislatur-
periode eine gewisse Endzeitstimmung auf. Das erkennt
man daran, dass in einer Wahnsinnshektik unendlich
viele Anträge sehr kurzfristig eingebracht wurden. Man
erkennt, dass noch der letzte Spiegelstrich der Koali-
tionsvereinbarung eilfertig in ein Gesetz gegossen wer-
den muss, und dann vergisst man natürlich wichtige
Dinge.

Sie werden zum Beispiel erleben, dass Baden-Würt-
temberg den Vermittlungsausschuss anruft, weil Rege-
lungen fehlen, um die ungerechte Besteuerung bei
gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften zu been-
den. Das ist auch sinnvoll; denn es ist an der Zeit, dass
das geregelt wird.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Barbara Höll [DIE LINKE])


Dazu stellen die Grünen einen Antrag, wir stellen einen
Antrag. Da merkt man: Das Gesetz ist einfach nicht zeit-
gemäß.

Es gibt noch andere Dinge, die man jetzt hätte korri-
gieren müssen. So stellen wir etwa einen Antrag auf Ab-
schaffung der Sondervergünstigungen für Hotels.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Auch das hätte man jetzt korrigieren müssen. Sie alle
wissen, dass dies falsch war. Man kann erkennen, dass
das Nähen mit heißer Nadel nicht immer dazu führt, dass
die Lieferung am Ende gut ist.

Es ist sogar so, dass die Regierung mitunter Dinge
versucht hat, die vernünftig sind, nämlich entlang der
EU-rechtlichen Vorgaben Dinge zu regeln und der
Rechtsprechung Genüge zu leisten. Es kamen, der Hek-
tik geschuldet, teilweise schlechte Regelungen heraus:
Die Volkshochschulen, die Musikschulen und natürlich
die Vereine – auf sie komme ich gleich zurück – mussten
sich aufregen, weil die neuen Regelungen für sie eine
extreme Verteuerung bedeutet hätten. Man muss sagen,
dass es bei der Beratung des Entwurfes ungefähr so lief:
Man entwickelt eilfertig schlechte Regelungen, kämpft
dann eine ganze Weile erfolgreich gegen sich selbst,
streicht diese Regelungen wieder und verkauft das dann
als großen Erfolg für die Bürger.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Barbara Höll [DIE LINKE])


Aber diesen Umweg hätte man sich vielleicht auch spa-
ren können.

Ich will es nur an einem Beispiel deutlich machen. Da
gab es eine Regelung zu den Vereinen; ich nenne einmal
die DLRG. Wir wissen, der Verfassungsschutz arbeitet
immer hundertprozentig korrekt – das erleben wir gerade
an allen Ecken und Enden –; aber trotzdem könnte ein
Irrtum passieren. Wenn jetzt so ein Verein irrtümlich im





Lothar Binding (Heidelberg)



(A) (C)



(D)(B)


Verfassungsschutzbericht erwähnt worden wäre, hätte
das dazu geführt, dass er die Gemeinnützigkeit verloren
hätte, und zwar ohne dass der Verein die Chance gehabt
hätte, das zu korrigieren und zu widerlegen. Das heißt,
man wollte den Vereinen sogar den Rechtsweg, den Weg
des Widerspruchs abschneiden. Wie kann man denn
solch eine Regelung treffen? Wir sind froh, dass Sie
auch da den Kampf gegen sich selbst gewonnen haben
und das wieder herausgenommen haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Es ist natürlich völlig klar, dass sich dann auch der Pari-
tätische Gesamtverband aufregt; denn er hatte große
Sorge, was das tatsächlich bedeuten würde.

Wenn man ein bisschen genauer hinschaut, dann
merkt man: Dinge, die man heute hätte regeln können,
sind zum Teil sehr feingliedrig. Ich nenne das Beispiel
der Probleme mit den Selbsthilfeeinrichtungen der Pfar-
rerschaft. Das ist etwas Kompliziertes; man muss da-
rüber genau nachdenken. Aber diese Probleme sind gar
nicht angepackt worden. Warum? Man war zu eilig, zu
hektisch, zu wenig problemorientiert. Man hat zu stark
auf das Liefern geachtet, aber nicht auf die Qualität.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die SPD stellt auch Anträge mit der Ausrichtung,
Steuerschlupflöcher zu schließen. Ich will, weil meine
Redezeit zu Ende ist, es nur kurz erwähnen: Wenn man
erkennt, dass mit dem Kauf oder Verkauf einer Aktie
1,5 Milliarden Euro Steuern gespart werden können, und
erkennt, dass da im Umwandlungssteuerrecht ein Pro-
blem besteht, dies aber im Jahressteuergesetz 2013 nicht
anpackt, dann frage ich mich: Was ist das eigentlich für
eine Gesamtlieferung?

Ich würde sagen: Wir kleben auf die Lieferung: Re-
turn to Sender. Das wäre eine ganz gute Sache. Deshalb
lehnen wir das Gesetz ab.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720122500

Der Kollege Daniel Volk ist für die FDP-Fraktion der

nächste Redner.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Daniel Volk (FDP):
Rede ID: ID1720122600

Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Herr Kollege Binding, was Sie ge-
rade dargestellt haben bezüglich des Jahressteuergeset-
zes – das ist ja eigentlich Ihr großes Lieblingsprojekt;
Sie sagen immer, wir bräuchten diese Jahressteuerge-
setze –, entspricht in keiner Weise der Realität.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Ihr habt versprochen, keines mehr zu machen! Jetzt haben wir es doch!)


Sie wissen ganz genau, dass ein Jahressteuergesetz im
Wesentlichen dadurch entsteht, dass Vorschläge aus der
Verwaltung, aus den Finanzämtern und von den Bundes-
ländern in einem Gesetzentwurf zusammengefasst wer-
den. Dieser wird dann dem Parlament vorgelegt. Es ist
ein ganz normaler Vorgang, dass in einem solchen Ge-
setzentwurf Punkte geändert oder gestrichen werden.
Das so auszulegen, als habe die Koalition intern mit-
einander gerungen, ist abwegig.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Ihr habt immerhin 37 Änderungsanträge gestellt! Ich habe nur ganz wenige genannt!)


Das ist jenseits der Realität, Herr Kollege Binding, und
das wissen Sie selber ganz genau.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Im Zuge dieses Tagesordnungspunktes beraten wir
nicht nur das Jahressteuergesetz, sondern auch das Ver-
kehrsteueränderungsgesetz. Ich möchte zunächst darauf
hinweisen, dass wir als Koalition in diesem Verkehrsteu-
eränderungsgesetz – im Wesentlichen betreffend das
Versicherungsteuergesetz, aber auch das Kraftfahrzeug-
steuergesetz – zusätzlich eine Regelung aufgenommen
haben, die der Tatsache, dass die zu beobachtenden Wet-
terextreme immer stärker zunehmen, gerecht wird. Das
vorliegende Gesetz ist eben auf der Höhe der Zeit. Es ist
uns gelungen, die sogenannte Hagelversicherung für
Landwirte und Gärtnereien zu einer Mehrgefahrenversi-
cherung auszuweiten, in die auch Elementarschäden wie
Starkfrost oder Überschwemmungen aufgenommen wer-
den. Das ist ein Verdienst dieser Koalition. Wir als Ko-
alition helfen denjenigen, die durch Wetterextreme be-
einträchtigt werden.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Kollege Binding, in Bezug auf das Jahressteuergesetz
haben Sie die Thematik angesprochen, wie wir mit mut-
maßlich verfassungsfeindlichen Organisationen im Steu-
errecht umgehen sollten. Der Vorschlag, der uns vorge-
legt wurde – übrigens unterstützt vom Bundesrat, dem
auch Rot und Grün angehören –, hätte faktisch zu einer
Verkürzung der Rechtsweggarantie geführt. Deswegen
haben gerade wir als FDP gesagt, dass wir es nicht in
Ordnung finden, eine solche Verkürzung der Rechtsweg-
garantie vorzunehmen; denn der Rechtsstaat ist nur dann
ein starker Rechtsstaat, wenn er wirklich allen dieselbe
Rechtsschutz- und Rechtsweggarantie gewährt. Die von
der Verwaltung vorgeschlagene Regelung war mit uns
nicht zu machen. Wir haben die entsprechenden Punkte
wieder aus dem Entwurf herausgestrichen. Das ist ein
gutes Signal für den deutschen Rechtsstaat.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das habe ich ja korrekterweise erwähnt!)


Zum Bereich der privaten Bildungsanbieter, aber auch
der Volkshochschulen. Ja, die Regelung, die diesbezüg-
lich von der Verwaltung vorgeschlagen wurde, hat zu ei-





Dr. Daniel Volk


(A) (C)



(D)(B)


ner erheblichen Unruhe bei den Betroffenen geführt. Wir
haben die Bedenken aufgenommen, weil wir finden,
dass Bildung nicht der Sicherung der Steuereinnahmen
dient; vielmehr dient Bildung der Zukunft unseres Lan-
des. Deswegen haben wir uns dafür eingesetzt, dass die
Umsatzsteuerfreiheit im Zusammenhang mit Bildungs-
angeboten bestehen bleibt.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Man muss bedenken: Wir mussten aufgrund europäi-
scher Vorgaben eine Umsatzsteuerregelung im Hinblick
auf Kunst- und Sammlergegenstände vornehmen. Wir
als Koalition haben uns dafür eingesetzt, dass für diese
Steuerpflichtigen, für Galeristen, Münzsammler und
Briefmarkensammler, eine bürokratiefreie, pragmatische
Regelung eingeführt werden wird. Wir können also sa-
gen, dass europäische Vorgaben von uns im Parlament
umgesetzt werden. Allerdings berücksichtigen wir dabei
die Bedenken, die Sorgen und die Nöte der Steuerpflich-
tigen. Auch das ist eine gute Nachricht für die Betroffe-
nen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der Entwurf des Jahressteuergesetzes 2013 umfasst
viele Punkte. Es ist immer eine Herausforderung, einen
solchen Entwurf in allen Einzelpunkten zu beraten. Die
Koalitionsfraktionen haben die Beratungen im Finanz-
ausschuss verantwortungsvoll und im Interesse der Steu-
erpflichtigen geführt. Wir legen heute ein Jahressteuer-
gesetz zur Beschlussfassung vor, das eine bürokratiefreie
und für die Steuerpflichtigen günstige Anwendung der
dort vorgesehenen Regelungen ermöglicht.

Abschließend möchte ich noch einen entscheidenden
Punkt erwähnen, die Verkürzung der Aufbewahrungs-
fristen. Mit der Verkürzung der Aufbewahrungsfristen
setzen wir ein Projekt dieser Koalition fort: die Sicher-
stellung der Durchführung einer zeitnahen Betriebsprü-
fung. Ein wesentlicher Aspekt beim Bürokratieabbau ist
nämlich, dass steuerpflichtige Unternehmen so schnell
wie möglich durch eine zeitnahe Betriebsprüfung
Rechtssicherheit bekommen. Aus diesem Grund ist die
Verkürzung der Aufbewahrungsfristen ein ganz ent-
scheidender Punkt in diesem Jahressteuergesetz.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das ist nicht einmal mit dem Strafrecht harmonisiert! Diese Regelung ist ein Drama und teuer!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720122700

Nächste Rednerin ist die Kollegin Barbara Höll für

die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720122800

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Auch ich möchte mich für den Dank, den Herr Gutting
ausgesprochen hat, bedanken, kann ihn aber nicht zu-
rückgeben. Nach allen Beratungen, in denen wir wirklich

entgegenkommend waren, und vor der letzten Beratung
war klar: Es ist, wie es ist. Wir haben Fachgespräche ge-
führt. Die meisten Abgeordneten hatten ihre Vorberei-
tung für die Ausschusssitzung am Mittwoch bereits am
Dienstagabend beendet. Dann kam das böse Erwachen
am Mittwochvormittag: 37 Änderungsanträge – ich wie-
derhole: 37 –


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Von denen 30 bekannt waren! Nur 7 waren neu!)


hat die Koalition am späten Dienstagabend in die Büros
gemailt. Das ist keine Grundlage für eine ordentliche
Beratung, noch dazu, wenn wir zwei Gesetze ändern, die
sehr viele technische Details enthalten. Das heißt für
uns, dass wir alles kontrollieren müssen, um feststellen
zu können, was sich tatsächlich hinter den Änderungen
verbirgt.


(Beifall bei der LINKEN)


Das ist keine gute parlamentarische Arbeit. Das zeigt,
dass Sie sich selbst und das, was Sie tun, nicht mehr
ernst nehmen.

Wir begrüßen, dass Sie einige Teile herausgenommen
haben. An dieser Stelle kann man sagen: Okay, die Bera-
tungen haben wenigstens ein bisschen gewirkt. Sie
schlagen aber auch Änderungen vor, die wir nicht begrü-
ßen können. Fangen wir doch einmal mit den Aufbewah-
rungsfristen an, Herr Volk. Sie verkürzen jetzt also die
Aufbewahrungsfrist und sagen großartig: Das soll Ein-
sparungen von über 1 Milliarde Euro bringen. Es wurde
übrigens nie gesagt, warum das eine Einsparung bringen
soll. Ich meine, dass es ganz egal ist, ob die Akten oder
CDs ein Jahr länger oder kürzer im Keller liegen. Mir
hat sich bis heute nicht erschlossen, wieso dadurch Bü-
rokratiekosten eingespart werden.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Da sieht man Ihre Kenntnis von der Praxis!)


Sie sagen, es solle dann zu zeitnahen Betriebsprüfungen
kommen. Haben Sie das Personal in den Finanzämtern
denn entsprechend aufgestockt? Wurde veranlasst, dass
das personell unterfüttert wird?


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Das ist doch wohl eher Ländersache!)


Und wie sieht das eigentlich mit dem Strafrecht aus?
Welche Regelungen haben wir da? Ich sage: Diese Ver-
kürzung der Aufbewahrungsfristen kann dazu führen,
dass der Steuervollzug nicht mehr ordentlich kontrolliert
werden kann. Das lehnen wir natürlich ab.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie haben gesagt – das ist richtig –, dass die Extremis-
musklausel herausgenommen wurde. Wir haben Ihnen
dazu einen Änderungsantrag vorgelegt. Man muss sich
einmal anschauen, was in der Abgabenordnung zur Ge-
währung von Vergünstigungen für gemeinnützige Ver-
eine steht: Die Vereine dürfen dem Gedanken der Völ-
kerverständigung nicht zuwiderhandeln. Rassistische
und gegen den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes
gerichtete Bestrebungen sollen natürlich nicht steuerlich
gefördert werden. Bisher ist das von den Finanzämtern





Dr. Barbara Höll


(A) (C)



(D)(B)


ordentlich überprüft worden. Es hätte weder dieser Re-
gelung jetzt bedurft noch der Änderung der Abgabenord-
nung 2009. Sie drücken hier wieder unter dem diffusen
Begriff des Extremismus einen Allgemeinverdacht ge-
gen viele engagierte Personen aus, die aktiv gegen
rechtsextremistisches Denken in Deutschland wirken.
Sich dann auch noch auf den Verfassungsschutz zu beru-
fen,


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Die Regelung ist doch draußen!)


das spricht den Vorgängen hier und dem Engagement der
Menschen Hohn.


(Beifall bei der LINKEN)


Dazu, dass Sie daran gedacht haben, eine solche Unge-
hörigkeit vorzusehen, fehlen einem die Worte.

Ich möchte kurz noch etwas zur Änderung des Ver-
kehrsteuergesetzes sagen. Dass auch die Hagelversiche-
rung für landwirtschaftliche Betriebe der ermäßigten
Besteuerung unterliegen soll, das begrüßen wir. Im Ge-
setzentwurf ist aber auch – das präsentieren Sie als Er-
folg, Herr Gutting – die steuerliche Bevorzugung, die
Subventionierung – sprich: auf Kosten der Allgemein-
heit – von Elektroautos vorgesehen. Das ist klimapoli-
tisch aber völlig kurzfristig gedacht. Denn erstens blei-
ben Sie damit bei der Förderung des Individualverkehrs,
und zweitens wissen wir nicht – wir wissen es vor allem
aufgrund Ihrer Energiepolitik nicht –, wie der Strom er-
zeugt wird, den die Elektroautos verbrauchen. Bleibt es
bei Kohle, oder ist es tatsächlich grüner Strom? Dann
könnte man eventuell darüber nachdenken. Nein, dies
müssen wir anders anpacken. Wenn wir subventionieren,
dann nachhaltig. Dann müssten wir zum Beispiel etwas
im Bereich des öffentlichen Personennahverkehrs tun.

Ich bedaure es sehr, dass Sie auch den Empfehlungen
des Bundesrates nicht vollständig gefolgt sind. Das trifft,
wie Kollege Binding schon sagte, unter anderem den
Evangelischen Pfarrverein. Da gibt es die Einrichtung
einer solidarischen Selbsthilfe hinsichtlich der Kranken-
versicherung. Hierzu streichen Sie jetzt Regelungen.
Diese Organisationen wissen nicht, wie es weitergehen
soll. Da fehlen sogar mir als Atheistin die Worte.

Wir können diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen.
Wir unterstützen die Vorschläge der SPD und der Grü-
nen – dies wären sinnvolle Ergänzungen – zur steuerli-
chen Gleichstellung der Eingetragenen Lebenspartner-
schaften –


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720122900

Frau Kollegin.


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720123000

– und zur Rücknahme der steuerlichen Bevorzugung

bei den Hotelübernachtungen, also der Regelung, in de-
ren Rahmen Sie eine einseitige Bevorzugung Ihrer
Klientel vorgenommen haben. Wir unterstützen diese
Änderungsanträge, aber dem Gesetzentwurf stimmen
wir nicht zu.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720123100

Lisa Paus ist die nächste Rednerin für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720123200

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am Ende

des Tages waren es 36 Änderungsanträge von Schwarz-
Gelb.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Volker Kauder [CDU/CSU]: Super!)


Aber eine Änderung durfte einfach nicht dabei sein: die
vollständige Gleichstellung der Eingetragenen Le-
benspartnerschaften im Steuerrecht, vor allem nicht bei
der Einkommensteuer. Dabei hat das höchste Gericht in
diesem Lande in den vergangenen zehn Jahren jedes Mal
und ohne Ausnahme festgestellt, dass die steuerliche Un-
gleichbehandlung von Lebenspartnerschaften im Ver-
gleich zu Ehen verfassungswidrig ist. Mittlerweile ge-
währen 14 Bundesländer Rechtsschutz in der Frage der
einkommensteuerlichen Gleichstellung, nur die schwarz-
gelb geführten Länder Bayern und Sachsen tun es nicht.
So geht eine vermeintlich bürgerliche Regierung mit ih-
ren Bürgern und mit den Bürgerrechten in diesem Land
um. Das ist absurd.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir geben Ihnen heute noch eine letzte Gelegenheit,
das zu korrigieren. Stimmen Sie unserem Änderungsan-
trag zu, in dem gefordert wird, die Gleichstellung end-
lich vollständig herzustellen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Wir denken überhaupt nicht daran!)


Man muss bei diesem Gesetz absurderweise begrü-
ßen, was nicht darin steht. Sie von der Koalition wollten
ernsthaft Babyschwimmkurse besteuern, weil – Zitat –
bei unter Dreijährigen gar nicht von einer Bildungsleis-
tung gesprochen werden kann – Zitat Ende.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Nein, wollten wir nicht!)


Dies entspricht der Linie der Familienministerin
Schröder. Dazu fällt mir nur eines ein: das Betreuungs-
geld.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das Gleiche gilt für die Umsatzsteuerpraxis bei Mu-
sik-, Tanz- und Ballettschulen und anderen Bildungsträ-
gern. Diese wollten Sie ändern und damit deren Existenz
gefährden.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das machen wir doch gar nicht! – Dr. Daniel Volk [FDP]: Wollten wir nicht! Das steht nicht im Gesetz!)


Diesen Quatsch lassen Sie jetzt sein. Auch darüber sind
wir froh. – Herr Volk, Sie wissen, dass ich recht habe.





Lisa Paus


(A) (C)



(D)(B)


Sie wollten den Verfassungsschutz künftig entschei-
den lassen, welche Organisation gemeinnützig ist und
welche nicht.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Wollten wir nicht! Deswegen steht es nicht im Gesetz!)


Der Verfassungsschutz zeigt aktuell in einem wirklich
erschreckenden Ausmaß, dass er so jedenfalls überhaupt
nicht funktioniert. Auch hier sind Sie zurückgerudert,
und auch darüber sind wir froh.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dennoch konnten Sie nicht aus Ihrer Haut, auch an
diesem Jahressteuergesetz war wieder die Mövenpick-
Koalition zugange. Mit der Verabschiedung dieses Ge-
setzes werden – dafür haben Sie sich selber gelobt – die
Aufbewahrungsfristen für Unternehmen verkürzt. Ich
frage die Koalition: Wenn Belege nach sieben Jahren
vernichtet werden dürfen, wie soll dann die Steuerfahn-
dung, wie gesetzlich vorgeschrieben, Steuerhinterzie-
hung noch bis zu zehn Jahre zurückverfolgen können?
Die Betriebsprüfer der Finanzämter sind doch schon
jetzt am Limit. Die Verkürzung der Frist für die Akten-
aufbewahrung wird deswegen gerade nicht dazu führen,
dass die Unternehmen schneller geprüft werden, sondern
dazu, dass deutlich weniger Unternehmen geprüft wer-
den. 1 Milliarde Euro weniger an Einnahmen erwarten
die Länder. Einladung zum Steuerbetrug; ich sage: Das
ist absurd.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Barbara Höll [DIE LINKE])


Auch bei der Erbschaftsteuer laden Sie weiter zum
Missbrauch ein. Allein durch die Wahl der Rechtsform
kann man steuerlich profitieren. Der Bundesfinanzhof
– nicht die Grünen – hat Ihnen ins Stammbuch geschrie-
ben, dass Ihre Reform verfassungswidrig ist. Was
braucht es noch, dass Sie endlich aufwachen? Ohne eine
Änderung bleibt es weiterhin möglich, dass zum
Beispiel von einem 73-Millionen-Euro-Geschenk von
Anteilen an einem Medienunternehmen kein einziger
Euro Schenkungsteuer hängen bleibt. Meine Damen und
Herren, das müssen wir dringend ändern.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Auch was die Energiewende angeht, ist bei Ihnen
Fehlanzeige. Wir alle wissen, dass nur CO2-arme, sprit-
sparende, saubere Autos eine Zukunft haben. Wie diese
Autos genau aussehen werden, wissen wir heute noch
nicht. Gerade deswegen ist eine technologieneutrale För-
derung für den Durchbruch emissionsarmer Fahrzeuge
im Massengeschäft so wichtig. Das wissen selbst Sie,
muss ich konzedieren – bis vor einer Woche jedenfalls.
In Ihren Beschlüssen der ganzen letzten Jahre stand, dass
Autos mit einem CO2-Ausstoß von weniger als
50 Gramm pro Kilometer keine Kfz-Steuer zahlen müs-
sen. Wir wollten mehr; aber Sie ersetzen jetzt selbst
diese Position durch ein Placebo mit der Überschrift
„Elektromobilität“. Auch das ist absurd.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben dazu Änderungsanträge gestellt. Damit ha-
ben Sie jetzt eine letzte Chance, alles auszubessern. Soll-
ten Sie diese Chance nicht wahrnehmen, müssen wir Ih-
ren Gesetzentwurf leider ablehnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720123300

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun die Kollegin

Patricia Lips das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Patricia Lips (CDU):
Rede ID: ID1720123400

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Es geht heute Abend um zwei große Gesetzes-
pakete: zum einen um das Jahressteuergesetz und zum
anderen um ein Gesetzespaket, das Änderungen bei der
Versicherungsteuer und bei der Kraftfahrzeugsteuer
bringt; im Folgenden möchte ich mich ein Stück weit da-
rauf beschränken.

Um was geht es uns grundsätzlich? Es geht uns um
mehr Klarheit bei den Kriterien und damit verbunden um
größere Rechtssicherheit sowie um den Abbau von Bü-
rokratie und die Erhöhung der Transparenz. Hinzu
kommt – wir hörten es bereits; ich komme noch einmal
darauf zurück –, dass Elektrofahrzeuge statt fünf Jahre
nun zehn Jahre von der Steuer befreit werden.

Zur Änderung der Versicherungsteuer. Wir begrüßen
ausdrücklich Punkte wie die Anhebung von Schwellen-
werten, die Zusammenfassung von Zeiträumen zur
Veranlagung, die Möglichkeit der elektronischen An-
meldung und vieles andere mehr; ich möchte hier nur ei-
nige Beispiele nennen.

An anderen Punkten kamen die Koalitionsfraktionen
im Zuge der Beratungen zu inhaltlich durchaus abwei-
chenden Beurteilungen bzw. zu Ergänzungen. Aus Zeit-
gründen möchte ich hier nur zwei Schwerpunkte nennen:
In dem Entwurf war ursprünglich vorgesehen, dass künf-
tig auch die verwirklichten Selbstbehalte bei der Kfz-
Haftpflichtversicherung der Besteuerung unterliegen
sollen. Dies würde zwangsläufig zu einer Neukalkula-
tion unzähliger Verträge führen und dazu, dass nun wirk-
lich jeder Schadensfall, der über den Selbstbehalt gere-
gelt wurde, gemeldet werden müsste. Deswegen haben
wir diese Regelung wieder aus dem Entwurf heraus-
genommen.


(Beifall des Abg. Klaus-Peter Flosbach [CDU/ CSU])


Eine wichtige Neuerung – wir hörten das bereits in
Anklängen – gibt es hingegen in Ergänzung zum Gesetz
für die deutschen Landwirte. Dabei geht es um die soge-
nannte Mehrgefahrenversicherung. Hagel ist eine der
größten Gefahren für die Landwirtschaft. Deshalb gilt
bereits seit 1922 ein besonderer Steuersatz für die Hagel-
versicherung. Weitere Elementarschäden wie Frost,





Patricia Lips


(A) (C)



(D)(B)


Starkregen und Überschwemmungen – wir alle kennen
sie aus unseren Regionen –, die bisher mit dem regulären
Steuersatz belegt waren, werden nun dem Hagel gleich-
gesetzt und gemeinsam mit dem besonderen Steuersatz
in Höhe von 0,3 Promille auf die Versicherungssumme
belegt.

Wir kommen damit einer Entwicklung entgegen, die
sich seit Jahren im Zuge des Klimawandels bemerkbar
macht. Gleichzeitig streben wir als Finanzpolitiker aber
auch noch eine Entlastung für die Allgemeinheit an. Der
Abschluss von Mehrgefahrenversicherungen wird at-
traktiver als bisher, sodass bei einer Verwirklichung des
Risikos, also im Schadensfall, weniger die Steuerzahler
und vermehrt Versicherungen für den Schaden aufzu-
kommen haben. Das ist in mehrerer Hinsicht ein ganz
wichtiger Baustein in diesem Gesetz.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Darüber hinaus war es uns wichtig, dass in manchen
Bereichen verstärkt für Planungssicherheit gesorgt wird.
Dies gilt beispielsweise für die Versicherung von Wind-
kraftanlagen im Offshorebereich, der nun – analog den
Anlagen an Land – durch das Gesetz ebenfalls der Versi-
cherungsteuer unterliegt. Hier haben wir durch eine
leichte Zeitverzögerung mit Inkrafttreten ab 2014 für
Planungssicherheit gesorgt.

Kommen wir noch einmal zur Kfz-Besteuerung. Im
Rahmen des Gesamtprogramms „Elektromobilität“ wol-
len wir in der Tat alle Elektrofahrzeuge statt für bisher
fünf nun für zehn Jahre steuerfrei stellen. Neben immer
mehr privaten Nutzern setzen auch Fahrzeugflotten diese
Fahrzeuge ein. Diese Entwicklung wollen wir verstärkt
fördern. Wir haben es heute Abend schon gehört: Es ist
der zweite Baustein – neben einem anderen im Jahres-
steuergesetz –, durch den wir für die E-Mobilität eine
weitere Förderung vorsehen. Die Förderung der Elektro-
mobilität ist eine Richtung im Gesamtprogramm, die zu
begrüßen ist; auch das war uns wichtig. Es sind am heu-
tigen Abend also zwei Maßnahmen zu nennen, durch die
diese Technik weiter gefördert wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Nun kann man diese Steuerbefreiung – Frau Paus hat
es angesprochen – natürlich auf weitere emissionsarme
Fahrzeuge ausdehnen. Ein entsprechender Änderungsan-
trag liegt vor. Auch die Stellungnahme des Bundesrates
sieht dies vor. Ich will an dieser Stelle auch nicht die
Formulierung im Regierungsprogramm – Elektromobili-
tät – verschweigen. Ich sage aber auch: Wir haben 2009
die Kfz-Steuer neu geregelt und den Schwerpunkt dabei
auf den CO2-Ausstoß gelegt. Seit dieser Zeit sind
10 Millionen Fahrzeuge neu zugelassen worden, die die-
ser Regelung unterliegen. Wir haben die Situation, dass
Hybridfahrzeuge und erdgasbetriebene Fahrzeuge in
vielen Fällen wegen des Bezuges auf den CO2-Ausstoß
bereits heute steuerfrei sind. Es bleibt lediglich die
Mindestbelastung beim Hubraum. Das sind in der Regel
20 bis 40 Euro im Jahr. Die können wir jetzt auch noch
streichen. Ich persönlich glaube als Finanzpolitiker aber
nicht, dass wir damit einen noch größeren Anreiz setzen,

als wir ihn bisher an dieser Stelle schon haben. Wir
haben den richtigen Weg eingeschlagen.

Ich möchte zum Abschluss noch einen Punkt erwäh-
nen. Wir werden aus dem Kfz-Steuergesetz auch eine
Regelung herausnehmen. Da geht es um den Bestand der
Altfahrzeuge, die ab 2013 ebenfalls unter diese Neurege-
lung hätten fallen sollen. Wir mussten feststellen, dass es
keine geeignete und rechtssichere Messtechnik gibt. Wir
reden hier über Millionen von Fahrzeugen. Machen wir
uns nichts vor: Für die meisten wäre das wahrscheinlich
– das liegt in der Natur der Sache – mit einer leichten
Steuererhöhung verbunden. Hier rate ich dringend, die-
ses Vorhaben erst in Gang zu setzen, wenn wir diese
Rechtssicherheit haben. Das hat nichts mit Verweige-
rungshaltung oder Ähnlichem zu tun. Das ist nicht
schön. Aber wir haben es zu akzeptieren. Von daher wer-
den wir diese Regelung im Kfz-Steuergesetz streichen.
Das gehört zur Aufrichtigkeit und zur Transparenz des
Gesetzes. Es wäre nur Augenwischerei, etwas darin zu
lassen, was an dieser Stelle dann doch nicht in Kraft tre-
ten kann.

Ich darf mich sehr herzlich für die Aufmerksamkeit
bedanken und bitte um Zustimmung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720123500

Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist

die Kollegin Sabine Bätzing-Lichtenthäler für die SPD-
Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Sabine Bätzing (SPD):
Rede ID: ID1720123600

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine Vorredner haben die Gesetzentwürfe
inhaltlich schon zusammengefasst. Deshalb will ich nur
noch einige Worte zum Verfahren sagen: So geht es
nicht!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungs-
koalition, wundern Sie sich wirklich, dass die Menschen
Ihre Politik nicht mehr verstehen? Wie soll man auch nur
einem Bürger sinnvoll erklären, dass Sie nicht nur im
Entwurf des Jahressteuergesetzes 2013, sondern auch im
Entwurf des Verkehrsteueränderungsgesetzes fast alles
gestrichen haben, was ursprünglich enthalten war, und
jetzt wesentliche Änderungen aufgenommen haben, die
vorher überhaupt nicht erwähnt waren? Und das alles in
einem Gesetz, das Sie als ein Gesetz zur Klarstellung
von Dingen bezeichnet haben, die eigentlich ganz klar
sind und jetzt nicht mehr klargestellt werden müssen,
weil sie so klar sind. Ich verstehe das nicht mehr.

Was ist eigentlich los bei Ihnen?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


War der Gesetzentwurf der Bundesregierung von An-
fang an so schlecht, dass von ihm nichts übrig blieb,
oder war er gut und zielführend, aber Sie trauen sich nur





Sabine Bätzing-Lichtenthäler


(A) (C)



(D)(B)


nicht, ihn umzusetzen, weil Sie schon in den Wahl-
kampfmodus geschaltet haben und wieder einmal Steu-
ergeschenke verteilen wollen?


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Das nennt man Gewaltenteilung! Legislative und Exekutive!)


Das Ministerium wollte noch sachlich und fachlich
arbeiten, aber Ihre Botschaft an das BMF war klar:
Unbequeme steuerpolitische Vorhaben sind in dieser
Wahlperiode nicht mehr gefragt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Für Sie zählt nur noch Wahlkampf, und deshalb geht es
ans Geschenkeverteilen.

Dieser Verdacht wird auch noch durch das Steuerge-
schenk an die Landwirte – Stichwort „Mehrgefahrenver-
sicherung“ – gestärkt. Es kann sich nur um ein Geschenk
handeln; denn wenn man die Gegenäußerung der Bun-
desregierung zur Stellungnahme des Bundesrates liest,
dann sieht man, dass die Bundesregierung darauf hin-
weist, dass diese Ausweitung abzulehnen ist, da es sich
um eine neue Subvention handelt, die erstens nicht mit
dem Ziel der Haushaltskonsolidierung vereinbar sei und
zweitens neue Begehrlichkeiten wecke. Nun denn, wie
dem auch sein mag, ob Unfähigkeit der Bundesregierung
oder Geschenke vor der Bundestagswahl: Beides ist für
Sie peinlich.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Aber den Klimawandel wollen Sie nicht verleugnen?)


Es ist aber nicht nur peinlich. Darüber hinaus entsteht
auch ein Schaden für das parlamentarische System,


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Ach was!)


wenn 37 Änderungsanträge nicht vollständig beraten
werden können, weil sie erst, wie zur Umsatzsteuerneu-
regelung für den Kunsthandel, wenige Stunden oder, wie
zur Versicherungsteuer bei Elementarschäden, sogar nur
wenige Sekunden – jawohl: Sekunden! – vor der
abschließenden Beratung in den Finanzausschuss einge-
bracht werden.

Sie wissen, dass das peinlich ist. Nicht umsonst haben
Sie die Debatten im Ausschuss nach Möglichkeit verkür-
zen wollen und für die nicht ganz unwichtigen Themen
Jahressteuergesetz 2013 und Verkehrsteueränderungs-
gesetz nur eine gemeinsame Plenardebatte von gerade
einmal 30 Minuten angesetzt.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: So lang?)


Sie hoffen wohl insgeheim, dass so niemand merkt, dass
Sie beispielsweise davor zurückgeschreckt sind, europa-
rechtskonforme Regelungen für die Umsatzbesteuerung
von Bildungsleistungen zu schaffen.

Tja, und beim Kunsthandel haben Sie uns auch noch
Ihre Arbeit machen lassen; denn ohne unseren Entschlie-
ßungsantrag und unseren Hinweis darauf, dass das Ver-
tragsverletzungsverfahren der EU bei Ihrer Untätigkeit
fortgesetzt wird, wären Sie davon überrascht worden,
und Deutschland hätte eine empfindliche Strafe erhalten.

Warum das alles? Nur weil Sie schon im Wahlkampf-
modus sind. Dabei, liebe Kolleginnen und Kollegen von
Schwarz-Gelb, werden Sie noch ein knappes Jahr arbei-
ten müssen. Aber keine Sorge, danach entlasten wir Sie
und übernehmen gerne Ihre Regierungsgeschäfte.

Danke.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720123700

Bevor wir zur Abstimmung über den von der Bundes-

regierung eingebrachten Entwurf eines Jahressteuer-
gesetzes 2013 kommen, weise ich darauf hin, dass mir
dazu eine Reihe von schriftlichen Erklärungen zur
Abstimmung von einer weiter wachsenden Zahl von
Kolleginnen und Kollegen vorliegt, die wir alle dem
Protokoll beifügen.1)

Der Kollege Volker Beck hat um das Wort für eine
mündliche Erklärung zur Abstimmung gebeten.


(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Oh!)


– Auch das bewegt sich völlig im Rahmen unserer Ge-
schäftsordnung. – Dafür darf ich um Aufmerksamkeit
bitten. Anschließend treten wir in die Abstimmung ein.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720123800

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich

möchte Ihnen erklären, warum ich und auch andere
Grüne, die eigentlich keine Fans des Ehegattensplittings
sind, sagen: Ja, wir wollen eine Gleichstellung für Ein-
getragene Lebenspartnerschaften im jetzigen Einkom-
mensteuerrecht. Dort findet sich nun einmal das Ehe-
gattensplitting. Deshalb heißt es für uns: Übertragung
des Ehegattensplittings auf Eingetragene Lebenspartner-
schaften, solange es existiert.

Ich bin da ganz bei Philipp Rösler, der sagt:

Gerade bei der Einkommensteuer ist der jetzige
Rechtszustand verfassungsrechtlich bedenklich:
Lebenspartner haben alle Unterhalts- und Ein-
standspflichten, aber keine Anerkennung bei der
Steuer.

Da hat er recht. Das muss sich ändern. Dafür bietet die
heutige Entscheidung die Gelegenheit.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Das Bundesverfassungsgericht hat uns nun in vier
Entscheidungen, bei der Hinterbliebenenversorgung und
bei zwei steuerrechtlichen Entscheidungen, auf den Weg
gegeben, dass der bloße Verweis auf das Schutzgebot der
Ehe keine Rechtfertigung für eine Ungleichbehandlung
zwischen Eingetragener Partnerschaft und Ehe darstellt.

Es hat ferner ausgeführt – ich zitiere –:

Ein Grund für die Unterscheidung von Ehe und ein-
getragener Lebenspartnerschaft kann nicht … darin
gesehen werden, dass typischerweise bei Eheleu-

1) Anlagen 4 bis 10





Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)


ten … aufgrund von Kindererziehung ein anderer
Versorgungsbedarf bestünde als bei Lebenspart-
nern … Nicht in jeder Ehe –

– so das Bundesverfassungsgericht –

gibt es Kinder. Es ist auch nicht jede Ehe auf Kin-
der ausgerichtet. Ebenso wenig kann unterstellt
werden, dass in Ehen eine Rollenverteilung besteht,
bei der einer der beiden Ehegatten deutlich weniger
berufsorientiert wäre.

Das Bundesverfassungsgericht sagt auch: Die Rechts-
folgen gründen im Wesentlichen auf der Unterhalts-
pflicht. – Das ist auch bei allen einkommensteuerrechtli-
chen Privilegierungen so, wie bei der Grunderwerbsteuer
und wie beim Erbschaftsteuerrecht, was das Hohe Haus
als Gesetzgeber inzwischen leidvoll anerkannt hat, nach-
dem das Bundesverfassungsgericht es darüber belehrt
hat.

Wir hatten eine umfangreiche Debatte. Aus allen
Fraktionen des Hohen Hauses gab es in der Sommer-
pause Unterstützung für die Gleichstellung der Le-
benspartnerschaft mit der Ehe im Steuerrecht. Frau
Leutheusser-Schnarrenberger hat in einem Brief an
Herrn Schäuble geschrieben, eine entsprechende Geset-
zesänderung könne durch das Jahressteuergesetz 2013
erreicht werden.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Ach was!)


Patrick Döring hat gesagt:

Wir wollen diskriminierende Tatbestände im Steu-
errecht abbauen. Dazu gehört für die FDP, dass wir
jetzt schnell die Frage des Ehegattensplittings auch
für eingetragene Lebenspartnerschaften im nächs-
ten Jahressteuergesetz klären.

Das war am 26. August dieses Jahres. Das nächste Jahres-
steuergesetz liegt heute auf dem Tisch.

Herr Mücke hat gesagt, was passiert, wenn diese Re-
gelung nicht kommt:

Wenn die CSU das Ehegattensplitting für Le-
benspartnerschaften blockiert, obwohl eine Gleich-
stellung im Koalitionsvertrag vereinbart ist, werden
FDP-Abgeordnete dem Betreuungsgeld nicht zu-
stimmen, obwohl auch das im Koalitionsvertrag
vereinbart worden ist.

Da bin ich einmal gespannt.

Gleichstellung, gleiche Rechte, Respekt vor allen
Bürgerinnen und Bürgern sind kein Thema für Koali-
tionsschacher. Das ist ein verfassungsrechtliches Gebot.
Stimmen Sie unserem Antrag zu. Dann können Sie die-
ses verfassungsrechtliche Gebot heute umsetzen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Ab dem ersten Tag der Lebenspartnerschaft muss
Gleichberechtigung gelten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das erwarten die Menschen draußen im Land; zu Recht –
und das gebietet die Verfassung!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720123900

Nun hat auch der Kollege Michael Kauch um die

Möglichkeit gebeten, eine mündliche Erklärung abzuge-
ben. Ich mache aber schon jetzt darauf aufmerksam:
Falls noch weitere Kolleginnen und Kollegen auf einen
ähnlichen Einfall kommen sollten, werde ich sie nach
der namentlichen Abstimmung aufrufen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Herr Kollege Kauch.


Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1720124000

Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Beck, ich

möchte Ihnen erläutern, warum meiner Kenntnis nach
acht Kollegen der FDP-Bundestagsfraktion diesem An-
trag zustimmen und sich drei enthalten werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte Ihnen aber sehr deutlich sagen, Kollege
Beck: Das, was in dieser Koalition vereinbart ist, was in
dieser Koalition durchgesetzt und entschieden wird,
überlassen Sie den Koalitionsfraktionen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und das schon drei Jahre!)


Das klären wir intern. Dafür brauchen wir Ihre Nachhilfe
nicht, lieber Kollege Beck.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deshalb gilt, meine Damen und Herren: Wer gleiche
Pflichten hat, muss auch gleiche Rechte haben. Eingetra-
gene Lebenspartner haben wechselseitig die gleichen
Unterhalts- und Einstandspflichten wie Ehegatten. Des-
halb sind sie auch im Steuerrecht entsprechend anzuer-
kennen.

Ich sage Ihnen ein Beispiel. Ich lebe in einer Eingetra-
genen Lebenspartnerschaft. Wenn mein Partner seine
Arbeit verlieren würde und ich einstandspflichtig bin,
dann kann ich laut heute geltendem Steuerrecht etwa
8 000 Euro steuerlich geltend machen, wenn der Le-
benspartner quasi auf Hartz IV angewiesen ist.

Es ist aber so, dass Unterhaltspflichten über Hartz IV
hinausgehen. Meine Unterhaltspflicht gegenüber mei-
nem Lebenspartner entspricht der Höhe des Lebensstan-
dards in der Partnerschaft. Das ist genauso wie bei den
vielen Kolleginnen und Kollegen, die verheiratet sind.

Deshalb ist es aus meiner Sicht eine Frage der politi-
schen Fairness, aber auch eine Frage der verfassungs-
rechtlich gebotenen Gleichbehandlung, an dieser Stelle
endlich das zu tun, was im Übrigen das Verfassungsge-
richt angemahnt hat.





Michael Kauch


(A) (C)



(D)(B)


In seiner Entscheidung zur Erbschaftsteuer aus dem
Jahr 2010 stellt das Bundesverfassungsgericht fest:

Geht jedoch die Förderung der Ehe mit einer Be-
nachteiligung anderer Lebensformen einher, ob-
gleich diese nach dem geregelten Lebenssachver-
halt und den mit der Normierung verfolgten Zielen
der Ehe vergleichbar sind, rechtfertigt die bloße
Verweisung auf das Schutzgebot der Ehe eine sol-
che Differenzierung nicht …

Welches Schutzgebot wird denn an dieser Stelle nor-
miert? Normiert ist hier, dass Unterhalts- und Einstands-
pflichten in einer Ehe – und aus unserer Sicht eben auch
in einer Lebenspartnerschaft – sich widerspiegeln müs-
sen in der steuerlichen Leistungsfähigkeit dieser Partner.

Das ist aber kein Instrument, um Kinder zu fördern.
Kollegin Reiche hat im Sommer eine solche Argumenta-
tion verfolgt. Diese ist aus meiner Sicht aber verfehlt;


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


denn das Ehegattensplitting kommt auch den Kollegin-
nen und Kollegen hier im Haus sowie den Bürgerinnen
und Bürgern im Land zugute, die – gewollt oder unge-
wollt – keine Kinder haben. Umgekehrt zeugt das fol-
gende Beispiel von einer besonders fragwürdigen Art
von Familienpolitik: Mit mir befreundete lesbische ein-
getragene Lebenspartner, die zwei Kinder in ihrer Bezie-
hung aufziehen, können sich nicht dazu entscheiden,
dass eine der Partnerinnen zu Hause bleibt, weil es fi-
nanziell keine Entsprechung im Steuerrecht gibt und sie
deshalb wie Fremde besteuert werden. Wenn man der
Auffassung ist, dass es Wahlfreiheit für die Betreuung
von Kindern geben muss, dann muss man sich fragen, ob
das die richtigen Anreizstrukturen sind.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, deshalb ist das für uns eine
grundsätzliche Frage, eine Frage von Bürger- und Men-
schenrechten. Deshalb werden wir hier – wohl wissend,
dass der große Teil unserer Fraktion sich nachvollzieh-
barerweise an den Koalitionsvertrag und die darin fest-
gelegten nicht wechselnden Mehrheiten halten wird –
anders stimmen als die Mehrheit unserer Fraktion. Wir
würden uns freuen, wenn alle Kolleginnen und Kolle-
gen, die sich auf den Koalitionsvertrag berufen, diesen
dann auch in allen seinen Teilen ernst nehmen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP, der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720124100

Wir kommen nun zu den Abstimmungen.

Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf den Drucksachen 17/11190 und 17/11220,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Druck-
sachen 17/10000 und 17/10604 in der Ausschussfassung

anzunehmen. Hierzu liegen vier Änderungsanträge vor,
über die wir zuerst abstimmen. Über zwei Änderungsan-
träge werden wir namentlich abstimmen.

Wir kommen zunächst zu den namentlichen Abstim-
mungen.

Wir beginnen mit dem Änderungsantrag der Fraktion
der SPD auf der Drucksache 17/11193, über den wir auf
Verlangen der Fraktion der SPD namentlich abstimmen.

Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen.

Sind alle Plätze an den Urnen besetzt? – Das ist der
Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung.

Ist noch ein Abgeordneter im Saal anwesend, der
seine Stimmkarte für die erste namentliche Abstimmung
zum Jahressteuergesetz nicht abgegeben hat? – Das ist
nicht der Fall. Dann schließe ich die erste namentliche
Abstimmung.1)

Wir kommen nun zu dem Änderungsantrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/11196,
über den wir auf Verlangen derselben Fraktion nament-
lich abstimmen.

Ich bitte, die Urnen auszuwechseln und mir zu signa-
lisieren, ob es losgehen kann. – Das sieht jetzt ganz so
aus. Dann eröffne ich die namentliche Abstimmung über
den Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen.

Ist mein Eindruck richtig, dass nun alle Anwesenden
ihre Stimmkarte abgegeben haben? Es kennt auch keiner
einen, der eigentlich hätte hier sein müssen und seine
Stimmkarte noch nicht abgegeben hat? – Das ist beruhi-
gend. Dann schließe ich auch die zweite namentliche
Abstimmung.2)

Wir kommen nun zur Abstimmung über zwei weitere
Änderungsanträge.

Zunächst zur Abstimmung über den Änderungsantrag
der Fraktion Die Linke auf der Drucksache 17/11194.
Wer möchte für diesen Änderungsantrag stimmen? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Ände-
rungsantrag ist abgelehnt.

Ich rufe den Änderungsantrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen auf der Drucksache 17/11195 auf.
Wer stimmt diesem Änderungsantrag zu? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Auch dieser Änderungsan-
trag ist abgelehnt.

Bis zum Vorliegen der Ergebnisse der namentlichen
Abstimmungen unterbreche ich die Sitzung, weil wir die
Schlussabstimmung natürlich erst in Kenntnis der Er-
gebnisse der namentlichen Abstimmungen über die Än-
derungsanträge durchführen können, und melde mich
nach Vorliegen der Ergebnisse wieder zu Wort.

Die Sitzung ist unterbrochen.


(Unterbrechung von 20.05 bis 20.10 Uhr)


1) Ergebnis Seite 24362 C
2) Ergebnis Seite 24364 C






(A) (C)



(D)(B)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720124200

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die unterbrochene

Sitzung ist wieder eröffnet.

Ich habe zwei gute Nachrichten: Die erste Auszäh-
lung ist erfolgt – und auch die zweite.


(Beifall der Abg. Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Zunächst gebe ich das von den Schriftführerinnen und
Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen
Abstimmung über den Änderungsantrag der SPD-Frak-
tion in der zweiten Beratung des Gesetzentwurfs der
Bundesregierung zum Jahressteuergesetz 2013 bekannt:
abgegebene Stimmen 550. Mit Ja haben gestimmt 244,
mit Nein haben 306 Kolleginnen und Kollegen ge-
stimmt. Enthaltungen gab es keine. Damit ist der Ände-
rungsantrag abgelehnt.

Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 550;
davon

ja: 244
nein: 306

Ja

SPD

Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding (Heidelberg)

Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann


(Hildesheim)

Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf (Rosenheim)

Gabriele Groneberg
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann


(Wackernheim)

Wolfgang Hellmich

Rolf Hempelmann
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz (Essen)

Frank Hofmann (Volkach)

Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe (Leipzig)

Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Angelika Krüger-Leißner
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)

Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel (Berlin)

Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth (Heringen)

Annette Sawade
Anton Schaaf
Axel Schäfer (Bochum)

Bernd Scheelen

Marianne Schieder

(Schwandorf)


Werner Schieder (Weiden)

Carsten Schneider (Erfurt)

Swen Schulz (Spandau)

Ewald Schurer
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff


(Wolmirstedt)

Uta Zapf
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries

DIE LINKE

Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping

Harald Koch
Jan Korte
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Stefan Liebich
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Petra Pau
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Paul Schäfer (Köln)

Michael Schlecht
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Kathrin Vogler
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Jörn Wunderlich

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Kerstin Andreae
Marieluise Beck (Bremen)

Volker Beck (Köln)

Birgitt Bender
Agnes Brugger
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz (Herborn)

Dr. Anton Hofreiter
Ingrid Hönlinger





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)


Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Stephan Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth (Quedlinburg)

Monika Lazar
Dr. Tobias Lindner
Jerzy Montag
Beate Müller-Gemmeke
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth (Augsburg)

Krista Sager
Manuel Sarrazin
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Ulrich Schneider
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang Strengmann-

Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Arfst Wagner (Schleswig)

Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms

Nein

CDU/CSU

Peter Aumer
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Manfred Behrens (Börde)

Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen


(Bönstrup)

Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe

Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer (Göttingen)

Dirk Fischer (Hamburg)


(Karlsruhe Land)

Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich


(Hof)

Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Ingo Gädechens
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung (Konstanz)

Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter

Alois Karl
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers


(Heidelberg)

Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer (Altötting)

Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller (Erlangen)

Dr. Philipp Murmann
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg

Katherina Reiche (Potsdam)

Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht (Weiden)

Anita Schäfer (Saalstadt)

Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt (Fürth)

Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön (St. Wendel)

Dr. Kristina Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer

(Weil am Rhein)

Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl (Heilbronn)

Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel (Kleinsaara)

Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg (Hamburg)

Peter Weiß (Emmendingen)

Sabine Weiss (Wesel I)

Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-

Becker
Dagmar G. Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)


FDP

Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine Aschenberg-

Dugnus
Daniel Bahr (Münster)

Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Hans-Werner Ehrenberg
Rainer Erdel

Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Joachim Günther (Plauen)

Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth (Kyffhäuser)


Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine Leutheusser-

Schnarrenberger
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner (Berlin)

Michael Link (Heilbronn)

Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller (Aachen)

Burkhardt Müller-Sönksen
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto


(Frankfurt)

Gisela Piltz
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert

Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Manfred Todtenhausen
Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel


(Lüdenscheid)

Dr. Daniel Volk
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)


Nun gebe ich zum Änderungsantrag von Bündnis 90/
Die Grünen das von den Schriftführerinnen und Schrift-
führern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstim-
mung bekannt: Es hat wiederum 550 abgegebene Stim-

men gegeben. Diesem Antrag haben 253 Kolleginnen
und Kollegen zugestimmt. Mit Nein haben 288 ge-
stimmt. 9 haben sich der Stimme enthalten. Damit ist
auch dieser Änderungsantrag abgelehnt.

Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 550;
davon

ja: 253
nein: 288
enthalten: 9

Ja

SPD

Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding (Heidelberg)

Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann


(Hildesheim)

Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß

Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf (Rosenheim)

Gabriele Groneberg
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann


(Wackernheim)

Wolfgang Hellmich
Rolf Hempelmann
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz (Essen)

Frank Hofmann (Volkach)

Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil

Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe (Leipzig)

Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Angelika Krüger-Leißner
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)

Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel (Berlin)

Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix

René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth (Heringen)

Annette Sawade
Anton Schaaf
Axel Schäfer (Bochum)

Bernd Scheelen
Marianne Schieder


(Schwandorf)

Werner Schieder (Weiden)

Carsten Schneider (Erfurt)

Swen Schulz (Spandau)

Ewald Schurer
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff


(Wolmirstedt)

Uta Zapf
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)


FDP

Sylvia Canel
Michael Kauch
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Oliver Luksic
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Dr. Peter Röhlinger
Marina Schuster

DIE LINKE

Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jan Korte
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Stefan Liebich
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Petra Pau
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Paul Schäfer (Köln)

Michael Schlecht
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Frank Tempel
Dr. Axel Troost

Kathrin Vogler
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Jörn Wunderlich

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck (Bremen)

Volker Beck (Köln)

Birgitt Bender
Agnes Brugger
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz (Herborn)

Dr. Anton Hofreiter
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Stephan Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth (Quedlinburg)

Monika Lazar
Dr. Tobias Lindner
Jerzy Montag
Beate Müller-Gemmeke
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann E. Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth (Augsburg)

Krista Sager
Manuel Sarrazin
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Ulrich Schneider
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang Strengmann-

Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Arfst Wagner (Schleswig)

Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms

Nein

CDU/CSU

Peter Aumer
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Manfred Behrens (Börde)

Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen


(Bönstrup)

Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer (Göttingen)

Dirk Fischer (Hamburg)


(Karlsruhe Land)

Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich


(Hof)

Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Ingo Gädechens
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt

Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung (Konstanz)

Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster

(Villingen Schwenningen)

Volker Kauder
Roderich Kiesewetter
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers


(Heidelberg)

Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer (Altötting)

Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)


Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller (Erlangen)

Dr. Philipp Murmann
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche (Potsdam)

Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht (Weiden)

Anita Schäfer (Saalstadt)

Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt (Fürth)

Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön (St. Wendel)


Dr. Kristina Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer

(Weil am Rhein)

Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl (Heilbronn)

Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel (Kleinsaara)

Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg (Hamburg)

Peter Weiß (Emmendingen)

Sabine Weiss (Wesel I)

Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Dagmar G. Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew

FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Daniel Bahr (Münster)

Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Marco Buschmann
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Hans-Werner Ehrenberg
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Joachim Günther (Plauen)

Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Holger Krestel
Patrick Kurth (Kyffhäuser)

Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine Leutheusser-

Schnarrenberger
Dr. Martin Lindner (Berlin)

Michael Link (Heilbronn)

Dr. Erwin Lotter
Horst Meierhofer
Gabriele Molitor

Petra Müller (Aachen)

Burkhardt Müller-Sönksen
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto


(Frankfurt)

Gisela Piltz
Jörg von Polheim
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel


(Lüdenscheid)

Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)


Enthalten

CDU/CSU
Dr. Stefan Kaufmann
Jürgen Klimke
Dr. Jan-Marco Luczak
Elisabeth Winkelmeier-

Becker

FDP
Christine Aschenberg-

Dugnus
Lars Lindemann
Dr. Birgit Reinemund
Manfred Todtenhausen
Dr. Daniel Volk

Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung ange-
nommen.

Wir kommen zur

dritten Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von ihren Plätzen
zu erheben. Das macht einen guten Eindruck. – Wer
stimmt dagegen? – Möchte sich jemand enthalten? – Da-
mit ist der Gesetzentwurf mehrheitlich angenommen.

Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache
17/11197. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? –

Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Ent-
schließungsantrag ist abgelehnt.

Tagesordnungspunkt 15 b. Hier geht es um die Abstim-
mung über den von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurf eines Verkehrsteueränderungsgesetzes. Der
Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf den Drucksachen 17/11183 und 17/11219, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksa-
chen 17/10039 und 17/10424 in der Ausschussfassung
anzunehmen.

Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen vor, über den wir zuerst abstimmen.
Wer stimmt diesem Änderungsantrag auf Drucksache
17/11198 zu? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Damit ist der Änderungsantrag abgelehnt.





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)


Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? –
Der Gesetzentwurf ist mit erkennbar ausreichender
Mehrheit angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Josip
Juratovic, Anette Kramme, Hubertus Heil

(Peine), weiterer Abgeordneter und der Fraktion

der SPD

Neue Chancen für Menschen mit Migrations-
hintergrund am Arbeitsmarkt

– Drucksache 17/9974 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Also können wir so verfahren.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nächst dem Kollegen Juratovic für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Josip Juratovic (SPD):
Rede ID: ID1720124300

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wenn wir hier über Integration debattieren,
sind das oft eher abstrakte Debatten, wie zum Beispiel
zum Jubiläum des Anwerbeabkommens mit der Türkei.
Genauso oft reden wir über Integration im Zusammen-
hang mit Sprache und Bildung.

Integration ist jedoch viel mehr. Wir müssen konkret
werden und sagen, was Integration tatsächlich bedeutet.
Integration fängt immer mit einem Zugehörigkeitsgefühl
an. Man muss ganz konkret erleben, dass man dazuge-
hört und dass man in der Gesellschaft akzeptiert, respek-
tiert und gebraucht wird.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Daher ist Integration immer etwas, was von beiden Sei-
ten geleistet werden muss: von denen, die zu uns kom-
men, aber auch von der Aufnahmegesellschaft.

Aus meiner Zeit am Fließband weiß ich, wie wichtig
der Arbeitsplatz ist, damit Integration gelingt. Wir haben
mit Kollegen aus mehr als 50 Nationen zusammengear-
beitet. Viele von meinen Kollegen haben am Fließband
Deutsch gelernt. Durch unsere gemeinsamen Aufgaben
und unsere gemeinsamen Ziele haben wir uns als Team

gefühlt. Wir haben uns mit unserem Betrieb identifiziert
und hatten ein Zugehörigkeitsgefühl.

Unser Ziel muss sein, dass sich alle Menschen in un-
serem Land – ob mit oder ohne Migrationshintergrund –
mit unserem Land und seiner Vielfalt identifizieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Aus meiner persönlichen Erfahrung weiß ich, dass wir
eine gute und funktionierende Integration in den Arbeits-
markt brauchen, um Integration in der gesamten Gesell-
schaft erfolgreich gestalten zu können.

Vor diesem Hintergrund beraten wir heute einen An-
trag der SPD-Fraktion zu neuen Chancen für Menschen
mit Migrationshintergrund auf dem Arbeitsmarkt. Denn
leider hat die Integration auf dem Arbeitsmarkt nicht
überall so erfolgreich geklappt wie bei mir im Betrieb.
Das beweisen zahlreiche Statistiken und Studien. Seit
Jahren ist die Arbeitslosigkeit unter Ausländern, also
Menschen ohne deutschen Pass, doppelt so hoch wie von
Deutschen.

Im Jahr 2008 hatten 37,5 Prozent der 25- bis 34-Jähri-
gen mit Migrationshintergrund keinen beruflichen Ab-
schluss. Bei den jungen Menschen ohne Migrationshin-
tergrund waren das „nur“ 10,8 Prozent. Jugendliche mit
Migrationshintergrund haben bei gleichen Qualifikatio-
nen geringere Chancen auf einen Ausbildungsplatz als
deutschstämmige Jugendliche. In der Weiterbildung
werden weniger Menschen mit Migrationshintergrund
berücksichtigt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt mehrere
Gründe, warum wir daran etwas ändern müssen.

Erstens. Natürlich muss jeder Einzelne, der hier bei
uns lebt, eine Chance auf Integration haben. Dazu gehört
vor allem die Integration auf dem Arbeitsmarkt. Das ist
auch eine entscheidende Frage der Würde jedes Einzel-
nen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Denn niemand will auf staatliche Almosen angewiesen
sein.

Zweitens. Für unseren Staat ist es aus ganz rationalen
Gründen wichtig, dass möglichst alle Menschen in den
Arbeitsmarkt integriert sind. Es gibt eine Studie, die die
Kosten der Nichtintegration berechnet hat. Das Institut
für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hat dazu die feh-
lenden Einnahmen durch Steuern und Abgaben sowie
die höheren Ausgaben der sozialen Sicherungssysteme
berechnet. Diese Studie zeigt: Es lohnt sich auch finan-
ziell, sich für die Integration in den Arbeitsmarkt einzu-
setzen; denn dadurch kann der Staat später eine ganze
Menge Geld sparen.

Drittens. Für unsere Wirtschaft ist es wichtig, dass
Menschen mit Migrationshintergrund auf unserem Ar-
beitsmarkt aktiv sind. Wir diskutieren hier seit langem
über die Fachkräfteentwicklung in unserem Land. Wir
alle wissen, dass wir nur dann genügend Fachkräfte ha-





Josip Juratovic


(A) (C)



(D)(B)


ben, wenn wir alle Menschen in unserem Land in den
Arbeitsmarkt integrieren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Unsere Wirtschaft kann es sich nicht leisten, hier eine
große Gruppe an Menschen auszuschließen. Deshalb
zähle ich darauf, bei der Integration in den Arbeitsmarkt
auch tatkräftige Unterstützung aus der Wirtschaft zu be-
kommen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Gespräch vor al-
lem mit Jugendlichen, die einen ausländisch klingenden
Namen haben, erfahre ich immer wieder von Diskrimi-
nierungen. Die Uni Konstanz hat in einer Studie nachge-
wiesen, dass Menschen mit ausländisch klingendem Na-
men bei Bewerbungen diskriminiert werden. Deswegen
ist es eine zentrale Forderung in unserem Antrag, Diskri-
minierungen abzubauen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ein entscheidender Punkt dafür sind anonyme Bewer-
bungen. Wenn die Personalabteilung am Anfang aus-
schließlich die Qualifikation begutachtet, sortiert sie
nicht bewusst oder unbewusst die Menschen mit auslän-
disch klingendem Namen aus. In einem Modellprojekt
hat sich gezeigt, dass anonyme Bewerbungen denjenigen
Menschen nutzen, die derzeit am Arbeitsmarkt nicht so
viele Chancen haben, vor allem ältere Arbeitnehmer und
Menschen mit Migrationshintergrund. Vom Ergebnis des
Modellprojekts waren auch die Arbeitgeber selbst über-
rascht. Sie haben zugegeben, dass unterschwellig Diskri-
minierung stattfand, die durch anonyme Bewerbungen
verhindert wird. Diese Studie sollte uns Ansporn genug
sein, bundesweit anonyme Bewerbungen einzuführen.


(Beifall bei der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen die Ar-
beitsmarktpolitik stärker darauf ausrichten, dass Men-
schen mit Migrationshintergrund von den Maßnahmen
erreicht werden. Bei der Arbeitsförderung muss die För-
derung von Menschen mit Migrationshintergrund zum
Schwerpunkt werden. Wir brauchen ein Arbeitsmarkt-
programm „Perspektive MigraPlus“ ähnlich der „Per-
spektive 50plus“.

Mir persönlich ist es besonders wichtig, auch das
Schicksal derjenigen zu betonen, die in Deutschland nur
mit Duldung leben. Dahinter stehen viele persönliche
Schicksale, die Menschen in ihren Heimatländern durch-
gemacht haben. Hier in Deutschland wird ihnen zu lange
der Zugang zum Arbeitsmarkt verwehrt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir brauchen eine gesetzliche Klarstellung, dass Gedul-
dete mit Arbeitserlaubnis von den Agenturen für Arbeit
und Jobcentern beraten werden müssen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das sind nur einige
der Forderungen, die in unserem Antrag enthalten sind.
Wir haben sorgfältig und durchdacht aufgelistet, welche
Änderungen wir brauchen, damit Menschen mit Migra-

tionshintergrund mehr Chancen auf dem Arbeitsmarkt
haben. Leider herrscht vonseiten der Bundesregierung
ziemlicher Stillstand, was konkrete Maßnahmen angeht.
Es reicht nicht aus, nur anlässlich von Migrationsgipfeln
schöne Worte zu finden; vielmehr müssen wir endlich
konkret handeln.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Integration ist ein gegenseitiger Prozess, ein Geben
und ein Nehmen. Zu Recht erwarten wir von den Mi-
granten, dass sie sich bemühen und uns etwas geben.
Aber gerade wir von der Politik müssen auch etwas ge-
ben, nämlich reale Chancen auf unserem Arbeitsmarkt.
Schließlich sind all die Menschen, von denen ich hier
spreche, Steuerzahler, wenn auch oft ohne Stimmrecht
bei Wahlen. Wir müssen Integration leben und sie im
Alltag und im Arbeitsmarkt umsetzen. Dazu brauchen
wir die Maßnahmen aus unserem SPD-Antrag.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720124400

Ulrich Lange ist der nächste Redner für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Ulrich Lange (CSU):
Rede ID: ID1720124500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der

Antrag der SPD, lieber Kollege Juratovic, beinhaltet ei-
nen großen Strauß von vielen Maßnahmen, die wir an di-
versen und unterschiedlichsten Stellen hier bereits disku-
tiert haben, letztmalig im Mai zu dem Thema „Chancen
für Fachkräfte“. Ich gebe Ihnen aber durchaus recht, dass
das Thema „Migration in der Arbeitswelt“ ebenfalls eine
solche Debatte wie die heutige rechtfertigt. Aber wir
wissen um diese Problematik. Man sieht auch in dem
Nationalen Aktionsplan Integration, den die Bundesre-
gierung Ende Januar 2012 vorgestellt hat, dass wir uns
bewusst und konsequent dieser Aufgabe annehmen und
sie als Kernaufgabe verstehen.

Zweifellos ist es richtig, dass insbesondere jugendli-
che Ausländerinnen und Ausländer eine deutlich höhere
Arbeitslosigkeit als Deutsche haben. Ich bin aber, lieber
Kollege, mit einer Aussage nicht ganz einverstanden,
und das sage ich hier auch sehr deutlich: Dies ist nicht in
erster Linie eine Frage des Passes. Das möchte ich hier
schon angemerkt haben.


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Einbürgerung erleichtert den Zugang zum Arbeitsmarkt!)


– Die Einbürgerung erleichtert ihn; aber es ist nicht eine
Frage des Passes an sich. Das wollte ich schon richtigge-
stellt haben.


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein Teufelskreis: Ohne Job keine Ulrich Lange Staatsangehörigkeit, ohne Staatsangehörigkeit keinen Job!)





(A) (C)


(D)(B)


Es ist vielmehr – das erlaube ich mir hier schon auch zu
sagen, lieber Kollege – auch eine Frage der Sprachbe-
herrschung, der Möglichkeit des Zugangs zu Bildung
und auch der Eltern, die die Kinder dann an die Sprache
und an die Bildung heranführen müssen. Ich glaube, dass
dies der Schwerpunkt unserer Aufgabe sein sollte.

Vor diesem Hintergrund hat die Bundesregierung stra-
tegische Ziele formuliert. Ein Ziel ist natürlich, die Qua-
lifizierung durch interkulturelle und migrationsspezifi-
sche Qualifizierung des Beratungspersonals zu erhöhen,
die betriebliche Integration zu verbessern und die von
mir bereits angesprochene Fachkräftebasis zu sichern.

Mit einer Vielzahl von Programmen und Maßnahmen
– ich glaube, hier haben wir in den letzten Monaten und
Jahren gehandelt – sind wir arbeitsmarktpolitisch aktiv
geworden. Das Ministerium für Arbeit und Soziales hat
seit Mitte 2011 durch das Förderprogramm „Integration
durch Qualifizierung“ gemeinsam mit dem Bundes-
ministerium für Bildung und Forschung und der Bundes-
agentur für Arbeit eine bundesweite sichtbare Struktur
regionaler Netzwerke aufbauen können. Das sind sicher-
lich wichtige und entscheidende Schritte. Das IQ will
Handlungsansätze entwickeln; es will helfen, Abschlüsse
anzuerkennen und die Verfahrenssituation transparent
darzustellen.

Auch heute agieren viele Bundesinstitutionen schon
sehr realitätsnah und sehr eng an der Problematik. Ich
nenne das Beispiel Berlin mit dem „Tag der Migration“.
Hier sind auch wieder das Jobcenter, die Ausländerbe-
hörde und viele andere zusammen auf einer Plattform,
um Erfahrungen auszutauschen und Möglichkeiten aus-
zuloten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben im
Herbst 2011 ein Fachkräftekonzept beschlossen und dort
auch eine Bedeutungsreihenfolge festgelegt, nämlich
heimisches Potenzial vor Zuwanderung. Hier gehören,
lieber Kollege Juratovic, die Menschen mit Migrations-
hintergrund in unserem Land zum heimischen Potenzial,
das wir auf jeden Fall stärker und noch besser schöpfen
und ausnutzen müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Bundesregierung setzt sich weder für das eine noch für das andere ein!)


Sie sehen also an einigen Beispielen, die ich hier auf-
gezeigt habe, dass wir uns der Problematik annehmen,
dass wir die Problematik erkannt haben und dass wir un-
ter Federführung unseres Ministeriums und unserer
Ministerin Ursula von der Leyen gute Schritte vorange-
kommen sind. Ich kann nur appellieren: Unterstützen Sie
uns gemeinsam auf diesem Weg, damit wir die Poten-
ziale heben und damit wir die Arbeitswelt zugunsten der
Menschen mit Migrationshintergrund offener machen
können.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720124600

Die Kollegin Dağdelen ist die nächste Rednerin für

die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720124700

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Herr Lange, ich muss doch schon sehr bitten. Sie
haben gesagt, es ist nicht nur der Pass. Nein, es geht um
die Situation, dass allein der Name bereits ausreicht. Der
Kollege führt in dem vorgelegten Antrag ja aus, dass es
eine Studie der Institute zur Zukunft der Arbeit gibt, die
belegt, dass Menschen mit Migrationshintergrund, die
einen türkischen Namen aufweisen, bei Bewerbungsver-
fahren allein aufgrund des Namens trotz gleicher oder
sogar besserer Qualifikation als Menschen ohne Migra-
tionshintergrund deutlich weniger zu Vorstellungsge-
sprächen eingeladen werden. Deshalb bitte ich Sie: Se-
hen Sie endlich die Realität in Deutschland! Es gibt
Diskriminierung. Diese Diskriminierung ist auch struk-
turell, und deshalb muss sie auch beendet werden. Des-
halb appelliere ich an Sie.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich begrüße insoweit für meine Fraktion den Antrag,
stellt er doch schon auf die Verbesserung der Situation
für Menschen mit Migrationshintergrund ab. Wenn man
die letzten Jahre im Deutschen Bundestag Revue passie-
ren lässt, muss man sich fragen, warum Sie von der SPD
jetzt eigentlich das fordern, was Sie unter Rot-Grün oder
auch Schwarz-Rot, das heißt in sage und schreibe elf Re-
gierungsjahren, immer wieder verhindert haben. Warum
haben Sie das damals nicht gemacht?


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Es geht um Maßnahmen, die schon seit Jahren von uns
gefordert werden: Schaffung eines Zugang zum Arbeits-
markt, Einführung eines anonymisierten Bewerbungs-
verfahrens, Anerkennung von Berufsabschlüssen, die im
Herkunftsland erworben worden sind. Noch vor ein paar
Jahren, als Sie an der Regierung waren, haben Sie unsere
Anträge abgelehnt, in denen die Anerkennung ausländi-
scher Berufsabschlüsse gefordert wurde. Ich finde es
daher nicht besonders seriös, diese Anträge jetzt zu
kopieren und vorzulegen.


(Anette Kramme [SPD]: Wie viele Anträge von Ihnen gab es denn zum Arbeitsmarkt und zur Migration? Ich kann mich daran nicht erinnern!)


Ich finde, ein Rückblick schadet nicht. Der Kollege
Juratovic sagt, Menschen mit Migrationshintergrund
brauchten reale Chancen am Arbeitsmarkt. Schauen wir
uns doch die Situation dieser Menschen an. Meine Da-
men und Herren, ihre Situation ist unerträglich. Ich weiß
das sehr genau, weil ich mit diesen Menschen aufge-
wachsen bin; ich bin ein Mensch mit Migrationshinter-
grund und erfahre es tagtäglich, wenn die Menschen zu
mir kommen und sich über ihre Situation beschweren.





Sevim Dağdelen

(A) (C)



(D)(B)


Man muss in diesem Zusammenhang auch über
Hartz IV und die Agenda 2010 sprechen.


(Beifall bei der LINKEN)


Hartz IV war und ist das größte Enteignungs- und
Dequalifizierungsprojekt in diesem Land, gerade im
Hinblick auf Menschen mit Migrationshintergrund. Zu
einer möglichen Revision findet sich in Ihrem Antrag
selbstverständlich nichts. Ursache und Wirkung sind
klar: Jahre-, nein jahrzehntelang sind Menschen mit
Migrationshintergrund im Bildungs- und Ausbildungs-
bereich dequalifiziert worden. Sie wurden von Qualifi-
zierungs- und Weiterbildungsmaßnahmen ausgegrenzt
und auf dem Arbeitsmarkt diskriminiert. Ich fordere Sie
auf, allein deshalb noch einmal über die Hartz-IV-
Gesetzgebung nachzudenken. Denken Sie vielleicht nur
fünf Minuten darüber nach, anstatt sich hier aufzuregen.
Es ist natürlich so, dass Hartz IV die Menschen bedroht
und sie enteignet.

Das betrifft insbesondere Migrantinnen und Migran-
ten, weil sie überproportional von Arbeitslosigkeit be-
troffen sind. Sie sind auch von einer Gesetzgebung im
Niedriglohnbereich überproportional betroffen, die Leih-
arbeit im heutigen Ausmaß erst möglich gemacht hat. Da
tragen Sie Mitverantwortung. Deshalb appelliere ich an
Sie: Denken Sie darüber nach, anstatt in nassforscher
Steinbrück-Manier auch noch Hartz IV und die
Agenda 2010 zu bejubeln.


(Beifall bei der LINKEN – Anette Kramme [SPD]: Das ist so billig!)


– Nein, das ist nicht billig; das ist die Wahrheit. Wenn
Sie ein Stück weit Glaubwürdigkeit gewinnen wollen,
auch bei Menschen mit Migrationshintergrund, dann
sollten Sie sich hier nicht über jene beschweren, die über
die unerträgliche Wirklichkeit in diesem Land berichten,
sondern dann sollten Sie einmal nur fünf Minuten diesen
Menschen zuhören und zur Kenntnis nehmen, was sie
fordern.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720124800

Diese fünf Minuten haben wir nicht mehr.


Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720124900

Diese Menschen fordern ein Verbot der Leiharbeit,

einen gesetzlichen Mindestlohn und die Zurücknahme
von Hartz IV. Darüber sollten Sie sich einmal Gedanken
machen.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720125000

Für die FDP-Fraktion ist der Kollege Johannes Vogel

der nächste Redner.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1720125100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lieber Kollege Juratovic! Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen von den Sozialdemokraten! Ihr Antrag zeigt, dass

wir uns gemeinsam um das Thema „Zuwanderung und
Integration“ bemühen. Ich glaube, wir alle sind uns im
Ziel einig. Weil Deutschland ein Einwanderungsland ist
und übrigens eine jahrhundertelange Erfolgsgeschichte
der Einwanderung vorzuweisen hat, ist es richtig, dass
wir diesen Weg weitergehen. Dazu gehört es, sich Ge-
danken zu machen, wie wir die Integration verbessern
können. Dazu gehört aber auch, klar zu sagen, dass wir
zusätzliche Einwanderung in Deutschland wollen, und
dazu gehört, ein klares Signal zu setzen. Wir wollen
weiterhin ein Einwanderungsland sein. Wir wollen an
unseren Grenzen kein Schild „Warnung vor dem bissi-
gen Hund“ aufstellen. Wir wollen vielmehr einen roten
Teppich ausrollen,


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Das sieht man ja gerade an Ihrem Innenminister!)


gerade weil wir vor dem Hintergrund des Fachkräfte-
mangels im Wettbewerb um die klugen Köpfe noch bes-
ser werden müssen; wir müssen sie nach Deutschland
holen. Zu diesem Ziel bekennen wir uns in der Koalition
ganz eindeutig.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Koalition“?)


Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass wir die Zu-
wanderungsregeln gerade vereinfacht haben. Frau Kolle-
gin Dağdelen, Sie haben das gerade in Zweifel gezogen.
Wir haben diesen Sommer die Zuwanderungshürden
massiv gesenkt. So haben wir zum Beispiel mit breiter
Zustimmung dieses Hauses – es gab auch Zustimmung
vonseiten der SPD-Fraktion; darüber habe ich mich sehr
gefreut – ein Visum zur Arbeitsuche eingeführt und da-
mit endlich für einen Paradigmenwechsel im Bereich
Zuwanderung gesorgt. Ich glaube, dazu bekennen wir
uns alle.

Auch auf die Frage, wie wir eine bessere Integration
der Menschen mit Migrationshintergrund, die bereits
hier leben, gewährleisten können, gibt das Gesetz zur
Anerkennung im Ausland erworbener Berufs-
abschlüsse, das wir in dieser Legislaturperiode auf den
Weg gebracht haben, eine Antwort. Es gibt eine Dreimo-
natsfrist, innerhalb der ein solches Verfahren durch-
geführt werden muss. Wir haben weiterhin festgelegt,
dass es ein einheitliches Verfahren gibt. All das zeigt,
dass wir uns den Herausforderungen stellen.

Lieber Kollege Juratovic, die Anerkennung von
Berufsabschlüssen halte ich übrigens für die zentrale
Herausforderung, vor der wir stehen, wenn es um die
bessere Integration von Menschen mit Migrationshinter-
grund auf dem Arbeitsmarkt geht. Sie sehen: Über das
Ziel sind wir uns einig, aber an den zentralen Stell-
schrauben drehen wir bereits. Dieser Aufgabe stellen wir
uns als Koalition sehr erfolgreich.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf der Abg. Sevim Dağdelen [DIE LINKE])


Es gab eine Diskussion darüber, ob Deutschland die
Ausstrahlung hat, ein Einwanderungsland zu sein. Ich
würde mich freuen, wenn wir die Opposition – das ist

Sevim Dağdelen





Johannes Vogel (Lüdenscheid)



(A) (C)



(D)(B)


insbesondere an die Adresse der Sozialdemokraten ge-
richtet – bei der Verfolgung dieses Ziels an unserer Seite
hätten. Lieber Kollege Juratovic, ich weiß, dass Sie sich
schon lange mit diesem Thema beschäftigen und absolut
glaubwürdig sind. Ich habe mich im Zuge der Diskus-
sion über die Öffnung des Arbeitsmarktes für Bürger der
neuen EU-Mitgliedstaaten im Mai 2011 teilweise schon
gewundert, dass ich auch aus den Reihen Ihrer Fraktion
Töne gehört habe,


(Sebastian Blumenthal [FDP]: Ganz schlimme Töne!)


die – ich will es einmal zurückhaltend formulieren – mir
nicht den Eindruck vermittelt haben, dass Sie uns dabei
vorangebracht haben, ein Klima zu schaffen, das geeig-
net ist, den neuen Mitbürgern zu vermitteln, dass sie
unsere Gesellschaft bereichern. Dabei macht Vielfalt
unsere Gesellschaft reicher, gerade auf dem Arbeits-
markt.

Damals wurde laut das alte Lied gesungen: Moment!
Wir öffnen unseren Arbeitsmarkt. Da könnten ja neue
Mitbürger aus anderen Mitgliedstaaten der EU kommen.
Das ist eine Bedrohung. Das macht auf dem Arbeits-
markt alles schlechter. – Ich freue mich, dass wir das
jetzt von den Sozialdemokraten nicht mehr hören. Aber
zur Wahrheit gehört, festzuhalten, dass wir in dieser
Legislaturperiode leider solche Töne aus Ihrer Fraktion
gehört haben. Ich finde es gut, dass das jetzt offenbar ein
Ende hat.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Lassen Sie mich konkret werden und über die zentra-
len Stellschrauben sprechen. Ich habe eben ausgeführt,
welcher Punkte wir uns mit zwei wegweisenden Geset-
zen sehr erfolgreich angenommen haben. Die Kollegin
Dağdelen hat eben kritisiert, dass Sie Dinge fordern, die
Sie, als Sie selber in Regierungsverantwortung waren,
nicht umgesetzt haben. Politik braucht zwar Symbole,
aber an ein oder zwei Stellen empfinde ich Ihren Antrag,
zumindest was den ersten Anschein angeht, als Symbol-
politik. Diese brauchen wir in aller Regel nicht.

Ich gebe Ihnen dazu Beispiele. Sie fordern den
Rechtsanspruch auf Nachholen eines Schulabschlusses.
Dabei gibt es den schon, und zwar im Dritten Sozialge-
setzbuch.


(Anette Kramme [SPD]: Aber nicht eines jeden Schulabschlusses, sondern eines Hauptschulabschlusses!)


Sie fordern weiterhin, die berufliche Deutschförderung
durch die Bundesagentur für Arbeit zu stärken. Schauen
Sie sich an, wie die konkreten Hinweise für die einzel-
nen Vermittlerinnen und Vermittler in der Arbeitsagentur
und in den Jobcentern lauten. Daran wird deutlich, dass
auf die Beseitigung von sprachlichen Defiziten explizit
Wert gelegt und auf die Fördermöglichkeiten im Zusam-
menhang mit dem Erlernen der Sprache hingewiesen
wird. Das findet also bereits im Rahmen der Bundes-
agentur für Arbeit statt.


(Josip Juratovic [SPD]: Es geht um Qualifizierung und Sprache!)


Auch in Bezug auf die Qualifizierung ist festzustel-
len, dass wir gerade durch die Reform der arbeitsmarkt-
politischen Instrumente die Möglichkeiten zur Qualifi-
zierung massiv ausgeweitet haben. Kollege Zimmer, der
mit mir für dieses Gesetzgebungsverfahren aufseiten der
Koalition zuständig war, nickt. Wir haben für einen
Paradigmenwechsel gesorgt, damit noch mehr im
Bereich Qualifikation möglich wird.


(Anette Kramme [SPD]: Sie fangen nicht selber das Lachen an?)


– Frau Kollegin Kramme, ich habe diesen Sommer in
meinem Wahlkreis zum Beispiel einen jungen Mann
getroffen, der jetzt die Möglichkeit einer beruflichen
Weiterqualifikation bekommen hat.


(Anette Kramme [SPD]: Wow!)


Vor April 2011 wäre er durch das Raster gefallen, er
hätte gar nicht die Möglichkeit gehabt, sich zu qualifi-
zieren. Die Möglichkeit, dass alle Mitarbeiter in kleinen
und mittleren Unternehmen jetzt gefördert werden, ha-
ben nicht Sie geschaffen, sondern wir haben sie eröffnet.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Lassen Sie mich ein letztes Beispiel für Ihre Symbol-
politik anführen. Sie fordern, dass die Zentrale Aus-
lands- und Fachvermittlung der BA ihren Schwerpunkt
nicht nur auf Akademiker legen sollte. Auch das findet
schon statt. Es werden nicht nur Akademiker angewor-
ben; vielmehr werden jene Menschen angeworben, die
derzeit auf dem Arbeitsmarkt benötigt werden, aktuell
zum Beispiel im Pflegebereich. So lassen sich mehrere
Beispiele dafür finden, dass Sie in Ihrem Antrag Dinge
fordern, die in der Realität bereits umgesetzt werden. Ich
finde: Eine solche Symbolpolitik hat das Thema nicht
verdient.

Vielleicht können wir darüber bei der Beratung des
Antrags im Ausschuss vertieft diskutieren und uns dann
auch fragen, ob wir diesen Antrag wirklich brauchen, um
hinsichtlich der besseren Integration von Menschen mit
Migrationshintergrund voranzukommen.


(Josip Juratovic [SPD]: Den brauchen wir dringend!)


Ich habe daran aus den genannten Gründen meine Zwei-
fel. Dass wir uns über das Ziel einig sind, will ich aus-
drücklich begrüßen. Ich freue mich, wenn wir mit Ihnen,
den Oppositionsfraktionen, weitere Schritte in diese
Richtung gehen können.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720125200

Der Kollege Kilic ist der nächste Redner für die Frak-

tion Bündnis 90/Die Grünen.






(A) (C)



(D)(B)



Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720125300

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Die Beteiligung am Arbeitsleben hat eine zen-
trale Bedeutung für die soziale Teilhabe; denn am Ar-
beitsplatz knüpft man Kontakte und erfährt Wertschät-
zung. So findet Integration im Alltag statt. Jedoch
werden Menschen mit Migrationshintergrund am
Arbeitsmarkt in hohem Maße diskriminiert. Zu diesem
Ergebnis kommen gleich mehrere wissenschaftliche
Studien, unter anderem eine des Bundesinstituts für
Berufsbildung. In dem Bericht wird dargelegt, dass
Benachteiligungen wegen der ethnischen Herkunft in
Deutschland leider weit verbreitet sind. Von einer Dis-
kriminierung auf dem Arbeitsmarkt sind nicht nur Men-
schen mit Migrationshintergrund betroffen. Frauen und
ältere Menschen haben es ähnlich schwer. Am schwers-
ten haben es Menschen, bei denen diese Faktoren auf-
einandertreffen.

Ich bekomme zahlreiche E-Mails von verzweifelten
arbeitsuchenden Migranten. Zuletzt hat mich ein Hoch-
schulabsolvent mit hervorragendem Abschluss kontak-
tiert. Er hat schon über hundert Bewerbungen verschickt,
jedoch keine einzige Einladung zu einem Vorstellungs-
gespräch erhalten. Seine Ex-Kommilitonen mit schlech-
terem Abschluss, aber deutschem Namen sind dagegen
mit Jobs versorgt. Ein Blick in den öffentlichen Dienst
offenbart das Ausmaß dieser Diskriminierung. Dort
erwartet Sie die größte Parallelgesellschaft in Deutsch-
land. Kaum Angestellte mit ausländisch klingenden
Namen sind dort anzutreffen. Dabei müssen gerade
staatliche Stellen mit gutem Beispiel vorangehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Neben den Diskriminierungen gibt es drei weitere
Hauptgründe für die schlechte Lage der Migranten am
Arbeitsmarkt: erstens Chancenungleichheit im Bildungs-
system; zweitens hohe Hürden bei der Einbürgerung und
eine unzureichende Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis;
drittens die noch immer mangelnde Anerkennung von
ausländischen Abschlüssen. Das sollte auch der Bundes-
regierung klar sein. Sie reagiert jedoch zu zögerlich. Sie
muss die Grundvoraussetzungen dafür schaffen, dass auf
dem Arbeitsmarkt alle gleich behandelt werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Anonyme Bewerbungen können präventiv gegen
Diskriminierungen wirken. Das beweist auch ein Pilot-
projekt der Antidiskriminierungsstelle des Bundes.
Durch anonyme Bewerbungen wird der Fokus auf die
Qualifikation der Bewerber gelenkt. Deshalb erwarte ich
von der Bundesregierung ein stärkeres Engagement auf
diesem Gebiet.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die staatlichen Einrichtungen sollten mit einer neuen
Einstellungspolitik ein Vorbild für den privaten Sektor
sein. Sie sollen folgende zwei Eigenschaften als Plus-
punkte werten: erstens interkulturelle Kompetenz und

zweitens zusätzliche Muttersprachen. Diese Fähigkeiten
verdienen eine positive Berücksichtigung bei der Ein-
stellungspolitik.

Einen besonderen Handlungsbedarf sehe ich bei der
Arbeitsverwaltung. Die Jobvermittler müssen interkultu-
rell geschult und die Arbeitsagenturen mit der Migrati-
onsberatung vernetzt werden. Da haben wir noch großen
Nachholbedarf – leider.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der SPD-Antrag enthält konstruktive Vorschläge zur
Weiterentwicklung bestehender Ansätze. Im Kern lese
ich ihn jedoch nicht als Grundsatzkritik am schwarz-
gelben Regierungshandeln. Deshalb nehmen wir den
SPD-Antrag als Verbesserungsansatz wahr.

Um den Missstand endlich zu beenden, soll die
Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorlegen und ent-
sprechende Initiativen starten. Ich fordere von ihr vor al-
lem ein systematisches Engagement gegen Diskriminie-
rungen.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720125400

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der

Kollege Uwe Schummer, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Uwe Schummer (CDU):
Rede ID: ID1720125500

Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren!

Die duale Ausbildung in Deutschland hat an sich schon
eine sehr starke Integrationskraft. Das Lernen in der Pra-
xis für die Praxis sorgt dafür, dass Menschen frühzeitig
eine Chance haben, nach der Ausbildung in einen Beruf
einzusteigen und so ihr Leben zu bestreiten und ihre Fa-
milie zu ernähren. Wir haben in Deutschland auch auf-
grund der dualen Ausbildung eine Jugendarbeitslosigkeit
– dies bezieht sich auf junge Menschen bis 25 Jahre –
von nur 7,9 Prozent. In der Europäischen Union liegt die
Jugendarbeitslosigkeit im Schnitt bei 22,4 Prozent, in
Griechenland und Spanien liegt sie über 50 Prozent. Das
heißt, dort, wo es viele Arbeitsplätze gibt, wo es Ausbil-
dungsplätze gibt, gelingt auch Integration besser. In die-
sem Bereich hat die christlich-liberale Koalition einen
wesentlichen Meilenstein gesetzt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das Bundesinstitut für Berufsbildung in Bonn hat
2010 in einer Schülerbefragung herausgefunden, dass
78 Prozent der Jugendlichen mit Migrationshintergrund
eine duale Ausbildung wollen. Eine Erhebung in 2011
hatte ergeben – auch das müssen wir zur Kenntnis neh-
men –, dass 38 Prozent der 25- bis 34-Jährigen mit Mi-
grationshintergrund keinen beruflichen Abschluss hatten.
Das sind gescheiterte Biografien. Diese gibt es, unab-
hängig davon, wer gerade an der Regierung ist. Wir
müssen gemeinsam Konzepte entwickeln, die langfristig





Uwe Schummer


(A) (C)



(D)(B)


und dauerhaft eine zweite oder sogar dritte Chance zur
Integration ermöglichen.

Entscheidend ist: Gut hilft, wer früh hilft. Ein wichti-
ges Programm betrifft die Stärkung der Sprachkompe-
tenz, nämlich die Offensive „Frühe Chancen“ des Fami-
lienministeriums. Im Rahmen dieses Programms werden
400 Millionen Euro in 4 000 Kitas in Schwerpunktberei-
chen investiert, damit Halbtagskräfte, die sich um eine
gezielte Sprachförderung der Kinder in der Kita küm-
mern, mit 25 000 Euro im Jahr finanziert werden kön-
nen. So haben diese Kinder später in der Schule bessere
Chancen, und sie können einen Abschluss machen.

Ein ganz wichtiger Erfolg der Bundesregierung ist der
Abbau der Zahl der Altbewerber. Altbewerber sind die
Menschen, die zwölf Jahre nach Beendigung der Schul-
zeit noch keinen Ausbildungsplatz haben. Vor einigen
Jahren gab es noch 380 000 Altbewerber. Nach dem ak-
tuellen Berufsbildungsbericht liegt die Zahl der Altbe-
werber derzeit bei 175 000. Das heißt, der Berg der Alt-
bewerber wurde abgebaut; ihre Zahl wurde um circa
200 000 reduziert. Auch hier ist ein Stück weit eine
zweite Chance ermöglicht worden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Spannend ist die Initiative der christlich-liberalen Ko-
alition – diese gab es auch schon in der Großen Koali-
tion –, in deren Rahmen in Moscheen über Ausbildungs-
möglichkeiten informiert wird. Wir gehen natürlich auch
dorthin, wo es bestimmte Problemkreise gibt. Wir bin-
den auch die Imame ein. In meiner Heimatstadt Willich
am Niederrhein gibt es eine Vereinbarung der Stadt mit
der Moschee bzw. den Imamen, dass auf Deutsch gepre-
digt wird und dass nach dem Freitagsgebet Informations-
veranstaltungen stattfinden, auf denen die Bedeutung der
dualen Ausbildung für Jungen und für Mädchen darge-
stellt wird. Dort wird auch konkret geholfen, wenn Hilfe
beim Einstieg in die Erwerbstätigkeit notwendig ist. Die-
ses Miteinander und Füreinander in den Moscheen ist
eine ganz wichtige Aktion, die wir mitfinanzieren und
mit unterstützen. Dabei wird Menschen konkret gehol-
fen, nicht mit Phrasen und mit großen Ideologien, son-
dern mit sehr konkreten Aktivitäten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Entscheidend für eine erfolgreiche Berufsbiografie ist
eine frühzeitige und erweiterte Berufsorientierung. Über
das Konzept der Bildungsketten haben wir mit dafür ge-
sorgt, dass ab dem siebten Schuljahr, also drei Jahre vor
der Entlassung aus der allgemeinbildenden Schule, eine
Potenzialanalyse in den Schulen stattfindet. Man kann
später in überbetrieblichen Werkstätten verschiedene
Berufsfamilien kennenlernen, zum Beispiel Arbeiten mit
Holz und Metall, Hauswirtschaft, Gartenbau und Ge-
sundheitswesen. Man kann herausfinden, wo die eigenen
Potenziale liegen, die man später bei der Berufstätigkeit
einbringen kann. Nach einem Profiling können konkrete
betriebliche Praktika in dem ausgewählten Berufsfeld
organisiert werden.

Da, wo nach wie vor besonderer Hilfebedarf besteht
und wo die Eltern ein Stück weit überfordert sind, finan-
zieren wir auch aus Bundesmitteln bis zu 3 000 Berufs-
einstiegsbegleiter, die 30 000 jungen Menschen eine zu-
sätzliche Hilfe bieten, ihnen nicht nur in der Schule und
bei der Bewerbung zur Seite stehen, sondern auch noch
im ersten Ausbildungsjahr. Das ist konkrete menschliche
Hilfe, mit der wir Menschen den Einstieg in die Er-
werbstätigkeit erleichtern können.

Der Antrag der SPD ist in einigen Punkten spannend,
aber zum Teil veraltet. Kollege Vogel hat geschildert,
dass viele Anliegen, um die es geht, von der Regierung
bzw. von der christlich-liberalen Koalition längst umge-
setzt worden sind.

Ein Beispiel ist das Gesetz für die Anerkennung im
Ausland erworbener Berufsqualifikationen. Wir hatten
gestern ein Gespräch mit den Kammern, in dem uns mit-
geteilt wurde, dass allein über die IHK schon mehr als
1 400 entsprechende Anträge bearbeitet worden sind. Im
Handwerk gibt es weitere Aktivitäten. Ein Problem ha-
ben wir allerdings bei diesem Gesetz, das am 1. April
dieses Jahres in Kraft getreten ist: Die Länder ziehen
nicht in dem Maße mit, wie es sein müsste. In vielen Fäl-
len geht es um Hochschulabsolventen, aber die Hoch-
schule ist Ländersache.

Es gibt ein Land, in dem, seitdem die Bundesregie-
rung das Anerkennungsgesetz auf den Weg gebracht hat,
noch überhaupt nichts passiert ist, nämlich Baden-Würt-
temberg. Da wäre meine Bitte, Herr Kilic, den Minister-
präsidenten, der ja von den Grünen gestellt wird, sozusa-
gen zum Laufen zu bringen, damit endlich auch in
diesem Bereich Anerkennung stattfinden kann.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Bei aller Kritik, bei allem, was wir noch leisten müs-
sen, möchte ich sagen: Die OECD hat 2009 festgestellt,
dass es arbeitswillige Einwanderer in Deutschland leich-
ter haben als in den meisten anderen Industriestaaten,
und hat darauf verwiesen, dass jeder fünfte Firmengrün-
der in Deutschland ausländische Wurzeln hat. Das ist
Potenzial, das wir weiter schöpfen wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720125600

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
der Drucksache 17/9974 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Dazu gibt es
keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf:

a) – Zweite und dritte Beratung des von den Frak-
tionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung und
Vereinfachung der Unternehmensbesteuerung
und des steuerlichen Reisekostenrechts

– Drucksache 17/10774 –





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)


Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses (7. Ausschuss)


– Drucksachen 17/11180, 17/11217 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Mathias Middelberg
Lothar Binding (Heidelberg)


– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)

gemäß § 96 der Geschäftsordnung

– Drucksache 17/11189 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider (Erfurt)
Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Priska Hinz (Herborn)


b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll,
Richard Pitterle, Dr. Axel Troost, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion DIE LINKE

Verlustverrechnung einschränken – Steuerein-
nahmen sicherstellen

– Drucksachen 17/5525, 17/11180 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Mathias Middelberg
Lothar Binding (Heidelberg)


Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist auch
für diese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. –
Das ist offensichtlich einvernehmlich und damit so be-
schlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Mathias Middelberg für die CDU/CSU-Frak-
tion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Mathias Middelberg (CDU):
Rede ID: ID1720125700

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Es ist sehr schade, dass sich die Opposi-
tion nicht dazu durchringen konnte, diesem guten Gesetz
zuzustimmen.


(Beifall des Abg. Lothar Binding [Heidelberg] [SPD])


Ich finde, es ist wirklich ein gelungenes Gesetz. Es be-
steht aus drei Teilen: Reisekostenrecht, Organschaft,
Verlustrücktrag.

Erster Punkt. Gerade bei den Reisekosten kann man
zu Vereinfachungen kommen. Die Dinge, die wir im
Reisekostenrecht erreicht haben, machen dieses Gesetz
zu einem der wichtigsten Steuervereinfachungsgesetze
dieser Legislaturperiode.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Hier wurden dramatische Vereinfachungen für die Bür-
ger erreicht. Deswegen ist es sehr bedauerlich, dass sich

die Opposition nicht durchringen will, diesem Gesetz
zuzustimmen.

Wir machen im Reisekostenrecht einige wichtige
Schritte. Bisher sind Verpflegungsmehraufwendungen in
drei Stufen abzurechnen; da kommt es auf Mindestabwe-
senheitszeiten und Ähnliches an. Das wird in Zukunft
sehr viel einfacher, weil wir bei Verpflegungsmehrauf-
wendungen nur noch zwei Stufen haben werden. Das er-
leichtert sowohl die Angabe von Reisekosten als auch
die Prüfung von Reisekostenabrechnungen.

In Zukunft wird auch nicht mehr darüber gestritten
werden, welche der verschiedenen Tätigkeitsstätten ei-
nes Arbeitnehmers die Haupttätigkeitsstätte darstellt.
Stattdessen wird einfach eine Tätigkeitsstätte zur regel-
mäßigen Tätigkeitsstätte erklärt.

Darüber finden dann keine weiteren Streitigkeiten und
Auseinandersetzungen mehr statt. Es muss auch nicht
27-mal geprüft werden. Es ist also eine klare Regelung,
die man eigentlich nur begrüßen kann.

Auch bei der doppelten Haushaltsführung kommen
wir zu deutlichen Verbesserungen. Da gab es bisher ei-
nen riesigen Verwaltungsaufwand, weil Einzelbelege
beigebracht werden mussten. Vergleichsmieten, Durch-
schnittsmieten und Ähnliches mehr mussten ermittelt
werden. Hier kommen wir zur Ansetzung von Pauschbe-
trägen. Demnächst können im Rahmen der doppelten
Haushaltsführung für Wohnung und Unterkunftskosten
bis zu 1 000 Euro angesetzt werden. Das ist eine deutli-
che Vereinfachung und Verbesserung des gesamten Ver-
fahrens.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich sage es noch einmal: Durch diese Regelungen
werden 35 Millionen Menschen von unnützer Bürokra-
tie, von unnützem Aufwand entlastet. Neben denjenigen,
die diese Reisekostenabrechnungen zu erstellen haben,
gibt es aber auch diejenigen, die diesen Kram prüfen
müssen. Das ist aus meiner Sicht, wie gesagt, eines der
wichtigsten Vereinfachungsgesetze dieser Legislaturpe-
riode.

Zweiter Punkt: Organschaft. Wenn man das Stichwort
hört, könnte man denken, dass es irgendetwas mit Unter-
leibsproblemen zu tun hat. Es geht aber nicht darum,
sondern es geht um verbundene Unternehmen, die mitei-
nander sogenannte Organschaftsverträge abschließen,
also beispielsweise um eine Mutter- und eine Tochterge-
sellschaft in einem Konzern, die einen sogenannten Er-
gebnisabführungsvertrag abschließen. Da hat es in der
Vergangenheit immer wieder große Probleme mit der
Rechtsprechung gegeben, die diese Verträge kassiert hat,
weil irgendwelche kleinen formalen Fehler in den Ver-
trägen enthalten waren oder weil es kleine Fehler bei der
Abwicklung dieser Verträge gegeben hat.

Diese Regelung haben wir jetzt deutlich vereinfacht.
Die Organschaft ist jetzt sehr viel rechtssicherer, als sie
früher war. Das war das Petitum aus dem Bereich der
Wirtschaft. Es ist in zunehmendem Maße auch für im-
mer mehr kleine und mittlere Unternehmen in Deutsch-
land wichtig, gerade auch für die, die dieses Land inno-





Dr. Mathias Middelberg


(A) (C)



(D)(B)


vativ vorantreiben und international verwoben sind, dass
sie sich fest darauf verlassen können, dass ihre Unter-
nehmensverträge, die Verbundverträge, wirklich rechts-
sicher sind und einer Prüfung standhalten. Deswegen
sage ich: Ich finde, auch das ist ein ganz gewaltiger Fort-
schritt für den Wirtschaftsstandort Deutschland.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dritter Punkt: der Verlustrücktrag. Damit erfüllen wir
eine Konvergenzforderung aus dem deutsch-französi-
schen Grünbuch für Unternehmensbesteuerung. Im Üb-
rigen schaffen wir mehr Liquidität für den Mittelstand.

Eines aber ist mir besonders wichtig – das möchte ich
mit einer allgemeinen Bemerkung verbinden, weil wir ja
auch noch über den Antrag der Linken diskutieren wol-
len –: Die Verlustverrechnung in Deutschland einzu-
schränken, hielte ich für einen ganz schweren Fehler;
denn wir müssen daran denken, dass unser Unterneh-
menssteuerrecht international wettbewerbsfähig sein
muss. Wir können uns hier keine völlig anderen Regeln
erlauben als in anderen Ländern, und in anderen europäi-
schen Ländern sind Unternehmensverluste natürlich mit
Gewinnen verrechenbar. Alles andere wäre auch völlig
schwachsinnig und würde nicht dem Grundsatz der Be-
steuerung nach Leistungsfähigkeit entsprechen.

Wenn man zum Beispiel ein Auto bauen will, muss
man dieses Auto erst einmal entwickeln. Man muss
Pläne und Zeichnungen machen und Forschung betrei-
ben. Man muss einen Prototyp bauen und damit arbeiten.
Das heißt, man hat über drei, vier und noch mehr Jahre
erst einmal einen großen Entwicklungsaufwand. Man
sammelt Verluste. Die Verluste in diesen Jahren muss
man später mit Gewinnen verrechnen können. Deswe-
gen sind Verlustvortrag und Verlustrücktrag in einem
vernünftigen Unternehmenssteuerrecht eigentlich eine
Selbstverständlichkeit.

Wir meinen, dass das Steuerrecht in Deutschland mit
den drei Punkten, die ich genannt habe, weiter optimiert
wird. Wir werden, was das Unternehmenssteuerrecht an-
geht, noch stabiler und noch wettbewerbsfähiger. Mit
den Änderungen bei den Reisekosten tun wir ganz viel
für die normalen Menschen in diesem Land, die beruf-
lich auf Reisen sind, ob als Handwerker, als Monteure,
als Kurierfahrer oder in allen möglichen Varianten von
Dienstfahrten. Das, finde ich, ist ein ganz gewichtiger
Beitrag. Wie gesagt, ich bedaure, dass Sie dem Ihre Zu-
stimmung verweigern wollen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1720125800

Nächster Redner ist der Kollege Lothar Binding für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Lothar Binding (SPD):
Rede ID: ID1720125900

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will
in einer freien Form des Zitats den Kollegen Middelberg

zitieren: Es ist sehr schade, dass sich die Regierungsko-
alition nicht hat durchringen können, auf einen richtig
gravierenden Fehler in diesem Gesetzentwurf zu ver-
zichten. – Das ist ungefähr so, als wenn der Kellner ei-
nen schönen Orangensaft bringt und kurz bevor er den
Gast erreicht noch ein Tropfen Arsen hineinkommt. Man
würde ihn nicht trinken. So ist es uns jetzt auch ergan-
gen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Uwe Schummer [CDU/CSU]: Wir wollen Sie nicht vergiften!)


Das ist auch ein wenig der Hektik geschuldet, die wir er-
leben.

Ich will es Ihnen ehrlich sagen: Wir finden fast den
gesamten Gesetzentwurf sehr gut, und wir hatten uns
vorgenommen, zuzustimmen. Leider ist aber zwei Tage
vor der Abschlussberatung im Finanzausschuss etwas
passiert, weswegen wir nicht zustimmen können.

Ich finde, man kann ruhig noch einmal sagen, wie to-
lerant die Opposition im Verfahren war: Wir haben uns
auf wirklich viele Fachgespräche statt Anhörungen ein-
gelassen, wir sind sogar bereit gewesen, die Aus-
schussprotokolle selbst mitzuschreiben, um den enor-
men Zeitdruck abbauen zu können,


(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Das hat ja nicht funktioniert!)


und wir haben die Verkürzung der Fachdebatte mitgetra-
gen. – Zur Vorsitzenden, weil sie gerade einen Zwi-
schenruf gemacht hat: Sie musste sogar während der
Ausschusssitzung eine Pressekonferenz durchführen,
weil sie sonst zeitlich nicht dazu gekommen wäre. Also
musste sie sich da vertreten lassen.


(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Das ist ja albern!)


Sie sehen: Es gab einen extremen Zeitdruck.

Die SPD unterstützt übrigens viele Regelungen in
diesem Gesetzentwurf. Ich will jetzt einige vielleicht
langweilige Kleinigkeiten erwähnen:

Die Änderung im steuerlichen Reisekostenrecht, spe-
ziell die Einführung der zweistufigen Staffelung beim
Verpflegungsmehraufwand, tragen wir zum Beispiel mit.
Das ist eine wichtige Vereinfachung für Arbeitnehmer,
Arbeitgeber und die Verwaltung. Das ist eine wirklich
gute Sache. Deshalb ist es so schade, dass Sie diesen
kleinen großen Abschlussfehler gemacht haben.

Zur Verpflegungspauschale von 12 bzw. 24 Euro. Ich
weiß, jeder, der das jetzt hört, denkt: Von welchen Klei-
nigkeiten erzählt er da? Für die, die das betrifft, ist das
aber eine ganz wichtige Sache und eine große Vereinfa-
chung. Die Arbeitnehmer, die eine eintägige auswärtige
berufliche Tätigkeit über Nacht ausüben und zum Bei-
spiel mehr als 8 Stunden vom Wohnort entfernt sind,
können jetzt 12 Euro abrechnen.

Auch die Ersetzung des Begriffs „regelmäßige Ar-
beitsstätte“ durch „erste Tätigkeitsstätte“ ist sehr gut und
sachgerecht und hilft künftig den Arbeitnehmern, sich





Lothar Binding (Heidelberg)



(A) (C)



(D)(B)


im Fahrkostenrecht sehr gut zurechtzufinden. Sie kön-
nen ihre Fahrtkosten jetzt komplett über die erste Tätig-
keitsstätte abrechnen. Das ist ein sehr großer Vorteil, den
es bisher nicht gab.

Allerdings gibt es auch einen Wermutstropfen, näm-
lich die Einstufung von Bildungseinrichtungen, die au-
ßerhalb eines Dienstverhältnisses zu einer vollzeitigen
Bildungsmaßnahme aufgesucht werden. Das ist nämlich
plötzlich auch die erste Tätigkeitsstätte. Das bedeutet:
Wenn ich vom Jobcenter zu einer Bildungsmaßnahme
geschickt werde, die zum Beispiel weit weg liegt, dann
kann ich meine Fahrkosten nicht so geltend machen, wie
es sich eigentlich gehören würde. Das heißt, hier gibt es
eine Restriktion für die Schwächsten, die ausgerechnet
in einer Lebensphase, in der es ihnen schlecht geht, ein
Problem bekommen.

Wir glauben, hinsichtlich der Entfernungspauschale
hätte man an dieser Stelle großzügiger sein können.
Vielleicht kann sich die Koalition ja noch durchringen,
unseren diesbezüglichen Antrag zu vollzeitigen Bil-
dungsmaßnahmen mitzutragen, um damit weiterhin ei-
nen unbegrenzten Reisekostenabzug zu ermöglichen.


(Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Das ist doch mit drin!)


– Macht ihr das mit?


(Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Wenn wir es untergesetzlich darstellen, ist es doch gut!)


– Na ja, ihr sagt, ihr wollt es untergesetzlich regeln. Es
war in der Debatte aber nicht ganz klar, ob und wie das
erreicht werden soll.

Zu dem, was wir nicht mitmachen: Das hat etwas da-
mit zu tun, dass wir gelernt haben – und das stimmt –,
dass Verluste im Unternehmensteuerrecht sinnvoller-
weise immer mit Gewinnen zu verrechnen sein sollen.
Allerdings werden Verluste grenzüberschreitend, welt-
weit und auf der Zeitachse durch Rück- und Vortrag sehr
stark zur Gestaltung genutzt. Durch diese Möglichkeit
auf der Zeit- und auf der räumlichen Achse kommt es zu
sehr vielen Gestaltungen. Deshalb halten wir die Ver-
doppelung des Verlustrücktrags für keine sinnvolle Maß-
nahme.

Jetzt komme ich zu der wichtigsten Sache, die wir un-
terstützen, nämlich zur Korrektur bezogen auf die Mög-
lichkeiten, bilanzielle Fehler später noch zu korrigieren,
ohne dass die Organschaftsverhältnisse geschädigt wer-
den.

Bisher war es so: Wenn in einem Ergebnisabfüh-
rungsvertrag ein Komma falsch gesetzt worden ist und
das irgendwann festgestellt wurde, dann war die gesamte
organschaftliche Regelung zunichte gemacht. Das wird
jetzt korrigiert. Das halten wir für eine sehr gute Sache.

Ich habe eben einige Punkte genannt, die prima sind.
Jetzt komme ich zu dem einen Punkt, der kritisch ist.


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Arsen!)


– Zu dem Tropfen Arsen.

Zwei Tage vor der Abschlussberatung haben Sie ei-
nen Änderungsantrag eingebracht. Er betrifft die Organ-
träger – Sie haben schon erklärt, was das ist – und die
Organgesellschaften mit Sitz in der EU oder im europäi-
schen Wirtschaftsraum.

Nun passiert Folgendes: Ein Unternehmen, dessen
Sitz und Geschäftsleitung räumlich getrennt sind – der
Sitz ist in einem und die Geschäftsleitung in einem ande-
ren Land –, macht einen Verlust geltend. Die von Ihnen
vorgesehene Regelung erlaubt es, diesen einen Verlust
sowohl in dem einen als auch in dem anderen Land gel-
tend zu machen.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Lädt ein!)


Diese Logik ist natürlich hochgefährlich, weil die dop-
pelte Verlustverrechnung im grenzüberschreitenden Fall
deutlich macht, dass hier viele Gestaltungsmöglichkei-
ten gegeben sind. Da haben wir als Finanzpolitiker die
Aufgabe, die Einnahmeseite des Staates sicherzustellen,
zu stärken, Steuersubstrat im Lande zu halten, damit die
Haushälter die Chance haben, entsprechende Ausgaben
zu tätigen.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Ich will auch sagen, warum uns diese Regelung be-
sonders ärgert. Es gibt nämlich die Idee, die Besteue-
rungsbefugnisse auf die Mitgliedstaaten aufzuteilen.
Herr Wissing hat etwas abgewehrt. Wir können in zwei
Jahren einmal evaluieren, was uns dieser kleine Antrag,
dieser große Fehler gekostet hat. Das ist für den Fiskus
tatsächlich ein großer Nachteil.

Ich glaube, dass man mit diesem Sachverhalt so nicht
umgehen kann. Es ist doch auch nicht logisch, zu sagen:
Ich darf einen Verlust doppelt geltend machen. Wenn
kein besserer Vorschlag vorläge, dann könnte man sa-
gen: Gut, gewisse Fehler müssen nun einmal gemacht
werden. Aber es gibt die Möglichkeit, die Befugnisse auf
die verschiedenen Staaten aufzuteilen. Damit hätte man
eine faire Verlustteilung, eine faire Anrechnung auf den
Gewinn. Das wäre korrekt.

Warum Sie sich dieser Möglichkeit berauben und
diese falsche Konsequenz aus diesem Urteil, bezogen
auf Philips Electronics, ziehen, können wir nicht verste-
hen; denn Sie wissen genau, dass der EuGH auf die ein-
zelnen Fisci grundsätzlich keine Rücksicht nimmt. Wenn
das so ist, dann haben wir immer ein fiskalisches Pro-
blem. Hier hätte man die Chance gehabt, die Unsicher-
heit im Rechtsraum zu belassen und die Sicherheit beim
Fiskus zu suchen. Sie aber haben es umgekehrt gemacht:
Sie haben den Fiskus in die Unsicherheit gebracht und
die rechtliche Seite in Sicherheit.

Das heißt aber, wir haben an dieser Stelle riesige Ver-
luste, die in einem anderen Fall überhaupt nicht gegeben
wären. Deshalb halten wir dieses Gesetz für gut, aber
wegen dieses Tropfens Arsen leider für nicht zustim-
mungsfähig.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720126000

Für die FDP-Fraktion spricht jetzt der Kollege

Dr. Volker Wissing.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Volker Wissing (FDP):
Rede ID: ID1720126100

Herr Präsident, ich danke Ihnen. – Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Ihre Argumente, lieber Herr Kollege
Binding, warum Sie diesem Gesetz nicht zustimmen
können, konnte man nicht ganz nachvollziehen. Das lag
wahrscheinlich daran, dass Sie sich lange überlegt ha-
ben: Wie kann man die Ablehnung eines so guten Geset-
zes begründen?


(Beifall bei der FDP – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das stimmt überhaupt nicht! Das wissen Sie auch!)


Es ist Ihnen wirklich nicht gelungen, das hier überzeu-
gend vorzutragen.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: In der Psychologie heißt das Projektion!)


Ich muss ehrlich sagen: Sie müssen am Ende den
Menschen erklären, was Sie hier machen. Es ist nicht
meine Aufgabe, Ihren Wählern zu erklären, was Sie hier
machen. Aber ich frage mich ernsthaft, ob eine sozialde-
mokratische Partei hier eine steuerliche Verbesserung
nach der anderen für die Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer mit an den Haaren herbeigezogenen Begründun-
gen ablehnen kann,


(Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Richtig! So ist das! – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Da haben wir überall zugestimmt!)


lieber Herr Kollege Binding.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Manuel Höferlin [FDP]: Das wahre Gesicht der Sozialdemokraten! – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Sie wissen wahrscheinlich, dass ich recht habe!)


Es liegt wieder eine Studie der OECD vor, dass in
Deutschland die Belastungen für untere und mittlere
Einkommen durch die kalte Progression massiv gestie-
gen sind.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Was hat das mit der Unternehmensbesteuerung zu tun?)


Wir haben ein Steuergesetz zur Entlastung der Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer hier im Deutschen Bun-
destag eingebracht – die SPD war dagegen.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Machen Sie den Tarif anders, richtig! Linear Progressiv! Dann wird es ordentlich!)


Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben das
Problem, dass sie im Bereich der Reisekosten, der Ar-
beitsstätte und der doppelten Haushaltsführung erhebli-
che Bürokratielasten zu tragen haben. Da sind sehr

streitanfällige Begriffe im Gesetz. Das nervt die Men-
schen.

Davon sind Kraftfahrer betroffen. Sie sind über dieses
Steuerrecht genervt. Sie haben einen harten Job. Sie tun
wirklich alles, was sie können und erbringen enorme
Leistungen für diese Gesellschaft.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das tragen wir auch mit!)


Sie wollen von diesem Steuerrecht nicht unnötig gegän-
gelt werden. Jetzt legen wir Ihnen etwas vor, was diesen
Menschen ihr Leben vereinfacht und eine leichte Entlas-
tungswirkung mit sich bringt – immerhin bewirken diese
Regelungen eine Entlastung von 200 Millionen Euro –,
weil wir nicht wollen, dass die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer die Kosten tragen. Jetzt sagt die Sozialde-
mokratie: Nein, aus parteitaktischen oder sonstigen Grün-
den, mit an den Haaren herbeigezogenen Argumenten,
knallen wir den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
wieder einmal einen vor den Latz. – Das ist doch keine
soziale Politik, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der FDP – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Der Versuch, Ihnen das zu erklären, ist offensichtlich gescheitert!)


Deswegen fragt man sich doch ernsthaft: Was haben
Ihnen denn die Menschen in Deutschland getan, die
morgens früh aufstehen und hart arbeiten? Warum müs-
sen diese Menschen denn durch die kalte Progression ab-
kassiert werden?


(Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die müssen die FDP ertragen!)


Warum müssen diese Menschen denn mit Steuerbüro-
kratie gegängelt werden? Wissen Sie überhaupt noch,
wie es draußen im Leben zugeht? Haben Sie einmal mit
einem Kraftfahrer gesprochen? Haben Sie einmal mit
den Leuten gesprochen, die genervt sind, weil sie dem
Finanzamt Stunden und Minuten nachweisen müssen?


(Manfred Zöllmer [SPD]: Sie wissen das aber!)


Wissen Sie, was diese Erleichterungen, die dieses Gesetz
mit sich bringt, für Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer im Außendienst bedeuten? Warum zeigen Sie als
Sozialdemokraten diesen Menschen die kalte Schulter?
Das hätten wir heute gern einmal von Ihnen gehört.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Haben Sie mir auch zugehört?)


Das ist das größte Steuervereinfachungsgesetz für die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in dieser Legisla-
turperiode. Selbst die Deutsche Steuer-Gewerkschaft hat
gesagt,


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Selbst die SPD!)


dass dieser Gesetzentwurf ein sehr guter Gesetzentwurf
ist.





Dr. Volker Wissing


(A) (C)



(D)(B)


– Ach, die SPD. Sie werden doch nicht daran gemessen,
was Sie draußen faseln. Sie werden doch daran gemes-
sen, wie Sie hier abstimmen. Sie verweigern den Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmern ein faireres und ge-
rechteres Reisekostenrecht.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Nein, das machen wir nicht!)


Das ist sozialdemokratische Realpolitik.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: So funktioniert Politik nicht! So funktioniert Demagogie, aber nicht Politik! – Zuruf von der FDP: Das kommt alles ins Protokoll!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Gesetzent-
wurf ist in enger Abstimmung mit den Betroffenen zu-
stande gekommen. Die Bundesregierung hat das hervor-
ragend vorbereitet. Der Herr Staatssekretär Koschyk hat
sich genauso wie Bundesfinanzminister Schäuble darum
bemüht.

Die Koalition hat gesagt: Hier sind Millionen Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer betroffen, und für uns
steht von vornherein fest: Dieses Gesetz soll eine echte
Entlastung für die Betroffenen, für die Arbeitnehmer,
aber nicht für die Finanzverwaltung sein. Im Vorder-
grund standen die Menschen, die hart arbeiten.

Das ist uns auch gelungen. Wir haben in der Anhö-
rung keine kritische Stimme gehört, die sich gegen die-
sen Gesetzentwurf gewandt hat. Wir haben kein einziges
vernünftiges Argument gegen diesen Gesetzentwurf ge-
hört.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: War in der Anhörung Ihr Antrag schon drin? – Bernd Scheelen [SPD]: Wenn Sie erst hinterher Arsen zuschütten, können die Sachverständigen nichts dazu sagen!)


Die Menschen haben gesagt: So ein Zustandekom-
men ist vorbildlich. Mit uns reden, unsere wirklichen
Probleme ernst nehmen, all das steht in diesem Gesetz-
entwurf drin.

Wir haben uns gegen eine knallharte Gegenfinanzie-
rung in schwierigen Zeiten ausgesprochen und wollen es
den Menschen einfacher machen, ohne sie dafür bezah-
len zu lassen. Das ist das, was wir hier zustande gebracht
haben.


(Bernd Scheelen [SPD]: 3 Prozent kriegen Sie zustande!)


Wenn Sie die Sorgen der Menschen wirklich ernst
nehmen würden, dann würden Sie Ihre parteitaktischen
Interessen hintanstellen und nicht alles verhindern und
nicht zu allem Nein sagen.

Deswegen glaube ich, dass die Menschen mit diesem
Gesetz sehr gut zurechtkommen werden. Ich glaube,
dass das ein hervorragendes Gesetz ist. Wir haben künf-
tig eine klare Regelung, was die Arbeitsstätte angeht. Es
wird nicht mehr auf komplizierte streitanfällige Begriffe
ankommen, sondern auf das, was im Arbeitsvertrag

steht. Wir werden einfache Regeln für die doppelte
Haushaltsführung haben. Es wird nicht mehr auf die
ortsübliche Vergleichsmiete ankommen, sondern es wird
einfach auf die tatsächliche Miete ankommen, gedeckelt
auf 1 000 Euro.

Einfacher kann Steuerrecht gar nicht mehr sein. Dann
sagen Sie Nein. Das können Sie den Menschen in
Deutschland nicht ernsthaft antun wollen, was Sie hier
vortragen, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Lassen Sie mich noch etwas zu dem unternehmen-
steuerrechtlichen Teil sagen. Wir haben in diesem Ge-
setzentwurf eine Lösung für die Frage der Organschaft
vorgesehen. Das Problem mit dem Gewinnabführungs-
vertrag wird ebenfalls gelöst. Das ist ein drängendes
Problem für die deutsche Wirtschaft.

Wir hätten uns auch vorstellen können, einen größe-
ren Schritt hin zur Gruppenbesteuerung zu machen.
Dazu gab es keine große Unterstützung vonseiten der
Wirtschaft. Wir haben aber gesagt: Das, was notwendig
ist und was kurzfristig gemacht werden kann und was
wirklich hilft in diesem Bereich, um die Wettbewerbsfä-
higkeit zu stärken, das machen wir.

Ich kann auch nicht verstehen, dass Sie den Ver-
lustrücktrag, der eine spürbare Liquiditätsverbesserung
für kleine und mittlere Unternehmen, also für den Mit-
telstand, mit sich bringen wird, ausgerechnet hier im
Deutschen Bundestag kritisieren. Wir reden die ganze
Zeit von Wachstum. Jetzt schaffen wir mehr Liquidität
für kleine und mittlere Unternehmen. Das ist eine
Chance für Investitionen, für Arbeitsplätze und für
Wachstum. Wer sagt Nein dazu? Die Sozialdemokratie.


(Bernd Scheelen [SPD]: Haben Sie nicht zugehört, oder was?)


Sie kann man für Wachstumspolitik, Arbeitsmarktpolitik
und Steuerpolitik einfach nur vergessen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das war noch mehr Arsen, als ich ursprünglich dachte!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720126200

Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Kollegin

Dr. Barbara Höll.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720126300

Danke, Herr Präsident. – Herr Wissing, die Speer-

spitze der Arbeiterbewegung?


(Beifall bei der LINKEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Was Sie hier abgeliefert haben, ist einfach plump. Herr
Wissing, Sie können das als Koalition und Regierung,
aber Sie haben ganz bewusst eine gute gesetzliche Rege-





Dr. Barbara Höll


(A) (C)



(D)(B)


lung, das Reisekostenrecht, einfach mit dem Bereich Un-
ternehmensteuern zusammengepackt, was erst einmal
überhaupt nichts miteinander zu tun hat. Wer möchte,
kann sehr wohl im Protokoll des Finanzausschusses
nachlesen – das spiegelt sich dann auch in dem Bericht
wider –, dass die Opposition den Änderungen im Reise-
kostenrecht zugestimmt hat.


(Zuruf von der FDP: Aha!)


– Ja, das haben Sie ordentlich vorbereitet. Das war auch
in der Anhörung so zu hören. Da haben wir tatsächlich
eine Steuervereinfachung erreicht. Rechtlich unbe-
stimmte Begriffe wurden konkretisiert. Das ist schon an-
gesprochen worden. Das geht voll in Ordnung. Aber
wenn Sie jetzt sagen: „Es war alles prima bei der Anhö-
rung“, dann stimmt das nicht.


(Otto Fricke [FDP]: Bis jetzt war es fair!)


Da frage ich mich wieder, Herr Wissing: Machen Sie
dort die Ohren zu? Oder wie war das im weiteren Ver-
lauf, wenn unangenehme Fragen kamen?


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Man wundert sich da, ja!)


Der zweite große Bereich, den Sie in dem Gesetzentwurf
behandeln, ist die Unternehmensbesteuerung. Dabei geht
es um zwei Dinge. Zum einen haben Sie die Vorausset-
zungen zur Bildung einer ertragsteuerlichen Organschaft
abgesenkt, obwohl wir alle wissen, dass prinzipiell ge-
rade die Organschaften oftmals gebildet werden, um
Steuergestaltungsmodelle zu nutzen. Zum anderen haben
Sie die Verdoppelung der Höchstbeträge beim Ver-
lustrücktrag vorgesehen. Wenn Sie das als Förderung der
kleinen und mittelständischen Betriebe bezeichnen,


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Der Arbeitnehmer vor allem!)


dann möchte ich noch einmal die Zahlen nennen. Es geht
um eine Summe von 500 000 Euro, die jetzt auf 1 Mil-
lion Euro erhöht wird. Für die kleinen und mittelständi-
schen Betriebe bei mir in Leipzig gilt: Wenn einer da-
runterfällt, ist das wahrscheinlich schon viel.


(Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Dann kennen Sie den industriellen Mittelstand aber überhaupt nicht, Frau Höll! Dann haben Sie keine Ahnung vom industriellen Mittelstand!)


Das ist wirklich keine breite Förderung der KMU, im
Gegenteil.

Ich habe dazu Kleine Anfragen im Bundestag gestellt,
die das Finanzministerium beantwortet hat. Laut OECD-
Zahlen gibt es in keinem anderen Staat in Europa eine
solch große Anhäufung von Verlustrückträgen wie in
Deutschland. Wenn die alle auf einmal geltend gemacht
würden, dann hätten wir aber Riesenprobleme. Das ist
eine Zeitbombe, insbesondere für die Kommunen. Dage-
gen hätten Sie etwas tun müssen. Das hätten Sie anpa-
cken müssen. Nein, Sie machen das nicht.

Das ist also mehr als nur ein Tropfen Arsen. Das ist
für mich ein weiterer Grund, warum man dem Gesetz-

entwurf insgesamt nicht zustimmen kann. Das hat nichts
mit steuerlicher Gerechtigkeit zu tun.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich komme noch einmal zu dem bereits angesproche-
nen Punkt, wie Sie das EuGH-Urteil zu der Frage aufge-
nommen haben, wie Unternehmen, die in mehreren Staa-
ten agieren, mit ihren Verlusten umgehen müssen.


(Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Der Punkt ist doch von keinem Sachverständigen bemängelt worden!)


Es stellt doch niemand, auch wir nicht, in Abrede,
dass man Gewinne und Verluste verrechnen können
muss. Aber wenn Sie jetzt zur Steuergestaltung förmlich
einladen


(Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Das ist doch völliger Quatsch!)


und sagen: „Bitte schön, jetzt öffnen wir euch das
Tor; ihr könnt jetzt eure Verluste nehmen, erst in Land A
und in Land B nochmals“,


(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Da stehen Sie aber ziemlich alleine mit Ihrer Meinung!)


dann wären doch einige mit dem Klammerbeutel ge-
pudert,


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Das scheint mir bei Ihnen passiert zu sein mit dem Klammerbeutel!)


wenn sie das nicht als Möglichkeit nutzen und ihre wirt-
schaftliche Tätigkeit dann vielleicht auch entsprechend
ausdehnen.


(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Das sagen die Sachverständigen aber ganz anders! – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das lag bei der Anhörung überhaupt noch nicht vor!)


Eine solche Umsetzung geht überhaupt nicht. Statt an
dieser Stelle etwas mit der heißen Nadel zu machen, hät-
ten wir uns Zeit nehmen und ordentlich beraten müssen,
damit etwas herauskommt, was nicht zu weiteren Steuer-
ausfällen führen kann, sondern einerseits der Rechtslage
Rechnung trägt, andererseits aber dem Gemeinwesen
nicht schadet.

Etwas Gutes mit zu verpacken und uns dann zu sagen,
dass wir jetzt mit dem guten Reisekostenrecht die große
Kröte im Unternehmensteuerrecht schlucken müssen, ist
ein plumper Versuch. Damit werden Sie nicht durch-
kommen. Diesen Gesetzentwurf kann man nur insge-
samt ablehnen, und das wird die Linke tun.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720126400

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Thomas Gambke

vom Bündnis 90/Die Grünen.






(A) (C)



(D)(B)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir wollen
als Grüne, dass Reformen in der Unternehmensbesteue-
rung drei Ziele verfolgen: nachhaltig, gerecht, euro-
päisch. Deutschland ist ein attraktiver Wirtschaftsstand-
ort – keine Frage. Die Besteuerung von Unternehmen ist
mit rund 30 Prozent im weltweiten Vergleich durchaus
wettbewerbsfähig. Aber nicht nur deshalb, sondern auch
wegen der Haushaltskonsolidierung sehen wir als Grüne
keinen Spielraum für Reformen im Unternehmensteuer-
bereich, die zu Einnahmeminderungen führen.

Erfüllt das Gesetz diese Kriterien „nachhaltig, ge-
recht, europäisch“? Leider erfüllt es sie nicht in jedem
Punkt; denn erstens haben Sie drängende Baustellen im
Bereich der Unternehmensteuern – es ist ein Gesetz auch
zur Unternehmensbesteuerung – gar nicht erst ange-
packt,


(Zuruf von der CDU/CSU: Zum Beispiel?)


und zweitens führt das Gesetz zu Mindereinnahmen von
300 Millionen Euro im Jahr. Das ist einfach nicht akzep-
tabel.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Aber kommen wir erstens dazu, was dem Gesetz
fehlt. Da fehlt zum Beispiel eine Lösung zur Besteue-
rung von Streubesitzdividenden. Sie kennen das Urteil
des EuGH. Die Verschleppung dieses Problems kann
richtig teuer werden.


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Das werden wir schon lösen! Keine Sorge!)


– Ja, das werden Sie lösen. Aber warum lösen Sie es
nicht jetzt? Rechtssicherheit ist nicht gegeben, aber
Planbarkeit ist eine sehr wichtige Größe bei Unterneh-
mensentscheidungen, bei Entscheidungen über langfris-
tige Investitionen. Hören Sie, was im Moment die Wag-
niskapitalgeber sagen und was die Gründerszene sagt!
Da ist man stark verunsichert. Ich meine, da hätten Sie
handeln müssen, und zwar jetzt; denn es ist wichtig, dass
man handelt, weil Planungssicherheit für Unternehmen
eine Grundvoraussetzung für das Investieren ist. Da ver-
sündigen Sie sich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Volker Wissing [FDP]: Was ist denn Ihr Vorschlag dazu?)


– Wir haben einen Vorschlag, aber darüber rede ich jetzt
nicht.


(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Volker Wissing [FDP]: Wunderbar! Das Thema ist doch so wichtig, Herr Gambke! – Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Nur Mut! – Gegenruf des Abg. Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Jetzt reden wir über euren Vorschlag!)


Zweitens. Steuerausfälle wären gar nicht nötig. Sie ha-
ben im Februar einen 12-Punkte-Plan vorgelegt. Wo ist
der verschwunden? Im Nirwana! Da waren ganz sinn-
volle Maßnahmen vorgesehen. Da waren enthalten Vor-
schläge zur Verhinderung von weißen Einkünften. Da gab
es die Beschränkung der sogenannten Heuschrecken. Sie
haben die Wertpapierleihe beschränken wollen. Zu nen-
nen ist auch die Monetarisierung von Verlusten. Warum
haben Sie das nicht umgesetzt? Es ist Arbeitsverweige-
rung, wenn Sie die Punkte, die Sie selbst nennen, einfach
vom Tisch nehmen und so tun, als wenn sie gar nicht da
gewesen wären. Das ist nicht in Ordnung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Richtig: Beim Reisekostenrecht sind wichtige Ziele
erfüllt, etwa die Verminderung von Verwaltungsauf-
wand. Es ist Rechtssicherheit gegeben; auch das ist rich-
tig.


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Na also!)


Deshalb begrüßen wir diese Reform, aber


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Müssen leider dagegen stimmen!)


es bleibt die Frage offen: Warum haben Sie vorher nicht
einmal mit den Oppositionsfraktionen geredet?


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Berichterstattergespräch!)


Wir haben es im Berichterstattergespräch gehört. Warum
haben Sie nicht einmal geredet


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Haben wir doch!)


und eine Abstimmung zwischen Bund und Ländern ge-
sucht, um eine aufkommensneutrale Lösung anzustre-
ben? Sie haben eine Lösung angestrebt, die einfach für
Sie ist, aber die eine Einnahmeminderung um fast
300 Millionen Euro bedeutet.


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Sind Sie jetzt für oder gegen die Vereinfachung beim Reisekostenrecht?)


– Warten Sie es doch ab!


(Zuruf von der LINKEN: Teilen Sie doch das Gesetz!)


Thema Organschaft. Wir begrüßen die Reform beim
Gewinnabführungsvertrag.


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Deswegen wollen Sie dagegen stimmen, oder?)


Sie wissen genauso wie ich, dass das eine Sache ist, die
überfällig war. Wir haben das vor einem Jahr gefordert.
Ich persönlich bin sehr froh, dass Sie sich mit Ihrer mo-
dernen Gruppenbesteuerung nicht durchgesetzt haben.
Sie wissen, warum. Das hätte zu massiven Steuerausfäl-
len geführt, und das wäre nicht in Ordnung gewesen.

Wir als Politiker sollten das Thema Unternehmensbe-
steuerung nicht nur fiskalpolitisch sehen.





Dr. Thomas Gambke


(A) (C)



(D)(B)



(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Aha! – Dr. Volker Wissing [FDP]: Das sagt ein Grüner!)


Das bringt mich zu der Frage: Wie müssen denn zukünf-
tige Organschaftsregelungen aussehen, auch im Sinne
von europäischen Lösungen? Da gebe ich Ihnen einmal
zu bedenken, dass es nicht immer gut ist, nur in Rich-
tung Konzerne zu denken; es ist auch einmal an kleine
und mittlere Unternehmen zu denken.


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Deswegen haben wir den doppelten Verlustrücktrag auch noch drin!)


Ein modernes Gruppenbesteuerungssystem muss auch
kleinen und mittleren Unternehmen helfen. Denken Sie
an die sogenannten Hidden Champions! Das sind die
kleinen Unternehmen, die irgendwann einmal so weit
sind, dass sie unsere Wirtschaft wesentlich stützen.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Kleine Unternehmen sind Champions? Die haben 1 000, die haben 2 000 Leute!)


– Ja, ich verbessere mich, Herr Flosbach. Es gibt kleine
und mittlere Unternehmen, und aus denen entstehen die
Hidden Champions, und die wollen wir stützen.

Deshalb wollen wir eine Organschaft, die diesen Be-
dingungen wirklich Rechnung trägt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720126500

Kommen Sie bitte zum Schluss.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Zusammenfassend heißt das: Wir Grüne können trotz
einiger Übereinstimmungen in den Zielen diesem
Gesetzentwurf insgesamt nicht zustimmen. Wir werden
uns enthalten. Wir können Steuerausfälle in Höhe von
300 Millionen Euro einfach nicht akzeptieren.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720126600

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat

jetzt das Wort der Kollege Dr. h. c. Hans Michelbach
von der CDU/CSU-Fraktion.


Hans Michelbach (CSU):
Rede ID: ID1720126700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein

zentrales Ziel unserer Politik ist die Sicherung unseres
Wirtschaftsstandorts Deutschland. Dazu gehören die
Wettbewerbsfähigkeit und neue Arbeitsplätze. Dazu ge-
hören Spitzentechnologie und Industriepolitik. Dazu ge-
hören Bürokratieabbau und Vereinfachung mit einer un-
ternehmensfreundlichen Steuerpolitik. Das ist unser
Ziel. Wir haben schon in vielen Schritten Erfolge. Da
wir auch in Europa am besten dastehen, können wir mit

Stolz feststellen: Diese Ziele werden durch unsere Poli-
tik erreicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Zweifellos ist die Steuerpolitik weiterhin die größte
Herausforderung für die Binnenkonjunktur. Deshalb ha-
ben wir das Gesetz, über das wir jetzt abstimmen, einge-
bracht und damit eine weitere wichtige Zielsetzung aus
unserem Koalitionsvertrag umgesetzt.

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll das Unter-
nehmensteuerrecht durch zielgenaue Maßnahmen ver-
bessert, vereinfacht und rechtssicherer ausgestaltet wer-
den. Auch sollen durchaus Entlastungen vorgenommen
werden; denn wir haben in diesem Bereich einen sehr
starken Aufwuchs an Steuermehreinnahmen. Das muss
man einmal feststellen.

Wir wissen, dass unsere Politik bei der Opposition na-
türlich nicht auf Gegenliebe stößt. Sie wollen die Be-
triebe, insbesondere die mittelständische Wirtschaft, ver-
stärkt weiter abkassieren. Das ist Ihr Thema. Herr
Gabriel möchte das französische Vorbild kopieren. Zu-
sätzlich 22 Milliarden Euro Belastung der Mittelschicht
in Deutschland ist das Ziel der SPD. Das ist die Tatsa-
che, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Die Grünen haben gesagt, Sie hätten zwar zugestimmt,
aber es sei keine Aufkommensneutralität vorhanden. Wer
in einem Steuergesetz Aufkommensneutralität anstrebt,
wird letzten Endes keine Strukturveränderungen durch-
führen können, weil dabei immer wieder eine Entlastung
stattfindet.

Die Entbürokratisierung bei den Reisekosten steht
selbstverständlich mit den Unternehmen in Verbindung;
denn wir und auch die deutsche Wirtschaft wollen moti-
vierte und vor allem mobile Arbeitnehmer. Deswegen ist
es ganz wichtig, dass unsere Arbeitnehmer vereinfachte
Reisekostenabrechnungen machen können. Das ist das
Ziel, und das wird erfüllt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Dieser Teil ist auch gut!)


Der zweite Punkt, nämlich die Verbesserung beim
Verlustrücktrag, dient insbesondere dem Mittelstand.
Wenn dieser von 500 000 Euro auf 1 Million Euro na-
hezu verdoppelt wird, dann profitieren insbesondere die
leistungsfähigen mittelständischen Betriebe. Hier wird
Liquidität geschaffen.

Wir wollen möglichst wenig Substanzbesteuerung,
möglichst wenig Substanz aus den Firmen herausneh-
men. Dies dient dem Betrieb.

Das System der Verlustnutzung ist betriebssichernd
und entspricht grundsätzlich internationalen Standards.
Wir wollen, dass möglichst keine Verluste anfallen.

Aber in den Konjunkturzyklen ist es nun einmal so:
Zur Erhaltung der Substanz in den Unternehmen gehört
der Liquiditätsausgleich. Man muss immer wieder mit





Dr. h. c. Hans Michelbach


(A) (C)



(D)(B)


Konjunktureinbrüchen rechnen. Wir wollen die Betriebe
erhalten. Jeder Betrieb, der wegfällt, kann nicht so
schnell wieder errichtet und erneuert werden. Deswegen
ist der Erhalt der Arbeitsplätze, der Erhalt der Betriebe
ein wesentlicher Faktor für die zukünftige wirtschaftli-
che Entwicklung.

Das geht insbesondere mit einem Verlustrücktrag.
Deswegen ist das, was wir heute angehen, wichtig.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Die verbundenen Unternehmen bekommen mit die-
sem Gesetz mehr Sicherheit. Wir haben in dem Bereich
der Organbesteuerung wachsende Unsicherheit zu ver-
zeichnen. Es ist doch für eine mittelständische Unterneh-
mung zweifellos eine wesentliche Frage, ob bei Investi-
tionen oder Expansionen ins Ausland Unsicherheit
herrscht oder nicht. Deswegen ist es ganz entscheidend,
dass wir Unsicherheit abbauen und den Betrieben gerade
bei der Besteuerung Rechtssicherheit verschaffen. Das
ist unser Ansatz. Wir haben genau das richtige Rezept,
um den Betrieben zu helfen.

Ich bin natürlich sehr enttäuscht,


(Zurufe von der SPD: Oh! Oh!)


dass Sie trotz meiner unerschütterlichen Argumentation
nach wie vor Ihre Zustimmung verweigern.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das haben Sie sogar verstärkt!)


– Herr Kollege Binding, die Krokodilstränen, die hier
geflossen sind, sollten letzten Endes Ihre Zustimmungs-
verweigerung etwas verschönern.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Machen Sie die Probe aufs Exempel! Nehmt den Teil raus! Dann stimmen wir zu!)


Ich kann nur sagen: Die Blockadepolitik von Rot-
Grün in der Steuerpolitik wird Ihnen noch auf die Füße
fallen. Davon bin ich fest überzeugt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Leute werden es Ihnen verübeln, dass Sie letzten En-
des die Geringverdiener und die Mittelschicht durch Ihre
Blockade unserer Reform, die zu einer Abmilderung der
Auswirkung der kalten Progression, der heimlichen
Steuererhöhungen, führen soll, nicht entlasten.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Darüber werden wir später noch reden! Das ist eine Chimäre!)


Deswegen ist es ganz klar: Wenn Sie von der SPD die
Blockade in der Steuerpolitik aufrechterhalten, werden
Sie Schiffbruch erleiden. Das gebe ich Ihnen schriftlich;
denn Steuerpolitik ist Gesellschaftspolitik, und die Men-
schen merken, wer sie entlastet und wer sie belastet.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Wir wollen das schriftlich!)


Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720126800

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent-
wurf eines Gesetzes zur Änderung und Vereinfachung
der Unternehmensbesteuerung und des steuerlichen Rei-
sekostenrechts. Der Finanzausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf den Druck-
sachen 17/11180 und 17/11217, den Gesetzentwurf
der Fraktion der CDU/CSU und FDP auf Drucksache
17/10774 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen.
– Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Ge-
setzentwurf in zweiter Lesung angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
von SPD und Linken bei Enthaltung von Bündnis 90/Die
Grünen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, möge
sich erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der
Gesetzentwurf ist mit gleichem Stimmenverhältnis wie
zuvor angenommen.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke mit dem Titel „Verlustverrechnung
einschränken – Steuereinnahmen sicherstellen“. Der
Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be-
schlussempfehlung auf den Drucksachen 17/11180 und
17/11217, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/5525 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit
den Stimmen aller übrigen Fraktionen bei Gegenstim-
men der Fraktion Die Linke.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Gohlke, Jan Korte, Agnes Alpers, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion DIE LINKE

Hochschulzugang bundesgesetzlich regeln –
Recht auf freien Zugang zum Master sichern

– Drucksache 17/10861 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die-
sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. Sind
Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das
so beschlossen.1)

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/10861 an den Ausschuss für Bildung,
Forschung und Technikfolgenabschätzung vorgeschla-
gen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

1) Anlage 11





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
für einen Gerichtsstand bei besonderer Aus-
landsverwendung der Bundeswehr

– Drucksache 17/9694 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)


– Drucksache 17/11182 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Patrick Sensburg
Christoph Strässer
Jörg van Essen
Jens Petermann
Jerzy Montag

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es
Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner das Wort dem Kollegen Dr. Patrick Sensburg von der
CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Patrick Sensburg (CDU):
Rede ID: ID1720126900

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Was uns überfraktionell eint, ist die
Tatsache, dass wir hinter unseren Soldatinnen und Sol-
daten im Auslandseinsatz stehen, dass wir ihnen Rück-
halt geben und dass wir als Abgeordnete des Deutschen
Bundestages unsere Parlamentsarmee stützen, wenn sie
die schweren Aufgaben im Ausland wahrnimmt.
Deshalb ist es gut, dass wir heute über diesen Tagesord-
nungspunkt debattieren.

Wir debattieren über den Gerichtsstand bei besonderer
Auslandsverwendung der Bundeswehr. Wir konzentrieren
die Zuständigkeiten für Ermittlungs- und Strafverfahren
gegen Soldaten der Bundeswehr im Auslandseinsatz;
denn es kommt immer wieder vor, dass unsere Soldatin-
nen und Soldaten bei Auslandseinsätzen von der Waffe
Gebrauch machen müssen. Dann wird gegebenenfalls
gegen sie ermittelt. Das ist auch richtig so. Denken Sie
an folgende Situation: Eine Patrouille muss sich mit
Waffengewalt verteidigen. Danach wird es Untersuchun-
gen geben. Wir wollen, dass sich diese Untersuchungen
bei einem Gericht und einer Staatsanwaltschaft konzen-
trieren. Nach dem bisherigen Grundsatz finden Ermitt-
lungen und Untersuchungen am Ort der Stationierung
statt. Wenn man weiß, dass unsere Soldaten im Aus-
landseinsatz aus vielen Standorten kommen, dann weiß
man auch, dass das zu vielen Gerichtsständen führen
kann. Das wollen wir mit diesem Gesetz ändern.

Im Rahmen des aktuellen ISAF-Kontingents leisten
zurzeit Soldaten aus 14 Bundesländern ihren Dienst. Sie
kommen aus 104 verschiedenen Standorten. Wird bei-
spielsweise gegen Soldaten im Rahmen eines Einsatzes
– im Rahmen eines Operational Mentoring and Liaison

Teams, den sogenannten OMLTs – ermittelt, weil sie
sich verteidigt haben, dann müssten im Grunde die Ge-
richte in Hamburg, in Düsseldorf, in Frankfurt oder in
München entscheiden, je nachdem, aus welchem Stand-
ort die Soldaten kommen. Das wollen wir mit dem Ge-
setz beheben. Bei Inlandsstraftaten liegt eine ganz an-
dere Situation vor; hier ergibt sich die Zuständigkeit
nach dem Tatort. Bei den Soldaten jedoch, die wir in den
Auslandseinsatz schicken, müssen wir dafür sorgen, dass
dieser Situation auch Rechnung getragen wird. Das
schafft der vorliegende Gesetzentwurf.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Denken Sie beispielsweise an die Situation vom
Dezember 2009. 300 Bundeswehrsoldaten waren ge-
meinsam mit 300 Angehörigen afghanischer Streitkräfte
in Gefechte verwickelt. Es gab zwei verletzte deutsche
Soldaten, auch getötete Taliban. Nach der jetzigen Rege-
lung hätte es dazu kommen können, dass Staatsanwalt-
schaften an 104 verschiedenen Landgerichten ermittelt
hätten. Das führt zu einer unklaren Situation für unsere
Soldaten. Deswegen haben wir diesen Gesetzentwurf
vorgelegt, der hoffentlich Ihre Unterstützung finden
wird.


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auf keinen Fall!)


Zurzeit leisten jährlich rund 23 000 deutsche Solda-
tinnen und Soldaten ihren Dienst in elf Einsätzen und
Missionen in Europa, in Asien und in Afrika. Wenn man
sich den Turnus der verschiedenen Einsatzkontingente
anschaut, dann erkennt man, dass sogar noch mehr als
23 000 deutsche Soldaten betroffen sind, die an unter-
schiedlichen Gerichtsstandorten Verfahren ausgesetzt
sein könnten. Wir orientieren uns nicht mehr wie bisher
am Ort der Stationierung der Soldaten. Diese Sichtweise
hat in den letzten Jahren im Grunde immer mehr an Ak-
tualität verloren, weil unsere deutschen Soldaten immer
häufiger in Auslandseinsätzen ihren Dienst leisten. Wir
orientieren uns an einer Konzentration der Kompeten-
zen. Das ist in der heutigen Zeit auch richtig so.

Meine Damen und Herren, im Ergebnis schaffen wir
damit Klarheit bezüglich der Zuständigkeit der Staatsan-
waltschaft. Wir schaffen auch Klarheit bezüglich der
Zuständigkeit des Gerichts. Außerdem beheben wir die
Unklarheit bei der Bewertung der unterschiedlichen Le-
benssachverhalte. Es war nämlich ein großes Problem,
dass verschiedene Gerichte den gleichen Lebenssachver-
halt unterschiedlich bewerten konnten. Dieses Problem
lösen wir, indem wir die Sachkompetenzen konzentrie-
ren. Dies ist richtig; das schulden wir unseren Soldatin-
nen und Soldaten im Einsatz, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Aufgrund unserer Verantwortung gegenüber unseren
Soldatinnen und Soldaten haben wir in den letzten drei
Jahren maßgebliche Gesetzesvorhaben auf den Weg ge-
bracht. Ich erinnere dabei an die Einsatzbetreuungskom-
munikation, die wir für unsere Soldatinnen und Soldaten
im Einsatz deutlich verbessert haben. Ich erinnere an das
Einsatzversorgungsgesetz, das die Situation unserer Sol-
datinnen und Soldaten verbessert hat. Denken Sie nur an





Dr. Patrick Sensburg


(A) (C)



(D)(B)


die Weiterverwendung bei Wehrdienstbeschädigung ab
30 Prozent; denken Sie daran, dass wir dies auch auf Zi-
vilpersonal ausgedehnt haben. Denken Sie als weiteres
Beispiel an die Hinterbliebenenversorgung für unsere
Soldatinnen und Soldaten, die wir deutlich verbessert
haben.

Wir kümmern uns um unsere Soldatinnen und Solda-
ten. Das zeigt auch der vorliegende Gesetzentwurf. Wir
sorgen für rechtliche Klarheit. Wenn unsere Soldatinnen
und Soldaten im Ausland sind, wenn sie in Gefechte ver-
wickelt werden, wenn gegen sie ermittelt wird, dann
wollen wir Klarheit bei der Zuständigkeit der Gerichte
und der Staatsanwaltschaften. Wir wollen die Sachkom-
petenzen bündeln. Das erreichen wir mit diesem Gesetz.

Mit § 11 a StPO schaffen wir einen Gerichtsstand bei
dem für die Stadt Kempten zuständigen Gericht. Damit
ist klar, wer zuständig ist. Wir konzentrieren hier die Be-
fassung mit allen Straftaten, die von Soldatinnen und
Soldaten der Bundeswehr im Auslandseinsatz begangen
werden. Dies ist im Kern richtig, weil wir eine Vielzahl
von Voraussetzungen berücksichtigen müssen, die bei
der Ermittlung gegen Soldatinnen und Soldaten eine
Rolle spielen, die aber grundsätzlich bei Gerichten so
nicht bekannt sind. So verfahren wir schon bei den
Staatsanwaltschaften. Wir haben Spezialzuständigkeiten
für Schwerpunktstaatsanwaltschaften beispielsweise in
der Wirtschaftskriminalität, in der Korruptionsbekämp-
fung, bei der Drogenkriminalität, im Dopingbereich und
bei der Internetkriminalität. In Bezug auf diese Bereiche
haben wir bereits Sachkompetenzen konzentriert. Des-
wegen ist es folgerichtig, für den jetzt in Rede stehenden
Bereich Sachkompetenzen bei Staatsanwaltschaften zu
konzentrieren – wir haben damit bisher gute Erfahrun-
gen gemacht –, aber auch bei Gerichten; denn die bei ei-
ner Staatsanwaltschaft konzentrierten Sachkompetenzen
sollten dann nicht wieder auf viele Gerichte verteilt wer-
den.

Denken Sie einmal daran, wie viele Rahmenbedin-
gungen bei der Bewertung eines Sachverhalts bei
Auslandseinsätzen zu berücksichtigen sind. Da sind die
Rules of Engagement, die konkrete Befehlslage und
viele andere Rahmenbedingungen, die für den Auslands-
einsatz eine Rolle spielen, zu berücksichtigen. Die dafür
notwendigen Kompetenzen sind im Zweifel nicht bei je-
dem Amts- und Landgericht vorhanden; da muss man
sich erst einarbeiten. Das hat die Konzentration bei Ge-
richten, wo sie stattgefunden hat, schon gezeigt. Wir
wollen eine kompetente Beurteilung der Sachverhalte
durch die Gerichte. Deswegen ist eine Konzentration bei
einem Gericht folgerichtig. Für den Freistaat Bayern hat-
ten wir bereits die Konzentration in Kempten. Deswegen
haben wir uns für diesen Standort entschieden, um die
Voraussetzungen für funktionsfähige, sachkompetente
und schnelle Untersuchungen, aber auch für ebensolche
Ermittlungs- und Gerichtsverfahren an diesem Gericht
zu schaffen.

Ein – wie teilweise behauptet – Verstoß gegen
Art. 101 unseres Grundgesetzes, wonach niemand sei-
nem gesetzlichen Richter entzogen werden darf, ist
hierin nicht zu sehen. Wir haben hier kein Ausnahme-

gericht, wie es manchmal behauptet wird, sondern wir
konzentrieren Kompetenzen. Es handelt sich um eine
Sondergerichtsbarkeit; das ist richtig. Sie ist zulässig
und ist schon in vielen Bereichen geschaffen worden.
Denken Sie an ärztliche Berufungsgerichte, Schifffahrts-
gerichte, Richterdienstgerichte und Flurbereinigungs-
gerichte. Angesichts dessen ist doch die Behauptung ab-
wegig, wir würden für unsere Soldatinnen und Soldaten
hier eine verfassungswidrige Gerichtskompetenz schaf-
fen. Im Gegenteil: Wir schaffen etwas Folgerichtiges.
Das sind wir unseren Soldatinnen und Soldaten auch
schuldig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Gerade vor dem Hintergrund unserer Vergangenheit
müssen wir mit dem Thema „Militär und Justiz“ meines
Erachtens sehr sorgfältig umgehen. Deswegen schaffen
wir mit dem Gesetz keine Militärjustiz. Wir wollen
nicht, dass Soldaten über Soldaten entscheiden. Meines
Erachtens gebietet es sowohl der Respekt vor der freien
Justiz als auch der Respekt vor den Soldaten, hier genau
zu sein, Begrifflichkeiten nicht zu verwischen. Wir rich-
ten Gerichte ein, die unabhängig sind.

Wir haben Kompetenzen bei einem Gericht konzen-
triert und eben keine Militärjustiz geschaffen. Wir sind
in diesem Gesetzentwurf der historischen Bedeutung ge-
recht geworden, indem wir Kompetenzen konzentrieren,
aber keine Militärjustiz schaffen und keine Ausnahme-
gerichte errichten. Wir erreichen an dieser Stelle für un-
sere Soldatinnen und Soldaten Sicherheit. Wir bündeln
Fachkompetenzen. In absehbarer Zeit werden wir nach
mehreren Verfahren erleben, dass sich diese Fachkompe-
tenz in der Praxis auswirken wird.

Wir haben ausreichend viele Verfahren; dies ist von
Ihnen, Herr Kollege, nachgefragt worden. Die Antwort
lautet, dass es in den letzten Jahren 167 Verfahren gab;
im letzten Jahr 2011 hatten wir, glaube ich, 27 Verfah-
ren.


(Christoph Strässer [SPD]: Aber nicht nach § 11 a!)


Das ist nicht zu wenig, das ist deutlich ausreichend,
um hier eine Konzentration der Kompetenzen zu schaf-
fen. Dies sollten wir auch machen. Wir sollten hoffen,
dass wir nicht mehr Fälle haben, sondern uns um die we-
nigen Fälle sorgen, die wir zurzeit haben. Wir sollten uns
auch die Chance gönnen, hier durch die Bündelung von
Fachkompetenzen unseren Soldatinnen und Soldaten ge-
recht zu werden.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720127000

Jetzt hat das Wort der Kollege Christoph Strässer von

der SPD-Fraktion.


Christoph Strässer (SPD):
Rede ID: ID1720127100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrter Herr Kollege Sensburg, Sie haben schon
einige Punkte angesprochen, die nach meiner Meinung





Christoph Strässer


(A) (C)



(D)(B)


sehr einfach zu widerlegen sind. Wir stimmen an einer
Stelle überein – das ist aber, glaube ich, keine besondere
Erkenntnis –, nämlich darin, dass die Soldatinnen und
Soldaten, die für uns im Auslandseinsatz sind, ein faires,
ein transparentes und ein schnelles Verfahren zu erwar-
ten haben, wenn sie dann in der Situation sind, dass sie
einen gesetzlichen Richter bekommen, und dass ihre
Tatbestände ordentlich geregelt werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das ist mein Eindruck nach den Diskussionen, die wir
auch mit Sachverständigen hatten. Wir sind – das habe
ich auch im Rechtsausschuss gesagt – in diese Diskus-
sion relativ offen hineingegangen, mit einer Offenheit,
die auch Lösungen ermöglicht hätte, die aber mit diesem
Gesetz nicht geschaffen werden. Ich will dies an den drei
oder vier zentralen Punkten, die Sie aufgeführt haben,
begründen.

Zum einen sagen Sie, eine Zentralisierung der Straf-
verfolgung von vermeintlichen oder tatsächlichen Straf-
taten von Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz
an einem Standort führe zu Transparenz und Übersicht-
lichkeit des Gerichtsverfassungsrechts und des Strafpro-
zessrechts. Genau das Gegenteil ist der Fall. Es bliebe
– das haben die Sachverständigen sehr deutlich gesagt –
genau bei der Zahl, die Sie genannt haben, nämlich bei
über 100 Fällen, wenn man den neuen § 11 a anwenden
würde. Ich kann die Zahlen, die Sie genannt haben, jetzt
nicht verifizieren. Der größte Teil davon würde jeden-
falls nicht unter den Tatbestand des § 11 a StPO fallen,
sondern er würde weiterhin bei den Tatortstaatsanwalt-
schaften und -gerichten verfolgt werden; denn es handelt
sich um sogenannte Delikte kleinerer und mittlerer Kri-
minalität. Die Zuständigkeiten dafür verblieben nach Ih-
rem eigenen Gesetzentwurf am Standort der Stationie-
rung der Soldatinnen und Soldaten.


(Karin Evers-Meyer [SPD]: Ganz genau!)


Sie würden also nicht nur keine Klarheit schaffen, son-
dern durch die Schaffung eines neuen Tatbestandes eine
weitere Verunsicherung herbeiführen, und das hilft im
Grunde genommen niemandem. Schon deshalb kann
man diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Was die Staatsanwaltschaften angeht, ist darauf hin-
zuweisen, dass Straftaten, die im Zusammenhang mit
Auslandseinsätzen mit Einsatzbezug begangen werden
und beispielsweise unter das Völkerstrafrecht fallen,
selbstverständlich wie bisher in der Zuständigkeit der
Generalbundesanwaltschaft bleiben. Das heißt, Sie ha-
ben auch an dieser Stelle keine Erleichterung, sondern es
kommt zu einer noch größeren Unübersichtlichkeit der
Zuständigkeitsregeln. Wir haben drei Zuständigkeiten,
und das kann doch nicht ernsthaft zu einer Konzentration
führen, wie Sie sie vorhaben. Das ist, glaube ich, der
völlig falsche Weg. Deshalb können wir an dieser Stelle
auch nicht mitmachen.

Ein weiterer Punkt ist die Spezialisierung. Wenn es so
ist – ich unterstelle, dass die Sachverständigen uns das
durchaus richtig dargelegt haben –, dass die Fälle, die
nach § 11 a an einer zentralen Staatsanwaltschaft und bei
einem zentralen Gericht angeklagt würden, eine mini-
male Zahl darstellen, nämlich in den letzten Jahren we-
niger als 20, dann erklären Sie mir bitte einmal, wie da
eine Spezialisierung und Spezialkenntnisse entstehen
sollen. Das ist einfach eine falsche Einschätzung. Sie
werden mit dieser Fallkonzentration keine Spezialzu-
ständigkeiten begründen können. Bei allem, was Sie ge-
nannt haben – Drogenkriminalität, Wirtschaftskriminali-
tät –, geht es um Falldelikte. Da ist es in der Tat richtig,
dass es Schwerpunktstaatsanwaltschaften gibt, und zwar
nicht nur eine in einem einzigen Bundesland für die ge-
samte Republik. Sie haben nicht begründet, warum das
ausgerechnet hier erforderlich sein soll.

Ich glaube, die Spezialisierung berührt nur einen klei-
nen Teil des Problems. Eines sind Sie nicht angegangen:
Ich bin sicher, dass Staatsanwälte sehr gut in der Lage
sind, zum Beispiel das Wehrdisziplinarrecht oder die
Rules of Engagement zu verstehen und anzuwenden; da-
für sind sie ausgebildet. Wir Juristen wissen: Wir können
fast alles, auch das. Uns ist aber immer wieder deutlich
vor Augen geführt worden, dass die Probleme bei der
Sachverhaltsermittlung darin bestehen – das ist ein
Kernproblem –, dass es keine Ermittlungstätigkeiten
deutscher Staatsanwältinnen und Staatsanwälte oder
Richterinnen und Richter im Ausland gibt, also dort, wo
die Soldatinnen und Soldaten im Einsatz sind. Ich hätte
mir gewünscht, dass man in einem solchen Gesetzent-
wurf zumindest ein Interesse daran hätte erkennen las-
sen, eine Debatte mit den Partnerinnen und Partnern in
den Ländern, in denen unsere Soldatinnen und Soldaten
im Auslandseinsatz sind, zu führen und im Völkerrecht
Regelungen zu verankern, die es ermöglichen, Ermitt-
lungen vor Ort durchzuführen. Denn das hätte eine wirk-
liche Erleichterung der Ermittlungstätigkeit zur Folge,
im Gegensatz zu dem, was Sie hier vorschlagen. Elf
Fälle in drei Jahren werden nicht zu einer Konzentration
und einer Zuständigkeitsregelung führen, die die Kom-
petenzen deutlich stärken. Davon müssen wir ausgehen,
und deshalb gehen wir den Weg an dieser Stelle nicht
mit.

Der letzte Punkt ist für mich der krauseste: die feh-
lende Begründung für den Standort Kempten. Ich habe
überlegt, ob es damit zu tun hat, dass ich selbst 1967 bei
der Ausbildungskompanie 13/8 in Kempten meine
Grundausbildung absolviert habe. Aber die Fußstapfen,
die ich dort hinterlassen habe, reichen wohl nicht aus,
um zu begründen, dass dort jetzt eine Schwerpunkt-
staatsanwaltschaft errichtet wird.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP)


Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, was ist denn die sachliche Begründung für den
Standort Kempten? Eine solche Begründung ist erforder-
lich, wenn eine Zuständigkeit für das ganze Bundesge-
biet geschaffen werden soll. Wir hatten Ansätze, die
Sinn gemacht hätten. Es gab Überlegungen, ein Wehr-





Christoph Strässer


(A) (C)



(D)(B)


strafjustizzentrum in der Nähe des Bundesgerichtshofs
in Leipzig oder in der Nähe der Bundesanwaltschaft in
Karlsruhe zu etablieren. Wenn man es tatsächlich an ei-
nem Standort konzentrieren wollte, der für die Soldatin-
nen und Soldaten sinnvoll ist: Warum dann in Gottes
Namen nicht in Potsdam, wo das Einsatzführungskom-
mando der Bundeswehr alle Auslandseinsätze plant und
führt?


(Beifall bei der SPD)


Das hätte irgendwie noch Sinn gemacht; aber der Stand-
ort Kempten kann aus meiner Sicht – außer mit einer
Wahlkampfhilfe für wen auch immer dort unten – defini-
tiv nicht begründet werden.

Ich glaube, es gibt ausreichend Gründe, nicht zu ver-
suchen, die Verfahren an einem Standort zu konzentrie-
ren; die Argumente dafür reichen nicht aus. Jenseits die-
ses Aspekts würde ich gerne eine Debatte über eine
Militärstrafgerichtsbarkeit führen; vor dem Hintergrund
unserer Vergangenheit sollten wir ganz vorsichtig und
sensibel darüber diskutieren.

Ich glaube, mit dem Gesetz, dessen Entwurf Sie vor-
gelegt haben, wird keines der von Ihnen angegebenen
Ziele erreicht. Deshalb können wir ihm in der Gesamt-
heit nicht zustimmen. Ich habe gesagt: Wir sind mit einer
skeptischen Offenheit in dieses Verfahren hineingegan-
gen. Übrig geblieben ist eine offene Skepsis, und sie ist
so groß, dass eine Zustimmung der SPD zu diesem Ge-
setzentwurf nicht denkbar ist.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720127200

Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Stephan

Thomae das Wort.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Stephan Thomae (FDP):
Rede ID: ID1720127300

Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und

Kollegen! Herr Kollege Strässer, Sie haben gerade eben
die Frage gestellt, für wen da Wahlkampfhilfe betrieben
werden solle. Sie hätten mit einem einfachen Blick in
den Kürschner feststellen können, dass mein Wahlkreis
das Oberallgäu ist und somit Kempten zu meinem Wahl-
kreis gehört. Ich hoffe aber, dass Sie mich jetzt nicht als
befangen ablehnen werden. Ich spreche heute zu diesem
Thema, das für mich besonders angenehm ist, weil ich
den Wahlkreis Oberallgäu hier im Deutschen Bundestag
vertrete. Die Justizbehörden in meiner Heimatstadt
Kempten im Allgäu sollen in Zukunft über Straftaten
entscheiden, die von Soldaten der Bundeswehr im Aus-
landseinsatz begangen worden sind. Die Wahl dieses
Standortes bestätigt nicht nur die hervorragende Arbeit
der Kemptener Justizbehörden; sie bedeutet auch einen
Imagegewinn für die Stadt Kempten. Darüber freue ich
mich natürlich sehr, und das ist auch völlig legitim.

Soldaten im Auslandseinsatz befinden sich in einer
Sondersituation; das müssen wir als Gesetzgeber aner-
kennen. Ich habe mir selber vor etwa zwei Jahren bei ei-
nem Truppenbesuch in Afghanistan ein Bild davon ma-
chen können, unter welch schwierigen Bedingungen die
Soldatinnen und Soldaten leben und arbeiten. In Afgha-
nistan befinden sie sich in einer ständigen Gefahren-
situation. Sie halten sich ständig im Lager auf, weil sie
es kaum verlassen können. Sie sind mit Tod und Verlet-
zungen von Kameraden konfrontiert und sind monate-
lang von Partnern, Kindern und Familie getrennt. Das
alles sind natürlich keine Entschuldigungen für die Be-
gehung von Straftaten. Natürlich müssen für diese Straf-
taten genau die gleichen rechtlichen Maßstäbe gelten
wie für andere Straftaten. Das zeigt, wie wichtig es ist,
dass sich die zuständigen Staatsanwälte und Gerichte mit
den Rahmenbedingungen der Soldaten im Auslandsein-
satz befassen, und das tun die Gerichte in Kempten be-
reits.


(Christoph Strässer [SPD]: Auch die anderen!)


Herr Kollege Strässer, die Kemptener Justiz ist bereits
für Soldaten zuständig, die von bayerischen Standorten
aus in den Auslandseinsatz entsandt werden und Strafta-
ten begehen. Wir haben also in Kempten – wo Sie ge-
nauso wie ich einen Teil Ihres Wehrdienstes geleistet
haben – mehrjährige Erfahrung mit der Behandlung sol-
cher Straftaten. Diese Kompetenz soll – so sieht es der
Gesetzentwurf von Schwarz-Gelb vor – für alle deutsche
Soldaten in Auslandseinsätzen genutzt werden. Das
heißt, in Zukunft müssen sich alle deutschen Soldaten,
die straffällig werden, für bestimmte Straftaten vor
Kemptener Gerichten verantworten. Durch diese Erwei-
terung der Zuständigkeiten können wir bereits vorhande-
nes Wissen und vorhandene Ressourcen optimal nutzen.
Deshalb halte ich es für die richtige Entscheidung, dass
dieser Gerichtsstand nach Kempten kommt.

Nicht nur die Erfahrungen der Kemptener Justiz spre-
chen für diese Entscheidung; da stimme ich meinem
Vorredner Patrick Sensburg absolut zu. Vielmehr führt
eine klare Aufgabenverteilung der Gerichte dazu, dass
Straftaten schneller aufgeklärt werden. Gerade wegen
der schwierigen Bedingungen bei Auslandseinsätzen
müssen Verzögerungen bei der Strafverfolgung in Zu-
kunft verhindert werden; denn solche Verzögerungen be-
deuten für die Betroffenen eine zusätzliche Belastung,
aber auch für die Geschädigten, die ebenfalls eine
schnelle Behandlung der Fälle wollen.

Auf die Idee, eine Schwerpunktstaatsanwaltschaft zu
errichten, sind übrigens nicht nur wir gekommen. Schon
2010 haben die Justizminister der Länder auf einer Jus-
tizministerkonferenz die Forderung erhoben, dass eine
zentrale Zuständigkeit aufseiten der Gerichte und Staats-
anwaltschaften geschaffen werden soll, um eine effi-
ziente und zügige Bearbeitung der Ermittlungs- und
Strafverfahren zu gewährleisten. Diesem Wunsch der
Länder kommen wir mit unserem Gesetzentwurf nun
nach.

Ich räume offen ein – ich schäme mich deswegen
auch nicht –, dass ich Kempten ins Spiel gebracht





Stephan Thomae


(A) (C)



(D)(B)



(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


und mich dafür eingesetzt habe. Die Gründe habe ich be-
reits genannt: Wir in Bayern besitzen dort bereits die nö-
tige Kompetenz. Es ist richtig, dass auch Leipzig im Ge-
spräch war. Aber die Justizbehörden im Freistaat
Sachsen haben das abgelehnt. Deswegen mussten wir
auf die Suche gehen, um herauszufinden, wo sonst eine
solche Kompetenz gebündelt werden kann. Kempten bot
sich an, weil wir in Bayern bereits eine solche Kompe-
tenz besitzen.

Ich halte es für sehr wichtig, noch einmal zu betonen,
dass es sich nicht um die Einführung eines Sonderge-
richts handelt. Es geht darum, Zuständigkeiten und
Kompetenzen sinnvoll zu bündeln. Wir haben das bereits
in vielen anderen Bereichen getan – es ist schon erwähnt
worden –: bei organisierter Kriminalität sowie bei Wirt-
schafts- oder Computerstraftaten. Es geht also darum,
für bestimmte Straftaten die Kompetenzen zu bündeln.
Es wird kein Sonderrecht und keine Sondergerichte ge-
ben. Es gilt das ganz normale Strafrecht, es ermitteln
ganz normale zivile Staatsanwälte, und es entscheiden
ganz normale Richter am Amts- und Landgericht. Für
Kempten ist diese Aufgabe eine gute Wahl. Ich wünsche
den Kemptener Justizbehörden alles Gute für die Aus-
übung der neuen Aufgabe.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720127400

Das Wort hat jetzt der Kollege Paul Schäfer von der

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Paul Schäfer (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720127500

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Der von der Regierung vor-
gelegte Gesetzentwurf wird nicht gebraucht. Wegen des
Eingriffs in Länderkompetenzen ist er verfassungsrecht-
lich problematisch. Damit wird auch das eigentliche Pro-
blem nicht beseitigt: Wie können strafrechtliche Ermitt-
lungen bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr durch-
geführt werden? Außerdem wird die Justiz in eine nicht
angemessene, ja, gefährliche Nähe zum Militär gerückt.
Es geht hier nicht um Militärjustiz – das behaupte ich
nicht –; aber es geht um eine Konstruktion, die nicht
trägt und die gefährlich ist. Deshalb lehnen wir den vor-
liegenden Gesetzentwurf entschieden ab.


(Beifall bei der LINKEN)


Seit Jahren beschwören die Betreiber dieses Geset-
zesvorhabens eine Regelungslücke, einen Regelungsbe-
darf bei der Verfolgung und Prüfung möglicher Strafta-
ten im Rahmen von Auslandseinsätzen der Bundeswehr.
Sie haben keine triftigen Gründe nennen können. Das
hat auch die Anhörung des Rechtsausschusses gezeigt.
Weder gab es ein Kompetenzwirrwarr bei den Länder-

staatsanwaltschaften, noch waren die Verfahren unzu-
mutbar lang.

Nehmen wir Ihr Lieblingsbeispiel, den Checkpoint-
Fall im August 2008, bei dem wegen des Verdachts auf
Totschlag gegen einen Soldaten ermittelt wurde. Er hatte
an einem Checkpoint in Afghanistan Zivilisten erschos-
sen. Ja, das Verfahren hat länger gedauert. Das lag aber
nicht an inkompetenten Staatsanwälten und Richtern, die
sich im Völkerstrafrecht nicht auskennen. Es lag daran,
dass es nicht möglich bzw. nicht vorgesehen ist, ad-
äquate Ermittlungsverfahren vor Ort, in Afghanistan,
durchzuführen. Deshalb hat man, auch im Interesse des
Angeklagten, den Tathergang in Deutschland aufwendig
rekonstruiert. Ich finde, es liegt gerade im Interesse der
Soldatinnen und Soldaten, dass gründlich und objektiv
ermittelt wird. In diesem Fall führte das zur Einstellung
des Verfahrens.

Das kann man nicht als Beleg dafür nehmen, dass
man eine neue Regelung braucht. Nach Lage der Dinge
würde dieser Fall ohnehin nicht bei der Staatsanwalt-
schaft Kempten landen,


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: So ist das!)


wie im Gesetz vorgesehen, sondern bei der Generalbun-
desanwaltschaft. Das unterschlagen Sie hier ständig. Das
folgt aus den Grundsätzen, die die Generalbundesanwäl-
tin 2010 in der Sache „Oberst Klein/Bombenangriff bei
Kunduz“ aufgestellt hat. Vereinfacht gesagt: Wenn es um
Völkerstrafrecht und bewaffnete Konflikte geht, ist die
Generalbundesanwaltschaft am Zuge und nicht Kemp-
ten.

Und was soll in Kempten bleiben? Bagatelledelikte
ohne direkten Einsatzbezug, also Diebstahl, Beleidigun-
gen, Verkehrsunfälle? Dafür braucht man weder ein ganz
besonderes Know-how noch eine Spezialisierung. Dann
bleiben noch die Ermittlungsverfahren, in denen es um
Eingriffe in Rechte Dritter geht bei Einsätzen, die unter-
halb der Schwelle des bewaffneten Konflikts liegen;
Beispiel: Bosnien nach dem Friedensschluss von Day-
ton. Sicherlich, auch hier gibt es Einsatzregeln, die man
kennen muss, die auch ein Staatsanwalt kennen muss. Im
Wesentlichen geht es aber darum – wie in Deutschland
–, ob der Einsatz von Schusswaffen in einer konkreten
Situation notwendig und legitim war. Dafür brauchen
wir keinen Sondergerichtsstand. Das können auch die
Staatsanwaltschaften der Länder erledigen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Warum wird dieser Gesetzentwurf dennoch vorge-
legt? Ein solches Gesetz wird, wie gesagt, nicht ge-
braucht. Vorgetragen wurde, man brauche Richter und
Staatsanwälte, die mit dem Soldatischen vertraut sind,
die sich besonders gut in militärische Entscheidungssitu-
ationen einfühlen können. Worauf das hinausläuft, ist
klar: auf eine Handvoll Staatsanwälte in Kempten, die in
stetigem engem Austausch mit der Bundeswehr stehen.
Sie sollen ermitteln und niemand sonst. Dadurch entsteht
eine strukturelle Nähe, die nicht angemessen, ja, gefähr-
lich ist; denn auch Juristen sind nicht immun gegen orga-





Paul Schäfer (Köln)



(A) (C)



(D)(B)


nisationssoziologische und organisationspsychologische
Prozesse. Wir sollten nicht so tun, bitte sehr, als ob
Staatsanwälte und Richter übernatürliche Wesen seien,


(Otto Fricke [FDP]: Und wie ist das dann beim BGH?)


denen Korpsgeist völlig fremd ist. So ist das.


(Beifall bei der LINKEN)


Den Angehörigen von Streitkräften würde mit diesem
Gesetz eine juristische Sonderstellung im Vergleich zu
anderen Bevölkerungsgruppen gewährt werden. Versu-
che, die in diese Richtung zielen, hat es seit den 50er-
Jahren immer wieder gegeben. Sie sind mit Blick auf die
deutsche Geschichte abgewiesen worden. Es sollte dabei
bleiben.

Richtig ist: Soldatinnen und Soldaten haben einen
Anspruch auf solide, unvoreingenommene, kompetente
Klärung der gegen sie erhobenen Vorwürfe. Dazu würde
dieses Gesetz aber nicht beitragen. Es geht auch – dazu
haben Sie leider nichts gesagt, lieber Kollege Sensburg –
um Gerechtigkeit gegenüber den Opfern von Gewaltta-
ten. Hier darf keine Schieflage entstehen. Aus genau die-
sem Grund lehnen wir den Gesetzentwurf ab.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720127600

Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt

hat das Wort die Kollegin Katja Keul von Bündnis 90/
Die Grünen.


Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720127700

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich kann Sie beruhigen: Ich komme nicht aus
Kempten.


(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich habe noch eine weitere gute Nachricht – die guten
Nachrichten zuerst –: Den zweiten Teil des Gesetzent-
wurfs zur Stärkung der Rechtssicherheit und der Opfer-
rechte im Strafverfahren tragen wir mit.


(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Sehr gut!)


Es ist sinnvoll, dass Menschen, die im Ausland Opfer ei-
ner Straftat geworden sind, künftig bei ihrer Staatsan-
waltschaft zu Hause Anzeige erstatten können.


(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Sehr gut!)


Jetzt kommt die schlechte Nachricht.


(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: War gut bis jetzt!)


Die Einführung einer Bundeswehrsonderjustiz in Kemp-
ten ist nicht nur nutzlos, sondern auch schädlich. Das
will ich Ihnen im Folgenden an fünf Punkten aufzeigen.

Erstens geht es Ihnen nach der Gesetzesbegründung
um die Zuständigkeit der Staatsanwaltschaften. Sie än-
dern hier aber die Zuständigkeit des Gerichtes. Die Ein-
richtung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften auf Lan-

desebene wäre schon jetzt ohne Weiteres möglich
gewesen. Dafür bedarf es keiner Sonderjustiz in Kemp-
ten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Haben wir sogar auch!)


Schon jetzt hat das Bundesland Bayern alle Verfahren
gegen Soldaten wegen Auslandstaten in Kempten ge-
bündelt. Einen Aufwuchs von Kompetenz durch viele
vergleichbare Verfahren gibt es dort allerdings nicht, da
die Zahl der Fälle viel zu gering ist.


(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Doch! Gibt es!)


Zweitens knüpfen Sie für die Zuständigkeit des Ge-
richts am falschen Kriterium an. Ihr Anknüpfungspunkt
ist nicht eine bestimmte Rechtsmaterie, sondern die Zu-
gehörigkeit des Verdächtigen zu einer besonderen Perso-
nengruppe. Der Vergleich zur Wirtschaftskriminalität
hinkt deswegen gewaltig. Wir haben in Deutschland aus
guten Gründen keine besondere Strafgerichtsbarkeit für
bestimmte Berufsstände mehr. Das ist gut so, und das
soll so bleiben; denn vor Gericht sind alle Bürger gleich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Drittens wird das eigentliche Problem nicht gelöst.
Das ist nicht die Spezialisierung des Gerichts, sondern
die schwierige Ermittlungsarbeit am Tatort. Die Ermitt-
lungsbehörden des Staates, in dem die Straftat begangen
worden ist, sind meistens durch Immunitätsabkommen
bei der Verfolgung gehemmt. Auch der Feldjäger vor Ort
ist kein Ersatz für die Kripo. Er hat weder eine entspre-
chende Ausbildung noch die nötigen Befugnisse, und er
ist außerdem selbst Angehöriger der Truppe. Er kann vor
Ort keine Beweismittel beschlagnahmen oder Zeugen
zum Verhör laden. Das erschwert die Beweisführung vor
deutschen Gerichten. Sachverhalte müssen nachgespielt
werden, und wichtige Zeugen sind nicht greifbar. Das
macht die Verfahren kompliziert und unbefriedigend.
Daran ändert sich aber auch in Kempten gar nichts.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Viertens steht außer Frage, dass Ermittlungsverfahren
für Betroffene immer eine Belastung sind. Das gilt auch,
aber nicht nur, für Bundeswehrsoldaten. Die Behaup-
tung, die Verfahrensdauer sei in diesen Fällen besonders
lang, lässt sich statistisch nicht halten. In der Regel dau-
ern die Verfahren nicht länger als in ähnlich gelagerten
Fällen im Inland. Trotz dieser Belastung für die Betrof-
fenen darf die Justiz also keine Sondergerichte oder
Schnellverfahren für einzelne Gruppen einführen. Die
Unabhängigkeit der Justiz ist ein hohes Gut; das sollten
wir nicht so einfach aufgeben.

Fünftens wird die neue Zuständigkeit kaum einen
sinnvollen Anwendungsbereich finden. Alltagskrimina-
lität von Diebstahl bis Beleidigung im Ausland kann
nach wie vor am Wohnort des Beschuldigten verhandelt
werden, und das sollte auch so bleiben. Hier wird also
eine überflüssige Gerichtstandalternative geschaffen.





Katja Keul


(A) (C)



(D)(B)


Fälle mit Bezug zum Völkerstrafgesetzbuch, bei de-
nen es um mögliche Kriegsverbrechen geht, werden da-
gegen ohnehin von der Bundesanwaltschaft angeklagt.
Das bezieht sich auf alle Straftaten, die im Krieg began-
gen werden. Bezogen auf die Bundeswehr heißt das kon-
kret: Afghanistan. Dort geht man seit dem Tod von
100 Zivilisten in 2009 richtigerweise von einem bewaff-
neten Konflikt aus. Damit ist für weitere Verdachtsfälle
grundsätzlich die Zuständigkeit des Generalbundesan-
walts und damit der Oberlandesgerichte gegeben. Wer
sich mit dem umfangreichen Bericht des Kunduz-Unter-
suchungsausschusses befasst, wird auch hier feststellen,
dass in erster Linie die Sachverhaltsermittlung vor Ort
das Problem war und nicht die Rechtsfindung.

Fazit. Sie erwecken mit Ihrer Gesetzesänderung den
Eindruck, ein Richter oder eine Richterin, der oder die
sich mit der Bundeswehr nicht auskennt, könne keinen
komplizierten militärischen Sachverhalt rechtlich würdi-
gen. Ein wenig mehr Vertrauen in die deutsche Justiz
hätte ich Ihnen schon zugetraut.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Unsere Richterinnen und Richter sind als Volljuristen
dazu ausgebildet, Fälle, die das Leben schreibt, in ihrer
ganzen Vielfalt unter einem Tatbestand zu subsumieren.
Dabei brauchen sie keinen Führerschein, um einen Ver-
kehrsunfall zu beurteilen, und sie müssen nicht verheira-
tet sein, um Familienrecht zu sprechen. Die Perspektive
von außen schützt auch stets vor zu großer Nähe und för-
dert eine objektive Urteilsfindung. Mit Ihrem Gesetzent-
wurf ist niemandem gedient, schon gar nicht den betrof-
fenen Soldatinnen und Soldaten. Deswegen werden wir
diesen Gesetzentwurf ablehnen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720127800

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes für
einen Gerichtsstand bei besonderer Auslandsverwen-
dung der Bundeswehr. Der Rechtsausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11182,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
17/9694 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen
angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-
stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? –

Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit gleichem
Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b so-
wie den Zusatzpunkt 7 auf:

16 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Ekin Deligöz, Krista Sager, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Konsequenzen aus dem nationalen Bildungs-
bericht ziehen – Bildungsblockaden aufbre-
chen und mehr Teilhabe ermöglichen

– Drucksache 17/11074 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Markus Kurth, Katja Dörner, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Zusammen lernen – Recht auf inklusive Bil-
dung bundesweit umsetzen

– Drucksache 17/11163 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss

ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Rosemarie Hein, Dr. Ilja Seifert, Diana Golze,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Gemeinsam lernen – Inklusion in der Bildung
endlich umsetzen

– Drucksache 17/11143 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die-
sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu nehmen. Gibt
es Widerstand dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist
das so beschlossen.1)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/11074, 17/11163 und 17/11143 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann ist das so beschlossen.

1) Anlage 12





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:

Beratung des Antrags der Bundesregierung

Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-
scher Streitkräfte an der AU/UN-Hybrid-Ope-
ration in Darfur (UNAMID) auf Grundlage
der Resolution 1769 (2007) des Sicherheitsra-
tes der Vereinten Nationen vom 31. Juli 2007
und folgender Resolutionen, zuletzt 2063

(2012) vom 31. Juli 2012


– Drucksache 17/11036 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss
gemäß § 96 GO

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache wiederum eine halbe Stunde vorgesehen.
Trifft das auf Ihr Einverständnis? – Das ist der Fall.
Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Bundesaußenminister, Dr. Guido Westerwelle,
das Wort.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-
wärtigen:

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Kolleginnen und Kollegen! Der Darfur-Konflikt ist
eine der furchtbarsten Katastrophen des letzten Jahr-
zehntes. Auch wenn sich die Medien im Augenblick
vielleicht weniger damit befassen, so müssen wir uns
doch ernsthaft und auch nachhaltig mit dieser Lage aus-
einandersetzen.

Nach Schätzungen der Vereinten Nationen fanden
zwischen 2003 und 2008 in diesem Konflikt 300 000
Menschen den Tod. 2,5 Millionen Menschen waren Op-
fer von Flucht und Vertreibung. Der Konflikt hat den Su-
dan weiter destabilisiert, und er hat sich zeitweise auch
auf die Nachbarländer, Tschad und die Zentralafrikani-
sche Republik, ausgeweitet.

UNAMID – das Mandat, dessen Verlängerung wir
heute beantragen und vorschlagen – wird von den Ver-
einten Nationen und der Afrikanischen Union gemein-
sam geführt. Unser Engagement ist gewissermaßen ein
unterstützendes Engagement. Deutschland beteiligt sich
an UNAMID derzeit mit zehn Soldaten, die im UNA-
MID-Hauptquartier eingesetzt sind. Außerdem leisten
derzeit vier deutsche Polizisten Dienst im Rahmen dieser
Mission.

Ich selbst konnte mir vergangenes Jahr ein Bild von
den äußerst herausfordernden Bedingungen vor Ort ma-
chen. Deswegen möchte ich mir erlauben, zu sagen – ich
bin sicher, das kann ich im Namen des ganzen Hauses
tun –: Für den wichtigen Dienst, den unsere Soldaten

und Polizisten dort in einem wirklich sehr schwierigen,
auch persönlich sehr fordernden Umfeld leisten, gebührt
ihnen unser Respekt und unser Dank.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/ CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


UNAMID – das wissen wir alle – bleibt eine schwie-
rige Mission. Ich möchte weder die Anfangsschwierig-
keiten verschweigen noch die Probleme, die mit der
Mission verbunden sind, kleinreden. UNAMID ist im-
mer noch mit diesen Problemen konfrontiert. Die huma-
nitäre Lage bleibt ausgesprochen schwierig: 1,7 Millio-
nen Menschen sind auf Nothilfe angewiesen.
Deutschland hat allein in 2012 humanitäre Hilfe in Höhe
von 4,2 Millionen Euro geleistet. Die Sicherheitslage
bleibt angespannt. Immer wieder flammen Kämpfe auf
zwischen Rebellen und Truppen der sudanesischen Re-
gierung, aber auch zwischen den Rebellengruppen
selbst.

Die Zusammenarbeit mit Khartoum bleibt schwierig.
Visa- und Bewegungsfreiheit für das UNAMID-Personal
werden eingeschränkt. Das kann nicht ignoriert werden.
Sie wissen, dass es in Khartoum in den letzten Wochen
und Monaten auch noch ganz andere Themen gegeben
hat, auf die ich heute allerdings nicht eingehen will.
Aber das ist gewissermaßen auch der politische Rahmen,
in dem wir diese Mission betreiben und die Debatte
heute führen.

Natürlich bleibt die politische Lage problematisch.
Eine Lösung des Darfur-Konflikts steht noch aus, auch
weil das im vergangenen Jahr ausgehandelte Friedensdo-
kument von Doha noch immer nicht von allen anerkannt,
geschweige denn umgesetzt wird. Die Umsetzung dieses
Friedensdokuments geht zwar voran, aber aus unserer
Sicht zu langsam.

Durch UNAMID konnte der Darfur-Konflikt wenigs-
tens eingedämmt werden. Die Gewalt ist zurückgegan-
gen. Flüchtlinge kehren zurück, und die Menschen in
Darfur haben jetzt ein Mitspracherecht, zum Beispiel in
der regionalen Verwaltung. Das klingt in unseren Ohren,
wenn wir das hier debattieren, nicht nach viel. Wenn
man dort gewesen ist und mit den Menschen gesprochen
hat, dann weiß man aber, wie wertvoll diese Verbesse-
rungen sind und wie viel das alles auch für die Men-
schen bedeutet. Auf diesen ersten Erfolgen – von mehr
kann man nicht reden – wollen wir weiter aufbauen.

UNAMID bleibt also als stabilisierendes Element für
Darfur unverzichtbar. Mit UNAMID können wir die hu-
manitäre Versorgung der Menschen weiter unterstützen.
Mit UNAMID können wir den Schutz der Bevölkerung
weiter organisieren. Mit UNAMID können wir die Si-
cherheitslage in Darfur weiter verbessern. Nur mit UN-
AMID können wir die politische Arbeit für ein Ende der
Krise weiter flankieren. Das ist der Grund, warum die
Bundesregierung an der Mission festhält. Wir wollen na-
türlich weiter daran arbeiten, die Umsetzung des Man-
dats zu verbessern. Aber das Mandat an sich ist aus un-
serer Sicht sinnvoll. Es sollte vom Deutschen Bundestag
auch verlängert werden.





Bundesminister Dr. Guido Westerwelle


(A) (C)



(D)(B)


Die Mission verfügt über ein robustes Mandat nach
Kap. VII der UN-Charta. Das ist aus unserer Sicht auch
nötig; denn auch wenn es unsere Landsleute glücklicher-
weise nicht getroffen hat – UNAMID selbst ist immer
wieder das Ziel von Angriffen gewesen. Seit Beginn ha-
ben 118 Angehörige der Mission ihr Leben verloren. Al-
lein in diesem Monat kamen fünf UNAMID-Soldaten,
vier nigerianische Soldaten und ein südafrikanischer
Soldat, durch Angriffe ums Leben. Wir verurteilen ge-
meinsam diese Gewalt auf das Schärfste.

Mit unserem Beitrag zu UNAMID stärken wir afrika-
nische Peacekeeping-Fähigkeiten. Wir unterstützen die
Afrikanische Union darin, ihre Verantwortung für die Si-
cherheit in Afrika wahrzunehmen. Zu unseren militäri-
schen und polizeilichen Beiträgen kommt der finanzielle
Beitrag, den Deutschland zur Mission leistet. Allein in
diesem Jahr waren das 120 Millionen US-Dollar. Die
Bundesregierung fördert Projekte zur Unterstützung der
Arbeit von UNAMID. Dazu gehören die Ausbildung
afrikanischer Soldaten und Polizisten am Kofi Annan
Training Centre ebenso wie die Unterstützung des Media-
tionsteams von Afrikanischer Union und Vereinten Na-
tionen.

Für die Bundesregierung möchte ich bei der Einbrin-
gung dieses Mandates die inhaltlich unveränderte Fort-
setzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streit-
kräfte an dieser Hybridoperation in Darfur beantragen.
Im letzten Jahr wurde das Mandat für die deutsche Betei-
ligung an UNAMID in großer Geschlossenheit von vier
Fraktionen des Deutschen Bundestages getragen. Bei al-
len Schwierigkeiten hat UNAMID auch in diesem Jahr,
so meinen wir, Geschlossenheit und Unterstützung ver-
dient. Erst recht haben unsere Landsleute, die in Darfur
ihren schwierigen Dienst tun, die starke Rückendeckung
dieses Hohen Hauses verdient. Im Namen der Bundesre-
gierung bitte ich Sie um Zustimmung zu diesem Mandat.

Ich füge hinzu: Ich glaube, eine große Geschlossen-
heit wäre eine gute und wichtige Unterstützung des
Mandates, aber vor allem auch der Frauen und Männer,
die in diesem Augenblick in der Region, im Land sind
und die eine wirklich aufopferungsvolle Arbeit leisten.
Wer einmal dort gewesen ist, der weiß, unter welchen
Umständen die Arbeit dort geleistet wird. Erlauben Sie
mir, jenseits des Politischen, diesen Zusatz: Das nötigt
wirklich jedem viel Respekt ab.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720127900

Für die SPD spricht jetzt der Kollege Christoph

Strässer.


(Beifall bei der SPD)



Christoph Strässer (SPD):
Rede ID: ID1720128000

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Dem Respekt, Herr Außen-
minister, den Sie denjenigen erweisen, die vor Ort im

Einsatz sind, den Soldatinnen und Soldaten, den Polizis-
tinnen und Polizisten, aber auch den zivilen Helferinnen
und Helfern, schließe ich mich ausdrücklich an.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich würde mir wünschen, meine Damen und Herren,
dass sich dieser Respekt demnächst auch darin aus-
drückt, dass Debatten über so wichtige Fragen wie diese
hier zu anderen Zeiten geführt werden als jetzt.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir alle diskutieren über dieses Thema, über Darfur,
seit sehr vielen Jahren. Das UNAMID-Mandat existiert
seit genau fünf Jahren. Zuvor, seit 2004, gab es bereits
eine andere Mission, AMIS. Sie ist bis 2007 aktiv gewe-
sen.

Wir wissen, die Zahlen sind erschreckend: 300 000 Tote
und mehr als 2 Millionen Flüchtlinge. Das Schlimme an
dieser ganzen Situation ist, dass ein großer Teil der
2,5 Millionen Flüchtlinge seit fünf, sechs, sieben, acht
Jahren in Flüchtlingscamps ausharren muss, in Camps,
die eine Dimension angenommen haben, für die sie nicht
gedacht waren. In einem Camp, das ich selber mehrfach
besucht habe, Abu Shok in der Nähe von al-Faschir, und
das vom Deutschen Roten Kreuz für 15 000 Flüchtlinge
konzipiert wurde, leben mittlerweile mehr als 50 000
Flüchtlinge.

Ich habe die Uhrzeit, zu der diese Debatte stattfindet,
auch deshalb erwähnt, weil ich den Eindruck habe, dass
Darfur mehr und mehr zu einem vergessenen Konflikt
wird und mehr und mehr aus dem Blickpunkt der Öffent-
lichkeit verschwindet.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich finde, die Menschen, um die es hier geht, haben das
nicht verdient. Deshalb sollten wir uns auch weiterhin
sehr engagiert in dieses Thema einmischen und sehen,
dass wir hier in absehbarer Zeit vernünftige Lösungen
zustande bringen.


(Michael Brand [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Sie haben es angesprochen: Die Situation ist in den
letzten Wochen und Monaten nicht einfacher geworden.
Die Vereinten Nationen sagen zwar, es habe in den letz-
ten Jahren, also bis zu Beginn des Jahres 2012, Verbesse-
rungen der Sicherheitssituation und auch Verbesserun-
gen der Versorgungssituation gegeben; aber das ist nur
die eine Seite der Medaille. Die andere Seite der Me-
daille ist, dass die Gewalt in diesem Jahr, 2012, wieder
– ich sage es ganz deutlich – mit voller Brutalität zu-
schlägt.

Es gab gerade in den letzten Tagen und Monaten wie-
der Attentate auf Flüchtlingslager und Blauhelmsolda-
ten. In diesem Oktober sind 17 Blauhelmsoldaten bei ei-
ner hinterhältigen Attacke getötet worden. Sie waren im





Christoph Strässer


(A) (C)



(D)(B)


Einsatz, um einen Angriff auf ein Flüchtlingslager auf-
zuklären, und sind dabei ums Leben gekommen. Ich
glaube, dass man das zur Kenntnis nehmen muss und
dass all dies bei unseren Entscheidungsfindungen eine
ganz wichtige Rolle spielen muss.

Ich frage mich – ich erwarte hier eine breite Diskus-
sion –, ob das, was UNAMID und andere in Darfur in
den letzten Jahren erreicht haben, wirklich ausreichend
ist. Ich sage es ganz offen und deutlich: Ich habe den
Eindruck – ich glaube, das müssen wir uns selbstkritisch
eingestehen –, dass das nicht so ist. Ich denke nicht, dass
wir sagen können: Im Moment ist UNAMID eine Er-
folgsgeschichte. – Dergleichen zeichnet sich aus meiner
Sicht leider Gottes auch nicht ab.

Wir haben gestern im Ausschuss für Menschenrechte
und Humanitäre Hilfe eine Anhörung über UN-manda-
tierte Friedensmissionen durchgeführt. Dabei wurde
auch die Frage gestellt, ob es eigentlich Kriterien dafür
gibt, wann eine UN-mandatierte Mission erfolgreich ist
und welche Evaluierungsmöglichkeiten es hierfür gibt.
Das Ganze ist sehr schwierig, auch international. Alle
Sachverständigen haben gesagt: UNAMID ist eines der
Mandate, die man, jedenfalls gegenwärtig, nicht als er-
folgreich ansehen kann. – Deshalb müssen wir uns über
eine ausführliche, ehrliche und offene Evaluation des-
sen, was in den letzten Jahren dort passiert ist, Gedanken
machen.


(Michael Brand [CDU/CSU]: Das stimmt!)


Ich glaube, dass wir diese Diskussion auch mit Blick
auf unsere Verantwortung für diejenigen brauchen, die
dort aktiv sind.

Ich sage noch einmal: Die Zahl unserer Einsatzkräfte
vor Ort – zehn Soldatinnen und Soldaten und vier Poli-
zisten – ist sehr klein. Man könnte diese Zahl ja eigent-
lich vernachlässigen. Meine Güte, warum reden wir über
so etwas? Ich sage aber auch: Diese Personen zeigen
dort einen hervorragenden Einsatz, und das mit einer
Ausrüstung, mit der sie oftmals nicht in der Lage sind,
die Funknetze zu bedienen, sodass sie sich ihre eigenen
Funkgeräte kaufen müssen, um dort miteinander zu
kommunizieren. Wenn wir diesen Einsatz ernst nehmen,
dann müssen die Leute, die dorthin geschickt werden,
bitte schön auch so ausgestattet werden, dass sie ihren
Job machen können. Das tun wir im Moment nicht. Da-
ran muss gearbeitet werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Nicht dass ich hier falsch verstanden werde: Die Ar-
beit, die diese 14 Menschen gegenwärtig leisten, ist
wirklich aller Ehren wert. Sie brauchen unsere Unter-
stützung. Ich glaube, jenseits aller Diskussionen, Pro-
bleme und Differenzen, die wir haben, sollten wir in die-
sem Hohen Hause klar erkennen: Das sind diejenigen,
die für uns viele gute Erfahrungen sammeln und eine
gute Arbeit leisten. Wir sollten sie an dieser Stelle re-
spektieren und unterstützen.

Ich will aber auch sagen, dass wir sehr massiv darüber
nachdenken, wie lange ein solches Mandat hier in die-
sem Hohen Hause immer wieder unverändert – ich sage
das jetzt einmal etwas flapsig, obwohl das nicht ange-
messen ist – durchgewunken werden kann.

Ich habe es angedeutet: Die Erfolgsbilanz lässt zu
wünschen übrig. Die Befriedung der Region gelingt nur
sehr rudimentär. Auch die Bemühungen um die Frie-
densabkommen – Sie haben das angesprochen –, für die
die Implementierung durch UNAMID ebenfalls erfolgen
soll, gehen nur sehr langsam voran. Das Darfur Peace
Agreement von 2006 ist im Wesentlichen Makulatur.
Eine einzige Rebellenorganisation hat sich dieser Ver-
einbarung angeschlossen. Auch die Vereinbarungen aus
dem letzten Jahr in Doha harren einer Umsetzung.

Ich habe ein wenig Hoffnung: Gestern wurde vom
UNAMID-Einsatzkommando mitgeteilt, dass auch die
JEM, die größte Rebellengruppe in Darfur, in Verhand-
lungen mit der Regierung in Khartoum steht, um diesem
Friedensabkommen möglicherweise beizutreten. Das
wäre fast schon ein Quantensprung in der Entwicklung
in Darfur.

Ich möchte auch darauf hinweisen – das ist vielleicht
der politische Grund, warum auch wir weiterhin zu die-
sem Mandat stehen und ihm zustimmen werden –, dass
die jetzige Beendigung dieses Mandats für die Stabilität
in der Region fatale Signale aussenden würde. Denn
Darfur ist – das haben auch Sie gesagt – nicht der ein-
zige Konfliktherd in dieser Gegend. Es gibt dort viele
Konfliktherde. Ein Konflikt, den wir gleich noch hier im
Hohen Hause besprechen werden, ist das Verhältnis von
Sudan zu Südsudan. Auch dieser Konflikt ist noch nicht
gelöst. Trotz der Selbstständigkeit des Südsudans, an die
viele Hoffnungen geknüpft worden sind, geht dieser
Konflikt weiter. Eine ähnliche Situation haben wir
– auch das ist nicht weit weg – in Somalia. Da gibt es
mittlerweile das eine oder andere Element der Stabilisie-
rung, auch über das Mandat von AMISOM. Es gibt da
Erkenntnisse und Entwicklungen, die Mut machen.

Ich bin ganz sicher: Wenn wir jetzt sagen würden:
„Wir zeigen, dass UNAMID gescheitert ist, und stim-
men dem Mandat nicht weiter zu“, dann würden wir
auch an andere Mandate in dieser Region genau das fal-
sche Signal senden. Damit würden wir auch das Versa-
gen der Vereinten Nationen und der AU dokumentieren.
Ich glaube, das kann nicht im Sinne derjenigen sein, die
Friedensmissionen der Vereinten Nationen grundsätzlich
für richtig halten.

In diesem Sinne ist es richtig und sinnvoll, dem Man-
dat auch in diesem Jahr zuzustimmen. Aber, Herr Au-
ßenminister, der Deutsche Bundestag wird von Ihnen,
von der Bundesregierung und von der internationalen
Gemeinschaft, aber auch von der Europäischen Union
erwarten, dass man dafür sorgt, dass eine Evaluierung
stattfindet, dass man die Mängel klar benennt, um sie ab-
zustellen. Nur dann, glaube ich, wird auch in den nächs-
ten Jahren eine breite Zustimmung hier im Deutschen
Bundestag zu einem solchen Mandat erfolgen.





Christoph Strässer


(A) (C)



(D)(B)


In diesem Jahr werden wir dem Mandat zustimmen.
Ich hoffe, dass die Soldatinnen und Soldaten weiter ih-
ren Job gut machen werden und dass dies dem Frieden
und den Menschenrechten in dieser Region dient.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720128100

Das Wort hat jetzt der Bundesminister der Verteidi-

gung, Dr. Thomas de Maizière.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Ver-
teidigung:

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Strässer, ich stimme Ihnen ausdrücklich zu,
dass Mandatsdiskussionen, auch wenn sich eine Über-
einstimmung abzeichnet, nicht zu dieser Stunde stattfin-
den sollten. Es ist nicht Aufgabe der Regierung, die Ta-
gesordnung des Parlaments zusammenzustellen. Aber,
ehrlich gesagt, wünsche ich mir, dass ein solcher Tages-
ordnungspunkt heute zum letzten Mal so spät – das hat-
ten wir schon einmal beklagt – behandelt wird.

Ich will noch einmal darauf hinweisen, dass der Auf-
trag von UNAMID Unterstützungs- und Überwachungs-
aufgaben beinhaltet, die Gewährleistung von Sicherheit
und Bewegungsfreiheit für humanitäre Hilfe sowie die
Sicherung und den Schutz der Zivilbevölkerung in Dar-
fur. Der Außenminister und auch Sie, Herr Strässer, ha-
ben davon gesprochen, dass dieser Einsatz nicht unge-
fährlich ist. Erst in der letzten Woche gab es einen
Anschlag auf einen UNAMID-Konvoi. Die Sicherheits-
lage bleibt insgesamt angespannt und instabil.

Diese Mission hat deswegen auch nach unserer Auf-
fassung eine unverzichtbare stabilisierende Funktion.
Viele Vertriebene lehnen eine Rückkehr in ihre Heimat-
regionen ab. Wir müssen aber alles daransetzen, dass
Bedingungen geschaffen werden, die eine Rückkehr die-
ser Menschen ermöglichen. So lange diese Flüchtlings-
lager jedoch noch bestehen, müssen sie auch weiterhin
dringend geschützt werden. Durch verstärkte Patrouil-
lentätigkeit und Präsenz leistet UNAMID seinen Beitrag
zur Verbesserung der humanitären Lage vor Ort.

Ja, es gibt gewisse Verbesserungen; Sie haben das an-
gesprochen. Es gibt gewisse Kontakte zwischen der Re-
gierung und der Rebellenorganisation. Es gibt auch eine
Annäherung von Sudan und Südsudan nach den Verein-
barungen vom 27. September 2012 in Addis Abeba. Ob
sie aber dauerhaft zu einer Verbesserung der Lage in
Darfur führen, ist noch unklar.

Die Vereinten Nationen haben mit ihrer Resolution
vom 31. Juli das Mandat nicht nur um ein Jahr verlän-
gert, sondern auch zahlenmäßig verringert. Insoweit gibt
es schon ein bisschen Bewegung, nämlich eine Absen-
kung der Mandatsobergrenze um rund 6 000 auf rund
21 000, allerdings einschließlich der Polizisten. Von den

circa 21 000 sind also etwa 16 200 Soldaten. Wir begrü-
ßen diese Umgliederung. Dadurch wird die Reaktionsfä-
higkeit und Flexibilität der Mission verbessert. Auswir-
kungen auf unser Engagement sind damit nicht
verbunden. Wir glauben, dass wir mit den derzeit einge-
setzten zehn Soldaten im Hauptquartier in al-Faschir an
verantwortlicher Stelle diese Mission in einem angemes-
senen Umfang unterstützen.

Liebe Kollegen, die deutsche Beteiligung an
UNAMID ist ein wichtiges Zeichen. Wir dürfen Darfur
nicht vergessen. Schutz und Sicherung der Zivilbevölke-
rung stehen weiterhin im Zentrum unseres Engagements.
Mit unserem Beitrag unterstützen wir zudem die afrika-
nischen Peacekeeping-Fähigkeiten.

Das alles – darauf haben dankenswerterweise Herr
Westerwelle und Herr Strässer hingewiesen – leisten un-
sere Soldaten, bzw. sie leisten einen Beitrag dazu. Dafür
danke ich ihnen aufrichtig. Sie verdienen unseren Res-
pekt, unsere Wertschätzung und eine breite parlamentari-
sche Zustimmung.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720128200

Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine Buchholz

von der Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Christine Buchholz (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720128300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie von

der Bundesregierung streuen der Öffentlichkeit ein wei-
teres Mal Sand in die Augen. Sie sagen, der Bundes-
wehreinsatz in Darfur im Rahmen von UNAMID solle
die Umsetzung des Doha-Friedensabkommens fördern.
Solange aber die wichtigsten bewaffneten Gruppen – un-
ter ihnen die JEM und die LRA – dieses Abkommen gar
nicht unterzeichnet haben, bleibt auch dieses Friedens-
abkommen zum Scheitern verurteilt, wie auch die zahl-
reichen Friedensabkommen zuvor. Hören Sie also end-
lich auf mit dieser Schönfärberei.


(Beifall bei der LINKEN – Michael Brand [CDU/ CSU]: So jung und so verbohrt!)


Dann sagen Sie, UNAMID solle die Zivilbevölkerung
schützen. Sie unterschlagen aber, dass UNAMID zu wei-
ten Teilen Darfurs überhaupt keinen Zugang hat. Über
die Bewegungsfreiheit von UNAMID entscheidet näm-
lich nicht UNAMID, sondern die Regierung in Khar-
toum. UNAMID ist damit vom Goodwill und von den
Interessen der sudanesischen Regierung abhängig. Das
hat dazu geführt, dass die Bevölkerung UNAMID nicht
als Schutz durch eine neutrale Mission erlebt, sondern
als parteiische Militärtruppe am Gängelband der Zentral-
regierung in Khartoum. Den Menschen in Darfur wird
suggeriert: Wir sind hier zu eurem Schutz. – Doch
UNAMID kann die Menschen nicht schützen. Tagtäg-





Christine Buchholz


(A) (C)



(D)(B)


lich kommt es zu Gewalt gegen Flüchtlinge, ohne dass
UNAMID etwas daran ändert.

Ich sage, eine wirkliche Verbesserung der Sicherheits-
lage kann nur auf der Grundlage einer politischen Lö-
sung und durch Entwicklung erreicht werden, und dabei
hat Militär nichts verloren.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Sudan ist seit der Abtrennung des Südsudan in
eine schwere ökonomische Krise geraten. Die Preise für
Grundnahrungsmittel sind massiv angestiegen. Während
im Südsudan der drohende Staatsbankrott durch interna-
tionale Hilfsgelder in Milliardenhöhe zumindest ein
ganz klein bisschen abgemildert werden kann trotz aller
Probleme, die das mit sich bringt, trifft die Krise die
Menschen im Norden mit voller Härte.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Wie wollen Sie die lösen?)


Bis heute verweigert die Bundesregierung die Wie-
deraufnahme der Entwicklungszusammenarbeit. Daran
ändert auch die Not- und Übergangshilfe nichts. Sie hat-
ten versprochen, wenn der Norden das Ergebnis des
Referendums und die Unabhängigkeit des Südens res-
pektiert, werde die Bundesregierung die Entwicklungs-
zusammenarbeit mit dem Norden neu beginnen. Dieses
Versprechen haben Sie gebrochen.


(Joachim Spatz [FDP]: So ein Quatsch!)


Für einen sinnlosen Militäreinsatz wie UNAMID ist
aber scheinbar immer genug Geld da. UNAMID ist der
teuerste aller UN-Militäreinsätze. UNAMID kostet im-
mer noch 1,5 Milliarden Dollar pro Jahr. Doch Maß-
nahmen zum friedlichen Aufbau des Landes werden ver-
weigert. Meine Damen und Herren, das ist nicht
hinnehmbar.


(Beifall bei der LINKEN)


Solange es keinen nachhaltigen Frieden zwischen
Nord- und Südsudan gibt, wird es auch keinen Frieden in
Darfur geben; denn beide führen dort einen Stellvertre-
terkrieg und rüsten gegenseitig Milizen auf. Dass in die-
sem Konflikt die Bundesregierung wie der gesamte Wes-
ten einseitig die Regierung im Südsudan unterstützt,
facht die Flammen weiter an.


(Michael Brand [CDU/CSU]: Wäre ich besser schlafen gegangen!)


Deshalb kann UNAMID auch keinen Frieden bringen.
Es gibt aber einen Funken Hoffnung im Sudan. Diese
Hoffnung besteht nicht in einem Militäreinsatz. Sie
speist sich aus dem Widerstand gegen die soziale Katas-
trophe und die politische Unterdrückung, die es auch im
Sudan gibt. Darauf setzen wir. Deswegen werden wir
UNAMID ein weiteres Mal ablehnen.


(Beifall bei der LINKEN – Michael Brand [CDU/CSU]: Nicht deshalb, sondern: Es lebe die Ideologie! – Joachim Spatz [FDP]: Deswegen lehnen wir Sie ab!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720128400

Jetzt hat das Wort der Kollege Omid Nouripour von

Bündnis 90/Die Grünen.


Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720128500

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir bera-

ten heute die Verlängerung des seit Ende 2007 bestehen-
den Einsatzes der AU/UN-Hybrid-Mission UNAMID,
basierend auf der Resolution 1769 des Sicherheitsrats
der Vereinten Nationen. Seit über neun Jahren gibt es ei-
nen Bürgerkrieg, der 2 Millionen Menschen die Heimat
und über 300 000 Menschen das Leben gekostet hat.
Hauptbetroffene sind Frauen und Kinder. Aber es geht
auch um Nomadenstämme, die ihre Lebensgrundlage
verloren haben.

Das Erste, was ich nicht verstanden habe, Frau Kolle-
gin Buchholz, ist: Was ist Ihr Konzept?


(Marina Schuster [FDP]: Die haben keins! – Weiterer Zuruf von der FDP: Wo sollen die eins herhaben?)


Wir reden über 20 000 Soldatinnen und Soldaten und
Polizisten, und die Hauptlast dabei trägt die Afrikani-
sche Union. Das darf man nicht vergessen.


(Michael Brand [CDU/CSU]: Das hat sie auch verschwiegen!)


Zehn deutsche Soldaten sind im Stab von UNAMID,
um dort unterstützend tätig zu sein. Wir haben erleben
müssen – die Zahl ist genannt worden –: 118 Soldaten
sind bereits getötet worden. Am 17. Oktober gab es wie-
der einen Anschlag. Ein Soldat wurde getötet; drei wur-
den verletzt. Am 2. Oktober wurden vier Soldaten getö-
tet und acht verletzt. Gerade bei solch einem Einsatz in
einer derart extremen Situation ist es völlig richtig, den
Soldaten und ihren Familien zu danken. Ich möchte um
Erlaubnis bitten, dass ich nicht nur den deutschen Solda-
ten danke, sondern allen Soldaten, auch denen der Afri-
kanischen Union, die vor Ort einen unglaublich harten
Job machen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Meine Damen und Herren, die Situation ist sehr fra-
gil. Es gibt einige neue Entwicklungen, die Grund zur
Sorge geben. Wenn man daran denkt, wie die Zentralre-
gierung im Sudan in der Vergangenheit auf äußeren
Druck reagiert hat und auch wie sie jetzt reagiert, nach-
dem vorgestern in der Nähe der Hauptstadt des Sudan
eine Waffenfabrik explodiert ist – das ist auch für Darfur
relevant –, dann stellt sich die zentrale Frage: Wohin
führt das? Es steht zu befürchten, dass die Zentralregie-
rung in den nächsten Wochen und Monaten nicht koope-
rativer mit uns zusammenarbeiten wird. Das ist auch
deswegen relevant, weil in den letzten Wochen die Be-
wegungsfreiheit wieder massiv eingeschränkt worden
ist.

Damit komme ich zu meiner zweiten Frage an Sie,
Frau Kollegin Buchholz: Ich habe nicht verstanden, wa-
rum die Einschränkung der Bewegungsfreiheit durch die
Zentralregierung dazu führt, dass die Menschen in Dar-





Omid Nouripour


(A) (C)



(D)(B)


fur denken, UNAMID wäre eine Unterdrückungs- bzw.
Besatzungsmacht. Das ist mir nicht klar geworden. Da-
bei ist es, um beim Thema zu bleiben, von zentraler Be-
deutung, dort jetzt einzuwirken, wo es geht, damit die
Menschen in Darfur nicht wieder einmal Opfer von Din-
gen werden, die die Zentralregierung in Khartoum tat-
sächlich antreiben.

Es ist zu Recht gesagt worden, dass es wenig Leben
im Doha-Prozess gibt. Es gibt viele große Gruppierun-
gen der Rebellen, die nicht dabei sind. Aber es gibt auch
ganz kleine Hoffnungspunkte, die ich noch erwähnen
möchte. Es ist begrüßenswert, dass die Zentralregierung
erstmals wirklich etwas tut, um die Kindersoldaten zu
entwaffnen. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung.
Darüber kann man sich nur freuen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP)


Es ist gut, dass es den Doha-Prozess gibt, und es ist
gut – das hat der Kollege Strässer vorhin gesagt –, dass
es eine weitere Gruppe gibt, die vielleicht nicht die
wichtigste ist, aber die nun bereit ist, mitzuwirken und
an Verhandlungen teilzunehmen.

Diese kleinen Hoffnungen werden kurzfristig nichts
bringen. Es ist tatsächlich sehr frustrierend, Jahr für Jahr
zu sehen, dass wir nicht vorankommen. Aber diese klei-
nen Punkte, die nicht vergessen werden dürfen, würde es
nicht geben, wenn es UNAMID nicht gäbe. Deshalb ist
dieser Einsatz so wichtig, und deshalb werden wir zu-
stimmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720128600

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt

erteile ich das Wort dem Kollegen Philipp Mißfelder von
der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Philipp Mißfelder (CDU):
Rede ID: ID1720128700

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Ich kann mich in weiten Teilen eigentlich nur
dem anschließen, was Kollege Nouripour gesagt hat. Ich
fand es beruhigend, dass über die Situation in Darfur
hier im Hause ein breiter Konsens besteht und sie auch
ernst genommen wird. In diese Richtung haben sich ja
fast alle Redner geäußert.

Frau Buchholz, Ihre Ausführungen möchte ich – wie
so häufig bei solchen Themen – einfach nicht weiter
kommentieren. Sie haben uns heute Gott sei Dank Ihren
sonstigen Reigen von antiamerikanischen Verschwö-
rungstheorien erspart. Aber nichtsdestotrotz war das,
was Sie gesagt haben, einfach nicht sachgerecht.

Vor dem Hintergrund mein Kompliment an Herrn
Nouripour für seine Rede! Ich glaube, dass vieles von

dem, was er gesagt hat, das widerspiegelt, was unsere
Fraktion mit Blick auf diesen Einsatz denkt.

Der Prozess der Unabhängigkeit Südsudans ist eine
große Herausforderung gewesen. Das haben wir und das
hat insbesondere Minister Westerwelle politisch sehr
stark begleitet. Wo wir konnten, haben wir versucht, die-
sen Prozess politisch zu unterstützen. Der Sudan steht
dennoch nach wie vor vor einer großen Zerreißprobe.
Besonders der Wegfall der Einnahmen aus der Erdölför-
derung gefährdet die wirtschaftliche Stabilität. Hinzu
kommt die Gefährdung der politischen Stabilität. Un-
kontrolliert hereinströmende Waffenlieferungen aus Li-
byen beispielsweise erschweren die Lage massiv.

Die Rebellenbewegungen stellen einerseits für die
Regierung in Khartoum eine reale Bedrohung dar. Ande-
rerseits sind deshalb inzwischen mindestens 2 Millionen
Menschen von humanitärer Hilfe abhängig. Die humani-
täre Lage in der Region bleibt katastrophal; das ist schon
von Herrn Strässer eindrucksvoll geschildert worden.
Die Zahl der Binnenvertriebenen liegt bei rund 1,9 Mil-
lionen, sodass es wirklich kein eng begrenzter regionaler
Konflikt ist, sondern tatsächlich eine humanitäre Katas-
trophe, die man im Blick haben muss. Die Zahl der To-
ten ist von Minister Westerwelle schon genannt worden.
Dem Ernst der Lage wird es natürlich nicht gerecht, dass
wir um diese Uhrzeit hier diskutieren. Die Lage dort ge-
hört einfach bei uns politisch mehr in den Fokus.

Wenn wir uns das Elend, das im Westsudan an der
Grenze zum Tschad herrscht, vor Augen führen, er-
schließt sich die Notwendigkeit der Verbesserung der
humanitären Lage in dieser Region. Gerade hierzu leistet
die Bundeswehr einen wichtigen Beitrag. Deshalb werbe
ich seitens unserer Fraktion für eine breite Zustimmung
zur Verlängerung des Bundeswehreinsatzes in Darfur.
Ich fordere auch diejenigen, die sich damit schwertun,
auf, sich einen Ruck zu geben, sodass der gesamte Deut-
sche Bundestag das Zeichen setzt, dass er hinter diesem
Mandat steht.

Gemäß dem Antrag der Bundesregierung, den wir
hier beraten, sollen bis zu 50 Soldatinnen und Soldaten
der Bundeswehr an UNAMID beteiligt werden. Die
neun deutschen Soldaten, die im Hauptquartier von UN-
AMID ihren Dienst tun, leisten hervorragende Arbeit.
Ihnen ist schon gedankt worden. Dem Dank schließe ich
mich an dieser Stelle an.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)


UNAMID bleibt nach wie vor ein stabilisierendes
Element und ist auch ein wichtiger Beitrag, um zu zei-
gen, dass sich die Weltgemeinschaft der Verbesserung
der Sicherheitslage und der Verbesserung der humanitä-
ren Situation annimmt. Das erspart uns allerdings nicht,
gleichzeitig die politischen Bemühungen zu verstärken,
damit die Krise sich nicht weiter zuspitzt, sondern tat-
sächlich ein politischer Ansatz gefunden wird, der zu
mehr Frieden und zu mehr Sicherheit führt.

Zur Wahrheit gehört aber auch: Eine politische Lö-
sung des Darfur-Konflikts steht weiterhin aus und ist in
weiter Ferne. Nicht alle Rebellengruppen nahmen an den





Philipp Mißfelder


(A) (C)



(D)(B)


Friedensverhandlungen in Doha teil. Sie verweigern
zum Teil bis heute die Unterschrift zum Abkommen zwi-
schen der sudanesischen Regierung und der Rebellenbe-
wegung.

Wie gefährlich die Lage ist, zeigte jüngst – Minister
Westerwelle hat es schon gesagt – der Tod von vier nige-
rianischen Soldaten. Das sind unsere Partner, die dort
noch mehr Verantwortung übernehmen als wir mit der
Bundeswehr. Unser Mitgefühl gilt deshalb all denjeni-
gen, die dort Soldaten verlieren. Der Tod dieser Soldaten
zeigt, wie gefährlich die Mission insgesamt ist. Mitte
Oktober starb ein weiterer UNO-Soldat in einem Hinter-
halt. Damit steigt die Zahl der getöteten UNAMID-Sol-
daten und -Mitarbeiter innerhalb von fünf Jahren auf 43.
Das ist also keine Kleinigkeit, über die wir dort reden.

Nach Schätzungen sind im Darfur-Konflikt seit 2003
insgesamt 300 000 Menschen umgekommen. Trotzdem
nimmt die Weltöffentlichkeit nur partiell Anteil. Des-
halb, glaube ich, ist es richtig, unser Mandat hier auf
eine möglichst breite Unterstützung zu gründen und dem
Ganzen über diese Entscheidung hinaus politisch größe-
res Gewicht zu verleihen. Wir müssen dafür sorgen, dass
afrikanische Themen insgesamt eine größere Rolle spie-
len und wir uns in den Ausschüssen wesentlich mehr
damit beschäftigen. Dort, wo wir dies getan haben, ins-
besondere in den letzten Wochen, ist das häufig überpar-
teilich und mit sehr großer Sachkunde und sehr großem
Engagement geschehen.

Ich glaube, dass der Darfur-Konflikt für uns nach wie
vor ein Beispiel sein sollte, dass wir uns mit solchen Fra-
gen in den Ausschüssen, aber auch in unserer sonstigen
Arbeit stärker auseinandersetzen. So können wir deut-
lich machen, dass über das Militärische hinaus politische
Lösungen im Mittelpunkt stehen und dass die westliche
Welt und insbesondere Deutschland mit seiner starken
Rolle in Europa bereit sind, sich daran zu beteiligen.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720128800

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/11036 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 18 auf:

Beratung des Antrags der Bundesregierung

Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-
scher Streitkräfte an der von den Vereinten
Nationen geführten Friedensmission in Süd-
sudan (UNMISS) auf Grundlage der Resolu-
tionen 1996 (2011) des Sicherheitsrates der
Vereinten Nationen vom 8. Juli 2011 und 2057

(2012) vom 5. Juli 2012


– Drucksache 17/11037 –

Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache wiederum eine halbe Stunde vorgesehen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort als
erstem Redner wiederum dem Bundesaußenminister
Dr. Guido Westerwelle.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-
wärtigen:

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Kolleginnen und Kollegen! Es ist in der Debatte
eben schon angesprochen worden, aber es ist, so glaube
ich, interessant, sich das noch einmal vor Augen zu füh-
ren: Erst vor gut einem Jahr, nämlich am 9. Juli 2011,
wurde Südsudan ein unabhängiger Staat, und zwar – das
möchte ich noch einmal in Richtung der Linken sagen –
durch eine demokratische Volksabstimmung. Wir haben
in der internationalen Gemeinschaft hart dafür gearbei-
tet, dass diese Volksabstimmung stattfinden konnte und
dass sie auch von allen Beteiligten respektiert wurde.
Dass das Volkes Wille gewesen ist, mag dem einen oder
anderen aus ideologischen Gründen nicht gefallen.


(Zuruf von der FDP: Das können die Linken nicht verstehen!)


Aber dass dieser Wille des Volkes politisch umgesetzt
werden konnte, auch durch die Entscheidung der Verein-
ten Nationen – wir selbst waren Präsident im Sicher-
heitsrat, als die Aufnahme erfolgt ist –, ist etwas, was
man bei all dem, was zweifelsohne sehr kritikwürdig ist,
auch einmal anerkennen sollte. Das war ein Erfolg der
Menschen in Südsudan und auch ein Erfolg der interna-
tionalen Diplomatie.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Alles ist sehr schnelllebig. Man vergisst immer alles,
was gelingt, und hat nur immer das im Kopf, was nicht
gelingt. Aber das sollte man sich auch ein Jahr später
noch einmal vor Augen führen.

Seitdem befindet sich Südsudan auf dem Weg hin zu
einer eigenen stabilen Staatlichkeit. Jeder, der dort gewe-
sen ist – viele von Ihnen waren dort und kennen das –,
weiß auch, dass nicht zu erwarten war, dass das ohne
Probleme und ohne Rückschläge geschehen würde. Für
jeden, der einmal dort gewesen ist und von Staatlichkeit
spricht, der Staatlichkeit dort selbst erlebt hat, für den ist
es wohl etwas komisch, das Wort „Staatlichkeit“ dort vor
dem Hintergrund unserer europäischen Empfindungen
und Wahrnehmungen zu verwenden. Uns ist aber nicht
nur die schwierige Ausgangslage des jungen Staates be-





Bundesminister Dr. Guido Westerwelle


(A) (C)



(D)(B)


wusst, sondern wir halten es auch für richtig, die Ent-
wicklung entsprechend voranzubringen.

Die Lage im Sudan bzw. Südsudan war während der
Mandatslaufzeit sowohl durch innerstaatliche als auch
durch zwischenstaatliche bewaffnete Auseinanderset-
zungen und eine Verschlechterung der ökonomischen Si-
tuation in beiden Staaten gekennzeichnet. Leidtragende
sind die Menschen vor Ort. Niemand ignoriert die so-
ziale Lage der Menschen vor Ort. Wir hören immer wie-
der von vielen Toten. Manches hat einen politischen
Hintergrund, vieles auch nicht, das darf nicht unterschla-
gen werden. Aber wir tun unser Bestes: Wir haben die
humanitäre Hilfe für Sudan und Südsudan im Sommer
um 5 Millionen Euro auf jetzt 10,5 Millionen Euro er-
höht.

Wir erinnern uns: Durch intensive Bemühungen der
internationalen Gemeinschaft und der Präsenz der Ver-
einten Nationen vor Ort konnte Mitte des Jahres verhin-
dert werden, dass sich die Konflikte zu einem größeren
zwischenstaatlichen Konflikt ausweiteten. Es gibt die
Probleme noch. Das ist auch in der vorherigen Debatte
angesprochen worden. Das kann man nicht ignorieren.
Wenn man aber sieht, wo wir vor anderthalb Jahren wa-
ren und vor welcher Gefährdung wir vor anderthalb Jah-
ren standen, dann, denke ich, sollte man auch anerken-
nen, was sich vernünftig entwickelt hat. Die Probleme
sind nicht weg. Das kann niemand in dieser Situation er-
warten. Ich glaube aber, es sind durchaus Fortschritte zu
sehen.

Wir haben natürlich unsererseits die Konfliktparteien
aufgefordert, ihre Streitigkeiten im Interesse der Men-
schen beizulegen. Die Bundesregierung begrüßt daher,
dass die Einigung von Addis Abeba vom 27. September
möglich wurde. Diese Einigung bietet die Chance auf
eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Sudan
und Südsudan, auch wenn wesentliche Fragen offenblei-
ben. Ich will das noch einmal unterstreichen. Niemand in
diesem Hause ignoriert ja die Probleme. Jeder weiß, dass
noch viele Jahre harter Arbeit nicht nur vor den beiden
Staaten, sondern auch vor der internationalen Staatenge-
meinschaft liegen werden.

Der von den Vereinten Nationen geführten Friedens-
mission im Südsudan UNMISS – UNMISS mit zwei S
wegen des Südens – kommt dabei eine wichtige Rolle
zu. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat durch
seine Resolution 2057 vom 5. Juli dieses Jahres die völ-
kerrechtliche Grundlage nach Kapitel VII der UN-
Charta um ein weiteres Jahr verlängert.

Deutschland hat sich an der Mission UNMISS von
Anfang an beteiligt. Derzeit sind 16 deutsche Soldatin-
nen und Soldaten im Südsudan eingesetzt. Deutsche Of-
fiziere tragen an wichtigen Entscheidungspositionen
zum Erfolg dieser Mission bei. Dafür möchte ich aber-
mals auch den dort eingesetzten Frauen und Männern,
sei es in Uniform, sei es aber auch ohne Uniform als zi-
vile Helfer, ausdrücklich danken.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, für die Bundesregierung
beantrage ich die Fortsetzung der Beteiligung bewaffne-
ter deutscher Streitkräfte an der von den Vereinten Na-
tionen geführten Friedensmission in Südsudan. Das
Mandat wird inhaltlich unverändert fortgeschrieben. Es
bleibt bei denselben Aufgaben, bei demselben Einsatz-
gebiet und bei derselben Personalobergrenze von 50 Sol-
datinnen und Soldaten. Ich weise erneut darauf hin:
UNMISS hat ein robustes Mandat, das heißt, die Kräfte
der Mission sind autorisiert, zum Eigenschutz, zur Ge-
währleistung der Sicherheit der humanitären Helfer und
zum Schutz der Zivilbevölkerung gegebenenfalls Gewalt
anzuwenden.

Kernaufgabe von UNMISS bleibt die Unterstützung
der Regierung bei der Friedenskonsolidierung, beim
Staatsaufbau und bei der Schaffung der Voraussetzung
für wirtschaftliche Entwicklung. Die Mission unterstützt
zudem die Gewährleistung von Sicherheit, die Durchset-
zung von Rechtsstaatlichkeit und die Stärkung des Si-
cherheits- und Justizsektors. Hierzu tragen neben den
deutschen Soldaten auch die deutschen Polizeibeamten
bei, von denen derzeit sechs vor Ort eingesetzt sind.
Auch ihnen gebührt unser Dank und unser Respekt für
ihre wertvolle Arbeit unter höchst herausfordernden
Umständen.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, natürlich nimmt das Su-
dan-Konzept der Bundesregierung – das ist jedem hier
klar; das will ich nur von der vorherigen Debatte aufgrei-
fen – bewusst Südsudan und Sudan gleichermaßen in
den Blick. Das ist gar keine Frage. Ganz im Sinne unse-
res Ansatzes der vernetzten Sicherheit greifen dabei
viele Elemente ineinander: Nothilfe, Entwicklungshilfe
und Hilfe beim Aufbau von staatlichen Strukturen.

Wir fördern aber auch zusätzliche Projekte zur Unter-
stützung der Arbeit von UNMISS. Wir helfen bei Ent-
waffnung, Demobilisierung und Reintegration von Sol-
daten und Milizionären. Wir fördern juristische und
polizeiliche Ausbildung und unterstützen den Verfas-
sungsprozess. All dies trägt dazu bei, das Fundament zu
festigen, auf dem der junge Staat Südsudan aufgebaut
ist.

Ich weiß, dass einige von Ihnen in der letzten Woche
die Gelegenheit gehabt haben, mit der Leiterin der Mis-
sion und Sondergesandten des UN-Generalsekretärs für
Südsudan, Hilde Johnson, bei ihrem Besuch in Berlin zu
sprechen. Sie werden auch von ihr erfahren haben, dass
der Beitrag Deutschlands sehr geschätzt wird.

Ich hoffe, dass das, was bei der letzten Debatte mög-
lich war, dass nämlich vier Fraktionen geschlossen für
das Mandat gestimmt haben, auch dieses Mal wieder ge-
lingen wird, und diesen Eindruck habe ich trotz all der
Schwierigkeiten, die man nicht ignorieren kann. Das
weiß hier auch jeder, da muss man ganz realistisch he-
rangehen. Dieses Mandat ist sinnvoll. Wir sollten unse-
ren Beitrag leisten. Das mehrt nicht nur die Chancen vor
Ort, sondern auch international das Ansehen unseres





Bundesminister Dr. Guido Westerwelle


(A) (C)



(D)(B)


Landes. Deswegen bitte ich um eine breite Unterstüt-
zung durch das Hohe Haus.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1720128900

Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die Kollegin

Heidemarie Wieczorek-Zeul.


(Beifall bei der SPD)



Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD):
Rede ID: ID1720129000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

stimmen dem Antrag der Bundesregierung zur fortge-
setzten Beteiligung an der UN-Friedensmission im
Südsudan, UNMISS, zu; denn die vor einem Jahr mit
dem Mandat erteilten Aufgaben bestehen unvermindert
fort. Es geht um den Aufbau eines funktionierenden de-
mokratischen und pluralistischen Staatswesens. Vor al-
len Dingen geht es um den Schutz der Zivilbevölkerung.
Über den deutschen Beitrag im Hinblick auf die Anzahl
der beteiligten Soldatinnen und Soldaten ist schon gere-
det worden.

Ich möchte an dieser Stelle der UN-Sonderbeauftrag-
ten für Südsudan, Hilde Johnson, ganz herzlich danken;
denn sie leistet unter äußerst schwierigen Bedingungen
eine hervorragende Arbeit. Sie hat vielen von uns in der
letzten Woche für Gespräche zur Verfügung gestanden.
Ich wünsche ihr viel Erfolg für die Arbeit, die sie dort im
Auftrag der Vereinten Nationen leistet.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es ist gut, dass nach den massiven Auseinanderset-
zungen der letzten Zeit Ende September 2012 in Addis
Abeba eine Übereinkunft zwischen Südsudan und Sudan
zustande gekommen ist. Inhalt dieser Übereinkunft sind
die Wiederaufnahme der Ölförderungen, die im Februar
2012 vom Südsudan gekappt bzw. gestoppt worden sind,
und die Einigung auf eine demilitarisierte Zone entlang
der gemeinsamen Grenze, einschließlich eines Verfah-
rens der gemeinsamen Grenzüberwachung.

Diese Grenzüberwachung ist ein Fortschritt, weil
beide Seiten, Sudan und Südsudan, beteiligt sind. Es
wäre zu wünschen gewesen, dass hier UNMISS eine
Rolle hätte spielen können. Das ist jedoch nicht der Fall.
Vielmehr werden noch auszubildende internationale Be-
obachter vor Ort sein, die sich an diesem Joint Border
Verification and Monitoring Mechanism beteiligen.

Die Auswirkungen – wer mit den Beteiligten gespro-
chen hat, kann das noch einmal bestätigen – des Stopps
der Ölförderung waren und sind katastrophal. Wenn jetzt
die Ölförderung wieder aufgenommen wird, wird erst im
Februar nächsten Jahres daraus Geld in den Haushalt des
neuen Staates fließen. Dabei machen die Erdöleinnah-
men etwa 98 Prozent des südsudanesischen Staatshaus-
halts aus. Von dem geringeren finanziellen Spielraum
sind jedoch vor allen Dingen die Armen betroffen. Die
Bevölkerung aber wartet auf die Unabhängigkeitsdivi-
dende, auf die Dividende, die sich mit dem Frieden erge-
ben sollte. Ich sehe den Prozess immer auch unter einem

optimistischen Aspekt, aber man muss fairerweise sa-
gen, dass sich nach der Euphorie der Unabhängigkeit
doch Ernüchterung und Sorge breitgemacht haben. Der
junge Staat wird noch für lange Zeit auf die internatio-
nale Unterstützung angewiesen sein.

Hinter dem fortdauernden Konflikt steht auf der Seite
des Südsudans offensichtlich auch eine Gruppe von Mi-
litärs der SPLA-Nord, die die Gelegenheit zum Sturz im
Norden nutzen will. Im Nordsudan gibt es eine massive
Gruppe von Radikalislamisten, die den gesamten Sudan
wieder „islamisieren“ wollen. Das sind übrigens diejeni-
gen, die auch die deutsche Botschaft attackiert und zer-
stört haben. Es ist völlig unerträglich, dass die Regierung
Baschir den Schutz dieser Botschaft nicht sichern konnte
oder wollte. Wir fordern Sie auf, sicherzustellen, dass
diese Regierung ihren internationalen Verpflichtungen,
nämlich dem Schutz der Botschaften, auch gerecht wird.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die südsudanesische Regierung ist aufgerufen, end-
lich den Aufbau einer unabhängigen Justiz und die Re-
form der Sicherheitsorgane voranzubringen. Der Bürger-
krieg ist zu Ende, und damit muss auch das durch diesen
Bürgerkrieg geprägte Denken der Sicherheitsorgane und
der Regierung zu Ende sein.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Das ist die wichtigste Voraussetzung, damit die richti-
gen Investitionen getätigt werden. Denn man muss sich
angucken: Im Jahr 2011 – –


(Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse übernimmt den Vorsitz)


– Ach, Herr Präsident, hallo! Ich dachte es mir doch; so
laut habe ich Herrn Solms noch nie erlebt.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Entschuldigung; ich bitte um Nachsicht.

Ich wollte Folgendes sagen: Die Schwerpunkte der
Investitionen sahen 2011 wie folgt aus: 10 Prozent der
Investitionen flossen in Infrastruktur, 7 Prozent in Bil-
dung, 4 Prozent in Gesundheit, aber 38 Prozent flossen
Militär- und Sicherheitsapparat zu. Das ist unakzeptabel.
Auch deshalb muss sich die internationale Gemeinschaft
stärker beteiligen, nicht nur bei UNMISS, sondern eben
auch hinsichtlich der anderen Fragen; denn noch ist die
Regelung über die Zuordnung der umstrittenen Region
Abyei ungeklärt. Dazu gibt es jetzt den Auftrag der Afri-
kanischen Union, dass sich beide Seiten innerhalb der
nächsten sechs Wochen einigen sollen, ebenso wie über
einen Teil der Demarkierung der noch nicht beschlosse-
nen fünf weiteren Grenzregionen. Hier muss neben der
Afrikanischen Union auch die internationale Gemein-
schaft ihre Aufgaben wahrnehmen.

Es ist gut, dass es auch ein Abkommen bzw. eine Ver-
einbarung zur humanitären Hilfe für die Menschen gibt,
die in Südkordofan und am Blauen Nil besonders betrof-
fen waren. Dazu gibt es jetzt ein Abkommen; aber bevor
die Hilfe ankommt, dauert es noch einige Zeit.





Heidemarie Wieczorek-Zeul


(A) (C)



(D)(B)


Zur Rolle von UNMISS. Angesichts dieser Phase, die
wir hier jetzt noch einmal vor Augen haben, angesichts
fortgesetzter massiver Konflikte hatte es UNMISS
schwer, die Aufgaben zu erfüllen. Aber man versucht,
die Zivilbevölkerung zu schützen und die Lösung der
Kapazitätsprobleme der Sicherheitskräfte voranzubrin-
gen. UNMISS hat dazu beigetragen, dass ein Versöh-
nungsabkommen zwischen den ethnischen Gruppen von
der Regierung verhandelt wurde. Aber UNMISS – das
ist auch wahr – kann nicht überall im Südsudan vertreten
sein. 7 900 Soldaten sind autorisiert, aber 5 600 Soldaten
sind real vor Ort. Es fehlen Hubschrauber. Auch das, so
war zu hören, wäre eine wichtige Anforderung an die
Bundesrepublik Deutschland; denn in vielen Fällen sind
die Sicherheitsorgane natürlich auch diejenigen, die ge-
genüber der Bevölkerung eine gewisse Bedrohung aus-
üben und Menschenrechtsverletzungen begehen.

Zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen, eine
Betrachtung der Rolle Khartoums, also des Nordsudan.
Die Staatsfinanzen – darauf ist vorhin hingewiesen wor-
den – sind durch die Auseinandersetzungen um die Öl-
einnahmen drastisch eingebrochen. Proteste, die sich ge-
gen die verfehlte Wirtschafts- und Finanzpolitik, gegen
Korruption und Vetternwirtschaft richten, lassen sich
zwar nicht mit den Massenbewegungen wie etwa in Tu-
nesien oder Ägypten vergleichen. Das Regime reagiert
aber dennoch mit äußerster Härte und lässt selbst die
friedlichsten Konflikte brutal niederschlagen. Das Re-
gime Baschir hat immer noch nicht verstanden, dass es
massive Anstrengungen unternehmen muss, die realen
Lebenschancen von Menschen in allen Regionen und
eben nicht nur im Zentrum zu verbessern und vor allen
Dingen Chancen auf mehr Selbstbestimmung zu ermög-
lichen.

Jenseits der Problematik UNMISS muss die politi-
sche Unterstützung, muss die Arbeit der Europäischen
Union, der UN und der Afrikanischen Union tatsächlich
an den noch ungelösten Fragen ansetzen. Denn wir wol-
len, dass der 193. Staat – er ist vor gut einem Jahr unab-
hängig geworden – eine Chance hat, sich zu entwickeln,
und damit die Chance hat, die Leistungen für seine Bür-
gerinnen und Bürger zu erbringen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720129100

Das Wort hat nun Minister Thomas de Maizière.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Ver-
teidigung:

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
der Tat, der Südsudan ist vor 15 Monaten unabhängig
geworden. Das war ein großer Erfolg. Aber wir dürfen
nicht vergessen, dass 20 Jahre Bürgerkrieg die Vorge-
schichte sind. Deswegen kann man natürlich schnelle
Ergebnisse nicht erwarten.

Es gibt gute und schlechte Entwicklungen. Frau
Wieczorek-Zeul hat auf eine gute Entwicklung hinge-
wiesen: Die Wiederaufnahme der Erdölförderung ist
eine wichtige Voraussetzung für dauerhafte Stabilität in
der Region. Es gibt natürlich viele Gründe für Sorge.
Das betrifft den Status der umstrittenen Region Abyei
und eine Einigung über die umstrittenen Teile der
Grenze zwischen Südsudan und Sudan.

Nach wie vor ist die Lage des Südsudan nach innen
und außen äußerst fragil. Die wirtschaftliche Situation
bleibt unbefriedigend. Es gibt weiterhin humanitäre Not-
lagen. Es herrscht keine Sicherheit im Land. Regionale
Warlords treiben ihr Unwesen. Der Sicherheitssektor
muss von Grund auf aufgebaut werden. Der Prozess hat
begonnen; aber es bleibt viel zu tun.

Vor diesem komplexen Hintergrund kommt der Frie-
densmission UNMISS eine wichtige Rolle zu. Ich be-
grüße es, dass der Sicherheitsrat die Friedensmission um
weitere zwölf Monate verlängert hat. Wir sollten das
Gleiche tun.

Nach einem so zerstörerischen Konflikt können die
Wunden nicht so schnell verheilen. Wir haben den
Südsudan bisher begleitet, und wir sollten dies auch wei-
terhin tun. Die Verantwortung für den Aufbau dieses
jungen Staates trägt die Regierung in Juba. Wir wissen
aber auch: Ohne internationale Unterstützung wird die
Regierung es nicht schaffen. Die verantwortlich han-
delnden Personen an der Spitze des Südsudan haben
keine Erfahrung in effizienter Verwaltungsarbeit, keine
Erfahrung im politischen Interessensausgleich, keine Er-
fahrung in Haushaltsführung und keine Erfahrung in de-
mokratischer Kontrolle von Sicherheitsorganen. Die in-
ternationale Gemeinschaft und die Regierung in Juba
sollten sich deshalb weiter auf unsere Unterstützung ver-
lassen können.

Die bisherige Mandatsobergrenze für die Beteiligung
deutscher bewaffneter Streitkräfte liegt bei 50 Soldaten.
Daran wollen wir festhalten. Diese Grenze gibt uns auch
genügend Flexibilität.

Zurzeit sind wir mit rund 16 Offizieren dort. Wir ha-
ben zwei Schwerpunkte: Informationsgewinnung und
Aufbau der Sicherheitskräfte. Im UNMISS-Hauptquar-
tier stellen Soldaten der Bundeswehr den Leiter Nach-
richtengewinnung und Aufklärung, den Leiter Ausbil-
dung und den stellvertretenden Leiter der militärischen
Verbindungsorganisation – allesamt Positionen von zen-
traler Bedeutung für den Gesamterfolg der Mission.

Unsere Soldaten vor Ort sind an den wichtigen militä-
rischen Entscheidungen beteiligt, und das soll auch so
bleiben. Sie tragen dazu bei, dass allmählich leistungsfä-
hige staatliche Institutionen entstehen können und der
Prozess der Friedenskonsolidierung vorangeht. Unsere
Soldaten leisten im Auftrag der Vereinten Nationen und
im Interesse Deutschlands einen wichtigen Beitrag zum
Wohle des Südsudan. Einige – Herr Nouripour und an-
dere – haben beim vorigen Tagesordnungspunkt darauf
hingewiesen, dass die Stabilität im Herzen Afrikas in un-
serem Interesse liegt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)






Bundesminister Dr. Thomas de Maizière


(A) (C)



(D)(B)


Deswegen sagen wir Ja zu der weiteren Unterstüt-
zung. Herr Westerwelle und ich bitten das Parlament um
breite Zustimmung für diesen Einsatz. Unser Dank und
Respekt gilt unseren Soldaten, den Polizisten und allen,
die für UNMISS Dienst tun.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720129200

Das Wort hat nun Christine Buchholz für die Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Christine Buchholz (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720129300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bun-

desregierung behauptet, der Bundeswehreinsatz im
Südsudan schütze die Bevölkerung. Er zeige – ich zitiere
Ihre Antragsbegründung – eine „glaubhafte Perspektive
zur Verbesserung der Lebensbedingungen“ auf.


(Michael Brand [CDU/CSU]: Das ist ja die gleiche Rede wie eben! Redewechsel!)


Ich halte beides für falsch.

Herr Westerwelle, Sie sagen, UNMISS habe die Aus-
weitung des zwischenstaatlichen Konfliktes zwischen
Nord und Süd verhindert. Sie sollten lesen, was UN-
MISS selbst sagt: Wir haben kein Mandat, um Zivilisten
im Grenzkonflikt zwischen Nord- und Südsudan zu
schützen. Wer im Bundestag etwas anders suggeriert,
täuscht die Bevölkerung.


(Beifall bei der LINKEN – Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Sie täuschen!)


In Wirklichkeit geht es bei dem Bundeswehreinsatz
im Rahmen von UNMISS ausschließlich um die einsei-
tige Unterstützung des Südsudan, und das haben wir von
Anfang an kritisiert.


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Pfui!)


Mit dieser einseitigen Unterstützung haben Sie letztend-
lich die südsudanesische Regierung zu dem Angriff und
zur Besetzung der Ölfelder des Nordens im April dieses
Jahres ermutigt. Und ich frage: Was muss die südsudane-
sische Regierung noch tun, damit Sie die Politik der ein-
seitigen Unterstützung endlich aufgeben?


(Joachim Spatz [FDP]: Die Sudanesen selber haben das Mandat gewollt!)


Sie sagen, im Bundesstaat Jonglei sei es der südsuda-
nesischen Regierung mit Unterstützung von UNMISS
gelungen, „ein Versöhnungsabkommen zwischen den
ethnischen Gruppen … zu verhandeln“. Ich sage Ihnen:
Uns alle beunruhigen die Nachrichten über ethnisch auf-
geladene Konflikte im Südsudan. Aber das Versöh-
nungsabkommen, von dem Sie sprechen, wurde nie
nachhaltig umgesetzt. Ende September ist in Jonglei eine
neue bewaffnete Revolte der Murle ausgebrochen. Sie
ist die Reaktion auf das Vorgehen der Regierungstruppen
der SPLA gegen diese ethnische Minderheit. Die SPLA

– ich zitiere Human Rights Watch – tötet, vergewaltigt,
schlägt und foltert.


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Sie sind eine Schande für dieses Parlament!)


Die Situation in Jonglei zeigt nur eines: dass UNMISS
keinen Frieden im Südsudan implementieren kann.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie sprechen davon, dass die Einrichtung eines Früh-
warnsystems wichtig ist, damit die Bevölkerung recht-
zeitig vor Angriffen fliehen kann. Ja, ein Frühwarnsys-
tem ist wichtig; aber meines Erachtens braucht es dazu
keine bewaffneten Soldaten und keine Kapitel-VII-Mis-
sion. Ein Frühwarnsystem ist auch mit zivilen Mitteln zu
leisten. Hören Sie endlich auf, Ressourcen einseitig in
militärische Kapazitäten zu stecken.


(Beifall bei der LINKEN)


Was ist das überhaupt für ein Staat, den Sie mit Hilfe
von UNMISS aufbauen? Jüngst kam heraus: 75 hohe
Funktionsträger des neuen Staates Südsudan haben Gel-
der in Höhe von 4 Milliarden US-Dollar veruntreut –
4 Milliarden US-Dollar! Gleichzeitig ist mehr als die
Hälfte der Bevölkerung unterernährt. Und nun begrüßt
UNMISS in ihrem Jahresbericht ein Austeritätspro-
gramm der neuen Regierung, das massive Einsparungen
vorsieht. Das ist ein Armutszeugnis.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Inflation beträgt bei einigen Grundnahrungsmit-
teln 300 Prozent. Aufgrund der massiven Präsenz der
UNO kosten einfache Wohnhäuser in Juba inzwischen
um die 2 000 US-Dollar Monatsmiete. Das, meine Da-
men und Herren, schafft nicht die „glaubhafte Perspek-
tive zur Verbesserung der Lebensbedingungen“, von der
die Bundesregierung in ihrem Antrag spricht.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Wieder keine Antwort! Nur Genöle!)


Der Sudan braucht eine wirkliche wirtschaftliche und
soziale Perspektive. Lesen Sie unseren Entschließungs-
antrag aus dem letzten Jahr.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Um Gottes willen! – Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/ CSU]: Herr Präsident, so hören sich Täter an!)


Darin sind wichtige Antworten genannt. Ich sage Ihnen:
Die Bundeswehr hat im Südsudan nichts zu suchen,
nichts im Norden, nichts in Somalia, nichts in Mali und
auch sonst nirgendwo.

Vielen Dank, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der LINKEN – Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Sie wird Täterin! Sie macht sich zur Mittäterin! – Karin Strenz [CDU/CSU]: Ist sie schon längst! Ohne Hirn!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720129400

Das Wort hat nun Kerstin Müller für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.






(A) (C)



(D)(B)



Kerstin Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720129500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In

der Tat: Ob der am 9. Juli letzten Jahres aus der Taufe
gehobene neue Staat Südsudan ein lebensfähiger Staat
wird oder ob es am Ende nicht doch die Geburtsstunde
eines sogenannten gescheiterten Staates war, das wissen
wir heute nicht; das muss die Geschichte erst noch zei-
gen. Aber die Situation ist sehr fragil.

Liebe Frau Kollegin Buchholz, liebe Kollegen von
der Linken, gerade wenn man ein Scheitern verhindern
will, ist es von zentraler Bedeutung, dass die Friedens-
mission UNMISS im Lande ist. Sie ist übrigens auf aus-
drücklichen Wunsch der Südsudanesen und der Afrika-
nischen Union im Lande; die Nordsudanesen wollten auf
ihrer Seite keine Friedenstruppen. Das ist nicht am Sü-
den und nicht an der internationalen Gemeinschaft ge-
scheitert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD – Michael Brand [CDU/ CSU]: So ist es! Gott sei Dank sprechen Sie es aus!)


Ich habe hier ein schönes Zitat. Frau Buchholz, Sie
können nachher die Frage beantworten, von wem es
stammt.


(Michael Brand [CDU/CSU], an die Abg. Christine Buchholz [DIE LINKE] gewandt: Sie hören ja gar nicht zu! Zuhören, Frau Buchholz! Erst hetzen und dann nicht zuhören!)


Das Zitat lautet:

Was UNMISS betrifft, so wird behauptet, dass al-
lein die Präsenz der Soldatinnen und Soldaten … in
der Fläche zur Beruhigung der Gewaltkonflikte bei-
trage. … Dafür spricht in der Tat Einiges.

Das ist ein Zitat von Ihrem Kollegen Paul Schäfer. Es
stammt aus seinem letzten Reisebericht.


(Marina Schuster [FDP]: Ja! – Joachim Spatz [FDP]: Der hat Ahnung!)


Das hat auch die Leiterin der UNMISS, Frau Johnson,
erzählt; die Kollegin Wieczorek-Zeul hat es eben er-
wähnt. Die Kollegin Johnson hat von dem Konflikt in
Jonglei berichtet, der enorm eskalierte und bei dem der
Frieden zwischen Nord- und Südsudan wirklich auf
Messers Schneide stand. Davon hat heute auch der Chef
des DPKO gesprochen. Es ist ein Verdienst von UN-
MISS, dass dieser Konflikt zunächst beruhigt werden
konnte.

Auch hierzu schreibt der Kollege Schäfer – Hört!
Hört! –:

Damit

– dass UNMISS die Zivilbevölkerung rechtzeitig ge-
warnt hat und ihrem Auftrag, die Zivilbevölkerung zu
schützen, gerecht wurde –

wurden hunderte, wahrscheinlich sogar tausende
Menschenleben gerettet.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der FDP – Michael Brand [CDU/CSU]: Frau Buchholz geht es nicht um Menschenleben, sondern um Ideologie und Hetzerei!)


Sie sollten den Leuten zuhören, die im Lande waren
und deshalb über die Situation vor Ort berichten können.

Natürlich ist UNMISS kein Garant dafür, dass es im
Südsudan Frieden gibt, aber es ist eine Conditio sine qua
non, eine Bedingung dafür, dass das Land überhaupt
eine Chance hat, sich zu stabilisieren. Deshalb müssen
wir heute der Verlängerung dieses Mandats zustimmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP – Michael Brand [CDU/CSU]: Danke für die Differenzierung!)


Für mich steht fest, dass wir die historische Chance
haben, generell ein neues Kapitel in den Beziehungen zu
Afrika aufzuschlagen, es sozusagen einmal richtig zu
machen, und zwar zusammen mit unseren afrikanischen
Partnern. Ich hoffe, dass wir diese Chance nicht verspie-
len.

Ich will an dieser Stelle auch darauf hinweisen, dass
es zurzeit einige Entwicklungen gibt, die in die falsche
Richtung gehen. Wir haben das gemeinsam in zwei in-
terfraktionellen Anträgen sehr deutlich gemacht. Damit
meine ich vor allem die sogenannten Post-CPA Issues,
also noch offene Fragen aus dem alten Friedensvertrag,
etwa: Man hat sich jetzt zwar auf die Wiederaufnahme
von Öllieferungen geeinigt, aber es fehlt immer noch ein
umfassendes Wirtschaftsaufbauprogramm mit klaren so-
zialen Standards. Herr de Maizière, es ist keineswegs so,
dass die Wiederaufnahme der Öllieferungen eine Garan-
tie ist. Wir kennen viele Länder, in denen das eher Fluch
als Segen ist. Deshalb ist es fraglich, ob der Südsudan
tatsächlich davon profitieren kann.

Auch die Buffer Zone ist sehr wichtig. Es ist aber völ-
lig unklar, wer sie überwachen wird. In Bezug auf die
Entwaffnung der SPLM-Nord ist noch gar nichts pas-
siert, und es wird so lange nichts passieren, bis nicht et-
was in den strittigen Regionen Abyei, Nuba-Berge und
Blue Nile passiert ist.

Ich möchte die grassierende Korruption erwähnen;
auch das muss man hier zur Sprache bringen. In erster
Linie ist natürlich die südsudanesische Regierung dafür
verantwortlich, aber auch wir haben Fehler gemacht.
Man hat zugelassen, dass die Petrodollars ins Land ka-
men, ohne dass es irgendwelche Institutionen gab, die
das hätten kontrollieren können und müssen, ohne dass
es irgendwelche Banken gab. Das war zumindest fahr-
lässig.

Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Wir als Deut-
scher Bundestag könnten der UN 50 Soldaten der Bun-
deswehr – das ist die Höchstgrenze – zur Verfügung stel-
len. Es ist wichtig, dass wir diesen Beitrag leisten, das
heißt, dass wir diese Soldaten der UN wirklich zur Ver-
fügung zu stellen. Frau Johnson hat auch klargemacht:
UNMISS befindet sich erst am Anfang. Deutschland als





Kerstin Müller (Köln)



(A) (C)



(D)(B)


eine Nation, die die UN unterstützt, könnte und müsste
hier eigentlich noch mehr leisten. Ich hoffe, dass die
Bundesregierung das in Zukunft tut.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720129600

Letzter Redner in der heutigen Debatte ist Kollege

Philipp Mißfelder für die CDU/CSU-Fraktion.


Philipp Mißfelder (CDU):
Rede ID: ID1720129700

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kollegen! Frau Müller, ich bin Ihnen sehr
dankbar, dass Sie mit deutlichen Worten zumindest die
Würde dieser Debatte wiederhergestellt haben; denn das,
was wir vorhin erlebt haben, das kann man wirklich nur
als groben Unfug bezeichnen.


(Joachim Spatz [FDP]: Richtig! – Christine Buchholz [DIE LINKE]: Das ist eine ganz große Koalition!)


Die Ursachen des Konflikts komplett zu ignorieren,
Frau Buchholz, und dann die Mittel, die wir anwenden
können – natürlich können wir darüber diskutieren, ob
man vielleicht zu spät eingegriffen hat, ob man nicht
vielleicht mehr hätte tun können und ob das, was wir
jetzt machen, ausreicht –, als die Gründe für die dortige
Situation darzustellen, das halte ich nun wirklich für
falsch. Was Sie eben gemacht haben, war unredlich und
in der Sache nicht richtig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Beide Mandate, die wir gerade beraten, sind gute Bei-
spiele für unsere wertegeleitete Außenpolitik.


(Widerspruch bei der LINKEN)


UNMISS führt dazu, dass wir die Bewegungsfreiheit der
Helfer vor Ort gewährleisten können. Das ist ein ganz
vitaler, humanitärer Beitrag.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Das passt sehr gut zu den zivilen Maßnahmen, die wir
im Großen und Ganzen ergreifen. Ich habe vorhin in
meiner Rede zu dem anderen Mandat bereits zur politi-
schen Aufgabe und den daraus resultierenden Herausfor-
derungen ausgeführt: Damit der Südsudan nicht von An-
fang an zu einem Failed State wird, müssen wir politisch
mehr tun. Ich glaube, dass wir die Hoffnung nicht aufge-
ben sollten.

Es ist zum Beispiel eine gute Nachricht, dass das Par-
lament in Khartoum am 17. Oktober 2012 bei nur zwei
Gegenstimmen den Kooperationsvertrag beschlossen
hat. Frau Wieczorek-Zeul hat es ja gesagt: Nicht alles
geht so schnell, wie wir das haben wollen; aber es ist
doch trotzdem bemerkenswert, dass man es schafft, eine

Pufferzone einzurichten, und dass man es schafft, den
Streit über die Verteilung der Ölvorkommen beizulegen.
Damit hat man die Grundlagen für ein funktionierendes
Staatswesen gelegt. Die Ölförderung kann wieder begin-
nen. Damit kann wieder Geld ins Land kommen und et-
was Wohlstand entstehen. Damit kann überhaupt erst
wieder von einem funktionierenden wirtschaftlichen Ge-
füge die Rede sein. Das war in den letzten neun Monaten
überhaupt nicht der Fall, weil jegliche ökonomische
Grundlage weggebrochen ist, da kein Erdöl gefördert
werden konnte. Gerade die Beilegung dieses Streits ist
ein politisch wichtiges Signal, das wir mit den Möglich-
keiten, die wir haben, politisch unterstützen sollten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der LINKEN)


– Hier hat doch kein Redner behauptet, in keiner der bei-
den Debatten – das habe ich auch von keinem anderen
Redner jemals gehört, wenn wir hier über Mandate dis-
kutiert haben –, dass wir glauben, dass ein Konflikt ir-
gendwo auf der Welt militärisch gelöst wird. Konflikte
werden immer nur politisch gelöst. Manchmal ist es aber
notwendig, militärische Optionen nicht auszuschließen,
weil man sich überhaupt erst durch militärische Optio-
nen den für politische Lösungen notwendigen Spielraum
verschaffen kann. Hier sagt kein Redner, überhaupt nie-
mand, Militär sei eine Lösung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Widerspruch bei der LINKEN)


Aber Sie brauchen mitunter Militär, um Humanität
durchsetzen zu können.

Die Herausforderungen sind klar: Das Staatsgebiet ist
kaum erschlossen. Es mangelt überall an Infrastruktur.
Die Zentralregierung – auch Minister de Maizière hat es
gesagt – ist nicht in der Lage, die einfachsten administra-
tiven Aufgaben auszuführen.

Aufgrund der andauernden Konflikte konnten Fragen,
die die Grundfesten eines Staates betreffen, zum Beispiel
Fragen des Budgets, gar nicht erst angegangen werden.
Etwa 50 Prozent des offiziellen südsudanesischen Haus-
halts flossen im Jahr 2011 in den Militäretat und den Etat
der Polizei. Das heißt, dass sich ein Staat, der hinsicht-
lich der Infrastruktur eigentlich erst aufgebaut werden
müsste, zumindest vor dem Hintergrund unseres Staats-
verständnisses, in erster Linie um die Bewältigung von
Konflikten kümmert. Deshalb ist es notwendig, dass von
außen geholfen wird. Das tun wir mit diesem Mandat,
und deshalb halten wir dieses Mandat nach wie vor für
richtig. Wir betten es ein in unsere gesamtpolitische
Konzeption, um den Menschen dort die Hoffnung zu ge-
ben, dass dieser Staat kein Failed State wird, sondern
eine gute Zukunft hat.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich möchte für dieses Mandat werben. Das wird un-
sere Fraktion weiterhin tun.

Zum Abschluss möchte ich Ihnen, liebe Soldatinnen
und Soldaten – Sie sind stellvertretend hier, wurden aber





Philipp Mißfelder


(A) (C)



(D)(B)


noch gar nicht begrüßt, obwohl Sie zu so später Stunde
anwesend sind –, herzlich danken für die Aufgaben, die
Sie übernehmen, und für die Pflicht, die Sie für unser
Land tun.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das ist doch peinlich! – Gegenruf des Abg. Michael Brand [CDU/CSU]: Das ist schlimm, so ein Zuruf! Ätzend! Das ist eine Beleidigung von Bundeswehrsoldaten, was Sie tun, Herr Gehrcke! So ein Rotzlöffel!)


– Herr Gehrcke, Sie finden das vielleicht peinlich. Es
gab auch einmal Zeiten, da haben Sie NVA-Soldaten be-
grüßt. Das kann man alles über Sie nachlesen. – Vor die-
sem Hintergrund sage ich Ihnen, liebe Soldatinnen und
Soldaten: Ich finde es gut, dass Sie sich zu dieser Uhrzeit
anschauen, wie wir diese Frage beraten. Hier ist nicht al-
les Licht; bei diesen Diskussionen gibt es auch viel
Schatten. Ich finde es wichtig, dass Sie wissen, dass wir
mit großer Ernsthaftigkeit den politischen Rahmen für
Ihren Einsatz setzen, damit wir politische Lösungen fin-
den können;


(Zuruf von der LINKEN – Gegenruf des Abg. Michael Brand [CDU/CSU]: Schämen Sie sich da drüben!)


denn das, was Sie leisten, liebe Soldatinnen und Solda-
ten, ist von sehr großem Wert.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zurufe von der LINKEN)


– Jetzt beruhigen Sie sich einmal; denn ich möchte noch
eine persönliche Anmerkung im Namen meiner Fraktion
machen.

Ich möchte von dieser Stelle aus – ich glaube, im Na-
men aller –, dem lieben Ernst-Reinhard Beck, dem es
diese Woche gesundheitlich gar nicht gut ging, alles
Gute wünschen. Unsere Gedanken sind auch am heuti-
gen Abend bei ihm.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720129800

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/11037 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Nun folgen eine ganze Reihe von Abstimmungen,
von Entscheidungen ohne Debatte. Ich bitte Sie um Ihre
freundliche Aufmerksamkeit.

Tagesordnungspunkt 19:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Johannes Pflug, Dr. Rolf Mützenich, Dr. Hans-
Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Ute

Koczy, Dr. Frithjof Schmidt, Kerstin Müller

(Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Eine kohärente Gesamtstrategie für Pakistan –
Für eine aktive Einbindungsdiplomatie, Stär-
kung der demokratischen Kräfte und eine ver-
lässliche Entwicklungszusammenarbeit

– Drucksache 17/11033 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.1)

Es wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache
17/11033 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? –
Das ist der Fall. Dann haben wir die Überweisung so be-
schlossen.

Tagesordnungspunkt 26:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung des Siebten Buches So-
zialgesetzbuch

– Drucksache 17/10750 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss)


– Drucksache 17/11176 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Josip Juratovic

Auch hier ist vereinbart, die Reden zu Protokoll zu
geben. – Sie sind damit einverstanden.2)

Dann kommen wir zur Abstimmung. Der Ausschuss
für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/11176, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/10750 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf so zustimmen wollen, um das
Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig
angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Diejenigen, die zustimmen
wollen, bitte ich, sich zu erheben. – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist einstim-
mig angenommen.

1) Anlage 13
2) Anlage 14





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Tagesordnungspunkt 21:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Steffen-
Claudio Lemme, Dr. Marlies Volkmer, Bärbel
Bas, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD

Betroffenen Frauen nach dem Anti-D-Hilfe-
gesetz zu mehr Verfahrenssicherheit und
Transparenz verhelfen

– Drucksache 17/10645 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.


Karin Maag (CDU):
Rede ID: ID1720129900

Eines will ich gleich an den Anfang stellen: Im Ergeb-

nis teile ich das Ziel des Antrages, die Entschädigung
der betroffenen Frauen so gut wie möglich sicherzustel-
len. Ich bin mit den Antragstellern der Ansicht, dass die
Umsetzung in einigen Ländern sehr zu wünschen übrig
lässt. Allerdings ist das BMG mit den Ländern im Ge-
spräch, und ich will hier nicht diejenigen an den Pran-
ger stellen, die sich kümmern. Ausschließlich deshalb
können wir dem Antrag nicht folgen.

Ich fasse nochmals kurz zusammen: Bei dem Gesetz
über die Hilfe für durch Anti-D-Immunprophylaxe mit
dem Hepatitis-C-Virus infizierte Personen, kurz: Anti-D-
Hilfegesetz, geht es um die Hilfe für Frauen, die zur Im-
munprophylaxe zwischen dem 2. August 1978 und dem
14. März 1979 in der ehemaligen DDR geimpft wurden.
Die Impfung war damals bei bestimmten Gesundheitsri-
siken nach der Schwangerschaft vorgesehen. Sie diente
dazu, bei Rhesusfaktor-Unverträglichkeiten nach Ge-
burten Schäden bei den Kindern zu verhindern.

Innerhalb des genannten guten halben Jahres wurden
6 773 Frauen mit Anti-D-Immunglobulinen behandelt.
Weil ein Teil der Impfchargen im Institut für Blut-
spende- und Transfusionswesen in Halle schuldhaft mit
Hepatitis-C-Viren verseucht worden war, wurden rund
4 700 Personen, Stand heute, also die behandelten
Frauen, etliche Kinder und weitere Kontaktpersonen aus
deren familiärem Umfeld, kontaminiert. Nach dem ak-
tuellen Stand sind 2 615 Personen als Schadensfälle
nach dem Anti-D-Hilfegesetz anerkannt.

Den Opfern gehört auch heute unser Bedauern und
Mitgefühl. Und wir sollten dabei auch nicht vergessen,
dass diese Frauen letztlich zweimal geschädigt wurden:
Zum einen durch die kriminellen Machenschaften im In-
stitut in Halle. Arzt und Apotheker wurden damals auch
verurteilt. Zum anderen durch die Einordnung lediglich
als Impfschaden. Denn zu DDR-Zeiten durfte es schlicht
keinen Arzneimittelskandal geben. Also hat man die
Frauen wie bei Impfschäden entschädigt und ihnen da-
mit den Anspruch auf eine höhere Rente, eben nicht nur
nach den Sätzen des Bundesversorgungsgesetzes, ebenso
versagt wie die Ermöglichung einer Zahlung von
Schmerzensgeld. Denn mit der Einordnung als Impf-

schaden sind die Frauen nach der deutschen Einheit
auch in unser Rechtssystem übernommen worden.

Um die humanitäre und soziale Lage dieser infizier-
ten Frauen und Kinder zu verbessern, hat der Bundestag
im Jahr 2000 nach vielen Verhandlungen zwischen
Bund und Ländern ein eigenständiges Gesetz, eben das
Anti-D-Hilfegesetz, AntiDHG, beschlossen. Ein eigen-
ständiges Gesetz auch wegen der Parallelen zum Gesetz
über die Errichtung eines Hilfswerkes für behinderte
Kinder und dem HIV-Hilfegesetz.

Meine Fraktion hat bereits im März 2004 die Frage
nach der Rechtsqualität der Entschädigungszahlungen
gestellt. Die damalige Bundesregierung stellte aus-
drücklich und eindeutig klar, dass es sich bei den Rege-
lungen im Anti-D-Hilfegesetz nicht um einen Bestandteil
des sozialen Entschädigungsrechtes handelt, sondern
dass es sich um eine eigene Rechtsgrundlage handelt.
Zugunsten der Opfer, um die höhere Rente zu ermög-
lichen und um überhaupt Einmalzahlungen gewähren zu
können, ist damals aber ausdrücklich der Weg über
Schadenersatzleistungen und nicht über die Entschädi-
gung eingeschlagen worden.

Laufende Geldleistungen erhalten ab einem Grad der
Behinderung von 30 Prozent heute 906 Personen. An-
spruch auf medizinische Behandlung haben alle aner-
kannten Personen. 2 615 der im Raum stehenden Scha-
densfälle, rund zwei Drittel, sind anerkannt.

Übrigens ist es aufgrund dieser guten medizinischen
Versorgung, Gott sei Dank, in weniger Fällen als erwar-
tet zu Verschlimmerungen und Folgeerkrankungen ge-
kommen. Zudem wurde in den letzten Jahren die medika-
mentöse Therapie der chronischen Hepatitis C stetig
verbessert. Durch die Entwicklung und kassenärztliche
Zulassung, durch den Gemeinsamen Bundesausschuss,
der sogenannten Proteaseinhibitoren, Telepravir und
Boceprevir, zur Therapie der Hepatitis C stehen hochpo-
tente neue Medikamente mit dem „Schlüssel-Schloss-
Prinzip“ zur Behandlung zur Verfügung. So haben sich
die sogenannten Heilungsraten gemäß der vorgestellten
Studien auf der 43. Versorgungsmedizinischen Fortbil-
dungstagung 2012 für Versorgungsärzte der Länder für
erfolglos vorbehandelte Patienten, auf 30 Prozent, und
Betroffene mit einem Rückfall, auf 79 Prozent bis
83 Prozent, deutlich verbessert. Nach Aussage der Refe-
renten ist mit einer weiteren Verbesserung der Therapie-
möglichkeiten in den kommenden Jahren zu rechnen.

Zuständig für das Anti-D-Hilfegesetz ist federführend
das Bundesministerium für Gesundheit, BMG, und mit-
beratend für versorgungsmedizinische Fragen das Bun-
desministerium für Arbeit und Soziales, BMAS, die
Durchführung allerdings obliegt den Ländern. Das
Anti-D-Hilfegesetz wird von den Ländern Berlin, Bran-
denburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sach-
sen-Anhalt und Thüringen als Auftragsverwaltung im
Sinne von Art. 104 a Abs.3 GG ausgeführt. An den Kos-
ten sind auch die übrigen Länder nach einem Kosten-
schlüssel beteiligt. Zur Ausübung der Bundesaufsicht
lädt das BMG regelmäßig alle Akteure ein und stellt vor
allem auch die einheitliche Durchführung sicher.





Karin Maag


(A) (C)



(D)(B)


Mit dem Oppositionsantrag wird nun gefordert, dass
die Versorgungsmedizin-Verordnung geprüft und auf Ba-
sis neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse und Erfahrun-
gen konkretisiert wird. Die Folgeerkrankungen, die sich
im Rahmen dieser Behandlung ereignet haben, sind in
der Versorgungsmedizin-Verordnung zu prüfen und ge-
gebenenfalls anzupassen. Auch soll darauf hingewirkt
werden, dass der Austausch der betroffenen Bundes-
länder verbessert wird. Dem Ausschuss für Gesundheit
und dem Ausschuss für Arbeit und Soziales soll in sechs-
monatigen Abständen ein Bericht über die Evaluation
des Anti-D-Hilfegesetzes im Rahmen von Bund-Länder-
Konsultationen vorgelegt werden, um die Bedarfe zeit-
nah zu erfassen und auf sie einwirken zu können.

Im Ergebnis teile ich das Ziel des Antrages, die Ent-
schädigung der betroffenen Frauen so gut wie möglich
sicherzustellen. Ziel ist es, einen einheitlichen Verwal-
tungsvollzug unter sachgerechter Anwendung der Ver-
sorgungsmedizin-Verordnung zu erreichen. Dazu fand,
anders als im Antrag dargestellt, die letzte Bund-Länder-
Besprechung am 27. September 2012 im BMG unter Be-
teiligung des BMAS statt, im Rahmen derer offenbar der
Verwaltungsvollzug mit den Ländern ausführlich erör-
tert wurde.

Es wurde – so die Information – festgestellt, dass
extrahepatische Manifestationen seit 2001 gemäß der
Versorgungsmedizin-Verordnung zu berücksichtigen und
zwingend Bestandteil der Begutachtung sind. Grund-
sätzlich sind bei der versorgungsärztlichen Begutach-
tung die Leitlinien der Fachgesellschaften zu beachten,
hier S3-Leitlinie zur chronischen Hepatitis C. Diese ge-
ben den aktuellen evidenzbasierten wissenschaftlichen
Stand in dem jeweiligen Fachgebiet wieder, den die Gut-
achter zu berücksichtigen haben. Das von der Vielzahl
der Geschädigten benannte Problem der angeblich miss-
verständlichen Formulierung der Versorgungsmedizin-
Verordnung, die zu ihrer fehlerhaften Anwendung führt,
und zwar sowohl bei der Bewertung des histologischen
Leberbefundes als auch bei der Gesamtbewertung der
Hepatitis-C-Virusinfektion und ihrer Schädigungsfolgen
wurde, so wurde ich informiert, angesprochen. Bei dem
Treffen ist man daher zu dem Ergebnis gekommen, dass
nun im Verlauf der begonnenen grundsätzlichen Ge-
samtüberarbeitung der Versorgungsmedizin-Verordnung
auch die Begutachtungsgrundsätze zur chronischen He-
patitis durch eine Expertengruppe auf ihre weitere Gül-
tigkeit überprüft werden. Allerdings gilt ja bereits der
Grundsatz, dass bei der versorgungsärztlichen Begut-
achtung die Leitlinien der Fachgesellschaften zu beach-
ten sind. Ein Termin hierfür steht allerdings noch nicht
fest.

Ein Protokoll liegt zu der Besprechung noch nicht
vor. Ich gehe aber davon aus, dass wir auf einem guten
Weg sind. Uns allen ist es schließlich ein Anliegen, den
Frauen zu helfen.


Steffen-Claudio Lemme (SPD):
Rede ID: ID1720130000

„Nur eine Spritze!“, so der Titel der Dokumentation,

die sich mit dem größten Medizinskandal der DDR be-
fasst, ausgestrahlt im Oktober 2012 im RBB und MDR.

Mit großem medialen Aufsehen und begleitenden Veran-
staltungen ist der Eklat um die kontaminierten Antikör-
perpräparate im Rahmen einer Anti-D-Immunglobulin-
Behandlung in den Jahren 1978 und 1979 nun wieder
verstärkt in den Blick der Öffentlichkeit geraten. SPD
und Bündnis 90/Die Grünen haben schon vor mehr als
zehn Jahren für die Unterstützung und Entschädigung
der Betroffenen gesorgt.

Nur eine Spritze, die das Leben von den Betroffenen
und deren Familien radikal verändert hat – und das bis
heute. Lassen Sie mich noch einmal kurz die Geschichte
der Tragödie aufzeigen:

Zwischen dem 2. August 1978 und dem 14. März 1979
wurden circa 4 700 Frauen mit dem Hepatitis-C-Virus
infiziert. Die damals in der DDR vorgeschriebene Be-
handlung von Frauen mit negativem Rhesusfaktor sollte
bei Geburten eine Schädigung des Nachwuchses verhin-
dern. Doch für die betroffenen Frauen kam alles ganz
anders.

Der große Skandal rührt daher, dass die Infektionen
nicht etwa durch einen mangelnden Grad wissenschaft-
licher Kontrollierbarkeit der Präparate verursacht wur-
den, sondern dass die Verabreichungen mit dem Wissen
um die Folgen einer Hepatitis-C-Infektion – und damit
vorsätzlich – geschehen sind.

Wie gesagt, die gesundheitlichen und lebensweltli-
chen Folgen sind immens. Denn Hepatitis-C-Viren ver-
ursachen eine Form der Leberentzündung, die im
schlimmsten Fall einen chronischen Verlauf bis hin zum
Tod durch Leberversagen nehmen kann. Folglich müssen
die Betroffenen bis zum Ende ihres Lebens mit der Krank-
heit ausharren. Ein tiefer Einschnitt für die Frauen, de-
ren Familien und Lebenspläne! Für mich persönlich sind
die Auswirkungen nur schwer nachzuempfinden und
letztlich zu begreifen! Besonders belastend ist dabei bei-
spielsweise die stete Gefahr der Übertragung der Krank-
heit etwa auf den Partner, die Partnerin oder Familien-
angehörige. All jene Herausforderungen machen es
notwendig, dass wir den Betroffenen weiterhin zur Seite
stehen.

Eine Entschädigungsregelung hat die damalige Bun-
desregierung aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen mit
dem Anti-D-Hilfegesetz, AntiDHG, geschaffen, um die-
sen Frauen ein Mindestmaß an Unterstützung erfahren
zu lassen. Meine Fraktion hat sich nun erneut der Nöte
der Betroffenen angenommen. In unserem Antrag „Be-
troffenen Frauen nach dem Anti-D-Hilfegesetz zu mehr
Verfahrenssicherheit und Transparenz verhelfen“ wollen
wir mögliche nachgelagerte Probleme bei der Begut-
achtung der Betroffenen beseitigen und mehr Transpa-
renz schaffen. Im Folgenden möchte ich kurz darauf ein-
gehen.

Mehrfach wurde in der Öffentlichkeit die Uneinheit-
lichkeit der Anwendung des Anti-D-Hilfegesetzes in den
Ländern bezweifelt. Meine Fraktion hat in der Kleinen
Anfrage „Dokumentation des Anti-D-Hilfegesetzes und
vorangegangener Gesetze“ auf Drucksache 17/9071
von der Bundesregierung statistisches Material zur Be-
willigungspraxis abgefordert. Die Zahlen in der Antwort

Zu Protokoll gegebene Reden





Steffen-Claudio Lemme


(A) (C)



(D)(B)


der Bundesregierung auf Drucksache 17/9277 konnte
die Spekulationen jedoch nicht erhärten.

Um das Vertrauen der Betroffenen in Bund und Län-
dern zu stärken, muss in Zukunft für eine transparente
Dokumentation der Bewilligungspraxis Sorge getragen
werden. Daher fordern wir die Bundesregierung erneut
auf, weiterhin jeden Zweifel an einer einheitlichen An-
wendung des AntiDHG auszuräumen, den Austausch mit
den Bundesländern weiter zu verbessern und in Zukunft
die Zahlen der Betroffenenstatistik im Interesse größt-
möglicher Transparenz der Öffentlichkeit regelmäßig
zur Verfügung zu stellen.

Weiterhin wird der Vorwurf erhoben, dass aufgrund
der Fülle unterschiedlicher Schädigungen die Begut-
achtungen des Gesamtzustandes der Betroffenen unzu-
reichend erscheinen. Denn das gesamte Erkrankungs-
bild durch die und infolge der Hepatitis-C-Infektion
erstreckt sich sowohl auf die Leber selbst, manifestiert
sich aber auch außerhalb des Organs. Eine umfassende
Bewertung könne gegenwärtig so nicht erbracht werden.
In diesem Zusammenhang wurde die Aktualität der Ver-
sorgungsmedizin-Verordnung oder auch die Fachkom-
petenz der Gutachterinnen und Gutachter in Abrede ge-
stellt. Zur Sprache kam diese Kritik in Beratungen mit
Sachverständigen, den Betroffenen, der Sozialgerichts-
barkeit und Einzelexpertinnen und Experten im Vorfeld,
während und nach der Anhörung des Ausschusses für
Gesundheit vom 28. September 2011.

Daher erheben wir die Forderung nach dringender
Prüfung der Notwendigkeit einer Überarbeitung der
Versorgungsmedizin-Verordnung durch die medizini-
schen Sachverständigen des Bundesarbeitsministeriums.
Denn es ist zu vermuten, dass die jetzige Ausgestaltung
der Versorgungsmedizin-Verordnung Gefahren einer un-
zureichenden Berücksichtigung sogenannter extrahepa-
tischer Manifestationen sowie eines missverständlichen
Gebrauchs birgt. Der Ärztliche Sachverständigenbeirat
Versorgungsmedizin beim Bundesministerium für Arbeit
und Soziales, BMAS, muss daher zeitnah prüfen, ob und
wie die Versorgungsmedizin-Verordnung überarbeitet
und konkretisiert werden muss. Kernpunkt des Prüfauf-
trags sollte die Frage der Notwendigkeit einer zwingen-
den Berücksichtigung und expliziten Erwähnung extra-
hepatischer Manifestationen in der Verordnung sein.
Letztlich muss der Deutsche Bundestag zeitnah über die
Einschätzungen des Ärztlichen Sachverständigenbeirats
Versorgungsmedizin beim Bundesarbeitsministerium un-
terrichtet werden.

Die Begutachtung der Betroffenen setzt darüber hi-
naus eine besondere Fachkompetenz für Hepatitis-C-In-
fektionen sowie den Umgang mit der VersMedV voraus.
Dies kann nach einhelliger Meinung von Expertinnen
und Experten sachgerecht nur durch ausgewiesene
Fachärztinnen und Fachärzte für Leberkrankheiten, so-
genannten Hepatologen, geleistet werden. Nur von ih-
nen ist zu erwarten, dass sie die hinreichende Spezial-
kenntnis im Hinblick auf eine Begutachtung einer
Hepatitis-C-Infektion und ihrer Vielzahl von Folgeer-
krankungen haben. Um unzureichende Begutachtungen
möglichst zu vermeiden, müssen alle Gutachterinnen

und Gutachter durch das BMAS erneut auf die Beson-
derheiten der Begutachtung hingewiesen werden. Hier
ist auf die 2001 erfolgten Präzisierungen durch das da-
malige Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung
hinzuweisen, die den Stellenwert extrahepatischer Ma-
nifestationen unterstreichen.

Demnach lautet unsere Forderung, im Einvernehmen
mit den Ländern dafür zu sorgen, dass alle ärztlichen
Gutachterinnen und Gutachter nochmals gesondert mit
allen in der Vergangenheit erarbeiteten Spezifikationen
für eine Begutachtung und den gegebenenfalls novellier-
ten Kriterien einer Beurteilung von HCV-Infektionen
und ihrer Folgeerkrankungen hinreichend vertraut ge-
macht wurden.

Ein besonderes Augenmerk unseres Antrags liegt
auch auf der Transparenz und dem Berichtswesen der
Vergangenheit. Im Zuge dessen fordern wir, dem Aus-
schuss für Gesundheit und dem Ausschuss für Arbeit und
Soziales in einer Sechsmonatsfrist einen chronologi-
schen Bericht über die Evaluierung des Anti-D-Hilfege-
setzes im Rahmen der Bund-Länder-Konsultationen vor-
zulegen.

Es war und ist offenkundig erklärtes Ziel der Mehrheit
der Abgeordneten des Deutschen Bundestages sowie al-
ler Bundesregierungen seit Inkrafttreten des Anti-D-Hil-
fegesetzes, die betroffenen Frauen in ihrem nunmehr
über 30 Jahre währenden Leidenskampf zu unterstützen
und ihnen im Rahmen des Anti-D-Hilfegesetzes zu ihrem
Recht zu verhelfen. Mit den hier vorgestellten Maßnah-
men werden wir hier – hoffentlich erneut gemeinsam –
einen wichtigen Beitrag leisten.


Dr. Erwin Lotter (FDP):
Rede ID: ID1720130100

Zum wiederholten Male befasst sich der Bundestag

mit Einzelheiten der Umsetzung des Anti-D-Hilfegeset-
zes, diesmal auf der Basis eines SPD-Antrags. Dieser
ist, wie so oft bei den Sozialdemokraten, gut gemeint,
aber nicht gut gemacht, und unterliegt einer Reihe von
Missverständnissen, ohne die es diesen Antrag über-
haupt nicht hätte geben können.

Es ist zwischen den Parteien vollkommen unstreitig,
dass den 1978 und 1979 in der damaligen DDR vorsätz-
lich mit dem Hepatitis-C-Virus infizierten Frauen um-
fassende und transparente Hilfe zuteilwerden muss.
Demgemäß wurde das Anti-D-Hilfegesetz als eigenstän-
dige Entschädigungsregelung eingeführt, welche den
Betroffenen höhere Renten als im Sozialen Entschädi-
gungsrecht üblich zuweist.

Der SPD-Antrag ist offensichtlich aus einigen Aussa-
gen in der Sachverständigenanhörung vom September
2011 hervorgegangen, welche wiederum von der Frak-
tion Die Linke initiiert wurde; diese hatte eine voll-
ständige Beweislastumkehr hinsichtlich der Wahrschein-
lichkeit des ursächlichen Zusammenhangs zwischen
Schädigungsfolgen und der Hepatitis-C-Virusinfektion
gefordert. Dieser Vorschlag wird von der SPD nicht auf-
gegriffen. Die derzeit gültige, im Anti-D-Hilfegesetz
festgelegte Beweiserleichterung, nach der Behörden und
Sozialgerichte den Sachverhalt von Amts wegen aufzu-

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Erwin Lotter


(A) (C)



(D)(B)


klären haben, wird allgemein als ausreichend ange-
sehen. Der SPD-Antrag erwähnt selbst, dass die betrof-
fenen Frauen hinsichtlich Zielsetzung, Umfang und
Reichweite des Gesetzes mit der Situation generell zu-
frieden sind. Allerdings gebe es Zweifel an einer einheit-
lichen Anwendung des Gesetzes in den betroffenen Bun-
desländern. Diese sollen nach dem Willen der SPD
ausgeräumt werden.

Dabei übersieht der Antrag, dass es mit den Länder-
referentenbesprechungen zum Anti-D-Hilfegesetz be-
reits ein funktionierendes Instrument zur Kontrolle der
einheitlichen Anwendung gibt. Das Bundesgesundheits-
ministerium führt hierüber die Aufsicht und lädt regel-
mäßig zu Gesprächen mit den Ländern ein. Dabei wer-
den Erfahrungen ausgetauscht und evaluiert. Außerdem
wird die einheitliche Durchführung des Gesetzes sicher-
gestellt, indem Darstellungen zu möglicherweise unglei-
chen Behandlungsweisen in den Ländern immer wieder
aufgegriffen werden. In den letzten beiden Runden konn-
ten Anhaltspunkte für Versäumnisse und Bearbeitungs-
mängel nicht festgestellt werden.

Insoweit geht der SPD-Vorschlag, den Austausch mit
den Bundesländern zu verbessern, ins Leere, weil er re-
dundant ist. Ein Vorschlag, mit dem sich die Sozialde-
mokraten hervortun möchten, der aber die schon be-
währte Praxis ignoriert.

Des Weiteren unterstellt der Antrag, die Begutach-
tung der Leiden sei unzureichend. Dabei bezieht er sich
insbesondere auf extrahepatische Manifestationen, also
Schädigungen außerhalb der Leber, die auch nach dem
Ausheilen der Infektion weiter vorliegen können. Um
hier die Feststellung eines kausalen Zusammenhangs zu
verbessern, solle die Versorgungsmedizin-Verordnung
geändert werden. Auch dieser Vorschlag ist jedoch voll-
kommen unnötig. Diese Manifestationen sind bereits
jetzt in der aktuellen Version der Verordnung zusätzlich
zu bewerten. Die SPD-Forderung, die Verordnung zu
konkretisieren und extrahepatische Maßnahmen zwin-
gend zu berücksichtigen, übersieht eine simple medizini-
sche Tatsache: Zahlreiche Störungen wie zum Beispiel
eine Depression können verschiedene Ursachen haben;
die extrahepatische Manifestation einer Hepatitis-C-In-
fektion ist nur eine dieser Möglichkeiten. Pauschalie-
rungen sind hier fehl am Platze. Nur die individuelle
Einzelfallbegutachtung kann hier in medizinisch sinn-
voller Weise weiterhelfen.

Ohnehin erfolgt zurzeit eine Gesamtüberarbeitung
der Versorgungsmedizinischen Grundsätze. Eine Reihe
von Expertengruppen haben ihre Arbeit bereits aufge-
nommen. In diesem Rahmen werden auch die Versor-
gungsmedizinischen Grundsätze für chronische Hepati-
tiden auf ihre weitere Gültigkeit hin überprüft und
gegebenenfalls optimiert.

Auch hier also wieder das gleiche Phänomen: Der
Antrag missdeutet die Realität um des Effektes willen.

Lassen Sie mich an dieser Stelle noch unterstreichen,
dass Betroffene, die an der Kausalität der Begutachtung,
der Kausalität zwischen festgestellten Gesundheitsstö-
rungen und einer Gabe des kontaminierten Serums,

Zweifel haben, jederzeit die Möglichkeit haben, gegen
die Entscheidungen der Verwaltungsbehörde Rechtsmit-
tel einzulegen oder ein Verfahren vor den Sozialgerich-
ten anzustrengen.

Schließlich fordert die SPD, dass alle ärztlichen Gut-
achterinnen und Gutachter mit den Spezifikationen für
eine Begutachtung hinreichend vertraut gemacht wer-
den. Die Zweifel an der Kompetenz der Gutachter schei-
nen aus Klagen einzelner Geschädigter in der genann-
ten Anhörung über deren Auswahl hervorgegangen zu
sein. Natürlich hat sich die SPD diese Einzelmeinungen
gerne zu eigen gemacht. Denn dies passt ins Bild, das
die Sozialdemokraten in ihren Anträgen der letzten
Jahre von Ärzteschaft und medizinischen Gutachtern
zeichneten: wenn schon nicht potenziell korrupt und
dem Patientenwohl abgewandt, dann wenigstens inkom-
petent. Es besteht kein erkennbarer Anlass, daran zu
zweifeln, dass die in diesen Fällen angesprochenen Gut-
achter ausgewiesene Fachleute sind und über die not-
wendigen Spezialkenntnisse verfügen.

Als i-Tüpfelchen beantragt die SPD nun auch noch
chronologische Berichte in Sechsmonatsfristen und wei-
tere Unterrichtungen des Deutschen Bundestages über
die Überarbeitung der Versorgungsmedizin-Verordnung.
Letzteres mag noch angehen, aber die erste Forderung
macht wieder deutlich, dass das schönste Hobby der So-
zialdemokratie im gesundheitspolitischen Bereich die
Aufblähung der Bürokratie und der Ruf nach noch viel
mehr Dokumentationen ist und bleibt.

Zu Recht führt der Antrag aus, dass es erklärtes Ziel
der Mehrheit der Abgeordneten ist, die vom DDR-Un-
recht betroffenen Frauen in ihrem nunmehr über
30 Jahre währenden Leidenskampf zu unterstützen. Lei-
der ist der vorliegende Antrag bei der Begleitung dieses
Kampfes nicht zielführend, überflüssig und reine Spie-
gelfechterei. Die Liberalen werden ihn daher nicht un-
terstützen.


Dr. Martina Bunge (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720130200

Zunächst einmal möchte ich mich bei der SPD bedan-

ken, dass auch sie an diesem Thema dranbleibt und sich
für Verbesserungen bei der Entschädigungspraxis der
Frauen mit Hepatitis C aufgrund der Anti-D-Prophylaxe
einsetzt. Das Bemühen ist erkennbar und lobenswert,
und vielleicht ist der Antrag nur durch eine Art voraus-
eilende Selbstbeschränkung so blutarm, um ihn mehr-
heitsfähig zu machen. Sie sehen: Meine Hoffnung ist,
dass dieser Antrag ein vorweggenommener Kompromiss
sein soll. Stellt er allerdings die Forderungen der SPD in
Reinkultur dar, dann hätte ich deutlich mehr erhofft.

Mir schwebte eigentlich eine fraktionsübergreifende
Initiative vor, für deren Vorbereitung ich unter anderem
den wissenschaftlichen Dienst um eine Auskunft über die
Einflussnahme auf die Versorgungsmedizin-Verordnung
gebeten habe. Mir geht es um konkrete Verbesserungen
für diese Frauen. Dazu sollten sich alle Fraktionen auf
konkrete Schritte einigen, damit endlich etwas auf den
Weg kommt. Dafür ist es immer noch nicht zu spät. Und
vielleicht können wir gemeinsam mehr erreichen als
das, was uns nun als Antrag vorliegt.

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Martina Bunge


(A) (C)



(D)(B)


Vielleicht wäre aber auch eine Einigung zwischen den
Fraktionen ähnlich ausgefallen wie dieser Antrag. Ich
wäre enttäuscht gewesen, aber ich hätte es als Kompro-
miss mitgetragen, so wie meine Fraktion das Anliegen
dieses Antrages mitträgt und ihn trotz seiner Schwächen
wohlwollend betrachtet. Lassen Sie mich darlegen, wa-
rum ich von diesem Antrag enttäuscht bin.

Dieser Antrag bleibt sehr vage. Er bekundet zumin-
dest teilweise, dass die Probleme wahr- und ernst-
genommen werden. Aber im Grunde bleibt er dabei ste-
hen, die Bundesregierung aufzufordern, sich gegenüber
dem Beirat für die Versorgungsmedizin-Verordnung ein-
zusetzen, sich gegenüber den Ländern einzusetzen, Be-
richte vorzulegen etc.; er bleibt jegliche greifbare oder
gesetzliche Verbesserung für die betroffenen Frauen
schuldig. Dabei erinnern Sie zum Beispiel selbst in Ihrer
Feststellung daran, dass es längst einen Entschließungs-
antrag gab, der die Bundesregierung aufforderte, für die
einheitliche Umsetzung des Anti-D-Gesetzes in den Län-
dern zu sorgen. Hätte dies etwas genützt, bräuchten wir
den hier vorliegenden Antrag nicht. Dies zeigt doch,
dass solche Aufforderungen nicht ausreichen.

Die Linke fordert deutlich klarere und weitreichen-
dere Verbesserungen für die Betroffenen der Anti-D-
Prophylaxe:

Erstens. Die Anrechnung der Renten auf Sozialleis-
tungen muss unterbleiben. Hier geht es um Entschädi-
gungsleistungen. Warum sollte jemand mit Anspruch auf
Sozialleistungen geringer entschädigt werden als je-
mand ohne solche Ansprüche?

Zweitens. Die Forderung, die Gutachter zu schulen,
nimmt sich für mich etwas weltfremd aus. Die Sachver-
ständigen haben deutlich gemacht, dass die Beurteilung
der Folgeschäden allein durch entsprechende Spezialis-
ten erfolgen muss. Ich denke, eine Schulung macht aus
einem Allgemeinarzt noch keinen Hepatologen. Die
Linke fordert daher, dass die Begutachtung allein durch
Fachärzte, wie Hepatologen und eventuell Internisten,
vorgenommen wird.

Drittens. Es muss dringend eine Anerkennung der
Folgen der Therapien stattfinden. Während die Versor-
gungsmedizin-Verordnung lediglich und, wie wir alle
wissen, unzureichend auf die Folgen der Hepatitis ein-
geht, leiden die Frauen auch an den Folgen der Thera-
pien. Die negativen Folgen der Therapien sind aber
ebenso Folge der Anti-D-Prophylaxe wie die Hepatitis
selbst.

Viertens. Den Frauen, die 30 Jahre an den Folgen
dieser Anti-D-Prophylaxe physisch und psychisch gelit-
ten haben, sollte man die Möglichkeit zu Verschlechte-
rungsanträgen geben, aber die Leistungen bei Verbesse-
rungen der Erkrankung nicht niedriger festsetzen,
entsprechend § 62 Absatz 3 BVG. Den Frauen würde da-
mit endlich erspart, dauernd erneut ihre Ansprüche
nachweisen zu müssen.

Fünftens. Die Versorgungsmedizin-Verordnung muss
an die neuesten wissenschaftlichen Verhältnisse ange-
passt werden. Es liegt eine S3-Leitlinie zur Hepatitis C

vor. Dies hat Eingang in die Versorgungsmedizin-Ver-
ordnung zu finden. Das Bundesministerium für Arbeit
und Soziales kann zudem nach § 1 BVG eine Gesund-
heitsstörung als Folge einer Schädigung anerkennen,
wenn die Anerkennung nicht erfolgt, weil über die Ursa-
che des festgestellten Leidens in der medizinischen Wis-
senschaft Ungewissheit besteht. Meines Erachtens ist
das BMAS hier in der Pflicht, zu handeln.

Sechstens. Zuletzt muss ich auf die Forderung in un-
serem Gesetzentwurf zu sprechen kommen. Wir haben
diesen Entwurf nicht weiterverfolgt, weil klar ersichtlich
ist, dass er keine Mehrheiten im Parlament finden wird.
Trotzdem bleibt das Ziel unseres Gesetzentwurfs berech-
tigt. Diesen Frauen wurde großes Unrecht angetan; sie
wurden mit verseuchtem Blut behandelt. Letztlich sollten
sie für alle Symptome, die nicht nur wahrscheinlich,
sondern allein geeignet sind, durch eine Hepatitis C ent-
standen zu sein, eine Entschädigung erhalten. Die
Frauen sollten nur ihre Symptome nachweisen müssen,
und die zuständigen Stellen der Landesregierungen müs-
sen nachweisen, dass diese Symptome nicht durch eine
Hepatitis C entstanden sein können. Solange dies nicht
erfolgt, erhalten die Frauen entsprechend ihrer Schädi-
gungen ihre Rente. Wir erleben eine gnadenlose Verzö-
gerungstaktik seitens der zuständigen Ämter und Ge-
richte. Die Justiz und der Amtsschimmel der Länder
brauchen teilweise Jahrzehnte, um Entscheidungen zu
treffen. Die Frauen können das nicht beschleunigen –
die Landesregierungen sehr wohl. Warum soll die Zeit
gegen die geschädigten Frauen laufen? Einige Frauen
haben erst nach mehr als zehn Jahren Gerichtsverhand-
lungen ihre Ansprüche durchsetzen können. Dies muss
beendet werden.

Alles in allem hätte dieser Antrag das eher klägliche
Ergebnis eines Kompromisses sein können. Leider bleibt
er weit hinter dem zurück, was getan werden müsste. Ich
würde mich freuen, wenn durch eine fraktionsübergrei-
fende Initiative, die ich gerne anstoßen möchte, mehr
herauskäme.


Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720130300

Die Verseuchung von Blutprodukten mit Hepatitis-C-

Viren hat uns in diesem Hause bereits mehrfach beschäf-
tigt. Dies betraf nicht nur die Frauen, die in der DDR
zwischen 1978 und 1979 durch eine verunreinigte
Charge von Anti-D-Immunglobulinen infiziert wurden.
Es betraf auch jene an Hämophilie Erkrankten, die sich
in den 80er-Jahren mit Hepatitis C infizierten, weil sie
verunreinigte Blutprodukte erhalten hatten, obwohl den
staatlichen Behörden die Risiken bereits hinlänglich be-
kannt waren.

Für die Frauen aus der ehemaligen DDR gibt es mit
dem sogenannten Anti-D-Hilfegesetz immerhin eine
gesetzliche Entschädigungsregelung. Infizierte Frauen
erhalten eine Entschädigung als Einmalzahlung oder
monatliche Rente, wenn eine Folgeerkrankung der
HCV-Infektion mit einer Minderung der Erwerbsfähig-
keit von mindestens 10 Prozent bzw. 30 Prozent vorliegt.

So weit die gesetzliche Regelung.

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Harald Terpe


(A) (C)



(D)(B)


In der Praxis kommt es jedoch häufig zu Problemen.
Das wurde zuletzt in einer Anhörung des Gesundheits-
ausschusses im September des vergangenen Jahres deut-
lich. Dies betrifft vor allem die Frage, ob die gesund-
heitliche Schädigung in einem ursächlichen
Zusammenhang mit der Infektion steht, insbesondere
dann, wenn die Viruslast nach der Therapie unter der
Nachweisgrenze liegt.

Diese Ursächlichkeit nachzuweisen, obliegt derzeit
den betroffenen Frauen. Wir wissen heute, dass eine
Reihe unterschiedlicher Krankheitssymptome und Schä-
digungen durchaus auch – aber nicht nur – auf eine
Infektion mit Hepatitis C zurückzuführen sein kann.
Dazu zählen neben den Leberentzündungen mit Fibro-
sen auch Leberkrebs, Zuckerkrankheit, Lungen- und Ge-
lenkerkrankungen und neuropsychiatrische Erkrankun-
gen wie zum Beispiel Depressionen.

Der von der Linken im vergangenen Jahr vorgetra-
gene Vorschlag einer Beweislastumkehr war deshalb
aus meiner Sicht vor diesem Hintergrund nicht zielfüh-
rend. Er hat aber zumindest die Möglichkeit eröffnet,
das Thema im Gesundheitsausschuss vertieft zu behan-
deln.

In der Anhörung des Gesundheitsausschusses wurde
sehr klar, dass das Problem sehr komplex ist und den
Gutachterinnen und Gutachtern manchmal leider die
Empathie oder die Fachkenntnisse fehlen, sich sachge-
recht mit der Symptomatik der infizierten Patientinnen
zu beschäftigen.

Der vorliegende Antrag der SPD spiegelt diese
Komplexität wider. Er zeigt auch, dass es den einen das
Problem umfassend lösenden Ansatz nicht gibt und auch
nicht geben kann.

Von den Vorschlägen des vorliegenden Antrags
möchte ich dennoch einen näher beleuchten. Es wird
beantragt, eine Überarbeitung der Versorgungsmedizin-
Verordnung zu prüfen. Das kann man sicher noch deutli-
cher formulieren, aber im Kern ist das ein guter Vor-
schlag. Dazu gab es ja in der Anhörung schon Stellung-
nahmen, die eine Ergänzung dieser Verordnung
empfohlen haben. Konkret wurde beispielsweise von der
BAG-Selbsthilfe vorgetragen, unter anderem die soge-
nannten gutachterlichen Anhaltspunkte zu ändern und
sie stärker an die neuesten Behandlungsleitlinien der
medizin-wissenschaftlichen Fachgesellschaften anzu-
passen. Das wäre ein wichtiger Schritt, um die gutach-
terliche Praxis besser mit dem aktuellen Stand der medi-
zinischen Wissenschaft zu verknüpfen. Und es würde
darüber hinaus auch dazu beitragen, die gutachterliche
Praxis ein Stück weit zu vereinheitlichen.

Ich habe vor einigen Jahren in Mecklenburg-
Vorpommern als Arzt selbst im Rahmen einer ständigen
Arbeitsgruppe an der Begutachtung solcher Fälle mitge-
wirkt. Sowohl ich als auch die Kolleginnen und Kolle-
gen, die daran beteiligt waren, haben es sich bei diesen
Entscheidungen nicht einfach gemacht. Und wir haben
versucht, den Frauen auch in den Fällen gerecht zu wer-

den, wo nur eine eher unspezifische Symptomatik wie die
schon beschriebenen Depressionen oder Müdigkeits-
symptome vorgelegen hat.

Vor diesem Hintergrund unterstützen wir diesen
Antrag und sind gespannt auf die Beratungen im
Ausschuss.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720130400

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/10645 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, Sie sind
damit einverstanden. Dann haben wir die Überweisung
so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 28:

Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än-
derung des Neunten Buches Sozialgesetzbuch

– Drucksache 17/10146 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss)


– Drucksache 17/11184 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Maria Michalk

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu nehmen. –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.1)

Wir kommen damit zur Abstimmung. Der Ausschuss
für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/11184, den Gesetzent-
wurf des Bundesrates auf Drucksache 17/10146 in der
Ausschussfassung anzunehmen.

Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die
Linke vor, über den wir selbstverständlich zuerst abstim-
men. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag auf Druck-
sache 17/11226? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen des
Hauses gegen die Stimmen der Linken abgelehnt.

Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen
von CDU/CSU, FDP, Grünen gegen die Stimmen der
Linken bei Enthaltung der SPD angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist in dritter Beratung mit den gleichen Stimmen-
verhältnissen wie zuvor angenommen.

1) Anlage 15





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Tagesordnungspunkt 23:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ilja
Seifert, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Lebenssituation der durch Contergan geschä-
digten Menschen mit einem Dritten Conter-
ganstiftungsänderungsgesetz und weiteren
Maßnahmen spürbar verbessern

– Drucksache 17/11041 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.


Thomas Jarzombek (CDU):
Rede ID: ID1720130500

Die Lebenssituation contergangeschädigter Men-

schen hat sich in den letzten Jahren dramatisch verän-
dert. Die Opfer des Conterganskandals aus den 60er-
Jahren sind heute im Durchschnitt 50 Jahre alt. Sie ha-
ben heute ganz andere Bedarfe als noch vor 20 oder
30 Jahren. Dem müssen und dem wollen wir auch Rech-
nung tragen.

In der vergangenen Legislaturperiode ist es zu einem
grundsätzlichen Umdenken in der Politik gekommen,
was die Lebenssituation dieser Menschen anbetrifft. Das
ist eine positive Entwicklung im Sinne der Betroffenen.

Mit der zweiten Änderung des Conterganstiftungsge-
setzes 2008 war aber bereits klar, dass der Weg noch
lange nicht zu Ende ist. In einem gemeinsamen Antrag
haben CDU/CSU, SPD und FDP beschlossen, insbeson-
dere die akuten Bedarfe der Contergangeschädigten in
einer Längsschnittstudie wissenschaftlich untersuchen
zu lassen. Dieses Forschungsvorhaben war auch des-
halb so wichtig, weil wir sehen wollten, wie sich die
Erfordernisse dieser Männer und Frauen im Alltag ver-
ändert haben, wo spezielle Bedarfe sind, wo Versor-
gungsdefizite.

Die Zwischenergebnisse des Gerontologischen Insti-
tuts Heidelberg liegen uns seit Juli dieses Jahres vor. Sie
zeigen, wie dramatisch sich die Lebensqualität in Folge
von Spätschäden verschlechtert hat. Die Fehlbelastun-
gen des Bewegungsapparates, der Zähne, Gelenke,
Muskulatur haben dazu geführt, dass in vielen Fällen
die Ausübung des Berufes nur eingeschränkt oder gar
nicht mehr möglich ist. Und die Anzahl derer, die davon
betroffen ist, wächst zunehmend.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist der Assistenzbedarf
von Contergangeschädigten, der häufig von Familien-
angehörigen geleistet wird. Oft geht der Assistenz- und
Pflegebedarf mit zunehmendem Alter über die gesetzli-
chen Leistungen hinaus, und die Betroffenen und ihre
Familien müssen zuzahlen.

Das Ausmaß der Spät- und Folgeschäden der vorge-
burtlichen Schädigungen durch das Mittel Contergan
drängt also zum Handeln. Darüber sind sich alle Frak-
tionen einig.

Das Erste und Zweite Conterganstiftungsgesetz
konnte nur ein erster Schritt sein, der aber einige Ver-
besserungen gebracht hat. Ich erinnere gern an die
wichtigsten Punkte im Einzelnen: Die Conterganrenten
wurden zum 1. Juli 2008 verdoppelt, die Renten wurden
dynamisiert; deshalb gab es weitere Erhöhungen im Juli
2009, im Juli 2011 und auch im Juli 2012. Contergan-
renten werden nicht auf andere Sozialleistungen ange-
rechnet. Seit 2009 erhalten die Opfer jährliche Sonder-
zahlungen je nach Schweregrad ihrer Beeinträchtigung.
Die Ausschlussfrist zur Geltendmachung von Leistungen
wurde aufgehoben. Die Sach- und Personalkosten wer-
den seit 2008 vollständig aus dem Bundeshaushalt ge-
tragen, sodass das Stiftungsvermögen der Contergan-
stiftung den Opfern voll zugutekommen kann. Der
Stiftungszweck ist verändert worden, sodass ausschließ-
lich Projekte finanziert werden, die die Contergange-
schädigten unterstützen. Die Zusammensetzung des Stif-
tungsrates wurde verändert. Zwei Posten im Stiftungsrat
werden von Vertretern aus Betroffenenverbänden be-
setzt. 2011 wurden Gleichgewichtsstörungen neu in die
medizinische Punktetabelle aufgenommen. Die Fraktio-
nen haben Parkerleichterungen beschlossen. Die Frak-
tion Die Linke hat in ihrem heutigen Antrag die histori-
sche Entwicklung des Conterganskandals sowie die
Lebenssituation der Opfer korrekt dargestellt, aber die
Forderungen sind aus unserer Sicht nicht zielführend.
Die Linksfraktion weckt hier Hoffnungen bei den Betrof-
fenen, die die Wirklichkeit nicht treffen. Das halten wir
nicht für seriös.

Wir wollen eine gemeinsame Lösung finden, die auf
einem Beschluss über möglichst alle Fraktionen hinweg
basiert. Die breite Einigung in der letzten Legislaturpe-
riode war ein gutes Zeichen, und wir werden alles daran
setzen, bei den jetzt notwendigen Beratungen wieder mit
einer starken Stimme zu sprechen.

Deshalb werden wir als CDU/CSU-Bundestagsfrak-
tion dem heutigen Antrag der Linksfraktion nicht zustim-
men.

Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Studie werden
zwar endgültig Ende dieses Jahres vorliegen, aber die
vorliegenden Handlungsempfehlungen bestätigen uns
jetzt schon, dass die Lebensqualität infolge der Schädi-
gung durch Contergan mit zunehmendem Alter abnimmt
und die Assistenzbedarfe immer größer werden. Die Er-
gebnisse haben insbesondere gezeigt, dass die zusätzli-
chen finanziellen Ausgaben für medizinische und thera-
peutische Versorgung für die Betroffenen belastend sind.

Hier sehen wir Nachholbedarf, und wir freuen uns,
dass die Bundesregierung bereits angekündigt hat, uns
zu unterstützen.

Deshalb müssen in einem ersten Schritt Ergänzungen
im Gesundheitsbereich kommen. Es ist ein großes Ärger-
nis, dass bestehende Verordnungsmöglichkeiten von
Heil- und Hilfsmitteln nicht im Sinne der Contergange-





Thomas Jarzombek


(A) (C)



(D)(B)


schädigten ausgeschöpft werden. Sowohl die Con-
terganstiftung als auch die Ministerien drängen seit lan-
gem darauf, den Heilmittelkatalog so zu ändern, dass
bestimmte Rehabilitationsmaßnahmen durch die gesetz-
lichen Krankenkassen abgedeckt sind. Die Ergebnisse
können uns nicht zufriedenstellen.

In einem zweiten Schritt wollen wir als Koalition uns
mit den anderen Fraktionen auf einen gemeinsamen Weg
verständigen, weitere Schritte zur Verbesserung der Le-
benssituation der Geschädigten vorzunehmen.

Ich will aber betonen, dass die Betroffenen uns in vie-
len Gesprächen sehr deutlich gemacht haben, dass die
Zeit drängt; deshalb müssen wir jetzt schnell, zielgerich-
tet und sachgerecht helfen. Es ist politischer Konsens,
eine Änderung noch in dieser Legislaturperiode durch-
zusetzen.

Die zuständigen Ministerien stehen bereits im intensi-
ven Kontakt, und wir werden als Fraktionen diese Arbeit
intensiv unterstützen und weiter forcieren. Es muss eine
schnelle und sachgerechte Lösung gefunden werden.
Dabei gibt es verschiedene Modelle, die uns die Mög-
lichkeit geben, unbürokratisch zu helfen. Das wird jetzt
geprüft.

Mit den Betroffenen selbst und den Verbänden stehen
wir als Parlamentarier in engem Kontakt. Insbesondere
sind hier auch meine Kollegin Maria Michalk, die Be-
hindertenbeauftragte unserer Fraktion, sowie Hubert
Hüppe, der Beauftragte der Bundesregierung für die Be-
lange behinderter Menschen, sehr engagiert. Viele von
ihnen haben bereits die Gelegenheit genutzt, im Rahmen
der Ausschusssitzungen, aber auch außerhalb mit uns zu
sprechen und uns auf ihre sich schnell verändernde Si-
tuation aufmerksam zu machen. Das ist wichtig, um zu
einem positiven Ergebnis in den Beratungen zu kommen.
Ich bin optimistisch; dass uns das im Sinne der Betroffe-
nen gelingt.


Marlene Rupprecht (SPD):
Rede ID: ID1720130600

Ende der 50er-Jahre bis Anfang der 60er-Jahre kamen

weltweit über 10 000 Kinder mit zum Teil schwersten
Fehlbildungen der äußeren Gliedmaßen sowie Schädi-
gungen der inneren Organe zur Welt. Ursache war die
Einnahme eines thalidomidhaltigen Medikaments – ein
Schlafmittel, in Deutschland unter dem Namen Conter-
gan bekannt – durch schwangere Frauen. Heute leben in
Deutschland noch etwa 2 700 Menschen mit Contergan-
schädigungen.

Ende 1961 erfolgte der Verkaufsstopp des Arzneimittels
in Deutschland. Die Pharmafirma Grünenthal GmbH
wurde von vielen Eltern betroffener Kinder verklagt.
1971 zahlte das Unternehmen im Rahmen eines Ver-
gleichs eine Entschädigungssumme von 100 Millionen
D-Mark in den deutschen Conterganfonds ein. Mit die-
sem Vergleich wurde die Haftungsverpflichtung der
Firma Grünenthal GmbH abschließend geklärt. Für die
Opfer wurde im Oktober 1972 die Stiftung „Hilfswerk
für behinderte Kinder“ als öffentlich-rechtliche Stiftung
gegründet, die 2005 mit dem Conterganstiftungsgesetz
ihren heutigen Namen erhielt.

Mit Inkrafttreten des Gesetzes über die Gründung der
Stiftung 1972 übernahm die Bundesrepublik Deutsch-
land die finanzielle Gesamtverantwortung für die Con-
terganrenten in der Bundesrepublik Deutschland.

Die contergangeschädigten Menschen haben sich in
bewundernswerter Weise ihren Platz im Berufs- und Pri-
vatleben mit großem eigenen Engagement und Selbst-
bewusstsein erkämpft. Ihrer Haltung und ihrer Lebens-
leistung gebühren unsere hohe Anerkennung und unser
größter Respekt.

Sie haben sehr unspektakulär und von der Öffentlich-
keit relativ unbemerkt ihr Leben gemeistert. Die über-
wiegende Mehrheit der Geschädigten war und ist trotz
der Behinderung erwerbstätig.

Der Öffentlichkeit ist nicht wirklich bewusst, wie
schwer ihr tägliches Leben ist und zunehmend wird.
Schmerzhafte Spät- und Folgeschäden schränken die
Lebensqualität der Betroffenen erheblich ein. Jahrzehn-
telange Fehlbelastungen von Wirbelsäule, Gelenken und
Muskulatur bringen diese Spät- und Folgeschäden mit
sich. Die Lebenssituation der Betroffenen ist heute, nach
50 Jahren, zunehmend durch diese sehr schmerzhaften
Auswirkungen ihrer Behinderung geprägt; ihre Lebens-
qualität ist zusätzlich erheblich eingeschränkt. Oft drohen
Arbeitsunfähigkeit und Frühverrentung. Das belastet
die Menschen, die sich unter größten Mühen jahrzehnte-
lang Unabhängigkeit erkämpft und behauptet haben,
sehr.

Für diese neuen Herausforderungen mussten Lösun-
gen gefunden werden. In der vergangenen 16. Legisla-
turperiode haben wir fraktionsübergreifend bereits viel
erreicht. Der Bundestag fasste drei Beschlüsse zur Ver-
besserung der Lebenssituation von Menschen mit Con-
terganschädigungen:

Mit dem Ersten Gesetz zur Änderung des Contergan-
stiftungsgesetzes haben wir zum 1. Juli 2008 die Conter-
ganrenten verdoppelt. Der Höchstsatz lag damit 2008
bei 1 090 Euro statt wie vorher bei 545 Euro. Außerdem
haben wir geregelt, dass die Conterganrenten nicht auf
andere Zahlungen, wie zum Beispiel Erwerbsminde-
rungsrenten, SGB-II-Zahlungen oder Sozialgeld, ange-
rechnet werden.

Seit Inkrafttreten des Zweiten Gesetzes zur Änderung
des Conterganstiftungsgesetzes am 30. Juni 2009 wer-
den die Conterganrenten zudem automatisch an die ge-
setzlichen Renten angepasst. Dank dieser Dynamisie-
rung liegt die Höchstrente derzeit bei 1 152 Euro. Die
monatliche Durchschnittsrente beträgt 982 Euro.

Wir haben die Ausschlussfrist, das heißt die Frist, zu
der sich Betroffene spätestens bei der Conterganstiftung
melden müssen, um Ansprüche geltend zu machen, ab-
geschafft und damit eine zentrale Forderung der Betrof-
fenenverbände erfüllt.

Mit dem Gesetz wurde der Weg freigemacht für die
Auszahlung weiterer 100 Millionen Euro über 25 Jahre

(50 Millionen Euro freiwillig zur Verfügung gestellte Mittel der Firma Grünenthal und 50 Millionen Euro aus dem Kapitalstock der Conterganstiftung)


Zu Protokoll gegebene Reden





Marlene Rupprecht (Tuchenbach)



(A) (C)



(D)(B)


Menschen mit Conterganschädigungen seither, gestaf-
felt nach Schwere der Behinderung, zusätzlich zu den
monatlichen Conterganrenten jährliche Sonderzahlun-
gen. Durchschnittlich betragen diese Sonderzahlungen
derzeit 2 206 Euro.

Der Stiftungszweck der Conterganstiftung wurde da-
hin gehend geändert, dass nur noch Menschen mit Con-
terganschädigungen gefördert werden statt wie bisher
auch Menschen mit anderen Behinderungen. Außerdem
wurden die Strukturen der Stiftung gestrafft.

Viele Forderungen unseres fraktionsübergreifenden
Antrags „Angemessene und zukunftsorientierte Unterstüt-
zung der Contergan-Geschädigten sicherstellen“ vom
3. Dezember 2008 wurden im Zweiten Änderungsgesetz
aufgenommen. Darüber hinaus hatten wir erforderliche
Maßnahmen in Bezug auf Folge- und Spätschäden, Er-
leichterungen bei der Gewährung von Leistungen, die
Sicherstellung qualifizierten ärztlichen und anderen
Fachpersonals sowie ein geeignetes Beratungs- und In-
formationsangebot gefordert. Eine zentrale Forderung
unseres Antrags war, einen Forschungsauftrag in Form
einer partizipativ angelegten Längsschnittstudie zur
Lebenssituation von Menschen mit Conterganschädi-
gungen im Hinblick auf Spät- und Folgeschäden zu ver-
geben.

Mit der Erstellung dieser Studie wurde das Institut für
Gerontologie der Universität Heidelberg beauftragt.

Am 27. Juni 2012 wurden das Zwischenergebnis und
daraus folgend die Ableitung erster Handlungsempfeh-
lungen der Studie mit dem Titel „Wiederholt durchzufüh-
rende Befragungen zu Problemen, speziellen Bedarfen
und Versorgungsdefiziten“ im Familienausschuss vorge-
stellt.

Der Zwischenbericht zeigt deutlich Handlungsbedarf
und gibt bereits erste Empfehlungen. So sind die Folge-
schäden wohl noch gravierender als bisher vermutet.
Auch bei der medizinischen Versorgung muss nachge-
bessert werden. Wir warten nun auf die Vorlage des Ab-
schlussberichts und erörtern dann in einer öffentlichen
Anhörung mit Betroffenen, was wir tun können.

Nach Vorlage des Abschlussberichts der Studie – voraus-
sichtlich Ende dieses Jahres – werden wir eine öffent-
liche Anhörung durchführen, zu der wir alle Verbände
und Betroffene einladen werden. Inhalt wird der Umset-
zungsstand der beiden Änderungsgesetze zum Conter-
ganstiftungsgesetz und des Antrags sowie der Hand-
lungsempfehlungen der Studie sein. Im Anschluss
werden wir die Anhörung auswerten und Schlussfolge-
rungen für das parlamentarische Handeln ziehen.

Dieses Vorgehen war im Familienausschuss so be-
sprochen und gutgeheißen worden. Es ist sehr schade,
dass die Fraktion der Linken mit dem vorliegenden An-
trag unser gemeinsames, fraktionsübergreifendes Vor-
gehen aufkündigt und die Arbeit mit den zum Teil völlig
unrealistischen Forderungen unnötig erschwert.

Weitere Verbesserungen für Menschen mit Conter-
ganschädigungen zu erreichen, ist unser aller Ziel. Die-
ses Thema ist zur parteipolitischen Profilierung gänz-

lich ungeeignet. Die große Mehrheit des Deutschen
Bundestages wird sich davon nicht beirren lassen, an
dem vereinbarten Vorgehen festhalten und mit aller ge-
botenen Sorgfalt und Gründlichkeit an weiteren Verbes-
serungen für die Lebenssituation der betroffenen Men-
schen arbeiten und diese zügig – noch in dieser
Legislaturperiode – umsetzen.


Nicole Bracht-Bendt (FDP):
Rede ID: ID1720130700

Die Politik der letzten Jahrzehnte im Bereich Conter-

gan ist von Versäumnissen geprägt. Die Verärgerung
und der verständliche Frust bei den Betroffenen über die
Politik sind enorm. Trotzdem sollten wir auch einen
Moment innehalten und das seit 2008 im Sinne der
Conterganopfer – mit der überwiegenden Mehrheit des
Hauses – Erreichte betrachten. Diese im Kern von CDU/
CSU, SPD und FDP getragenen Entscheidungen waren
bereits ein großer Schritt, die Lebenssituation der Be-
troffenen zu verbessern.

Dabei ist sich die FDP stets bewusst, dass alle Leis-
tungen den enormen Schaden für die Gesundheit sowie
die seelische Belastung der Betroffenen nicht ausglei-
chen können.

Am 22. Januar 2009 hat der Deutsche Bundestag
einem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD
und der FDP zur Sicherstellung einer angemessenen
und zukunftsorientierten Unterstützung der contergan-

(Bundestagsdrucksache 16/11223)

diesen gemeinsam mit der damaligen Großen Koalition
beschlossenen Antrag hinaus.

Die FDP wollte sowohl die Dynamisierung der
Conterganrenten als auch die Streichung des Fristaus-
schlusses. Beides wurde mit der Verabschiedung des
Zweiten Gesetzes zur Änderung des Conterganstiftungs-
gesetzes umgesetzt.

Anders als der Antrag der Linken suggeriert, war die
Lebenssituation der Contergangeschädigten den
Antragstellern aus CDU/CSU, SPD und FDP sehr wohl
bekannt, was zu den deutlichen Verbesserungen für die
Betroffenen – verglichen mit der Situation vor dem
1. Juli 2008 – führte. Um die Lebenssituation der
Contergangeschädigten in finanzieller Hinsicht zu ver-
bessern, wurden die Conterganrenten zum 1. Juli 2008
verdoppelt. Zusätzlich zu den Renten aus der Contergan-
stiftung stehen den Contergangeschädigten die Ansprü-
che auf Leistungen aus den Sozialversicherungen wie
Kranken-, Renten- oder Pflegeversicherung bzw. die
Eingliederungshilfe nach dem Zwölften Buch Sozial-
gesetzbuch, SGB XII, anrechnungsfrei zu. Außerdem
wird die von der Grünenthal GmbH eingebrachte
Spende von 50 Millionen Euro in die Conterganstiftung
zusammen mit 50 Millionen, die aus der Kapitalisierung
des Stiftungsvermögens stammen werden, genutzt, um
eine jährliche Sonderzahlung für den besonderen Bedarf
der contergangeschädigten Personen auszuschütten.

Vor der Verdoppelung der Conterganrenten zum
1. Juli 2008 erfolgte die letzte Rentenerhöhung für Con-
terganopfer zum 1. Juli 2004. Diese Zeiträume waren

Zu Protokoll gegebene Reden





Nicole Bracht-Bendt


(A) (C)



(D)(B)


unbefriedigend, da die Inflation die Rentenerhöhung
aushöhlte. Den Dynamisierungsfaktor der Altersbezüge
auf die Conterganrenten zu übertragen, war ein nahelie-
gender und unbürokratischer Weg der Dynamisierung
und der damit einhergehenden Rentenerhöhung.

Die FDP trat gleichzeitig dafür ein, die Rentenhöhe
in geeigneten Zeiträumen grundlegend zu überprüfen,
da mit fortschreitendem Alter der Contergangeschädig-
ten auch der Hilfebedarf weiter zunimmt. Als Zeitraum
für eine solche regelmäßige Überprüfung hatten wir fünf
Jahre angeregt, also bis 2013.

Die FDP steht zu diesem Wort und tritt weiterhin für
eine solche grundlegende Neujustierung der Rente noch
vor dem Ende der laufenden Legislaturperiode ein.

Um die Hilfen für die Betroffenen möglichst pass-
genau zu entwickeln, wurde vom zuständigen Familien-
ministerium die Erarbeitung einer Studie des Instituts
für Gerontologie der Universität Heidelberg in Auftrag
gegeben. Die Studie widmet sich wissenschaftlich den
speziellen Bedarfen sowie den Versorgungsdefiziten
contergangeschädigter Menschen. Eine Studie, deren
Erstellung von der Linken übrigens abgelehnt wurde.

Inzwischen liegen erste Zwischenergebnisse vor, die
auch bereits von Professor Kruse am 27. Juni 2012 im
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
des Deutschen Bundestages vorgestellt wurden. Mehr-
mals ist die Fraktion Die Linke drauf hingewiesen
worden, dass dieser Bericht des Instituts für Gerontolo-
gie der Universität Heidelberg ein zusammenfassender
Bericht über die ersten Untersuchungsergebnisse und
die daraus erarbeiteten ersten Handlungsempfehlungen
war. Der Zwischenbericht hat daher vorläufigen
Charakter. Der endgültige Abschlussbericht wird zum
Jahresende 2012 vorliegen. Die Bundesregierung prüft
zurzeit die Empfehlungen und wird nach der Vorlage des
Endberichts entscheiden, welche konkreten Maßnahmen
zu ergreifen sind.

Gemeinsam mit CDU/CSU und SPD haben die Libe-
ralen Anfang 2009 in dem bereits mehrfach erwähnten
Antrag formuliert: „Die Contergangeschädigten leiden
heute an schmerzhaften Spätfolgen, die durch jahre-
lange Fehlbelastung von Wirbelsäule, Gelenken,
Muskulatur, aber auch durch die Überbeanspruchung
der Zähne entstanden sind. Die körperlichen Beein-
trächtigungen und Schmerzzustände haben darüber
hinaus erhebliche negative psychische Belastungen zur
Folge. Bei Berufstätigen führt das häufig zur Früh-
verrentung mit erheblichen Einbußen für die Altersver-
sorgung und die gesellschaftliche Teilhabe. Erschwe-
rend für die persönliche Situation der Conterganopfer
kommt hinzu, dass mit ihrem Älterwerden auch ihre
Familienangehörigen älter werden, auf deren Hilfe und
Unterstützung sie angewiesen sind. Mit zunehmendem
Alter der Betroffenen sind sie daher immer stärker auf
außerhäusliche Hilfe angewiesen.“

Diese Situation ist weiterhin gegeben. Ich, aber auch
die gesamte FDP sehen die Politik in der Verantwortung
und wollen weitere Hilfestellungen für die Betroffenen
noch vor Abschluss dieser Legislatur erreichen.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720130800

Täterschutz statt Opferunterstützung – das ist die

Bilanz von 55 Jahren Conterganskandal und 40 Jahren
Conterganstiftung. Schuldig ist nicht nur die Firma
Grünenthal und deren Besitzer, die Familie Wirtz, son-
dern auch die Politik und die bundesdeutsche Justiz. Ein
schwerwiegender Vorwurf? Ich meine ja und möchte ihn
– auch im Namen vieler contergangeschädigter Men-
schen und ihrer Angehöriger – hier bekräftigen.

Was hat die Herstellerin des Schlafmittels Contergan,
die Firma Grünenthal GmbH, und deren Eigentümer, die
Milliardärsfamilie Wirtz, nach dem Conterganskandal,
der Zehntausende Opfer im In- und Ausland forderte,
getan? Sie hat – mithilfe von Politik und Justiz – mit
Druck auf die Eltern der contergangeschädigten Kinder
alles getan, um einer gerechten Verurteilung zu entge-
hen. Das Ergebnis: Vor 40 Jahren, am 31. Oktober 1972,
nahm die Conterganstiftung – sie hieß bis 19. Oktober
2005 Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder“ – ihre
Tätigkeit auf. Nachdem die Firma Grünenthal
100 Millionen D-Mark, rund 51 Millionen Euro, an die
Conterganopfer zahlte, welche in die Stiftung überführt
wurden, erließ der deutsche Staat faktisch ein Enteig-

(siehe § 23 Abs. 1 des Gesetzes über die Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder“)

enteignete er nicht die Täter – Grünenthal –, sondern
die Opfer. Sämtliche Ansprüche der Contergankinder
gegen die Schädigungsfirma Grünenthal, ihre Eigentü-
mer und Angestellten wurden per Bundesgesetz zum Er-
löschen gebracht. Seither liegt die finanzielle Gesamtver-
antwortung für die Contergangeschädigten bei der
Bundesrepublik Deutschland.

Und in den nachfolgenden 40 Jahren? Eine Entschul-
digung bei den Opfern und ihren Angehörigen steht bis
heute aus. Die Rede vom Vorsitzenden des Grünenthal-
Konzerns, Dr. Harald F. Stock, anlässlich der Einwei-
hung des Contergandenkmals am 31. August 2012 in
Stolberg, in der er sagte: „Im Namen Grünenthals mit
seinen Gesellschafterinnen und Gesellschaftern und allen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern möchte ich die Gele-
genheit wahrnehmen, heute anlässlich dieser Stunde des
Gedenkens unser großes Bedauern über die Folgen von
Contergan und unser tiefes Mitgefühl für die Betroffe-
nen, ihre Mütter und ihre Familien zum Ausdruck zu
bringen. Wir sehen sowohl die körperlichen Beschwer-
nisse als auch die emotionale Belastung, die die Betrof-
fenen selbst, ihre Familien und besonders ihre Mütter
aufgrund von Contergan erleiden mussten und auch
heute täglich ertragen … Darüber hinaus bitten wir um
Entschuldigung, dass wir fast 50 Jahre lang nicht den
Weg zu Ihnen von Mensch zu Mensch gefunden haben.
Stattdessen haben wir geschwiegen, und das tut uns sehr
leid“, war keine Entschuldigung in der Sache, zumal
Grünenthal nicht nur geschwiegen hat.“

Der Druck auf ihre Opfer ging weiter. Hochbezahlte
Rechtsanwälte überzogen protestierende Contergan-
opfer mit Klagen, und auch der Film „Eine einzige Ta-
blette“ konnte erst nach erbittertem Rechtsstreit 2007 in
der ARD gesendet werden. Anstatt sich mit den erzielten
Unternehmensgewinnen und dem vorhandenen Vermö-
gen angemessen an der Entschädigung der Opfer zu be-

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Ilja Seifert


(A) (C)



(D)(B)


teiligen, legt Grünenthal nun noch einen eigenen, völlig
intransparenten Hilfsfonds auf, bei dem jetzt die Opfer
um Hilfe betteln dürfen. Hier werden – die unzurei-
chende Versorgung der Menschen mit Conterganschä-
den und ihrer Angehörigen durch den Staat und die da-
für zuständige Stiftung ausnutzend – die Betroffenen
zusätzlich gedemütigt, es wird Ungleichheit geschaffen
und Missgunst geschürt. Und die Bundesregierung? Sie
schweigt und lässt Grünenthal gewähren. Das ist, so
meine ich, skandalös.

Die Linke fordert, dass die Firma Grünenthal bzw.
die Familie Wirtz endlich zur Entschädigung herangezo-
gen wird. Denkbar ist zum Beispiel die Einzahlung von
30 Prozent des Jahresgewinns der Unternehmen der Fa-
milie Wirtz an die Conterganstiftung sowie die Einzah-
lung von Erlösen aus Unternehmensveräußerungen bis
zur Höhe der durch den Bund seit 1972 geleisteten Zah-
lungen.

Auch eine offizielle Entschuldigung durch Bundestag,
Bundesregierung und Justiz gegenüber den Contergan-
geschädigten, ihren Eltern und weiteren Angehörigen
steht bis heute aus. Deswegen schlägt die Linke vor, dass
der Deutsche Bundestag endlich alle contergangeschä-
digten Menschen und ihre Angehörigen für das ihnen
angetane Unrecht und Leid um Entschuldigung bittet.

Aus der Übernahme der Gesamtverantwortung durch
die Bundesrepublik Deutschland ergibt sich – das hat
das Bundesverfassungsgericht bestätigt – ein Anspruch
der geschädigten Personen und ihrer Angehörigen nach
dem Sozialen Entschädigungsrecht. Diesem Recht wird
bisher nur unzureichend entsprochen, unter anderem mit
dem „Argument“, sie hätten ja keine „Sonderopfer für
den Staat“ erbracht.

Katastrophal ist die derzeitige Lebenssituation der
Conterganopfer und ihrer Angehörigen. Bereits in der
Beschlussempfehlung des Bundestages vom 20. Januar
2009 (Drucksache 16/11625) hieß es: „Heute leiden die
Betroffenen zunehmend an schmerzhaften Spätfolgen
durch die jahrelange Fehlbelastung von Wirbelsäule,
Gelenken und Muskulatur und auch eine Überbeanspru-
chung der Zähne. Hinzu kommen psychische Belastun-
gen und berufliche Beeinträchtigungen.“ Die Lebens-
situation der Betroffenen ist also seit mindestens vier
Jahren bekannt. Und sie hat sich seitdem weiter ver-
schärft. Das ist mit der Studie des Gerontologischen In-
stituts der Universität Heidelberg inzwischen auch wis-
senschaftlich belegt.

Eine Ursache für die katastrophale Situation ist, dass
das Behindertenrecht in Gänze nicht auf Selbstbestim-
mung, umfassende Teilhabe, freie Persönlichkeitsentfal-
tung und ein Leben in Würde ausgerichtet ist, obwohl
das Grundgesetz, das Bundesgleichstellungsgesetz, das
Sozialgesetzbuch IX und vor allem die seit dem 26. März
2009 in Deutschland geltende UN-Behindertenrechts-
konvention dies gesetzlich garantieren müssten. Je
nachdem wann und in welchem Zusammenhang man
seine Behinderung erwarb, werden gesundheitliche Ver-
sorgung, soziale Absicherung, Kompensationen in der
Kinder- und Jugendzeit während der Erwerbstätigkeit
und im Alter eher willkürlich „gewährt“.

Die zweite Ursache ist, dass die Bundesregierung und
die dafür vor 40 Jahren extra geschaffene Contergan-
stiftung ihre Pflichten nicht erfüllen.

Die bisher gezahlten „Conterganrenten“ und weitere
finanzielle Leistungen reichten nicht, um das Leben eini-
germaßen erträglich zu gestalten und bestehende Nach-
teile zu kompensieren. Finanzielle Nachteile – zum Bei-
spiel Verdienstausfälle – für die Betroffenen und ihre
Angehörigen kamen zu den direkten Schädigungen in
Folge von Contergan hinzu. „Schmerzensgeld“ wurde
bisher nicht gezahlt. Es mangelt auch an Beratung und
Hilfe zur Selbsthilfe. Alles, was die Bundesregierung
und die in ihrem Auftrag handelnde Stiftung in den letz-
ten 40 Jahren tat, war die mehr schlechte als rechte Er-
füllung von gesetzlichen Pflichten. Eigene Initiativen zur
Verbesserung der Lebenssituation der Betroffenen?
Fehlanzeige! Alles, was in den letzen Jahren an positiven
Veränderungen erreicht wurde, war mühsamer Kampf
der Betroffenen.

Inzwischen wird wenigstens kein Stiftungsgeld mehr
in Projekte gesteckt, die mit den Conterganopfern nichts
zu tun haben. Inzwischen sitzen wenigstens zwei von den
Betroffenen selbst gewählte Vertreter im Stiftungsrat.
Aber noch sind Menschen mit Conterganschäden und
ihre Interessenvertretungen in den Gremien der Con-
terganstiftung unterrepräsentiert. Die Vertreterinnen
und Vertreter der Bundesregierung haben die Mehrheit
im Stiftungsrat und Stiftungsvorstand und üben die
Rechtsaufsicht/Kontrolle über die Stiftung aus. Das
Ministerium kontrolliert sich selbst und „mauert“, wo es
nur kann, wenn es um Transparenz und Mitbestimmung
der Betroffenen geht.

Dass es auch anders geht, beweist die Arbeit von
zahlreichen anderen Stiftungen mit Bundesbeteiligung

(siehe auch Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Linken zu Stiftungen des Bundes, Drucksache 17/10227)

muss (mehrheitlich) in die Hände und Füße der Conter-
ganopfer, und die Vertreter des Bundes sollten vom Bun-
destag gewählt werden.

Die im vorliegenden Antrag vorgeschlagenen Ände-
rungen im Conterganstiftungsgesetz sowie die weiteren
Maßnahmen hat sich die Linke nicht am Schreibtisch
ausgedacht. Sie sind das Ergebnis umfassender Diskus-
sionen mit den Betroffenen und ihren Organisationen;
sie finden sich wieder in den Empfehlungen der Univer-
sität Heidelberg, die im Auftrag des Bundestages und
der Conterganstiftung eine umfassende Studie zur Le-
benssituation der Conterganopfer erstellte; sie basieren
auf detaillierten Analysen und seriösen Berechnungen
der Betroffenen. Ich verweise hier auf die Stellungnahme
von Udo Herterich im Gespräch mit dem Familienaus-
schuss des Bundestages am 17. Oktober 2012.

Die wesentlichsten Vorschläge bzw. Forderungen
möchte ich hier noch einmal nennen:

Erstens sind Conterganrenten und Kapitalentschädi-
gungen, die nach § 12 Abs. 2 des Conterganstiftunsge-
setzes beantragt wurden bzw. werden, rückwirkend zu
zahlen; denn die Schädigung durch Contergan gibt es

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Ilja Seifert


(A) (C)



(D)(B)


bei allen nicht mit Antragstellung, sondern seit der Ge-
burt.

Zweitens werden die monatlichen Entschädigungs-
leistungen rückwirkend zum 1. Januar 2012 um 300 Pro-
zent erhöht.

Drittens sind behinderungsbedingte Nachteilsaus-
gleiche sowie Kosten für bedarfsgerechte Assistenz- und
Pflegeleistungen sowie Umbaumaßnahmen in der Woh-
nung und am Pkw durch zusätzliche einkommens- und
vermögensunabhängige Leistungen aus der Contergan-
stiftung zu erstatten, solange diese nicht durch die Leis-
tungen aus den Sozialgesetzen kompensiert werden.
Maßstab ist dabei das Soziale Entschädigungsrecht.

Viertens müssen Folgeschäden im Sinne der ersten
Handlungsempfehlung der Universität Heidelberg aner-
kannt werden. Die „medizinische Punktetabelle“ zur
Bewertung der Körperschäden ist entsprechend zu über-
arbeiten und auf maximal 200 Punkte zu erweitern.

Fünftens ist ein Schmerzensgeld, abgestuft nach dem
aktuellen Punktesystem, ausgehend von 1 Million Euro
= 100 Schadenspunkte, zu zahlen.

Ich meine, der Antrag der Linken ist eine gute Grund-
lage, um in der geplanten öffentlichen Anhörung des Fa-
milienausschusses im Januar 2013 nicht nur den Antrag
und den Bericht über die Studie der Universität Heidel-
berg zu beraten, sondern auch über einen gemeinsamen
Gesetzentwurf für ein Drittes Conterganstiftungsände-
rungsgesetz.

Abschließend noch ein letzter Gedanke. Auch wenn
die Lebenssituation der Betroffenen vor allem den Blick
bzw. Aktivitäten nach vorn verlangen, brauchen wir eine
angemessene Aufarbeitung der Geschichte. Die bisheri-
gen Weigerungen der Bundesregierung und der Con-
terganstiftung sind nicht länger hinnehmbar. Deswegen
fordern wir die Bundesregierung auf, einen Forschungs-
auftrag zur Geschichte und Herkunft des in Contergan
verwendeten Wirkstoffes sowie zur Geschichte des Con-
terganskandals unter aktiver Einbeziehung bzw. Mitwir-
kung der Betroffenen auszulösen. Das sind wir den noch
lebenden und vor allem den vielen bereits verstorbenen
Conterganopfern sowie ihren Müttern, Vätern und wei-
teren Angehörigen schuldig.


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720130900

Die Firma Grünenthal produzierte und vertrieb Ende

der 50er-Jahre insgesamt 22 thalidomidhaltige Medika-
mente, darunter das als ungiftig beworbene Contergan.
Innerhalb weniger Jahre machten diese Medikamente
insgesamt 50 Prozent des Gesamtumsatzes des Unter-
nehmens aus. Obwohl es bereits in dieser Zeit eine poli-
tische und fachliche Diskussion über schädigende Aus-
wirkungen von Medikamenten bei Einnahme während
der Schwangerschaft gab, hatte der Staat zu Beginn der
Debatte um mögliche schädliche Auswirkungen von
Contergan in diesem Zusammenhang keine Interven-
tionsbefugnis. Erst durch öffentlichen Druck konnte
Grünenthal dazu gezwungen werden, das Medikament
vom Markt zu nehmen.

Der Conterganskandal hat unsere Gesellschaft ver-
ändert. Er hatte, wenn auch zeitlich verzögert, erst in
den 70er-Jahren Konsequenzen für das Arzneimittel-
recht. Die Vorgaben zur Arzneimittelsicherheit wurden
verbessert.

Während Grünenthal erhebliche Gewinne machte,
wurde und wird den Geschädigten in mehrfacher Hin-
sicht Unrecht getan: Zeit ihres Lebens wurden sie von
medizinischer Forschung objektiviert, sie wurden als
„Missgeburten“ bezeichnet und wahrgenommen. Für
den Verlust an Lebensqualität, den sie erleben, sind sie
bis heute nicht angemessen entschädigt worden. Sie
müssen bis heute mit Krankenkassen um die Finanzie-
rung ihrer Heil- und Hilfsmittel kämpfen. Mit zuneh-
menden Alter nehmen auch ihre Schmerzen zu, während
gleichzeitig soziale Unterstützungsnetzwerke, etwa durch
den Tod der Eltern, wegbrechen.

Als wir hier das letzte Mal über die Situation Conter-
gangeschädigter gesprochen haben, war uns klar, dass
die Zahlungen, die sie zur Deckung ihrer Bedarfe erhal-
ten, nicht ausreichend sind. Im Wissen um die unange-
messene Versorgungssituation der Betroffenen wurden
damals unter anderem die sogenannten Contergan-
renten verdoppelt. Die Forderung der Grünen-Fraktion,
im Rahmen einer Studie die Bedarfe genau zu ermitteln,
damit auf dieser Grundlage über weitere Verbesserun-
gen entschieden werden kann, wurde von der damaligen
Bundesregierung aufgegriffen und eine Studie an der
Universität Heidelberg in Auftrag gegeben.

Die Ergebnisse, die uns aus dieser Studie vorliegen,
sind zwar erst vorläufig, dafür aber um so deutlicher:
Ungedeckte Bedarfe belasten Contergangeschädigte in
einem Ausmaß, das fast nicht vorstellbar ist, wenn man
nicht täglich damit lebt. Fast 85 Prozent der Befragten
leiden an Schmerzen, ihre Bedarfe an Medikamenten,
Hilfsmitteln, rehabilitativen Maßnahmen und physika-
lischer Therapie sind in großen Teilen nicht gedeckt.
Nur wenige sind finanziell in der Lage, sie in Eigenleis-
tung zu finanzieren. Der Bedarf an Assistenz im Alltag
wird zunehmen, er ist bereits jetzt nicht ausreichend ge-
deckt. Ein bemerkenswerter Teil der Geschädigten kann
aufgrund der Schädigung und mangelnder Versorgung
nicht mehr arbeiten, entsprechend bestehen Verdienst-
ausfälle.

Für uns kann das nur eins bedeuten: Wir müssen han-
deln, und zwar jetzt! Die Betroffenen werden immer äl-
ter, ihre Schmerzen nehmen zu. Ihre Bedarfe werden
steigen. Deswegen müssen wir jetzt den Schadensaus-
gleich verbessern und regelmäßig überprüfen.

Es wurde bereits diskutiert, inwiefern die Versorgung
der Contergangeschädigten über das System der Sozial-
versicherungen geleistet werden kann. Ich habe schon
von den Kämpfen gesprochen, die sich die Geschädigten
mit den Krankenkassen immer wieder liefern müssen.
Die Kassen weigern sich hartnäckig, Kosten für nötige
Heil- und Hilfsmittel zu übernehmen. Zahnimplantate
werden nicht gezahlt, selbst wenn Geschädigte sich auf-
grund verkürzter Arme Prothesen nicht selbstständig
einsetzen können. Das ist nicht das einzige Beispiel, es
gibt zahlreiche. Auch die explizite Aufforderung des

Zu Protokoll gegebene Reden





Markus Kurth


(A) (C)



(D)(B)


Ministeriums an die Krankenversicherungen, im Falle
Contergangeschädigter unbürokratisch zu agieren, konnte
daran nichts ändern. Auch wenn nachvollziehbar ist,
dass die Kassen Leistungen zum Ausgleich der Folgen
einer Schädigung nicht aus Versicherungsbeiträgen fi-
nanzieren möchten, hätte ich mir angesichts der Situa-
tion Contergangeschädigter eine konstruktivere Zusam-
menarbeit und weniger Rücksichtslosigkeit gewünscht.
Für uns ist die Konsequenz aus diesen Erfahrungen al-
lerdings eindeutig: Wir müssen die Finanzierung anders
absichern als über die gesetzliche Krankenversiche-
rung. Die Frage, wie man grundsätzlich damit umgeht,
dass Krankenkassen scheinbar unbeeindruckt von poli-
tischen Entscheidungen ihre eigenen Ziele verfolgen, ist
eine, die wir dringend angehen müssen, aber nicht im
Rahmen der Entschädigung von Conterganopfern regeln
können.

Ich habe es schon gesagt: Wir müssen schnell han-
deln. Aus meiner Sicht ist es bereits jetzt möglich, auf
der Grundlage der Ergebnisse der Heidelberger Studie
die Conterganrenten zu erhöhen. Selbst wenn bisher
keine detaillierten Zahlen vorliegen: Sollte bei der Be-
rechnung eine Unschärfe zugunsten der Betroffenen ent-
stehen, so ist das vor dem Hintergrund der vergangenen
Jahre ohne Frage hinnehmbar.

Die Bundesrepublik Deutschland steht in der Haf-
tungsnachfolge der Firma Grünenthal. Die Finanzie-
rung von notwendiger Assistenz und von Hilfen im All-
tag, von Pflege, von rehabilitativen und therapeutischen
Maßnahmen, von Umbaumaßnahmen zur Steigerung der
Barrierefreiheit im Wohnbereich und die Finanzierung
eines Kraftfahrzeugs über die „Rente“ ist systematisch
gerechtfertigt. Das sollte uns nicht davon abhalten, wei-
terhin auf Grünenthal einzuwirken, sich an der Finan-
zierung zu beteiligen. Dass die Firma moralisch in der
Pflicht steht, ist wohl schwerlich zu widerlegen.

Natürlich ist eine Nachbefragung durch die Universi-
tät Heidelberg zur Ermittlung der tatsächlichen Ver-
luste, die den Betroffenen durch die Conterganschädi-
gung entstanden sind, weiterhin geboten. Ich halte es
weiterhin für nötig, auch nach der jetzt durchzuführen-
den Erhöhung der Renten weiter darüber zu sprechen, in
welcher Höhe den Geschädigten eine finanzielle Kom-
pensation für den Verlust an Lebensqualität geleistet
werden kann. Wie hoch eine solche zusätzliche Zahlung
ausfallen sollte, darüber gehen die Meinungen ausein-
ander. Ich bin der Überzeugung, dass wir darüber mit
Blick auf die Entschädigungszahlungen, die Opfer von
Medikamentenskandalen heute bekommen, weiter disku-
tieren müssen.

Abschließend möchte ich mich bei allen Betroffenen
bedanken, die uns noch immer konstruktiv darin unter-
stützen, die Situation zu verbessern. Ich kann Ihren Är-
ger darüber, wie lange nichts oder zu wenig getan
wurde, verstehen: Er ist gerechtfertigt – genau wie das
Ende der Geduld. Es ist nun Aufgabe dieses Parlaments,
zügig einen Beschluss zu fassen, der Ihnen ein Leben in
Würde ermöglicht.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720131000

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/11041 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, Sie sind
damit einverstanden. Dann haben wir das so beschlos-
sen.

Tagesordnungspunkt 30:

– Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Neuordnung der Altersversorgung der Be-
zirksschornsteinfegermeister und zur Ände-
rung anderer Gesetze

– Drucksachen 17/10749, 17/10962 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss)


– Drucksache 17/11185 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Weiß (Emmendingen)


– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)

gemäß § 96 der Geschäftsordnung

– Drucksache 17/11188 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land)
Bettina Hagedorn
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Gesine Lötzsch
Priska Hinz (Herborn)


Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1720131100

Im Jahr 2008 wurde in Deutschland das sogenannte

Schornsteinfegermonopol abgeschafft. Man wollte da-
mit europäischen Vorgaben entsprechen. Bis dato hatte
jeweils ein Bezirksschornsteinfegermeister für einen der
rund 8 000 Kehrbezirke in Deutschland das alleinige
Überwachungs- und Kehrrecht. Nach Ablauf einer
Übergangszeit sind die Bezirksschornsteinfegermeister
ab dem 1. Januar 2013 anderen Handwerksberufen
gleichgestellt. Das neue Berufsrecht der Schornsteinfe-
ger hat mittel- bis langfristig Auswirkungen auf die ge-
setzliche Zusatzversorgung der Bezirksschornsteinfe-
germeister. Bislang war ihre Alterssicherung durch eine
sich über das gesamte Arbeitsleben erstreckende
Pflichtversicherung in der gesetzlichen Rentenversiche-
rung und im Zusatzversorgungssystem der Versorgungs-
anstalt der deutschen Bezirksschornsteinfegermeister
sichergestellt. Die Beibehaltung der bisherigen Pflicht-
versicherung wird jedoch durch die Gleichstellung der
Bezirksschornsteinfegermeister mit den übrigen Hand-
werksberufen aus praktischen und rechtlichen Gründen
höchst problematisch. Mit dem Gesetz zur Neuordnung
der Altersvorsorge bevollmächtigter Bezirksschorn-
steinfeger, das wir heute im Deutschen Bundestag be-
schließen, regeln wir die Altersversorgung der Schorn-
steinfeger in verlässlicher Weise neu. Damit zeigen wir
durch konkretes Handeln: Das deutsche Handwerk





Peter Weiß (Emmendingen)



(A) (C)



(D)(B)


– auch das Schornsteinfegerhandwerk – kann sich auf
die Koalition von CDU/CSU und FDP verlassen.
Grundsätzlich gilt für die Zukunft: Die Handwerkerre-
gelung in der deutschen Rentenversicherung greift auch
für Schornsteinfeger.

Es ist unstrittig, dass mit der folgerichtig einherge-
henden Schließung des umlagefinanzierten Versor-
gungswerks der Bezirksschornsteinfegermeister Ende
2012 das Altersversorgungssystem überdacht und ange-
passt werden muss. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
stellen wir sicher, dass die bisher geleisteten Beiträge an
das Versorgungswerk nicht verloren gehen, sondern in
der neuen Pflichtversicherung gutgeschrieben werden.
Die bisherigen Renten der circa 6 500 Rentenempfänger
werden fortgezahlt, und die bis zum Stichtag erworbenen
Anwartschaften der circa 7 700 Bezirksschornsteinfe-
germeister sollen weitgehend erhalten bleiben. Der Ge-
setzentwurf sieht ferner vor, dass nach dem 31. Dezem-
ber 2012 keine neuen Anwartschaften in dem System
mehr erworben und keine neuen Beträge mehr erhoben
werden.

Im parlamentarischen Verfahren sind einige zunächst
anvisierte Regelungen überdacht und zugunsten der
Schornsteinfeger entsprechend geändert worden. Ich bin
froh, dass wir in Abstimmung mit dem Berufsstand der
Schornsteinfeger eine gute Lösung gefunden haben.
Lassen Sie mich dies an zwei Neuregelungen verdeutli-
chen:

So haben wir dem Umstand, dass Jungmeister erst in
den letzten fünf Jahren vor Schließung des Zusatzversor-
gungswerks dessen Pflichtmitglieder geworden sind,
Rechnung getragen. Ihnen drohte eine Versorgungslü-
cke. Wegen der allgemein geltenden fünfjährigen Warte-
zeit hätten sie noch keinen Anspruch auf Ruhegeld ge-
habt, obwohl sie Beitragszahlungen geleistet haben. Es
wäre höchst ungerecht gewesen, würden ihre Anwart-
schaften mit der Schließung des Zusatzversorgungssys-
tems verloren gehen – zumal die Jungmeister aufgrund
des Systems zu den Beitragszahlungen verpflichtet wa-
ren. Zwar bleibt die Fünf-Jahres-Frist auch künftig be-
stehen – und da keine neuen Anwartschaften in diesem
System aufgebaut werden können, kann sie im Einzelfall
nicht mehr erfüllt werden –, doch haben wir eine Klausel
geschaffen, mit der die Anwartschaften für Ruhegeld,
Witwen-, Witwer- und Waisengeld aufrechterhalten wer-
den können. Wie bei der freiwilligen Versicherung in der
gesetzlichen Rentenversicherung sollen entsprechende
Beiträge in die Zusatzversorgung nachgezahlt werden
können. Bis 30. Juni 2013 müssen dabei die Beiträge
von 605 Euro für jeden fehlenden Monat, im Beitrittsge-
biet 532 Euro, entrichtet werden.

Wichtig war uns insbesondere auch die Neuregelung
des Ruhegelds der Bezirksschornsteinfegermeister bei
Berufsunfähigkeit. Wer berufsunfähig wird, muss sich
darauf verlassen können, durch seine entrichteten Bei-
träge im vereinbarten Umfang abgesichert zu sein. Der
Gesetzentwurf sah den Bestand dieses Vertrauensschut-
zes zunächst ausschließlich für Bezirksschornsteinfeger-
meister vor, die zum Stichtag 1. Januar 2013 50 Jahre
oder älter sind. Diese Regelung hätte jedoch zu kurz ge-

griffen. Sie hat nicht berücksichtigt, dass es für viele Be-
zirksschornsteinfeger unter 50 Jahren gar nicht mehr
möglich sein kann, überhaupt oder unter angemessenen
Bedingungen eine adäquate Berufsunfähigkeitsversi-
cherung abzuschließen. Auch jene Versicherten, die jah-
relang Beiträge für ihren Berufsunfähigkeitsschutz ein-
gezahlt haben, würden nicht berücksichtigt werden. Im
parlamentarischen Verfahren haben wir auch hier Ver-
besserungen erlangen können und den Kreis der Versor-
gungsberechtigten erweitert. So wird der Vertrauens-
schutz der Berufsunfähigkeitsversicherung auf alle
40-jährigen und älteren betroffenen Bezirksschornstein-
feger ausgedehnt. Diese Altersgrenze von 40 Jahren ist
keinesfalls willkürlich gesetzt, sondern ergibt sich zum
einen aus einem Vergleich mit dem parallelen System-
wechsel in der gesetzlichen Rentenversicherung 2000/
2001. Hier hatte der Gesetzgeber bei der Reform der
Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit für über
40-jährige Personen eine Vertrauensschutzregelung ge-
schaffen. Zum anderen ist es für unter 40-jährige Perso-
nen durchaus machbar, zu angemessenen Bedingungen
eine adäquate Versicherung für den Fall der Berufsunfä-
higkeit abzuschließen.

Zusammenfassend kann festgestellt werden: Es ist ge-
lungen, eine wirklich zufriedenstellende Lösung für die
Altersvorsorge der Schornsteinfegermeister zu finden.
Und wir haben die Anliegen des Berufsstandes in gelun-
gener Weise aufgegriffen und im Gesetz verankert.
Kurzum: Heute ist ein guter Tag für das deutsche Hand-
werk.


Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1720131200

Im Jahr 2008 wurde das deutsche Schornsteinfeger-

monopol wegen Europarechtswidrigkeit abgeschafft.
Nach einer Übergangszeit, die noch bis Ende dieses Jah-
res andauert, unterliegen die Bezirksschornsteinfeger-
meister weitgehend dem freien Wettbewerb und sind da-
mit anderen Handwerksberufen gleichgestellt. Vor diesem
Hintergrund war es erforderlich, dass die bisherige spe-
zifische Alterssicherung der Bezirksschornsteinfeger-
meister an die neuen Gegebenheiten angepasst wird.

Nach einem über Jahre geführten intensiven Diskus-
sionsprozess konnte im Spätsommer 2012 endlich eine
Einigung auf ein konkretes Neuordnungskonzept erzielt
werden. Diese Einigung darf als Erfolg gewertet werden –
auch und gerade für den Berufsstand. Dieser hat jetzt
nach Jahren der Ungewissheit endlich Planungssicher-
heit.

Was sind die zentralen Regelungen des Gesetzent-
wurfs der Bundesregierung?

Die Bezirksschornsteinfegermeister werden künftig in
der gesetzlichen Rentenversicherung sonstigen selbst-
ständigen Handwerkern gleichgestellt; sie erhalten also
eine Befreiungsmöglichkeit in Bezug auf die Versiche-
rungspflicht nach 18 Pflichtbeitragsjahren. Das umlage-
finanzierte Zusatzversorgungssystem wird Ende 2012
geschlossen. Die bisherigen Zusatzrenten werden fort-
gezahlt. Die bis zum Stichtag erworbenen Anwartschaf-
ten bleiben erhalten. Die Leistungen werden künftig wie
in der gesetzlichen Rentenversicherung dynamisiert. Zur

Zu Protokoll gegebene Reden





Max Straubinger


(A) (C)



(D)(B)


Finanzierung der Leistungen wird zunächst das in der
Zusatzversorgung aufgebaute Kapitalpolster in Höhe von
circa 240 Millionen Euro aufgebraucht. Anschließend
übernimmt der Bund die Leistungen.

Alle Beteiligten sind sich einig, dass die Neuordnung
der Altersversorgung der Bezirksschornsteinfegermeis-
ter erforderlich und der Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung im Grunde sachgerecht ist. Auch der Berufsstand
und der Bundesrat sind grundsätzlich einverstanden. Al-
lerdings gab es noch weitergehende Forderungen. Das
ist nicht überraschend und auch das gute Recht der Be-
troffenen.

Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich festhalten,
dass es sich das zuständige Bundesministerium für Ar-
beit und Soziales nicht leicht gemacht hat. Es hat die
Forderungen des Berufsstandes intensiv geprüft und
langwierige Verhandlungen mit dem Bundesministerium
für Finanzen geführt. Am Ende des Tages aber hatten
sich die Kassenwarte durchgesetzt mit der Begründung,
die Schmerzgrenze für den Bund sei erreicht, die Ab-
wicklung des Zusatzversorgungssystems werde circa
1,6 Milliarden Euro im Barwert kosten.

Dieselben Verhandlungen ums liebe Geld haben wir
im Deutschen Bundestag mit den Haushaltskollegen ge-
führt. Auch diese Gespräche waren alles andere als ein-
fach. Es gab einen Dissens zur künftig erwarteten
Anzahl von Berufsunfähigkeitsfällen, der nicht lösbar
erschien und von dem die prognostizierte Belastung des
Bundes abhing. Auch hier möchte ich dem Bundesminis-
terium für Arbeit und Soziales danken, das uns bei die-
sen Gesprächen mit Rat und Tat zur Seite stand. Ende
gut, alles gut. Letztlich haben wir uns mit den Haus-
haltskollegen einigen können.

Die zentrale Verbesserung für die Schornsteinfeger
ist der erweiterte Berufsunfähigkeitsschutz. Wir stellen
sicher, dass der Berufsunfähigkeitsschutz im Zusatzver-
sorgungssystem für die 40-jährigen und älteren Bezirks-
schornsteinfegermeister weiter gilt. Damit greifen wir
einen ausdrücklichen Wunsch des Berufsstandes und
eine entsprechende Forderung des Bundesrates auf. Der
Regierungsentwurf sah Vertrauensschutz erst ab einem
Alter von 50 Jahren vor.

Für über 40-jährige Versicherte ist es auf dem freien
Markt aber nahezu ausgeschlossen, sich zu angemesse-
nen Konditionen privat gegen das Risiko der Berufsun-
fähigkeit zu versichern. Eine entsprechende Vertrauens-
schutzregelung gibt es zudem auch in der gesetzlichen
Rentenversicherung. Vor knapp zwölf Jahren hat die rot-
grüne Bundesregierung den Berufsunfähigkeitsschutz in
der gesetzlichen Rentenversicherung mit Wirkung zum
1. Januar 2001 privatisiert. Vertrauensschutz gab es le-
diglich für Versicherte, die vor dem 2. Januar 1961 ge-
boren waren, die also zum Zeitpunkt des Inkrafttretens
der Reform 40 Jahre alt waren. Was für die Versicherten
der gesetzlichen Rentenversicherung gilt, muss auch
für die Bezirksschornsteinfegermeister gelten. Gleiches
Recht für alle. Deshalb haben wir gestern im Ausschuss
für Arbeit und Soziales mit einem Änderungsantrag den
erforderlichen gesetzlichen Gleichklang hergestellt.

Diese Verbesserung gibt es aber nicht zum Nulltarif.
Den Berufsunfähigkeitsschutz gibt es vielmehr nur, wenn
die Betroffenen nicht von ihrem Befreiungsrecht in der
gesetzlichen Rentenversicherung Gebrauch gemacht ha-
ben und nicht später als zwei Jahre nach Aufhebung der
Bestellung berufsunfähig geworden sind. Andernfalls
müsste die Zusatzversorgung aufgrund der Gesamtver-
sorgungssystematik die komplette Absicherung des Be-
rufsunfähigkeitsschutzes übernehmen. Außerdem muss
der nachlaufende Berufsunfähigkeitsschutz in einem
zeitlichen Zusammenhang mit der spezifischen Tätigkeit
als Bezirksschornsteinfegermeister stehen. Ansonsten
stünde dieser Schutz unter Umständen auch Personen
zu, die lange zuvor aus dem Beruf ausgeschieden sind.
Beides aber kann niemand wollen, und beides hat auch
der Berufsstand zu keinem Zeitpunkt gefordert. Mit un-
serem Änderungsantrag haben wir dies nunmehr gesetz-
lich klargestellt.

Und in einem weiteren Punkt haben wir es für sinn-
voll gehalten, den Schornsteinfegern entgegenzukom-
men. Für diejenigen, die wegen der Schließung des
Zusatzversorgungssystems noch nicht die fünfjährige
Wartezeit erfüllt haben, schaffen wir die Möglichkeit,
Beiträge nachzuzahlen, damit die Anwartschaften nicht
verloren gehen. Auch dies haben wir gestern mit unse-
rem Änderungsantrag sichergestellt.

Beide Änderungen stoßen beim Berufsstand der Be-
zirksschornsteinfegermeister auf viel Wohlwollen. Das
zeigt: Die christlich-liberale Koalition steht für eine So-
zialpolitik mit Augenmaß.


Anton Schaaf (SPD):
Rede ID: ID1720131300

Die im vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregie-

rung vorgesehene Neuordnung der Altersversorgung der
Bezirksschornsteinfegermeister ist notwendig. Mit
Ablauf des Jahres 2012 endet aus europarechtlichen
Gründen das deutsche Schornsteinfegermonopol. Die an
das Monopol anknüpfende Alterssicherung muss ab
2013 neu geregelt werden. Darüber hinaus enthält der
Gesetzentwurf auch Regelungen zur Arbeitsförderung.

Wir hatten uns gewünscht, dass die Bundesregierung
ihren Entwurf hinsichtlich der Neuordnung der Alters-
versorgung der Bezirksschornsteinfegermeister in
Bezug auf einzelne Vertrauensschutzregelungen noch
einmal überprüft, zumal die entsprechenden Innungen
und Verbände sowie der Bundesrat auf Probleme hinge-
wiesen haben, die die Umstellung der Alterssicherung
vor allem für Existenzgründer birgt. In Teilen sind Sie
diesem Wunsch auch nachgekommen, trotzdem bleibt
Ihr Änderungsantrag leider unzureichend.

Während der Beratung im Ausschuss für Arbeit und
Soziales hatten wir vorgeschlagen, Einzelheiten noch
einmal in einem Berichterstattergespräch zu erörtern.
Leider gingen weder die Koalitionsfraktionen noch die
Bundesregierung auf unseren Vorschlag ein. Der Ge-
setzentwurf der Bundesregierung ist daher nicht zustim-
mungsfähig. Die SPD-Bundestagsfraktion wird sich ih-
rer Stimme enthalten und Ihren Änderungsantrag
ablehnen.

Zu Protokoll gegebene Reden





Anton Schaaf


(A) (C)



(D)(B)


Im Jahr 2008 mussten wir auf ein durch die EU-
Kommission eingeleitetes Vertragsverletzungsverfahren
reagieren. Der Entwurf eines „Gesetzes zur Neurege-
lung des Schornsteinfegerwesens“ sieht – nach einer
Übergangszeit bis Ende 2012 – vor, das Schornsteinfe-
germonopol aufzuheben – die Wahrnehmung hoheitli-
cher Aufgaben wird auf ein Minimum reduziert. Damit
muss auch die Umstellung von einer Gesamtversorgung
in der Alterssicherung zu einem beitragsäquivalenten
System erfolgen.

Gegenwärtig sind Bezirksschornsteinfegermeister als
Handwerker in der gesetzlichen Rentenversicherung
pflichtversichert. Im Gegensatz zu allen anderen Hand-
werkern endet die Versicherungspflicht aber nicht nach
18 Jahren; sie sind während des gesamten Erwerbs-
lebens in der Rentenversicherung pflichtversichert.
Daneben besteht für sie eine Zusatzversorgung, die aus
Mitteln der Versorgungsanstalt und Beiträgen finanziert
wird. Die Alterssicherung dieses Personenkreises ergibt
sich also aus einer Gesamtversorgung. Der Gesetzent-
wurf der Bundesregierung regelt nun für die Zeit nach
Aufhebung des Monopols die Schließung der Zusatzver-
sorgung.

Ab nächstem Jahr unterliegen die Bezirksschorn-
steinfegermeister dem freien Wettbewerb und sind damit
anderen Handwerksmeistern gleichgestellt. Eine zusätz-
liche verpflichtende Versorgung neben der gesetzlichen
Rentenversicherung ist daher nicht mehr begründbar.
Die Aufrechterhaltung der Zusatzversorgung erscheint
auch aus finanziellen Gründen nicht sinnvoll. Zum einen
geht die Zahl der Beitragszahler kontinuierlich zurück
– derzeit kommen auf 6 500 Rentenempfänger
7 700 aktive Bezirksschornsteinfegermeister –, zum an-
deren können die Beiträge nicht mehr aus den öffentlich-
rechtlichen Kehrgebühren finanziert werden.

Die rechtlichen Anpassungen erfolgen nach dem
Gesetzentwurf der Bundesregierung im Schornstein-
feger-Handwerksgesetz: Die Schließung der Zusatzver-
sorgung der Bezirksschornsteinfegermeister bedeutet,
dass zum Stichtag 31. Dezember 2012 keine neuen An-
wartschaften mehr erworben werden können, Bestands-
renten aber weiter gezahlt werden. Zur Finanzierung
der Leistungen wird das vorhandene Vermögen der
Versorgungsanstalt eingesetzt. Im Anschluss werden die
Leistungen vom Bund übernommen. Die Versicherungs-
pflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung erfolgt
nunmehr zu gleichen Bedingungen wie die der Hand-
werksmeister. Das heißt, die erwerbslebenslange Versi-
cherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung
endet nach 18 Jahren.

Die Übergangsvorschriften beinhalten versorgungs-
rechtliche und Regelungen zum Vertrauensschutz: Be-
standsrenten werden weiter gezahlt; sie werden jedoch
nicht mehr den Tariferhöhungen im öffentlichen Dienst
angepasst, sondern werden entsprechend den Steigerun-
gen in der gesetzlichen Rentenversicherung dynamisiert.
Die bis zum Stichtag erworbenen Anwartschaften der
aktiven Bezirksschornsteinfegermeister werden in eine
„Startgutschrift“ umgerechnet, die Basis der individuel-
len Rentenberechnung beim Renteneintritt ist. Zunächst

sollte der Vertrauensschutz bei Berufsunfähigkeit erst ab
dem 50. Lebensjahr gelten. Mit dem Änderungsantrag
wird der Vertrauensschutz nun jedoch auch auf jüngere
Bezirksschornsteinfegermeister ab dem 40. Lebensjahr
ausgedehnt. Gezahlte Beiträge können zurückerstattet
werden, soweit noch kein Versorgungsanspruch besteht
bzw. die fünfjährige Wartezeit noch nicht erfüllt ist. Dies
betrifft vor allem die Jüngeren, die dem Zusatzversor-
gungssystem erst vor kurzem beitreten mussten.

Im Detail betrachtet, verlangen die vorgesehenen
Übergangsregelungen unseres Erachtens aber dringend
eine Nachbesserung, weil die umstandslose Übertra-
gung von Regelungen der gesetzlichen Rentenversiche-
rung auf die Zusatzversorgung deren Bedingungen nur
unzureichend abbilden kann.

Insofern sehen wir noch Änderungsbedarf in Bezug
auf die im Gesetzentwurf vorgesehene Reduzierung der
Dynamisierung der Bezüge und Kappung der Beitrags-
rückerstattung.

Zum einen werden in Zukunft die Versorgungsbezüge
nicht mehr nach den Tarifentwicklungen im öffentlichen
Dienst, sondern in Höhe der jährlichen Rentenanpas-
sung der gesetzlichen Rentenversicherung dynamisiert.
Zum anderen erfolgt eine schrittweise Reduzierung in
Form einer Halbierung zukünftiger Dynamisierungen
um die in den Jahren seit 2009 erfolgten Erhöhungen
der Versorgungsbezüge um insgesamt 5,2 Prozent. Die
schrittweise Reduzierung erscheint nur schwer nach-
vollziehbar und ungerechtfertigt, weil die Systemumstel-
lung erst ab 2013 tatsächlich erfolgt.

Die Existenzgründer unter den Bezirksschornstein-
fegermeistern sind dazu verpflichtet, in die Zusatz-
versorgung einzutreten und Beiträge zu entrichten. Sie
können aber womöglich wegen der Schließung der Zu-
satzversorgung ab 2013 die fünfjährige Wartezeit nicht
mehr erfüllen. Die gezahlten Beiträge können zwar
zurückerstattet werden, nach der ab 2013 geltenden
Vorschrift des § 210 SGB VI jedoch nur zur Hälfte –
analog zum Arbeitnehmeranteil. Eine Beitragsrücker-
stattung führt dann unter Umständen zu hohen finanziel-
len Verlusten.

In der Gegenäußerung zur Stellungnahme des Bun-
desrates hat die Bundesregierung lediglich angekündigt,
im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens zu prüfen, ob ne-
ben der Beitragsrückerstattung die Möglichkeit einer
Nachzahlung fehlender Beiträge in das Zusatzrentensys-
tem eröffnet werden soll.

Überraschenderweise löst Ihr Änderungsantrag nun
zwar das Problem des unzureichenden Vertrauensschut-
zes bei Berufsunfähigkeit – die Regelung gilt nun schon
ab Jahrgang 1973 und nicht erst ab Jahrgang 1963 –,
die Rückerstattung von Beiträgen ist aber weiterhin un-
zureichend geregelt. Sie räumen zwar eine zeitlich be-
fristete Möglichkeit für die Nachentrichtung fehlender
Beiträge ein, um Anwartschaften zu erwerben, die
Bedingungen der Beitragsrückerstattung aber bleiben
unverändert. Zudem sehen Sie keine Rücknahme der
ungerechtfertigten Kürzungen bei zukünftigen Dynami-

Zu Protokoll gegebene Reden





Anton Schaaf


(A) (C)



(D)(B)


sierungen der Versorgungsbezüge vor. Daher sind die
Nachbesserungen insgesamt ungenügend.


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1720131400

Das traditionsreiche Handwerk der Schornsteinfeger

befindet sich in einem tiefgreifenden Umbruch. Ab dem
nächsten Jahr werden die Schornsteinfeger ihre wich-
tige Arbeit in einer aufgrund von Europarecht veränder-
ten Wettbewerbsordnung auszuüben haben. Eine Wett-
bewerbsordnung, die neue Chancen und ungewohnte
Herausforderungen mit sich bringt. Mit Folgewirkungen
auch für das berufsständische Altersversorgungssystem,
das nun für die Zukunft befähigt und neu ausgerichtet
werden muss.

Dabei gilt es, Nachteile und Ungerechtigkeiten für
die Versicherten zu vermeiden. Bis in die letzten Tage
haben wir daher an Änderungen des von der Bundesre-
gierung vorgelegten Gesetzentwurfes gefeilt und Anre-
gungen des Berufsstandes diskutiert und in wichtigen
Teilen übernehmen können.

Die Schließung eines bewährten Systems zur Alters-
vorsorge und die Überführung von circa 7 700 aktiven
Bezirksschornsteinfegern und circa 6 500 Rentenempfän-
gern in ein anderes System ist alles andere als eine ein-
fache Aufgabe. Mir scheint aber, dass es gut gelungen
ist, den Interessen der Betroffenen letztendlich gerecht
zu werden.

Das galt schon weitgehend für den Regierungsent-
wurf. Das gilt aber insbesondere für die von den Koali-
tionsfraktionen im Ausschuss noch vorgenommenen Än-
derungen.

Die FDP-Bundestagsfraktion unterstützt die Eröff-
nung der Möglichkeit, fehlende Beiträge für die Zusatz-
versorgung nachzuzahlen, wenn die vorgesehene fünf-
jährige Wartezeit nicht erfüllt werden konnte. Ein
Verfallen von Anwartschaften aus diesem Grund wäre
schwer zu akzeptieren gewesen.

Und wir unterstützen die Änderung gegenüber dem
Regierungsentwurf, den Berufsunfähigkeitsschutz auf alle
über 40-Jährigen auszuweiten. Das ist für diese Berufs-
gruppe sicher sachgerecht, und es orientiert sich an ei-
ner ähnlichen Regelung, die seinerzeit beim Wegfall der
Berufsunfähigkeitsrente in der gesetzlichen Rentenver-
sicherung vorgenommen wurde.

Mit diesen Änderungen steht die Altersvorsorge des
Schornsteinfegerhandwerks nach unserer Auffassung
auch in Zukunft auf einer sicheren Basis.

Das Gesetz enthält noch weitere Regelungen aus dem
Bereich der Arbeitsförderung. Ausdrücklich erwähnen
will ich die Verlängerung der Erprobungsphase innova-
tiver Instrumente der Arbeitsmarktpolitik um weitere
drei Jahre. Möglichst individuelle Lösungen zu ermög-
lichen, ist das zentrale Anliegen unserer Arbeitsmarkt-
politik. Die Herausforderungen an eine erfolgreiche
Arbeitsmarktpolitik in Zeiten annähernder Vollbeschäf-
tigung sind nicht gering. Flexibilität und Kreativität der
Entscheider vor Ort sind gefragt und werden von uns
politisch gefördert.

Ebenso positiv sehen wir die Regelung der Berufs-
orientierungsmaßnahmen für Schüler allgemeinbilden-
der Schulen. Konkrete Einblicke ins Berufsleben sind ein
wichtiger Schritt der berufsvorbereitenden Bildung. In
Zeiten des Fachkräftemangels ist es gut, schon Schüler
gezielt ans Berufsleben heranzuführen und ihre Ent-
scheidungen bereits vor Antritt einer Ausbildung zu un-
terstützen.


Klaus Ernst (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720131500

Im Jahr 2008 wurde mit dem Gesetz zur Neuregelung

des Schornsteinfegerwesens das deutsche Schornstein-
fegerhandwerk für den Wettbewerb geöffnet. Hinter-
grund war ein Vertragsverletzungsverfahren der Euro-
päischen Kommission. Diese hatte seinerzeit behauptet,
dass das deutsche Schornsteinfegergesetz gegen die EU-
Regeln der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit
verstoße. Die Bundesregierung hatte damals nicht alle
Möglichkeiten genutzt, die Tätigkeiten des Schornstein-
fegerwesens umfassend als hoheitliche Aufgabe zu
schützen, geschweige denn darauf gedrängt, das
Schornsteinfegerwesen vom Geltungsbereich der
Dienstleistungsrichtlinie auszunehmen. Sie hat mit der
Liberalisierung des Schornsteinfegerwesens billigend in
Kauf genommen, dass die in einem bisher gesicherten
Berufsstand rund 7 700 beschäftigten Arbeitnehmer und
Arbeitnehmerinnen prekären Beschäftigungsverhältnis-
sen ausgesetzt werden. Zugleich führt die Freigabe
dieser bisher hoheitlichen Aufgabe für den Wettbewerb
zu Abstrichen bei Sicherheit und Umweltschutz sowie zu
Mehrkosten für die Verbraucher und Verbraucherinnen.
Die Fraktion Die Linke hat deshalb seinerzeit gegen die
Abschaffung des Schornsteinfegerprivilegs gestimmt. An
dieser Position halten wir nach wie vor fest.

Da Schornsteinfeger durch die Abschaffung des
Schornsteinfegerprivilegs hinsichtlich ihrer Markt-
bedingungen jetzt mit anderen selbstständigen Hand-
werkern gleichgestellt sind, ist die rentenrechtliche
Gleichstellung folgerichtig: Auch Die Linke will alle
Berufsgruppen in die gesetzliche Rentenversicherung
einbeziehen und diese zu einer solidarischen Erwerbstä-
tigenversicherung ausbauen, um so gleiche Bedingun-
gen für alle zu schaffen.

Zugleich bin ich hocherfreut, dass es dem Bundes-
arbeitsministerium gelungen ist, einen Gesetzentwurf
vorzulegen, ohne auf die Beratertätigkeit der Beratungs-
gesellschaft McKinsey zurückgreifen zu müssen. Ich er-
innere daran, dass im Mai dieses Jahres bekannt wurde,
dass Ihr Ministerium, Frau von der Leyen, eine Mach-
barkeitsstudie zur Einbeziehung von Selbstständigen in
die gesetzliche Rentenversicherung in Auftrag gegeben
hatte. Kostenpunkt: stattliche 1 Million Euro. Begründet
wurde der aus Steuergeldern finanzierte Privatauftrag
damit, dass im Ministerium die notwendigen Kenntnisse
im Detail nicht vorhanden seien. Ich bin gespannt, ob
Frau von der Leyen vorhat, nach Beendigung ihrer
Ministertätigkeit im nächsten Jahr gut dotierte Vorträge
bei McKinsey zu halten.

Umso bemerkenswerter ist es, dass der Frau Ministe-
rin in ihrem Hause scheinbar doch noch ein paar fähige

Zu Protokoll gegebene Reden





Klaus Ernst


(A) (C)



(D)(B)


Mitarbeiter zur Verfügung stehen, die in der Lage sind,
ein Gesetz ohne millionenteure Beraterverträge zu-
stande zu bekommen. Mit dem hier nun vorliegenden
Gesetz beweisen sie zugleich, dass es möglich ist, einen
Systemwechsel in der Altersvorsorge zugunsten der ge-
setzlichen Rentenversicherung zu organisieren.

Frau Ministerin von der Leyen, ich erwarte, dass Sie
jetzt endlich ein tragfähiges Konzept zur Einbeziehung
aller Selbstständigen in die gesetzliche Rentenversiche-
rung vorlegen. Wenn Sie dabei ohne millionenschwere
Beraterverträge auskommen, umso besser.


(BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich möchte zunächst die Bundesregierung loben: Sie
hat es geschafft, rechtzeitig einen Gesetzentwurf für die
Neuregelung für Bezirksschornsteinfeger vorzulegen.
Bis Ende des Jahres muss eine Neuregelung vorliegen.
Und das wird jetzt geschafft. Ich möchte die Bundesre-
gierung auch loben, dass sie eine Lösung innerhalb der
Rentenversicherung gesucht hat. Wir begrüßen eine
vollständige Eingliederung der Bezirksschornsteinfeger
in die Rentenversicherung und eine Auflösung des Be-
rufsversorgungswerkes. Ich muss jedoch hinzufügen:
Die Art der Eingliederung ist überhaupt nicht zufrieden-
stellend.

Ich bekomme immer wieder den Eindruck, dass die
Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen mit
gespaltener Zunge sprechen. Einerseits werden bei der
von der Bundesministerin für Arbeit und Soziales vorge-
schlagenen Zuschussrente kontinuierliche Beitragsbio-
grafien verlangt und zur Norm erhoben, auf der anderen
Seite reißt sie neue Lücken in unsere Altersvorsorge und
damit in die Rentenbiografien der Menschen. Auf der ei-
nen Seite will die Bundesregierung die bisher nicht
pflichtversicherten Selbstständigen pflichtversichern,
auf der anderen Seite entlässt sie bisher pflichtversi-
cherte Selbstständige aus der Versicherungspflicht. Das
ist ein Zickzackkurs und keine klare Vision und Zielvor-
gabe für die Weiterentwicklung unserer Alterssicherung.

Worum geht es? Die Bezirksschornsteinfeger sollen
in die gesetzliche Rentenversicherung eingegliedert
werden. So weit, so gut. Gleichzeitig sollen jedoch die
Bezirksschornsteinfeger die Möglichkeit erhalten, nach
18 Jahren mit Versicherungsbeiträgen aus der gesetzli-
chen Rentenversicherung auszutreten. Die Folge davon
ist, dass man den Bürgerinnen und Bürgern bei Eintritt
eines nicht abgesicherten Risikofalles sagen wird: Sel-
ber schuld! Was passiert denn, wenn ein Bezirksschorn-
steinfeger aus der gesetzlichen Rentenversicherung aus-
getreten ist, weil er dachte, da spare ich mir doch die
monatlichen Beiträge, und dann Rückenprobleme be-
kommt und eine Reha bräuchte? Die Rentenversiche-
rung zahlt dann jedenfalls nicht. Was passiert denn,
wenn ein Bezirksschornsteinfeger nach seinem Austritt
aus der Rentenversicherung eine Erwerbsminderung er-
leidet? Er wird ein Sozialfall; denn auf die Erwerbsmin-
derungsrente der gesetzlichen Rentenversicherung hat
er den Anspruch verloren.

Wiederholt hat diese Bundesregierung Lücken in die
Altersvorsorge gerissen. Sie hat die Rentenbeiträge für
Arbeitslose gestrichen. Jetzt wiederholt sie den Fehler
bei der Befristung der Versicherungspflicht für Bezirks-
schornsteinfeger.

Unsere Zielrichtung ist eine andere. Wir haben eine
Vision, eine Zielrichtung für die Weiterentwicklung der
Rentenversicherung: die Bürgerversicherung. Wir sind
der Überzeugung, dass wir die kontinuierliche Vorsorge
von allen Menschen während der Erwerbsphase brau-
chen, nicht nur für das Alterseinkommen, sondern auch
für den Fall der Erwerbsminderung und bei Rehabedar-
fen.

Wir sind der Überzeugung, dass eine gesetzliche Ren-
tenversicherung, die alle einbezieht, Ausdruck einer soli-
darischen und inklusiven Gesellschaft ist. Wir sind der
Überzeugung, dass es auch eine Frage der ökonomi-
schen Vernunft ist, dass in der Alterssicherung alle, die
sich in der gleichen wirtschaftlichen Situation befinden,
gleich behandelt werden. Der heute existierende gesetzge-
berische Flickenteppich, der eher willkürlich und unsyste-
matisch bestimmte Gruppen von Selbstständigen in die ge-
setzliche Rentenversicherung einbezieht und andere
freistellt, ist allenfalls historisch, nicht aber systematisch
zu begründen und führt zu erheblichen Problemen der
rechtlichen Gleichbehandlung und zu ökonomischen
Fehlanreizen.

Schritte in Richtung einer Bürgerversicherung sind
dringend notwendig. Nur so kann unsere Alterssicherung
dem Anspruch, eine solidarische Alterssicherung zu
sein, gerecht werden. Deswegen haben wir in dieser Le-
gislaturperiode einen Antrag auf die Wiedereinführung
von Mindestrentenbeiträgen für Arbeitslose gestellt.
Und deswegen wollen wir die kontinuierliche Versiche-
rung von bisher nicht pflichtversicherten Selbstständi-
gen in der Rentenversicherung. Und deswegen werden
wir den vorliegenden Gesetzentwurf ablehnen. Wir
schlagen erste, ganz konkrete Schritte hin zu einer Bür-
gerversicherung vor. Die Bundesregierung hingegen
reißt neue Lücken in die Versicherungsbiografien.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720131600

Damit kommen wir zur Abstimmung. Der Ausschuss

für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/11185, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksachen 17/10749
und 17/10962 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf so zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Bera-
tung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
Fraktion Die Linke gegen die Stimmen der Grünen bei
Enthaltung der SPD angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist mit den Stimmen der CDU/CSU, FDP und Lin-





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


ken gegen die Stimmen der Grünen bei Enthaltung der
SPD angenommen.

Tagesordnungspunkt 25:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dorothea Steiner, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Wertstoffsammlung verbessern – Mehr Res-
sourcen aus Abfällen zurückgewinnen

– Drucksache 17/11161 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

Die Reden sind auch hier, wie in der Tagesordnung
ausgewiesen, zu Protokoll genommen.


Michael Brand (CDU):
Rede ID: ID1720131700

Ein Antrag zur Unzeit ist es, weil doch alle Beteilig-

ten wissen, dass der neue Bundesumweltminister mit ei-
nem durchaus innovativen Verfahren die Öffentlichkeit
und die Fachleute dazu eingeladen hatte, sich bis Ende
August an einem sehr transparent gestalteten Fachaus-
tausch im Internet zu beteiligen. Dieses Angebot von
Bundesminister Altmaier wurde in hervorragender
Weise angenommen.

Über diese Internetkonsultation hinaus haben natür-
lich alle Seiten den Minister, andere Minister, das BMU,
das Bundeskanzleramt, die EU, die Bundesländer und
auch uns als Abgeordnete kontinuierlich mit ihren jewei-
ligen Vorstellungen vertraut gemacht. Wir als Abgeord-
nete sind seit langem und in dieser Phase besonders in-
tensiv im Gespräch mit Beteiligten auf allen Ebenen.

Der Minister selbst hat während und nach Ende der
öffentlichen Konsultation mit den Koalitionsfraktionen,
mit den Ländern und mit vielen Beteiligten fundierte Ge-
spräche geführt, um in offener Weise alle Möglichkeiten
für eine optimale Regelung zur Einführung eines Wert-
stoffgesetzes auszuloten.

Wir sind also, das kann man fast „anfassen“, mitten
im Konsultationsprozess für einen möglichen Kompro-
miss mit den Beteiligten. Wenn man das mit Händen
greifen kann, dann sollten auch die Kolleginnen und
Kollegen von den Grünen begreifen, dass eine solche
Phase nicht der optimale Zeitpunkt ist, mit einseitigen
Festlegungen den Bundestag als Gesetzgeber festlegen
zu wollen, und damit mögliche Kompromisse, zum Bei-
spiel mit den im Vollzug wichtigen Bundesländern und
den Kommunen wie der privaten Recyclingwirtschaft,
unmöglich zu machen Solche Festlegungen sind so un-
geeignet wie der Versuch einzelner selbst Berufener, die
sich als Bote für die Papiere und die Interessen Dritter
aufmachen. Wir werden schon auf einem geordneten
Verfahren und der sorgfältigen Berücksichtigung der
verschiedenen Positionen bestehen müssen. Dies ist der
Weg, den Bundesumweltminister Altmaier eingeschla-
gen hat, und es ist genau der richtige Weg.

Es wäre vielleicht verdienstvoller und effektiver für
die weitere Verbesserung der Wertstofferfassung und für
den Weg in eine ressourcenschonende Kreislaufwirt-
schaft, wenn die Grünen mit den Parteifreunden und
Parteifreundinnen in den Ländern dafür sorgen würden,
dass wir uns bei der Wertstoffsammlung nicht schon wie-
der so lange im Kreise drehen müssen wie beim Kreis-
laufwirtschaftsgesetz: wir alle haben in schlechter Erin-
nerung, dass die dort gefundenen Kompromisse
zwischen Bund, Kommunen und privater Recyclingwirt-
schaft von der Länderseite zerlegt wurden. Im Ergebnis
haben wir in mühsamen Verhandlungen ein Gesetz er-
halten, dass die vorherige Balance nicht mehr beachtet
und das nun vor der EU-Kommission rechtlich angegrif-
fen wird. Natürlich setzen wir darauf, dass dieses Gesetz
europarechtlich Bestand hat; dennoch sind wir alle mit-
einander klug beraten, wenn wir beim Wertstoffgesetz
nicht in das nächste „tote Rennen“ um Kompromisse ge-
hen, die am Ende nicht halten, weil manche ihre gegebe-
nen Zusagen nicht halten.

In der Sache wäre in Bezug auf den Antrag viel zu
kommentieren. Vieles ist sicher konsensfähig, aber eini-
ges nicht. Ich will hier nicht in die Erörterung eintreten,
ob die Wertstoffsammlung vor Ort in kommunaler, dua-
ler oder privater Trägerschaft erfolgen soll. Auch kann
die sicher notwendige Höherwertigkeit der stofflichen
Verwertung und die Priorisierung der Vermeidung von
Abfällen auf verschiedenen Wegen erreicht werden; hier
hat der Antrag erkennbar nicht den besten Weg vorge-
zeichnet.

Zur Konstruktion der Rückführung von Wertstoffen
aus Elektro- und Elektonikschrott weist der Antrag ei-
nerseits Lücken auf und macht an anderer Stelle falsche
Vorgaben. Die Zukunft der Verpackungsverordnung, so
viel scheint gesichert, ist die, dass sie hoffentlich bald
Vergangenheit ist. Kaum eine Verordnung hat eine sol-
che, teils unselige Tradition, verschiedenste, umstrittene
Inhalte, eine kaum gesicherte Datenbasis ganz zu
schweigen von Schlupflöchern und deren Ausnutzung
und von mangelndem Schutz der eigentlich zu wahren-
den Ziele, wie zum Beispiel der Mehrwegquote oder der
stofflichen Verwertung. Für Verbraucher, Produzenten,
Recycler und auch für die politisch Verantwortlichen ist
die Verpackungsverordnung wahrlich keine vergnü-
gungssteuerpflichtige Veranstaltung. Es ist oftmals ein
Hauen und Stechen, und dies oftmals hinter den Kulis-
sen. Hier kann uns der neu aufgesetzte, transparente
Prozess des Bundesumweltministers nur helfen.

Wir wollen die Produktverantwortung als Element für
die Verankerung des Verursacherprinzips verankert se-
hen, und wir wollen den Missbrauch der Verpackungs-
entsorgung auf den verschiedensten Ebenen beendet se-
hen. Wir wollen auch den Kampf um Kampfbegriffe wie
„Fehlwürfe“, „Trittbrettfahrer“ und andere durch eine
solide Validierung von Daten ersetzen. Wir wollen die
Systemfrage ohne Scheuklappen stellen und das beste
System zur Wertstofferfassung der Zukunft etablieren –
hier darf es keine Denkverbote, keine Erbhöfe und auch
keine Ideologie geben. Es zählt der Beitrag zur Ressour-
censchonung, und es zählt das für die Umwelt effizien-
teste System. Welche Art von Ausschreibung von wie vie-





Michael Brand


(A) (C)



(D)(B)


len Teilnehmern, ob mit oder ohne zentrale oder
gemeinsame Stelle oder dezentraler Ausschreibung ohne
oder mit kommunaler Beteiligung mit oder ohne In-
house-Vergaben – das alles sind Fragen für eine fachli-
che Erörterung, die wir derzeit durchführen.

Was wir nicht wollen, das ist ein falsch angelegtes
Beratungsverfahren mit schlechter Analyse und falschen
Ergebnissen. Deswegen lehnen wir als CDU/CSU die-
sen Antrag ebenso ab wie die vielen Versuche, uns vor
dem Ende der Konsultationen des Bundesumweltminis-
ters schon vorprogrammieren zu wollen. Wir stehen ver-
nünftigen Vorschlägen unvoreingenommen gegenüber.
Alte Vorschläge in neuer Verpackung sind dann nicht
ratsam, wenn mangelnde Transparenz nur die Eigenin-
teressen verdecken soll. Alle bleiben eingeladen, sich bei
den laufenden Beratungen einzubringen. Bundesminis-
ter Altmaier wird zu gegebener Zeit seine Schlussfolge-
rungen mit den Betroffenen und innerhalb wie außer-
halb der Koalition erörtern. Wir hoffen auf einen
belastbaren Kompromiss zwischen Kommunen, Privat-
wirtschaft, Bund und Ländern. Das alles muss einem
Ziel dienen: einer effizienten, ressourcenschonenden Lö-
sung. Vorfestlegungen wie dieser Grünen-Antrag helfen
da wenig: die Kompromissfähigkeit von Rot und Grün in
den kommenden Wochen entscheidet mit darüber, ob wir
eine solche Lösung erreichen, oder ob sie diese blockie-
ren, zulasten der Umwelt. Wir bleiben erwartungsvoll
gespannt.


Gerd Bollmann (SPD):
Rede ID: ID1720131800

Ich begrüße, dass die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-

nen einen Antrag zur Wertstoffsammlung vorgelegt ha-
ben.

Um es gleich vorweg zu sagen: Die SPD ist für eine
einheitliche Wertstofferfassung. Wir sind für eine Stär-
kung des vorrangigen Ziels der Abfallvermeidung.

Wir sind für einheitliche Regelungen für die Wert-
stoffsammlung und deren Anwendung auch für haus-
müllähnliche Gewerbesammlungen.

Wir sind für höhere Recyclingquoten ebenso, wie wir
für zusätzliche Maßnahmen zur Stärkung des Mehrweg-
anteils bei Getränkeverpackungen sind.

Sie merken, dass wir in vielen Punkten mit den Forde-
rungen meiner grünen Kolleginnen und Kollegen über-
einstimmen. Lassen Sie mich daher einige grundsätzli-
che Ausführungen zu einem möglichen Wertstoffgesetz
und zur Verpackungsverordnung machen.

Die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen for-
dert völlig zu Recht die zeitnahe Einführung der Wert-
stoffsammlung. Bereits in der letzten Novelle der Verpa-
ckungsverordnung wurde das Thema problematisiert.
Wir hatten damals durchgesetzt, dass die freiwillige Ein-
führung einer Wertstofftonne und Probeversuche mög-
lich wurden.

Außerdem wurden Gutachten über Inhalt und Ausge-
staltung einer Wertstofferfassung in Auftrag gegeben.
Union und FDP haben in ihrer Koalitionsvereinbarung
ein Wertstoffgesetz vereinbart. Das Bundesumweltminis-

terium hat seit Beginn der Legislaturperiode verspro-
chen, noch in dieser Periode ein Wertstoffgesetz zur
Fortentwicklung der Verpackungsverordnung vorzule-
gen. Bundesumweltminister Peter Altmaier hat in sei-
nem Zehn-Punkte-Programm die Weiterentwicklung der
Verpackungsverordnung zu einem Wertstoffgesetz als ei-
nes seiner Ziele für den Rest der Legislaturperiode an-
gekündigt.

Wenn alle – Union, FDP, Grüne, SPD, Linke, BMU,
Wirtschafts- und Kommunalverbände, Umwelt- und Ver-
braucherverbände – für eine einheitliche Wertstofferfas-
sung sind, und dies seit vielen Jahren, dann stellt sich
die Frage: Warum haben wir noch kein Wertstoffgesetz?
Warum gibt es keinen Gesetzentwurf des BMU? Die Ant-
wort ist klar: Es war und ist das gleiche Problem wie
beim Kreislaufwirtschaftsgesetz – die unterschiedlichen
Auffassungen innerhalb der Regierung bezüglich der
Zuständigkeit für die Hausmüllentsorgung. Teile der Re-
gierungskoalition und Teile der privaten Entsorgungs-
wirtschaft wollen ein Wertstoffgesetz nutzen, um die
Hausmüllentsorgung weiter zu privatisieren.

Die Hausmüllentsorgung, die Sammlung und Verwer-
tung von Siedlungsabfällen, ist ein wesentlicher Be-
standteil der Daseinsvorsorge. Für uns Sozialdemokra-
ten ist eines ganz klar: Die Hausmüllentsorgung
unterliegt der kommunalen Verantwortung und Zustän-
digkeit. Dies gilt auch für die Wertstofferfassung. Wir
sind für die einheitliche Wertstofferfassung, aber in
kommunaler Zuständigkeit.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, insbesondere von
der FDP, Sie sind bereits beim Kreislaufwirtschaftsge-
setz mit dem Versuch einer weiteren Privatisierung ge-
scheitert. Akzeptieren Sie das! Inzwischen sind selbst
Teile der privaten Entsorgungswirtschaft und große
Teile der Union für die kommunale Zuständigkeit bei ei-
ner einheitlichen Wertstofferfassung.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP,
wenn Sie Ihren internen Streit über Zuständigkeiten in
der Abfallwirtschaft beilegen, dann gibt es eine gute
Möglichkeit, zügig ein Wertstoffgesetz zu verabschieden.

Dafür ist allerdings auch ein weiteres Eingeständnis
vonnöten. Immer wieder lese ich, auch im 10-Punkte-
Programm von Herrn Altmaier und im Thesenpapier des
BMU, die Verpackungsverordnung sei ein Erfolg. So
heißt es in dem Thesenpapier – ich zitiere –: „Mit der
Einbeziehung der produzierenden Wirtschaft in die Ent-
sorgungslast zielt der Verordnungsgeber auf eine Inter-
nalisierung der Entsorgungskosten und daraus resultie-
rende Anreize zur Verpackungsvermeidung sowie zum
Einsatz verwertungsfreundlicher Verpackungen. Die
Strategie war erfolgreich: so ist es seit 1991 nicht nur
gelungen, die Entwicklung der Verpackungsmenge vom
allgemeinen Wirtschaftswachstum zu entkoppeln.“ So
weit das Thesenpapier.

Ja, die Verpackungsverordnung hat Erfolge erzielt.
Erstmals wurden Hersteller finanziell an der Entsor-
gung für ihre Produkte beteiligt. Die Getrenntsammlung
im Haushalt hat sich durchgesetzt. Die Recyclingquoten

Zu Protokoll gegebene Reden





Gerd Bollmann


(A) (C)



(D)(B)


sind stark angestiegen, und eine leistungsfähige Recy-
clingindustrie ist entstanden.

Aber schauen wir doch einmal genauer hin. In dem
alten und im neuen Kreislaufwirtschaftsgesetz, in der al-
ten und neuen europäischen Abfallrahmenrichtlinie
steht die Abfallvermeidung an oberster Stelle der Abfall-
hierarchie. Und, ist es gelungen, die Zahl der Verpa-
ckungsabfälle zu senken? Nein.

Nach einem kurzen Rückgang in den 90er-Jahren
stieg die Verbrauchsmenge an Verpackungsmaterialien,
insbesondere bei Kunststoff. Die Gesamtmenge an Ver-
packungen lag 2010 um fast 400 Kilotonnen höher als
1991, Tendenz steigend. Ebenso ist die Mehrwegquote
eingebrochen. Dies liegt daran, dass Abfallvermeidung
als oberstes Ziel zwar im Gesetz steht, aber nicht in der
Realität.

Die Entsorgungswirtschaft lebt davon, dass die
Menge der von ihr zu entsorgenden Abfälle wächst. Ab-
fallvermeidung ist nicht ihr Ziel, kann es nicht sein.
Auch der Anreiz für die Hersteller, die Zahl der Ver-
kaufsverpackungen zu verringern, sinkt bei billiger wer-
denden Lizenzgebühren.

Wenn wir es ernst meinen mit der Abfallvermeidung,
dann kann eine „einfache“ Fortführung der Verpa-
ckungsverordnung mit Ausweitung des Systems auf stoff-
gleiche Nichtverpackungen kein zielführendes Konzept
sein.

Betrachten wir weiter die angeblichen Erfolge der
Verpackungsverordnung. So heißt es unter anderem von-
seiten der Bundesregierung: „Ausgehend von den Er-
fahrungen mit der Verpackungsverordnung hat sich der
Wettbewerb mehrerer Anbieter von Erfassungs- und Ver-
wertungsleistungen als effektives Mittel zur Kostensen-
kung und zur Etablierung effizienter Strukturen erwie-
sen.“

Diese Aussage des BMU – ähnliche Äußerungen gibt
es von der FDP und aus der privaten Wirtschaft – ist
reine Ideologie. Sie stimmt nicht mit den Fakten überein.
Sicherlich, vor allem durch Lohndumping, sind Lizenz-
gebühren für die Hersteller gesunken. Aber ist der ge-
samtwirtschaftliche Aufwand „günstiger“ geworden?
Es gibt mehrere Gutachten, die dies verneinen. Jüngst
hat noch das Hamburger Weltwirtschaftsinstitut allein
die mit der Komplexität verbundenen Verwaltungskosten
für alle Beteiligten auf 168 Millionen Euro pro Jahr ge-
schätzt. Ein komplexer, kaum nachzuvollziehender Ver-
waltungsaufwand, doppelte Strukturen bei der Erfas-
sung und langwierige Verhandlungen zwischen allen
Beteiligten. Will angesichts dieser Zustände wirklich je-
mand von einem kostengünstigen System im volkswirt-
schaftlichen Sinn sprechen? Und darüber hinaus auch
noch von einem effizienten System? Ein System, in dem
aufgrund der Trittbrettfahrerproblematik niemand – ich
betone: niemand – wirklich weiß, wie viel Verpackungen
lizenziert und verwertet werden. Ein System, in dem die
Angaben der lizenzierten Verpackungsmenge bei den
dualen Systemen ständig schwanken. Ein System, in dem
die dualen Systeme untereinander sich Lug und Betrug
vorwerfen und gegenseitig verklagen. Ein System, in

dem es trotz zahlreicher Änderungen und Korrekturver-
suche zahlreiche Schlupflöcher gibt. Ein System, dessen
Vollzug vor allem durch eine riesige Anzahl von Ge-
richtsverfahren gekennzeichnet ist: ÖRE gegen duale
Systeme, duale Systeme untereinander, ÖRE gegen pri-
vate Entsorger, private Entsorger gegen duale Systeme
usw.

Ja, dieses System ist effizient – für die sich mit Abfall-
recht befassenden Rechtsanwaltskanzleien. Für sie ist
die wettbewerbsorientierte Verpackungsverordnung eine
Goldgrube.

Meine Damen und Herren von Union und FDP, es
reicht nicht aus, die jetzige Verpackungsverordnung auf
stoffgleiche Nichtverpackungen auszudehnen und einige
kleinere Veränderungen, wie die Einführung einer zen-
tralen Stelle, vorzunehmen. Damit sind die Fehler der
jetzigen Verordnung – kaum Abfallvermeidung, undurch-
sichtiger Vollzug, hoher bürokratischer Aufwand und ge-
ringe stoffliche Verwertung – nicht aufgehoben.

Auch immer größere Teile der Privatwirtschaft stehen
dem jetzigen System der Verpackungsverordnung skep-
tisch gegenüber. Bereits im Januar 2010 haben kom-
munale Spitzenverbände, VKU und der bvse ein ge-
meinsames Positionspapier vorgelegt. Darin wird eine
Weiterentwicklung der Verpackungsverordnung zur
Wertstofferfassung unter kommunaler Zuständigkeit bei
gleichzeitigem Erhalt des Wettbewerbs aufgezeigt. Diese
Vorschläge wurden in den letzten Jahren, zum Beispiel
durch Berücksichtigung eines Standardkostenmodells,
weiterentwickelt – allerdings nicht von der Bundesregie-
rung. Die Vorschläge des BMU orientierten sich immer
am derzeitigen Wettbewerbsmodell.

Dieses sture Festhalten an einem fehlerhaften System
bringt uns nicht weiter. Wir Sozialdemokraten sind nicht
gegen Wettbewerb. So, wie der Wettbewerb durch die
jetzige Verpackungsverordnung jedoch organisiert ist,
ist er volkswirtschaftlich schädlich. Ökologische Ver-
besserungen, mehr Ressourcenschutz und mehr Abfall-
vermeidung sind damit nicht zu erreichen.


Horst Meierhofer (FDP):
Rede ID: ID1720131900

Die Grünen zeigen mit diesem Antrag die künftige

Zielstellung auf. Leider sind die Umsetzungsvorschläge
zum Teil naiv – nicht nur, dass diese wirkungslos wären,
sie würden die Zielerreichung noch erschweren.

Wenn man den Antrag zum ersten Mal liest, gerät
man in Versuchung, den sich hübsch anhörenden Vor-
schlägen Glauben zu schenken. Wenn man dagegen den
Versuch unternimmt, die Vorschläge rechts- und umwelt-
politisch nachzuvollziehen, offenbaren sich innere
Widersprüche. Und diese sind so groß, dass alle gutge-
meinten Ziele des Antrags verfehlt werden würden.

Die Grünen stellen für ein Wertstoffgesetz eine Vorbe-
dingung: „Die Sammlung und Verwertung von Sied-
lungsabfällen ist ein wesentlicher Bestandteil der
Daseinsvorsorge und unterliegt der kommunalen Ver-
antwortung.“ Erst daran anschließend werden weitere,
vornehmlich ökologische Bedingungen aufgestellt.

Zu Protokoll gegebene Reden





Horst Meierhofer


(A) (C)



(D)(B)


Mit der identischen Grundbedingung einer Vollkom-
munalisierung ist Rot-Grün auch beim Kreislaufwirt-
schaftsgesetz in die Bundesratsverhandlungen gegan-
gen. Die Grünen haben dafür neben der beabsichtigen
Schwächung der privaten Wirtschaft auch den Kollate-
ralschaden umweltunfreundlicherer Regelungen in Kauf
genommen. Offenkundig haben die Grünen aus ihren
Fehlern nicht gelernt und lassen sich in ihren politi-
schen Entscheidungen nach wie vor von einer lautstar-
ken und polemischen Minderheit beeinflussen. Die mo-
derateren Töne der Mehrzahl der Kommunen bleiben
dabei ungehört.

Eine generelle und ausnahmslose Zuweisung der
Sammlung, Verwertung und Aufbereitung an die Kom-
munen hätte eine verheerende Wirkung für die Kreislauf-
wirtschaft und widerspricht selbst der kommunalen Be-
schlusslage. Warum? Im Unterschied zur Sammlung von
Abfällen und Rohstoffen – seit jeher ein klassisches Be-
tätigungsfeld der Kommunen – besteht im Bereich der
Verwertung und Aufbereitung von Wertstoffen auf kom-
munaler Seite nur eine geringe Expertise. Fast die ge-
samte Wertschöpfungskette, die sich an die Sammlung
anschließt, wird von einem breiten Mittelstand und eini-
gen größeren Unternehmen durchgeführt. Die Fortent-
wicklung der eingesetzten Technologien geht zum größ-
ten Teil auf Entwicklungen der letzten zwanzig Jahre
zurück, in denen innovative und kreative Unternehmen
Umwelttechnologien geschaffen haben, die zum Export-
schlager geworden sind und die heutigen Recyclingzah-
len überhaupt erst möglich machen.

Wenn die Grünen jetzt auf die Idee kommen, die Ver-
nichtungsstrategie der privaten Kreislaufwirtschaft auf
die Spitze zu treiben, dann sollten sie wenigstens so ehr-
lich sein, den Wissens- und Technologieverlust – und da-
mit einhergehenden ökologischen Nachteil – ehrlich und
offen einzugestehen.

Dass die Bedeutung der Privatwirtschaft am Recy-
cling nicht kleingeredet werden kann, will ich Ihnen
dazu anhand von einigen einfachen Zahlenbeispielen er-
läutern: Bevor der Verpackungsbereich 1991 privati-
siert worden war, lagen die Verwertungsquoten bei circa
53,7 Prozent für Glas, 28 Prozent für Papier und Karton
und 3,1 Prozent für Kunststoff. 20 Jahre später liegen
diese Zahlen bei 87,2 Prozent für Glas, 85 Prozent für
Papier und Karton und 90,3 Prozent für Kunststoff.

Dass eine große Bedeutung der Privatwirtschaft für
die Kreislaufwirtschaft besteht, soll nicht schmälern,
dass auch die kommunale Leistung eine entsprechende
Würdigung erfährt. Nur muss klar sein, dass gesetzliche
Lösungen die Fähigkeiten und Möglichkeiten beider Sei-
ten berücksichtigen sollten und faire und ausgewogene
Rahmenbedingungen die Grundlage für eine Weiterent-
wicklung der Kreislaufwirtschaft sind.

Die Grünen glauben, alleine mit ökologischen Len-
kungsvorgaben diesen Nachteil wettzumachen. Festle-
gung von Quoten, Mindestanforderung, neue Statistiken,
Weiterentwicklung der Pfandregelungen usw. Nur über-
sehen sie dabei leider, dass mit der Grundvorgabe, Inno-
vationen und neue Technologien wegzudrücken, alle
diese Festlegungen zu bloßen Hüllen verkommen.

Hinzu kommt ein weiterer Aspekt: Wir haben bereits
jetzt in den abfallrechtlichen Vorschriften ein Problem
mit zu vielen unklaren – und sich teilweise widerspre-
chenden – Vorschriften. In den Bundesländern sind die
Vollzugsbehörden aufgrund wirtschaftlicher Schwierig-
keiten personell meist unterbesetzt. Anstatt das Dickicht
auf die maßgeblichen Vorschriften herunterzufahren und
auch unter Berücksichtigung des Gleichbehandlungsge-
bots darauf zu achten, vollziehbare Vorschriften herzu-
stellen, setzt der Antrag der Grünen einen falschen
Schwerpunkt durch eine unausgewogene und unkoordi-
nierte Vorschriftenflut.

Das bedeutet nicht, dass jeder einzelne Vorschlag an
der Sache vorbeigeht: Die Forderung nach einer deutli-
chen Anhebung der Recylingquoten wird von uns bei-
spielsweise geteilt. Dies gründet darauf, dass zu viele
der recyclingfähigen Mischkunststoffe in Sortieranlagen
auf direktem Weg in die Verbrennung gehen und der
größte Teil der Verwertungsquoten mittlerweile pro-
blemlos erfüllbar ist.

Wir wollen die Fortentwicklung des rechtlichen Rah-
mens zu einem Wertstoffgesetz. Das ist für uns keine
Frage. Wir haben uns im Koalitionsvertrag dafür einge-
setzt, haben gegenüber unserem Koalitionspartner im-
mer wieder darauf gedrängt und in zahlreichen Anträgen
die Festlegung auf ein Wertstoffgesetz in der Koalition
beschlossen. Wir sehen vor allem die Notwendigkeit, die
zweifelsfrei bestehenden Mängel an der Verpackungs-
verordnung zu beseitigen und die bestehenden Regelun-
gen neu und zeitgemäß zu bündeln. Auch hat eine Wert-
stofftonne gegenüber der bestehenden Sammelrealität
große Vorteile, und wir sehen dadurch auch vor allem die
Möglichkeit, dem Bürger einfach und nachvollziehbar
ein Sammelsystem zu erklären, das momentan nicht mehr
zu verstehen ist. Kunststoff und Metall in die Wertstoff-
tonne, Lebensmittel und Grünzeug in die Biotonne, Pa-
pier in die Papiertonne und der Rest in den Restmüll.

Mit dem Kreislaufwirtschaftsgesetz haben wir die Ba-
sis für dieses Projekt geschaffen. Gerne würden wir es in
dieser Legislatur abschließen. Nachdem bereits jetzt
aber klar ist, dass wir ohne die Zustimmung des Bundes-
rats kein Gesetz werden beschließen können, sind wir
auf die Kompromissbereitschaft der Opposition ange-
wiesen.

Ihr Antrag verdeutlicht, dass Sie diese Kompromiss-
bereitschaft nicht mitbringen. Wenn Sie sich unabhängig
von den Zuweisungen an Private oder Kommunen auf
eine sachliche Diskussion einlassen würden, würde ich
Ihrem Schaufensterantrag noch etwas abgewinnen kön-
nen. Mit der von Ihnen eingenommenem Hardlinerposi-
tion werden wir aber leider nicht zusammenfinden.

Sehr geehrte Damen und Herren von den Grünen, ge-
hen Sie noch einmal in sich und überlegen Sie sich
gründlich, was die Zielstellung des Wertstoffgesetzes ei-
gentlich sein muss. Wir sind der Überzeugung, dass sich
das Zitat einer Anwältin anlässlich eines Fachgesprächs
mit Beteiligung aller Fraktionen in diesem Sommer
nicht bestätigt. Die Dame, die regelmäßig kommunale
Unternehmen zum Kreislaufwirtschaftsgesetz berät, ließ
sich zu folgendem Satz hinreißen: „Die meisten kommu-

Zu Protokoll gegebene Reden





Horst Meierhofer


(A) (C)



(D)(B)


nalen Unternehmen halten Kunststoffrecycling für
Quatsch.“

Gerade den Grünen ist zu empfehlen, sich von dieser
kommunalen Minderheit zu distanzieren und offen für
parteiübergreifende Vorschläge zu sein, die für alle Be-
teiligten Wege und Möglichkeiten anhand einer sachge-
leiteten Umweltpolitik eröffnen.


Ralph Lenkert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720132000

Oma Müller sortiert ihren Müll gründlich, da gibt es

das Gefäß für alte Batterien, den gelben Sack für Verpa-
ckungen, die Tüte für Papier, den Behälter für Essens-
reste und den für Restmüll. Flaschen werden sortiert
nach Farben eingeworfen, und alte Kleidung und
Schuhe gehen zur Kleidersammlung, oder wenn die Sa-
chen zu abgenutzt sind, dann werden sie als Putzlappen
eingesetzt, um nach dieser Weiterverwendung dann im
Müll zu landen. Der neue Fernseher gab schon nach
knapp drei Jahren seinen Geist auf und wird vom Hand-
werker mitgenommen – reparieren wird teurer als ein
neues Gerät. Der vorherige Fernseher hatte zehn Jahre
gehalten, genau wie die erste Westkaffeemaschine nach
der Wende, die zwölf Jahre gute Dienste tat. Wenn sie
mit derselben Kaffeemaschine heute mehr als zwei Jahre
ihre Käffchen brühen kann, hat Oma Glück. Das ärgert
sie, denn es ist schlecht für die Umwelt, und man muss
doch sparsam sein. Wenn Oma Müller wüsste, dass ihr
mühsam getrennter Müll dann doch verbrannt wird – sie
würde es nicht verstehen.

Der Antrag unserer grünen Kollegen zeigt die Pro-
bleme auf und nennt erstrebenswerte Ziele für eine bes-
sere Abfallwirtschaft. Denen kann niemand widerspre-
chen, aber für die Linke ist das zu wenig.

Mit diesem Antrag wird nicht klar, wie verhindert
werden soll, dass 70 Prozent des gesammelten Kunst-
stoffes im Ofen landet, zwar nicht in der Müllverbren-
nungsanlage, aber eben in den Brennkammern im Ze-
mentwerk. Die Linke schlägt vor, die Mitverbrennung
von Kunststoffen zu verbieten und stattdessen die Ent-
wicklung von Produkten aus recyceltem Kunststoff zu
fördern, damit wir echtes Recycling erhalten.

Statt allgemeiner Vorgaben für Langlebigkeit und Re-
paraturfähigkeit schlägt die Linke vor, dass die Garan-
tiezeiten verlängert werden. Fünf Jahre Garantie für den
Fernseher und alle Großgeräte, aber auch für Pkw und
Möbel, drei Jahre für Elektrokleingeräte und Haushalts-
waren, zwei Jahre für Kleidung. Wir meinen Garantie
und nicht die Gewährleistung. Bei Gewährleistung steht
der Kunde vor dem Problem, dass er Produktionsfehler
beweisen muss – dies gelingt selten. Wir verlangen echte
Garantie, die den Händler verpflichtet, bei Ausfall sei-
ner Ware Reparatur, Ersatz oder Erstattung des vollen
Kaufpreises zu leisten.

Warum die Grünen das bürokratische duale System,
bei dem von 1 000 Euro Einnahmen 600 Euro in die Ver-
waltung, die Lizenzierung und als Gewinne an Aktionäre
fließen und Betrug die Regel ist, jetzt noch auf weitere
Bereiche ausdehnen wollen, erschließt sich mir nicht.
Eine bessere Erfassung von Wertstoffen gelingt für die

Linke, wenn wir erstens die dualen Systeme abschaffen
und zweitens die Lizenzgebühren in eine Verpackungs-
abgabe umwandeln. Die Verantwortung dafür liegt bei
einer zentralen Stelle, diese legt je nach Aufwand für Er-
fassung, Wiederverwendung, Entsorgung und absoluten
Ressourcenverbrauch der Verpackung die Verpackungs-
abgabe fest. Diese muss jeder Hersteller oder Händler
entrichten.

Darüber wird dann ein Erfassungs- und Verwertungs-
system in Verantwortung der Kommunen finanziert.

Drittens sollte ein Pfandsystem für Elektrogeräte ein-
geführt werden – zum Beispiel 5 Euro Pfand zahle ich
beim Erwerb meines neuen Handys, und wenn ich es
dann ein paar Jahre später beim kommunalen Wertstoff-
hof abgebe, bekomme ich die 5 Euro wieder.

Eine Ausdehnung der Pfandpflicht auf alle Getränke-
verpackungen unterstützt die Linke – nicht nur aus Wie-
derverwertungsgründen, sondern weil damit auch die
Vermüllung der Landschaft reduziert wird. Ob eine
Mehrwegverpackung in ihrer ökologischen Gesamtbi-
lanz besser ist , ist nicht immer sicher. Aber mit der von
der Linken bereits geforderten Verpackungsabgabe, die
ja nach ökologischen Gesichtspunkten festgelegt wird,
kann dann über finanzielle Anreize die umweltfreundli-
chere Verpackung preislich bevorzugt werden. Wenn
dies die Mehrwegglasflasche ist, dann haben wir sogar
noch etwas gegen die Weichmacher in Lebensmitteln er-
reicht.

Für die Linke ist die Abfallwirtschaft Bestandteil der
Verringerung des Ressourcenverbrauches und dient da-
mit dem Umweltschutz. Ein überflüssiges Produkt ist
auch bei 100 Prozent Recycling eine unnötige Umwelt-
belastung; da hilft die Recyclingquote nur, den Umwelt-
schaden einzudämmen, verhindert ihn aber nicht. Wir
fordern daher die Bundesregierung auf, sich für so ehr-
geizige Ziele der Verringerung des Rohstoffverbrauchs
einzusetzen, dass zusätzliche Quoten im Abfallrecht
überflüssig werden.

Folgen Sie unseren Vorschlägen, dann hat Oma
Müller nicht nur das Gefühl, umweltbewusst zu sein,
sondern sie ist es auch, und ganz nebenbei stellen wir si-
cher, dass auch die Enkel von Oma Müllers Enkeln noch
genügend Ressourcen und eine intakte Umwelt haben
werden.


Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720132100

Die Versorgung mit Rohstoffen zählt zu den strate-

gisch wichtigsten Themen für die deutsche Wirtschaft.
Die Industrie ist bei fast allen metallischen Rohstoffen
von Importen abhängig. Kein Laptop, kein Mobiltelefon
und keine Solarzelle kommen ohne Metalle wie Kobalt
und Platin oder Seltene Erden aus. Für eine grüne, also
eine klimaneutrale und ressourceneffiziente Ökonomie,
müssen wir nachhaltiger mit den Ressourcen der Erde
umgehen.

Wir können es täglich lesen: Der Abbau von Rohstof-
fen und die Bedingungen des Rohstoffhandels sind für
Länder mit Rohstoffreserven oft verheerend. Die Gewin-
nung der Rohstoffe zerstört Natur und Landschaft, hat

Zu Protokoll gegebene Reden





Dorothea Steiner


(A) (C)



(D)(B)


gravierende soziale Folgen und ist begleitet von Men-
schenrechtsverletzungen.

Um die Abfallpolitik umweltverträglich zu betreiben,
müssen mehr Wertstoffe als bisher zurückgewonnen und
verwertet werden. Die Wiederverwertung von Rohstof-
fen schont primäre Rohstoffquellen, vermeidet Trans-
porte über weite Strecken, verhindert die Zerstörung von
Ökosystemen durch den Abbau und spart CO2 ein.
Dieses Potenzial müssen wir entwickeln.

Mit dem Kreislaufwirtschaftsgesetz hat die Bundes-
regierung den Ressourcenschutz und die Wiederverwer-
tung von Ressourcen nicht vorangebracht. Deutschland
kann seine Importabhängigkeit und seine Abhängigkeit
vom Weltmarkt nur beschränken, wenn knappe Rohstoffe
effizient verwendet werden, sie wiederverwendet und
zum Teil durch andere Stoffe ersetzt werden.

Klar ist: Wir müssen mehr Wertstoffe sammeln und
sie wiederverwerten, statt sie in Abfalltonnen oder
Schubladen und Schränken verrotten zu lassen. Will man
echte Kreislaufwirtschaft, muss man die Rahmenbedin-
gungen verändern. Die Recyclingwirtschaft braucht
bessere Bedingungen und mehr Material, um mehr wie-
derzuverwerten und einen größeren Beitrag zum Schutz
von Umwelt und Ressourcen zu leisten. Es kann nicht
angehen, dass manche Kunststoffe nicht recycelt
werden, weil die Entsorgung über die Müllverbrennung
billiger ist. Das ist eine wahre Verschwendung.

Der Bundesumweltminister hat noch im Sommer in
seinem Zehn-Punkte-Programm angekündigt, im zwei-
ten Halbjahr 2012 einen Gesetzentwurf vorzulegen.
Dieser sollte die Wertstoffsammlung verbessern. Von
einem Gesetzentwurf ist weit und breit aber nichts zu
sehen. Bisher gibt es nur große Ankündigungen, Lösun-
gen werden nicht präsentiert.

Der Grünen-Antrag „Wertstoffsammlung verbes-
sern – Mehr Ressourcen aus Abfällen zurückgewinnen“
formuliert die Ansätze, um die Abfallpolitik hin zu mehr
Ressourcenschutz weiterzuentwickeln. Wir brauchen
klare Vorgaben und Regeln für die gesamte Abfallwirt-
schaft.

Ein Aspekt sind größere Anstrengungen bei der Ab-
fallvermeidung. Müll, der nicht entsteht, schont Umwelt
und Klima. Eine eigene Studie des Bundesumweltminis-
teriums hat die Klimaschutzpotenziale in der Abfallwirt-
schaft beindruckend belegt. Der Bundesumweltminister
bleibt untätig – eine echte Fehlleistung.

Wir Grüne fordern die flächendeckende Einführung
einer Wertstofferfassung. Notwendig sind bundesweit
einheitliche Regeln, wie Wertstoffe im Hausmüll sortiert
und gesammelt werden. Das bunte Nebeneinander
unterschiedlicher Sammelsysteme ist verwirrend für
Verbraucherinnen und Verbraucher. Das führt nicht zum
Erfolg. Wir brauchen hohe und strikte Recyclingquoten,
orientiert an der jeweils besten vorangegangenen Ver-
wertungsleistung. Können Sie, werte Kolleginnen und
Kollegen von den Regierungsfraktionen, uns erklären,
warum die Sammel- und Verwertungsziele nur für den
Hausmüll gelten sollen, aber nicht für den Gewerbe-
abfall?

Ich komme jetzt zu einem besonderen Aspekt, zur
Verpackungsverordnung und den Getränkeverpackun-
gen. Ein Mehrweganteil von 80 Prozent ist das festge-
schriebene Ziel der Regierung. Dieses wird seit Jahren
verfehlt. Letzte Woche wurde dem Bundeskabinett mitge-
teilt, dass der Anteil von Mehrwegflaschen inzwischen
auf 50 Prozent gefallen ist – Tendenz weiter sinkend.
Der Fehlentwicklung muss gegengesteuert werden. Wir
brauchen größere Anstrengungen als bisher, um die
Mehrwegquote wieder zu steigern. Ein Nebeneinander
von Einweg, Mehrweg, umweltschädlichen Dosen und
Ausnahmen für Fruchtsäfte machen das jetzige System
intransparent und anfällig für Betrug. Wer kann noch
verstehen, was ökologisch vorteilhaft ist und wie man
einkaufen soll? Hier werden deutlich klarere Regeln
benötigt, zum Beispiel eine Kennzeichnungspflicht.

Und für Ressourcenschutz besonders wichtig: Elek-
tronikschrott. In Europa werden lediglich 40 Prozent des
Elektronikschrotts recycelt, der Rest landet im Müll oder
wird – häufig illegal – in die Länder des Südens
verschifft. Obwohl die europäischen Länder zu den
weltgrößten Konsumenten Seltener Erden zählen, funk-
tioniert das Recycling von Seltenen Erden bisher kaum.
Unser Augenmerk liegt auf den Sammelsystemen. Wenn
mehr Elektronikschrott gesammelt wird, kann auch
effektives Recycling ermöglicht werden.

Nehmen Sie unsere Vorschläge zur Kenntnis und
arbeiten Sie damit. Wenn wir alle uns dafür einsetzen,
können wir noch in diesem Jahr ein Wertstoffgesetz
beschließen. Das wird der Umwelt nützen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720132200

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/11161 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit ein-
verstanden. Dann haben wir das so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 32 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung der Gewerbeordnung und an-
derer Gesetze

– Drucksache 17/10961 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-

(9. Ausschuss)


– Drucksache 17/11164 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Andrea Wicklein

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die
Reden zu Protokoll genommen.


Lena Strothmann (CDU):
Rede ID: ID1720132300

Seit im Dezember 2010 die Evaluierung der Spielver-

ordnung vorgelegt wurde, hat sich der Deutsche Bundes-
tag immer wieder damit befasst. In der Spielverordnung
sind die Aufstellung und Zulassung der Geldspielgeräte
geregelt. Diese findet man in Gaststätten, in Spielhallen,





Lena Strothmann


(A) (C)



(D)(B)


an Flughäfen oder auch in Spielcasinos. Da das Auto-
matenspiel leider das höchste Suchtpotenzial bietet,
steht der Jugend- und Spielerschutz im Vordergrund der
gesetzlichen Regelungen wie der Spielverordnung.

Das Bundeswirtschaftsministerium hat die Federfüh-
rung bei der Spielverordnung. Im Jahr 2006 wurde sie
letztmalig novelliert und zur Überprüfung dieser Schutz-
ziele wurde 2010 vom Bundeswirtschaftsministerium
eine Studie in Auftrag gegeben. Deren Ergebnisse zei-
gen, dass trotz der relativ engen Vorschriften und Zulas-
sungsauflagen die illegalen und unübersichtlichen
Spielabläufe bei Geldspielautomaten nicht verhindert
werden konnten. Hinzu kommt, dass dies zu hohen Aus-
gaben der Spieler führt, was in extremen Einzelfällen so-
gar in vollständiger Verschuldung endete. Diese Fehl-
entwicklungen stehen eindeutig fest. In den Bereichen
Jugendschutz, Spielerschutz und Spielsucht muss also
gegengesteuert werden. Hier ist nicht nur der Verord-
nungsgeber BMWi gefordert, sondern auch der Gesetz-
geber.

Der Handlungsbedarf aufgrund der Evaluierung der
Spielverordnung wird noch verstärkt durch die europäi-
sche Rechtsetzung und Rechtsprechung. Der Europäi-
sche Gerichtshof hat beispielsweise entschieden, dass
ein Glücksspielmonopol des Staates nur dann zulässig
ist, wenn die Spielsucht entsprechend bekämpft wird.
Der wesentliche Punkt für die Legitimität eines staat-
lichen Wettmonopols war in der europäischen Recht-
sprechung also stets der Gesichtspunkt der Kohärenz
der Maßnahmen zur Bekämpfung der Spielsucht. In
Deutschland besteht nach wie vor ein Monopol des Staates.
Das heißt, unsere in Deutschland getroffenen Maßnah-
men gegen Spielsucht müssen schlüssig sein im Verhält-
nis zum Monopol. Aber auch die Verhältnismäßigkeit
der gesetzlichen Schutzmaßnahmen wird von der EU
kontrolliert. Es wird in erster Linie abgeglichen, ob die
Dienstleistungsfreiheit, die gemäß der Dienstleistungs-
richtlinie vereinbart ist, berührt oder gar eingeschränkt
ist. Aktuell hat die EU bereits ein Vertragsverletzungs-
verfahren wegen der Verletzung der Dienstleistungsfrei-
heit eingeleitet. Begründet wird das mit Benachteiligun-
gen für bestimmte Einrichtungen. Auch hier besteht also
Handlungsbedarf.

Im Zusammenhang mit der Neuregelung des Glücks-
spielstaatsvertrages, den daraus resultierenden Rege-
lungen zu Sportwetten in Deutschland und auch den
Spielhallengesetzen wurden die europäischen Grund-
sätze bezüglich der Kohärenz noch einmal deutlich. Pro-
blematisch sind bei uns die verschiedenen Zuständigkei-
ten zwischen den Bundesländern und dem Bund. Eine
gemeinsame Linie ist dennoch erkennbar, da der Ju-
gend- und Spielerschutz gemeinsames und übergreifen-
des Ziel ist. Erste Erfolge der Spielhallengesetze, die
von den Ländern verabschiedet werden, sind bereits
messbar. Das betrifft vor allem die Dichte und Anzahl
der Spielhallen.

Auch bei den öffentlichen Anhörungen zu den Themen
Sportwetten und Spielsucht wurde deutlich, dass alle Be-
teiligten einen Handlungsbedarf sehen. Das sind also
nicht nur die Forschung und die Suchtberatung, sondern

auch die Automatenwirtschaft, welche durchaus ge-
sprächsbereit ist.

Die Zuständigkeit des Bundes erstreckt sich auf das
gewerbliche Automatenspiel, und hier kommen wir den
Ergebnissen der Evaluierung nach. Um in der Spielver-
ordnung geeignete Maßnahmen umzusetzen, sind zuvor
im Gewerberecht einige Änderungen und Ermächtigungs-
regelungen notwendig. Folgende inhaltlich schwerwie-
gende Punkte stehen im Mittelpunkt der Änderung der
Gewerbeordnung.

Der Aufsteller von Spielgeräten muss eine grundsätz-
liche Zuverlässigkeit vorweisen. Diese orientiert sich an
einer eventuellen kriminellen Vergangenheit, an direkten
Verstößen gegen das Jugendschutzgesetz und auch an
Geldwäsche, die wir auf Wunsch des Bundesrates als
Kriterium der Zuverlässigkeit einfügen.

Die antragstellenden Gewerbetreibenden müssen
auch einen Unterrichtsnachweis von der IHK erbringen.
Darin wird belegt, dass der Aufsteller und – das ist uns
sehr wichtig – auch das angestellte Personal die Rechts-
vorschriften zum Spieler- und Jugendschutz kennen.

Der Aufsteller muss außerdem über ein Sozialkonzept
einer öffentlich anerkannten Institution der Suchthilfe
verfügen. Damit soll gewährleist werden, dass das Per-
sonal hinreichend geschult ist, um gefährdete Spieler
und Spielweisen zu erkennen und darauf angemessen
reagieren zu können. Es müssen Hinweise für
Beratungsangebote für Spieler vorhanden sein, mit de-
ren Hilfe sie ihre Gefährdung einschätzen können, um
dann letztlich Angebote der Suchtberatung in Anspruch
zu nehmen.

Um den Beteiligten, zum Beispiel den Industrie- und
Handelskammern, genügend Zeit für die Umsetzung des
Angebotes zu geben, tritt dieser Teil des Gesetzes erst et-
was später in Kraft.

Außerdem wird eine Ermächtigungsgrundlage für die
Einführung einer Spielerkarte in der Spielverordnung
geschaffen. Diese Spielerkarte ist vorerst personenunge-
bunden, das heißt automatengebunden. Der Spieler
muss beim Betreten der Spielhalle eine solche Karte
beim Aufsichtspersonal erbitten und nachher zurückge-
ben. Maximal eine Karte wird ausgegeben, um das Be-
spielen mehrerer Automaten zu verhindern. Es ist kein
maximaler Spieleinsatz per Karte vorgesehen.

Die Einführung einer personengebundenen Karte,
wie sie der Bundesrat vorschlägt, wäre sicherlich zu be-
vorzugen. Das ist auch unser Ziel, für das erst jedoch
noch etliche datenschutzrechtliche und technische Fra-
gen geklärt werden müssen. Ein Schnellschuss bringt
uns hier nicht weiter. Daher ist die personenungebun-
dene Karte derzeit die beste Lösung. Eine personen-
gebundene Spielerkarte werden wir aber nicht aus den
Augen verlieren.

Wichtig ist, dass bei allen Regelungen und Verpflich-
tungen zur Sachkunde auch das Personal eingebunden
ist. Das gilt auch für die Bußgeldandrohung bei Verstö-
ßen.

Zu Protokoll gegebene Reden





Lena Strothmann


(A) (C)



(D)(B)


Ein Punkt betrifft insbesondere die Internetcafés. Bis-
lang müssen Einrichtungen, die nur Unterhaltungsspiel-
geräte ohne Gewinnmöglichkeit anbieten, die gleichen
Antragsvoraussetzungen wie Spielhallen erfüllen. Die
EU-Kommission hat das kritisiert und ein Vertragsver-
letzungsverfahren eingeleitet. Da der Jugendschutz hier
auch durch Filterprogramme und Alterskontrollen ge-
währleistet werden kann, sind die strengen Auflagen un-
verhältnismäßig. Daher wird bei diesem Gewerbe, eben
vor allem Internetcafés, die Erlaubnispflicht gestrichen.

Alles in allem sind das Elemente eines ausgewogenen
Konzeptes. Sicherlich werden die Wirkungen der Maß-
nahmen zu beobachten sein. Außerdem werden in der
Spielverordnung selbst noch weitere Verschärfungen
festgelegt. Ob zukünftig beispielsweise stringenter ge-
gen das Punktespiel vorgegangen werden muss, wird
sich zeigen. Wir wollen eine ausgewogene Mischung
zwischen dem Wunsch der erwachsenen Bevölkerung
nach Unterhaltung, einer florierenden Wirtschaft und
den Maßnahmen zur Bekämpfung der Spielsucht.


Andrea Wicklein (SPD):
Rede ID: ID1720132400

In seinem Bericht zur Evaluierung der Novelle der

Spielverordnung vom 6. Dezember 2010 hat das Bundes-
wirtschaftministerium eindeutig Handlungsbedarf bei
der Verbesserung des Spieler- und insbesondere des Ju-
gendschutzes festgestellt. Die zentrale Ursache für diese
Expansion des gewerblichen Automatenspiels ist die Lo-
ckerung der Spielverordnung im Jahre 2006.

Daher ist auch die derzeitig diskutierte Novellierung
der Spielverordnung dringend notwendig. Der vorlie-
gende Gesetzentwurf zur Änderung der Gewerbeord-
nung schafft den rechtlichen Rahmen dafür.

Fakt ist: Zwischen den Jahren 2006 und 2012 ist die
Zahl der Geldgewinnspielgeräte in Spielhallen drama-
tisch gestiegen: Die Anstiege reichen von 35 Prozent wie
beispielsweise in Thüringen bis hin zu 150 Prozent wie
in Berlin.

Fakt ist: In Deutschland gibt es rund 500 000 patho-
logische Glücksspieler. Hinzu kommen rund 800 000 so-
genannte problematische Spieler. Das macht 1,3 Millio-
nen Menschen in Deutschland, für die das Spielen an
Geldspielgeräten die Merkmale einer Sucht erfüllt.

Fakt ist ebenfalls, dass laut einer Studie der Universi-
tät Bielefeld 78 Prozent der Befragten unter 18-jährigen
Geldautomatenspieler den Jugendschutz umgehen und
somit unbehelligt spielen konnten.

Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt daher aus-
drücklich, dass die Bundesregierung in ihrem Gesetzent-
wurf zur Änderung der Gewerbeordnung von Automa-
tenaufstellern und dem damit befassten Personal die
Vorlage eines Sozialkonzepts sowie eines Unterrich-
tungsnachweises fordert. Somit soll gewährleistet wer-
den, dass dieser Personenkreis über die erforderliche
Sachkunde verfügt.

Es ist wichtig, der Suchtgefahr bei Spielerinnen und
Spielern aktiv zu begegnen und auch präventiv entge-
genzuwirken.

Daher ist es nur logisch, dass der Bericht des Bun-
deswirtschaftsministeriums neben den Punkten „Sach-
kunde der Aufsteller“ und „Sozialkonzept“ ausdrück-
lich die Vorteile einer sogenannten Spielerkarte betont.
Eine Spielerkarte ist ein Identifikationsmittel, das a) die
Volljährigkeit des Spielers belegt und b) durch seine Vor-
lage überhaupt erst den Spielbeginn am Gerät möglich
machen soll. Nun hat die Bundesregierung diesen Vor-
schlag aufgegriffen und in dem Gesetzentwurf die
Grundlage für die Einführung einer personenungebun-
denen Spielerkarte formuliert. So weit, so gut. Doch die
Bundesregierung schränkt durch die Formulierung der
personenungebundenen Spielerkarte die angestrebte
Schutzfunktion maßgeblich ein. „Personenungebunden“
bedeutet in der Praxis nichts anderes, als dass nicht
nachprüfbar ist, ob derjenige, der die Karte vorlegt,
auch wirklich derjenige ist, auf den sie zugelassen
wurde. Anders ausgedrückt: Es ist nicht belegbar, dass
der Spieler, der die Karte vorlegt, volljährig ist. Hinzu
kommt, dass mit einer personenungebundenen Spieler-
karte mehrere Geldgewinnspielgeräte gleichzeitig be-
spielt werden können. Damit werden die Handlungsemp-
fehlungen des Berichtes „Jugend- und Spielerschutz“
schlichtweg konterkariert.

Der Bundesrat hat genau das in seiner Stellung-
nahme kritisiert und als – wie ich finde – vernünftige
Lösung vorgeschlagen, hinter dem Wort „personenun-
gebundene“ einfach den Zusatz „oder personengebun-
dene“ einzufügen. Das hätte zudem den Vorteil, dass
eine spätere Überarbeitung der Gewerbeordnung unnö-
tig wäre. Das wäre einmal eine effektive Vermeidung von
unnötiger Bürokratie. Doch was tut die Bundesregie-
rung? Sie lehnt diese Ergänzung ab. Dies überrascht
umso mehr, als die Bundesregierung sich ausdrücklich
in ihrer Begründung zum Gesetz zur Einführung einer
personengebundenen Spielerkarte als mittelfristiges
Projekt bekennt. Selbstverständlich müssen die daten-
schutzrechtlichen Rahmenbedingungen geprüft und ent-
wickelt werden. Dies braucht Zeit und Sorgfalt. Da stim-
men wir der Bundesregierung zu; aber dennoch sollte
und könnte man den Zusatz der personengebundenen
Spielerkarte schon jetzt als zukünftige Alternative mit in
den Gesetzentwurf aufnehmen. Also meine konkrete
Frage an Sie, meine Damen und Herren von der Regie-
rungskoalition: Warum nehmen Sie die Formulierung
nicht als Alternative in den Gesetzentwurf auf? Da, wo
sie aktiv Jugend- und Spielerschutz betreiben könnten,
zieren Sie sich plötzlich. Warum? Meine Fraktion hat
bereits im letzten Jahr in unserem Antrag „Glücksspiel-
sucht bekämpfen“ klar gefordert, eine personengebun-
dene Spielerkarte einzuführen.

Meine Damen und Herren von der Koalition, um es
klar zu sagen, Sie bleiben weit hinter Ihren Möglichkei-
ten zurück und verkennen den akuten Handlungsbedarf.
Und trotz einiger guter Ansätze im Gesetzentwurf wird
sich daher die SPD-Bundestagsfraktion enthalten und
ihm nicht zustimmen.


Claudia Bögel (FDP):
Rede ID: ID1720132500

„Game over – Beim Glücksspiel haben Sie Automa-

tisch Verloren!“ – diesen treffenden Titel trug eine Infor-

Zu Protokoll gegebene Reden





Claudia Bögel


(A) (C)



(D)(B)


mationskampagne der Hamburgischen Landesstelle für
Suchtfragen e. V., die über die Risiken und Folgen von
Glücksspielen aufklärte.

Tatsächlich verursacht ein problematisches Spielver-
halten oder Glücksspielsucht ein großes persönliches
Leid natürlich für die Betroffenen selbst, aber auch für
ihr Umfeld. Dem müssen wir durch effektiven Jugend-
und Spielerschutz entgegenwirken.

Nach einer Studie der Bundeszentrale für gesundheit-
liche Aufklärung weist insgesamt 1 Prozent der deut-
schen Bevölkerung – bundesweit also schätzungsweise
540 000 Betroffene – im Alter von 16 bis 65 Jahren ein
problematisches oder sogar pathologisches Glücks-
spielverhalten auf.

Sehr kritisch entwickelt sich das Spielen an Geld-
spielautomaten: 13 Prozent der 18- bis 20-Jährigen ha-
ben im letzten Jahr ihr Glück an Geldspielautomaten
versucht. Besonders besorgniserregend ist, dass das
Spielen an Geldspielgeräten auch in der Altersgruppe
der 16- und 17-Jährigen, die nach dem Jugendschutzge-
setz überhaupt keinen Zugang zu Glücksspielangeboten
haben dürften, zunimmt.

Auch der Bericht des Bundesministeriums für Wirt-
schaft und Technologie zur Evaluierung der Novelle der
Spielverordnung vom 6. Dezember 2012 hat gezeigt,
dass es Handlungsbedarf hinsichtlich der Verbesserung
des Jugend- und Spielerschutzes gibt.

Vor diesem Hintergrund ist es notwendig, besonders
bei Glücksspielen mit vergleichsweise einfachem Zu-
gang und großem Suchtpotenzial gesetzliche Maßnah-
men zu ergreifen, die einen ausreichenden Jugend- und
Spielerschutz gewährleisten und zur Verhinderung von
Glücksspielsucht beizutragen.

Der vorliegende Gesetzentwurf ist meines Erachtens
ein richtiger Schritt hin zu einem effektiven Jugend- und
Spielerschutz im Hinblick auf Spielgeräte mit Gewinn-
möglichkeit, sprich Glücksspielautomaten. Kernpunkt des
Entwurfs ist die Einführung einer sogenannten Spieler-
karte, die zukünftig vom Aufsichtspersonal der Spiel-
halle bzw. dem Gastwirt ausgehändigt wird. Mit ihr
kann sich der Spieler an den Glücksspielautomaten in
Spielhallen oder Gaststätten autorisieren und sie frei-
schalten. Dies ermöglicht zum einen eine Alterskontrolle
und verhindert somit, dass Minderjährige, die noch
nicht an den Geräten spielen dürfen, keinen Zugang zu
den Glücksspielautomaten erhalten. Zum anderen er-
schwert die Ausgabe der Spielerkarte das gleichzeitige
Spielen an mehreren Geräten. Die Spielerkarte bietet ei-
nen erheblich besseren Jugend- und Spielerschutz. Ob
dieser letztlich ausreichend ist, wird sich nach der Eva-
luation der vorliegenden Änderung zeigen.

Vor diesem Hintergrund ist der vorliegende Gesetz-
entwurf möglicherweise nur eine „Zwischenetappe“ auf
dem Weg zu einer noch effektiveren Prävention von
Glücksspielsucht und vor allem einem noch umfassende-
ren Jugend- und Spielerschutz.

Sollten die Evaluationsergebnisse später zeigen, dass
die personenungebundene Spielerkarte keinen ausrei-

chenden Jugend- und Spielerschutz gewährleistet, sind
wir durchaus bereit, über die Einführung eines perso-
nengebundenen Identifikationsmittels zu reden. Dies ist
jedoch ein mittelfristiges Projekt, zumal dazu zunächst
noch einige technische und datenschutzrechtliche Fra-
gen geklärt werden müssen. Wir werden uns aber dafür
einsetzen, dass dies bei Bedarf schnellstmöglich ge-
schieht.

Zunächst aber schafft der vorliegende Gesetzentwurf
eine Ermächtigungsgrundlage für die Regelung eines
datenschutzrechtlich unproblematischen, nicht perso-
nengebundenen Identifikationsmittels in der Spielver-
ordnung. Dadurch wird bereits jetzt ein weitergehender
Jugend- und Spielerschutz ermöglicht, der den zuvor be-
schriebenen Entwicklungen der Zahlen zum Glücks-
spielverhalten in Deutschland entgegenwirkt. Angesichts
der Tatsache, dass das Glücksspielverhalten besonders
unter Jugendlichen zunehmend problematischer wird,
war es uns sehr wichtig, möglichst schnell zu reagieren
und eine vernünftige und effektive Lösung im Rahmen
unserer gegenwärtigen technischen und datenschutz-
rechtlichen Möglichkeiten zu schaffen. Die Praxis wird
zeigen, ob die ergriffenen Maßnahmen wie gewünscht
greifen oder nur eine Übergangslösung sind, auf die
möglicherweise eine personengebundene Spielerkarte
folgt.

Aber nicht nur die Einführung der Spielerkarte ist
eine gute und wichtige Maßnahme, um Jugendliche,
aber auch Erwachsene vor den negativen Folgen des
Glücksspiels zu schützen.

Lassen Sie mich an dieser Stelle auf zwei weitere
Maßnahmen zum Jugend- und Spielerschutz hinweisen,
die im Rahmen der Änderung der Gewerbeordnung er-
griffen werden:

Die Bedeutung der Sachkunde der Aufsteller über Ju-
gend- und Spielerschutz für die Prävention von Spiel-
sucht und ihre negativen Folgen ist entscheidend. Die-
sen Aspekt greift der vorliegende Gesetzentwurf dadurch
auf, dass er als weitere Schutzmaßnahme für Jugend-
liche und – potenziell – Spielsüchtige vorsieht, dass
Spielhallenbetreiber und Gastwirte zukünftig Kennt-
nisse des Jugend- und Spielerschutzes nachweisen müs-
sen, um überhaupt Spielgeräte aufstellen zu dürfen. Soll-
ten sie gegen diese Vorgabe verstoßen, werden zukünftig
signifikant höhere Strafzahlungen fällig. Das Ziel dieser
Maßnahme ist, die Risiken in Bezug auf den Jugend- und
Spielerschutz, die aus der mangelnden Sachkenntnis der
Aufsteller resultieren, zu reduzieren.

Darüber hinaus müssen die Unternehmen, die Glücks-
spielautomaten aufstellen, zukünftig ein Sozialkonzept
vorhalten, in dem sie darlegen, wie sie den negativen
Folgen des Glücksspiels an Gewinnspielgeräten vor-
beugen bzw. diese beheben wollen, beispielsweise durch
Hinweise auf Beratungsangebote für – potenziell –
Glücksspielsüchtige oder die Schulung ihres Personals.

Uns ist sehr wichtig, dass die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter vor Ort dezidiert in das Sozialkonzept einbe-
zogen werden und somit in Sucht- und Präventions-
fragen geschult sind; denn so entsteht die Möglichkeit,

Zu Protokoll gegebene Reden





Claudia Bögel


(A) (C)



(D)(B)


gefährdete Spieler noch frühzeitiger zu erkennen und
entsprechend zu reagieren.

In der Aufstellerbranche werden Sozialkonzepte ge-
genwärtig bereits auf freiwilliger Basis eingesetzt – das
möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich lobend erwäh-
nen –; aber eine flächendeckende und somit effektive
Verbreitung der Sozialkonzepte kann letztlich nur durch
eine gesetzliche Vorgabe erreicht werden.

Es freut mich sehr, dass wir mit dem vorliegenden Ge-
setzentwurf alle Beteiligten zufriedenstellen konnten:
Sowohl die Drogenbeauftragte der Bundesregierung,
Mechthild Dyckmans, als auch die Automatenhersteller-
branche können sich mit der personenungebundenen
Spielerkarte anfreunden.

Auch ich bin angesichts der aufgezeigten Maßnah-
men davon überzeugt, dass der vorliegende Gesetzent-
wurf bereits jetzt eine Grundlage für einen besseren Ju-
gend- und Spielerschutz mit Blick auf das Glücksspiel an
Gewinnspielautomaten gewährleistet.

Über weitergehende Maßnahmen diskutieren wir
selbstverständlich gerne, sobald wir die Ergebnisse der
Klärung der noch offenen datenschutzrechtlichen, tech-
nischen sowie infrastrukturellen Fragen hinsichtlich ei-
ner personengebundenen Spielerkarte haben.

Nichtsdestotrotz möchte ich an dieser Stelle noch ein-
mal deutlich machen, dass die Politik sicherlich in der
Verantwortung ist, mit gesetzlichen Regelungen für ei-
nen ausreichenden Jugend- und Spielerschutz zu sorgen.
Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass es – wie
bei jedem Spiel mit Suchtgefahr – auch beim Glücksspiel
an Gewinnspielautomaten auf das richtige Maß und die
Eigenverantwortung des Spielers ankommt, und somit
die gesetzlichen Regelungen gar nicht mehr zum Tragen
kommen müssen.


Johanna Voß (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720132600

Die Bundesregierung lässt sich mal wieder die Ge-

setze von der Wirtschaft diktieren – in diesem Fall von
der Automatenwirtschaft. Anstatt die Menschen vor
Spielsucht zu schützen, schützt die Bundesregierung lie-
ber die Gewinne der Automatenwirtschaft und tut ein
bisschen so, als würde sie sich auch um das Wohl der
Menschen sorgen. Die von ihr hier eingebrachten Ände-
rungen werden nichts an der Situation oder der Zahl der
Spielsüchtigen ändern. Die Einführung einer sogenann-
ten Spielerkarte ist absolut ineffektiv. Spielsüchtige
werden durch die Karte nicht vom exzessiven Spielen ab-
gehalten, Jugendliche können die Kontrolle leicht umge-
hen. Dabei ist eine Ursache für das rapide Wachstum
der Spielsucht, besonders bei Jugendlichen, die Ent-
wicklung von Unterhaltungsspielautomaten zu reinen
Glücksspielautomaten, die aus der 2006 beschlossenen
Novellierung der Spielverordnung resultierte. Seitdem
ist die Zahl der süchtigen Spieler, die sich an Suchtbera-
tungsstellen wendeten, um 160 Prozent gestiegen. Dem-
gegenüber hat sich der Bruttospielertrag der Automa-
tenbetreiber in derselben Zeit fast verdoppelt. Zurzeit
kämen etwa 56 Prozent der Einnahmen von Spielauto-

maten von Spielsüchtigen, und 40 Prozent der Leute, die
spielten, seien süchtig, so Experten. Eine viel wirkungs-
vollere Maßnahme gegen die Spielsucht wäre zum Bei-
spiel die vorherige Identifizierung durch den Fingerab-
druck. Aber die Automatenwirtschaft hat kein Interesse
daran, die Zahl der Spielsüchtigen zu verringern. Kein
Wunder, wenn sie die Hälfte ihrer Einnahmen mit dieser
Gruppe erzielt. Und die Bundesregierung spielt das
Spiel mit.

Die Probleme der Spielsucht lassen sich auf individu-
eller Ebene – also bei den Aufstellern der Geräte, den
Betreibern von Spielhallen und deren Personal – nicht
lösen. Die hier über die Gewerbeordnung gestellten
fachlichen Qualifikationen und Nachweise sind zwar
richtig, reichen aber nicht aus. Neben der verpflichten-
den Identifikation müssen die Geldspielautomaten auf
60 Sekunden pro Spiel entschleunigt werden. Der maxi-
male Verlust pro Stunde muss gesenkt und die Höchst-
zahl von Automaten in gastronomischen Einrichtungen
begrenzt werden. Besonders die Entschleunigung ist ne-
ben der Reduzierung der Verfügbarkeit entscheidend für
die Suchtbekämpfung und -prävention und Spielerkarten
oder anderen Veränderungen am Gerät vorzuziehen.
Von der FDP können wir aufgrund der offensichtlich gu-
ten Beziehungen zu der Automatenlobby sowieso keine
Änderungen zum Schutz vor den Suchtgefahren durch
das Automatenspiel erwarten. So berichtete die ARD
am 10. September 2012, dass an FDP-Tochterunterneh-
men vom Glücksspielautomatenhersteller Gauselmann
2,5 Millionen Euro geflossen und diese teilweise an die
Partei weitergeleitet worden sind.

Leider bekleckert sich die Bundesregierung auch bei
den Änderungen für die Vermittlung von Finanzanlagen,
die hier ebenfalls mit verhandelt wird, nicht mit Ruhm.
Das ist zugegebenermaßen schwierig, denn das Gesetz
zur Novellierung des Finanzanlagenvermittler- und Ver-
mögensanlagenrechts krankt an den falschen Vorausset-
zungen. Es lässt weiterhin alle Formen der Geldanlage
zu, die nicht ausdrücklich verboten sind. Ein neu ge-
schaffenes Produkt fällt so automatisch nicht unter das
Gesetz. Damit ist kein Verbraucherschutz möglich!

Dabei gibt es gute Vorschläge! Die Linke fordert seit
langem einen Finanz-TÜV. Nur das Produkt, das den Fi-
nanz-TÜV besteht, darf in den Verkehr gebracht werden.
Parallel dazu muss die Abhängigkeit von Provisionen
verschwinden – und damit auch der Druck, möglichst
viele Produkte mit hohen Provisionen zu verkaufen. Nur
so kann sich der Verbraucher sicher sein, dass die Pro-
dukte, die er kaufen kann, auch tatsächlich in seinem In-
teresse sind.

Die Bundesregierung verpasst mit diesem Gesetz also
wieder einmal zahlreiche Chancen, Fehler aus der Ver-
gangenheit gutzumachen. Nicht, weil sie es nicht besser
wüsste. Sondern weil ihr Wirtschaft und Profite viel nä-
her stehen als Menschen. Das wird auch in diesem Ge-
setzentwurf überdeutlich.

Greifen Sie unsere Vorschläge auf!

Zu Protokoll gegebene Reden






(A) (C)



(D)(B)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Immer mehr Menschen in Deutschland sind spiel-
süchtig. Fast 300 000 Menschen leiden daran. Nach der
Internationalen statistischen Klassifikation der Krank-
heiten, der ICD-10, spricht man von einer Sucht bei häu-
figem und wiederholtem Glücksspiel, das das Leben von
diesen Menschen vollkommen beherrscht. Langfristig
kann Spielsucht zum Verfall der sozialen, beruflichen,
materiellen und familiären Werte und Verpflichtungen
führen.

Dazu auch noch ein anderer Aspekt: Viele Gemeinden
und Städte beklagen bereits seit längerem die zuneh-
mende Ausbreitung von Spielhallen. Dies führt in be-
stimmten Stadtteilen – nicht zuletzt aufgrund negativer
Begleiterscheinungen – zu einem „Trading-down“-Ef-
fekt. Die Viertel werden unattraktiv für Mieter und an-
dere Geschäftsbetriebe und führen so zu einer negativen
Entwicklung des Stadtteils insgesamt. Genug Grund
also, endlich tätig zu werden und einzugreifen.

Die Bundesregierung hat dem nichts Vernünftiges zu
entgegnen. Das zeigt ja schon deren Ansatz bei der
Spielverordnung: Viele Regelungen des Entwurfs sind
aus meiner Sicht nichts als heiße Luft. Die wirklichen
Probleme im Bereich der Spielautomaten werden nicht
im Geringsten angegangen. Der Entwurf enthält keine
wirksame Entschärfung der Geräte und keine Verminde-
rung ihrer Suchtgefährdung. Stattdessen verhindert die
Bundesregierung zukünftig, dass die Länder Vor-Ort-
Kontrollen durchführen können. Das heißt de facto:
Eine wichtige Möglichkeit, Spielhallen und Geldspielge-
räte zu kontrollieren, entfällt.

Der vorliegende Entwurf für die Gewerbeordnung
soll nun ins selbe Horn stoßen: Bei dem Gesetzentwurf
der Bundesregierung geht es unter anderem um den Be-
reich Spielhallen und Geldspielgeräte. Geldspielgeräte
bringen unumstritten die meisten Spielsüchtigen hervor.
Wichtigste Neuerung soll eine Karte sein, mit der sich
Spieler an den Geräten anmelden sollen, die sogenannte
Spielerkarte. Dem Automatenspieler wird vom Wirt oder
den Mitarbeitern der Spielhalle eine Karte übergeben,
mit der er sich an den Spielgeräten anmelden kann. Da-
durch soll verhindert werden, dass Spielerinnen und
Spieler an mehreren Geräten gleichzeitig zocken. Au-
ßerdem sollen dadurch Kinder und Jugendliche von den
bunten Automaten ferngehalten werden.

Soweit die Theorie. Die schwarz-gelbe Spielerkarte
wird diese Ziele nämlich definitiv verfehlen. Das Bun-
deswirtschaftsministerium plant die Einführung einer
Spielerkarte, die personenungebunden ist. Das Ministe-
rium befindet sich damit übrigens in wohliger Einigkeit
mit der Automatenindustrie. Lobbypolitik vom Feinsten!
Fakt ist nämlich: Die personenungebundene Spieler-
karte ist aus suchtpolitischer Sicht komplett nutzlos.
Wenn die Karte nicht auf eine Person beschränkt ist,
kann sie ja einfach weitergereicht werden – an Spiel-
süchtige, an Kinder oder Jugendliche, an wen auch im-
mer.

Genauso ist die finanzielle Begrenzung und die zeit-
liche Pause der Spielerkarte viel zu leicht zu umgehen:

Wenn die Karte nicht personengebunden ist, kann ein
Spieler doch einfach einen anderen Namen angeben.
Selbst wenn ein Kasino oder eine Spielhalle von sich aus
den Zutritt verwehrt: Es ist doch ein Kinderspiel für die
Spieler, sich einfach in der nächsten Halle die nächste
Karte zu holen. Ich wiederhole noch einmal: Es handelt
sich um Süchtige – Menschen, die um jeden Preis ihr
Verlangen nach dem Spiel bedienen wollen. Eine
personenungebundene Karte ist für die Betroffenen doch
der reinste Witz.

Man kann kaum glauben, dass die Bundesregierung
dermaßen kurz gedacht hat. Selbst in den eigenen Rei-
hen hält man den Vorschlag der Bundesregierung für zu
kurz gegriffen. Bundesdrogenbeauftragte Mechthild
Dyckmans, FDP, hält die Gesetzesvorlage lediglich für
eine „Übergangslösung“.

Ganz einig scheint man sich tatsächlich auch inner-
halb des Kabinetts gar nicht zu sein. Das Bundesminis-
terium für Gesundheit favorisiert nämlich die Einfüh-
rung einer personengebundenen Karte. So wären
Jugendschutz und Spielerschutz tatsächlich schon eher
gewährleistet. Andere Länder haben bereits Erfahrun-
gen mit einer solchen Karte gesammelt, sodass eine Ein-
führung nach Abklärung der datenschutzrechtlichen und
technischen Fragen generell durchaus möglich wäre.

Ich sage es mit den Worten meines geschätzten Kolle-
gen Harald Terpe, der es besser nicht hätte auf den
Punkt bringen können: Eine personenungebundene
Karte ist nichts als ein Geschenk an die Industrie. Mit
Suchtbekämpfung und -prävention hat das rein gar
nichts zu tun. Ich schließe mich dem Fachverband
Glücksspielsucht an: Wir brauchen eine gut überdachte
und vor allem wirksame Lösung mit einer per-
sonalisierten Karte. Außerdem muss die Systematik der
Geräte entschärft werden, sodass Verluste begrenzt
werden.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720132700

Wir kommen zur Abstimmung.

Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/11164, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/10961 in der Ausschussfassung an-
zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfrak-
tionen gegen die Stimmen der Linken und Grünen bei
Enthaltung der SPD angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie
in der zweiten Beratung angenommen.

Tagesordnungspunkt 27:

Erste Beratung des von den Abgeordneten
Rüdiger Veit, Gabriele Fograscher, Wolfgang





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Gunkel, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Verbesserung der Situation Minderjähri-
ger im Aufenthalts- und Asylverfahrensrecht

– Drucksache 17/9187 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Die Reden sind, wie in der Tagesordnung ausgewie-
sen, zu Protokoll genommen.


Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1720132800

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-

richts beruht das im Grundgesetz verankerte Grundrecht
auf Asyl nach Art. 16 a GG auf dem Zufluchtgedanken
und setzt daher grundsätzlich einen Kausalzusammen-
hang zwischen Verfolgung und Flucht voraus. Der Be-
troffene muss mithin in eine erfolglose Lage gebracht
werden, die grundsätzlich alle Lebensbereiche betreffen
kann.

Eine Verfolgung liegt allerdings erst dann vor, wenn
die Beeinträchtigungen eine die Menschenwürde verlet-
zende Intensität erreichen, es sei denn, es werden gezielt
Leben, Leib oder persönliche Freiheit verletzt.

Zudem begründen Nachteile, die jemand aufgrund
der allgemeinen Zustände in seinem Heimatstaat zu er-
leiden hat, wie Hunger, Naturkatastrophen, aber auch
bei den allgemeinen Auswirkungen von Unruhen und
Kriegen, keine Verfolgung. Dies hat das Bundesverfas-
sungsgericht in ständiger Rechtsprechung festgestellt.

Mir ist wichtig, dies gleich zu Beginn meiner Rede
noch einmal deutlich hervorzuheben, da wir seit Ende
Juli 2012 einen stark erhöhten Zugang von Asylbewer-
bern, Kinder und Erwachsene, aus den Herkunftslän-
dern Serbien und Mazedonien erleben.

Allein im September sind beim Bundesamt für Migra-
tion und Flüchtlinge 6 691 Asylerstanträge gestellt wor-
den, 1 395 von serbischen Staatsangehörigen und 1 040
von mazedonischen Staatsangehörigen. Dieser Trend
setzt sich im laufenden Monat fort.

Bei den Antragstellern handelt es sich nach den
Erkenntnissen des Bundesamtes für Migration und
Flüchtlinge zu 90 Prozent um Personen mit der Volks-
gruppenzugehörigkeit der Roma. Sie begründen ihre
Asylanträge überwiegend mit wirtschaftlichen Gründen.
Folglich werden ihre Anträge zu 99 Prozent abgelehnt.

Gleichzeitig haben uns in den letzten Wochen Be-
richte über überfüllte Aufnahmelager in mehreren Län-
dern erreicht. Aufgrund des starken Zustroms aus Ser-
bien und Mazedonien sind die bisher zur Verfügung
stehenden Kapazitäten bereits vielerorts außerordent-
lich stark angespannt.

Ich wundere mich daher, dass die SPD-Fraktion sich
nicht dieses drängenden Problems annimmt und statt-
dessen mit ihrem Gesetzentwurf sogar noch für eine wei-

tergehende Öffnung des deutschen Asylrechts eintritt.
Dies ist schlicht Realitätsverweigerung.

Ich begrüße daher ausdrücklich die Initiative des
Bundesministers des Innern, Dr. Hans-Peter Friedrich
MdB, nach angemessenen Lösungen für eine Begren-
zung des starken Zustroms von Asylbewerbern aus Ser-
bien und Mazedonien zu sorgen. Offensichtlich handelt
es sich bei den von mir angesprochenen Personen eben
nicht um Asylberechtigte im Sinne des Art. 16 a GG, son-
dern um klassische Wirtschaftsflüchtlinge, die zumindest
auch angelockt von der finanziellen Unterstützung nach
Deutschland reisen.

Selbstverständlich darf niemand in Europa hungern,
aber es obliegt zunächst einmal den Regierungen in Ser-
bien und Mazedonien, für eine entsprechende Versor-
gung der eigenen Bevölkerung zu sorgen.

Sollte dies aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten
nicht möglich sein, ist die Europäische Union mit Si-
cherheit kurzfristig bereit, Unterstützung vor Ort zu leis-
ten. Dies setzt jedoch auch die Bereitschaft der jeweili-
gen Länder voraus, entsprechende Anträge zu stellen
und die angebotenen Hilfsleistungen dann auch abzuru-
fen.

Solange dies nicht erfolgt, ist aus meiner Sicht eine
Abschaffung der Visumsfreiheit für beide Länder eine lo-
gische, sich aufdrängende und auch mögliche Konse-
quenz.

Der Gesetzentwurf der SPD-Fraktion lässt all dies
unberücksichtigt und fordert stattdessen eine Auswei-
tung des Schutzes für unbegleitete Minderjährige in den
bestehenden aufenthalts- und asylrechtlichen Regelun-
gen.

Er geht dabei irrig davon aus, dass die vorgeschlage-
nen Änderungen aufgrund der Rücknahme zuvor einge-
legter Vorbehalte bei der Zeichnung der UN-Kinder-
rechtskonvention erforderlich seien.

Im Begründungsteil des Gesetzentwurfs gesteht die
SPD-Fraktion dann allerdings doch ein, dass die vorge-
schlagenen Änderungen zwar nicht zwingend vorgege-
ben seien, „gleichwohl aber für einen sachgerechten
Umgang mit den besonderen Bedürfnissen von Kindern
sachlich geboten sind“, vergleiche Bundestagsdrucksa-
che 17/9187, Seite 5.

Hierdurch wird deutlich, dass es eben doch keine un-
mittelbare Handlungspflicht des Gesetzgebers gibt, auf-
grund der Rücknahme der Vorbehalte tätig zu werden,
sondern dass die UN-Kinderrechtskonvention lediglich
als „Rettungsanker“ für überzogene Forderungen her-
halten muss.

Im Übrigen sieht auch die verwaltungsgerichtliche
Rechtsprechung keine Veränderungen aufgrund der
Rücknahme der erklärten Vorbehalte durch die Bundes-
regierung.

In seiner Entscheidung vom 10. Februar 2011 führt
das Bundesverwaltungsgericht – Az. 1 B 22.10 – zur
Ausstrahlungswirkung der UN-Kinderrechtskonvention
auf das nationale Ausländer- und Asylrecht aus:

Zu Protokoll gegebene Reden





Stephan Mayer (Altötting)



(A) (C)



(D)(B)


An der Notwendigkeit einer jeweils einzelfallbezo-
genen Abwägung hat sich durch das nunmehr auch
in Deutschland unmittelbar geltende Übereinkom-
men über die Rechte des Kindes vom 20. November
1989, BGBl II 1992 S. 121, – UN-Kinderrechtskon-
vention, KRK, – und dessen Art. 3 Abs. 1 nichts We-
sentliches geändert, da schon bisher gemäß Art. 8
EMRK bzw. Art. 6 GG das besondere Gewicht der
familiären Bindungen und insbesondere das Kin-
deswohl minderjähriger Kinder zu berücksichtigen
waren. Art. 3 Abs. 1 KRK sieht vor, dass bei allen
Maßnahmen, die Kinder betreffen, das Wohl des
Kindes ein Gesichtspunkt ist, der vorrangig zu be-
rücksichtigen ist.

Weitere Oberverwaltungsgerichte, zum Beispiel OVG
Lüneburg, Beschluss vom 29. März 2011 – Az. 8 LB 121/
08, und Verwaltungsgerichtshöfe, zum Beispiel Bayeri-
scher VGH, Beschluss vom 8. Juli 2011 – Az. 10 ZB
10.3028, haben sich längst dieser Rechtsprechung ange-
schlossen.

Zuvor hatte das Oberlandesgericht Karlsruhe in sei-
ner Entscheidung vom 2. Dezember 2010 – Az. 2 UF
172/10 – bereits herausgestellt, dass Art. 22 KRK nicht
unmittelbar im deutschen Recht anwendbar sei, da er
auf ein vereinbartes Ziel, die „Sicherstellung angemes-
senen Schutzes und humanitärer Hilfe bei der Wahrneh-
mung von Rechten“, abstelle. Die Formulierung „Die
Vertragsstaaten treffen geeignete Maßnahmen“ verdeut-
liche zudem, dass es der Handlungsfreiheit der Vertrags-
staaten überlassen bleibe, welche Maßnahmen sie zur
Erreichung der Ziele ergreifen würden. Auch der Zweck
der UN-Kinderrechtskonvention gebiete keine andere
Auslegung. Schließlich seien nur geeignete Maßnahmen
gefordert. Die UN-Kinderrechtskonvention würde kein
Recht enthalten, welches eine Vertretung durch einen
Rechtsanwalt im Asylverfahren erfordere.

Aufgrund der Rücknahme der Vorbehalte zur UN-
Kinderrechtskonvention durch die Bundesregierung be-
steht somit kein gesetzgeberischer Handlungsbedarf.

Auch aufgrund der ebenfalls im Gesetzentwurf aufge-
führten EU-Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen
Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über
gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaa-
ten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsange-
höriger in nationales Recht besteht kein gesetzgeberi-
scher Handlungsbedarf. Die SPD-Fraktion übersieht in
ihrer Darstellung, dass die EU-Richtlinie längst in na-
tionales Recht umgesetzt worden ist.

Durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthaltsrechtli-
cher Richtlinien der Europäischen Union und zur An-
passung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visa-
kodex vom 22. November 2011 sind die Vorgaben der
Richtlinie bereits nationales Recht geworden.

Hierzu gehören auch die besonderen Vorgaben, die
die Situation unbegleiteter Minderjähriger betreffen,
wie zum Beispiel Art. 10 der Richtlinie.

So wurde beispielsweise in § 58 AufenthG ein neuer
Absatz aufgenommen, der festschreibt, dass sich vor der
Abschiebung eines unbegleiteten minderjährigen Aus-

länders die Behörde zu vergewissern hat, dass dieser im
Rückkehrstaat einem Mitglied seiner Familie, einer zur
Personensorge berechtigten Person oder einer geeigne-
ten Aufnahmeeinrichtung übergeben wird.

Zudem ist durch die Ergänzung des § 62 AufenthG die
Berücksichtigung des Wohles des Kindes bei der Ab-
schiebungshaft noch einmal gesondert hervorgehoben
worden.

Die Vorgaben des Art. 10 der Richtlinie wurden be-
reits zuvor in Deutschland durch § 42 SGB VIII umge-
setzt und kamen auch bereits in der Praxis zur Anwen-
dung.

Ein weitergehender Umsetzungsbedarf besteht daher
aus meiner Sicht auch bezüglich der EU-Richtlinie
2008/115/EG nicht.

Abschließend kann somit festgehalten werden, dass es
keine rechtliche Verpflichtung gibt, für den Gesetzgeber
tätig zu werden und die bestehenden Regelungen des
Aufenthaltsgesetzes und des Asylverfahrensgesetzes zu-
gunsten von unbegleiteten Minderjährigen zu verän-
dern.

Angesichts der fortlaufend steigenden Zahlen von
Asylbewerbern aus Serbien und Mazedonien sollte es
aus meiner Sicht eher Aufgabe des Gesetzgebers sein,
wirksame Maßnahmen gegen den offensichtlichen Miss-
brauch des Grundrechts auf Asyl anzugehen. Hierzu
würde ich mich auch auf Vorschläge der Oppositions-
fraktionen freuen.

Dies setzt aber natürlich voraus, dass man endlich
akzeptiert, dass weder die EU-Grundrechtecharta noch
die UN-Kinderrechtskonvention ein Recht auf Einreise
nach Deutschland allein wegen der Minderjährigkeit
gewähren.


Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1720132900

Zweieinhalb Jahre ist es her, dass das Kabinett am

3. Mai 2010 den Beschluss zur Rücknahme des Vorbe-
halts gegen die Kinderrechtskonvention fasste. Zwei
Tage später kommentierte die Bundesjustizministerin
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger im Plenum diesen
Kabinettsbeschluss als einen „wirklich guten Tag für die
Kinderrechte“. Weiter sagte sie: „... natürlich brauchen
minderjährige Flüchtlinge einen ganz besonderen
Schutz“ und: „Natürlich ist es richtig, im Asylverfahren
nicht nur Jugendliche bis zum 16. Lebensjahr, sondern
bis zum 18. Lebensjahr einen angemessenen Rechtsbei-
stand zur Seite zu stellen …“

Das sehen wir genauso. Allerdings hat die Bundesjus-
tizministerin an gleicher Stelle auch gesagt, dass allein
die Länder nun zu prüfen und zu überdenken hätten, wie
sie das Kindeswohl stärker bei ihren Entscheidungen be-
rücksichtigen könnten. Auf Bundesebene sei keine Not-
wendigkeit gegeben, gesetzgeberisch tätig zu werden.

Das ist widersprüchlich: Einerseits sagte die Ministe-
rin, es sei „natürlich“ notwendig, minderjährige Flücht-
linge ganz besonders zu schützen, andererseits wollte sie
die bestehenden Gesetze nicht dahin gehend ändern,
dass dieser Schutz auch gewährt wird.

Zu Protokoll gegebene Reden





Rüdiger Veit


(A) (C)



(D)(B)


In meiner Rede vom 28. Oktober 2010 habe ich aus-
führlich aufgezeigt, wo überall dringender Handlungs-
bedarf im Asylverfahrensgesetz, im Aufenthaltsgesetz
und im Sozialrecht gegeben ist. Diese Änderungen sind
notwendig, um den besonderen Bedürfnissen von min-
derjährigen ausländischen Kindern gerecht zu werden.

Heute stelle ich leider fest, dass die schwarz-gelbe
Koalition es mit der tatsächlichen Umsetzung der Kin-
derrechte im Ergebnis nicht ganz so ernst meinte und es
bei dem symbolischen Akt der Rücknahme der Vorbe-
haltserklärung belassen hat.

Da wollen wir aber nicht stehen bleiben. Mit unserem
heute eingebrachten Gesetzentwurf wollen wir die
Rechte von Minderjährigen im Aufenthalts- und Asylver-
fahren tatsächlich konkret stärken. Zentraler Gedanke
unserer vorgeschlagenen Gesetzesänderung ist die He-
raufsetzung der Handlungsfähigkeit von minderjährigen
Ausländern von bisher 16 Jahren auf 18 Jahre, also auf
die allgemeine Grenze für die Volljährigkeit.

Gemäß Art. 1 der Kinderrechtskonvention, KRK, ist
„ein Kind jeder Mensch, der das achtzehnte Lebensjahr
noch nicht vollendet hat“. Laut Art. 22 KRK müssen die
Vertragsstaaten sicherstellen, dass ein Kind, das die
Rechtsstellung eines Flüchtlings begehrt, angemessenen
Schutz und humanitäre Hilfe bei der Wahrnehmung der
Rechte erhält, die mit der KRK oder in anderen interna-
tionalen Übereinkünften über Menschenrechte gewährt
werden, und zwar unabhängig davon, ob sich das
Flüchtlingskind allein oder in Begleitung seiner Eltern
oder anderer Personen befindet.

Bislang galt ein unbegleitetes Flüchtlingskind schon
ab 16 Jahren als verfahrensfähig und damit als fähig,
das Asylverfahren alleine durchzuführen. Das Asylver-
fahren ist ein kompliziertes Verfahren, bei dem sich per-
sönliches Tun und Unterlassen schnell zuungunsten des
Antragstellers bzw. der Antragstellerin auswirken kann,
und sei es nur durch das Verstreichenlassen von Fristen.
Dass Minderjährige in diesem Verfahren, in dem sie
Rechte aus der Genfer Flüchtlingskonvention geltend
machen, bislang auf sich allein gestellt sind, ist ein Ver-
stoß gegen Art. 1 KRK in Verbindung mit Art. 22 Abs. 1
KRK. Dies ist ein Verfahren, das eben nicht sicherstellt,
dass ein Flüchtlingskind Schutz und humanitäre Hilfe
bei der Wahrnehmung seiner Rechte erhält.

Ein solcher Schutz kann nur gegeben sein, wenn dem
Flüchtlingskind ein Vertreter zur Seite gestellt wird, der
es davor bewahrt, Fehler zu machen.

Hinzu kommt, dass Art. 22 Abs. 2 KRK bestimmt, dass
ein unbegleitetes Flüchtlingskind den gleichen Schutz
erhalten muss wie jedes andere Kind, das seine Eltern
und/oder Familie verloren hat. Kindern wird, wenn sie
keine gesetzlichen Vertreter haben, grundsätzlich eine
Vertretung beigeordnet, die für ihre rechtlichen Interes-
sen sorgt. Allein im Asylverfahren gilt das bislang nicht.
Durch die asylrechtliche Verfahrensfähigkeit erhalten
16- und 17-jährige Asylbewerber im Asylverfahren nicht
den gleichen Schutz wie sonstige Minderjährige in ande-
ren Verfahren. Das allerdings verstößt gegen Art. 1 KRK
in Verbindung mit Art. 22 Abs. 2 KRK. Die Konsequenz:

§ 12 Abs. 1 AsylVfG muss abgeschafft werden. Dann
gelten gemäß § 12 Abs. 2 AsylVfG – der dann zu § 12
Abs. 1 AsylVfG wird – die allgemeinen Vorschriften über
die Volljährigkeit nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch.
Danach hat dann das Jugendamt unverzüglich einen
Vormund für das Flüchtlingskind zu bestellen, der dann
auch im Asylverfahren tätig wird.

Von der Aufhebung der Verfahrensfähigkeit von 16- und
17-Jährigen erhoffen wir uns auch ein Ende der leider
manchmal immer noch rechtswidrigerweise erfolgenden
Unterbringung von unbegleiteten minderjährigen Flücht-
lingen in Aufnahmeeinrichtungen, § 44 AsylVfG, und Ge-
meinschaftsunterkünften, § 53 AsylVfG. Nach den Vor-
schriften des SGB muss das Jugendamt unbegleitete
Minderjährige in Obhut nehmen. Ist dies geschehen,
muss das Flüchtlingskind in einer Jugendhilfeeinrich-
tung oder in einer sonstigen geeigneten Wohnform woh-
nen.

So soll es auch sein. Weder in Erstaufnahmeeinrich-
tungen noch in Gemeinschaftsunterkünften kann das
Kindeswohl vorrangig berücksichtigt werden, wie es
Art. 3 Abs. 1 KRK fordert. Zudem legt Art. 20 KRK fest,
dass ein Kind, das aus seinem familiären Umfeld geris-
sen ist, Anspruch auf besonderen Schutz und Beistand
des Staates hat. Die Unterbringung muss in einer „ge-
eigneten Kinderbetreuungseinrichtung“ erfolgen.

Allerdings geschieht es immer wieder, dass Jugendäm-
ter aus der asylverfahrensrechtlichen Handlungsfähig-
keit schließen, dass eine Inobhutnahme nicht notwendig
ist, und das Kind dann eben doch in der Erstaufnahme-
einrichtung landet. Durch die Streichung des § 12 Abs. 1
Asylverfahrensgesetz kann es nicht mehr zu diesem Miss-
verständnis kommen.

Die Berücksichtigung des Kindeswohles ist schließ-
lich der Maßstab, an dem sich Handlungen gegenüber
Kindern vorrangig messen lassen müssen. So steht es in
Art. 3 Abs. 1 KRK. Dies wollen wir in einem neuen
Abs. 3 des § 12 AsylVfG festschreiben ebenso wie in § 1
AufenthG. Es mag zwar sein, dass das Kindeswohl auch
über Art. 6 GG und Art. 8 der Europäischen Menschen-
rechtskonvention, EMRK, bei Handlungen und Ent-
scheidungen Kindern und Familien gegenüber mit be-
rücksichtigt wurde; Art. 3 KRK ist demgegenüber jedoch
die speziellere Vorschrift. Zudem konkretisiert die KRK
gerade kinderspezifische Rechte.

Wie wichtig und durch die KRK geboten eine Kindern
und Jugendlichen angemessene Unterbringung ist, habe
ich bereits dargelegt. Im Flughafenasylverfahren erfolgt
grundsätzlich eine Unterbringung auf dem Flughafen-
gelände. Dies ist keine Flüchtlingskindern angemessene
Unterbringung. Schon deswegen müssen sie aus dem
Anwendungsbereich des Flughafenverfahrens herausge-
nommen werden, wie wir es mit unserem Gesetzentwurf
vorschlagen. Außerdem ist bei unbegleiteten Kindern
und Jugendlichen ein sogenanntes Clearingverfahren –
bei dem im Sinne des Kindeswohls und anhand des Ein-
zelschicksal überlegt wird, welches aufenthaltsrechtli-
che Ziel den Interessen des Kindes am ehesten gerecht
wird – nach Einreise durchzuführen. Ein solches Verfah-
ren kann nur in einer geeigneten Einrichtung gelingen.

Zu Protokoll gegebene Reden





Rüdiger Veit


(A) (C)



(D)(B)


Damit es keinen Zweifel mehr daran geben kann, dass
unbegleitete Flüchtlingskinder vom Jugendamt in Obhut
zu nehmen und nicht in Gemeinschaftsunterkünften un-
terzubringen sind, muss dies schließlich ausdrücklich so
ins Gesetz geschrieben werden. Daher fordern wir die
Anfügung eines Satzes 3 in § 53 Abs. 1 AsylVfG, der
ebendies klarstellend sagt.

Wir fordern, dass unbegleitete minderjährige Flücht-
linge nicht an der Grenze zurückgeschoben werden. Das
wollen wir ausdrücklich so in § 15 AufenthG, der die Zu-
rückweisung regelt, festlegen. Zwar dürfen Flüchtlinge,
die einen Asylantrag gestellt haben, gemäß § 15 Abs. 4
Satz 2 AufenthG nicht zurückgewiesen werden, was na-
türlich auch für Flüchtlingskinder gilt. Allerdings fällt es
gerade dieser Personengruppe schwer, ein Asylbegehren
unmittelbar und spontan an der Grenze vorzutragen. Es
bedarf auch hier eines Clearingverfahrens, was, wie be-
reits dargestellt, nur in einer „geeigneten Kinderbetreu-
ungseinrichtung“, Art. 20 KRK, durchgeführt werden
kann.

Lassen Sie mich nun zu der sogenannten Altersfest-
stellung von Jugendlichen kommen. Eine solche wird im-
mer dann notwendig, wenn Zweifel an dem Lebensalter
eines jugendlichen Flüchtlings bestehen. Hier gibt es
mehrere Methoden. Ausgangspunkt ist zumeist eine me-
dizinische Untersuchung. Umstritten ist vor allem die
Röntgenuntersuchung der Handwurzelknochen, bei der
es zu Abweichungen von bis zu einem Jahr nach oben
und nach unten kommen kann, einen gesunden, normal
ernährten Jugendlichen vorausgesetzt. Leider kann dies
jedoch nicht immer der Maßstab sein; Vorerkrankungen
und Mangelernährung der Flüchtlingskinder können zu
Abweichungen von mehreren Jahren führen. Wenn je-
doch Zweifel an dem Ergebnis bestehen, muss unserer
Ansicht nach das Jugendamt eingeschaltet werden. Die-
ses hat die notwendige Kompetenz, um das Alter des Ju-
gendlichen herauszufinden. Und selbstverständlich muss
der Jugendliche in die Maßnahmen eingewilligt haben.

Um schließlich noch weiter umfassend dafür Sorge zu
tragen, dass ein Flüchtlingskind nicht in einer Erstauf-
nahmeeinrichtung oder einer Gemeinschaftsunterkunft
im Sinne des AslyVfG landet, schlagen wir die Einfü-
gung eines ergänzenden Satzes in § 42 SGB VIII vor, der
die Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen durch
das Jugendamt regelt. Wir wollen deutlich in das Gesetz
schreiben, dass die genannten Unterkünfte für volljäh-
rige Asylbewerber keine für unbegleitete Minderjährige
geeigneten Wohnformen darstellen, und zwar auch dann
nicht, wenn das zuständige Jugendamt Kapazitätspro-
bleme geltend machen sollte.

Das Asyl- und Aufenthaltsrecht ist eine hochkompli-
zierte Materie. Kenntnisse auf diesem Rechtsgebiet sind
jedoch unerlässlich für denjenigen Rechtsbeistand, der
einen jugendlichen Flüchtling bei der Geltendmachung
seiner Rechte unterstützen will. Bereits heute beantra-
gen viele Jugendämter als Vormund eines minderjähri-
gen Flüchtlings im Ausländer- und Asylrecht erfahrene
Rechtsanwälte als Verfahrenspfleger, § 1909 BGB, für
die Durchführung eines Verfahrens in diesen Rechtsge-

bieten, da ihnen selbst hier meistens die nötige Sach-
kunde fehlt.

Wir wollen dies zur Regel machen. Und in der ganz zu
Anfang meines Beitrags zitierten Rede von Frau
Leutheusser-Schnarrenberger betonte ja auch die Frau
Ministerin, dass Jugendliche bis zum 18. Lebensjahr na-
türlich einen angemessenen Rechtsbeistand erhalten
sollen. In unserem Gesetz schlagen wir eine diesbezügli-
che Änderung in § 42 SGB VIII vor.

Dies sind die Änderungen im Detail. Doch fordern
wir nicht nur Detailregelungen, sondern eine umfassend
kinderfreundliche Einwanderungs-, Flüchtlings- und In-
tegrationspolitik. Wir zeigen mit dem vorliegenden Ge-
setzentwurf, dass die Rücknahme des Vorbehalts Wir-
kungen zeigen muss, statt nur symbolisch zu wirken. Wir
stehen mit umfassenden Vorschlägen zum Bleiberecht
dafür ein, dass auch geduldete Kinder und Jugendliche
die Chance auf einen legalen Aufenthalt bekommen.
Und wir verdeutlichen mit unserer Forderung nach Ab-
schaffung der Optionspflicht, dass es für uns keine deut-
schen Kinder erster und zweiter Klasse gibt.

Damit setzen wir eine Politik fort, die wir bereits frü-
her begonnen haben. Ich erinnere daran, dass meine
Fraktion die Rücknahme des Vorbehalts gemeinsam mit
dem damaligen Koalitionspartner schon in der 14. und
15. Wahlperiode angemahnt hat. Aus dieser Tradition
heraus bitte ich Sie im Interesse und zum Wohle unbe-
gleiteter minderjähriger Flüchtlinge: Stimmen Sie die-
sem Gesetz zu.

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
Die Situation von minderjährigen Flüchtlingen in den

Blick zu nehmen, ist ein grundsätzlich ehrenwertes An-
liegen. Auch einzelne Vorschläge des SPD-Gesetzent-
wurfs sind aus unserer Sicht diskutabel. Unbegleitete
minderjährige Flüchtlinge müssen ihren Bedürfnissen
entsprechend behandelt werden. Minderjährige unbe-
gleitete Flüchtlinge müssen ihren Schutzbedürfnissen
entsprechend behandelt werden. Für uns gehört dazu
auch das Recht auf Bildung. Das Kindeswohl muss im
Zentrum stehen.

Ob eine Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünf-
ten hier abträglich sein kann, sollten die Länder sich
überlegen. Überhaupt ist zu sagen, dass vieles bereits
von den Ländern gemacht werden könnte. Da könnte die
SPD selber viel von dem gestalten, was sie hier im Bun-
destag vorträgt – wenn sie es denn ernsthaft wollte.

Warum macht die SPD den Gesetzentwurf – ausge-
rechnet jetzt? Sie hat elf Jahre im Bund mitregiert und
nichts in diesem Bereich geschafft. Aber in der Opposi-
tion will sie allen zeigen, wo es langgeht. Ich habe den
Eindruck, dass die SPD-Bundestagsfraktion sich hier
nicht mit ihren Landesregierungen abgestimmt hat. Von
dort würden wohl eher kritische Töne kommen. Insofern
ist der Gesetzentwurf eher ein billiger, aber wenig über-
zeugender Anbiederungsversuch an die entsprechenden
Interessengruppen.

Im Unterschied zu elf Jahren SPD haben drei Jahre
Regierungsbeteiligung der FDP sehr viel mehr bewirkt –

Zu Protokoll gegebene Reden





Hartfrid Wolff (Rems-Murr)



(A) (C)



(D)(B)


gerade im Bereich des humanitären Ausländerrechts.
Wir haben in den letzten drei Jahren geschafft, während
die SPD in ihrer Regierungszeit versagt hat: Wir haben
dafür gesorgt, dass im Rahmen des sogenannten Richtli-
nienumsetzungsgesetzes das Kindeswohl einen zentralen
Platz im Ausländerrecht erhält. Die Koalition aus Union
und FDP hat eine neue Integrationspolitik auf den Weg
gebracht: Wir erschließen die Chancen der Zuwande-
rung für unser Land besser und stärken den Zusammen-
halt unserer durch Zuwanderer bereicherten Gesell-
schaft. Fördern und Fordern gehören zusammen.

Wir haben die Residenzpflicht für Geduldete und
Asylbewerber gelockert, um ihnen die Aufnahme einer
Beschäftigung oder Ausbildung zu erleichtern. Damit
steigern wir die Chancen von jungen Migranten, auf
dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen und sich in unserer Ge-
sellschaft weiter zu entwickeln.

Die christlich-liberale Koalition eröffnet so Perspek-
tiven für Menschen, die in unser Land gekommen sind.
Multikultiromantik oder Desintegration durch Weg-
schauen helfen uns nicht weiter. Die Koalition aus FDP
und CDU/CSU geht dagegen ohne Scheuklappen beste-
hende Defizite der Integrationspolitik an.

Es gilt, die Möglichkeiten der Zuwanderung für unser
Land besser zu nutzen. Mit unseren bisherigen Gesetzes-
initiativen wurden in ausgewogener Weise Maßnahmen
zur Förderung der Integration und zur humanitären
Besserstellung von Ausländern, die in Deutschland Hilfe
und Schutz suchen, ergriffen. Wir haben erstmals für
minderjährige und heranwachsende geduldete Auslän-
der ein vom Aufenthaltsrecht der Eltern unabhängiges
Bleiberecht in einem Bundesgesetz geschaffen. Die rot-
grüne Koalition hatte das nicht zustande gebracht.

Auch in anderen Bereichen der Zuwanderungssteue-
rung haben wir längst viel mehr geleistet, als die SPD in
den elf Jahren ihrer letzten Regierungsbeteiligung: Wir
helfen Frauen in Not. Zwangsheirat wird jetzt explizit
als Straftat benannt. Wir haben auch den Opfern von
Zwangsverheiratungen eine Perspektive mit einem ei-
genständigen Wiederkehr- bzw. Rückkehrrecht gegeben.
Jetzt erhalten sie eine Chance, sich zu befreien. Dem
dient auch die Verlängerung der Antragsfrist für die
Aufhebung der Ehe.

Die Ausländerbehörden haben wir verpflichtet, vor
Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis festzustellen,
ob einer Pflicht zur ordnungsgemäßen Integrationskurs-
teilnahme nachgekommen wurde. Damit können die In-
tegrationskurse besser fokussiert und aktive Integra-
tionspolitik gestaltet werden. Das erhöht die Chancen
für Menschen, die nach Deutschland kommen, auch in
Deutschland wirklich anzukommen und sich eine Exis-
tenz aufzubauen. Die Koalition aus CDU/CSU und FDP
verbessert tatkräftig die Integration ausländischer Men-
schen in Deutschland und eröffnet ihnen Perspektiven.
Wir fördern und fordern! So kommt Deutschland – und
alle, die hier leben wollen – voran. Der Schlüssel für ge-
sellschaftlichen Zusammenhalt ist erfolgreiche Integra-
tion. Wir stellen die Weichen dafür!

Unter diesem Aspekt werden wir auch die jetzt vorge-
legten Wünsche der SPD prüfen. Schon jetzt lässt sich
aber sagen, dass ihre Wünsche, etwa Zurückweisungen
an der Grenze oder das Flughafenverfahren generell
auszuschließen, solcherart sind, wie sie die SPD selbst
in ihrer Regierungszeit nie auch nur versucht hat.

Sicherlich ist die SPD einverstanden, dass wir des-
halb solche Vorschläge, denen näherzutreten sie selbst
in Regierungszeiten nicht geneigt war, nicht zu unseren
Hauptprioritäten bei der Diskussion um besseren
Flüchtlingsschutz machen.


Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720133000

Die SPD-Fraktion legt hier heute einen Gesetzent-

wurf vor, mit dem endlich die Kinderrechtskonvention
der Vereinten Nationen im deutschen Aufenthalts- und
Asylrecht umgesetzt werden soll. Mit Unterzeichnung
dieser Konvention im Jahr 1991 hatte die damalige Bun-
desregierung gemeinsam mit den Bundesländern einen
Vorbehalt eingelegt, mit dem sich die Bundesrepublik
Deutschland eine schlechtere Behandlung von ausländi-
schen Kindern vorbehalten hatte. Die von der Fraktion
Die Linke bereits zu Beginn der Wahlperiode geforderte
Rücknahme des Vorbehalts ist mittlerweile erfolgt. Die
von der SPD nun vorgeschlagenen Gesetzesänderungen
entsprechen weitgehend dem, was die Linke ebenfalls in

(Bundestagsdrucksache 17/59)


Im Zentrum der Kritik steht die Asylverfahrensmün-
digkeit bereits mit 16 statt mit 18 Jahren. Einige der
minderjährigen Asylsuchenden werden also zumindest
im Asylverfahren wie Erwachsene behandelt. Das soll
mit diesem Gesetzentwurf geändert werden. Der Gesetz-
entwurf sieht eine Reihe weiterer Verbesserungen im
Asylverfahren und bei den Aufnahmebedingungen vor.
So sollen unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nicht
mehr in Sammelunterkünften untergebracht, sondern
nur noch in Obhut der Jugendämter genommen werden
und entsprechend in kinder- und jugendgerechten Ein-
richtungen leben.

Die Linke begrüßt diesen Gesetzentwurf; an einigen
Stellen müsste er allerdings deutlich weiter gehen. So
sollen nach dem Gesetzentwurf unbegleitete Minderjäh-
rige aus dem Flughafenasylverfahren herausgenommen
werden. An dieser Stelle wäre es nicht falsch gewesen,
das rechtsstaatswidrige Schnellverfahren im Flughafen-
transitbereich ganz zu streichen. Mindestens hätte man
aber auch die Familien dort herausnehmen müssen;
denn für Kinder ist eine solche Umgebung generell
ungeeignet, ob nun die Eltern dabei sind oder nicht.
Ähnliches gilt bei der Abschiebungshaft. Unbegleitete
Minderjährige sollen nach dem Willen der SPD nicht in
Sammelunterkünften und nicht im Flughafentransit un-
tergebracht werden. Es wäre nur konsequent gewesen,
dann auch die Abschiebungshaft für Minderjährige, un-
begleitet oder nicht, zu untersagen. Neben der Inobhut-
nahme durch die Jugendämter sollte es außerdem einen
Anspruch auf eine Rechtsvertretung für unbegleitete
Minderjährige geben. Wir alle wissen, dass es sich beim
Asyl- und Aufenthaltsrecht in Deutschland um eine

Zu Protokoll gegebene Reden





Ulla Jelpke


(A) (C)



(D)(B)


hochkomplexe Rechtsmaterie handelt. Dafür brauchen
Kinder und Jugendliche entsprechende Unterstützung,
die selbst von engagierten Vormündern nicht geleistet
werden kann.

An einem Punkt widersprechen wir dem Gesetzent-
wurf der SPD allerdings deutlich. Sie wollen medizini-
sche Eingriffe zur Altersfeststellung mit Einschränkun-
gen weiter zulassen. Dabei handelt es sich meist um eine
Röntgenuntersuchung der Handwurzelknochen. Wir leh-
nen so etwas generell ab und fordern stattdessen, im
Zweifel auf die Aussagen der Betroffenen zu vertrauen.

Einen weiteren Punkt vermissen wir im Gesetzent-
wurf der SPD. Bei weitem nicht alle EU-Staaten haben
das Niveau der Fürsorge für unbegleitete Minderjäh-
rige, das in Deutschland glücklicherweise bereits er-
reicht ist. Das gilt besonders für jene Staaten, die ohne-
hin die EU-Vorgaben zu den Aufnahmebedingungen für
Schutzsuchende unterlaufen. Doch wenn festgestellt
wird, dass die minderjährigen Flüchtlinge bereits in ei-
nem anderen EU-Staat einen Asylantrag gestellt haben,
versucht man sie ihm Rahmen der Dublin-Zuständig-
keitsregeln schnell wieder dorthin loszuwerden. Dabei
wird auch wenig Rücksicht darauf genommen, welche
psychischen Konsequenzen eine solche Behandlung für
die Kinder und Jugendlichen hat oder ob es in dem be-
treffenden EU-Staat überhaupt ein angemessenes Sys-
tem für die Aufnahme von unbegleiteten minderjährigen
Flüchtlingen gibt. So droht jungen Flüchtlingen weiter
die Abschiebung nach Italien, auch wenn sie dort auf
der Straße leben müssen. Das ließe sich nur mit einem
generellen Verzicht auf Überstellungen von Minderjäh-
rigen im Dublin-Verfahren verhindern. Und auch an
diesem Punkt gilt: Minderjährige im Familienverbund
dürfen nicht schlechter gestellt sein als unbegleitete
Minderjährige. Auch sie müssen davor geschützt wer-
den, im europäischen Zuständigkeitsdschungel hin- und
hergeschoben zu werden.


Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720133100

Bündnis 90/Die Grünen haben sich stets für eine vor-

behaltlose Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention
eingesetzt und dies auch in mehreren parlamentarischen
Initiativen zum Ausdruck gebracht. Nach der Rück-
nahme des deutschen Vorbehalts müssen nun auch die
bundesrechtlichen Konsequenzen durch Gesetzes-
anpassungen insbesondere im Aufenthalts- und Asylver-
fahrensgesetz gezogen werden.

Die Rechtsauffassung des Bundesinnenministeriums
und des Bundesjustizministeriums, aus der Rücknahme
der deutschen Vorbehaltserklärung ergebe sich, insbe-
sondere mit Blick auf das Asyl- und Aufenthaltsrecht,
„kein legislativer Handlungsbedarf“, ist nicht nachzu-
vollziehen, da dann völlig unverständlich ist, warum die
Bundesregierung seit 18 Jahren mit allen Mitteln ver-
sucht hat, die Rücknahme einer angeblich völlig folgen-
losen Vorbehaltserklärung zu verhindern.

Es trifft nicht zu, dass ausländischen Kindern schon
heute alle sich aus der UN-Kinderrechtskonvention tat-
sächlich ergebenden Rechte gewährt werden. Auch
wenn einzelne Regelungen der Verwaltungspraxis Spiel-
räume bieten, ist der Gesetzgeber trotzdem selbst gefor-

dert. Andernfalls besteht die Gefahr uneinheitlicher
Standards innerhalb Deutschlands. Dies gilt insbeson-
dere für die zentrale Frage der Handlungsfähigkeit von
Minderjährigen.

Der SPD-Gesetzentwurf greift diese zentrale Forde-
rung auf und verankert erfreulicherweise im vorliegen-
den Gesetzentwurf das Prinzip des Kindeswohls als vor-
rangig zu berücksichtigenden Gesichtspunkt. Beim
Flughafenasylverfahren schlägt die SPD vor, unbeglei-
tete Minderjährige von diesem Schnellverfahren auszu-
nehmen, das im Flughafentransit unter Bedingungen der
Kasernierung durchgeführt wird. Dies begrüßen wir,
wenngleich die Forderung hinter der grünen Initiative
zurückbleibt, die eine vollständige Abschaffung des
Flughafenverfahrens vorsieht.

Eine Klarstellung sieht der SPD-Gesetzentwurf bei
der Inobhutnahme von minderjährigen Flüchtlingen vor.
So müsste schon heute eine Inobhutnahme flächende-
ckend erfolgen – also eine jugendgerechte Unterbrin-
gung, statt einer in Gemeinschaftsunterkünften mit
Erwachsenen – ebenso wie die Bestellung eines Vormun-
des. Da diese Vorgaben in der Praxis immer wieder un-
terlaufen werden, ist eine solche Klarstellung hilfreich.

Andere dringend notwendige Verbesserungen für
Flüchtlingskinder werden allerdings durch den Gesetz-
entwurf nicht gelöst:

Minderjährige Asylsuchende sollten nicht länger auf-
grund der EU-Zuständigkeitsverordnung Dublin II in
Abschiebehaft genommen und in andere EU-Länder ab-
geschoben werden. Die Rückschiebung von Minderjäh-
rigen widerspricht dem Kindeswohl.

Solange die Pflicht zur Wohnsitznahme in Gemein-
schaftsunterkünften für Flüchtlinge nicht abgeschafft
ist, sollte es zumindest für Familien mit Kindern Aus-
nahmen geben, um eine geschützte und kindgerechte
Entwicklung der Minderjährigen zu ermöglichen.

Die schwarz-gelbe Koalition muss sich nun endlich
auch der Rechte von Flüchtlingskindern annehmen. Es
darf nicht sein, dass die Rücknahme der Vorbehalte zur
Kinderrechtskonvention folgenlos bleibt. Wer Kinder-
rechte ernst nimmt, muss die Rechte von Flüchtlings-
kindern stärken und darf deren Situation nicht länger
ignorieren.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720133200

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 17/9187 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge dazu? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 33:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU
und weiterer aufenthaltsrechtlicher Vorschrif-
ten

– Drucksache 17/10746 –





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


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Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses (4. Ausschuss)


– Drucksache 17/11105 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Rüdiger Veit
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
Ulla Jelpke
Memet Kilic

Auch hier sind die Reden zu Protokoll genommen.


Reinhard Grindel (CDU):
Rede ID: ID1720133300

Freizügigkeit ist ein hohes Gut innerhalb der EU. Der

Gesetzgeber in Deutschland achtet dies. Trotzdem ist
seitens der Kommission offenbar der Eindruck entstan-
den, dass wir in der Bundesrepublik die entsprechende
EU-Richtlinie zur Freizügigkeit nicht angemessen
umgesetzt hätten. Mit diesem Gesetz, das wir heute in
zweiter und dritter Lesung abschließend beraten, wird
dieser mögliche Fehler geheilt.

Einer der Kernpunkte dieses Gesetzes ist, dass Le-
benspartner von Unionsbürgern beim Recht auf Einreise
und Aufenthalt Ehegatten gleichgestellt werden.

Zweitens erreichen wir eine erhebliche Entlastung
der Kommunen von Bürokratiekosten durch die Ab-
schaffung der rein deklaratorischen und kostenfrei aus-
zustellenden Freizügigkeitsbescheinigung für Unions-
bürger. Dieses Dokument erinnert etwas an den von
Reinhard Mey in einem Lied beschriebenen Antrag zur
Erteilung eines Antragsformulars. Als Nachweis für den
rechtmäßigen Aufenthalt reichen in der Tat Pass und
Meldebescheinigung völlig aus.

Wir müssen uns vor Augen führen, dass wir dieses
Gesetz in einer Zeit beschließen, in der der Migrations-
druck nach Deutschland wieder deutlich höher ist als
noch vor zwei oder drei Jahren. Das beweisen auch die
sprunghaft gestiegenen Asylbewerberzahlen. Insofern
ist es nur zu begrüßen, dass Vorschriften in das Gesetz
Eingang gefunden haben, die zur Bekämpfung von
Scheinehen und eines Missbrauchs des Rechts auf Frei-
zügigkeit geeignet sind. Es ist jetzt vorgesehen, dass
Freizügigkeitsrechte widerrufen werden können, wenn
nachträglich das Vorliegen einer Scheinehe festgestellt
wird. Mein Kollege Stephan Mayer hat bereits in der
ersten Lesung zu diesem Gesetz darauf hingewiesen,
dass es nach Erkenntnissen der Innenministerkonferenz
jährlich mindestens 1 000 Fälle von Scheinehen in
Deutschland geben dürfte. Die Dunkelziffer liegt ver-
mutlich noch höher.

Typische Fallkonstellationen sind das nur formale
Eingehen einer Ehe sowie die Anerkennung einer Vater-
schaft ohne das Ziel, tatsächlich eine familiäre Lebens-
gemeinschaft zu führen. Hinzu kommen unterschiedliche
Formen des Gebrauchs von verfälschten Dokumenten
sowie die Täuschung über den Wohnsitz oder das
Arbeitsverhältnis, insbesondere um Einreise- und Auf-
enthaltsrechte für Angehörige zu erschleichen.

Wenn man sich vor Augen führt, welche Konsequen-
zen die Einräumung des Rechts auf Freizügigkeit hat,
dann kann sich die Zahl der Personen, die sich insoweit
einen Aufenthalt in Deutschland erschleichen können,
schnell verdoppeln und verdreifachen. Deshalb muss
hier konsequent ein Riegel vorgeschoben werden. Wir
haben schon zu Beginn der Legislaturperiode mit der
Anhebung der Ehebestandszeit für ein eigenständiges
Aufenthaltsrecht von zwei auf drei Jahre einen wichtigen
Schritt im Kampf gegen die Scheinehen unternommen.

Jetzt folgt ein weiterer wichtiger Baustein gegen den
Missbrauch unseres Aufenthaltsrechts. Und es ist schon
bezeichnend, dass die Fraktion Die Linke und die Grü-
nen diesen Kampf gegen Scheinehen nicht mitmachen
und uns für diese Gesetzesinitiative kritisieren. Zu einer
gelingenden Integration gehört die Aufnahmebereit-
schaft der einheimischen Bevölkerung. Es ist unbestreit-
bar, dass die Fälle von Scheinehen insgesamt zu Vor-
urteilen gegenüber unseren ausländischen Mitbürgern
führen. Insoweit muss es gerade im Interesse einer gelin-
genden Integrationspolitik sein, Scheinehen konsequent
entgegenzuwirken.

Der von mir angesprochene erhöhte Migrationsdruck
ist auch der Hintergrund für die Frage, ob wir im Rah-
men dieses Gesetzes die Einreise von weiteren Familien-
angehörigen zu Unionsbürgern näher regeln müssen,
insbesondere wenn der Unionsbürger mit diesem Fami-
lienangehörigen im Herkunftsland in häuslicher Ge-
meinschaft gelebt hat. Wir haben im Zuwanderungsrecht
eine Härtefallklausel für diese Fälle des Familiennach-
zugs. Wir gehen davon aus, dass es sich dabei um eine
europarechtskonforme Regelung handelt, und sehen
jetzt keinen Nachbesserungsbedarf.

Nicht unerwähnt lassen will ich, dass quasi im „Om-
nibusverfahren“ an das Gesetz eine klare gesetzliche
Regelung für eine Prüfungsverordnung in Bezug auf
Abschlusstests bei Sprach- und Orientierungskursen
vorgenommen wurde, die bisher nur in der Integrations-
kursverordnung geregelt waren und auf eine saubere ge-
setzliche Grundlage gestellt werden sollen.

Ich nehme das zum Anlass, darauf zu verweisen, dass
die verbindliche Prüfungsordnung die Qualität der
Kurse weiter verbessert hat und wir einen transparente-
ren Einblick haben, wie erfolgreich die einzelnen Träger
bei ihren Integrationskursen sind. Das ist auch für aus-
ländische Mitbürger, die in einer Kommune mit mehre-
ren Anbietern leben, eine wichtige Orientierungshilfe,
um den möglichst besten Integrationskurs zu finden.

Abschließend will ich darauf hinweisen, dass der
Bundesrat eine positive Stellungnahme zu unserem
Gesetz abgegeben und keine Änderungen verlangt hat.
Die Praktiker des Freizügigkeitsrechts vor Ort sehen die
Sache also offenbar genauso wie wir. Auch vor diesem
Hintergrund bitte ich um Zustimmung zu unserem
Gesetzentwurf.


Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1720133400

Wie schon in der ersten Lesung zu dem vorliegenden

Gesetzentwurf der Bundesregierung dargelegt, begrü-





Rüdiger Veit


(A) (C)



(D)(B)


ßen wir die mit dem Entwurf angestrebte Gleichstellung
von Lebenspartnern mit Ehegatten von Unionsbürgern
ebenso wie das mit dem Entwurf verfolgte Ziel, Bürokra-
tiekosten abzubauen und das Verfahren zu vereinfachen.

Die Einführung einer Missbrauchsklausel erachten
wir nicht als notwendig. Sie ist in der Richtlinie 2004/
38/EG nicht zwingend, sondern als Möglichkeit vorgese-
hen. In den Beratungen des Gesetzentwurfes wurde
diese Neuregelung besonders kontrovers diskutiert. Ins-
besondere die Fraktion Die Linke befürchtet, dass es
aufgrund der Einführung der Missbrauchsklausel zu
einer verschärften Überprüfung binationaler Ehen kom-
men könne, die dadurch stark belastet und einem gene-
rellen Missbrauchsverdacht ausgesetzt werden könnten.
Zudem gebe es keine verlässlichen Hinweise darauf,
dass es im Bereich des freizügigkeitsrechtlichen Ehegat-
tennachzugs zu vermehrten Missbräuchen kommt.
Derartige empirische Nachweise sind auch uns nicht be-
kannt, und wir halten die Argumente der Fraktion Die
Linke für nachvollziehbar. Allerdings kommen wir ande-
rerseits nicht umhin, die diesbezüglichen Sorgen der
Bundesländer ernst zu nehmen.

Nach wie vor wollen wir jedoch freizügigkeitsrechtli-
che Visaerleichterungen für nachziehende Ehegatten
und sonstige Familienangehörige. Solche haben wir in
unserem Gesetzentwurf auf Drucksache 17/8921, „Ent-
wurf eines Gesetzes zur Änderung des aufenthalts- und
freizügigkeitsrechtlichen Ehegattennachzugs“, vorge-
schlagen. Dazu gehört die Erteilung eines Ausnahme-
visums an der Grenze an Familienangehörige, die nicht
Unionsbürger sind, aber einen solchen begleiten oder
ihm nachziehen, wenn sie die familiäre Verbundenheit
mit dem Unionsbürger ebenso nachweisen wie ihre ei-
gene Identität. Außerdem wollen wir eine gesetzliche
Klarstellung dahin gehend, dass der Besitz einer Aufent-
haltskarte eines Mitgliedstaates der Europäischen
Union von der Visumspflicht befreit und den Inhaber/die
Inhaberin zur Inanspruchnahme der Freizügigkeits-
rechte innerhalb der Europäischen Union berechtigt,
und zwar unabhängig davon, ob der freizügigkeits-
berechtigte Unionsbürger diesen Familienangehörigen
ständig begleitet oder nicht.

Die Fraktion Die Linke hat in den Beratungen zu dem
Gesetzentwurf der Bundesregierung einen Änderungs-

(Ausschussdrucksache 17 wir zugestimmt haben. Darin fordert sie, dass Familienangehörigen, die nicht Verwandte aufbzw. absteigender Linie sind, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit die Einreise erlaubt werden können muss; insbesondere, wenn ihnen vom primär aufenthaltsberechtigten Unionsbürger Unterhalt gewährt wird, aber auch in weiteren Fällen. Dieser Änderungsantrag setzt Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG um. Außerdem zieht er die Konsequenz aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs, EuGH, vom 5. September 2012, wonach zwar eine Unterscheidung vorgenommen werden kann zwischen Familienangehörigen von Unionsbürgern (Verwandte in aufund absteigender Linie)

hinsichtlich ihrer aufenthaltsrechtlichen Behandlung,

aber dass „Anträge auf Einreise … von Personen, die zu
einem Unionsbürger in einem besonderen Abhängig-
keitsverhältnis stehen, gegenüber den Anträgen anderer
Drittstaatsangehöriger in gewisser Weise bevorzugt zu
behandeln“ sind.

Wie schon in dem Votum zur ersten Lesung des
Gesetzentwurfs stellen wir fest, das der Entwurf die ein-
gangs erwähnten positiven Regelungen enthält, wir al-
lerdings weitergehende Regelungen, vor allem Visum-
erleichterungen für Familienangehörige, wollen.

Wir werden uns daher der Stimme enthalten.


Serkan Tören (FDP):
Rede ID: ID1720133500

Es freut mich sehr, dass sich alle Fraktionen des Hau-

ses in der ersten Lesung zur Freizügigkeit in der Euro-
päischen Union bekannt haben. Die Kritik an dem Ge-
setzesvorhaben, die von Teilen der Opposition geäußert
worden ist, kann ich nicht nachvollziehen. Zuwanderung
in die Europäische Union und damit auch Zuwanderung
nach Deutschland bedürfen klarer Regeln, die für alle
Menschen transparent und nachvollziehbar sind. Zu-
wanderung muss zudem gesteuert werden, damit sich
Einwanderer erfolgreich in unsere Gesellschaft einfügen
können. Das sind wir nicht nur unseren Bürgern schul-
dig, sondern auch den Einwanderern selbst. Ihnen ist
nicht geholfen, wenn sie keine wirtschaftliche Perspek-
tive in Deutschland haben.

Die Linkspartei fordert Abrüstung an den Grenzen
und verschweigt, dass die christlich-liberale Koalition
Deutschland zu einem attraktiven Einwanderungsland
gemacht hat. Mit der Bluecard ist Deutschland in die ge-
steuerte Zuwanderung eingestiegen. Menschen von au-
ßerhalb der EU können zu uns kommen, wenn sie über
einen Hochschulabschluss verfügen und ein Einkommen
von 44 800 Euro pro Jahr erzielen – für eine Tätigkeit in
einem Mangelberuf reichen sogar 34 900 Euro aus. Wir
schließen damit die Lücke bei Ärzten, Ingenieuren und
IT-Experten, um unseren Wohlstand und unsere Lebens-
qualität langfristig zu sichern.

Heute haben wir im Bundestag mit den Stimmen der
Koalition beschlossen, dass wir künftig mit bis zu 4 Mil-
lionen Euro pro Jahr die Sprachförderung von Zuwan-
derern fördern. Diese Sprachförderung kommt nicht nur
den Zuwanderern aus Drittstaaten zugute, sondern auch
allen EU-Bürgern, die nach Deutschland kommen. Dies
ist vor allem deshalb besonders wichtig, da mittlerweile
jeder zweite Zuwanderer nach Deutschland aus anderen
EU-Ländern stammt. Wir haben uns damit erneut zur
Freizügigkeit in der EU bekannt. Wir fördern nicht nur
die Freizügigkeit als theoretische Möglichkeit, sondern
auch deren Umsetzung in der Praxis. Wir ermöglichen
Menschen, sich in unserem Land und in unserer Wirt-
schaft und Gesellschaft einzubringen.

Deutschland ist ein offenes Land, aber nicht grenzen-
los. Zuwanderung bedarf der Steuerung. Dazu gehört
auch, dass Scheinehen kein legitimes Mittel zur Erlan-
gung eines Aufenthaltsstatus sind und dass Familien-
nachzug – den wir nachdrücklich befürworten – ein
vertretbares Maß umfasst. Die Akzeptanz von Einwan-

Zu Protokoll gegebene Reden





Serkan Tören


(A) (C)



(D)(B)


derung und Einwanderern in unserer Gesellschaft hängt
auch davon ab, ob für alle die gleichen Regeln gelten.
Das liegt auch gerade mir als Einwanderer besonders
am Herzen.


Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720133600

Bereits bei der ersten Lesung des vorliegenden

Gesetzentwurfs zur Änderung des Freizügigkeitsgeset-
zes habe ich erklärt, dass die Linke es selbstverständlich
begrüßt, wenn künftig Lebenspartnerinnen und Le-
benspartner von Unionsangehörigen mit Ehegatten auf-
enthaltsrechtlich gleichgestellt werden. Diese Korrektur
war allerdings auch überfällig.

Auch dass künftig keine sogenannten Freizügigkeits-
bescheinigungen mehr beantragt werden müssen, ist im
Prinzip eine Erleichterung. Jedoch erwarte ich von der
Bundesregierung, dass sie die Behörden, die Öffentlich-
keit und die Betroffenen über diese Änderung umfassend
informiert, auch wenn diese Änderung rein rechtlich
betrachtet minimal ist, weil diese Bescheinigung schon
immer nur einen deklaratorischen Wert hatte. Doch im
bürokratiegeprägten bundesdeutschen Alltag ist es
schon eine kleine Revolution, wenn Menschen nichtdeut-
scher Staatsangehörigkeit über ihr Aufenthaltsrecht in
Deutschland keinerlei behördliche Bescheinigung mehr
vorweisen müssen – bzw. nicht können. Und das ist auch
das Problem: Zumindest einzelne Behördenvertreter,
etwa in den Sozialämtern, aber auch Privatpersonen,
wie Vermieter und Arbeitgeber, und die Betroffenen
selbst werden verunsichert sein, wenn es kein Papier
mehr gibt, das Unionsbürgerinnen und -bürgern bestä-
tigt, dass sie sich hier legal aufhalten. Deshalb halte ich
eine systematische und breite Bekanntmachung dieser
Rechtsänderung für dringend erforderlich, damit sie
sich für Unionsangehörige nicht nachteilig auswirkt.
Auch soll sich damit im allgemeinen Bewusstsein festset-
zen, dass EU-Bürgerinnen und -Bürger grundsätzlich
keine Aufenthaltserlaubnis und auch keine amtliche Be-
scheinigung brauchen, wenn sie in Deutschland leben
wollen.

Die Gründe, aus denen Die Linke den Gesetzentwurf
ablehnt, hatte ich ebenfalls bereits bei seiner Einbrin-
gung benannt. Sie gelten verstärkt fort, weil die Koali-
tion im Gesetzgebungsverfahren keinerlei Änderungen
mehr vorgenommen und auch unseren beiden Ände-
rungsanträgen nicht zugestimmt hat.

Dabei hätte die Koalition zumindest unserem Antrag
zur Umsetzung des sogenannten Rahman-Urteils des
Europäischen Gerichtshofs, EuGH, vom 5. September
2012 eigentlich zwingend zustimmen müssen. Inhaltlich
geht es darum, dass ein Nachzug von entfernten Ver-
wandten nach derzeit geltendem Recht in Deutschland
nur im außergewöhnlichen Härtefall und nur nach Maß-
gabe des Aufenthaltsgesetzes möglich ist, § 36 Abs. 2
AufenthG. Meines Wissens nach kommt diese Regelung
in der Praxis kaum zur Anwendung. Dies wird dem ge-
nannten Urteil nicht gerecht, wonach Unionsangehörige
gegenüber Drittstaatsangehörigen „in gewisser Weise
bevorzugt“ behandelt werden müssen – wie auch immer
man eine solche Ungleichbehandlung politisch bewer-

tet. Und weiter forderte der EuGH, dass die Einreise-
bedingungen für diese Gruppe wirksam erleichtert wer-
den müssen – die überaus hohen Hürden eines
außergewöhnlichen Härtefalls entsprechen dem nicht.

Dass die Bundesregierung Urteile des EuGH igno-
riert, wenn diese nicht in ihr politisches Konzept passen,
ist im aufenthaltsrechtlichen Kontext leider kein Einzel-
fall. Auch beim EWG-Türkei-Assoziationsrecht, beim
Familiennachzug und bei Regeln zu EU-Binnengrenz-
kontrollen ist dies festzustellen, nun also auch beim
Freizügigkeitsrecht. Wie ist eigentlich die Haltung der
Bundesjustizministerin zu diesem inakzeptablen Um-
gang mit dem Europäischen Gerichtshof? Ich erinnere
daran, dass die EU-Kommission ein Vertragsverlet-
zungsverfahren gegen die Bundesrepublik eingeleitet
hat wegen unzureichender Umsetzung der Freizügig-
keitsrichtlinie, unter anderem wegen der Zuzugsbestim-
mungen von entfernteren Verwandten. Die Bundesregie-
rung hatte bislang erklärt, dass sie das Urteil des EuGH
zu dieser Frage abwarten wolle, um dann hieraus die
Konsequenzen zu ziehen. Nun liegt dieses Urteil vor, und
ich frage Sie: Wann, wenn nicht jetzt, wollen Sie das
nationale Recht endlich den europäischen Vorgaben
anpassen? Die Frist zur Umsetzung ist bereits im Jahr
2006 verstrichen.

Unfassbar ist vor diesem Hintergrund die gestrige
Antwort der Bundesregierung auf meine Frage nach der
fehlenden Umsetzung des Rahman-Urteils: „Derzeit
wird geprüft, inwieweit sich gegebenenfalls Rechtsände-
rungsbedarf aus dem EuGH-Urteil in der Rechtssache
Rahman ergibt.“ Da ist die Bundesregierung zwar
schlauer als die CDU/CSU-Fraktion, die im Innenaus-
schuss noch erklärt hatte, dass alles mit der EuGH-
Rechtsprechung vereinbar sei. Aber wenn ein Bundes-
ministerium auch nach sieben Wochen noch nicht dazu
in der Lage ist, die notwendigen Schlüsse aus einem ge-
rade einmal neunseitigen Urteil zu ziehen, dann ist das
mehr als ein Armutszeugnis.

Leider fand auch unser Änderungsantrag, auf die
neue ausdrückliche Missbrauchsregelung zu verzichten,
keine Mehrheit im Ausschuss. Nur die Grünen stimmten
zu. Die SPD enthielt sich, weil sie den in der Gesetzes-
begründung zitierten – aber nicht im geringsten beleg-
ten – Angaben der Länder folgte, wonach es angeblich
„eine nicht unerhebliche Zahl von Fällen“ gebe. Dabei
haben wir mehrfach darauf hingewiesen, dass es keiner-
lei empirische Belege für eine verbreitete oder gestie-
gene Missbrauchspraxis gibt. Selbst die im staatlichen
Auftrag erarbeiteten Studien bestätigen dies. Die Zahl

(angeblichen)

siv zurückgegangen, die Zahl von bundesweit 734 ent-
sprechenden Verdachtsfällen im Jahr 2011 lag um ein
Viertel unterhalb des Vorjahreswerts. Auch das Metock-
Urteil des EuGH aus dem Jahr 2008 war kein „großes
Einfallstor für Rechtsmissbrauch“, wie Bundesinnen-
minister Schäuble auf EU-Ebene gewarnt hatte. Infolge
des Urteils gab es schlicht keinen signifikanten Anstieg
des Familiennachzugs. Doch zu den rechtspopulisti-
schen Tönen von damals passt, was nun die CDU/CSU-
Fraktion im Innenausschuss zu unserem Änderungsan-

Zu Protokoll gegebene Reden





Sevim Dağdelen

(A) (C)



(D)(B)


trag erklärte: Dieser sei eine „Unterstützungsaktion für
Scheinehen“.

In diesem Zusammenhang möchte ich aber schon da-
rauf hinweisen, dass sogenannte Scheinehen – andere
nennen sie „Schutzehen“ – für viele wegen des restrikti-
ven bundesdeutschen Rechts, verstärkt durch europa-
rechtswidrige Haltung der Bundesregierung, und einer
mitunter auch feindseligen Praxis in den Ausländer-
behörden der einzige Weg sein kann, Menschlichkeit und
Menschenrechte in der Praxis für sich in Anspruch zu
nehmen.

Doch unabhängig davon ist und bleibt auch jener
Einwand der CDU/CSU schlicht falsch, dass in Miss-
brauchsfällen bislang ein Freizügigkeitsrecht entstand.
Das ist völlig absurd, wie den einschlägigen Verwal-
tungsvorschriften zum Gesetz zu entnehmen ist. Einer
besonderen Regelung hat es also keinesfalls bedurft. Wir
befürchten, dass die Neuregelung von den Behörden als
ein Warnsignal verstanden (werden soll) und zu einer
verschärften Prüfpraxis führen wird. Die Folgen dieses
staatlich gesäten Misstrauens könnten dann unzulässige
Verdächtigungen, Denunziationen, Ausspähungen und
Be- oder Verhinderungen des Zusammenlebens vieler bi-
nationaler Paare sein. Deshalb lehnen wir diese Ver-
schärfung ab!

Abschließend lassen Sie mich noch einmal sagen:
Wenn Sie schon ein Gesetz beschließen, das das Wort
„Freizügigkeit“ im Titel führt, dann stellen Sie bei die-
ser Gelegenheit doch endlich auch die Freizügigkeit für
alle Menschen in Deutschland her – und beenden Sie die
menschenrechtswidrige und diskriminierende Residenz-
flicht für Asylsuchende und Geduldete! Sie reden von
Freizügigkeit, aber drangsalieren Flüchtlinge und
schränken ihre Bewegungsfreiheit gnadenlos ein. Die
Linke ist solidarisch mit den Flüchtlingen, die vor drei
Wochen nach einem 600 Kilometer langen Protest-
marsch aus Würzburg in Berlin eingetroffen sind und
nun ihren Protest gegen die Residenzpflicht, Abschie-
bungen und die Lebensbedingungen von Asylbewerbern
in Deutschland durch ein Protestcamp am Oranienplatz
in Berlin-Kreuzberg und durch einen gestern begonne-
nen Hungerstreik auf dem Pariser Platz am Branden-
burger Tor zum Ausdruck bringen.


Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720133700

Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Umset-

zung der Freizügigkeitsrichtlinie enthält Licht und
Schatten. Deswegen werden wir uns heute bei der
Abstimmung enthalten.

Ich beginne mit den positiven Seiten des Gesetzent-
wurfs. Wir begrüßen, dass die Regierung Lebenspartne-
rinnen bzw. Lebenspartner von Unionsbürgerinnen bzw.
-bürgern beim Recht auf Einreise und Aufenthalt den
Ehegatten gleichstellt. Es erstaunt allerdings, dass es
für eine solche Selbstverständlichkeit mehrerer Grund-
satzurteile des Bundesverfassungsgerichts bedurfte. An-
statt unzählige Gesetze zu ändern, könnten wir natürlich
den viel einfacheren Weg der Öffnung der Ehe gehen.

Wir stimmen auch dem Wegfall der nur deklaratori-
schen Freizügigkeitsbescheinigung zu. Die Minderung
des Bürokratieaufwands sowie die Kosteneinsparungen
sind sinnvoll. Allerdings muss sichergestellt werden,
dass die Betroffenen hinreichend über die Neuregelung
informiert werden und ihnen keine Nachteile im Alltag
entstehen, weil sie ihr Aufenthaltsrecht nicht mehr
schriftlich belegen können.

Nun komme ich zu unseren Kritikpunkten. Der Ge-
setzentwurf der Bundesregierung vernachlässigt eine
Reihe von Rügen der Kommission und verfehlt somit
sein Ziel, die Freizügigkeitsrichtlinie vollständig in
deutsches Recht umzusetzen. Ich hatte erwartet, dass wir
im Innenausschuss eingehend über das laufende
Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland debat-
tieren würden. Die Regierungsfraktionen erschienen
aber nicht gut vorbereitet zur Ausschusssitzung, wollten
zunächst sogar ohne Debatte über den Gesetzentwurf
abstimmen und gingen schließlich nicht auf die Kritik-
punkte der Oppositionsfraktionen ein.

Ich möchte im Folgenden auf eine Gesetzesverschär-
fung eingehen, die überhaupt nicht zur Umsetzung der
Richtlinie notwendig war, sowie auf zwei europäische
Vorgaben, die die Bundesregierung außer Acht gelassen
hat.

Kritisch sehen wir die neue Regelung zum Rechts-
missbrauch. Die Regelung erscheint überflüssig, weil
schon heute das Freizügigkeitsrecht im Falle des
Rechtsmissbrauchs gar nicht erst entsteht. Darüber
hinaus bleibt die Bundesregierung eine Begründung für
die Notwendigkeit der Regelung schuldig. In der Geset-
zesbegründung wird lediglich vage darauf verwiesen,
dass Abfragen unter den Ländern eine nicht unerhebli-
che Zahl von Missbrauchsfällen ergeben hätten. Kon-
krete Anhaltspunkte für ein regelungsbedürftiges
missbräuchliches Verhalten der Unionsbürgerinnen und
-bürger sowie ihrer Angehörigen werden nicht genannt
und sind auch nicht anderweitig bekannt. Ich befürchte,
dass die Regelung nur dazu führen wird, dass die Betrof-
fenen in unzulässiger Weise stärker kontrolliert werden
und dadurch – entgegen dem Ziel des Gesetzes – der
Verwaltungsaufwand noch erhöht wird.

Des Weiteren ist nicht zu verstehen, dass die Bundes-
regierung keine Ergänzungen bezüglich der Rechte von
Familienangehörigen im Sinne von Art. 3 Abs. 2a der
Freizügigkeitsrichtlinie vorgenommen hat. Zu diesem
Personenkreis gehören pflegebedürftige Personen und
solche, denen der Unionsbürger im Herkunftsland
Unterhalt gewährt hat oder die mit ihm in häuslicher
Gemeinschaft gelebt haben. Nach § 36 Abs. 2 AufenthG
wird einem Großteil dieser Familienangehörigen in der
Regel der Aufenthalt verwehrt.

Im Vertragsverletzungsverfahren der Kommission ge-
gen Deutschland hat die Bundesregierung immer wieder
argumentiert, die Vorschrift der Richtlinie habe nur de-
klaratorischen Charakter und begründe keine neuen
Rechte. Dieser Argumentation hat der EuGH eine klare
Absage erteilt. In seiner Entscheidung vom 5. September
2012 in der Sache Rahman hat er klargestellt, dass die
Mitgliedstaaten diese Personen, die zu einem Unions-

Zu Protokoll gegebene Reden





Memet Kilic


(A) (C)



(D)(B)


bürger in einem besonderen Abhängigkeitsverhältnis
stehen, gegenüber anderen Drittstaatsangehörigen
bevorzugt behandeln müssen. Insbesondere müssen die
persönlichen Umstände, wie der Grad der Verwandt-
schaft und die finanzielle oder physische Abhängigkeit,
eingehend untersucht werden.

Aus der privilegierten Stellung der genannten Fami-
lienangehörigen folgt, dass ihnen auch nach der Ein-
reise die Rechte aus der Richtlinie zustehen, wie etwa
die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für fünf Jahre,
Gleichbehandlung, der Ausweisungsschutz und das
Recht auf Zugang zur Beschäftigung.

Schließlich rügt die Kommission zu Recht die in § 7
Abs. 2 FreizügigkeitsG/EU geregelte unbefristete
Wiedereinreisesperre, die nur auf Antrag beschränkt
wird. Nach Maßgabe des europäischen Verhältnis-
mäßigkeitsgrundsatzes muss die Wiedereinreisesperre
aber von Amts wegen befristet werden.

Obwohl der Gesetzentwurf positive Änderungen
enthält, können wir wegen der genannten Mängel dem
Gesetzentwurf nicht zustimmen.

D
Dr. Ole Schröder (CDU):
Rede ID: ID1720133800


Mit dem Entwurf für ein Gesetz zur Änderung des
Freizügigkeitsgesetzes/EU legt die Bundesregierung
eine ausgewogene Ergänzung zum Freizügigkeitsgesetz
vor. Der Gesetzentwurf hat drei maßgebliche Ziele:

Erstens. Wir schaffen eine eindeutige Rechtsgrund-
lage im Freizügigkeitsgesetz, um Missbrauch und Be-
trug – etwa durch Scheinehen – auch in Zukunft wir-
kungsvoll entgegentreten zu können.

Zweitens. Eingetragene Lebenspartner werden Ehe-
gatten gleichgestellt: Damit gelten für Lebenspartner
von Unionsbürgern nun in vollem Umfang die Regelun-
gen des Freizügigkeitsrechts bei Einreise und Aufenthalt
im Bundesgebiet.

Drittens. Mit dem Entwurf senken wir Bürokratiekos-
ten: Durch die Abschaffung der deklaratorischen Frei-
zügigkeitsbescheinigung für Unionsbürger entlasten wir
die Kommunen von Verwaltungskosten und die Betroffe-
nen von Bürokratieaufwand.

Eine Überprüfung hat ergeben, dass einzelne Vor-
schriften der Europäischen Freizügigkeitsrichtlinie
noch nicht vollständig in deutsches Recht umgesetzt
worden sind. Das betrifft insbesondere die Gleichstel-
lung von Lebenspartnern mit Ehegatten in Bezug auf ihr
Recht auf Einreise und Aufenthalt nach dem Freizügig-
keitsgesetz sowie die Vorschrift der Richtlinie 2004/38/
EG zur Bekämpfung von Rechtsmissbrauch und Betrug,
zum Beispiel durch das Eingehen von Scheinehen.

Mit der Änderung des Freizügigkeitsgesetzes gelten
für Lebenspartner von Unionsbürgern nun – wie für
Ehegatten auch – in vollem Umfang die Bestimmungen
des Freizügigkeitsrechts zum Familiennachzug. Bislang
waren auf Lebenspartner von Unionsbürgern die Rege-
lungen des nationalen Aufenthaltsgesetzes anzuwenden.

Darüber hinaus wird Art. 35 der Freizügigkeitsricht-
linie umgesetzt: Danach können die Staaten der EU die
erforderlichen Maßnahmen erlassen, um das Freizügig-
keitsrecht im Fall von Rechtsmissbrauch oder Betrug zu
verweigern oder aufzuheben. Auch die Kommission hat
die Mitgliedstaaten wiederholt aufgefordert, Art. 35 um-
zusetzen, um Missbrauch und Betrug zu bekämpfen.

Wie eine Reihe anderer Mitgliedstaaten sieht sich
auch Deutschland mit einer nicht unerheblichen Zahl
von Fällen von Rechtsmissbrauch und Betrug im Zusam-
menhang mit dem europäischen Freizügigkeitsrecht
konfrontiert. Typische Fallkonstellationen sind insbe-
sondere das Eingehen von Scheinehen oder Scheinvater-
schaftsanerkennungen. Dazu kommen verschiedene
Formen der Verwendung gefälschter Dokumente sowie
die Vortäuschung falscher Tatsachen über das Vorliegen
der Voraussetzungen für die Ausübung des Freizügig-
keitsrechts.

Auch andere Mitgliedstaaten beobachten eine wach-
sende Zahl von Missbrauchsfällen und ein Ausweichen
auf die sogenannte European Route, also eine miss-
bräuchliche Inanspruchnahme des Freizügigkeitsrechts
zur Umgehung nationaler Einwanderungsvorschriften.

Mit der Neuregelung im Freizügigkeitsgesetz wird
eine klare Rechtsgrundlage geschaffen, um Betrug und
Missbrauch im Zusammenhang mit dem europäischen
Freizügigkeitsrecht auch künftig effektiv entgegentreten
zu können.

Die erforderliche Anpassung des Freizügigkeitsgeset-
zes/EU wird zugleich genutzt, um Bürokratiekosten zu
verringern, indem die gebührenfrei auszustellende, rein
deklaratorische Bescheinigung über das Aufenthalts-
recht für Unionsbürger – die sogenannte Freizügigkeits-
bescheinigung – abgeschafft wird. Damit trägt der
Gesetzentwurf der Bundesregierung zur finanziellen
Entlastung der Kommunen und zur Verringerung von
Bürokratieaufwand für die Betroffenen bei.

Derzeit überprüft die EU-Kommission die Umsetzung
der Freizügigkeitsrichtlinie in allen Mitgliedstaaten der
Europäischen Union und hat in diesem Zusammenhang
gegen Deutschland – wie gegen eine Reihe weiterer
EU-Mitgliedstaaten auch – ein Vertragsverletzungsver-
fahren wegen teilweise unzureichender Umsetzung die-
ser Richtlinie eingeleitet.

Eines der Hauptmonita der Kommission bezog sich
auf die Gleichstellung von Lebenspartnern mit Ehegatten
im Freizügigkeitsgesetz. Daneben hatte die Kommission
einige eher technische oder sprachliche Gesetzesände-
rungen erbeten, die insgesamt von geringer praktischer
Bedeutung sein dürften, darunter beispielsweise die ge-
naue Typologie der Krankheiten, die eine Beschränkung
des Rechts auf Freizügigkeit aus Gründen der öffentli-
chen Gesundheit rechtfertigen können.

Diese Punkte werden mit dem nun vorliegenden
Gesetzentwurf zur Änderung des Freizügigkeitsgeset-
zes/EU ausgeräumt.

Zu Protokoll gegebene Reden






(A) (C)



(D)(B)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720133900

Wir kommen zur Abstimmung.

Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/11105, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/10746 an-
zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfrak-
tionen gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der
SPD und der Grünen angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zu-
vor angenommen.

Tagesordnungspunkt 29:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge-
ordneten Kerstin Griese, Dr. Eva Högl, Michael
Roth (Heringen), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD

Nationales Reformprogramm 2012 muss so-
ziale Ziele der Strategie „Europa 2020“ be-
rücksichtigen

– Drucksachen 17/9154, 17/9480 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Lena Strothmann

Auch hier sind die Reden zu Protokoll genommen.


Lena Strothmann (CDU):
Rede ID: ID1720134000

In diesen Tagen begehen wir das 20-jährige Jubiläum

des europäischen Binnenmarktes. Die Errungenschaften
sind unbestritten und hoch einzuschätzen. Deutschland
hat sich hervorragend darauf eingestellt und profitiert
davon. Das bildet sich auch in unserer Wirtschaftskraft
ab. Sie ist das Rückgrat unseres Wohlstandes. Und unser
aktueller Wohlstand ist auch Grundlage für den Wohl-
stand und den sozialen Frieden der kommenden Genera-
tionen. Deshalb müssen wir die europäische Idee bewahren,
aber auch weiterentwickeln und für Herausforderungen
wappnen. Die Auswirkungen, die wir gerade bei der
Schuldenkrise zu bewältigen haben, sind an Landes-
grenzen nicht zu stoppen. Insbesondere wirken sie auf
die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Deutschland
steht innerhalb Europas stark dar. Wir sind die stärkste
Volkswirtschaft und eine gesunde Volkswirtschaft. Un-
sere Wirtschaft wächst; sie sichert und schafft Arbeits-
plätze. Das ist kein zufälliges Ergebnis. Bereits lange
vor der Schuldenkrise haben wir in Deutschland wich-
tige Reformen auf den Weg gebracht. Dies sind die
Strukturreformen, die viele andere Länder damals nicht
durchgeführt haben. Diese Länder haben gerade heute
während der Krise einen Nachholbedarf.

Die Erkenntnis, dass Wachstum ein Motor zur Weiter-
entwicklung ist, hat sich auch in der EU-2020-Strategie
durchgesetzt. Die EU hat dazu den Wachstumsbegriff
definiert und festgelegt auf intelligentes Wachstum,
nachhaltiges Wachstum und integratives Wachstum. Die
Mitgliedstaaten sind aufgefordert, ihre diesbezüglichen
nationalen Pläne im Rahmen des Europäischen Semes-
ters nach Brüssel zu übermitteln. Kurz-, mittel- und
langfristige Maßnahmen sollten hierbei aufeinander ab-
gestimmt sein. Kein planloses Durcheinander, sondern
durchdachte Strategien mit schlüssigen Zeitplänen sind
hier gefragt. Diese Maßnahmen müssen auch die not-
wendigen Strukturreformen beinhalten.

Europa wacht über die Vorhaben und bewertet sie.
Das hilft grundsätzlich allen Staaten, über den Teller-
rand zu schauen. Das ist genauso bedeutsam wie die
Notwendigkeit, dass alle Länder mitmachen und am
gleichen Strang ziehen. Das ist auch eine der Lehren aus
der Krise und der nicht erreichten Ziele der Lissabon-
Strategie. Die Strategie Europa 2020 formuliert klare
Ansprüche. Unser gemeinsames Ziel ist es, Stabilität,
Wachstum und Beschäftigung zu erzeugen. Und wir sind
auf einem guten Weg. Die Lage in Deutschland ist gut.
Denn Deutschland erfüllt die vereinbarten Kernziele der
EU. Das belegen die Zahlen und die Bewertung durch
die EU. Unsere Maßnahmen, sowohl die Strukturrefor-
men früherer Jahre als auch aktuelle wie zum Beispiel
die Finanzmarktregulierungen oder die Schulden-
bremse, wirken. Gerade die Schuldenbremse macht
deutlich, was beste Sozialpolitik und soziale Gerechtig-
keit heißt, nämlich nicht auf Kosten der nächsten Gene-
rationen zu leben. Sozialausgaben zu steigern, bedeutet
nicht ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit, sondern ein
Anwachsen des Schuldenbergs.

In Deutschland hat die unionsgeführte Bundesregie-
rung bereits vor Jahren etliche Reformen durchgesetzt.
Diese Reformen haben die sozialen Sicherungssysteme
gestärkt und zukunftsfester gemacht. Das wirkt sich jetzt
aus und bildet gerade jetzt in der größten Krise eine
Grundlage für unsere Stabilität. Unsere Hausaufgaben
haben wir damals erfüllt. Dazu zählen die Reformen im
Gesundheitswesen zur Begrenzung der Ausgaben, mehr-
malige Nullrunden bei Löhnen und Renten oder auch
der spätere Renteneintritt, also Rente mit 67. Es gehören
auch arbeitsmarktpolitische Reformen, welche auch auf
den rot-grünen Arbeitsmarktgesetzen aufbauen, dazu.
Auch diese wirken positiv, aber leider distanziert sich
die SPD davon.

Viele unserer Maßnahmen waren und sind unpopulär.
Aber sie sind Teil des jetzigen Erfolges: Die Ausgaben
im Gesundheitswesen sind kontrollierbar, die aktuellen
Rücklagen bei den Krankenkassen belegen das. Die
Nullrunden haben Arbeitsplatzabbau verhindert. Die
Rente mit 67 ist allein schon wegen des demografischen
Wandels notwendig. Die Arbeitsmarktreformen haben
die Arbeitslosigkeit verringert. Es wird erwartet, das
auch im nächsten Jahr die Arbeitslosenzahlen unter
3 Millionen liegen werden. Auch die Langzeitarbeitslosig-
keit hat sich deutlich verringert. Die Zahl der Erwerbs-
tätigen in Deutschland ist so hoch wie nie zuvor. Insge-
samt stiegen die Löhne und Gehälter im Jahr 2011





Lena Strothmann


(A) (C)



(D)(B)


erheblich. Davon profitieren auch die Ruheständler.
Zum 1. Juli sind die Renten in Westdeutschland um
2,18 Prozent und in Ostdeutschland um 2,26 Prozent
gestiegen.

Das alles wäre ohne eine funktionierende Wirtschaft
nicht denkbar. Die Wirtschaft brummt immer noch. Trotz
der Delle ist die Lage immer noch ausgezeichnet. Viel-
fach sind die Auftragsbücher voll. Die Betriebe mit Weit-
sicht und gutem Management haben ihre Mitarbeiter ge-
halten oder stellen sogar neue ein. Auch das ist das
Ergebnis erfolgreicher Wirtschafts- und Sozialpolitik
der christlich-liberalen Koalition.

Brüssel erkennt an, dass die Strukturreformen in
Deutschland für den wirtschaftliche Erfolg und vor al-
lem die Stabilität mitverantwortlich sind. Auch die Ju-
gendarbeitslosigkeit in Deutschland ist die geringste in
Europa. Die Ursache dafür ist zwar auch unbestritten,
es mangelt aber leider an der öffentlichen Wahrnehmung.
Deutschland hat ein weltweit anerkanntes Ausbildungs-
system, das top ausgebildete Fachkräfte hervorbringt:
unsere duale Ausbildung. Der Berufsbildungsbericht 2012
hat es im Mai bestätigt: dem dualen Ausbildungssystem
wurde erneut eine hohe internationale Wettbewerbs-
fähigkeit bescheinigt.

Erfolgsindikator ist die niedrige Jugendarbeitslosig-
keit in unserem Land. Es ist gegenwärtig die niedrigste
Quote in der Europäischen Union mit 7,9 Prozent im
März 2012. Der EU-Durchschnitt betrug im gleichen
Monat 22,6 Prozent. Die spanische Quote liegt bei
50 Prozent. Das duale System wirkt sich somit eindeutig
positiv auf den Arbeitsmarkt aus. Das bestätigt nicht nur
der Berufsbildungsbericht, sondern auch die Europäi-
sche Kommission. Ich zitiere: „Das gut ausgebaute Sys-
tem der beruflichen Bildung gilt traditionell als Garant
für die Heranziehung qualifizierter Arbeitskräfte und
eine niedrige Jugendarbeitslosigkeit“. Das duale Sys-
tem erweist sich also als beste Versicherung gegen Ju-
gendarbeitslosigkeit. Daher sind die Absichten Spaniens
und anderer europäischer Staaten, das deutsche duale
System als Vorbild zu prüfen, der richtige Weg. Wir be-
stärken und unterstützen sie darin, damit das duale Sys-
tem ein Exportschlager wird. Das kann uns auch dadurch
gelingen, indem wir bei den anstehenden Beratungen
zur Überarbeitung der Berufsqualifikationsanerkennungs-
Richtlinie im europäischen Parlament darauf drängen,
unser duales System zu definieren und anschließend als
Grundlage für Ausbildungsordnungen zu nehmen.

Reformen brauchen jedoch Zeit, bis sie wirken. Da-
her ist der Ruf nach anderen, scheinbar schnelleren Lö-
sungen laut, sehr laut. Aber die Lautstärke entscheidet
eben nicht über die Richtigkeit. Schuldenfinanzierte
Wachstumsprogramme sind jedenfalls keine Lösung. In
einer konjunkturellen Krise können sie helfen, daher wa-
ren unsere Konjunkturprogramme so erfolgreich. Bei
strukturellen Krisen helfen sie schlichtweg nicht. Der
Ruf nach gesetzlichen Mindestlöhnen in Deutschland ist
ebenso falsch. Eine Ursache für die hohe spanische
Quote bei der Jugendarbeitslosigkeit liegt auch in den
dortigen Mindestlöhnen. Die Opposition fordert in ih-
rem Antrag Maßnahmen, die in anderen Ländern für die

Krise mitverantwortlich sind. Das lehnen wir ab. Wir
stehen zur Tarifautonomie in Deutschland. Das ist die
bessere Lösung für den sozialen Frieden, als künstlich
eine soziale Spaltung herbeizureden. Wenn wir die Wirt-
schaft nun mit einem allgemeinen Mindestlohn belasten,
bricht gerade für viele Geringqualifizierte die letzte
Möglichkeit fort, um auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fas-
sen. Eine Weiterqualifizierung steht hierbei ja auf einem
ganz anderen Blatt.

Verbesserungen auf dem Arbeitsmarkt sind immer
möglich, das ist keine Frage. Aber die Lage schlecht-
reden und Katastrophenszenarien an die Wand malen,
bringt uns nicht voran. Die Armutsgefährdung in
Deutschland ist bei weitem nicht so, wie Sie es darstel-
len. Die Langzeitarbeitslosen werden stetig weniger, und
unsere hohen Investitionen in Bildung sprechen für sich.
Die sozialen Ziele der EU-2020-Strategie sind in unse-
rer Politik nicht unterrepräsentiert. Schauen Sie sich die
Kernbereiche und unsere Zielvorgaben sowie das Er-
reichte doch genau an. Bei der Beschäftigtenquote liegen
wir im Plan, die Innovationsquote haben wir fast er-
reicht. Beim Klimaschutz werden wir unsere Ziele er-
reichen. Aber es wäre ein Zeichen der Verantwortung,
wenn die Bundesländer beispielsweise bei der energe-
tischen Sanierung hier stärker mitziehen würden.

Im Kernbereich Armut definieren wir anders, als Sie
es gerne hätten. Wir orientieren uns an der Realität und
dem vorhandenen sozialen Frieden in unserem Land, Sie
hingegen am alten Klassenkampf.

Im Bereich Bildung möchte ich noch einmal vehement
auf die hohe Bedeutung der dualen Ausbildung hinwei-
sen. Sie ist untrennbar mit dem Erfolg der Wirtschaft
verbunden und somit für unseren Wohlstand mitverant-
wortlich.

Deutschland steht innerhalb Europas gut da. Wir
sollten alle daran arbeiten, dass es so bleibt.


Kerstin Griese (SPD):
Rede ID: ID1720134100

Es ist wirklich sehr schade und bedauerlich, dass in

diesem Hause keine Debatte über das Nationale Re-
formprogramm 2012 der Bundesregierung stattfindet.
Eine solche Debatte wäre angemessen gewesen. Leider
hatten die Koalitionsfraktionen und die Bundesregie-
rung daran so wenig Interesse wie am Nationalen Re-
formprogramm selbst. Während die Bundesregierung
andere EU-Staaten auffordert, die Vorgaben der euro-
päischen Institutionen eins zu eins und ohne zu murren
umzusetzen, bleibt sie im eigenen Land untätig. Am
Dienstag dieser Woche hat das Statistische Bundesamt
veröffentlicht, dass jeder Fünfte in Deutschland von
Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht ist. Darauf
haben wir bereits in unserem Antrag vom März 2012
hingewiesen. Und was haben Bundesregierung und
Koalition seitdem gemacht? Nichts.

Dazu fällt mir Heinrich Heine ein, ich zitiere:

Sie sang das alte Entsagungslied, 
Das Eiapopeia vom Himmel,
Womit man einlullt, wenn es greint,
Das Volk, den großen Lümmel.

Zu Protokoll gegebene Reden





Kerstin Griese


(A) (C)



(D)(B)


Ich kenne die Weise, ich kenne den Text,
Ich kenn auch die Herren Verfasser;
Ich weiß, sie tranken heimlich Wein
Und predigten öffentlich Wasser.

So schrieb Heinrich Heine in seinem Werk „Deutsch-
land. Ein Wintermärchen“ im Januar 1844. Die Be-
schreibung Heines trifft leider auch auf die Bundesre-
gierung zu: Sie predigt Griechenland Wasser und trinkt
selbst Wein. In Deutschland steigen die Steuereinnah-
men, und der Wirtschaft geht es vergleichsweise gut.
Verglichen mit den Sparanstrengungen Griechenlands
hätte Deutschland 300 bis 500 Milliarden Euro einspa-
ren müssen – bei einem Bundeshaushalt 2012 in Höhe
von rund 313 Milliarden Euro! Stattdessen hat die Bun-
desregierung einen zweiten Nachtragshaushalt für 2012
beschlossen. Wasser für Griechenland, Wein für die
Bundesregierung.

Auch Spanien rutscht immer tiefer in die Rezession.
Und was sagt die Bundeskanzlerin dazu? In ihrer Regie-
rungserklärung vom 18. Oktober 2012 bemerkte sie le-
diglich lapidar: „Wir wissen, dass den Menschen in
Spanien, in Griechenland und in den anderen betroffe-
nen Mitgliedstaaten außerordentlich viel abverlangt
wird.“ Mit anderen Worten: Die Bundesregierung hat
die dramatische soziale Lage in den Ländern zur Kennt-
nis genommen, tut aber nichts, um Abhilfe zu schaffen.
Zum Beispiel hat sie immer noch keine Vorschläge vor-
gelegt, wie sie die immens hohe Jugendarbeitslosigkeit
in Europa bekämpfen will. Eine Studie bezifferte in die-
ser Woche die Kosten der Jugendarbeitslosigkeit in der
EU auf 153 Milliarden Euro jährlich. Und was macht
die Bundesregierung dagegen? Nichts.

Statt die gestiegenen Steuereinnahmen sinnvoll zu in-
vestieren, beabsichtigt die Bundesregierung immer noch,
das Betreuungsgeld einzuführen. Sie will immer noch
rund 1,3 Milliarden Euro in eine Maßnahme stecken, die
bekanntermaßen dem Ziel der Strategie „Europa 2020“
zuwiderläuft, die Beschäftigungsquote der Frauen zu er-
höhen. Sogar die Bundesvereinigung der Deutschen Ar-
beitgeberverbände hat in ihrer Stellungnahme festge-
stellt, dass das Betreuungsgeld kontraproduktiv ist. Dem
ist nichts hinzuzufügen.

Die langwierige Debatte um das Betreuungsgeld
zeigt, was die Bundesregierung von den Empfehlungen
der Europäischen Kommission hält. Denn auch die
Kommission hat das Betreuungsgeld im Rahmen der
länderspezifischen Empfehlungen für Deutschland kriti-
siert. Allerdings folgenlos. Denn während Griechenland
und Co. den europäischen Vorgaben folgen sollen, igno-
riert die Bundesregierung die Empfehlungen der EU-
Kommission. Während Griechenland und Co. die Spar-
anforderungen der Troika nach Meinung der Bundesre-
gierung eins zu eins umsetzen sollen, scheint die Bun-
deskanzlerin es nicht für nötig zu halten, ihre Politik
anzupassen. Es geht ja nicht nur um die Verirrung des
Betreuungsgeldes. Es geht auch um die mangelnden Be-
mühungen der Bundesregierung, Langzeitarbeitslose in
Arbeit zu vermitteln. Auch hier hat die Europäische
Kommission größeres Engagement gefordert. Was hat

die Bundesregierung gemacht? Sie hat wichtige Förder-
möglichkeiten der aktiven Arbeitsmarktpolitik gestrichen.

Nächstes Beispiel: Die Bundesregierung solle das
Bildungsniveau benachteiligter Bevölkerungsgruppen
anheben, empfiehlt die Kommission in Brüssel. Und was
hat die Bundesregierung getan, um dieses Ziel zu errei-
chen? Nichts. Schließlich hat die Europäische Kommis-
sion der Bundesregierung empfohlen, die „steuerlichen
Fehlanreize für Zweitverdiener“, mit anderen Worten:
das Ehegattensplitting, abzuschaffen. Doch die Bundes-
regierung bleibt untätig, obwohl sie sich im Jahre 2010
verpflichtet hat, die Ziele der Strategie „Europa 2020“
zu erreichen. Es gibt bei keinem dieser Ziele Fort-
schritte, weder bei dem so wichtigen Ziel, die Armut und
soziale Ausgrenzung in Deutschland zu verringern, noch
bei dem Ziel, das Bildungsniveau und die Beschäf-
tigungsquote in Deutschland nachhaltig zu erhöhen.
Unklar ist auch weiterhin, wie die Bundesregierung die
Klimaziele von „Europa 2020“ erreichen will.

Seit Neuestem will die Bundesregierung die sozial-
politischen Ziele aus dem Nationalen Reformprogramm
ausgliedern und parallel zum Reformprogramm einen
Nationalen Sozialbericht erstellen. Ich mache mir Sor-
gen, dass dadurch in der Europapolitik die sozialpoli-
tischen Ziele vernachlässigt werden. Deshalb bezweifle
ich auch, dass der Nationale Sozialbericht, der der Eu-
ropäischen Kommission längst vorliegen sollte, einen
Kurswechsel beinhalten wird. Hätte die Bundesregie-
rung Ideen, mit welchen konkreten Maßnahmen sie die
Situation in den Bereichen Armutsbekämpfung, soziale
Inklusion, Rente, Pflege und Gesundheit verbessern
wollte, hätte sie diese Ideen bereits bis April 2012 an die
Europäische Kommission senden und damit die Frist
einhalten können.

Es bleibt zu hoffen, dass das Nationale Reformpro-
gramm und die damit im Zusammenhang stehenden Be-
richtspflichten nach der Bundestagswahl 2013 die ange-
messene Aufmerksamkeit hier im Hause und durch die
Bundesregierung finden werden.


Michael Schlecht (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720134200

Die von den EU-Mitgliedstaaten zu erstellenden Na-

tionalen Reformprogramme, NRP, sind ein Element der
stärker abgestimmten Wirtschafts- und Haushaltspolitik
auf EU-Ebene. Das deutsche NRP ist geprägt durch die
Kontinuität der Agenda-2010-Politik, die in Deutsch-
land zu massivem Lohndumping für die Mehrheit der
Erwerbstätigen geführt hat. Die gleichen neoliberalen
Ansätze sind es, die unsere europäischen Partner in ei-
nen Teufelskreis aus staatlichen Kürzungen, wachsender
Arbeitslosigkeit, sozialem Ruin, sinkender Wirtschafts-
leistung und weiteren Kürzungen getrieben haben.

Insofern ist es bemerkenswert, wenn die SPD in ihrem
Antrag nun eine soziale Dimension für das NRP fordert,
gleichwohl sich im Antrag positiv auf die Agenda 2010
und auf die Schuldenbremse bezieht. Mit dem Antrag be-
kennt sich die SPD also weiterhin zur Haushaltskonsoli-
dierung als oberstem Ziel und zur Stabilisierung des
Finanzsektors. Andererseits werden keine einnahmesei-
tigen Verbesserungen angesprochen. Dies kommt einem

Zu Protokoll gegebene Reden





Michael Schlecht


(A) (C)



(D)(B)


Bekenntnis zu weiteren Kürzungen in den öffentlichen
Haushalten gleich.

Die SPD bleibt sich treu; dies wird auch an anderer
Stelle deutlich. Statt sich endlich von der Rente mit 67 zu
verabschieden und die Absenkung des Rentenniveaus in
der gesetzlichen Rentenversicherung zu verhindern,
wird im Antrag die Bundesregierung nebulös aufgefor-
dert, „im Nationalen Reformprogramm 2012 Maßnah-
men aufzuzeigen, mit denen die Beschäftigungsdefizite
von älteren Menschen sowie derer in verfestigter Lang-
zeitarbeitslosigkeit verbessert werden können. Außer-
dem sollte die Bundesregierung das Problem der zuneh-
menden Altersarmut im Nationalen Reformprogramm
berücksichtigen“.

Im Antrag wird zu Recht von der Vernachlässigung
der Altersarmut im NRP gesprochen, gleichzeitig aber
einen Mindestlohn von 8,50 Euro gefordert. Dabei
müsste auch der SPD bekannt sein, dass selbst nach
Aussagen der Bundesregierung ein Mindestlohn von
mindestens 10 Euro vonnöten ist, um selbstständig we-
nigstens das Grundsicherungsniveau im Rentenalter zu
erreichen.

Wieder einmal bleibt die SPD auf halbem Weg stehen.
Eine andere wirtschaftliche und soziale Entwicklung,
welche möglich ist, kann nicht durch ein paar soziale
Feigenblätter, wie es die SPD versucht, hergestellt
werden. Schon gar nicht mit den zu klein geratenen Fei-
genblättern à la SPD. Das gesamte NRP müsste vom
Kopf auf die Füße gestellt werden. Freilich müssten
hierzu auch die zugrunde liegenden Verordnungen und
Leitlinien, wie die EU-Strategie 2020, der Euro-Plus-
Pakt sowie die Leitlinien für Wachstum und Beschäfti-
gung, geändert werden. Eine soziale und friedliche EU
ist letztlich nur durch eine Neugründung zu haben.

Doch auch sofort wäre einiges zu tun; allerdings liest
man hiervon nichts, weder im NRP noch im Antrag der
SPD. Die deutsche Binnennachfrage muss umgehend
angekurbelt werden. Zur Belebung der Binnennachfrage
sind ein Zukunftsinvestitionsprogramm für den sozial-
ökologischen Umbau in Höhe von 125 Milliarden jähr-
lich sowie der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn
von zunächst 10 Euro dringend notwendige Schritte. Mit
einer gerechten Besteuerung von Spitzenverdienern und
Superreichen ist dies auch ohne Neuverschuldung zu
haben.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir diskutieren den vorliegenden Antrag heute in
zweiter Lesung. Das Europäische Semester 2012 wurde
mit der Annahme der länderspezifischen Empfehlungen
durch den Europäischen Rat offiziell aber schon ab-
geschlossen. Das Nationale Reformprogramm der Bun-
desregierung für 2012 ist damit mit all seinen Mängeln
geschrieben, kommentiert, bewertet und verabschiedet.

Es greift also zu kurz, sich über den formalen An-
tragsinhalt der SPD auszulassen. Die Kernkritik aber,
dass die sozialen Ziele der EU-2020-Strategie in den
Reformprogrammen der Bundesregierung schlicht im-

mer zu kurz kommen, bleibt nach wie vor richtig. Auch
wir Grünen kritisieren das. Und wenn man die länder-
spezifischen Empfehlungen der Kommission gründlich
durchliest, dann erkennt man dort auch viel Kritik. Die
Bundesregierung hat also keinen Anlass zur Selbst-
zufriedenheit.

Das beginnt schon beim Verfahren: Kommunen, Par-
lamente und Sozialpartner wurden entgegen der Ankün-
digung eben nicht von der Bundesregierung „in enger
Zusammenarbeit“ einbezogen – im Gegenteil. Sie hatten
gerade einmal eine Dreitagefrist zur Rückmeldung von
Anregungen. Das haben wir auch im Ausschuss heftig
kritisiert.

Das unzureichende Verfahren führte dann auch zu ei-
nem schlechten Reformprogramm. Die im Rahmen der
Europa-2020-Strategie vereinbarten Ziele zur Armuts-
bekämpfung, zur Integration benachteiligter Gruppen
auf dem Arbeitsmarkt und zur Reduzierung der Schul-
abbrecherquote wurden eben nicht im nötigen Maße
berücksichtigt und eingearbeitet. Unsere Bewertungen
in den Debatten waren dementsprechend kritisch, und
das zeigt auch der vorliegende Antrag der SPD. In der
Folge überrascht auch nicht die Kritik der Europäischen
Kommission an der Bundesregierung und deren halb-
herzigen Reformbemühungen; denn ein Vergleich zeigt,
dass die Empfehlungen für die Reformperiode 2012 des
Europäischen Semesters weitgehend identisch sind mit
denen der ersten Reformperiode. Ein ernsthafter Um-
gang mit den sozialen Zielen in Europa sieht anders aus.

Die Kommission stellt erneut fest, „von der guten
Arbeitsmarktlage in Deutschland“ habe „nicht die ge-
samte Erwerbsbevölkerung gleichermaßen profitiert“.
Damit bestätigt sie die Kritik der Grünen, dass be-
stimmte Gruppen von den vermeintlichen Erfolgen auf
dem Arbeitsmarkt ausgeschlossen bleiben. Die Kommis-
sion benennt auch einmal mehr die „fiskalischen
Fehlanreize“, die die „Eingliederung besonders von
Geringverdienern in den Arbeitsmarkt behindern“ – ge-
meint ist beispielsweise das Ehegattensplitting. Laut
Kommission führen diese Fehlanreize – neben einer
mangelnden Kinderbetreuung – zu dem geringen Frau-
enanteil an den Vollzeitbeschäftigten. Deutliche Worte
gibt es auch zu den Minijobs auf dem deutschen Arbeits-
markt. So wird der „weitverbreitete Rückgriff auf
Minijobs“ und die Hindernisse beim „Übergang von
Minijobs zu stabileren Arbeitsverhältnissen“ kritisiert.
Schließlich bescheinigt die Kommission der Bundes-
regierung erneut, dass die Löhne in Deutschland nicht
der Produktivitätsentwicklung entsprechen. Das bedeu-
tet auch, dass die Binnennachfrage mangelhaft entwi-
ckelt ist.

Alles zusammen zeigt – und da sehen wir uns von der
Kommission bestätigt –, dass die Bundesregierung kei-
nerlei Maßnahmen ergreift, um die wirtschaftlichen
Überschüsse zu reduzieren. Mehr noch: Die Bundes-
regierung ist weiterhin der Ansicht – das zeigen auch die
Diskussionen im Ausschuss –, dass Überschüsse weni-
ger schädlich seien als Defizite. Damit wird meiner
Meinung nach ein Überschussland wie Deutschland zu
einem Problem für Europa.

Zu Protokoll gegebene Reden





Beate Müller-Gemmeke


(A) (C)



(D)(B)


Weiter zeigt dieses wenig ambitionierte Nationale
Reformprogramm von Deutschland auch eine geringe
Wertschätzung für die sozialen Ziele, die sich Europa
gegeben hat. Die Bundesregierung geht schon gar nicht
mit gutem Beispiel und engagierten Zielen voran. In der
Folge können die EU-2020-Ziele auch EU-weit nicht
erreicht werden, zumal die Sparauflagen den Krisen-
staaten keinerlei Spielraum lassen, zumindest ihre eige-
nen Ziele zur Armutsbekämpfung zu erreichen.

Europa hat sich soziale Ziele gegeben, und diese
müssen auch ernst genommen werden. Gerade in Zeiten
der Euro-Krise darf dieser Anspruch nicht vernachläs-
sigt werden – insbesondere nicht von Deutschland. Also
hoffe ich auf das Europäische Semester 2013 – Deutsch-
land bekommt damit eine weitere Chance. Die Damen
und Herren der Bundesregierung können sicher sein:
Ich werde sie rechtzeitig daran erinnern.

H
Hans-Joachim Otto (FDP):
Rede ID: ID1720134300


Das deutsche Nationale Reformprogramm 2012 be-
legt es klar: Deutschland hat seine Verpflichtungen ein-
gehalten. Auch die Europäische Kommission beschei-
nigt uns, dass wir vergleichsweise gut dastehen. Sie
hatte uns für das Nationale Reformprogramm ambitio-
nierte Vorgaben gemacht und einen sehr engen Zeitplan
gesetzt.

Wir haben die Länder intensiv an der Erarbeitung
beteiligt und die Stellungnahmen der Verbände und So-
zialpartner berücksichtigt. Bundestag und Bundesrat
hatten im Laufe des Prozesses Gelegenheit, Stellung zum
Bericht zu nehmen. Die Bundesregierung hat das Natio-
nale Reformprogramm pünktlich in Brüssel abgegeben.

Ich hatte es bereits im März hier im Bundestagsple-
num dargelegt: Wir haben bei der Umsetzung der
Europa-2020-Strategie konkrete, sichtbare Fortschritte
gemacht und damit einen wichtigen Beitrag für Stabili-
tät, Wachstum und Beschäftigung in Europa geleistet.
Dies gilt für alle fünf Kernzielbereiche der Europa-
2020-Strategie: Beschäftigung, Innovationen, Klima-
schutz und Energie, Bildung sowie soziale Eingliede-
rung bzw. Verringerung der Armut.

Mit ihrem Antrag, das Nationale Reformprogramm
noch stärker auf soziale Ziele zu fokussieren, hinkt die
SPD wieder einmal der Realität hinterher.

Wir haben vor kurzem die Herbstprojektion veröffent-
licht. Viele Länder Europas befinden sich in einer Rezes-
sion. Auch die aufstrebenden Schwellenländer in Asien
und Amerika erleben derzeit eine konjunkturelle
Abschwächung. Wir müssen mit einer Abschwächung
der wirtschaftlichen Dynamik auch in Deutschland
rechnen.

Vor diesem Hintergrund ist es genau der falsche Weg,
den Faktor Arbeit zusätzlich zu belasten und damit die
Erfolge auf dem Arbeitsmarkt zu gefährden. Dabei geht
es nicht nur um finanzielle Mehrbelastungen, sondern
auch um ordnungspolitisch falsche Weichenstellungen.
Ich denke hier zum Beispiel an die Mindestlohndebatte.

Deutschland ist Stabilitätsanker in Europa und darf
– gerade in dieser Vorbildfunktion – das Verteilen nicht
vor das Erwirtschaften stellen. Vielmehr sollte die wirt-
schaftspolitische Strategie darauf abzielen, die Wett-
bewerbsfähigkeit und die Widerstandskraft der deut-
schen Wirtschaft weiter zu stärken. Dies ist der beste
Weg, die Wohlfahrt aller Bürger zu steigern, soziale Teil-
habe zu ermöglichen und die Armut zu bekämpfen.

Der Antrag der SPD geht hingegen in die völlig fal-
sche Richtung. Deshalb lehnen wir den Antrag ab.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720134400

Wir kommen zur Abstimmung.

Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/9480, den Antrag der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/9154 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der SPD und Grünen bei Enthaltung der Lin-
ken angenommen.

Tagesordnungspunkt 35:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zum Vorschlag für eine Verordnung des Rates
über die Erweiterung des Geltungsbereichs
der Verordnung (EU) Nr. 1214/2011 des Euro-
päischen Parlaments und des Rates über den
gewerbsmäßigen grenzüberschreitenden Stra-
ßentransport von Euro-Bargeld zwischen Mit-
gliedstaaten des Euroraums

– Drucksache 17/10759 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses (7. Ausschuss)


– Drucksache 17/11186 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Aumer
Martin Gerster

Wie ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll
genommen.


Peter Aumer (CSU):
Rede ID: ID1720134500

Seit der Einführung unserer gemeinsamen Währung,

des Euro, hat sich auch die Nachfrage nach grenzüber-
schreitenden Straßentransporten von Bargeld deutlich
erhöht. Es ist Bestandteil unseres einheitlichen Wäh-
rungsraumes, dass Bargeld frei zirkulieren kann. So las-
sen viele Mitglieder der Euro-Zone heute ihre Bankno-
ten und Münzen im Ausland herstellen oder haben in
Aussicht gestellt, dies in Zukunft zu tun.

Aufgrund diverser Unterschiede in den nationalen
Gesetzen ist es außerordentlich schwierig, Euro-Bargeld
gewerbsmäßig zwischen den Euro-Staaten zu transpor-
tieren. Dies entspricht jedoch nicht dem Grundprinzip
der Europäischen Union des freien Waren- und Dienst-
leistungsverkehrs.





Peter Aumer


(A) (C)



(D)(B)


Mit dem Vorschlag für die Erweiterung des Geltungs-
bereichs der Verordnung (EU) Nr. 1214/2011 wird nun
der Tatsache Rechnung getragen, dass die auf Art. 133
des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen
Union, AEUV, gestützte Verordnung (EU) Nr. 1214/2011
nur eine Regelung für die Mitgliedstaaten des Euro-
Raums geschaffen hat. Hierbei wird Art. 133 AEUV
nicht als Ermächtigungsgrundlage für Regelungen gese-
hen, die Umstände vor der Euro-Einführung eines Mit-
gliedstaates tangieren.

Von besonderer Bedeutung ist die Erweiterung des
Geltungsbereichs der Verordnung also für Länder, die
kurz vor der Euro-Einführung stehen und über keine ei-
gene Notendruckerei oder Münzstätte im Land verfügen.
Ihnen wird mit der Erweiterung ermöglicht, Euro-Bar-
geld gewerblich zu transportieren und zu importieren.
Um dies gesetzlich zu ermöglichen, wird eine Verord-
nung des Rates nach Art. 352 AEUV benötigt.

Die Verordnung hat also zum Ziel, diesen gewerbsmä-
ßigen und grenzüberschreitenden Straßentransport von
Euro-Bargeld zwischen den derzeitigen Mitgliedstaaten
der Euro-Zone und den Mitgliedstaaten, die kurz vor der
Einführung der Euro-Währung stehen, zu erleichtern.

Wie bereits angesprochen, ist die Gesetzeslage auf
nationaler Ebene sehr detailliert und von Land zu Land
unterschiedlich. Das Ziel kann mit einer rein nationalen
Gesetzgebung nicht erreicht werden und ist daher auf-
grund des Umfangs und der Wirkung der Maßnahme auf
Ebene der Europäischen Union zu verwirklichen. Die
Verordnung entspricht damit den Grundsätzen der Sub-
sidiarität und Verhältnismäßigkeit.

Für das weitere Verfahren bedarf es nach § 8 des In-
tegrationsverantwortungsgesetzes vom 22. September
2009, das zuletzt durch Art. 1 des Gesetzes vom 1. De-
zember 2009 geändert worden ist, eines Gesetzes gemäß
Art. 23 Abs. 1 des Grundgesetzes, um die Zustimmung
des deutschen Vertreters im Rat der Europäischen Union
zu ermöglichen.

Dieses Gesetz behandeln wir heute abschließend in
der zweiten und dritten Lesung im Bundestag. Wir schaf-
fen damit die innerstaatlichen Voraussetzungen, damit
der deutsche Vertreter im Rat die Zustimmung für die
Erweiterung der Verordnung erklären darf.

Neben der Schaffung dieser Voraussetzung ist dem
Gesetz ein weiterer Umdruck angehängt, in dem es in-
haltlich vor allem um Änderungen in den Bereichen des
Güterkraftverkehrsgesetzes und des Arbeitnehmer-Ent-
sendegesetzes geht. Im Folgenden möchte ich Ihnen
diese gerne näher erläutern:

In der Sache geht es um notwendige, zeitlich unauf-
schiebbare Regelungen über die nationale Behördenzu-
ständigkeit der am 30. November 2012 in Kraft treten-
den Verordnung.

Durch eine Änderung des Güterkraftverkehrsgesetzes
wird das Bundesamt für Güterverkehr, BAG, zur natio-
nalen Lizenz-, Kontroll- und Sanktionsbehörde zur
Durchführung der EU-Verordnung bestimmt. Darüber
hinaus führt das BAG die vorgeschriebenen zentralen

nationalen Register und übermittelt und empfängt Infor-
mationen an die und von der Kommission und anderen
Mitgliedstaaten des Euro-Raums.

Mit den Regelungen in Art. 1 c wird die EU-Verord-
nung Euro-Bargeldtransport rechtstechnisch einer Ver-
ordnung nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz gleich-
gestellt. Hintergrund ist, dass grenzüberschreitende
Straßenbargeldtransporte bereits dem Arbeitnehmer-
entsendegesetz unterliegen. Laut Verordnung zum Euro-
Bargeldtransport bestimmt sich mit deren Inkrafttreten
die Höhe des Mindestentgelts für den gesamten Arbeits-
tag nach dem Recht desjenigen vom Transport betroffe-
nen Mitgliedstaates, für den der betragsmäßig höchste
Mindestentgeltsatz gilt. Ist dies nicht Deutschland, be-
ruht der zu kontrollierende Anspruch des Arbeitnehmers
nicht auf der Mindestlohnverordnung für das Bewa-
chungsgewerbe, sondern auf der unmittelbar anzuwen-
denden EU-Verordnung.

Mit dem von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurf eines Gesetzes zum Vorschlag für eine Verord-
nung des Rates über die Erweiterung des Geltungsbe-
reichs der Verordnung (EU) Nr. 1214/2011 des Europäi-
schen Parlaments und des Rates über den gewerbs-
mäßigen grenzüberschreitenden Straßentransport von
Euro-Bargeld zwischen Mitgliedstaaten des Euro-
Raums schaffen wir zum einen die innerstaatlichen Vo-
raussetzungen für die Zustimmungserklärung des deut-
schen Vertreters im Rat und setzen zum anderen die nö-
tigen Verwaltungsanweisungen um.

Ich bitte Sie, dem Gesetz zuzustimmen.


Martin Gerster (SPD):
Rede ID: ID1720134600

Der eher spröde Titel deutet es an: Der „Entwurf eines

Gesetzes zum Vorschlag für eine Verordnung des Rates
über die Erweiterung des Geltungsbereichs der Verord-
nung (EU) Nr. 1214/2011 des Europäischen Parlaments
und des Rates über den gewerbsmäßigen grenzüber-
schreitenden Straßentransport von Euro-Bargeld zwi-
schen Mitgliedstaaten des Euroraums“ ist kein Projekt,
das in der politischen Debatte besondere Sprengkraft
entfaltet. Dementsprechend haben sich Regierung und
weite Teile der Opposition – einschließlich der SPD-
Bundestagsfraktion – bereitgefunden, den mit dem Ge-
setz verbundenen Regelungen zuzustimmen.

Bei der 2011 erlassenen EU-Verordnung, deren Gel-
tungsbereich erweitert werden soll, geht es um den
Transport von Euro-Bargeld innerhalb der Euro-Zone.
Festgelegt wird beispielsweise, welche Voraussetzungen
ein Unternehmen erfüllen muss, um solche Geldtrans-
porte durchführen zu dürfen, und welche spezifischen
Anforderungen für das beteiligte Personal oder die ver-
wendete Ausrüstung gelten sollen.

Nun gilt es, diese Verordnung auf Staaten zu erwei-
tern, die den Euro als Währung einführen wollen und
beispielsweise das entsprechende Bargeld aus einem an-
deren Staat der Euro-Zone beziehen müssen, weil sie
nicht über eigene Notendruckereien und Münzstätten
verfügen. Die in der Europäischen Union vereinbarten
Regeln machen es notwendig, dafür in den einzelnen

Zu Protokoll gegebene Reden





Martin Gerster


(A) (C)



(D)(B)


Mitgliedstaaten eine gesetzliche Grundlage zu schaffen.
Erst nach Verabschiedung des Gesetzes durch den Bun-
destag darf der deutsche Vertreter im Rat die Zustim-
mung zum Vorschlag für die vorgenannte Verordnung er-
klären.

Darüber hinaus müssen auch mit Blick auf Deutsch-
land kleinere Gesetzesänderungen vorgenommen wer-
den, um der Ende November in Kraft tretenden Verord-
nung gerecht zu werden. So wird mit dem Gesetz das
Bundesamt für Güterverkehr, BAG, zur nationalen Li-
zenz-, Kontroll- und Sanktionsbehörde für das Euro-
Bargeld-Transportwesen. Das BAG soll Informationen
an die und von der Europäischen Kommission und ande-
ren Mitgliedstaaten des Euro-Raums übermitteln und
empfangen. Da entsprechende Transporte durch bewaff-
netes Personal gesichert werden, sieht die Verordnung
vor, dass die Mitgliedstaaten zentrale Kontaktstellen für
waffenrechtliche Anträge schaffen müssen, die im Falle
der Bundesrepublik auf Ebene der Länder eingerichtet
werden, da diesen die Ausführung des Waffengesetzes
obliegt. Im Zusammenhang mit dem Waffenrecht wird
eine weitere EU-Verordnung umgesetzt, und das Bun-
desamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, BAFA, er-
hält die Zuständigkeit für die Erteilung von nunmehr er-
forderlichen Genehmigungen zur Ausfuhr bestimmter
Feuerwaffen.

Überdies wird mit dem Gesetzentwurf die zu erwei-
ternde EU-Verordnung 1214/2011 mit einer Verordnung
nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz, AEntG, gleich-
gestellt, damit der Zoll über eine Rechtsgrundlage für
seine Kontroll- und Sanktionstätigkeit verfügt, wenn es
um die Einhaltung der Entlohnung des Sicherheitsper-
sonals geht, das grenzüberschreitende Geldtransporte
durchführt. Denn nach Art. 24 der Verordnung muss sich
mit deren Inkrafttreten die Höhe des dem Sicherheits-
personal zustehenden Mindestentgelts für den gesamten
Arbeitstag nach dem Recht desjenigen vom Transport
betroffenen Mitgliedstaates richten, für den der betrags-
mäßig höchste einschlägige Mindestentgeltsatz gilt. Das
ist im Sinne der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
zu begrüßen.


Holger Krestel (FDP):
Rede ID: ID1720134700

Der vorliegende Entwurf ermöglicht dem deutschen

Vertreter die Zustimmung im Rat der Europäischen
Union zur Verordnung des Rates über die Erweiterung
des Geltungsbereichs der Verordnung (EU) Nr. 1214/
2011 des Europäischen Parlaments und des Rates über
den gewerbsmäßigen grenzüberschreitenden Straßen-
transport von Euro-Bargeld zwischen Mitgliedstaaten
des Euro-Raums.

In der Praxis bedeutet es, dass, wenn neue Länder
dem Euro-Raum beitreten, aber selbst noch über keine
passenden Notendruckereien und Münzprägeanstalten
verfügen, die Noten und Münzen aus anderen Mitglieds-
ländern, welche den Euro als Währung haben, einge-
führt werden können. Die Zuständigkeit für die hierfür
nötigen Straßentransporte sowie die bürokratischen
Anforderungen der Verordnung werden an das Bundes-
amt für Güterverkehr übertragen. Es agiert dabei als

Lizenz-, Kontroll- und Sanktionsbehörde. Durch diese
Regelung werden die komplexen bürokratischen Anfor-
derungen somit in einer Behörde konzentriert und
ermöglichen eine effiziente Überwachung des grenz-
überschreitenden Transports.

Eine Ausnahme bildet hierbei lediglich die dem
Arbeitnehmer-Entsendegesetz unterliegende Kontrolle
der Einhaltung der Entlohnung des Sicherheitsperso-
nals. Hier obliegt es nach geltendem Recht der Zoll-
verwaltung, sicherzustellen dass sich die Höhe des
Mindestlohns für den gesamten Arbeitstag nach dem
Recht desjenigen vom Transport betroffenen Mitglied-
staates richtet, in dem der betragsmäßig höhere Min-
destentgeltgesetz gilt. In diesem Sinne wünsche ich dem
Personal zahlreiche Arbeitstage mit Fahrten über die
deutsch-luxemburgische Grenze.

Ein weiter Rechtsbereich, der durch die Verordnung
tangiert wird, findet sich im Waffenrecht, da das bei den
Transporten benötigte Sicherheitspersonal selbstver-
ständlich bewaffnet die Grenze passieren muss. Die Mit-
gliedstaaten werden daher verpflichtet, eine zentrale
Kontaktstelle für waffenrechtliche Anträge einzurichten,
wobei es föderalen Mitgliedstaaten auch freisteht, dem
auf Ebene der Gliedstaaten nachzukommen. Des Weite-
ren muss ein Übereinkommen der Vereinten Nationen
bezüglich Herstellung, Handel und Ausfuhr von Feuer-
waffen, Waffenkomponenten und Munition in nationales
Recht umgesetzt werden. Hierdurch wird das Bundesamt
für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle als zuständige
Instanz zur Erteilung der Ausfuhrgenehmigung be-
stimmt, da das Außenwirtschaftsrecht in Deutschland
grundsätzlich durch diese Behörde vollzogen wird. Bis-
her wurden durch das Waffengesetz nur militärisch nicht
erhebliche Waffen wie Flinten, also Feuerwaffen mit
glattem Lauf, mit denen meistens Schrot zur Jagd ver-
schossen wird, oder Einzellader-Feuerwaffen für Muni-
tion mit Randfeuerzündung noch nicht in das außenwirt-
schaftliche Kontrollregime einbezogen. Um möglichst
unbürokratisch vorzugehen, eine Verwaltung aus einem
Guss zu schaffen und damit auch unnötige Kosten zu
vermeiden, ist es daher naheliegend, dem Bundesamt für
Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle auch diese Genehmi-
gungsverfahren zu übertragen. Hierbei wird ein einheit-
licher und klarer Vollzug gewährleistet.

Ich bitte Sie daher, diesem – zugegebenermaßen über
einige Strecken sehr technischen, aber nichtsdestotrotz
notwendigen – Entwurf zuzustimmen.


Dr. Axel Troost (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720134800

Für einen reibungslosen Zahlungsverkehr sind re-

gelmäßige Bargeldtransporte notwendig. Weil 17 Staa-
ten den Euro als Währung haben, sind in der Euro-Zone
auch häufiger grenzüberschreitende Bargeldtransporte
notwendig – insbesondere weil nicht jeder Euro-Staat
eine eigene Geldscheindruckerei oder Münzprägean-
stalt unterhält. Die Transporte setzen hohe Sicherheits-
vorkehrungen voraus. Für grenzüberschreitende Trans-
porte ist es deswegen sinnig, gemeinsame Standards für
alle Euro-Staaten zu haben. Dies ist in einer Verordnung
bereits geregelt.

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Axel Troost


(A) (C)



(D)(B)


Demnächst wollen weitere Länder den Euro einfüh-
ren. Zum Zeitpunkt der Umstellung müssen die Scheine
und Münzen natürlich bereits im Land sein. Deswegen
soll die für die Euro-Staaten geltende Verordnung zu
Euro-Bargeldtransporten auch auf die neuen Euro-Bei-
trittsländer ausgedehnt werden. Dieses Gesetz ermäch-
tigt die Bundesregierung dazu, einer entsprechenden Er-
weiterung zuzustimmen – das ist auch schon alles.
Gegen diese Erweiterung haben wir keine Einwände.

Bei dieser Gelegenheit möchte ich der Bundesregie-
rung aber eines mit auf den Weg nach Brüssel geben:
Der Staat hat nicht nur das Geldmonopol, was ihn als
Einzigen befugt, über die Zentralbank neue Münzen und
Scheine in Umlauf zu bringen. Er hat auch das Gewalt-
monopol, und zur Sicherung von Geldtransporten wer-
den bewaffnete Sicherheitskräfte gebraucht. Zwar folgt
daraus nicht zwingend, dass nur der Staat Geldtrans-
porte organisieren kann. Allerdings gibt es gute Gründe
dafür, dass öffentliche, gemeinwohlorientierte Dienst-
leister dies besser tun sollten als gewerbliche Unterneh-
men. Ein Negativbeispiel für Letzteres war das Geld-
transportunternehmen Heros, welches Dumpingpreise
verlangte, dafür aber über lange Jahre Gelder in gro-
ßem Umfang veruntreut hat.

In den letzten Jahren galt oft pauschal die Devise:
Staat ist pfui, Private sind hui. So wurde auch die Bun-
desdruckerei, welche Banknoten und Ausweise druckt,
um die Jahrtausendwende privatisiert und an einen In-
vestor verkauft. Dummerweise ging dieser pleite, und
die Bundesdruckerei musste aufgefangen werden. Inzwi-
schen gehört sie wieder dem Staat.

In vielen Staaten ist es auch heute noch selbstver-
ständlich, dass der Staat hoheitliche Aufgaben selbst
übernimmt. In Deutschland tun sich viele mit dieser Vor-
stellung leider sehr schwer.


Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720134900

Zweifellos: Die Euro-Zone steckt in einer tiefen

Krise. Die Toptagesnachrichten unserer Tage sind ge-
prägt von vermeidbar tiefen Wirtschafts- und Bankenkri-
sen in Euro-Mitgliedstaaten, Abwendung von Staatsplei-
ten und der Notwendigkeit tiefgreifender institutioneller
Reformen zur Verhinderung des Zerfalls des gemeinsa-
men Währungsraums.

Erst gestern hatten wir deshalb erstmals EZB-Chef
Mario Draghi zu Gast in einer gemeinsamen Sitzung von
Haushalts-, Finanz- und Europaausschuss. Ebenfalls
gestern haben wir mit Sorge aus Spanien vernommen,
das Land stecke noch tiefer in der Rezession, als bisher
gedacht. Und ebenso gestern wurde bekannt, dass Grie-
chenland mehr Zeit für die Umsetzung von Reformen
und die Erreichung von Sparzielen erhalten soll.
Kurzum: Spricht man zurzeit vom Euro, geht es meist um
Krisenszenarien, wackelnde Banken und Schuldenberge,
unter denen die Gemeinschaftswährung auseinanderzu-
brechen droht.

Vor diesem Hintergrund ist es in gewisser Weise doch
sehr erfreulich, dass wir heute einmal nicht die Krisen-
politik debattieren, wenn wir vom Euro reden. Heute
geht es um sehr viel Harmloseres, nämlich den zwi-
schenstaatlichen Straßentransport von Euro-Bargeld.

Der vorliegende Gesetzentwurf will die rechtlichen
Voraussetzungen dafür schaffen, dass Mitgliedstaaten,
die den Euro einführen möchten und über keine eigenen
Notendruckereien oder Münzstätten verfügen, das benö-
tigte und außerhalb des Landes produzierte Bargeld ein-
führen und sich hierzu gewerblicher Geldtransportun-
ternehmen bedienen können.

In der Existenz dieses Gesetzentwurfs steckt damit
eine Botschaft, die wir bei der tagesaktuellen und allge-
genwärtigen Krisenrhetorik zum Euro nicht vergessen
dürfen: Es gibt Staaten, die den Euro einführen möch-
ten! Denn trotz aller Probleme des Währungsraums in
seiner jetzigen Verfasstheit und trotz aller berechtigten
Sorgen, die uns im Zusammenhang mit der Währungs-
union umtreiben, ist der Euro nach wie vor eine Erfolgs-
geschichte. Warum sonst möchten Länder wie Bulga-
rien, Tschechien oder auch Litauen und Lettland den
Euro einführen? Doch nicht, um sich neue Probleme ins
Land zu holen. Doch nicht, weil die Lage tatsächlich so
ausweglos ist, wie sie in manchen Tagen erscheinen
mag. Sondern weil der Euro ein wichtiges Zukunftspro-
jekt ist und bleibt. Weil die Probleme lösbar sind, wenn
die Verantwortlichen in der Politik – allen voran die
deutsche Bundesregierung! – sich endlich dazu durch-
ringen. Weil mit dem Euro eine der wichtigsten Handels-
regionen der Welt geschaffen wurde, dem sich andere
Länder anschließen und an dem sie teilhaben möchten.
Und weil sich die beitrittswilligen Länder von der Euro-
Einführung unterm Strich Vorteile versprechen, die sie
ansonsten nicht realisieren könnten und die uns und un-
seren Unternehmen inzwischen selbstverständlich ge-
worden sind. Diese Erkenntnis sollten wir alle in die Ta-
ges- und Krisenpolitik zum Euro mitnehmen.

Zum Gesetzentwurf selbst: Wir Grüne unterstützen
wie der Bundesrat die Ziele dieses Gesetzentwurfs. Län-
der sollten zum Euro beitreten können, wenn sie die
erforderlichen Beitrittsvoraussetzungen erfüllen, ohne
über eigene Notendruckereien und Münzprägestätten
verfügen zu müssen. Dem Gesetz werden wir daher zu-
stimmen.

Das etwas chaotische Verfahren der Koalition, hier in
aller Eile dem Gesetzentwurf noch Veränderungen im
Waffenrecht anzuhängen, fanden wir etwas seltsam. In
der Sache haben wir aber auch dort keine Einwände und
haben deshalb dem holprigen Verfahren, bei dem noch
nach der Schlussabstimmung im Ausschuss Änderungs-
anträge zusätzlich eingebracht wurden, zugestimmt.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720135000

Damit kommen wir zur Abstimmung. Der Finanzaus-

schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/11186, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf Drucksache 17/10759 in der Ausschussfas-
sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist bei Enthaltung der Linken von den anderen Fraktio-
nen des Hauses angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, sich zu er-
heben, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. – Wer





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor
angenommen.

Tagesordnungspunkt 31:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Karin Binder,
Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Mineralölhaltige Druckfarben bei wiederver-
wendbarem Papier und Lebensmittelverpa-
ckungen verbieten

– Drucksachen 17/7371, 17/10661 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Mechthild Heil
Elvira Drobinski-Weiß
Dr. Erik Schweickert
Karin Binder
Nicole Maisch

Wie ausgewiesen, sind auch hier die Reden zu Proto-
koll genommen worden.


Mechthild Heil (CDU):
Rede ID: ID1720135100

Wir sprechen heute über ein wichtiges verbraucher-

politisches Thema: die mögliche Gesundheitsgefähr-
dung durch den Übergang von Mineralöl aus Ver-
packungsmaterialien auf Lebensmittel. Wie kommt
dieser zustande?

Erstens. Lebensmittelverpackungen werden zu Infor-
mations- und Werbezwecken bedruckt. Die verwendeten
Druckfarben sind Mischungen verschiedenster chemi-
scher Verbindungen. Diese Verbindungen können auf
Lebensmittel übergehen und dann beim Verzehr von den
Verbrauchern aufgenommen werden.

Zweitens. Untersuchungen haben ergeben, dass Re-
cyclingkartons hohe Mineralölanteile enthalten können,
die auf Lebensmittel übergehen können. Die Mineralöle
kommen aus Druckfarbenrückständen im Recyclingpa-
pier, zum Beispiel aus dem Zeitungsdruck. Wir sind uns
darüber einig, dass wir aus ökologischen Gründen
Papier recyceln wollen. Nun ist die berechtigte Frage:
Inwieweit kann dies gesundheitsschädlich für die Kon-
sumenten sein? Wir nehmen die bis jetzt gewonnenen
Erkenntnisse und die Sorgen der Verbraucherinnen und
Verbraucher sehr ernst. Es herrscht hier aber noch er-
heblicher Forschungsbedarf.

Die vorgeschlagene Lösung der Linken, mineralöl-
haltige Druckfarben bei wiederverwendbarem Papier
und Lebensmittelverpackungen zu verbieten, ist nicht
durchdacht. Es nutzt dem Verbraucher jedenfalls nicht,
wenn die Linke Verunsicherung sät, nur um Wählerstim-
men zu ernten. Wir müssen dieses Problem mit Augen-
maß angehen. Der Antrag klingt beim ersten Hören ganz
sinnvoll, aber, wieder einmal, wird ein komplexes
Problem der Schlagzeile wegen vereinfacht. Die Linke
fordert in ihrem Antrag unter anderem, der Zeitungsin-

dustrie zu verbieten, mineralölhaltige Druckfarben zu
verwenden. Mal ganz abgesehen davon, dass die Zei-
tungsindustrie große Probleme hätte, ihre Druckverfah-
ren entsprechend umzustellen, ergäben sich viel größere
Schwierigkeiten: Eine solche nationale Lösung ignoriert
die Tatsache, dass Altpapierkreisläufe global verlaufen.

Außerdem müssen Mineralöle in Lebensmitteln nicht
ausschließlich in den Druckfarben ihren Ursprung ha-
ben. Mineralöle sind weit verbreitet und gelangen auf
unterschiedlichen Wegen in Lebensmittel, beispielsweise
aufgrund der Transport-, Verarbeitungs- und Lagerbe-
dingungen von Lebensmittelrohmaterial. Wir brauchen
bessere Erkenntnisse, woher Mineralöl, das auf Lebens-
mittel übergegangen ist, tatsächlich kommt, und welche
Auswirkungen es auf den menschlichen Organismus hat.

Die Bereitschaft vonseiten der Industrie, mit uns ge-
meinsam an Lösungen zu arbeiten, ist groß. Die deut-
schen Wirtschaftsverbände der Papierverarbeitung bei-
spielsweise haben ihren Mitgliedern längst empfohlen,
nur mineralölfreie Druckfarben zur Bedruckung von
Verpackungen aus Papier, Karton und Pappe einzuset-
zen. Wir wollen das Problem auf diese Weise, gemein-
sam mit Wirtschaft und Forschung, lösen. Staatlicher
Zwang hilft dem Verbraucher nicht immer, denn die
Lösungen müssen sinnvoll und auch umsetzbar sein.

Das Bundesministerium für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz hat einen Verordnungsent-
wurf zur nationalen Regulierung von Druckfarben vor-
gelegt, der zurzeit überarbeitet wird. Es werden unter
anderem Höchstmengen für den Übergang von Mine-
ralöl aus Lebensmittelverpackungen auf Lebensmittel
festgelegt. Außerdem sieht der Verordnungsentwurf eine
Positivliste vor, also eine Liste mit Stoffen, die in Druck-
farben bei der Herstellung von Lebensmittelbedarfs-
gegenständen verwendet werden dürfen. In dieser Liste
werden nur solche Stoffe aufgeführt, die vom Bundes-
institut für Risikobewertung auf ihre Unbedenklichkeit
geprüft wurden.

Kurzfristige Lösungen, wie zum Beispiel die Verwen-
dung von Innenverpackungen, halte ich für sinnvoll. So
können Mineralölübergänge auf Lebensmittel reduziert
werden. Wie notwendig und sinnvoll das ist, muss aber
weiter geprüft werden.

Um langfristige Lösungen finden zu können, brau-
chen wir belastbare Zahlen und nicht nur Theorien. Bis-
her beruhen die Diskussionen nämlich hauptsächlich
auf Vermutungen und Interpretationen.

Wir erkennen die potenziellen Risiken durch Mineral-
ölübergänge auf Lebensmittel. Ich betone aber auch:
Momentan liegen keine Erkenntnisse über eine konkrete
Gefährdung der Verbraucher vor. Es besteht erheblicher
Bedarf an Studien und Forschung, um die Risiken tat-
sächlich identifizieren zu können. Nur wenn wir die
Risiken wirklich kennen und verstehen, können wir sinn-
vollen Verbraucherschutz betreiben.


Elvira Drobinski-Weiß (SPD):
Rede ID: ID1720135200

Seit mehr als zwanzig Jahren ist das Problem be-

kannt: Mineralöle, die durch den Recyclingprozess in





Elvira Drobinski-Weiß


(A) (C)



(D)(B)


Lebensmittelkontaktmaterialien gelangen, verdampfen
während der Lagerung und belasten damit Lebensmit-
tel – und nicht nur die Lebensmittel, die damit verpackt
sind, nein, alle in diesem Raum gelagerten Lebensmittel
sind potenziell gefährdet!

Das Bundesinstitut für Risikoforschung beschreibt
das Mineralöl als sehr komplexe Mischung aus gesättig-
ten und aromatischen Kohlenwasserstoffen. Bekannt ist:
Insbesondere die kurzkettigen gesättigten Kohlenwas-
serstoffe werden vom Körper leicht aufgenommen, und
deren Ablagerungen können zu Organschäden führen.
Bekannt ist auch, dass zu den aromatischen Kohlenwas-
serstoffen auch krebserregende Substanzen gehören.
Jedoch gibt es aufgrund der meist unbekannten Zu-
sammensetzung der Stoffgemische leider keine wissen-
schaftlichen Daten zur Wirkung der Mischungen selbst –
leider, aber aufgrund der Vielzahl von Mischungen
nachvollziehbar. Nicht nachvollziehbar ist für mich,
warum Sie, meine Damen und Herren von CDU/CSU
und FDP, nicht trotzdem ernsthaft den Austausch mine-
ralölhaltiger Druckfarben im Zeitungsdruck angehen.
Im Sinne eines vorsorgenden gesundheitlichen Verbrau-
cherschutzes muss der Übergang von Mineralöl in
Lebensmittel so gering wie möglich gehalten werden.
Doch leider auch in diesem Jahr bilanziert der BfR-
Jahresbericht: Für die Klasse der gesättigten Kohlen-
wasserstoffe – für die es temporäre Grenzwerte gibt –
werden diese Grenzwerte sehr oft weit überschritten.
Keine Lösung nach zwanzig Jahren in Sicht?

Ich möchte nicht die bisherigen Bemühungen der In-
dustrie zur Reduzierung der Übergänge von Mineralöl
aus Recyclingkartonverpackungen gering schätzen.
Aber es reicht offensichtlich nicht, die Druckfarben für
den Karton selbst mineralölfrei zu gestalten. Und Um-
verpackungen kann ich nur als Zwischenlösung akzep-
tieren; sie sind weder ökologisch noch ökonomisch auf
lange Zeit tragbar. Wir brauchen dauerhafte Lösungen.

Um Verbraucherinnen und Verbraucher wirklich ef-
fektiv zu schützen, muss der Einsatz mineralölhaltiger
Druckfarben sowohl bei den wiederverwendbaren
Papier- als auch bei den Kartonmaterialien so weit wie
möglich gesenkt werden. Eine Positivliste für Druck-
farben, die eine gesundheitliche Unbedenklichkeit
nachweisen können, unterstütze ich voll und ganz.

Aber um wirklich effektiv vor Mineralölen in Lebens-
mittelkartonen zu schützen, müssen wir vor allem den
Recyclingprozess selbst überprüfen. Wir wissen: Große
Mengen Altpapier werden importiert. Wir wollen auch
weiterhin Recyclingmaterial einsetzen. Aber kann wäh-
rend der Herstellung mehr für die Entfernung der Mine-
ralöle getan werden? Wo können konkrete Grenzwerte
für den Gehalt an Mineralölen gesetzt werden? Und
welche Analysemethoden gibt es, um diesen Grenzwert
zu kontrollieren?

Den Grenzwert sinnvoll zu setzen, ist für mich der
Ansatzpunkt, um die Recyclingindustrie wirklich zum
Umdenken zu bewegen. Dann kommt sicher auch Bewe-
gung in die Entscheidungsfindung der Zeitungsdruck-
häuser; denn mineralölfreie Zeitungsfarben sind laut

Verbandsaussage machbar, aufgrund mangelnder Nach-
frage jedoch aktuell am Markt nicht verfügbar.

Der Antrag der Linken geht in die richtige Richtung,
ist jedoch leider nicht weitgehend genug. Deswegen
enthält sich die SPD-Fraktion.


Dr. Erik Schweickert (FDP):
Rede ID: ID1720135300

Das Problem von mineralölhaltigen Druckfarben in

Lebensmittelverpackungen wird von der schwarz-gelben
Bundesregierung bereits angegangen. Nachdem das
Bundesinstitut für Risikobewertung eine Minimierung
von Mineralölrückständen in Lebensmittelverpackungen
angemahnt hat, haben wir gehandelt.

Das Bundesministerium für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz hat eine Verordnung erar-
beitet, welche den Anliegen der Linkspartei in weiten
Teilen Rechnung trägt.

Die christlich-liberale Koalition verfolgt ein Mini-
mierungskonzept, um den Übergang von Mineralölrück-
ständen in Lebensmitteln zu vermeiden. Zum Schutz der
Verbraucherinnen und Verbraucher vor möglichen
Gesundheitsgefahren werden Höchstmengen für den
Übergang von gesättigten und aromatischen Kohlen-
wasserstoffen aus Lebensmittelverpackungen, die unter
Verwendung von Altpapier hergestellt sind, auf Lebens-
mittel festgelegt.

Auch enthält der Verordnungsvorschlag eine Positiv-
liste mit Stoffen, die in Druckfarben bei der Herstellung
von Lebensmittelbedarfsgegenständen verwendet wer-
den dürfen. Die Aufnahme der Stoffe auf die Positivliste
erfolgt in enger Abstimmung mit dem Bundesinstitut für
Risikobewertung, welches diese auf ihre gesundheitliche
Unbedenklichkeit überprüft.

Der Antrag der Linken schießt allerdings in manchen
Forderungen weit über das erreichbare Ziel hinaus. Ein
grundsätzliches Verbot der Verwendung von mineralöl-
haltigen Druckfarben träfe vor allem die Zeitungsindus-
trie. Zeitungsverleger würden vor erhebliche Probleme
gestellt, da sie zu einer Umstellung ihrer Drucktechnik
gezwungen wären. Dabei trägt der Zeitungsverleger
keine Verantwortung dafür, dass sich Zeitungen als Re-
cyclingprodukte in Lebensmittelverpackungen wieder-
finden.

Hinzu kommt, dass Zeitungsdruckfarben nach euro-
päischem Recht der REACH-Verordnung und dem Che-
mikaliengesetz unterliegen. Sie sind demnach nicht an
das Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermit-
telgesetzbuch, LFGB, gebunden.

Nun könnte man sich auf den Standpunkt stellen, auch
Zeitungsdruckfarben dem LFGB unterwerfen zu wollen –
wie die Linken dies anstreben. Das, so meine ich, ist we-
der zielführend noch effizient. Denn zum einen würde
dies deutsche Zeitungsverleger im europäischen Wettbe-
werb benachteiligen. Zum anderen würde das Problem
nicht gelöst, da aus dem Ausland nach wie vor Verpa-
ckungen und Altpapier mit mineralölhaltigen Druckfar-
ben nach Deutschland gelangen würden und dement-
sprechend auch in der Altpapierverwertung landen

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Erik Schweickert


(A) (C)



(D)(B)


würden. Angesichts dieses Recyclingkreislaufs wäre ein
nationaler Alleingang keine sinnvolle Lösung des Pro-
blems.

Aus einem nationalen Alleingang würden stattdessen
Handelshemmnisse und Wettbewerbsverzerrungen re-
sultieren, die insbesondere für unsere deutschen Unter-
nehmen nicht gerechtfertigt werden können. Denn, wie
gezeigt, stünden diesen Wettbewerbsverzerrungen keine
Verbesserungen beim Gesundheitsschutz gegenüber.
Notwendig ist deshalb auf jeden Fall ein EU-einheitli-
ches Vorgehen.

Es gibt inzwischen Vorschläge, die darauf zielen, Zei-
tungen zukünftig separat zu recyceln, um einen Eintrag
von Mineralölen in Lebensmittelverpackungen zu ver-
meiden. So gut dieser Vorschlag auf den ersten Blick
klingt, so problematisch ist dann aber auch seine Reali-
sierung: Denn eine Trennung von Zeitungen und ande-
ren Papierprodukten bei der Altpapiererfassung stellte
den gesamten Prozess des in Deutschland vorbildlichen
Papierrecyclings infrage. Und wie eben bereits aufge-
zeigt, sind nicht nur Zeitungen ein Problem, sondern
auch Verpackungen von importierten Produkten aus
dem Ausland.

Im Übrigen ist die Verpackungsindustrie in Deutsch-
land bereits selbst dabei, auf das vorliegende Problem
zu reagieren. Die Wirtschaftsverbände Papierverarbei-
tung, WPV, und die angeschlossenen Mitgliedsverbände
haben beispielsweise eine Selbstverpflichtung erarbei-
tet, beim Bedrucken von Verpackungen aus Papier, Kar-
ton und Pappe nur noch mineralölfreie Druckfarben ein-
zusetzen, die auf dem Markt verfügbar sind. Das ist ein
ausgezeichneter Ansatz.

Statt nach ineffizienten nationalen Alleingängen und
Verboten zu rufen, lassen sich aus meiner Sicht vor al-
lem durch technische Maßnahmen auf der Verpackungs-
ebene die Einträge von mineralölhaltigen Druckfarben
in Lebensmitteln minimieren. Beispielsweise kann durch
die Verwendung von Innenverpackungen mit Barrie-
rewirkung der Übergang von Mineralölrückständen aus
Verpackungen minimiert werden. Ein Müsli kann zum
Beispiel in einen Innenbeutel verpackt werden, sodass es
mit der Umverpackung gar nicht mehr in Berührung
kommt.

Durch Vorkehrungsmaßnahmen der Lebensmittelin-
dustrie, gepaart mit der von dieser Bundesregierung in
Angriff genommenen Minimierungsstrategie, welche
auch eine Positivliste von Stoffen umfassen wird, werden
wir den Eintrag von mineralölhaltigen Druckfarben auf
ein gesundheitlich unbedenkliches Maß reduzieren.
Gleichzeitig bleiben wir mit dieser Lösung im Einklang
mit geltendem EU-Recht.

Der Antrag der Linken wiederum schießt weit über
das Ziel hinaus. Daher lehnen wir diesen ab.


Karin Binder (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720135400

Mineralölrückstände haben in unserem Essen nichts

zu suchen. Dennoch gelangen sie in zum Teil gesund-
heitsbedenklichen Mengen in die Lebensmittel. Der
Grund sind hauptsächlich Druckfarbenrückstände in

Verpackungen aus Altpapier. Die neuen Werbeaufdrucke
auf den Lebensmittelverpackungen machen nur einen
geringen Teil der Belastung aus.

Die Gesundheitsgefahr steckt also im Recyclingpa-
pier. Das Material besteht zum größten Teil aus be-
drucktem Altpapier, wie beispielsweise Zeitungen. Die
schädlichen Mineralölbestandteile können im Recy-
clingkreislauf jedoch nur zum Teil „herausgewaschen“
werden. Das Bundesinstitut für Risikobewertung kommt
daher zu dem Schluss, „dass der Übergang von Mineral-
ölen auf Lebensmittel dringend minimiert werden
sollte“.

Die Bundesregierung kommt ihrer Verantwortung
aber nur teilweise nach. Sie sieht lediglich ein Verbot
gesundheitsbedenklicher Mineralölbestandteile in den
Farben für Verpackungsaufdrucke vor. Das Recycling-
papier als die eigentliche Schadstoffquelle findet bisher
keine Berücksichtigung.

Für die Linke stelle ich fest: Die Maßnahmen der
Bundesregierung sind für einen wirksamen Schutz der
Verbraucherinnen und Verbraucher unzureichend. Auch
die Fraktion der CDU/CSU drückt sich vor der Verant-
wortung. Statt zu handeln, schlug sie „Studien zur Klä-
rung des Sachverhaltes“ im Ausschuss vor. Das ist völlig
überflüssig. Der Ausschuss für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz hat bereits in zwei Exper-
tenrunden zwölf Fachleute und Wissenschaftler befragt.
Über den zwingenden Schutz der Verbraucherinnen und
Verbraucher gibt es keinen Klärungsbedarf mehr. Ich
frage nun: Hat Schwarz-Gelb die Studien schon in Auf-
trag gegeben, und gibt es schon Ergebnisse?

Damit keine Missverständnisse aufkommen: Ohne
Recycling geht in der Papierindustrie heute gar nichts
mehr. Die Wiederverwendung von Altpapier ist aus
Gründen des Umweltschutzes und der Wirtschaftlichkeit
unverzichtbar. Der Anteil von Recyclingmaterial für
Verpackungen in der Lebensmittelindustrie beträgt be-
reits 70 Prozent.

Die Linke sagt: Um den hohen Recyclinganteil in der
Papierindustrie unter wirtschaftlich tragbaren Bedin-
gungen zu sichern, muss sofort bei allen Druckerzeug-
nissen auf mineralölhaltige Druckfarben verzichtet wer-
den. Das bedeutet natürlich auch, dass beim Import von
Altpapier auf gesundheitsschädliche Rückstände geach-
tet werden muss und im Zweifelsfall bestimmte Chargen
nicht in der Produktion von Lebensmittelverpackungen
eingesetzt werden dürfen.

Bis der Altpapierkreislauf frei von schädlichen Mine-
ralölbestandteilen ist, sollten kartonverpackte Lebens-
mittel durch zusätzliche Folien im Karton geschützt wer-
den. Zudem sollten Außenfolien, die eine Kartonver-
packung mit einschließen, vermieden werden, denn sie
verstärken den Übergang der Chemikalien auf die Le-
bensmittel. Dazu muss die Bundesregierung unverzüg-
lich einen Verordnungsvorschlag auf den Tisch legen.

Grundsätzlich ist aber die Druckfarbenindustrie als
Verursacher in die Verantwortung zu nehmen: Der Ein-
satz von Mineralöldruckfarben muss bei allen Druck-
erzeugnissen untersagt werden, denn auf einen saube-

Zu Protokoll gegebene Reden





Karin Binder


(A) (C)



(D)(B)


ren Recyclingkreislauf für Papier können wir nicht
verzichten. Ohnehin ist es im Sinne der Nachhaltigkeit
sinnvoll, Mineralöl durch unbedenkliche Stoffe zu erset-
zen. Die Bundesregierung ist gefordert, den Verzicht auf
Mineralölfarben EU-weit durchzusetzen, um den Recy-
clingpapiermarkt zumindest europaweit sauberzube-
kommen.

Die Linke fordert: Der Einsatz mineralölhaltiger
Druckfarben muss bei allen wiederverwendbaren Pa-
pier- und Kartonmaterialien verboten werden; Durch-
setzung einer Positivliste für unbedenkliche Druckfar-
ben, die für Lebensmittelbedarfsgegenstände verwendet
werden dürfen. Zum Schutz der Verbraucherinnen und
Verbraucher sollte für Verpackungen das anerkannte
ALARA-Prinzip gelten, As Low As Reasonably Achiev-
able. Danach muss eine Schadstoffbelastung so niedrig
sein, wie dies vernünftigerweise möglich ist.


Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720135500

Verschiedene Forschungsprojekte haben gezeigt,

dass Lebensmittel zum Teil deutlich zu hoch mit Mine-
ralöl belastet sind. Das Bundesinstitut für Risikobewer-
tung, BfR, hat bereits 2009 vor der Verunreinigung von
Lebensmitteln durch Verpackungen aus Recyclingpapier
gewarnt. Quelle für die Verunreinigung sind nach
Studien des BfR vor allem mineralölhaltige Druck-
farben, die für den Zeitungsdruck verwendet werden und
sich nach dem Recycling in Lebensmittelverpackungen
wiederfinden.

Mineralöle enthalten gesundheitsschädliche Kohlen-
wasserstoffe, die sich im Körper anreichern und zu
Schäden an inneren Organen oder zu Krebs führen kön-
nen. Solche Mineralölreste finden sich nun in unseren
Lebensmitteln – und das in viel zu hohen Mengen.

In verschiedenen Lebensmitteln, die in Papier oder in
Karton verpackt waren, wurden deutlich zu hohe
Gehalte an mineralölhaltigen Kohlenwasserstoffen fest-
gestellt. Bei Studien in Deutschland und in der Schweiz
wurden Überschreitungen des von einer Expertenkom-
mission der Weltgesundheitsorganisation, WHO, auf-
gestellten vorläufigen Grenzwerts von 0,6 Milligramm
pro Kilogramm an mineralölhaltigen Kohlenwasserstof-
fen in Lebensmitteln um den Faktor 10 bis 100 gefunden.
Dabei muss noch bedacht werden, dass der Grenzwert
für einen durchschnittlichen erwachsenen Menschen
gilt. Kinder haben also deutlich schneller die kritische
Menge überschritten.

Es müssen also schnellstmöglich gangbare Wege ge-
funden und umfassende Regelungen geschaffen werden,
die den Verbraucher vor weiteren Schäden bewahren.

Das BMELV hat dazu im letzten Jahr endlich einen
Entwurf zur Änderung der Bedarfsgegenständeverord-
nung vorgelegt. Da die Mühlen aber hier offensichtlich
sehr träge laufen, soll die Einführung der Verordnung
bis 2015 hinausgezögert werden. Geregelt werden sollen
dabei auch nur die Druckfarben, die direkt bei der
Herstellung von Lebensmittelbedarfsgegenständen ein-
gesetzt werden. Die Farben, die beim Druck von Zeitun-
gen und Zeitschriften verwendet werden, sollen nicht

reguliert werden. Doch gerade hier liegt der Knack-
punkt. Denn durch die Lebensmittelverpackungen aus
Recyclingpapier – allen voran Zeitungspapier – werden
die darin verpackten Lebensmittel häufig verunreinigt.
Die Verwendung von Recyclingpapier ist ökonomisch
und ökologisch aber sinnvoll und notwendig. Alle Ver-
packungen aus Frischfasern herzustellen, wäre unter
ökologischen Gesichtspunkten hochproblematisch.

Der Weg, alle Verpackungen mit einer Plastikhülle
als Innenbeutel oder einer Barrierebeschichtung auszu-
kleiden, durch die die Lebensmittel vor ihrer eigenen
giftigen Verpackung geschützt werden sollen, ist akut
notwendig, greift aber das Problem nicht an der Wurzel
und führt zu weiteren ökologischen Problemen etwa bei
der Mülltrennung. Darüber hinaus können nicht alle
Lebensmittel durch eine sogenannte Barriere geschützt
werden. Das geht zum Beispiel nicht bei Produkten, die
in ihrer Packung „atmen“ müssen, oder bei bereits offe-
nen Packungen. Hier bemüht sich die Verpackungsbran-
che um Lösungen.

Das finde ich gut. Gemeinsam mit allen beteiligten
Industriezweigen, also mit Druckfarbenherstellern, Zei-
tungsbranche, Erfassung von Altpapier, Papierherstel-
lung, Verpackungsindustrie, Lebensmittelabfüllung,
müssen ökologisch vertretbare Lösungen gefunden wer-
den, die den rechtlichen Bestimmungen zum Schutz der
Konsumenten gerecht werden.

Der Gesundheitsschutz muss dabei höchste Priorität
haben. Wenn die Grenzwerte akut nicht ohne Innenbeu-
tel einzuhalten sind, ist das vorübergehend hinzuneh-
men; das kann aber nicht die dauerhafte Lösung des
Problems sein.

Ich bin davon überzeugt, dass man an der Wurzel des
Problems ansetzen muss, und das sind die mineralölhal-
tigen Druckfarben. Letztlich hilft nur und am effektivs-
ten, mineralölhaltige Druckfarben durch gesundheitlich
unbedenkliche zu ersetzen. Hier muss die Bundesregie-
rung Vorgaben machen und auch den Einsatz von
Druckfarben bei der Herstellung von Zeitungen und
Werbeprospekten regulieren. Die Branche hat deutlich
gemacht, dass das Ersetzen der mineralölhaltigen
Druckfarben grundsätzlich möglich ist. Doch bisher
fehlt der Anreiz, umzustellen.

Deshalb stimmen wir dem Antrag der Linken zu und
fordern die Bundesregierung auf, entsprechende Rege-
lungen auf den Weg zu bringen – wünschenswerterweise
auf EU-Ebene, aber wenn sich hier nichts tut, erst
einmal auf nationaler Ebene. Die Gesundheit der
Verbraucherinnen und Verbrauchern darf nicht länger
durch stark belastetes Verpackungsmaterial gefährdet
werden.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720135600

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Er-

nährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/10661, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/7371 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Linken und Grünen bei Enthaltung der SPD ange-
nommen.

Tagesordnungspunkte 37 a und 37 b:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Unterhaltsvorschussgesetzes

(Unterhaltsvorschussentbürokratisierungsgesetz)


– Drucksache 17/8802 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Rechtsausschuss

b) Erste Beratung des vom Bundesrat einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ver-
besserung des Vollzugs im Unterhaltsvor-
schussrecht

– Drucksache 17/2584 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Rechtsausschuss

Wie ausgewiesen, sind die Reden zu Protokoll ge-
nommen worden.


Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU):
Rede ID: ID1720135700

Wir behandeln heute in erster Lesung die Vorschläge

von Bundesregierung und Bundesrat zu Verbesserungen
und Bürokratieabbau im Unterhaltsvorschuss.

Der Unterhaltsvorschuss ist ein besonderes familien-
politisches Instrument für alleinerziehende Eltern. Wenn
sie wegen des Ausfalls der Unterhaltszahlungen des
anderen Elternteils nicht nur selbst für die Betreuung
des Kindes sorgen, sondern auch für den ausfallenden
Barunterhalt aufkommen müssen, ist der Unterhaltsvor-
schuss eine große Hilfe und hat armutsreduzierende
Wirkung. Derzeit hat ein Kind unter zwölf Jahren, das
von seinem getrennt lebenden Elternteil – in der ganz
überwiegenden Anzahl sind es Väter – keinen oder kei-
nen regelmäßigen Unterhalt erhält, Anspruch auf eine
monatliche Zahlung der Unterhaltsvorschussstellen. Er
beträgt für ein Kind unter sechs Jahren 133 Euro und für
ein Kind unter zwölf Jahren 180 Euro und gilt für längs-
tens 72 Monate, also sechs Jahre. Im Jahr 2009 bezogen
über 480 000 Kinder diese Ersatzleistung. Wir unter-
stützen mit dieser Leistung die Alleinerziehenden in der
schwierigen Situation eines Konflikts um den Kindes-
unterhalt.

Die Unterhaltschuldner werden durch die Zahlung
des Unterhaltsvorschusses keineswegs entlastet. Die
Unterhaltsansprüche der Kinder gehen auf das jeweilige
Land über, das dann Rückgriff beim Unterhaltsver-
pflichteten nimmt. Zur Durchsetzung dieses Rückgriffs-
anspruchs und zur Erleichterung der Antragstellung hat
die Bundesregierung Verbesserungsvorschläge unter-
breitet, die wir in den anstehenden Beratungen noch ge-
nauer unter die Lupe nehmen werden.

Ich bedaure sehr, dass die Vereinbarung aus dem Ko-
alitionsvertrag, die Altersgrenze auf 14 Jahre anzuhe-
ben, im Gesetzentwurf nicht aufgegriffen worden ist. Ge-
rade aus dem Blickwinkel der Alleinerziehenden wäre
uns die Anhebung der Altersgrenze ein sehr wichtiges
Anliegen, denn wir wissen um die besondere Belastung
der Alleinerziehenden. Leider konnten aus dem Haus-
halt des BMFSFJ für dieses Anliegen keine zusätzlichen
finanziellen Mittel berücksichtigt werden.

Die Aspekte der Entbürokratisierung, die der Ge-
setzentwurf aufgreift, gehen auf die Wünsche der Länder
zurück. Die Länder setzen über die Kommunen das Un-
terhaltsvorschussgesetz um; insbesondere für die Kom-
munen ist das mit einem hohen finanziellen und büro-
kratischen Aufwand verbunden. Sie wünschen sich
insbesondere die Erleichterung beim Rückgriff. Zu des-
sen Durchsetzung stehen den Unterhaltsvorschussstel-
len zwar Auskunfts- und Anzeigepflichten zur Seite;
diese sind aus den Erfahrungen der Praxis aber oftmals
nicht ausreichend. Die Rückgriffquote lag im deutschen
Durchschnitt im Jahr 2008 bei lediglich 19,5 Prozent.
Den Ausgaben in Höhe von circa 850 Millionen Euro
standen Einnahmen in Höhe von nur circa 160 Millio-
nen Euro gegenüber. Der Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung schlägt hier eine Reihe von Verbesserungsmaß-
nahmen vor, unter anderem bessere Möglichkeiten zur
gerichtlichen Durchsetzung von Rückgriffsansprüchen,
neue Informationspflichten und erweiterte Auskunfts-
pflichten für Kreditinstitute und Verwaltung sowie die
Evaluierung der Auswirkungen der erweiterten Aus-
kunftspflicht.

Die Vereinfachung der Verwaltung, vor allem aber
die Verbesserung des Rückgriffs sind nachvollziehbare
Anliegen, die wir grundsätzlich unterstützen. Ein funk-
tionierender Rückgriff ist auch deshalb besonders wich-
tig, weil er die Durchsetzung von Unterhaltsansprüchen
im Anschluss an die Zahlung von Unterhaltsvorschuss
gut vorbereitet und dadurch nachhaltig hilft. Hier kann
zum Beispiel auch die Idee des Bundesrates, die Infor-
mationsquellen zur Durchsetzung des Rückgriffs für die
Unterhaltsvorschussstellen durch die Einführung eines
automatisierten Datenabgleichs und Kontenabrufs aus-
zuweiten – wie es beim BAföG und Wohngeld bereits
möglich ist –, ein guter Ansatzpunkt sein. Darüber soll-
ten wir diskutieren.

In diesem Zusammenhang muss die ursprüngliche
Zielsetzung des Unterhaltsvorschusses wieder stärker in
den Blick genommen werden. Ursprünglich war er als
eine reine Übergangsregelung angelegt zur Hilfe in ei-
ner besonders schwierigen Situation der Alleinerziehen-
den und ihrer Kinder. In der Praxis ist dies zum Teil aus
dem Blick geraten; mittlerweile ist der Unterhaltsvor-
schuss eine meist von vornherein auf den gesamten Zeit-
raum von sechs Jahren angelegte Ersatzleistung. Es
muss wieder mehr in den Blick geraten, (zumeist) die
Mutter darin zu unterstützen, den Anspruch des Kindes
gegen den (zumeist) Vater geltend zu machen. Der Un-
terhaltspflichtige muss wieder verstärkt in die Verant-
wortung genommen werden. Es gibt viel zu viele Fälle,
bei denen sechs Jahre Unterhaltsvorschuss gezahlt wird,
ohne dass in dieser Zeit das Verfahren für den Unter-





Elisabeth Winkelmeier-Becker


(A) (C)



(D)(B)


haltsanspruch an den Vater vorbereitet wird und da-
rüber hinaus der Mutter auch nicht die praktische Hilfe
bei der Umsetzung ihres Anspruchs gegeben wird.

Denn es muss weiter als Normalfall empfunden wer-
den, dass der Unterhaltspflichtige den Unterhalt an sein
Kind selbst zahlt. Es ist auch eine wichtige Botschaft für
das Kind, dass die Eltern für seinen Unterhalt zahlen
und nicht eine Behörde. Auf dieser Linie liegt, dass wir
bei der anstehenden Reform der Verbraucherinsolvenz
bei der Restschuldbefreiung auch Verbindlichkeiten aus
rückständigem Unterhalt ausnehmen wollen. Wir stellen
damit die vorsätzliche Nichtleistung des Unterhalts ei-
ner unerlaubten Handlung gleich. Damit unterstreichen
wir, dass Unterhaltsschulden keineswegs als Kavaliers-
delikt zu betrachten sind, sondern dass Unterhalts-
pflichtverletzungen einen Straftatbestand darstellen.
Überhaupt muss das öffentliche Bewusstsein dafür ge-
steigert werden, dass Kindesunterhalt ein Anspruch des
Kindes ist, der seine Existenz sichert und nicht verhan-
delbar ist.

Bei einigen Vorschlägen aus dem Gesetzentwurf habe
ich allerdings meine Zweifel, ob sie nicht zu unnötigen
und ungerechtfertigten Verschlechterungen für die Al-
leinerziehenden führen könnten. Ich denke hier zum
Beispiel an die im Gesetzentwurf geplante Regelung zur
Anrechnung von Leistungen an Dritte auf Unterhalts-
zahlungen. Demzufolge sollen Unterhaltszahlungen an
Dritte, die unmittelbar dem Kind zugutekommen, zum
Beispiel für Kinderbetreuung, Sportkurse, Musikunter-
richt, auf den Unterhaltsvorschuss angerechnet werden.
Es wäre dann in das Belieben des Unterhaltspflichtigen
gestellt, wie er den Unterhalt zahlt. Konflikte zwischen
dem betreuenden und dem unterhaltspflichtigen Eltern-
teil sind damit vorprogrammiert. Gerade für den be-
treuenden Elternteil ist es ein qualitativer Unterschied,
ob Geld zur eigenverantwortlichen Verfügung erhalten
wird oder faktisch nur eine Sachleistung infolge der
Zahlung an Dritte. Hier sollten wir uns um eine bessere
Regelung bemühen, die den Barunterhalt sichert und
nicht für zusätzliches Konfliktpotenzial sorgt.

Des Weiteren wünschen sich die Länder den Verzicht
auf rückwirkende Auszahlung des Unterhaltsvorschus-
ses für einen Monat. Diese beschränkte Rückwirkung
soll wegfallen und der Anspruch auf Unterhaltsvor-
schuss erst ab dem Monat der Antragstellung bestehen.
Zur Begründung wird der hohe Verwaltungsaufwand
aufgeführt, der gerade bei der Prüfung der Anspruchs-
grundlagen für den Monat vor Antragstellung besonders
hoch ist; im Gesetzentwurf ist die Rede von einer Verrin-
gerung der Belastung von 92 500 Arbeitsminuten für die
Verwaltung. Auf der anderen Seite bedeutet die Strei-
chung der Rückwirkung für den Monat vor Antragstel-
lung in vielen Fällen den Verlust einer monatlichen Un-
terhaltsvorschusszahlung in der besonders schwierigen
Trennungsphase der Eltern. Das müssen wir sorgsam
gegeneinander abwägen; beide Seiten werden im Ge-
setzgebungsverfahren hierzu noch Stellung nehmen kön-
nen.

Aus meiner Sicht ist wichtig, dass mögliche Effizienz-
gewinne im Bereich Unterhaltsvorschuss bleiben müs-

sen. Frei werdende Gelder müssen weiter diesem Zweck
zugeführt werden und zum Beispiel in die Verlängerung
der Bezugsdauer fließen.


Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1720135800

Nicht selten entzieht sich der von der Mutter des Kin-

des getrennt lebende Vater der Verantwortung. Er küm-
mert sich um nichts und zahlt auch keinen Unterhalt für
das Kind und schon gar nicht den Betreuungsunterhalt
für die Mutter. Die Mutter muss deshalb eine Arbeit auf-
nehmen, um für sich und das Kind den Lebensunterhalt
bestreiten zu können. So wachsen Kinder von alleiner-
ziehenden Müttern oft unter erschwerten Bedingungen
auf. Der Anteil der alleinerziehenden Elternteile nimmt
zu. 17 Prozent der minderjährigen Kinder in Deutsch-
land wohnen bei nur einem Elternteil. Für die Mütter
dieser Kinder wird es immer schwieriger, Beruf und
Betreuung zu vereinbaren. Die Mutter ist auf die Unter-
haltsleistung des Vaters des Kindes angewiesen. Da
diese Unterstützung sehr oft ausfällt, muss der Staat ent-
sprechend dem Unterhaltsvorschussgesetz eintreten und
den vom Vater zu leistenden Unterhalt als Vorschuss
zahlen. Es handelt sich dabei um den Mindestunterhalt,
der sich nach § 1612 a BGB nach dem sachlichen Exis-
tenzminimum des Kindes richtet. Maximal zahlt der
Staat für 72 Monate den Unterhaltsvorschuss, wenn
nicht der Vater in der Zwischenzeit seine Unterhaltsver-
pflichtungen erfüllt. Nach diesen 72 Monaten ist das
Kind auf die Sozialhilfe angewiesen. Es werden gemäß
§ 1612 a BGB drei Altersstufen unterschieden. Die erste
Stufe reicht bis zum 6. Lebensjahr. Die zweite Stufe vom
7. bis zur Vollendung des 12. Lebensjahres und die dritte
Stufe für die Zeit ab dem 13. Lebensjahr.

Die Mutter musste bislang, um die Unterhaltsleistun-
gen vom Staat zu erhalten, bürokratische Hürden über-
winden. Der vorliegende Gesetzentwurf verfolgt deshalb
das Ziel der Entbürokratisierung des Unterhaltsvor-
schussgesetzes. Insbesondere wird die Antragstellung
für alleinerziehende Elternteile und für die Verwaltung
der Aufwand für die Leistungsgewährung vereinfacht.
Außerdem wird durch die Verbesserung der Auskunfts-
rechte der zuständigen Stellen der Rückgriff beim
Schuldner erleichtert. Dies dient auch der zukünftigen
Sicherung des Unterhaltsanspruches des Kindes für
Zeiten, für die kein Anspruch auf Unterhaltsvorschuss
besteht. Allerdings sind die vorgesehenen Maßnahmen
nicht unumstritten.

Im Entwurf erfolgt eine Klarstellung, welche Unter-
haltsleistungen im Sinne des UVG als Einkommen des
Kindes anzusehen und deshalb von der Vorschusszah-
lung abzusetzen sind. Die Rechtsprechung hatte den bis-
herigen Wortlaut des UVG für nicht eindeutig gehalten.
Die Klarstellung hat zum Ziel, dass alle Zahlungen des
Vaters, die unmittelbar zum Nutzen des Kindes erfolgen,
auf den Unterhalt anzurechnen sind, selbst wenn sie zum
Beispiel an Dritte gezahlt werden, etwa die Kitagebühr.
Wenn also der Vater Beiträge für die Betreuung in
Kindertageseinrichtungen zahlt, wird diese Leistung von
dem Anspruch nach dem UVG vorab abgezogen. Ein
solcher Abzug ist jedoch für viele alleinstehende Frauen
nicht hinnehmbar. Immerhin ist zu bedenken, dass der

Zu Protokoll gegebene Reden





Norbert Geis


(A) (C)



(D)(B)


Mindestunterhalt, den das Kind gemäß § 1612 a im Rah-
men des UVG erhält, vor allem dazu dient, die grundle-
genden Bedürfnisse abzudecken, wie zum Beispiel Nah-
rung, Kleidung, Hygieneartikel, anteilige Wohn- und
Heizkosten. Wenn nun aber der Vater für den Kindergar-
tenbesuch Zahlungen leistet und diese Zahlungen nach
dem UVG von der Vorschussleistung abgesetzt werden,
bleibt die alleinerziehende Mutter weitgehend auf den
Kosten des täglichen Bedarfs für das Kind sitzen. Die
Mutter und das Kind profitieren kaum von der Zahlung
des Vaters an die Kita. Die Mutter muss aber das tat-
sächliche Existenzminium des Kindes dennoch sicher-
stellen. Es ist daher im Laufe des Gesetzgebungsverfah-
rens zu prüfen, ob diese Regelung so beibehalten werden
kann.

Das Gesetz verfolgt weiterhin eine Klarstellung bei
zu Unrecht gezahlten Vorschussleistungen. Diese Rege-
lung erfasst den Fall, dass zunächst aufgrund von
falschen Angaben zu Unrecht Unterhaltsvorschussleis-
tungen ausgezahlt wurden. Deshalb sollen diese
Monate, in denen die Unterhaltsvorschussleistungen zu
Unrecht erbracht wurden, von der maximalen Leistungs-
dauer von 72 Monaten abgezogen werden. Der Entwurf
berücksichtigt dabei nicht den Fall, dass diese zu Un-
recht empfangenen Leistungen später zurückgezahlt
werden. In einem solchen Fall sollte kein Abzug von der
Höchstleistungsdauer erfolgen.

Weiter sieht der Entwurf vor, dass bei Beantragung
des Vorschusses die Rückwirkung auf den Monat vor der
Antragstellung wegfallen soll. Dadurch, so der Entwurf,
entfallen besondere Nachweispflichten für den Antrag-
steller und die Prüfpflichten für die Bewilligungs-
behörde, die sich auf den Rückwirkungszeitraum bezie-
hen. Allerdings ist nicht ganz verständlich, weshalb eine
Prüfung der Voraussetzungen, die für die Zahlung des
Unterhaltsvorschusses gegeben sein müssen, für den
Vormonat nicht möglich sein soll und dass eine solche
Prüfung unverhältnismäßigen Aufwand verursachen
würde. Deshalb ist auch diese Neuregelung zu überden-
ken.

Weiter ist eine Verbesserung der Auskunftsrechte der
UV-Stellen vorgesehen. Die Erweiterung der Auskunfts-
pflichten gegenüber den UV-Stellen ist zu begrüßen.
Dadurch werden die Rückgriffsbemühungen unterstützt.
Auch wenn dies im Einzelfall zu einem geringfügigen
höheren Verwaltungsaufwand führen kann, ist insgesamt
mit einer Entlastung für die Behörden zu rechnen, da die
Unterhaltsverpflichteten bereits durch die Androhung
der Geltendmachung der Auskunftsansprüche eher zu
einer freiwilligen Unterhaltszahlung bereit sind.

Weiter ist vorgesehen, dass der Unterhaltsanspruch
dynamisiert wird. Diese Regelung ist ebenfalls begrü-
ßenswert. Sie führt zu einer Reduzierung von Abände-
rungsklagen von Unterhaltstiteln. Eine Abänderung ist
nämlich nicht mehr notwendig, wenn das Kind künftig
die nächst höhere Altersstufe erreicht hat und damit
einen höheren Mindestunterhalt bezieht oder die
Vorschusszahlung sich aufgrund der Dynamisierung er-
höht hat.

Außerdem wird die Beurkundungsbefugnis der
Jugendämter erweitert. Dadurch werden gerichtliche
Verfahren vermieden, wenn der Unterhaltspflichtige den
bereits auf das Land übergegangenen Unterhalts-
anspruch anerkennt. Bisher war dies den Jugendämtern
nicht möglich, die Anerkennung solcher Ansprüche zu
beurkunden. Diese Regelung ist ebenfalls zu begrüßen.

Trotz mancher Kritikpunkte ist der Entwurf alles in
allem zu begrüßen.


Caren Marks (SPD):
Rede ID: ID1720135900

Nun kommt sie doch noch, die erste Lesung des Unter-

haltsvorschussentbürokratisierungsgesetzes. Es sollte ja be-
reits am 1. Juli dieses Jahres in Kraft treten. Daraus ist
nichts geworden. Aber das kann ich nicht wirklich be-
dauern. Bereits im Vorfeld hat es berechtigte Kritik unter
anderem von Verbänden und Juristen an dem Entwurf
der Bundesregierung gegeben. Bereits im Februar gab
es einen offenen Brief an die Bundesministerin Schröder
unter der Überschrift „Kinder von Alleinerziehenden
stärken statt Unterhaltsvorschuss kürzen“. Die Bundes-
regierung hätte besser im Vorfeld auf die fachliche Kri-
tik hören sollen. Diese Vorlage ist jedenfalls für die
SPD-Bundestagsfraktion ohne Änderungen nicht zu-
stimmungsfähig.

Wir werden diese Woche auch noch eine Debatte über
zwei Anträge der SPD-Bundestagsfraktion zum Thema
Alleinerziehende haben. Diese Anträge sollten die Bun-
desregierung und die Regierungskoalitionen sorgfältig
lesen, um sich ein Bild davon zu machen, wie und womit
man Alleinerziehende und ihre Kinder besser unterstüt-
zen könnte. Erneut wird deutlich: Diese Bundesregie-
rung hat einfach kein Gesamtkonzept – auch nicht in der
Familienpolitik!

Was aber plant die Bundesregierung mit diesem Ge-
setz? Die Antragstellung soll vereinfacht werden, den
zuständigen Stellen soll der Rückgriff auf den Unterhalts-
schuldner bzw. die Unterhaltsschuldnerin erleichtert
werden. Der Bundesrat hält dazu in seiner Stellung-
nahme fest, dass er sich von der Reform eine Verein-
fachung und Beschleunigung des Verwaltungsverfahrens
sowie eine Verminderung von Gerichtsverfahren erhofft.
Er hält aber gleichzeitig fest, dass, sollten sich diese Er-
wartungen nicht erfüllen, weitere Reformschritte geprüft
werden müssen. Weiter erinnert der Bundesrat an die
Gesamtevaluation der familienpolitischen Leistungen
und daran, dass damit auch der Unterhaltsvorschuss als
wichtige familienpolitische Leistung untersucht wird.
Warten und hoffen – sind das Grundlagen für eine sinn-
volle gesetzgeberische Gestaltung?

Eines muss doch wohl ganz unstrittig sein: Eine Re-
form des Unterhaltsvorschusses darf nicht auf Kosten
der betroffenen Kinder gehen. Und daran haben wir als
SPD – und nicht nur wir – begründete Zweifel. Der Ge-
setzentwurf sieht unter anderem vor, dass die Möglich-
keit, den Unterhaltsvorschuss rückwirkend zu beantra-
gen, wegfallen soll. Dies wird der realen Situation von
alleinerziehenden Eltern nicht gerecht und bürdet ihnen
zusätzliche Schwierigkeiten auf. Nicht nur, dass in der
Trennungssituation jeder Euro zählt; in dieser Zeit hat

Zu Protokoll gegebene Reden





Caren Marks


(A) (C)



(D)(B)


der betreuende Elternteil auch die gesamte Situation al-
lein zu schultern.

Und wie argumentiert die Bundesregierung? „Durch
den Wegfall der rückwirkenden Beantragung, § 4 UVG –
neu, verringert sich der Aufwand für die Antragstelle-
rinnen und Antragsteller um 5 Minuten je Fall, in dem
bisher eine rückwirkende Beantragung erfolgt; dies ist
bisher in 10 Prozent der jährlichen Neuanträge der Fall,
also in 18 500 Fällen, sodass sich auf die Gesamtzahl
der jährlichen Neuanträge eine Verringerung der Belas-
tung von 92 500 Minuten ergibt.“

Diese Argumentation ist zynisch und entlarvend zu-
gleich. Es geht dieser Regierung eben nicht um die Be-
troffenen und deren Situation. Verwaltungsvereinfa-
chung im Minutentakt – wie absurd ist diese Argumentation
eigentlich! Aber ein Ziel ist damit erreicht: das Sparziel.
Mit dem Wegfall der rückwirkenden Beantragung wer-
den 90 000 Euro eingespart – Geld, das die Kinder drin-
gend benötigen.

Im Koalitionsvertrag dieser Regierungskoalition
wurden Verbesserungen beim Unterhaltsvorschuss an-
gekündigt. Diese sucht man im Gesetzentwurf bisher
vergebens. Zu möglichen Verbesserungen würde auch
eine Erweiterung der Altersgrenze über das 12. Lebens-
jahr hinaus zählen. Im Koalitionsvertrag steht, dass die
Altersgrenze auf 14 Jahre angehoben wird. Davon findet
sich nichts im Gesetzentwurf wieder. Hier ist die
schwarz-gelbe Bundesregierung wie so oft auf halber
Strecke stehen geblieben.

Nach einer Antwort von Staatssekretär Dr. Kues vom
Dezember 2011 wären von einer Ausdehnung des Unter-
haltsvorschusses auf das 14. Lebensjahr 82 000 Kinder
betroffen. Die Mehrausgaben lägen bei etwa 240 Millio-
nen Euro für Bund und Länder zusammen.

Die SPD-Bundestagsfraktion fordert die Bundesre-
gierung in ihrem Antrag zu den Alleinerziehenden auf,
eine Anhebung der Altersgrenze zu prüfen und das Er-
gebnis der Prüfung umgehend vorzulegen – vor Beginn
der parlamentarischen Beratungen!

Zumindest für die anstehenden Ausschussberatungen
zum Gesetzentwurf bzw. zu der sicher anstehenden An-
hörung sollten die Ergebnisse vorliegen. Wir werden die
Bundesregierung hier nicht aus der Pflicht entlassen.
Wir werden dafür sorgen, dass das Gesetz gründlich und
mit der nötigen Öffentlichkeit beraten wird.

Insgesamt bedarf es einer finanziellen Entlastung
durch den Unterhaltsvorschuss und nicht einer Mehrbe-
lastung für die Alleinerziehenden. Eine Entlastung wäre
schon vorhanden, wenn die Hälfte des Kindergeldes
beim betreuenden Elternteil verbliebe und nicht vom
Unterhaltsvorschuss abgezogen würde. Denn Alleiner-
ziehende, die keinen Unterhalt erhalten, werden damit
schlechtergestellt. Diese Ungleichbehandlung zu besei-
tigen, wäre ein sinnvolles Unterfangen.

Und so gibt es noch weitere Regelungen im Gesetz-
entwurf, die einer intensiven Beratung und Veränderung
bedürfen. Wie heißt es so schön im Begründungsteil des
Entwurfs? „Alleinerziehende Elternteile und ihre Kin-

der sind … besonders zu unterstützen und finanziell zu
entlasten. Die Unterhaltsleistung nach dem UVG, die als
Vorschuss oder als Ausfallleistung gezahlt wird, hat da-
bei auch armutsreduzierende Wirkung.“

Zwischen Anspruch und Wirklichkeit liegen wieder
einmal Welten bei dieser schwarz-gelben Bundesregie-
rung.


Sibylle Laurischk (FDP):
Rede ID: ID1720136000

Heute besprechen wir in erster Lesung den von der

Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur
Änderung des Unterhaltsvorschussgesetzes und anderer
Gesetze sowie den vom Bundesrat eingebrachten
Gesetzentwurf zur Verbesserung des Vollzugs im Unter-
haltsvorschussrecht.

Die Unterhaltsleistung nach dem Unterhaltsvor-
schussgesetz, UVG, unterstützt alleinerziehende Eltern-
teile vorübergehend, weil alleinerziehende Elternteile
ihre Kinder in der Regel unter erschwerten Bedingungen
erziehen und bei Ausfall von Unterhaltsleistungen des
anderen Elternteils auch im Rahmen ihrer Leistungs-
fähigkeit für den von dem anderen Elternteil fehlenden
Unterhalt aufkommen müssen. Bei unregelmäßigen oder
ausbleibenden Unterhaltszahlungen hat das Kind eines
alleinerziehenden Elternteils Anspruch auf Leistungen
des Staates nach dem Unterhaltsvorschussgesetz, UVG.
Unterhaltsvorschuss nach der noch geltenden Rechts-
lage wird bis zum Höchstalter von 12 Jahren für maxi-
mal 72 Monate gezahlt. Der Unterhaltsvorschuss ist
keine Sozialleistung, sondern eine Familienleistung, die
im Falle der Notlage greifen soll. Ziel ist es, in der Zeit,
bis der alleinerziehende Elternteil den Unterhalt vom
unterhaltspflichtigen Elternteil eintreiben kann, staatli-
cherseits eine Überbrückung zu bieten. Das Kind
braucht Unterhalt; sein Wohl, seine Bedürfnisse müssen
erfüllt werden.

Im Koalitionsvertrag der CDU/CSU-Bundestagsfrak-
tion und der FDP-Bundestagsfraktion heißt es: „Wir
werden das Unterhaltsvorschussgesetz dahingehend än-
dern, dass der Unterhaltsvorschuss entbürokratisiert
und bis zur Vollendung des vierzehnten Lebensjahres ei-
nes Kindes gewährt wird.“

Damit haben wir als Koalition unterstrichen, dass
wir auch die Situation der Alleinerziehenden besonders
im Blick haben und sie in dieser schwierigen Lebens-
phase eines Konfliktes um den Kindesunterhalt unter-
stützen wollen. Zugleich haben wir eine starke Erwar-
tungshaltung geschaffen, an der eine Reform des
Unterhaltsvorschussgesetzes nun politisch gemessen
wird.

Der Gesetzentwurf zur Änderung des Unterhaltsvor-
schussgesetzes und anderer Gesetze sieht unter anderem
vor, dass alleinerziehende Elternteile zukünftig weniger
Nachweise erbringen müssen. Den Unterhaltsvor-
schussstellen wird die Anspruchsprüfung und An-
spruchsbewilligung erleichtert. Darüber hinaus werden
Regelungen zur Klarstellung, zum Beispiel zur Anrech-
nung von erbrachten Unterhaltsleistungen des familien-
fernen Elternteiles, getroffen. Unterhaltsvorschussstel-

Zu Protokoll gegebene Reden





Sibylle Laurischk


(A) (C)



(D)(B)


len erhalten ein höheres Maß an Klarheit zur
gerichtlichen Durchsetzung der Rückgriffsansprüche.
Als gesetzliche Maßnahme zur Verbesserung des Rück-
griffes plant die Bundesregierung, im Rahmen der
Entbürokratisierung des Unterhaltsvorschusses die
Auskunftsmöglichkeiten der für den Vollzug des UVG
zuständigen Stellen über die Verhältnisse der familien-
fernen Elternteile zu erweitern. Insgesamt enthält der
Gesetzentwurf einige Erleichterungen hinsichtlich des
Verfahrens. Es ist auch zu begrüßen, dass der Rückgriff
auf die Unterhaltsschuldner erleichtert wird. Eine spür-
bare materielle Verbesserung für die betroffenen Kinder
und die alleinerziehenden Elternteile gibt es aber nicht.

Der vorliegende Gesetzentwurf, der den Wünschen
des Bundesrates entspricht, wird dem Koalitionsvertrag
aber nicht vollends gerecht. Das zentrale Element, eine
Ausweitung der Bezugsberechtigten von 12 auf 14 Jahre,
ist nicht enthalten. Deswegen gehe ich davon aus, dass
das Gesetz in dieser Form nicht verabschiedet werden
kann. In jedem Fall wären substanzielle Änderungen er-
forderlich, die ich sowohl sachlich als auch politisch für
wichtig halte. Die kostenneutrale Anhebung der Alters-
grenzen bei gleichzeitiger Kürzung der Anspruchsdauer
– also die Rückführung des Unterhaltsvorschusses auf
seine ursprüngliche Funktion als „Übergangshilfe“ –
wäre eine Möglichkeit. Die Erhöhung der Altersgrenze
auf das vollendete 14. Lebensjahr würde zu Mehrkosten
von circa 240 Millionen Euro führen. Diese Mehrkosten
könnten gegebenenfalls durch eine Reduzierung der
Höchstbezugsdauer, gegenwärtig 72 Monate, gegenfi-
nanziert werden. Davon wäre ein Drittel vom Bund, zwei
Drittel von den Bundesländern zu tragen. Die im Gesetz-
entwurf enthaltenen Regelungen würden aber auch zu
Mehreinnahmen durch die Verbesserung der Rück-
holquote führen. Die Umsetzung erfordert die Zustim-
mung des Bundesrates. Die Bundesländer haben ein
hohes Interesse an einer Entlastung ihrer Unterhaltsvor-
schussstellen, die gegen die Mehrkosten abgewogen
werden kann.

Wir müssen uns vor Augen führen, dass das Nichtbe-
zahlen von Unterhalt kein Kavaliersdelikt ist, sondern
einen Strafbestand darstellt. Zu Zeiten, in denen wir die
Stärkung der Rechte von Vätern im Deutschen Bundes-
tag diskutieren, dürfen wir deren Pflichten – meist sind
die Väter unterhaltspflichtig – nicht vernachlässigen.


Jörn Wunderlich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720136100

Der Unterhaltsvorschuss soll die finanzielle Situation

von Alleinerziehenden und ihren Kindern verbessern,
wenn der unterhaltspflichtige Elternteil seinen Unter-
haltsverpflichtungen nicht oder nicht ausreichend nach-
kommen kann. Der Unterhaltsvorschuss kommt damit
unmittelbar den Kindern von Alleinerziehenden zugute
und unterstützt alleinerziehende Elternteile vorüberge-
hend.

Im Gesetzentwurf der Bundesregierung heißt es bei
der Problembeschreibung, dass diesen Elternteilen des-
halb diese Unterstützung so effektiv wie möglich zukom-
men soll und die Antragstellung deshalb zu vereinfachen
sei.

Das klingt erst einmal schön und verständlich.
Schlimm wird es allerdings, wenn man sich den Lö-
sungsteil anschaut. Dort steht lediglich: Entbürokrati-
sierung der Unterhaltsleistung für Eltern und Verwal-
tung. Aber wie soll entbürokratisiert und vereinfacht
werden?

Der Gesetzentwurf sieht vor, die Möglichkeit der
rückwirkenden Auszahlung für den Monat vor der An-
tragstellung zu streichen. Kurios wird es, wenn an-
schließend festgestellt wird, dass durch den Wegfall der
rückwirkenden Beantragung jeder Antragsteller 5 Mi-
nuten spart und dies in der Summe aller Antragsteller
92 500 Minuten ausmacht.

Diese „gesparten“ 5 Minuten bedeuten für den an-
tragstellenden Elternteil die Einbuße eines vollen Mo-
natsbetrages des Unterhaltsvorschusses. Ob damit die
finanzielle Situation Alleinerziehender verbessert wird,
wagt die Linke begründet zu bezweifeln und lehnt des-
halb diese geplante Neuregelung ab.

Statt der Streichung der rückwirkenden Auszahlung
sollte die Darlegungspflicht der „zumutbaren Bemühun-
gen“ zur Durchsetzung der Unterhaltsansprüche gegen-
über dem unterhaltspflichtigen Elternteil deutlich er-
leichtert werden. Das wäre wirklich eine Vereinfachung
und Entbürokratisierung sowohl für die Verwaltung als
auch für die Alleinerziehenden – ohne die Folge einer
möglichen finanziellen Notsituation.

Aber da steht ja wieder die Sorge der Bundesregie-
rung vor einem möglichen Missbrauch der gesetzlichen
Regelungen vor; denn wie anders lässt es sich sonst er-
klären, dass beim Unterhaltsvorschuss Geldleistungen
künftig auch durch Sachleistungen ersetzt werden dür-
fen?

Unterhalt muss aber durch direkte Zahlungen gesi-
chert sein. Zahlungen an Dritte sind für den betreuenden
Elternteil weniger verlässlich und weitaus schwerer
nachprüfbar als direkte Leistungen. Zudem verlieren Al-
leinerziehende und ihre Kinder durch indirekte Leistun-
gen einen Teil ihrer Entscheidungskompetenz und mögli-
cherweise auch den bedarfsdeckenden Unterhalt.

Man stelle sich einmal vor, der unterhaltsverpflich-
tete Elternteil holt im Rahmen seines Umgangs sein
Kind ab und bringt es dann zum Sportverein, dessen Mit-
gliedsbeiträge er auch von seinem Einkommen, das un-
ter dem Selbstbehalt liegt, bezahlt. Diese Beiträge kann
dann das Jugendamt vom Unterhaltsvorschuss als Sach-
leistung abziehen, obwohl der unterhaltsberechtigte El-
ternteil sein Kind nicht zum Sportverein bringen würde,
da das Geld dafür nicht übrig ist. Nun wird der Beitrag
gleichwohl abgezogen, von Amts wegen, nur aus der
Angst heraus, dass das Unterhaltsvorschussrecht miss-
braucht werden könnte.

Nicht zuletzt hat der BGH in seinem Urteil aus dem
Jahr 2007 deutlich gemacht, dass etwa Kitagebühren
oder vergleichbare Aufwendungen für die Betreuung des
Kindes nicht zum Barunterhalt zu rechnen sind. Und wie
die Behörden derartige Leistungen letztlich überprüfen
und in Abzug bringen wollen, ohne den Verwaltungs-
und Bürokratieaufwand zu erhöhen, wird wohl immer

Zu Protokoll gegebene Reden





Jörn Wunderlich


(A) (C)



(D)(B)


das wohlgehütete Geheimnis dieser Bundesregierung
sein. Ich kann nur vermuten, wie diese Regierung stän-
dig auf die Gedanken kommt, dass Menschen Vorschrif-
ten missbrauchen. Es gibt da ein schönes Sprichwort:
„Was ich selber denk und tu, das trau ich jedem anderen
zu.“

Eines allerdings an diesem Gesetzentwurf ist – und
das sollte auch erwähnt werden – richtig: die Koppelung
des Unterhaltsvorschusses an den Mindestunterhalt
nach § 1612 BGB. Allerdings wird nur ein Schritt ge-
dacht und dann wieder einmal angehalten, ohne weiter-
zudenken.

Bar- und Betreuungsunterhalt sind als gleichwertig
anerkannt. Daher ist es notwendig, dass beim Unter-
haltsvorschuss nicht länger das volle Kindergeld ange-
rechnet wird, sondern stattdessen – wie beim „norma-
len“ Unterhalt – nur das halbe Kindergeld angerechnet
wird und die andere Hälfte beim betreuenden Elternteil
verbleibt.

Hier ist wieder einmal ein Gesetzentwurf auf den be-
rühmt-berüchtigten Weg gebracht worden, ohne den Be-
dürfnissen der Realität gerecht zu werden. Ich kann des-
halb nur hoffen, dass dieses Gesetz durchdacht und im
Interesse der Betroffenen vernünftig diesen Weg und
auch das Parlament verlassen wird. Die Linke wird aktiv
daran mitgestalten, um Alleinerziehenden wirklich ver-
einfacht und effektiv zu ihrem Anspruch zu verhelfen.


Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720136200

Als die Bundesregierung im Herbst letzten Jahres ei-

nen Gesetzentwurf zum Unterhaltsvorschuss angekün-
digt hat, war ich – trotz der bis dato mageren Bilanz der
Familienministerin – hoffnungsvoll, dass die Pläne aus
dem schwarz-gelben Koalitionsvertrag umgesetzt wür-
den. Dort heißt es: „Wir werden das Unterhaltsvor-
schussgesetz dahin gehend ändern, dass der Unterhalts-
vorschuss entbürokratisiert und bis zur Vollendung des
vierzehnten Lebensjahres eines Kindes gewährt wird.“
Zwei durchaus sinnvolle Vorschläge. Diese Hoffnung
auf Umsetzung dieser Ankündigungen habe ich mit den
Familien- und Wohlfahrtsverbänden geteilt, die seit Jah-
ren die gesetzliche Grundlage, aber auch die Praxis des
Unterhaltsvorschusses als verbesserungswürdig einstu-
fen.

Doch der Gesetzentwurf, den das Kabinett verab-
schiedet hat, ist eine große Enttäuschung. Entbürokrati-
sierend werden sich die vorgeschlagenen Änderungen
auch nicht auswirken. Kinder von Alleinerziehenden ha-
ben ein deutlich höheres Armutsrisiko als Kinder, deren
Eltern zusammenleben. Ausbleibende Unterhaltszahlun-
gen sind ein Grund für dieses höhere Armutsrisiko. Hier
einen Ausgleich zu schaffen und die größte Not bei un-
terbleibenden Zahlungen zu lindern, ist Ziel des Unter-
haltsvorschusses. Dass ausbleibende Unterhaltszahlun-
gen kein Einzelfall sind, zeigen die Statistiken deutlich:
Jährlich nimmt rund eine halbe Million Kinder den Un-
terhaltsvorschuss in Anspruch. Doch der Bedarf ist weit-
aus höher; denn bislang sind ältere Kinder von der Leis-
tung ausgenommen. Kinder, die älter sind als zwölf
Jahre, bekommen keinen Unterhaltsvorschuss mehr. Da-

bei steigt mit dem Alter der Kinder nachweislich auch
deren Bedarf – in der Grundsicherung ist genau dieses
Prinzip sichtbar. Doch im Fall des Unterhaltsvorschus-
ses soll genau die gegenteilige Argumentation gelten.
Absurd! Damit werden die vollen finanziellen Lasten des
Aufwachsens dem alleinerziehenden Elternteil, zu rund
90 Prozent handelt es sich um Mütter, übergeholfen.

Die Altersgrenze zu verschieben – wie im Koalitions-
vertrag vorgesehen –, wäre absolut richtig und würde
gerade Alleinerziehenden und ihren Kindern in einer
schwierigen Lebenssituation tatsächlich helfen. Leider
wird sich die Hoffnung wohl unter dieser Ministerin
nicht erfüllen. Doch warum unternimmt die Bundesre-
gierung nichts in diese Richtung? Weil für diese Maß-
nahme angeblich kein Geld da ist. Es ist absolut wider-
sinnig, dass Schwarz-Gelb die wenigen sinnvollen
Maßnahmen, die die Koalition im Koalitionsvertrag
vorgesehen hat, mit der Begründung auf Eis gelegt hat,
es sei kein Geld da. Gleichzeitig sollen aber für eine ab-
surde Maßnahme wie das Betreuungsgeld mindestens
1,2 Milliarden Euro ausgegeben werden. Und in diesen
1,2 Milliarden Euro sind noch nicht einmal die Kosten
der Tauschgeschenke für die Zustimmung der FDP ent-
halten: Praxisgebühr, Riester-Sparen, Teilauszahlung
des Betreuungsgeldes.

Der Unterhaltsvorschuss ist eine wichtige Familien-
leistung für besonders von Armut und Benachteiligung
betroffene Kinder. Es ist gut und richtig, dass die staatli-
che Gemeinschaft hier mit einer Geldleistung ein-
springt. Richtig ist aber auch, dass die Verwaltung die-
ser Leistung aufwendig und ineffizient, die Gewährung
parallel zu anderen Leistungen zum Teil widersprüch-
lich und die Rückholquote des Vorschusses mit rund
30 Prozent deutlich ausbaufähig ist. Die Baustellen, die
zu bearbeiten sind, liegen auf der Hand. Doch statt sich
den Problemen zu widmen, schafft die Bundesregierung
mit ihrem Gesetzentwurf neue: Geld- und Sachleistun-
gen werden rechtswidrig gegeneinander aufgerechnet,
und die rückwirkende Antragstellung wird gestrichen.
Unter dem Deckmantel der Entbürokratisierung werden
Kürzungen und Verschlechterungen für armutsgefähr-
dete Kinder geplant und dabei neue Verwaltungshürden
geschaffen. Das ist völlig inakzeptabel.

Wenn das schwarz-gelbe Familienpolitik ist, dann
bleibt im Sinne der Familien in diesem Land nur zu hof-
fen, dass die Ministerin wie bisher weitestgehend untä-
tig bleibt und so zumindest keinen noch größeren Scha-
den anrichtet.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720136300

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf den Drucksachen 17/8802 und 17/2584 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. – Dazu gibt es, wie ich sehe, keine anderweiti-
gen Vorschläge. Dann haben wir das so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 39:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Fa-





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


kultativprotokoll vom 19. Dezember 2011 zum
Übereinkommen über die Rechte des Kindes
betreffend ein Mitteilungsverfahren

– Drucksache 17/10916 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Rechtsausschuss

Wie vereinbart, sind die Reden zu Protokoll genom-
men.


Dr. Peter Tauber (CDU):
Rede ID: ID1720136400

Heute ist ein erfreulicher Tag für die Kinder in

Deutschland und der Welt. Es ist uns allen ein Anliegen,
die Rechte der Kinder und damit ihre Stellung in der Ge-
sellschaft zu verbessern. Häufig ist es vielerorts noch
immer so, dass Kinder zwar Rechte auf dem Papier ha-
ben. Leider haben sie häufig nicht die Möglichkeit, diese
Rechte dann auch tatsächlich durchzusetzen. Was aber
bringen uns Rechte auf dem Papier, wenn es keine effek-
tive Instanz gibt, die dafür Sorge trägt, dass diese Rechte
auch individuell durchgesetzt werden können.

Mit der Ratifikation des Fakultativprotokolls zum
Übereinkommen über die Rechte des Kindes in mög-
lichst vielen Ländern in der Welt steigt der internatio-
nale Schutz der Rechte der Kinder – auch in Deutsch-
land. Das bisherige Übereinkommen über die Rechte
der Kinder sah bislang lediglich ein Berichtsprüfungs-
verfahren vor. Mit dem Fakultativprotokoll schließen
wir diese Lücke. Denn das Fakultativprotokoll regelt ein
Individualbeschwerdeverfahren, mit dem Kinder und Ju-
gendliche Verletzungen ihrer Rechte aus der UN-Kin-
derrechtskonvention und den beiden ersten Fakultativ-
protokollen beim VN-Ausschuss für die Rechte des
Kindes rügen können.

Deutschland hat die Resolution für das Individualbe-
schwerdeverfahren gemeinsam mit sieben anderen Staa-
ten in die Generalversammlung eingebracht. Wir tragen
damit großen Anteil an der Einführung dieses Beschwer-
deverfahrens. Und dies ist ein großer Erfolg für die in-
ternationale Menschenrechtspolitik der Bundesrepublik
Deutschland. Wir sind der Familienministerin daher
sehr dankbar, dass sie sich persönlich für dieses Anlie-
gen stark engagiert hat.

Es ist sehr erfreulich, dass Deutschland einer der
Vorreiter ist und international eine Vorbildfunktion
übernimmt. Deshalb ist es auch ganz wichtig, dass wir
das Protokoll zeitnah ratifizieren und somit internatio-
nal auch ein Signal senden, dass uns die Einhaltung der
Kinderrechte und deren Durchsetzung sehr wichtig ist.

Bisher gab es fünf völkerrechtliche Übereinkommen,
die mit einem Individualbeschwerderecht ausgestattet
sind: Dies ist neben dem Pakt über bürgerliche und poli-
tische Rechte, dem Übereinkommen gegen Folter und
andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende
Behandlung oder Strafe, den Internationalen Überein-
kommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskri-
minierung, sowie der Internationalen Konvention zum
Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer

Familienangehörigen insbesondere auch ein Überein-
kommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminie-
rung der Frau.

Dieses sechste Beschwerdeverfahren wird es Kindern
künftig ermöglichen, vor dem UN-Ausschuss für die
Rechte des Kindes in Genf zu klagen, wenn ihre Rechte
massiv verletzt werden und der eigene Staat nichts dage-
gen unternimmt. Beispiele dafür sind etwa der Einsatz
von Kindersoldaten oder die Situation von sexuell aus-
gebeuteten Kindern auf individueller Ebene. Damit wird
der Schutz der Kinder praktisch und konkret.

Der zuständige Ausschuss der Vereinten Nationen
kann in solchen Fällen dann Handlungsempfehlungen
an das entsprechende Land aussprechen. In besonders
schweren Fällen kann ein Untersuchungsverfahren ein-
geleitet werden. Das unterstreicht, dass die Vereinten
Nationen es mit dem Kinderschutz sehr ernst meinen.
Damit können die Staaten deutlich effektiver als bislang
in die Pflicht genommen werden. Die Vereinten Nationen
können wesentlich besser als bislang internationalen
Druck ausüben, was die Einhaltung der Kinderrechts-
konvention dann auch absichert. Die einzelnen Staaten
kommen dadurch unter einen stärkeren Druck, den
Rechten der Kinder schon auf nationaler Ebene zur Gel-
tung zu verhelfen, um Blamagen auf internationaler
Ebene zu vermeiden. Der eine oder andere Staat wird
sich auch fragen müssen, ob das eigene Schutzinstru-
mentarium ausreichend ist, und es besteht damit zu-
gleich die Chance, dass dies zu einer Verbesserung des
Schutzniveaus durch nationale Instrumente führt.

Zudem kann durch das Fakultativprotokoll besser ge-
währleitstet werden, dass mit dem Verstoß gegen Kin-
derrechte angemessen umgegangen wird. Denn das Pro-
tokoll stärkt die Zusammenarbeit der unterzeichnenden
Staaten mit dem zuständigen Ausschuss, in dem Exper-
ten zusammensitzen, die besondere Sensibilität für diese
Sachverhalte mitbringen.

Ein weiterer Aspekt ist wichtig: Durch die Möglich-
keit der Feststellung einzelner Menschenrechtsverlet-
zungen wird es durch die Betroffenen wesentlich einfa-
cher, gegen den betreffenden Staat die Zuerkennung
eines Anspruchs auf Wiedergutmachung durch ein inter-
nationales Gremium durchzusetzen. Dies ist gerade für
die Betroffenen ein zentraler Aspekt, um eine Kompen-
sation für erfahrenes Leid zu erhalten.

Aber auch in Deutschland steigt durch das Protokoll
das Schutzniveau, da Betroffenen auf internationaler
Ebene eine zusätzliche Möglichkeit an die Hand gege-
ben wird, nach Erschöpfung unseres nationalen Rechts-
weges die Durchsetzung ihrer Rechte zu erstreiten.

Es ist nun wichtig, dass möglichst viele Staaten das
Fakultativprotokoll ratifizieren. Deutschland geht mit
einem guten Beispiel voran, und wir alle können nun
hoffen, dass dies der Auftakt für eine weltweite Bewe-
gung zur umfassenden Stärkung der Rechte der Kinder
wird. In diesem Sinne freue ich mich auf die weitere par-
lamentarische Beratung.






(A) (C)



(D)(B)



Eckhard Pols (CDU):
Rede ID: ID1720136500

Recht auf Schutz vor Gewalt. Recht auf freie Mei-

nungsäußerung. Recht auf Freizeit, Ruhe und Spiel. Be-
sonderer Schutz vor wirtschaftlicher Ausbeutung und
gefährlicher Arbeit. Das alles sind einzigartige Rechte
von Kindern, wie sie in der UN-Kinderrechtskonvention
als breitangelegter völkerrechtlicher Vertrag garantiert
sind. Über all diesen verbrieften Kinderrechten schwebt
das Kindeswohlprinzip, das es bei allen Maßnahmen zu
berücksichtigen gilt, und zwar vorrangig.

Was aber nützen diese Rechte, wenn Kinder erstens
ihre Rechte gar nicht kennen oder zweitens ihre Rechte
zwar kennen, aber diese nicht einfordern können? Denn
wie heißt es sprichwörtlich so schön: Recht haben und
Recht bekommen sind zwei verschiedene Paar Schuhe.

Die Rechte von Kindern dürfen aber keinesfalls aus-
gehöhlt werden. Aus diesem Grund freue ich mich sehr,
dass Deutschland als einer der Erstunterzeichnerstaa-
ten am 28. Februar 2012 das Zusatzprotokoll zur UN-
Kinderrechtskonvention zur Errichtung eines Individu-
albeschwerdeverfahrens für Kinder unterzeichnet hat.
Danach können Kinder und Jugendliche Verletzungen
ihrer Rechte aus der UN-Kinderrechtskonvention beim
UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes rügen.

Da mir die Rechte von Kindern durch meine Arbeit in
der Kinderkommission sowie im Familienausschuss des
Deutschen Bundestages besonders am Herzen liegen,
habe ich unsere Bundesfamilienministerin Kristina
Schröder als Vertreter meiner Fraktion gern zur Unter-
zeichnungszeremonie nach Genf begleitet. Für mich war
das eine ganz besondere persönliche Erfahrung, an die-
sem feierlichen Akt teilnehmen zu dürfen und damit ei-
nen weiteren wichtigen Meilenstein bei der Stärkung
und Durchsetzung der Rechte von Kindern zu besiegeln.

Die Einrichtung eines Individualbeschwerdeverfah-
rens fügt sich als weiterer Mosaikstein in die erfolgrei-
che Kinder- und Jugendpolitik der christlich-liberalen
Koalition zur Stärkung der Kinderrechte in Deutschland
ein.

Als bedeutende Erfolge können wir unter anderem die
Rücknahme der Vorbehaltserklärung zur UN-Kinder-
rechtskonvention sowie die Verabschiedung des Bundes-
kinderschutzgesetzes verbuchen.

Ich bin stolz darauf, dass Deutschland bei den Verhand-
lungen zur Einrichtung eines Individualbeschwerdever-
fahrens eine konstruktive und aktive Rolle eingenommen
hat und mit dem nun eingeleiteten Ratifikationsprozess
das Inkrafttreten des Fakultativprotokolls vorantreiben
möchte.

Das Individualbeschwerdeverfahren tritt erst in
Kraft, wenn es in Deutschland selbst und insgesamt in
mindestens zehn Staaten ratifiziert worden ist.

Mit der Ratifikation des Zusatzprotokolls setzen wir
unser Versprechen aus dem Koalitionsvertrag zur ak-
tiven Mitwirkung an der Ausgestaltung eines Indivi-
dualbeschwerdeverfahrens um, schließen wir die noch
vorhandene Rechtslücke im internationalen Menschen-
rechtsschutzsystem, erlangen die Bestimmungen rechtli-

che Bindungswirkung für Deutschland und geben wir
Kindern als schutzbedürftigsten Mitgliedern der Gesell-
schaft ein effizientes Werkzeug zur Durchsetzung ihrer
Rechte an die Hand.

Die besten Kinderrechte nützen wenig, wenn sie nur
auf dem Papier stehen. Als Bundestagsabgeordneter und
Familienpolitiker ist es mein persönliches Anliegen, die-
ses neue Recht auf Individualbeschwerde in den Kinder-
gärten, Grundschulen, weiterführenden Schulen, Behör-
den und Einrichtungen in meinen Landkreisen Lüchow-
Dannenberg und Lüneburg und darüber hinaus bekannt
zu machen.

Denn nur wer ausreichend über seine Rechte infor-
miert ist, kann diese auch ausüben.


Marlene Rupprecht (SPD):
Rede ID: ID1720136600

Die Stärkung der Kinderrechte war und ist ein beson-

deres Anliegen der SPD-Bundestagsfraktion und liegt
mir als Kinderbeauftragter natürlich besonders am Her-
zen. Starke Kinderrechte müssen durchsetzbar sein. Wir
haben ein Individualbeschwerderecht für Kinder lange
gefordert und freuen uns ausdrücklich über die nun an-
stehende Ratifizierung des entsprechenden Zusatzproto-
kolls zur UN-Kinderrechtskonvention. Dieses Instru-
ment ist ein Rechtsmittel zur Durchsetzung der UN-
Kinderrechtskonvention, denn Betroffene könnten sich
an den UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes wenden,
um auf die Verletzung ihrer Rechte aufmerksam zu ma-
chen.

Bei anderen UN-Abkommen wie dem UN-Zivilpakt
oder der UN-Frauenrechtskonvention gab es ein solches
Beschwerderecht bereits. Endlich gibt es auch zur UN-
Kinderrechtskonvention ein ergänzendes Beschwerde-
verfahren.

Die Einführung dieses Instrumentes in Deutschland
ist weltweit ein wichtiges Signal für starke Kinderrechte.
Ein Beschwerderecht hilft dabei, darauf hinzuwirken,
dass die Vertragstaaten ihr Rechtssystem konsequenter
den in der Konvention anerkannten Kinderrechten an-
passen und auf deren Einhaltung achten.

Recht haben alleine reicht nicht aus – Rechte müssen
auch durchsetzbar sein. In einem Beschwerdeverfahren
kann sich das Kind selbst oder eine Person in seinem
Namen an den Ausschuss für die Rechte des Kindes wen-
den, der die Menschenrechtsverletzung untersucht. Auch
wenn die Entscheidung des Ausschusses rechtlich nicht
bindend sein wird, kann er auf Abhilfe drängen und für
den Kläger gegebenenfalls eine Entschädigung fordern.
Wie bei allen internationalen Beschwerdemechanismen
muss vorher der innerstaatliche Rechtsweg ausge-
schöpft sein. Was sich bei Erwachsenen mit einem eta-
blierten System von Beschwerdemöglichkeiten bewährt
hat, muss für Kinder erst mit Leben erfüllt werden.

Auf allen Ebenen brauchen Kinder altersgerechte
Möglichkeiten der Partizipation und auch der Be-
schwerde. So setze ich mich auf Bundesebene für einen
unabhängigen Kinderbeauftragten ein. Auf kommunaler
Ebene wollen wir Ombudschaftsstellen für Kinder eta-

Zu Protokoll gegebene Reden





Marlene Rupprecht (Tuchenbach)



(A) (C)



(D)(B)


blieren, um den Kindern direkt da, wo sie leben, beim
Vertreten ihrer Interessen beizustehen.

Kinderrechte müssen stärker bekannt gemacht wer-
den. Wer nicht um die eigenen Rechte weiß, kann sich
bei einem Verstoß gegen diese Rechte auch nicht be-
schweren. Hier ist noch viel zu tun. Wir hätten uns eine
Fortschreibung des Nationalen Aktionsplans zur Umset-
zung der UN-Kinderrechtskonvention gewünscht.

Ich hoffe, dass die Bundesregierung die Stärkung der
Kinderrechte auch auf einem anderen Gebiet voran-
bringt. Die Verankerung der Kinderrechte im Grund-
gesetz ist im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention
ebenso sinnvoll und geboten wie das Individual-
beschwerdeverfahren.

Bisher scheiterte die Stärkung der Kinderrechte im
Grundgesetz leider am Widerstand der Union. In letzter
Zeit habe ich jedoch erfreuliche Signale vernommen,
und ich hoffe, dass es uns gemeinsam gelingt, unsere
Verfassung im Interesse unserer Kinder zu modernisie-
ren. Kinder sind Rechtssubjekte und sollten als solche
auch im Grundgesetz genannt und behandelt werden.
Wer Kinderrechte wirklich stärken will, kann sich dieser
Forderung nicht verschließen.


Miriam Gruß (FDP):
Rede ID: ID1720136700

Hinter dem sperrigen Namen dieses Gesetzentwurfs

steckt nichts Geringeres als ein echter Meilenstein in der
Geschichte der Kinderrechte. Als letztes von allen
Menschenrechtsabkommen bekommt die UN-Kinder-
rechtskonvention jetzt ihren eigenen Beschwerdemecha-
nismus. Damit gewinnen die Kinderrechte international
deutlich an Durchsetzungskraft.

Deutschland ist hier ein echter Vorreiter: Am 28. Fe-
bruar 2012 hat Deutschland – vertreten durch die Fami-
lienministerin Dr. Kristina Schröder – das Fakultativ-
protokoll als einer der ersten Staaten überhaupt
gezeichnet. Wir haben es aber nicht nur früh unterzeich-
net, sondern seine Entstehung auch aktiv vorangetrie-
ben. Ohne Deutschlands Werbung für diese Angelegen-
heit wäre das Protokoll kaum noch im Jahr 2011 von der
UN-Generalversammlung angenommen worden. Ich
war im Februar 2012 bei der Unterzeichnung in Genf
dabei. Dort konnte ich live erleben, wie bei den anderen
Staaten noch gerungen wurde, ob man unterschreibt
oder nicht. Letztendlich haben dann 20 Staaten unter-
zeichnet – ein Riesenerfolg auch für Deutschland und
die schwarz-gelbe Regierung.

Ich kämpfe seit langem für die bessere nationale und
internationale Durchsetzung von Kinderrechten. Das
Individualbeschwerdeverfahren halte ich für einen ganz
zentralen Baustein. Deshalb haben wir Liberale vor drei
Jahren darauf bestanden, diese Forderung in den Koali-
tionsvertrag aufzunehmen. Jetzt ist es so weit: Der Weg
ist frei, das Gesetz noch in diesem Jahr zu ratifizieren.
Das Kabinett hat den Entwurf gebilligt, der Bundesrat
hat keine Einwände. Ich gehe fest davon aus, dass wir
bei diesem Thema einen überfraktionellen Konsens auch
hier im Bundestag haben.

Sobald insgesamt zehn Staaten das Fakultativproto-
koll ratifiziert haben, tritt es in Kraft. Je schneller wir
hier also sind, desto schneller verhelfen wir den Kinder-
rechten zu ihrer vollen Wirkung.

Was ändert sich durch das Protokoll? Kinder oder
ihre Fürsprecher haben in jedem Land, das das Proto-
koll verabschiedet hat, die Möglichkeit, sich direkt an
den Ausschuss der Vereinten Nationen für die Rechte des
Kindes zu wenden, zumindest solange sie den nationalen
Rechtsweg ausgeschöpft haben.

In dringenden Fällen kann der Ausschuss dem betref-
fenden Vertragsstaat eine sofortige Überprüfung auftra-
gen. Darüber hinaus kann er bei schwerwiegenden und
systematischen Verletzungen ein Untersuchungsverfah-
ren einleiten. Zwar sind die Empfehlungen des Aus-
schusses für die Nationalstaaten nicht bindend. Aber die
entsprechenden Staaten werden sich nichtsdestotrotz
verpflichtet fühlen, die entsprechende Kinderrechtsver-
letzung zu untersuchen.

Die Überzeugung, dass Kinder Träger eigener Rechte
sind, wird dadurch international noch einmal deutlich
zunehmen. Dies wird umso mehr zutreffen, als der
Ausschuss alle zwei Jahre an die Generalversammlung
berichten muss. Außerdem sind die unterzeichnenden
Staaten zu deutlicher Öffentlichkeitsarbeit verpflichtet;
denn die Kinder im jeweiligen Land sollen auch wissen,
dass es den Ausschuss für die Rechte des Kindes gibt.

Damit haben wir unsere Regierungsarbeit für Kin-
derrechte um einen weiteren wichtigen Erfolg erweitert.
Er reiht sich ein in unsere anderen Erfolge: Wir haben
die Vorbehalte gegenüber der UN-Kinderrechtskonven-
tion zurückgenommen. Keine andere Regierung seit
1992, auch nicht Rot-Grün, hat diese Chance genutzt.

Kinderlärm ist kein Grund zur Klage mehr. Wir haben
dafür gesorgt, dass die Geräusche von spielenden Kin-
dern nicht mehr mit Industrielärm gleichgesetzt werden
können. Das hilft den Kindern in diesem Land ganz
konkret; denn jedes Kind hat das Recht auf Spielen. Und
wir haben Deutschlands erstes Kinderschutzgesetz
verabschiedet. Es vernetzt alle Akteure im Kinder- und
Jugendschutz und stärkt dadurch die Aspekte Präven-
tion und Intervention im Kinderschutz. Auch die Institu-
tion der Familienhebammen wird massiv gefördert.

Unsere Bilanz bei den Kinderrechten ist also hervor-
ragend. Das ist auch der FDP zu verdanken; denn für
Liberale stehen Kinder im Mittelpunkt der Familienpoli-
tik. Das haben wir so angekündigt – und das haben wir
in dieser Legislaturperiode auch genau so umgesetzt.


Diana Golze (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720136800

Dass die Bundesrepublik das nunmehr dritte Fakulta-

tivprotokoll zur UN-Kinderrechtskonvention ratifiziert,
ist sehr zu begrüßen: Das darin vereinbarte Individual-
beschwerderecht ist wichtig für die Stärkung der
Belange der Kinder.

Die durch das Zusatzprotokoll geschaffene Möglich-
keit, dass sich Kinder – nach Ausschöpfung innerstaatli-
cher Rechtswege – an das zuständige UN-Gremium

Zu Protokoll gegebene Reden





Diana Golze


(A) (C)



(D)(B)


wenden und dort beschweren können, wird von der
Linken als ein weiteres wichtiges Instrument zur Siche-
rung der Rechte von Kindern gesehen. Das Beschwerde-
recht auf Basis der UN-Kinderrechtskonvention war
längst überfällig. Anders als beispielsweise bei der UN-
Behindertenrechtskonvention ist es nicht gleich bei der
Ratifizierung der Konvention geregelt worden.

Die bloße Ratifizierung reicht allerdings nicht aus,
um Kindern und Jugendlichen endlich einklagbare
Rechte zu geben. Bis heute klaffen auch in der Bundes-
republik die Anerkennung der Kinderrechte und ihre
Umsetzung weit auseinander.

Wer es mit den Kinderrechten ernst meint, gibt ihnen
Grundgesetzcharakter. Die Bundesregierung hat mit ih-
rer Unterschrift selbst ein weiteres Argument für einen
solchen Schritt geliefert. Jetzt muss sie den Unterschrif-
ten noch Taten folgen lassen. Eine weitere Verweige-
rung, überhaupt über die Frage der Verankerung von
Kinderrechten im Grundgesetz zu reden, geschweige
denn sie mit einem entsprechenden Gesetzentwurf zu un-
termauern, wird immer unverständlicher. Zumal die
vollzogene Ratifizierung viele offene Fragen in Bezug
auf die Auswirkung auf einfaches nationales Recht der
Bundesrepublik neu aufruft bzw. diese sogar verschärft.

Für die Umsetzung eines wirklichen Beschwerde-
rechtes braucht es aber nun konkrete rechtliche Schritte
und Maßnahmen, die ein solches Recht auch im Alltag
der in Deutschland lebenden Kinder realisierbar ma-
chen. Denn auch dieses Beschwerdeverfahren wird den
Kindern und Jugendlichen in der Bundesrepublik erst
nach Ausschöpfung innerstaatlicher Rechtswege ermög-
licht.

Dafür brauchen wir ein flächendeckendes Netz von
Beschwerdestellen, die auf die Bedürfnisse von Kindern
und Jugendlichen zugeschnitten sind und die den ganz
besonderen Anforderungen entsprechen, die eine solche
hochsensible Arbeit erfordert. Von einem solchen Netz-
werk aber sind wir in Deutschland meilenweit entfernt.
Wir brauchen ein solches Netzwerk eben auch, um Bera-
tungsangebote vor Ort vorzuhalten, um Kinder über ihre
Rechte zu informieren. Wir brauchen Unterstützungs-
angebote, die ihnen helfen, diese Rechte auch wahrzu-
nehmen, und eine erkennbare Aufnahme der Rechte von
Kindern in die deutsche Gesetzgebung.

Darüber hinaus muss aus Sicht der Linken genau aus
dem Grund, dass Kinder und Jugendliche erst alle
Rechtsinstanzen durchlaufen müssen, der Rechtsan-
spruch auf unabhängige Beratung und Hilfe auf Kinder
und Jugendliche ausgeweitet werden. Ein solcher
Rechtsanspruch darf nicht erst greifen, wenn sie sich in
einer besonderen Notsituation befinden. Die Chance
dazu hätte es bereits mit der Verabschiedung des Kin-
derschutzgesetzes gegeben.

Dass Sie diese notwendige Grundlage auch jetzt nicht
schaffen wollen, ist in dem vorgelegten Gesetz nachzu-
lesen. Wenn dort steht: „Ein etwaiger Mehrbedarf bei
Bund, Ländern und Kommunen ist geringfügig“, ist ein-
deutig klargestellt, worum es sich für die Bundesregie-

rung bei der Unterzeichnung des Fakultativprotokolles
handelt: um einen bloßen symbolischen Akt.

Somit unterzeichnet ein reiches Industrieland wie
Deutschland erneut ein verbindliches UN-Dokument,
ohne für die notwendigen Rechtsgrundlagen gesorgt zu
haben.

Darum bleiben wir dabei: Eine Entscheidung zur
Rechtsstellung von Kindern in unserer Gesellschaft ist
längst überfällig – mit der Schaffung eines Individualbe-
schwerdeverfahrens wird sie jetzt zwingend notwendig.


Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720136900

Die Vereinten Nationen haben ein Individualbe-

schwerdeverfahren konzipiert, das für Kinder und Ju-
gendliche sowie deren Eltern die Möglichkeit vorsieht,
sich wegen der Verletzung ihrer Rechte auf der Grund-
lage der UN-Kinderrechtskonvention mit schriftlichen
Beschwerden an den UN-Ausschuss für die Rechte des
Kindes zu wenden. Am 28. Februar 2012 haben die ers-
ten Staaten das entsprechende Zusatzprotokoll der UN-
Kinderrechtskonvention in Genf unterzeichnet. Ich freue
mich, dass Deutschland zu den ersten Staaten gehörte,
die dieses mit unterzeichnet haben.

Das Individualbeschwerdeverfahren ist ein wichtiger
Beitrag zur Verbesserung der Umsetzung der UN-Kin-
derrechtskonvention. Es ist eine wirkungsvolle Ergän-
zung zu den regelmäßigen Berichtspflichten, den soge-
nannten Staatenberichten und den sogenannten
Schattenberichten der Nichtregierungsorganisationen.
Es ist zu begrüßen, dass Deutschland nun auch bei der
noch notwendigen Ratifizierung vorangeht und damit
für andere Staaten vorbildlich ist.

Was aber nicht geht – und so, wie wir die Bundesre-
gierung kennen, ist die Gefahr hierfür sehr groß –, ist,
dass Schwarz-Gelb sich nun auf der Ratifizierung des
Zusatzprotokolls ausruht. Wir sind hier gebrannte Kin-
der; denn auch die Rücknahme der Vorbehaltserklärung
haben wir alle gelobt. Die Rücknahme der Vorbehaltser-
klärung ist aber zur reinen Symbolpolitik verkommen,
weil die Bundesregierung sich weigert, echte Konsequen-
zen, beispielsweise in Fragen des Asyl- und Aufenthalts-
rechts, zu ziehen.

Deshalb will ich den Blick wieder von außen nach in-
nen richten. Hier gibt es einige dringliche Aufgaben, die
die Bundesregierung angehen muss. Wer in seinen Rech-
ten verletzt wird, muss diese kennen, um sich beschwe-
ren zu können. Das verlangt deutliche Anstrengungen
zur Bekanntmachung der Kinderrechte. Die sicherlich
wichtigste Maßnahme zur Bekanntmachung und Stär-
kung der Kinderrechte ist eine Änderung des Grundge-
setzes, damit die Rechtsträgerstellung von Kindern deut-
licher herausgearbeitet und klargestellt wird. Als
flankierende Maßnahme fordern wir Sie auf, den Natio-
nalen Aktionsplan „Für ein kindergerechtes Deutsch-
land“ fortzusetzen bzw. neu aufzulegen und diesen mit
konkreten termingebundenen und messbaren Zielen und
Vorgaben zur Umsetzung der Kinderrechte in Deutsch-
land zu versehen.

Zu Protokoll gegebene Reden





Katja Dörner


(A) (C)



(D)(B)


Als völkerrechtlich bindende Konvention ist die UN-
Kinderrechtskonvention keineswegs nur „ein wichtiger
Leitfaden“ für die nationale Politik, wie die Bundes-
regierung es in unserer Kleinen Anfrage zur Stärkung
der Kinderrechte ausführt. Sie enthält vielmehr objek-
tive und subjektive Rechte, deren Achtung und Umset-
zung ein rechtsstaatliches Gebot sind. Zur Überprüfbar-
keit, ob die Kinderrechte in Deutschland eingehalten
werden und ob die Konvention auch tatsächlich umge-
setzt wird, bedarf es eines verbindlichen Monitoringsys-
tems. Es ist längstens an der Zeit, den Dialog mit
Verbänden und Organisationen aufzunehmen, um ein
solches Monitoring zu etablieren.

Ich würde mir wünschen, dass jährlich in zeitlicher
Nähe zum Jahrestag der UN-Kinderrechtskonvention,
dem 20. November, eine Generaldebatte im Bundestag
zum Stand der Umsetzung von Kinderrechten stattfindet.
Hier ist es an uns allen – und die Unterstützung der Bun-
desregierung hierfür wäre sehr hilfreich –, an geeigne-
ter Stelle darauf hinzuwirken, dass dem 20. November
und den Kinderrechten auch in der parlamentarischen
Debatte der Platz eingeräumt wird, der ihnen gebührt.

Die Ratifizierung des Zusatzprotokolls zur Individual-
beschwerde ist ein wichtiger Schritt. Wir sind sehr froh,
dass er so schnell erfolgt. Er entbindet die Bundesregie-
rung nicht, bei der Umsetzung der Kinderrechte in
Deutschland endlich Taten erkennen zu lassen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720137000

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf der Drucksache 17/10916 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Es
gibt keine anderweitigen Vorschläge. Dann haben wir
das so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 34:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Krista
Sager, Ekin Deligöz, Katja Dörner, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Transparenz als verbindliches Grundprinzip
in der öffentlich finanzierten Wissenschaft
verankern

– Drucksache 17/11029 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)
Innenausschuss

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die
Reden zu Protokoll genommen.


Tankred Schipanski (CDU):
Rede ID: ID1720137100

Wir debattieren heute einen Antrag der Grünen zur

Steigerung der Transparenz in der öffentlich finan-
zierten Forschung. Im Kern soll die Bundesregierung
aufgefordert werden, gemeinsam mit Ländern, Wissen-
schaftsorganisationen und Hochschulen eine Umset-
zungsstrategie zur Verankerung von Transparenz als
umfassendem Grundprinzip im öffentlich finanzierten
Wissenschaftssystem verbindlich zu verankern.

Hierzu schlagen die Grünen eine Reihe von Maßnah-
men vor: Die Vergabe öffentlicher Mittel soll künftig an
die Bedingung geknüpft werden, in frei zugänglichen
Datenbanken „das Forschungsprojekt, die Ziele und die
wesentlichen Resultate … darzulegen und über den
Umfang und die Dauer der öffentlichen Förderung so-
wie die beteiligten Kooperationspartner Auskunft zu
geben“. Die Offenlegung vertraglicher Kooperationen
zwischen öffentlich finanzierter Forschung und Dritten
im Internet soll mittels gesetzlicher Regelungen erzwun-
gen werden. Codes of Conduct sollen Forscher an Hoch-
schulen und Forschungseinrichtungen künftig dazu ver-
pflichten, alle öffentlich und privat finanzierten
Drittmittelprojekte – einschließlich der Auftraggeber –
zu veröffentlichen. Hochschulprofessoren sollen ver-
pflichtet werden, Nebentätigkeiten sowie deren Umfang
und Art zu veröffentlichen.

Ich halte diese Vorschläge aus mindestens drei Erwä-
gungen heraus für grundsätzlich verfehlt.

Erstens gibt es nach unserer Auffassung keine gravie-
renden Fehlentwicklungen, die solch weitreichende
Maßnahmen rechtfertigen würden. Zur Begründung
Ihres Antrags verweisen Sie auf „vereinzelt aufgetretene
Fälle wissenschaftlichen Fehlverhaltens im Rahmen von
Kooperationsbeziehungen und bei Nebentätigkeiten von
Professoren“. Nach meiner Überzeugung reichen diese
vereinzelten Fehltritte jedoch nicht aus, um zusätzliche
Instrumente für die gesamte deutsche Wissenschafts-
landschaft zu fordern. Vielmehr vertrete ich die Auffas-
sung, dass die Träger der öffentlich finanzierten
Forschung in Deutschland ganz überwiegend hervorra-
gende Arbeit leisten und den Vertrauensvorschuss, den
die christlich-liberale Koalition ihr seit langem ein-
räumt, rechtfertigen. In diesem Geist haben wir erst in
der letzten Sitzungswoche das Wissenschaftsfreiheitsge-
setz verabschiedet. Zusätzliche Kontrollinstrumente sind
mit dieser Grundüberzeugung nicht vereinbar. Dem
grundsätzlichen Misstrauen der Grünen setzt die CDU/
CSU Vertrauen in die Integrität unserer Wissenschaftler
und in die bestehenden Kontrollmechanismen entgegen.

Zur Begründung Ihres Antrags verweisen Sie weiter
auf den Anspruch der Bürger, „auf nachvollziehbare
Weise zu erfahren, welche Wissenschaftler welche
Forschung mit welchen Ergebnissen und mit welchen
öffentlichen Fördermitteln durchführen und welche
Kooperationspartner dabei einbezogen werden“. Die-
sen Ansatz halte ich für sehr einseitig und deshalb nicht
statthaft. Zwar stimme ich Ihnen zu, dass Bürger ein
Recht auf Informationen zur Verwendung öffentlicher
Forschungsgelder haben. Andererseits sind jedoch auch
Forscher und Forschungseinrichtungen, beteiligte
Unternehmen und Private ebenfalls Grundrechtsträger.
Bereits heute haben wir umfangreiche Informations-
vorschriften sowie Nebentätigkeitsvorschriften für Wis-
senschaftler. Ich erinnere aber daran, dass gerade das
Personalrecht primär im Verantwortungsbereich der
Bundesländer liegt. Sollte es hier Nachholbedarf geben,
so muss man an konkreten Fällen Lösungsansätze erör-
tern. Hier findet sich jedoch im Antrag der Grünen
nichts.





Tankred Schipanski


(A) (C)



(D)(B)


Wir haben bereits ausreichend Instrumente zur
Kontrolle der Verwendung öffentlicher Gelder und zur
Partizipation der Bevölkerung am Forschungsprozess
bestehen. Sie verweisen in Ihrem Antrag zurecht auf
bereits bestehende Datenbanken wie GEPRIS der Deut-
schen Forschungsgemeinschaft und den Förderkatalog
der Bundesregierung. Hinzu kommen parlamentarische
Kontrollrechte wie der umfangreiche jährliche Bericht
der Forschungseinrichtungen im Rahmen des Pakts für
Forschung und Innovation. Darin legen die For-
schungseinrichtungen ausführlich Rechenschaft über
die Verwendung öffentlicher Gelder ab.

Drittens ist für uns die Freiheit der Wissenschaft ein
hohes Gut, das durch die von Ihnen vorgeschlagenen
zusätzlichen bürokratischen Hürden und neuen Verwal-
tungsaufgaben infrage gestellt würde. Die von Ihnen
geforderten Codes of Conduct in den Wissenschaftsor-
ganisationen existieren bereits. Soweit die Hochschulen
derartige Regelungen nicht haben, liegt dies im Zustän-
digkeitsbereich der Länder.

Ein weiteres Problem sehe ich in der konkreten Aus-
gestaltung der von Ihnen geforderten Offenlegungs-
pflichten. Insbesondere bei der Forschung in Koopera-
tionsverbünden mit Unternehmen gibt es zahlreiche sen-
sible Daten, die nicht ohne Weiteres offengelegt werden
können. Auf dieses Problem weisen Sie auch zu recht hin
und nennen als Beispiele „patentrelevante Informatio-
nen, Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse sowie sonstige
Rechte der beteiligten Akteure“. Mir ist beim Lesen Ih-
res Antrags jedoch nicht klar geworden, wo nach Ihrer
Vorstellung künftig die Grenze zwischen dem Recht der
Bürger auf Information und dem Recht der Forscher auf
die Sicherheit ihrer Daten eigentlich genau verlaufen
soll. Dieser Punkt wird nach meiner Auffassung nicht
ausreichend problematisiert.

Wir lehnen Ihren Antrag aus den dargelegten grund-
sätzlichen Überlegungen ab. Es gibt nach meiner Über-
zeugung keinerlei Entwicklungen, die solch weitrei-
chende bürokratische Eingriffe rechtfertigen würden.
Die bestehenden Instrumente zur Sicherstellung der
Transparenz im Forschungsprozess reichen aus und stel-
len einen sinnvollen Ausgleich zwischen den Informa-
tionsrechten der Bürger und der Freiheit der Forschung
dar. Insbesondere aber sind weiter reichende Kontrollin-
strumente mit unserem grundsätzlichen Vertrauen in die
Träger der öffentlich finanzierten Forschung nicht
vereinbar.


René Röspel (SPD):
Rede ID: ID1720137200

Wir diskutieren heute einen druckfrischen Antrag der

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Thema „Transpa-
renz als verbindliches Grundprinzip in der öffentlich fi-
nanzierten Wissenschaft verankern“. Wir finden diesen
Antrag der Grünen zunächst einmal unterstützenswert.
Dies darf nicht verwundern, da sie damit nicht nur eine
grundsätzliche Position der Sozialdemokratie treffen,
sondern weil wir vor einiger Zeit einen ähnlichen An-
trag auf den Weg und in den Bundestag eingebracht ha-
ben, der sich mit der Frage der Transparenz hinsichtlich

der Kooperation von Hochschulen und Unternehmen
befasst (Drucksache 17/9168).

Viele der im Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen beschriebenen Ansätze halten wir für richtig. Es
ist richtig und wichtig, dass Kooperationsbeziehungen
zwischen Forschungseinrichtungen und Hochschulen
mit Dritten – also meistens der Wirtschaft – transparent
sind, und zwar in einer Weise, dass die interessierte Öf-
fentlichkeit nachvollziehen kann, mit welchen Unterneh-
men die jeweiligen Einrichtungen zusammenarbeiten
bzw. von wem sie Geld bekommen. Damit können mög-
liche Interessenkonflikte transparent gemacht werden.
Diese Forderung entspricht dem, was wir in unserem
Antrag auf Drucksache 17/9168 bereits formuliert haben.

Auch hinsichtlich der im Antrag angesprochenen
Frage des wissenschaftlichen Fehlverhaltens können
wir darauf hinweisen, dass die SPD-Bundestagsfraktion
einen Antrag zu diesem Thema bereits im letzten Jahr
auf der Drucksache 17/5758 – „Kampf gegen wissen-
schaftliches Fehlverhalten aufnehmen – Verantwortung
des Bundes für den Ruf des Forschungsstandortes
Deutschland wahrnehmen“ – in den deutschen Bundes-
tag eingebracht hat. Das ist also auch schon abgehan-
delt.

Wir halten weiterhin das Ziel für richtig, dass die
Hochschulen und Forschungseinrichtungen in eigener
Verantwortung sogenannte Codes of Conduct aufstellen,
da dies nicht gesetzlich geregelt werden kann, und künf-
tig alle öffentlichen oder privat eingeworbenen Drittmit-
telprojekte – einschließlich der Auftraggeber – offenle-
gen, zum Beispiel auf der Homepage der Institute und
Einrichtungen. Gleiches sollte unbedingt auch für Pu-
blikationen gelten. Wir halten es für sehr sinnvoll, wenn
in Veröffentlichungen ein Hinweis zu finden ist, wie sel-
bige finanziert worden sind.

Auch die Forderung in dem hier vorliegenden Antrag,
dass es eine Datenbank geben sollte, die über das beste-
hende Angebot des Bundes und der Deutschen For-
schungsgemeinschaft hinausgeht, wo eben Informatio-
nen über Projekte und deren Finanzierung abgerufen
werden können, ist grundsätzlich sinnvoll und unterstüt-
zenswert.

Allerdings finden wir, dass im Detail doch noch ei-
nige Fragen offen bleiben, die geklärt werden müssen,
wo der Antrag möglicherweise auch zu früh gekommen
ist.

Die Grünen beziehen sich auch auf eine Empfehlung
der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesell-
schaft“, die grundsätzlich richtig ist, dass Ziele, wesent-
liche Resultate und veröffentlichte Forschungsergeb-
nisse und Daten in allgemeinverständlicher Form
dargelegt werden sollten und auch der Umfang und die
Dauer einer öffentlichen Förderung und die Koopera-
tionspartner nachvollziehbar sein müssen.

Dennoch taucht im Detail die Frage auf, wie detail-
liert und zu welchem Zeitpunkt der Arbeiten beispiels-
weise ein Ziel oder Forschungsergebnisse und Daten
angegeben werden müssen. So stellt sich doch die
Frage, ob nicht ein Kern von grundgesetzlich garantier-

Zu Protokoll gegebene Reden





René Röspel


(A) (C)



(D)(B)


ter Wissenschaftsfreiheit und Freiheit von Forschung
durch solch eine Vorgehensweise berührt oder mögli-
cherweise beeinträchtigt ist, indem man Wissenschaftler
tatsächlich dazu verpflichtet, ihre Daten gegen ihren
Willen zu veröffentlichen. Es ist nicht ausgeschlossen,
dass es Situationen, Ergebnisse und Resultate gibt, die
eine Wissenschaftlerin oder einen Wissenschaftler bewe-
gen, nicht zu veröffentlichen. Allerdings gilt es an dieser
Stelle, die jeweilige Motivlage genau zu prüfen. So muss
unter allen Umständen ausgeschlossen werden, dass
eine Forscherin oder ein Forscher die von ihr oder von
ihm generierten Ergebnisse – etwa im Rahmen einer kli-
nischen Studie – nur selektiv veröffentlicht, um etwa be-
stimmte unerwünschte Ergebnisse für die eigene For-
schung oder den Finanzier derselben zu verschleiern.

Dessen ungeachtet sind Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler hinsichtlich ihrer Präferenz, von einer
Veröffentlichung abzusehen, in ihrer Entscheidung zu
respektieren, sei es aus möglicherweise ethischen oder
anderen Gründen oder vielleicht deshalb, weil die
gewonnenen Erkenntnisse sich noch in einem Stadium
befinden, wo die Veröffentlichung – anders als das im
Antrag der Grünen auch für Betriebs- oder Geschäftsge-
heimnisse formuliert worden ist – nicht angebracht ist,
zum Beispiel deshalb, weil sie aus wissenschaftlichen
Gründen den Status oder den Zeitpunkt für eine Veröf-
fentlichung für nicht gerechtfertigt ansehen.

Wir werden in der nächsten Sitzung des Ausschusses
für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
im Anschluss an die geplante Anhörung zum Thema
„Umgang mit sicherheitsrelevanten Forschungsergeb-
nissen“ eine Diskussion führen müssen, wo es tatsäch-
lich darum geht, ob Ergebnisse zu Sequenzen eines
hochpathogenen Erregers veröffentlicht werden sollen
oder nicht. Diese Anhörung findet am 7. November 2012
statt, und ich hätte es für sinnvoll gehalten, sich erst
nach dieser Anhörung ein endgültiges Meinungsbild zu
schaffen und dann einen solchen Antrag wie den hier
vorliegenden vorzulegen. Und ein wenig merkt man
auch an der Sprache des Antrags, dass tatsächlich die
bestehenden Unschärfen möglicherweise gewollt sind,
weil solche wie die eben genannten Fragen noch nicht
abschließend geklärt sind.

Was soll zum Beispiel im Detail damit gemeint sein,
wenn die Pflicht zur Veröffentlichung zurücktreten soll,
wenn gesetzlich geschützte Interessen unverhältnismä-
ßig beeinträchtigt werden? Dies bleibt nach meiner Les-
art des Antrags jedenfalls unbeantwortet. Für die erste
Lesung des Antrags bleibt also das Fazit: Ein Teil der
Themen ist bereits behandelt durch unsere SPD-An-
träge; beim anderen Teil – so sinnvoll die Forderungen
auch sind – hätten wir uns gewünscht, dass man noch
die Ausschussanhörung abwartet. Grundsätzlich aller-
dings geht der Antrag in die richtige Richtung.


Dr. Martin Neumann (FDP):
Rede ID: ID1720137300

Um es vorweg zu sagen, für uns Liberale ist die Frei-

heit von Wissenschaft und Forschung ein überaus hohes
und kostbares Gut. Wir sind für die Unabhängigkeit der
Wissenschaft, und wir Liberale sind für den Schutz der

Wissenschaftsfreiheit. Das haben wir stets unterstrichen
und nun auch mit dem sogenannten Wissenschaftsfrei-
heitsgesetz verankert.

Den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen „Transpa-
renz als verbindliches Grundprinzip in der öffentlich fi-
nanzierten Wissenschaft verankern“ lehnen wir aber ab;
denn die in dem Antrag geforderte Unabhängigkeit der
Wissenschaft ist nicht in Gefahr. In dem Antrag der Grü-
nen steht es selbst, schwarz auf weiß. Es gibt „vereinzelt
aufgetretene Fälle wissenschaftlichen Fehlverhaltens im
Rahmen von Kooperationsbeziehungen und bei Neben-
tätigkeiten von Professoren“. Vereinzelte Fälle! Und
weiter heißt es im Antrag, dass den vereinzelten Fällen
„ein ungerechtfertigtes Misstrauen gegenüber einer
weitgehend integren Wissenschaft“ gegenübersteht. Un-
gerechtfertigtes Misstrauen! Wenn das der Anlass und
die Rechtfertigung dieses Antrags ist, haben die Grünen
bislang nicht verstanden, was ihre Aufgabe im Parla-
ment ist. Dann haben die Grünen einen Antrag vorge-
legt, der in sich obsolet ist.

Aber was viel schlimmer ist, die Grünen haben einen
Antrag formuliert und vorgelegt, der weiteres Miss-
trauen schürt und die Wissenschaft in ihren Koopera-
tionsbeziehungen und in ihrer eigenverantwortlichen
Verwendung von öffentlichen Geldern unter einen Gene-
ralverdacht stellt. Ein Generalverdacht, den die Grünen
in ihrem Antrag mit ihrer Forderung nach mehr Trans-
parenz noch weiter befördern. Denn was kommt bei den
Bürgern und in der Gesellschaft für eine Botschaft an,
wenn sich der Deutsche Bundestag fortwährend mit der
Frage auseinandersetzt, wie man die Wissenschaft und
Forschung von wissenschaftlichem Fehlverhalten be-
freien kann, das es – laut Antrag der Grünen – ja nur in
wenigen Einzelfällen gibt? Der Antrag ist keine Aus-
nahme, sondern reiht sich ein in eine Vielzahl von
Schaufensteranträgen zum angeblichen Schutze der
Wissenschaft. Anträge von Grünen und Linken können
mittlerweile mit demselben Wortlaut aus vorangegange-
nen Reden abgelehnt werden.

Für uns Liberale ist die Unabhängigkeit der Wissen-
schaft – im Gegensatz zum Verständnis der Grünen –
eine selbst auferlegte Verpflichtung eines jeden Wissen-
schaftlers. Es gehört zur Aufgabe des Wissenschaftlers,
Verantwortung zu übernehmen und die Überparteilich-
keit seiner Forschung zu sichern. Das unterstreicht auch
die Resolution des Deutschen Hochschulverbandes
„Zur Unparteilichkeit von Wissenschaft“. Jene Resolu-
tion, die von den Grünen ins Feld geführt wird, um staat-
lich verordnete Transparenz und Regeln zu fordern, sagt
mit keinem einzigen Wort, dass der Staat Regeln schaf-
fen muss. Vielmehr verpflichtet die Initiative des Deut-
schen Hochschulverbandes jeden Forschenden und die
Wissenschaft insgesamt, aus sich heraus die Drittmittel-
projekte und ihre Auftraggeber offenzulegen. Wir Libe-
rale begrüßen deshalb jene Initiative des Deutschen
Hochschulverbandes, lehnen aber die falschen Schluss-
folgerungen der Grünen ab, die Offenlegung von Dritt-
mittelprojekten und ihren Auftraggebern vorzuschrei-
ben. Denn für uns Liberale sind autonome Hochschulen
kein pauschales Schlagwort, sondern in ihrer Selbst-

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Martin Neumann (Lausitz)



(A) (C)



(D)(B)


ständigkeit und Eigenverantwortung ernst zu nehmende
Institutionen.

Ein weiterer Kritikpunkt an dem Antrag ist die Wider-
sprüchlichkeit in der Zielsetzung des Antrags. Dem Titel
nach soll Transparenz lediglich in der öffentlich finan-
zierten Wissenschaft hergestellt werden. In der Begrün-
dung des Antrags aber zeigt sich bereits, dass es den
Grünen auch um die privaten Drittmittelgeber geht. In
den Forderungen wird deutlich, dass die Wissenschaft-
ler ebenso dazu verpflichtet werden sollen, die privaten
Auftraggeber und ihre Absichten offenzulegen. Konkret
soll nach Auffassung der Grünen nicht nur die Identität
des Auftraggebers, sondern auch der Förderumfang öf-
fentlich gemacht werden; Ausnahmen müssen dann be-
gründet werden.

Wohlgemerkt, alles geht von der einleitenden Fest-
stellung aus, dass es „vereinzeltes Fehlverhalten“ in der
sonst „integren Wissenschaft“ gibt. Mit dem Antrag
wird deutlich, welch Geisteskind die Grünen sind: Miss-
trauen gegenüber den privaten Forschungsauftragge-
bern besteht ebenso wie gegenüber den Wissenschafts-
einrichtungen und den Forschenden. Die Grünen sind in
Wahrheit nicht an der Unabhängigkeit der Wissenschaft
interessiert. Das Lieblingswort der Grünen drückt es be-
reits aus. „Transparenz“ steht für Konformität. Durch
die völlige Entkleidung des Wissenschaftlers und der
Einrichtungen wird Konformitätsdruck ausgeübt. Derje-
nige wird an den öffentlichen Pranger gestellt, der For-
schungsaufträge und Themen von Dritten annimmt, die
nicht in das zivilgesellschaftliche Bild der Grünen pas-
sen. Das beste Beispiel ist die Gentechnik und Genom-
forschung an Hochschulen und außeruniversitären For-
schungseinrichtungen. Es gibt zahlreiche Beispiele, in
denen Wissenschaftler bedrängt und Forschungspro-
jekte eingestellt werden mussten, weil Aktivisten gegen
die Forschung zur Gentechnik vorgegangen sind. Dabei
war es auch egal, dass es im überwiegenden Teil der
Projekte nur um die Sicherheitsforschung ging.

Deutlich wird die Entmündigung des Wissenschaft-
lers in der letzten Forderung im Antrag von den Grünen.
Dem Ansinnen nach soll die Hochschulrektorenkonfe-
renz allgemeine Standards für die Nebentätigkeit des
wissenschaftlichen Personals entwickeln. Gleich ange-
fügt wird auch, in welche Richtung die Standards gehen
sollen. So soll festgeschrieben werden, welche Art und
welcher Umfang an Nebentätigkeiten gewollt sind und
ab wann ein Interessenkonflikt vorliegt. Dass aber ein
Interessenkonflikt eine rein subjektive, eine persönliche
Entscheidung ist, widerspricht dem ganzen Ansinnen
der Grünen.

Wir Liberale nehmen den Wissenschaftler ernst.
Transparenz muss von den Wissenschaftlern und der
Wissenschaft gewollt und aus sich selbst heraus voran-
getrieben werden. Der Staat kann diesen Prozess beglei-
ten, jedoch nicht vorzeichnen. Der Antrag von Bünd-
nis 90/Die Grünen wird dem Anspruch an Wissen-
schaftsfreiheit und Unabhängigkeit der Wissenschaft in
keinster Weise gerecht und wird aus diesem Grund abge-
lehnt.


Dr. Petra Sitte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720137400

Wenn das Thema Transparenz auf der Tagesordnung

steht, ist offensichtlich mehr Durchblick vonnöten. Das
ist der Fall aktuell bei Nebeneinkünften von Abgeordne-
ten, die aus meiner Sicht vollständig offengelegt werden
müssen. In der Forschungspolitik brauchen wir in jedem
Fall mehr Durchblick im Dschungel der öffentlichen
Forschungsförderung. Jedes Bundesministerium, jedes
Bundesland und jede Wissenschaftseinrichtung haben
eigene Vorstellungen davon, wie sie die Öffentlichkeit
über ihre geförderten oder durchgeführten Forschungs-
projekte informieren. Wir Parlamentarier, zivilgesell-
schaftliche Interessengruppen, an den Ergebnissen inte-
ressierte Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und
Bürgerinnen und Bürger brauchen aber einen Überblick
darüber, wozu schwerpunktmäßig geforscht wird, wer
das mit welchen Einflussmöglichkeiten bezahlt und wo
blinde Flecken der Forschungslandschaft liegen.

Es geht vor allem darum, den Durchblick bei den In-
teressen, die leitend für Forschungsfragen sind, zu be-
halten. Denn Kooperationen mit Unternehmen oder
Regierungsstellen können zwar wissenschaftlich be-
fruchtend sein, innovative Methoden erschaffen und die
Praxistauglichkeit der Projekte steigern. Gerade bei der
angewandten Forschung und Entwicklung versuchen
Kooperationspartner aber nicht selten, besonderen Ein-
fluss auf Projektdesign oder Ergebnisverwertung gegen-
über der Wissenschaft geltend zu machen. Immerhin
stammt heute bereits ein knappes Drittel aller Drittmit-
tel an deutschen Hochschulen von gewerblich tätigen
Unternehmen oder Stiftungen. Und das schränkt nicht
nur die Souveränität der Öffentlichkeit beim Umgang
mit Forschungsergebnissen ein, sondern schränkt auch
die Autonomie der Forschenden ein.

Deshalb ist der offene Umgang mit Vorfällen so wich-
tig wie der nur zufällig publik gewordenen Finanzierung
von Stiftungsprofessuren an Berliner Universitäten
durch die Deutsche Bank, die dafür Vetorechte bei Per-
sonalbesetzung und der Veröffentlichung von For-
schungsergebnissen erhielt. Damit das eine Ausnahme
bleibt, braucht es für Entscheidungen über Kooperatio-
nen verbindliche Kriterien einer guten Praxis, die in de-
mokratischen Verfahren an den Einrichtungen überprüft
werden. Wie ein solcher Kriterienkodex zustande kom-
men kann – dazu hat die Linke im Mai einen Antrag im
Bundestag vorgelegt. Die Grünen schlagen heute zudem
gesetzliche Regelungen für eine einheitliche Veröffentli-
chungspraxis der Wissenschaftseinrichtungen über ihre
Projekte, Fördersummen und Projektpartner vor. Auch
das unterstützen wir ausdrücklich.

Ich freue mich, dass inzwischen die Presse dieses
Thema regelmäßig in ihre Berichterstattung aufnimmt
und dass mit dem Antrag der Grünen schon die zweite
parlamentarische Initiative dazu eingereicht wird. Auch
der Anfang einer akademischen Debatte ist gemacht. Im
August dieses Jahres hat der Verein für Socialpolitik, die
größte Vereinigung von Wirtschaftswissenschaftlern in
Deutschland, einen Ethikkodex verabschiedet. Darin
verpflichten sich die Mitglieder, in ihren Gutachten und
Publikationen „alle in Anspruch genommenen Finanzie-
rungsquellen, Infrastruktureinrichtungen und sonstigen

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Petra Sitte


(A) (C)



(D)(B)


externen Unterstützungen anzugeben“ sowie kenntlich
zu machen, wenn diese „ nicht ohne vorherige Einwilli-
gung Dritter veröffentlicht werden“. Eingesetzte Ver-
trauensleute und eine Ethikkommission sollen über die
Umsetzung wachen.

Ich bin optimistisch, dass weitere Fachgesellschaften
diesem Beispiel folgen werden.


Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720137500

Wir treten in unserem Antrag dafür ein, dass Transpa-

renz als Grundprinzip im öffentlich finanzierten Wissen-
schaftsbereich verbindlich verankert wird. Hier ist auch
die Politik gefragt, im Rahmen ihrer Möglichkeiten dazu
beizutragen, dieses Grundprinzip durchzusetzen –
davon profitieren nicht nur die Bürgerinnen und Bürger
und die interessierte Öffentlichkeit. Mehr Transparenz
bei der öffentlich finanzierten Forschungsförderung un-
terstützt auch die wissenschaftliche Arbeit, so zum Bei-
spiel durch die verbesserte Weiternutzung von Ergebnis-
sen, und erhöht die Sichtbarkeit und Legitimation von
Wissenschaft.

Im Kern geht es uns in unserem Antrag um zwei The-
men: Erstens, das prinzipielle Recht der Bürgerinnen
und Bürger, zu erfahren, welche Forschenden und wel-
che Projekte mit welchen veröffentlichten Ergebnissen
durch öffentliche Mittel finanziert werden. Zweitens geht
es um die Transparenz, die nötig ist, um unangemesse-
nen Einflussnahmen und Interessenkonflikten im Bereich
öffentlich finanzierter Forschung vorzubeugen bezie-
hungsweise diese überhaupt erst einer kritischen Bewer-
tung und Beurteilung zugänglich zu machen. Ziel ist es,
am Ende die Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit von
Wissenschaft insgesamt zu stärken.

Das Recht der Bürgerinnen und Bürger auf nachvoll-
ziehbare Informationen über die Verwendung öffentli-
cher Forschungsmittel muss nicht mehr näher begründet
werden. Verbesserungswürdig ist allerdings die Umset-
zung dieses Prinzips. Die Enquete-Kommission „Inter-
net und digitale Gesellschaft“ hat in diesem Sommer
einstimmig eine Handlungsempfehlung verabschiedet,
die eine für Bürgerinnen und Bürger verständliche Da-
tenbank fordert. Wir haben die Umsetzung dieser Emp-
fehlung bei den aktuellen Haushaltsberatungen einge-
fordert. Auch die Regierungskoalitionen sollten darauf
achten, dass die Bundesregierung hier tätig wird. Laut
der Empfehlung soll die Datenbank – ähnlich der Da-
tenbank GEPRIS der DFG – die wesentlichen Informa-
tionen zu öffentlich geförderten Forschungs- und Ent-
wicklungsvorhaben enthalten und die Zuwendung
öffentlicher Mittel für Forschungsprojekte generell an
die verpflichtende Bedingung geknüpft werden, seitens
der Mittelempfängerinnen und -empfänger in frei zu-
gänglichen, möglichst zentralen sowie untereinander
vernetzten Datenbanken das jeweilige Forschungspro-
jekt, dessen Ziele und wesentliche Resultate, einschließ-
lich der nach dem Open-Access-Prinzip veröffentlichten
Forschungsergebnisse und -daten, in allgemeinver-
ständlicher Form darzulegen. Darüber hinaus soll über
den Umfang und die Dauer der öffentlichen Förderung
Auskunft gegeben werden. Hierbei sollten auch die be-
teiligten Kooperationspartnerinnen und -partner er-

wähnt werden. Die Ressortforschung ist sinnvollerweise
dabei umfassend einzubeziehen.

Bei unserer Forderung nach mehr Transparenz im
Interesse der Glaubwürdigkeit und der Unabhängigkeit
von Wissenschaft und Forschung geht es nicht um ein
Misstrauen gegenüber der Wissenschaft. Es geht da-
rum – angesichts des hohen Ansehens, das die Wissen-
schaft in unserer Gesellschaft genießt, eine Beschädi-
gung der Wissenschaft durch Einzelne abzuwenden.

In letzter Zeit wurden in der Öffentlichkeit verschie-
dene Fälle von wissenschaftlichem Fehlverhalten, zum
Beispiel im Rahmen von Kooperationen und Nebentätig-
keiten, sowie gravierende Verstöße gegen Transparenz
und wissenschaftliche Unabhängigkeit kritisch disku-
tiert. Es ist im Interesse der gesamten Wissenschaft ge-
gen solche Fälle entschieden vorzugehen, denn die
Glaubwürdigkeit von wissenschaftlichen Erkenntnissen
lässt sich nicht von der Glaubwürdigkeit und der Inte-
grität der Forschenden und ihren Einrichtungen tren-
nen. Zweifel an der Integrität von Forschenden und ih-
ren Einrichtungen führt berechtigterweise zu Zweifeln
an der Qualität bestimmter wissenschaftlicher Ergeb-
nisse und unterminiert das Vertrauen in Forschung und
Wissenschaft jenseits der kritischen Überprüfung und
Hinterfragung, der wissenschaftliche Arbeit ohnehin
stets unterliegen muss.

Natürlich operieren Wissenschaft und Forschung
nicht im luftleeren Raum. Wissenschaftler und Wissen-
schaftlerinnen sind sowohl auf öffentliche oder private
Mittel als auch in vielfältiger Weise auf Kooperationen
mit Dritten angewiesen. Dagegen ist auch nichts einzu-
wenden. Im Gegenteil: Diese Kooperationen sind in der
Regel außerordentlich produktiv für alle Beteiligten. Sie
fördern den gesamtgesellschaftlich produktiven Wissens-
und Technologietransfer. Ob dabei die Unabhängigkeit
von Wissenschaft und Forschung tangiert wird und ob es
zu Interessenkonflikten kommt, das ist keine objektiv
messbare Größe. Die Gesellschaft muss aber die Mög-
lichkeit haben, sich davon ein Bild zu machen. Hierfür
bedarf es der Transparenz über Kooperationsbeziehun-
gen im Wissenschaftsbereich. Diese muss natürlich
grundlegende Rechte wie Geschäfts- und Betriebs-
geheimnisse sowie datenschutzrechtliche Regelungen
berücksichtigen. Unser Ansatz zielt vor diesem Hinter-
grund ausschließlich auf die verbindliche Veröffentli-
chung wesentlicher Daten, das heißt Daten zu Laufzeit,
Umfang, beteiligten Institutionen und Personen. Wer öf-
fentliche Mittel bezieht, sollte offenlegen, mit wem er ko-
operiert und von wem er seine Mittel erhält. Deshalb
muss die Veröffentlichung auch die Drittmittelforschung
betreffen. Der genaue Gegenstand der Kooperation ist
Sache der Vertragsparteien und soll dies auch bleiben.

Flankiert werden soll diese Offenlegung durch die
Entwicklung von – durch wissenschaftliche Akteure
selbst erarbeitete – Codes of Conduct für verschiedene
Kooperationsformen. Solche Codes können von vorn-
herein unterstützen, dass Kooperationen auf Augenhöhe
und fair stattfinden. Die verschiedenen zuständigen
Wissenschaftsorganisationen sollten entsprechende ver-
bindliche Handlungsrahmen für Kooperationen erarbei-
ten und diese öffentlich kommunizieren. Die potenziellen

Zu Protokoll gegebene Reden





Krista Sager


(A) (C)



(D)(B)


Kooperationspartner sollten sich in Zukunft zur Einhal-
tung entsprechender Regeln verpflichten.

Neben dem Thema Kooperationen kommt es jedoch
auch darauf an, die Glaubwürdigkeit im Wissenschafts-
bereich durch weitere Maßnahmen für mehr Transpa-
renz zu stärken und zum Beispiel unberechtigte Vorwürfe
zu entkräften. Hierzu zählt die Offenlegung von mögli-
chen Interessenkonflikten bei Publikationen: Entspre-
chend dem Singapore Statement on Research Integrity
von 2010 sollen wissenschaftliche Autorinnen und Auto-
ren bei Publikationen verbindlich die Finanzierung bzw.
Unterstützung ihrer Forschung und möglicherweise be-
stehende Interessenkonflikte offenlegen und diese Infor-
mationen zusammen mit der jeweiligen Publikation ver-
öffentlichen. Einige wissenschaftliche Zeitschriften
weisen hier bereits heute den richtigen Weg.

Transparenzanforderungen müssen auch an die Ne-
bentätigkeiten des hauptberuflichen wissenschaftlichen
Personals gestellt werden. Deshalb sollen Bund und
Länder in Kooperation mit den Wissenschaftsorganisa-
tionen einheitliche Regelungen mit dem Ziel erarbeiten,
dass anzeigen- und genehmigungspflichtige Nebentätig-
keiten von Hochschulprofessorinnen und -professoren
an öffentlich geförderten Hochschulen veröffentlicht
werden. Entsprechende Regelungen sollen auch für das
leitende wissenschaftliche Personal an den außeruni-
versitären Forschungseinrichtungen entwickelt werden.

Nebentätigkeiten dürfen der Integrität und Glaub-
würdigkeit von Wissenschaft nicht entgegenstehen. Des-
halb wollen wir die Hochschulrektorenkonferenz darum
bitten, allgemeine Standards für die Nebentätigkeit des
hauptberuflichen wissenschaftlichen Personals an öf-
fentlich finanzierten Hochschulen zu entwickeln. Für
das hauptberuflich tätige wissenschaftliche Personal an
außeruniversitären Forschungseinrichtungen sollte Ent-
sprechendes von der Allianz der deutschen Wissen-
schaftsorganisationen erbeten werden.

Mehr Transparenz im Wissenschaftsbereich stärkt die
Glaubwürdigkeit und Integrität und trägt dazu bei, dass
nicht eine kleine Gruppe schwarzer Schafe am Ende ein
Zerrbild in der Öffentlichkeit produzieren kann.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720137600

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/11029 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Es gibt keine an-
derweitigen Vorschläge. Dann ist das so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 41:

Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 17. No-
vember 2011 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und dem Fürstentum Liechten-
stein zur Vermeidung der Doppelbesteuerung
und der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der
Steuern vom Einkommen und vom Vermögen

– Drucksache 17/10753 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses (7. Ausschuss)


– Drucksache 17/11104 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Kolbe
Dr. Volker Wissing
Dr. Thomas Gambke

Wie ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll
genommen.


Manfred Kolbe (CDU):
Rede ID: ID1720137700

Dem Deutschen Bundestag liegt heute ein Gesetzent-

wurf zur Ratifikation eines neuen Doppelbesteuerungs-
abkommens mit dem Fürstentum Liechtenstein vor.

Grundsätzlich dienen Doppelbesteuerungsabkommen
dazu, die doppelte Besteuerung in den Vertragsstaaten
für Unternehmen und Privatpersonen zu vermeiden.
Damit können die internationale wirtschaftliche Zusam-
menarbeit verbessert und Investitionshemmnisse auf-
grund einer doppelten Steuerlast abgebaut werden.

Deutschland ist Liechtensteins wichtigster Export-
markt. Die liechtensteinische Industrie trägt circa
40 Prozent zum gesamten Bruttosozialprodukt des
Fürstentums bei. Jeder zweite Arbeitnehmer in Liech-
tenstein ist ein Einpendler aus Österreich, der Schweiz
oder Deutschland. Liechtensteins Unternehmen haben
über 5 000 Arbeitsplätze in Deutschland geschaffen –
das bekannteste unter ihnen ist sicherlich der Werkzeug-
maschinenhersteller Hilti.

Liechtenstein hat in den letzten Jahren in seiner
nationalen und internationalen Steuerpolitik und Steuer-
kooperationspolitik einen umfassenden Reformprozess
eingeleitet und umgesetzt. Das am 1. Januar 2011 in
Kraft getretene neue liechtensteinische Steuergesetz er-
füllt die europarechtlichen Standards uneingeschränkt
und ist auch international kompatibel und anerkannt.
Dieses kann damit als nationale Basis für den Abschluss
von bilateralen Doppelbesteuerungsabkommen angese-
hen werden. Es entspricht insbesondere den europa-
rechtlichen Bestimmungen über das Verbot staatlicher
Beihilfen, welche auch für Liechtenstein aufgrund des
Abkommens zur Errichtung eines Europäischen Wirt-
schaftsraums, EWR-Abkommen, verbindlich sind. Die
zuständige europäische Überwachungsbehörde hat die
Europarechtskonformität des liechtensteinischen Steu-
errechts ausdrücklich in einer entsprechenden Entschei-
dung bestätigt.

Weiterhin hat sich das Fürstentum mit der Liechten-
stein-Erklärung vom 12. März 2009 zur Umsetzung des
geltenden internationalen OECD-Standards zur Trans-
parenz und zum Informationsaustausch in Steuersachen
verpflichtet. Die seither mit derzeit 25 Partnern unter-
zeichneten und größtenteils in Kraft getretenen Abkom-
men folgen vollumfänglich diesem Standard. Liechten-
stein ist bestrebt, sein Netzwerk an Steuerabkommen
stetig auszuweiten, hat bereits mit weiteren Partnern
Abkommen abgeschlossen und steht in Verhandlungen
mit einer Reihe weiterer Staaten innerhalb und außer-





Manfred Kolbe


(A) (C)



(D)(B)


halb Europas. Gleichzeitig hat sich Liechtenstein bereit
erklärt, umfassende Regelungen zur Regularisierung
und zur Sicherstellung der legitimen Steueransprüche
anderer Staaten in der Vergangenheit und für die
Zukunft zu entwickeln und abzuschließen. Liechtenstein
erfüllt die OECD-Standards zur Steuerkooperation. Dies
hat das Global Forum on Transparency and Exchange
of Information for Tax Purposes, GFTEI, in seinem
Peer-Review-Verfahren bestätigt.

Sie sehen also, dass Liechtenstein viel unternommen
hat, und das hat es auch in dem Fachgespräch im Deut-
schen Bundestag glaubwürdig dargelegt. Wir sollten
deshalb von den Klischees der Vergangenheit Abstand
nehmen.

Mit der Ausgestaltung des DBA wollen Deutschland
und Liechtenstein die bestehenden Wirtschaftsbeziehun-
gen stärken und die direkten Wirtschaftsbeziehungen
zum beiderseitigen Vorteil ausbauen. Damit wird auch
der Verbundenheit in einem gemeinsamen europäischen
Regulierungsrahmen und der Förderung des europäi-
schen Binnenmarktes Rechnung getragen. Liechtenstein
ist aufgrund des EWR-Abkommens wie Deutschland Teil
des EU-Binnenmarktes.

Das DBA entspricht den Standards der OECD und
trägt zugleich den Bedürfnissen und Wünschen beider
Vertragsstaaten umfassend und innovativ Rechnung. In
Art. 10 wurde für das Besteuerungsrecht des Quellen-
staates bei Dividenden ein Nullsatz vereinbart. Im
Zusammenhang mit grenzüberschreitenden Dividenden,
Zinsen, Lizenzen und Veräußerungsgewinnen ist die
Reduktion des Quellensteuersatzes an bestimmte
Voraussetzungen geknüpft. So ist bei Schachteldividen-
den die Quellensteuerreduktion auf 0 Prozent an eine
Mindestbeteiligung in Höhe von 10 Prozent und an eine
Mindesthaltedauer in Höhe von zwölf Monaten gekop-
pelt. Dies entspricht der Regelung im Abkommen zwi-
schen Deutschland und der Schweiz und vermeidet die
unangemessene Inanspruchnahme und den Missbrauch
derartiger Quellensteuerreduktionen. Nur wer an lang-
fristigen und stetigen Investitionen interessiert ist, dem
wird eine Quellensteuerfreiheit gewährt.

Das Abkommen zwischen Deutschland und Liechten-
stein enthält besondere Aktivitäts- und Substanz-
erfordernisse zur Vermeidung von Missbrauchs-
konstellationen sowie von abkommensrechtlichen
Wettbewerbsnachteilen für aktiv tätige Wirtschaftsunter-
nehmen, die sogenannte Realwirtschaftsklausel, die
erstmals in dieser Form so vereinbart wurde. Hierdurch
wird die Entwicklung der bilateralen Wirtschaftsbezie-
hungen, nicht aber in Form von funktions- und substanz-
schwachen Unternehmen, gefördert.

Art. 31 des DBA schränkt die Anwendung der Abkom-
mensvergünstigungen, insbesondere Quellensteuerre-
duktionen, in bestimmten Fällen ein. Grundsätzlich geht
es darum, sicherzustellen, dass nur tatsächlich in einem
Staat ansässige Personen die Abkommensvorteile nutzen
können.

Ferner sind zur Vermeidung „ungerechtfertigter
Steuervorteile“ Strukturen, welche nur der liechtenstei-

nischen Mindestertragsteuer unterliegen, nicht abkom-
mensberechtigt, sogenannte Privatvermögensstruktu-
ren. Der Gründung von Scheinfirmen oder anderen
„Konstruktionen“ zur Erlangung von steuerrechtlichen
Vorteilen wird damit ein Riegel vorgeschoben.

Mit dem Abkommen zwischen Deutschland und
Liechtenstein wird nicht nur der gegenseitige Austausch
von Steuerinformationen nach Art. 26 OECD-Muster-
abkommen vereinbart, welche im anwendbaren TIEA
bereits verwirklicht ist, sondern auch Amtshilfe bei der
Steuererhebung, sogenannte Beitreibung von Steuer-
forderungen, vorgesehen. Diese Bestimmungen sind im
aktuellen OECD-Musterabkommen enthalten, werden
aber in Europa und weltweit erst in wenigen bilateralen
DBA verwendet. Als weiteres, neues Element wird Amts-
hilfe bei der Zustellung von Steuerforderungen und Steu-
erbescheiden vereinbart. Demnach enthält das Abkom-
men zusätzlich zum existierenden TIEA eine umfassende
Informationsklausel, die sämtliche Steuerarten umfasst.
Nicht zuletzt ist ein verbindliches Schiedsverfahren
vorgesehen, sofern mithilfe eines Verständigungsverfah-
rens keine Lösung erzielt werden kann.

Das Fürstentum Liechtenstein hat sich in den letzten
Jahrzehnten zu einem wichtigen Handelspartner der
Bundesrepublik Deutschland entwickelt. Wir möchten die
wirtschaftliche Zusammenarbeit der beiden Länder stär-
ken und verabschieden deshalb heute Doppelbesteue-
rungsabkommen.


Lothar Binding (SPD):
Rede ID: ID1720137800

Wir beraten heute in abschließender Lesung über ein

Gesetz, mit dem das zwischen Liechtenstein und
Deutschland ausgehandelte Abkommen über die Vermei-
dung der Doppelbesteuerung und der Steuerverkürzung
auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom
Vermögen umgesetzt wird. Die SPD-Fraktion stimmt
dem Gesetzentwurf zu, auch wenn einige Regelungen
enthalten sind, die wir uns anders gewünscht hätten. Ich
denke dabei an die Ausgestaltung der Quellenbesteue-
rung von Dividenden aus Schachtelbeteiligungen, an
Regelungen zum steuerlichen Informationsaustausch
und zur Vermeidung grenzüberschreitender Steuerge-
staltungen. Mit Blick auf die Vielzahl von Briefkastenfir-
men und intransparenten Rechtskonstruktionen, mit de-
nen sich Vermögen und Einkünfte am deutschen Fiskus
vorbeischleusen ließen und die zum bislang schlechten
Ruf Liechtensteins als Steuer- und Verdunkelungsoase
beigetragen haben, ist es bedauerlich, dass die Bundes-
regierung in den Verhandlungen mit Liechtenstein keine
Lösung für diese unversteuerten Altvermögen angestrebt
hat. Die von Liechtenstein angekündigte und begrüßens-
werte sogenannte Weißgeldstrategie wäre noch deutlich
glaubwürdiger, wenn wir auch eine Lösung für die Er-
fassung und Besteuerung bislang nicht erfasster Altfälle
hätten. Dabei denke ich nicht allein an Liechtenstein.
Das ist wie bei der Schwarzarbeit: Zu jedem Schwarz-
arbeiter gehört ein Schwarzarbeitgeber. Wollen wir da
nur einer Seite die ganze Schuld geben?

Wenn man sich die Art und Weise und das schlechte
Ergebnis der Verhandlungen über die „Regularisierung“

Zu Protokoll gegebene Reden





Lothar Binding (Heidelberg)



(A) (C)



(D)(B)


bislang unversteuerter Altvermögen anschaut, die Finanz-
minister Schäuble im ähnlich gelagerten Fall der
Schweiz erreicht hat, habe ich wenig Hoffnung, dass wir
hier in absehbarer Zeit zu einer guten Regelung mit
Liechtenstein kommen. Wir werden damit wohl auch in
Zukunft große Schwierigkeiten haben, Erkenntnisse
über rechtswidrig nach Liechtenstein verbrachtes Ver-
mögen, daraus entstehende Vermögenspositionen und
Erträge oder über intransparente Rechtskonstruktionen
ohne steuerlich identifizierbare Begünstigte zu gewinnen,
bei denen der Treuhänder – Trustee – im Ausschüttungs-
bzw. Fälligkeitszeitpunkt über ein „Entscheidungsrecht“
bei der Zuweisung der Erträge an Begünstigte verfügt.

Wenn wir dem Abkommen mit Liechtenstein trotz die-
ser Mängel zustimmen, liegt dies an den Fortschritten
bei der Weiterentwicklung eines internationalen Abkom-
mensnetzes, das unsere Besteuerungsrechte gegenüber
anderen Staaten wirksamer als in einem abkommens-
losen Zustand abgrenzt und schützt und unsere Kennt-
nisse über Einkünfte deutscher Steuerpflichtiger aus die-
sen Staaten verbessert. Langfristig streben wir eine
Änderung des OECD-Musterabkommens an, um den au-
tomatischen Informationsaustausch automatisch in al-
len Vereinbarungen zu implementieren und seine Akzep-
tanz zu erhöhen.

Bislang hatten wir kein Doppelbesteuerungsabkom-
men mit Liechtenstein; der Vertrag beendet also einen
abkommenslosen Zustand mit einem Staat, der von der
Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung, OECD, bislang auf der Liste der Steuer-
und Regulierungsoasen geführt worden war. Die damit
verbundene Verbesserung der Wirtschaftsbeziehungen
zwischen Liechtenstein und Deutschland und die Fort-
schritte bei der Bekämpfung von Steuerhinterziehung
sind nicht denkbar ohne die Vorarbeiten von Peer
Steinbrück, der sich in seiner Zeit als Bundesfinanz-
minister für die Umsetzung der OECD-Standards für
Transparenz und effektiven Informationsaustausch in
steuerlichen Angelegenheiten eingesetzt hat. Das neue
Abkommen führt zu einem wirksameren Schutz unserer
legitimen Besteuerungsansprüche und ermöglicht – über
die Regelung im deutsch-liechtensteinischen Steuer-
informationsaustauschabkommen hinaus – auch einen
freiwilligen spontanen und automatischen Informations-
austausch; zumindest dies, wenn schon unsere bevorzugte
Lösung eines obligatorischen Informationsaustauschs
über alle Steuerarten hinweg mit der Möglichkeit zu
Gruppenanfragen nicht erreichbar war.

Das Abkommen übernimmt die neuen Grundsätze der
Betriebsstättenbesteuerung gemäß OECD-Musterab-
kommen, die Betriebsstätten wie selbstständige Unter-
nehmenseinheiten behandelt, Art. 7, und damit die formale
Voraussetzung für die Anwendung des Fremdvergleichs-
grundsatzes für die Verrechnungspreislegung konzern-
interner Transaktionen schafft.

Die Quellenbesteuerung zwischengesellschaftlicher
Dividenden lehnt sich an die entsprechenden Regelun-
gen im deutsch-schweizerischen Abkommen an. Damit
gilt ein Steuersatz von 0 Prozent, wenn der Nutzungsbe-
rechtigte eine Gesellschaft ist, die über einen Zeitraum

von wenigstens zwölf Monaten einen Anteil von mindes-
tens 10 Prozent an dem ausschüttenden Unternehmen
hält. Die Koalitionsfraktionen verteidigen diese Lösung
und verweisen auf die Schutzklauseln in Art. 31 des Ab-
kommens, die sogenannte Aktivitäts- und Substanzerfor-
dernisse definieren, um die ungerechtfertigte Inan-
spruchnahme von Abkommensvorteilen zu vermeiden
und deutsche Besteuerungsinteressen zu wahren. Im Zu-
sammenwirken mit der Freistellungsmethode, die eine
Doppelbesteuerung vermeiden soll, unterliegen diese
Einkünfte in Deutschland nicht mehr der Besteuerung.
Diese Freistellung gilt allerdings nur für Einkünfte aus
aktiver Tätigkeit, um eine Verlagerung von Steuersub-
strat durch Verwaltungsgesellschaften ins Ausland zu
vermeiden, und unter Anwendung des Progressionsvor-
behalts; die in Deutschland von der Besteuerung freige-
stellten Einkünfte aus Liechtenstein werden dann bei der
Ermittlung der steuerlichen Belastung des übrigen Ein-
kommens fiktiv hinzugerechnet, es kommt zu einer Ver-
breiterung der Bemessungsgrundlage und einer höheren
durchschnittlichen Steuerbelastung der in Deutschland
zu versteuernden Einkommen.

Die Bundesregierung begründet ihre Verhandlungs-
position der Freistellung im Allgemeinen damit, dass für
Unternehmen, die Einkünfte im Ausland erzielen, die
gleichen steuerlichen Rahmenbedingungen wie für ihre
Konkurrenz gelten sollen. Dieses Argument hat mit Blick
auf die starke internationale Wettbewerbssituation deut-
scher Unternehmen zwar seine Berechtigung; die SPD-
Fraktion spricht sich allerdings im Grundsatz – und mit
Rücksicht auf den konkreten Einzelfall – für die Anrech-
nungsmethode aus, um die Besteuerungsrechte des
Staates zu erhalten und keine Schlupflöcher für Gestal-
tungen zulasten der öffentlichen Haushalte zu öffnen.
Die im Abkommen vereinbarte Switch-over-Klausel, die
es Deutschland erlaubt, im Fall des Missbrauchs der
Freistellungsmethode einseitig auf die Anrechnungsme-
thode umzuschalten, kann den strukturellen Unterschied
zwischen Freistellung- und Anrechnungsmethode nicht
vollständig „kompensieren“, da eine solche Entschei-
dung auf spezielle Fälle beschränkt ist und keine allge-
meine, grundsätzliche Lösung darstellt.

Es geht uns nicht um eine konfiskatorische Besteue-
rung von Einkünften, die aus Ausschüttungen bei ver-
bundenen Unternehmen mit grenzüberschreitenden Be-
teiligungen entstehen. Angesichts der Tatsache, dass die
von der Bundesregierung verhandelten Doppelbesteue-
rungsabkommen der letzten Zeit einen immer weiter sin-
kenden Steuersatz vorsehen und im aktuellen Abkommen
sogar eine Nullbesteuerung vereinbart wurde, würde es
sich für Deutschland mit seinem weitverzweigten Netz
an Doppelbesteuerungsabkommen allerdings lohnen,
über einen höheren Steuersatz nachzudenken, auch um
als Vorbild für eine internationale Trendumkehrung zu
dienen.

Die zur Anhörung des Finanzausschusses eingela-
denen Sachverständigen aus Deutschland und Liech-
tenstein bewerteten das Abkommen mit Blick auf die
Unterbindung von Steuerhinterziehung und Gestaltungs-

(Nichtsteuerung und die Verbesserung des Informationsaus Zu Protokoll gegebene Reden Lothar Binding tausches zwischen Steuerverwaltungen überwiegend positiv. Gleichwohl konnten in der theoretischen Erörterung mit den Sachverständigen einige Aspekte nicht vollständig aufgeklärt werden. Ich halte es deswegen für eine gute Idee – und habe das auch bei heftigem Nicken des Parlamentarischen Staatssekretärs im Ausschuss vorgeschlagen – , das Abkommen in einigen Jahren daraufhin zu überprüfen, ob es sich in der Praxis des Steuervollzugs für die Steuerpflichtigen und die Steuerverwaltung bewährt haben wird und die Ziele des Abkommens erreicht wurden. Das Fürstentum Liechtenstein wird viel zu häufig – auch von Mitgliedern dieses Hauses – auf die Tätigkeit der dort ansässigen Banken und die Politik, mit der die liechtensteinische Regierung diese bis vor kurzem unterstützt hat, reduziert. Liechtenstein ist aber auch ein produzierendes und exportierendes Industrieland mit einem modernen Dienstleistungssektor. Mit seinen rund 36 500 Einwohnern würde Liechtenstein in Deutschland zwar nur als Kleinstadt gelten, es beherbergt aber mit Unternehmen wie Hilti, Thyssen-Krupp Presta, Hilcona oder der Ospelt-Gruppe zahlreiche auf dem Weltmarkt aktive und teilweise sogar führende produzierende Firmen. Mit 41 Prozent der Beschäftigten spielt das produzierende Gewerbe sogar eine deutlich wichtigere Rolle als bei uns in Deutschland, wo Sie nur 24 Prozent der arbeitenden Bevölkerung in Werken und Fabriken antreffen. Während mit rund 58 Prozent der Arbeitsplätze der Dienstleistungssektor den größten Jobmotor in Liechtenstein darstellt, sind davon entgegen der landläufigen Meinung nur 17 Prozent Stellen in der Finanzwirtschaft zu finden. Die Wirtschaft ist stark auf den Außenhandel konzentriert, und Deutschland bildet dabei den mit Abstand wichtigsten Abnehmermarkt. Ungefähr die Hälfte der rund 33 000 in Liechtenstein arbeitenden Personen pendelt jeden Tag in das Fürstentum. Ein Zehntel dieser Pendler kommt dabei aus Deutschland. Ganz besonders für diese Personen ist eine klare Regelung und Koordination der Besteuerung in beiden Ländern besonders wichtig. Die Wirtschaftsstruktur und ein Paradigmenwechsel der liechtensteinischen Regierung bezüglich der Versteuerung ausländischen Kapitals, welches in Liechtenstein angelegt wird, waren die Basis, auf der unsere Verhandlungen gefußt haben. Die neue Weißgeldstrategie Liechtensteins ermöglicht ein Abkommen, welches im Wesentlichen dem OECD-Musterabkommen entspricht. Nennenswerte Modifikationen entstammen ursprünglich den Abkommen mit Österreich und der Schweiz. Hierbei handelt es sich um die Gewinnabgrenzung für Betriebsstätten und den Verzicht einer Quellenbesteuerung für zwischengesellschaftliche Dividendenzahlungen, wenn die Beteiligung über 10 Prozent liegt und bereits mindestens ein Jahr andauert, so wie es schon mit der Schweiz geregelt ist. Zudem wurde nach Vorbild des Abkommens mit Österreich ein Quellenbesteuerungsrecht für die Erträge aus der Vermarktung von Persönlichkeitsrechten durch Künstler und Sportler festge schrieben, damit das Geld auch dort versteuert wird, wo es erwirtschaftet wurde. Ich bitte Sie, die gute Zusammenarbeit mit Liechtensteins Regierung zu würdigen und diesem Abkommen zuzustimmen. Wir behandeln heute das Doppelbesteuerungsabkom men, das die Bundesregierung mit dem Fürstentum Liechtenstein ausgehandelt hat. Viele verbinden mit dem Namen Liechtenstein eine der Steueroasen in Europa. Dies leider nicht zu Unrecht. Sie erinnern sich an den damaligen Postchef Klaus Zumwinkel und die Vorfälle im Jahr 2008? Richtig: In Liechtenstein lag das Geld – gut versteckt. Liechtenstein steht aber für mehr als ein Geschäftsmodell der Steuerhinterziehung. Liechtenstein ist ein kleines schönes Land mitten in Europa, verfügt über eine Industrie, die ihre Produkte weltweit exportiert, und hat viele kluge Menschen hervorgebracht. Mein Eindruck nach zahlreichen Gesprächen in und außerhalb von Liechtenstein mit den politisch Verantwortlichen war, dass man erkannt hat, dass das „Geschäftsmodell Steuerhinterziehung“ das Land in die Sackgasse geführt hat und man daher auch im Interesse der heimischen Industrie neue Wege gehen will, um sich nicht in Europa zu isolieren. Bei dem jetzt vorliegenden Abkommen geht es zwar nur um die Verhinderung der Doppelbesteuerung, nicht um die Nachbesteuerung von bisher unversteuerten Kapitalanlagen deutscher Steuerpflichtiger in Liechtenstein, auch nicht um die Einführung eines Verfahrens für eine Besteuerung von Kapitaleinkünften. Daher ist das vorliegende Abkommen nicht mit dem Schweizer Steuerabkommen zu vergleichen. Doch ein Abkommen über die Vermeidung der Doppelbesteuerung mit einer früheren Steueroase ist nicht unproblematisch, denn es kann den ruinösen Steuerwettbewerb zwischen den Staaten weiter anheizen. Das ist dann der Fall, wenn die Steueroase von einer direkten Steueroasenpolitik zu einer Niedrigsteuerpolitik wechselt. Das trifft auf Liechtenstein zu. Zwar hat Liechtenstein versprochen, zukünftig eine sogenannte Weißgeldstrategie zu verfolgen, also versprochen, dass seine Banken nur noch Geld von den Kunden annehmen dürfen, die zuvor schriftlich erklären, ihre Vermögenswerte korrekt versteuert zu haben. Sosehr ich die Botschaft gerne höre, die mir von den politisch Verantwortlichen aus Liechtenstein übermittelt wird, es fehlt mir doch der Glaube. Es ist die fehlende Bereitschaft zum automatischen Informationsaustausch, die ich vermisse. Für mich ist das nach der Vorgeschichte jedoch ein wesentlicher Baustein für eine Aufarbeitung und einen Neuanfang. Steuerhinterziehung ist kein Kavaliersdelikt. Sie erlaubt einem Teil der Bevölkerung, sich aus der Finanzierung der Gesellschaft zu verabschieden, und das auch noch zu einem Zeitpunkt, wo die braven Steuerbürgerinnen und -bürger für die Spekulationsverluste der Zocker einstehen müssen. Daher lehnen wir als Linke gegenwärtig das Abkommen ab. Zu Protokoll gegebene Reden Richard Pitterle Alternativen zu diesem Abkommen liegen auf der Hand – Deutschland könnte erstens gemeinsam mit seinen europäischen Partnern auf die schnelle Verabschiedung und Umsetzung der erweiterten EU-Zinsrichtlinie hinwirken; zweitens gemeinsam mit den USA ein FATCA-ähnliches Gesetzespaket verabschieden sowie drittens ähnlich wie Großbritannien eine Offenlegungseinrichtung mit Liechtenstein aushandeln, um sicherzugehen, dass künftig alle Konten und Wirtschaftsstrukturen deutscher Steuerpflichtiger in Liechtenstein dem deutschen Fiskus gemeldet werden. Wenn Sie das heute vorliegende Abkommen mit Ihrer Koalitionsmehrheit beschließen, müssen unseres Erachtens weitere Schritte folgen: nämlich – wie bereits erwähnt – die Nachbesteuerung von bisher unversteuerten Kapitalanlagen deutscher Steuerhinterzieher in Liechtenstein sowie die Einführung eines Verfahrens für eine Besteuerung von Kapitaleinkünften. Dass sich das lohnt, haben wir bei den USA gesehen: Über 98 Prozent der US-Konten in Liechtenstein waren nicht deklariert und damit Schwarzgeld. Wir beraten heute abschließend über das Doppel besteuerungsabkommen zwischen Liechtenstein und Deutschland. Letzte Woche hat sich der Finanzausschuss auf Anregung unserer Fraktion auch im Rahmen eines Fachgesprächs intensiv mit dem Abkommen befasst. Es ist das erste Mal, dass Deutschland mit Liechtenstein ein Doppelbesteuerungsabkommen abschließt. Wichtigstes Kriterium für die Beurteilung dieses Abkommens ist für uns das Thema Transparenz. Wir begrüßen, dass sich Liechtenstein im Jahr 2009 zu einer Transparenzinitiative entschlossen hat. Wir erkennen die Bemühungen Liechtensteins an, sich von einer Steueroase mit 20 000 Briefkastenfirmen zu einem seriösen Steuerstandort zu entwickeln. Für uns ist jedoch entscheidend, dass ein solcher Paradigmenwechsel mit vertrauensbildenden Maßnahmen vonseiten Liechtensteins begleitet wird. Wir halten es für essenziell, dass sich Liechtenstein offen zu den Transparenzzielen der EU in Form eines automatischen Informationsaustausches bekennt. Dies ist leider im Abkommen ausgeblieben – es sieht lediglich die Möglichkeit dazu vor, ohne jedoch zu verpflichten. Auch im Fachgespräch ist ein Bekenntnis des Fürstentums zum automatischen Informationsaustausch ausgeblieben. Im Gegenteil: Weitergehender Transparenz, wie sie Liechtenstein mit den USA vereinbart hat, erteilte Liechtenstein im Fachgespräch eine Absage. Daher werden wir Grüne diesem Doppelbesteuerungsabkommen nicht zustimmen. Auch andere Elemente des Gesetzes sehen wir kritisch: Liechtenstein ist im EU-Vergleich ein absolutes Niedrigsteuerland. Daher lehnen wir die Freistellungsmethode im Abkommen ab und plädieren hier für die Anrechnungsmethode. Wir begrüßen jedoch das Bestreben des Bundesfinanzministeriums, zur Sicherung des deutschen Steuersubstrates eine Realwirtschaftsklausel im Doppelbesteuerungsabkommen festzuschreiben. Diese soll verhindern, dass Unternehmen, die nur eine funktionsoder substanzschwache Präsenz im Land haben, das Abkommen mit seinen Quellensteuerermäßigungen nutzen können. Hier muss sich jedoch noch zeigen, wie wirksam mit diesem Instrument Missbrauch verhindert werden kann. Schließlich ist der Zeitpunkt das Abkommens fragwürdig. Das Abkommen enthält keine Lösung für die unversteuerten Altvermögen deutscher Staatsbürger in Liechtenstein, und auch in einem parallelen Prozess dazu ist noch kein Ansatz gefunden worden. Dies sollte jedoch zumindest zeitgleich mit einem Doppelbesteuerungsabkommen passieren, wie dies auch zwischen Liechtenstein und Großbritannien mit der sogenannten Disclosure Facility der Fall ist. Wir werden den Weg Liechtensteins weg vom Status einer Steueroase weiter kritisch und konstruktiv begleiten. Wir hoffen, dass das Fürstentum in Zukunft deutliche Signale in Richtung Transparenz senden wird, die unser Vertrauen in den Prozess stärkt. Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11104, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/10753 anzunehmen. Zweite Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Linken und Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 36: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss)





(A) (C)


(D)(B)

Holger Krestel (FDP):
Rede ID: ID1720137900
Richard Pitterle (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720138000




(A) (C)


(D)(B)

Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720138100
Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720138200

– zu dem Antrag der Abgeordneten Edelgard

(Esslingen)

der SPD

Myanmar auf dem Weg zur Demokratie be-
gleiten und unterstützen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Frithjof
Schmidt, Ute Koczy, Dr. Thomas Gambke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Myanmar – Den demokratischen Wandel
unterstützen

– Drucksachen 17/9727, 17/9739, 17/10903 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Klimke
Edelgard Bulmahn
Patrick Kurth (Kyffhäuser)
Stefan Liebich
Dr. Frithjof Schmidt

Wie ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll
genommen.






(A) (C)



(D)(B)



Jürgen Klimke (CDU):
Rede ID: ID1720138300

Der Deutsche Bundestag diskutiert in diesem Jahr

bereits zum vierten Mal über die vielen positiven Ent-
wicklungsschritte des südostasiatischen Landes. Dies
zeigt, dass wir derzeit in Echtzeit miterleben, wie sich
ein Land mithilfe von ehemaligen Diktatoren zu einer
Demokratie wandelt.

Allen Unkenrufen zum Trotz geht es Monat für Monat
weiter voran, und selbst in den zwei Monaten nach der
letzten Debatte im Bundestag haben wir wieder beacht-
liche Schritte im Rahmen der Verbesserung von Men-
schenrechten bei Wirtschaftsreformen und in der außen-
politischen Orientierung erlebt.

Beachtlich, denn diese Entwicklungen strafen gerade
die Kritiker hier aus dem Bundestag Lügen, die immer
noch anhaltend misstrauisch sind. Natürlich sind es die
Grünen.

Sie sind misstrauisch, weil eben nicht oberlehrerhafte
westliche Sanktionen zur Demokratie geführt haben.
Diese ewig misstrauischen Grünen müssen endlich ler-
nen, dass die von ihnen über Jahrzehnte geforderten
Sanktionen in Myanmar nachweislich nichts gebracht
haben. Vertrauen Sie endlich auf die heilende Kraft der
Freiheit und nicht auf ihren kleinkarierten Demokratie-
dirigismus als Grundpfeiler Ihrer Außenpolitik.

Die Regierungsfraktionen jedenfalls unterstützen
weiter die höchst erfreulichen Entwicklungen in Myan-
mar und halten sich nicht mit dauernden ermüdenden
Ermahnungen auf.

Besonders erfreulich ist derzeit für mich, wie aktiv die
deutschen Stiftungen den politischen Frühling nutzen,
um wieder in Myanmar umfangreich aktiv zu sein. Die
Böll-Stiftung im Bereich der Kultur, die Adenauer-Stif-
tung im Rahmen des Demokratieaufbaus, natürlich aus
guter Tradition die Ebert-Stiftung in allen politischen
Bereichen und neuerdings auch stark die Freiheitsstif-
tung, die einen wichtigen politischen Besuch vonseiten
Myanmars in letzter Zeit organisiert hat.

Auf Einladung der Friedrich-Naumann-Stiftung hat
eine Delegation des Industrieministeriums sowie der
Handelskammer von Myanmar Deutschland besucht.
Die Reise fand im Rahmen einer Kooperation der Stif-
tung mit dem Industrieministerium statt, durch die kleine
und mittlere Unternehmen – KMU – in Myanmar geför-
dert werden. Ein wichtiger Beitrag, um die gemeinsa-
men Wirtschaftsbeziehungen wieder neu zu starten.

Die Delegation wollte sich in Hamburg und Berlin
ein Bild von Deutschlands Mittelstandsförderung ma-
chen. Wichtig, denn aufgrund der politischen und wirt-
schaftlichen Reformen in Myanmar stehen die Menschen
an einem Neuanfang mit großen Herausforderungen.
Kleine und mittlere Unternehmen müssen dort zukünftig
wichtige Rollen einnehmen. Sie müssen zum Auf-
schwung beitragen und ihn stabilisieren. Welches Land,
wenn nicht Deutschland, kann in diesem Bereich weiter-
helfen?

Ganz besonders freut mich, dass auch im Bereich des
für Myanmar wichtigen Finanzsektors die schwierigen

Reformen angegangen werden. So hat Myanmar jüngst
eine staatliche Bank in eine KMU-Bank umgewandelt,
die bald Kredite an Kleinunternehmer vergeben soll.
Daran beteiligt ist auch der Dachverband der Handels-
kammern in Myanmar – UMFCCI –, dessen General-
sekretärin Khine Khine Nwe als Mitglied der eben be-
nannten Delegation nach Deutschland reiste. Die
Delegation traf zudem in einer erweiterten Sitzung mit
dem Regionalarbeitskreis Asien der Handelskammer
Hamburg und dem Ostasiatischen Verein.

Ich bin fest davon überzeugt, dass die Regierung und
das Parlament in Myanmar mittelfristig weiter voran-
kommen. Hierzu hat die Unionsfraktion Ideen, die wir
gemeinsam mit unseren Gesprächspartnern in Myanmar
vorantreiben wollen. Vorantreiben, ohne erhobenen Zei-
gefinger.

Wir arbeiten dafür, dass die Parteien in Myanmar vor
den Wahlen von 2015 Änderungen an der Verfassung
von 2008 vornehmen, durch die das Militär seine Rolle
in der Politik verliert, insbesondere seine Sitze in beiden
Kammern des Parlaments.

Wir begrüßen weitere gegenseitige Annäherungen
zwischen Präsident U Thein Sein und Daw Aung San
Suu Kyi sowie den Dialog zwischen der Regierung und
der Opposition.

Wir freuen uns über die internationalen Bemühungen
auf hoher Ebene, die darauf abzielen, Impulse für den
demokratischen Wandel in Birma/Myanmar zu geben.

Es ist zu begrüßen, dass die Freilassung einer be-
trächtlichen Anzahl politischer Gefangener und die
stark verbesserte Medien- und Internetfreiheit immer
weiter vorankommen. Besonders erfreulich sind auch
die neuen Rechtsvorschriften zur Versammlungsfreiheit
und die Berichten zufolge erkennbaren Fortschritte bei
der Abschaffung der Zwangsarbeit durch gesetzliche
Vorschriften. Hier wollen wir gemeinsam weiterarbei-
ten.

Trotzdem fordern wir die Regierung Birmas/Myan-
mars auf, alle verbleibenden politischen Gefangenen
unverzüglich und bedingungslos freizulassen und dem
IKRK und internationalen Menschenrechtsgremien
freien Zugang zu Gefängnissen in Birma/Myanmar zu
gewähren.

Es ist zudem wichtig, dass das Gesetz über die Staats-
bürgerschaft von 1982 geändert wird, damit das Recht
auf Staatsbürgerschaft der ethnischen Minderheit der
Rohingya gebührend anerkannt wird.

Wichtig sind auch Reformen im Rechtswesen, um ein
wirklich unabhängiges und unparteiisches Justizsystem
sicherzustellen und ein Verfahren einzurichten, mit dem
in Bezug auf in der Vergangenheit begangene Men-
schenrechtsverletzungen Gerechtigkeit hergestellt und
Rechenschaftspflicht eingefordert wird.

Final würden wir uns für die nächsten Monate einen
genauen Reformzeitplan der Regierung in Myanmar
wünschen. Ich denke, dies ist ein wichtiger Aspekt, den
die deutsche Entwicklungszusammenarbeit fördern

Zu Protokoll gegebene Reden





Jürgen Klimke


(A) (C)



(D)(B)


sollte, da nur so der demokratische und wirtschaftliche
Aufschwung verstetigt werden kann.

Trotz der noch vielen Reformschritte bin ich weiterhin
sehr positiv gestimmt und der festen Überzeugung, dass
das Land in den nächsten Jahren zu einem Vorbild wer-
den kann.


Dr. Wolfgang Götzer (CSU):
Rede ID: ID1720138400

Die CSU unterstützt den Kurs der Bundesregierung,

durch eine „Politik der ausgestreckten Hand“ die politi-
sche Führung Myanmars zu weiteren Reformen zu ermu-
tigen. Außenpolitische Zurückhaltung, wie von der
Opposition gefordert, wäre der falsche Weg.

Nach über 20 Jahren Militärregierung verfolgt die
Regierung in Myanmar unter Präsident Thein Sein einen
Reformkurs, der in den letzten Monaten dem Land viele
lang ersehnte Fortschritte gebracht hat.

Dass die Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu
Kyi im Rahmen der Nachwahlen im April dieses Jahres
in das Parlament einziehen konnte, ist ein großer Sieg
für die Demokratiebewegung in Myanmar, den noch vor
einem Jahr keiner vorauszusagen gewagt hätte. Nach
über 15 Jahren unter Hausarrest ist Frau Suu Kyi nun
endlich in der Lage, als Abgeordnete aktiv die Politik
ihres Landes mitzugestalten. Mit der Wiederzulassung
ihrer Partei, der National League for Democracy, NLD,
der wichtigsten nationalen Oppositionskraft, ist der
Grundstein für einen fairen Wettbewerb um Meinungs-
bildung und Wählerstimmen gelegt.

Zu den weiteren Reformen gehören beispielsweise die
Freilassung vieler politischer Gefangener sowie die
Abschaffung der Zensur, ebenfalls Meilensteine auf dem
Weg zu einer Demokratisierung.

Myanmar hat sich auf den Weg in Richtung Demokra-
tie gemacht. Diesen gilt es nun zu unterstützen und zu
verstetigen. Hierzu erachten wir den Ansatz der EU, als
Zeichen der Anerkennung der bereits erzielten Fort-
schritte sowie als Anreiz für weitere Reformen die Sank-
tionen mit Ausnahme des Waffenembargos auszusetzen,
als richtigen und wichtigen Schritt.

War die Wirkung der EU-Sanktionen bereits unter
dem Militärregime umstritten, wäre deren Beibehaltung
zu diesem Zeitpunkt nicht nur das falsche politische,
sondern auch das falsche wirtschaftliche Signal.

Denn vor dem Hintergrund des in Myanmar in den
letzten Monaten Erreichten geht es jetzt darum, diese
Fortschritte zu sichern. Dazu gehört auch, wie Bundes-
minister Westerwelle anlässlich seines Besuchs in
Myanmar im April sagte, eine Friedensdividende für die
größtenteils arme Bevölkerung. Nach den Entbehrungen
der Militärdiktatur ist es jetzt wichtig, eine Zivilgesell-
schaft in Myanmar aufzubauen, die am politischen und
wirtschaftlichen Leben teilhaben kann. Diese Entwick-
lung kann nach dem Aussetzen der EU-Sanktionen leich-
ter in Gang kommen und auch seitens der Bundesregie-
rung besser gefördert werden.

Dementsprechend begrüßen wir auch die Entschei-
dung der Bundesregierung, unmittelbar nach der

Aussetzung der EU-Sanktionen die Entwicklungshilfe
für Myanmar wieder aufzunehmen und 2012 insgesamt
über 16 Millionen Euro für den Demokratisierungs-
prozess in Myanmar bereitzustellen.

Aung San Suu Kyi begrüßte dieses schrittweise Vor-
gehen der EU und der Bundesrepublik in ihrem Treffen
mit Bundesminister Westerwelle im April dieses Jahres
ebenfalls. Es gelte, die Reformen durch internationale
Hilfe abzusichern, aber gleichzeitig den Reformprozess
auch weiter voranzutreiben.

Insofern kritisierte sie in ihrer Antrittsrede im Parla-
ment die neue Verfassung dahin gehend, dass sie immer
noch etliche Vorrechte für Militärs festschreibe. So
müsse beispielsweise ein Viertel der Sitze an Angehörige
des Militärs gehen.

Natürlich wird Myanmar nach über 20 Jahren Mili-
tärherrschaft nicht von heute auf morgen zu einem
demokratischen Musterstaat. Aber die demokratischen
Errungenschaften der letzten Monate zeigen, dass in
diesem Land vieles in Bewegung geraten ist, was unsere
Anerkennung und unsere Unterstützung verdient.

Nach der Aussetzung der Sanktionen und der Auf-
nahme von Entwicklungshilfe herrscht nun auch ein
politisches Klima, das einen Dialog mit den politischen
Akteuren in Myanmar erleichtert. Im Rahmen dieses
Dialogs werden wir die Umsetzung der Reformen ge-
nauestens verfolgen und wenn nötig weitere Fortschritte
in Richtung Demokratie anmahnen.

Erste Schritte hierzu hat die internationale Staaten-
gemeinschaft bereits im April dieses Jahres mit Besu-
chen des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, der
EU-Außenbeauftragten sowie der Bundesminister
Niebel und Westerwelle getan. Außerdem eröffnete die
EU ein Delegationsbüro in Rangun. Die Wege der
Diplomatie stehen somit nach Jahrzehnten der Isolation
offen.

Lassen Sie mich abschließend die Hoffnung ausdrü-
cken, dass Myanmar diese auch weiterhin beschreiten
und sich der Demokratisierungsprozess in den kommen-
den Monaten stabilisieren wird.


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1720138500

Myanmar hat in den vergangenen eineinhalb Jahren

unter Präsident Thein Sein beachtliche Reformschritte
eingeleitet. Nach 50 Jahren Militärdiktatur und weitge-
hender internationaler Isolation ist Myanmar dabei, in
die internationale Völkergemeinschaft zurückzukehren.

Ein großer Teil der politischen Gefangenen wurde
freigelassen, die politische Betätigung von Parteien wie
der Nationalen Liga für Demokratie wieder erlaubt. Wir
haben die ersten weitgehend freien Wahlen erlebt. Die
Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi darf wie-
der öffentlich auftreten, wurde ins Parlament gewählt
und führt die Opposition an. Mit den ethnischen Minder-
heiten wurden Verhandlungen zur Überwindung von
Diskriminierung und über die Beilegung der bewaffne-
ten Auseinandersetzungen eingeleitet. Die Beschrän-
kungen der Pressefreiheit und der freien Meinungsäuße-

Zu Protokoll gegebene Reden





Edelgard Bulmahn


(A) (C)



(D)(B)


rung wurden gelockert. Die politische Liberalisierung
wurde durch Reformen des Wirtschaftssektors ergänzt.
Private wirtschaftliche Betätigung wurde wieder er-
laubt, die Privatisierung der staatlichen Betriebe einge-
leitet, ausländische Investitionen wieder zugelassen.
Das Land hat sich gegenüber ausländischen Touristen
und Hilfsorganisationen wieder geöffnet.

Zweifellos: Dies alles waren wichtige Reformschritte,
Schritte und Maßnahmen, die viele von uns vor wenigen
Monaten kaum für möglich gehalten hätten. Doch noch
immer sind Menschenrechtsverstöße wie Zwangsarbeit,
Zwangsumsiedlung, Folter, Vergewaltigungen oder die
Rekrutierung von Kindersoldaten zu verzeichnen. Noch
immer sitzen Hunderte politische Gefangene hinter Git-
tern. Noch immer beherrschen ethnische Konflikte
ganze Regionen, und sie werden auf blutige Art und
Weise ausgetragen. Noch immer verschlingt der Militär-
apparat den größten Teil des Staatshaushaltes. Noch im-
mer verfügen die Militärs über eine Sperrminorität im
Parlament. Noch immer ist Korruption an der Tagesord-
nung. Noch immer nimmt die kriminelle Schattenwirt-
schaft mit Drogen- und Waffenhandel und dem illegalen
Export von Edelsteinen oder exotischen Tieren einen
großen Raum ein. Und keine Frage: Es gibt im Land,
insbesondere im Militärapparat, einflussreiche Gegner
des neuen Kurses, die nicht bereit sind, auf ihre politi-
schen wie wirtschaftlichen Privilegien zu verzichten.

Wir, die EU und Deutschland, sollten deshalb alles
daransetzen, dem eingeleiteten Reformprozess zum
Durchbruch zu verhelfen. Es gilt einerseits, die Einhal-
tung der Menschenrechte einzufordern, andererseits
aber auch, das Land nicht wieder in die Isolation zu trei-
ben. Wir sollten deshalb die politischen Kontakte und
Beziehungen mit Myanmar auf Regierungs- und Parla-
mentsebene weiter ausbauen und verstärken. Wir sollten
unseren Beitrag für den Aufbau und die Entwicklung ei-
ner funktionierenden Zivilgesellschaft leisten. Myanmar
braucht Hilfe und Unterstützung bei dem Aufbau einer
leistungsfähigen Zivilverwaltung. Es hat keine Erfah-
rungen mit der Etablierung und Durchsetzung rechts-
staatlicher Gesetzgebung und Verfahren. Es braucht Ex-
pertinnen und Experten, die das Land beraten und die
nötigen Fachkräfte ausbilden und unterstützen.

Der Dreh- und Angelpunkt aller Bemühungen um
eine Demokratisierung des Landes ist die Einleitung ei-
ner nachhaltigen Wirtschaftsentwicklung. Nur wenn sich
die desolate wirtschaftliche Situation der Bevölkerung
wahrnehmbar bessert, wird die Etablierung einer stabi-
len Demokratie gelingen.

Myanmar zählt zu den ärmsten Ländern der Erde.
Noch immer arbeiten mehr als zwei Drittel der Bevölke-
rung in der Landwirtschaft. Weitgehend als Subsistenz-
wirtschaft mit unzureichenden Mitteln betrieben, ist sie
nicht in der Lage, das Land ausreichend mit Nahrungs-
mitteln zu versorgen. Es fehlt an Dünger, leistungsfähi-
gem Saatgut, Maschinen und Know-how. Unter- und
Mangelernährung sind weit verbreitet.

Entwicklungshemmend sind auch die Besitzverhält-
nisse. Das Land gehört dem Staat, nicht den den Boden
bebauenden Bauern und Bäuerinnen. Und schließlich ist

ein Großteil der Landbevölkerung bei illegalen Geldver-
leihern hochverschuldet. Wir sollten deshalb das Land
wieder in die staatliche Entwicklungszusammenarbeit
einbeziehen und zu einer nachhaltigen Entwicklung des
ländlichen Raums beitragen.

Diktatur, Isolation und Misswirtschaft haben eine de-
saströse Infrastruktur hinterlassen, die zugleich die bit-
tere Armut des Landes in erschreckender Art und Weise
verdeutlicht. Nur etwa ein Viertel der Bevölkerung hat
Zugang zu Elektrizität, sanitäre Anlagen sind Mangel-
ware, und nur jede fünfte Straße ist für die Nutzung bei
schlechtem Wetter gebaut.

Myanmar braucht dringend Investitionen, Investitio-
nen in die Infrastruktur, in die Landwirtschaft, Investi-
tionen im völlig daniederliegenden verarbeitenden Sek-
tor, aber auch in Bildung und Ausbildung. Mit seinem
Ressourcenreichtum, seinen großen Erdgasvorräten,
Hölzern, seinem Kupfer, seinen Edelsteinen und anderen
Rohstoffen sowie seinen Wasserkraftreserven, verfügt es
über ein enormes wirtschaftliches Potenzial. Die Ein-
nahmen aus diesen Rohstoffvorkommen könnten eine
wertvolle Basis für die wirtschaftliche und soziale Ent-
wicklung des Landes sein.

Tatsächlich sind die beträchtlichen Einnahmen aus
dem Export in den vergangenen Jahrzehnten jedoch in
die Ausrüstung und den Unterhalt der größten Armee
Südostasiens gesteckt worden. Sie trugen zur Entwick-
lung von Prestigeprojekten wie den Aufbau der neuen
Hauptstadt bei oder flossen in die Taschen von Oligar-
chen und der militärischen Führungselite.

Deshalb wird es entscheidend darauf ankommen,
dass die Einnahmen aus den Rohstoffexporten künftig
für den Aufbau des Landes verwandt werden. Es gilt des-
halb, darauf zu drängen, eine möglichst große Transpa-
renz über die Verwendung dieser Einnahmen zu schaf-
fen. Die Bundesregierung sollte sich daher gegenüber
Myanmar nachdrücklich dafür einsetzen, dass das Land
sich an internationalen Transparenzstrukturen, wie zum
Beispiel der Extractive Industries Transparency Initia-
tive, EITI, beteiligt und gleichzeitig Initiativen für eine
nachhaltige Nutzung der Rohstoffeinnahmen für das
Gemeinwohl entwickelt. Die Einrichtung eines Zukunfts-
fonds, wie unter anderem in Ghana praktiziert, ist hier
beispielhaft.

Trotz neuer gesetzlicher Regelungen wie dem Verbot
der Zwangsarbeit oder einem neuen Gewerkschaftsge-
setz gibt es in Myanmar noch immer eine Vielzahl von
Arbeitnehmerrechtsverletzungen. EU und Bundesregie-
rung sollten deshalb auf die weitere Verbesserung der
Rahmenbedingungen für die Arbeit der Gewerkschaften
drängen und Myanmar zur Umsetzung der ILO-Konven-
tion, zur Durchsetzung des Verbots der Zwangsarbeit
und zur Ratifizierung der ILO-Kernarbeitsnormen an-
halten und das Land hierbei tatkräftig unterstützen.
Hierzu zählt auch eine finanzielle Unterstützung des
Ausbaus des Büros der ILO in Myanmar.

Noch investieren deutsche und europäische Unter-
nehmen sehr verhalten in Myanmar. Hier gilt es, mehr
Rechtssicherheit für die Investitionen zu schaffen. Inves-

Zu Protokoll gegebene Reden





Edelgard Bulmahn


(A) (C)



(D)(B)


toren, die sich langfristig engagieren wollen, müssen
sicher sein, dass diese nicht nur befristet zulässig sind
und dass die erzeugten Produkte auch exportiert respek-
tive importiert werden dürfen. Mit anderen Worten: Die
derzeitige Aussetzung von Sanktionen für ein Jahr hilft
hier nicht weiter. Wir werden uns entscheiden müssen,
ob wir eine Doppelstrategie von Unterstützung und Ein-
forderung von Reformen wählen oder ob wir die Durch-
setzung eines Mindestmaßes zur Vorbedingung für die
vollständige Aufhebung der Sanktionen machen wollen.

Bei alledem sollten wir nicht außer Acht lassen, dass
die Zukunft des Staates Myanmar keinesfalls gesichert
ist. Bisher ist es nicht gelungen, die ethnischen Konflikte
dauerhaft beizulegen. Die Aktionen der Militärs, die
Unterdrückung von Minderheitenrechten, Zwangsum-
siedlungen und militärische Gewalt, haben erheblich
zum offenen Ausbruch der Konflikte beigetragen. In Tei-
len Myanmars sind es inzwischen bewaffnete Verbände
regionaler Machthaber, die die Macht ausüben und
nicht die Zentralregierung.

Auch in diesem Zusammenhang sollten wir unsere
Unterstützung anbieten und unsere Erfahrungen mit
ziviler Konfliktbearbeitung und Mediation einbringen.
Eine Instabilisierung Myanmars oder gar seine Ent-
staatlichung hätte schließlich aufgrund seiner strategi-
schen Lage gravierende Auswirkungen auf den gesam-
ten südostasiatischen Raum.

Für die weitere Gestaltung unserer Politik gegenüber
Myanmar liegen dem Plenum mittlerweile neben dem
von meiner Fraktion eingebrachten Antrag zwei weitere
Anträge vor. Bei genauerer Betrachtung gibt es meines
Erachtens einen hohen Grad an Gemeinsamkeit. Es
würde die Position der deutschen Politik gegenüber
Myanmar und unser Eintreten für Demokratie und Men-
schenrechte sicherlich stärken, wenn es uns gelänge, in
den weiteren Beratungen ein gemeinsam getragenes
Votum zu erreichen. Ich bin jedenfalls zuversichtlich,
dass wir dies erreichen können.


Patrick Kurth (FDP):
Rede ID: ID1720138600

Der Transformationsprozess in Myanmar von einer

jahrzehntelang andauernden Militärdiktatur hin zu ei-
ner Demokratie ist ein ganz besonderer. Wir beobachten
eine atemberaubende historische Entwicklung. Das
Bemerkenswerte daran: Es handelt sich um ein rares
Beispiel dafür, dass sich eine Diktatur aus sich heraus
wandelt. Auch wir Deutsche in unserer langen Diktatur-
geschichte haben dies in dieser Form nie geschafft.
Myanmars Machthaber selbst haben Reformen auf den
Weg gebracht. Diese Entwicklung sollte alle ermutigen,
den Wandel zu unterstützen.

Noch vor nicht allzu langer Zeit war Myanmar be-
kannt für massive Menschenrechtsverletzungen, für die
Unterdrückung und Verhaftung Oppositioneller, für die
gewalttätige Einschränkung der Meinungs- und Ver-
sammlungsfreiheit sowie für ein restriktives Wahlgesetz.
Ethnische Minderheiten wurden unterdrückt, Medien
zensiert. Die Militärjunta hielt die Zügel fest in der
Hand. Internationale Proteste blieben weitgehend ohne
Erfolg.

Umso erstaunlicher und bemerkenswerter ist es, dass
sich der am 4. Februar 2011 ernannte Regierungschef
Thein Sein, der selbst lange Zeit führendes Mitglied der
Militärdiktatur war, so stetig um diesen Reformprozess
bemüht. Auch Parlamentspräsident Shwe Mann ist eine
der zentralen Triebfiguren der Transformation.

Die Regierung hat bereits wichtige demokratische
Reformen in die Wege geleitet: Die oppositionelle Natio-
nale Liga für Demokratie, NDL, wurde im Januar 2012
wieder als Partei zugelassen und hat erstmals seit 1990
wieder an den Parlamentswahlen im April 2012 teilge-
nommen. Entgegen den Behauptungen im Antrag der
Grünen waren dies im Grundsatz weitgehend freie und
faire Wahlen. Diese erste Bewährungsprobe ist aus un-
serer Sicht bestanden worden. Außerdem wurde der Aus-
söhnungsprozess mit den ethnischen Minderheiten in
Myanmar angestoßen und wird nach wie vor mit großen
Bemühungen verfolgt. Lösungsansätze zur Bewältigung
von bislang als tabu geltenden Themen wie Armut und
Korruption werden entwickelt und umgesetzt. Außerdem
wurden politische Gefangene freigelassen. Die Bundes-
regierung hat den Machthabern in Myanmar bereits
früh ihre Unterstützung für diese Reformschritte signali-
siert: Bundesminister Niebel reiste sehr frühzeitig nach
Myanmar. Außenminister Westerwelle besuchte das
Land als erster Außenminister der Bundesrepublik seit
25 Jahren.

Als Zeichen unserer Wertschätzung von Myanmars
Entwicklung wurden auch die meisten EU-Sanktionen
ausgesetzt. Dies war die richtige Antwort auf die Demo-
kratisierungsbemühungen. Andererseits ist es richtig,
dass einige Sanktionen fortbestehen – gerade im militä-
rischen Bereich. Sanktionen stellen ein wichtiges Instru-
ment für den weiteren Wandel dar, da ansonsten der
Druck genommen wird, der für weitere Reformen uner-
lässlich ist. Statt voreilig in Freunde auszubrechen, müs-
sen wir Myanmar konstruktiv und kritisch auf seinem
Weg begleiten und nachhaltig unterstützen.

Denn: Bei aller Freude über die bisherigen Entwick-
lungen ist es wichtig, dass wir dem Reformprozess auch
weiterhin mit einer gesunden Skepsis begegnen. Die
Transformation Myanmars ist nicht unumkehrbar. Nach
wie vor gibt es Gegner des Reformprozesses, auch inner-
halb der Regierung. Auch das Militär bleibt ein Unsi-
cherheitsfaktor und könnte versuchen, wieder den alten
Weg zu gehen. Außerdem waren bestimmte Reform-
schritte in den vergangenen Monaten halbherzig. Ein
Beispiel: Zwar wurde die Pressezensur aufgehoben und
so die Presse- und Meinungsfreiheit weiter gestärkt.
Dennoch bleibt die Zensurbehörde an sich weiter beste-
hen; regierungskritische Veröffentlichungen sind weiter-
hin mit Strafe bedroht. Der Regierung in Naypyidaw
muss klar sein, dass wir nachhaltige Rückschritte nicht
akzeptieren werden.

Entscheidend für den Erfolg des Transformationspro-
zesses in Myanmar ist, dass auch das Volk einen direkten
Nutzen aus der Öffnung des Landes ziehen kann. Die
Reformen bergen die Chance für neuen wirtschaftlichen
Erfolg und damit eine Verbesserung der Lebensbedin-
gungen der Menschen. Die Voraussetzungen dafür sind

Zu Protokoll gegebene Reden





Patrick Kurth (Kyffhäuser)



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gut: Myanmar besitzt reichlich natürliche Ressourcen,
vor allem Erdgas, Hartholz und Fischereiprodukte.
Diese wurden in Zeiten der Militärdiktatur jedoch nicht
für den eigenen Industrieaufbau genutzt. Myanmar muss
seine Wirtschaft daher heute von Grund auf neu auf-
bauen: Dies gilt für die industrielle Produktion, das pro-
duzierende Gewerbe, den Mittelstand, aber auch den
kleinen Einzelhandel. Dazu gehören auch die Stärkung
der Selbstorganisation der Wirtschaft, die Aufspaltung
von Monopolen sowie eine funktionierende Wett-
bewerbskontrolle. Ohne diese Maßnahmen kann der
wirtschaftliche Aufholprozess Myanmars nicht gelingen.
Auch in dieser Hinsicht müssen wir Myanmar unterstüt-
zen und die gemeinsamen Handelsbeziehungen stärken.
Geradezu haarsträubend ist vor diesem Hintergrund die
Formulierung im Grünen-Antrag, die Handelsbarrieren
hätten zunächst nur graduell abgebaut werden sollen.
Ein „neoliberaler Duktus“ solle bei der Öffnung des
Landes verhindert werden. Wer die wirtschaftliche Ent-
wicklung Myanmars wie die Grünen in ihrem Antrag
vernachlässigt, erweist den Reformbemühungen einen
Bärendienst.

Gefahren für den ökonomischen Aufstieg Myanmars
gibt es indes nicht nur im Inneren, sondern gerade auch
von außen. Myanmar darf nicht als Billiglohnland oder
schlichter Rohstofflieferant gesehen werden. Wir wehren
uns entschieden dagegen, dass eine so junge Demokra-
tie, die Myanmar jetzt wahrscheinlich wird, eine Gold-
gräberstimmung bei anderen Staaten auslöst, die aus
diesem Land in erster Linie einiges herausholen wollen.
Die Öffnung Myanmars darf keine Postkolonialisierung
nach sich ziehen. Vielmehr muss uns vor allem die wei-
tere politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche
Entwicklung ein zentrales Anliegen bleiben.

Genau dies spiegelt sich im politischen Handeln der
Bundesregierung. Wir unterstützen Myanmar bei seinem
Transformationsprozess nachhaltig. Die wirtschaftliche
Partnerschaft ist tiefgreifend. Auf parlamentarischer
Ebene fördern wir den Informationsaustausch mit den
neuen Abgeordneten im myanmarischen Parlament, die
in einer Demokratie gerade zum ersten Mal selbst mit-
gestalten können.

Besonders wichtig sind unsere Maßnahmen im Rah-
men der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik.
Durch einen Ausbau der Bildungszusammenarbeit hel-
fen wir Myanmar dabei, seine bislang katastrophale
Bildungssituation zu verbessern. Ein wichtiger Schritt
ist auch die geplante Eröffnung eines neuen Goethe-
Instituts, das erste dort seit 1965. Es dient dem Kultur-
austausch zwischen Myanmar und Deutschland und
setzt ein positives Signal, dass die Demokratiebemühun-
gen Myanmars unsere größte Anerkennung finden.
Außerdem wecken wir so das Interesse an Deutsch als
Fremdsprache. Die Sprache ist die Basis für eine
vertrauensvolle Kooperation und ein erfolgreiches
Miteinander.

Bei aller Unterstützung müssen wir aber darauf ach-
ten, Myanmar nicht mit einer überheblichen Erwar-
tungshaltung zu überfordern. Tatsächliche Hilfe ist ge-
fragt und nicht Besserwisserei oder westliche Arroganz.

Diese Haltung liegt aber den vorliegenden Anträgen
zugrunde. Dass die Grünen die Durchsetzung von „Um-
welt-, Sozial- und Menschenrechtsstandards“ genau in
dieser Reihenfolge fordern, spricht Bände. Der Fein-
staub in Rangun gehört sicherlich zu den geringeren
Problemen des Landes. Auch die SPD verfällt in ihrem
Antrag ideologischen Reflexen und fordert die Förde-
rung der „Geschlechtergleichstellung“ in Myanmar.
Unsere primäre Aufgabe muss es sein, die basalen de-
mokratischen Reformen des Landes zu unterstützen und
dem Land wirtschaftlich auf die Beine zu helfen. Der
Versuch, westliche Gleichheitsideologien einzuimpfen,
entspringt hingegen einem überheblichen Sendungsbe-
wusstsein und ist mit uns Liberalen nicht zu machen.

Die Bundesregierung wird weiterhin den Fokus auf
die grundlegenden Reformen legen. Myanmar ist auf
dem richtigen Weg. Die Bundesregierung wird das Land
auf diesem auch weiterhin konstruktiv und tatkräftig un-
terstützen.


Stefan Liebich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720138700

Der Präsident Myanmars, General Thein Sein, hält

erstmals eine Pressekonferenz ab und stellt sich den
Fragen der in- und ausländischen Presse, die Hanns-
Seidel-Stiftung eröffnete gestern ein Büro in Myanmar.
General Thein Sein kann sich Aung San Suu Kyi als
seine Nachfolgerin vorstellen, die südostasiatischen
Franchise-Unternehmen betrachten Myanmar als einen
potenziellen Markt, winken doch Steuerbefreiungen, die
erst kürzlich von drei auf fünf Jahre erhöht wurden. All
das sind Nachrichten der letzen zwei Wochen aus und
über Myanmar.

Nach der vorsichtigen Öffnung der einstigen Militär-
diktatur plant die EU die Aufhebung der Sanktionen ge-
gen Myanmar. Das finden wir richtig. Häufig treffen Im-
port- und Exportverbote für zivile Waren die Bevölkerung
und nicht die Regierenden. Die einfachen Menschen lei-
den unter den wirtschaftlichen Folgen, wie Arbeitslosig-
keit und Armut. Selbst in den Zeiten der internationalen
Sanktionen konnte sich der damalige Diktator leisten,
eine Hochzeit für seine Tochter auszurichten, die meh-
rere Hunderttausend US-Dollar gekostet haben soll. Die
Veröffentlichung des Videos im Netz führte damals – be-
rechtigt – zu Unruhen im Land.

Nun haben die Militärs die Uniform ausgezogen und
einen Reformprozess in Gang gebracht. Die Opposition,
zu den Wahlen 2010 noch nicht zugelassen, gewann die
Nachwahlen zum Parlament des Landes im Frühjahr
dieses Jahres. 43 von 44 Sitzen fielen an die Partei der
Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi, die Na-
tionale Liga für Demokratie. Grund genug für die USA
und jetzt auch für die EU, die Sanktionen, bis auf das
Waffenembargo, aufzuheben.

Die Abkehr Myanmars von der Diktatur und die be-
gonnene Demokratisierung des Landes unterstützt die
Linke selbstredend. Dass auch die EU-Sanktionen auf-
gehoben wurden, trifft ebenfalls auf unser volles Einver-
ständnis. Dass ein Goethe-Institut in der Wirtschaftsme-
tropole Rangun eröffnet werden soll, begrüßen wir

Zu Protokoll gegebene Reden





Stefan Liebich


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ebenso wie den verstärkten Wissenschaftsaustausch zum
Beispiel über neue Stipendien.

Aber ist nun alles auf einem guten Weg? Gerade im
Antrag der SPD wurde der Finger in die Wunde gelegt.
Frau Suu Kyi hat erst im Juni in Genf darauf aufmerk-
sam gemacht, dass die Arbeitsbedingungen in Myanmar
katastrophal sind. Zwangsarbeit ist an der Tagesord-
nung. Freie Gewerkschaften sind ein Fremdwort in ei-
nem Land, das sich gerade auf den Weg zur Demokratie
macht. Der jetzt zur Ablehnung empfohlene Antrag for-
dert dagegen politische Initiativen der Bundesregie-
rung, um den Prozess der demokratischen Transforma-
tion in Myanmar zu unterstützen. Dazu gehört auch aus
unserer Sicht die Unterstützung der Internationalen Ar-
beitsorganisation, ILO, bei ihren Bemühungen, Myan-
mar zu bewegen, die ILO-Konventionen gegen Zwangs-
arbeit und Kinderarbeit zu unterzeichnen und um-
zusetzen. Hilfreich dazu ist sicher eine Unterstützung
der Bundesregierung, ein ILO-Büro in Myanmar einzu-
richten.

Zu den Folgen einer rasch wachsenden Wirtschaft ge-
hört im rohstoffreichen Myanmar aber auch das Um-
weltproblem. Bündnis 90/Die Grünen weisen zu Recht
auf schmutzige Industrien hin, die als erste den Sprung
in das bislang isolierte Land gefunden haben. Neben den
Auswirkungen der wirtschaftlichen Öffnung des Landes
gilt es aber auch, Korruption zu bekämpfen.

Unser Ziel ist es, dass die Menschen im Land endlich
etwas von ihren Bodenschätzen haben und sich nicht in-
ternationale Konzerne oder einige wenige Eliten die Ta-
schen füllen. Zudem muss der nationale Friedensprozess
fortgeführt – die Militärs haben im Vielvölkerstaat auch
einen Krieg gegen nationale und religiöse Minderheiten
geführt – und das in Myanmar immer drängender wer-
dende Problem Aids angegangen werden.

Aus unserer Sicht folgte die schlichte Aufhebung der
Sanktionen keinem Konzept, außer dem Prinzip Hoff-
nung. Das reicht aber nicht. Aung San Suu Kyi sagte
dazu: „Ich glaube nicht an Leute, die nur hoffen. Wir ar-
beiten für das, was wir wollen. Wir sagen immer, dass
man kein Recht hat, ohne Anstrengung zu hoffen, also
versuchen wir, die Situation zu erarbeiten, die notwen-
dig für das Land ist. Und wir sind überzeugt, dass wir
früher oder später an den Verhandlungstisch kommen
werden.“


Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720138800

Ich denke, ich spreche für alle Mitglieder des Deut-

schen Bundestages, wenn ich sage, dass wir uns über die
Öffnung von Myanmar hin zu einem Prozess der Demo-
kratisierung und zur internationalen Gemeinschaft
freuen. Das wird sicher ein langer und schwieriger Pro-
zess sein. Wir werden ihn kritisch begleiten und ihn, so
gut es geht, unterstützen.

Dabei steht Myanmar nach dem bemerkenswerten
Paradigmenwechsel, der mit den Wahlen 2010 begon-
nen hat, vor großen Herausforderungen. Schon der vom
neuen Präsidenten Thein Sein ausgesprochene An-
spruch einer umfassenden Transformation des Landes

zeigt, dass die anstehenden Aufgaben ernst genommen
werden müssen. Wichtig für uns Grüne ist, dass die öko-
nomische Öffnung nicht nur wachstumsgetrieben sein
wird, sondern dass Wohlstand und Lebensqualität der
Bevölkerung vor Ort steigen werden. Der Reformprozess
muss ökologisch und sozial nachhaltig sein und demo-
kratisch erfolgen.

Mit der begonnenen Liberalisierung des Wirtschafts-
sektors und von Teilen der Medien hat die Militärregie-
rung erste positive Maßnahmen zur Öffnung des Landes
eingeleitet. In beiden Bereichen gibt es gleichwohl wei-
ter Handlungsbedarf. Ähnliches gilt für den zentralen
Baustein der Demokratie, die Wahlen. Während 2010
noch Wahlen stattfanden, die von großen Teilen der heu-
tigen Opposition im Land boykottiert wurden, fanden im
April 2102 Wahlen statt, bei denen es zwar immer noch
zu Behinderungen der Opposition gekommen war, die
aber dennoch zu einem Erfolg der größten Oppositions-
partei um Aung San Suu Kyi, der Nationalliga für
Demokratie, NLD, führten. Dabei dürfen Klagen der
NLD über einzelne Schikanen nicht unerwähnt bleiben.
Die Nachwahlen waren aber auch deshalb ein Erfolg,
weil ihnen direkte Gespräche zwischen Thein Sein und
Aung San Suu Kyi vorausgingen.

Politiker aus anderen Staaten, da schließe ich beson-
ders die westlichen Demokratien ein, dürfen aber nicht
den Fehler machen, die Opposition in Myanmar auf
Aung San Suu Kyi und ihre Partei zu beschränken.
Unterstützung verdienen auch die vielen ethnischen
Parteien des Landes, die sich oft nicht angemessen von
der NLD vertreten fühlen. Der Dialog sollte auch mit
diesen Parteien gesucht werden. Nur so lassen sich die
ethnischen Konflikte im Land lösen. Dazu muss bei der
Regierung wie bei der NLD dafür geworben werden, die
ethnischen Konflikte nicht zu ignorieren und einen freien
Staat für alle Volksgruppen zu schaffen. Erste Anstren-
gungen zur Befriedung des Landes, etwa durch Gesprä-
che mit den Minderheiten im Norden des Landes, erken-
nen wir an.

Beim Thema Wirtschaft ist für uns Grüne zentral,
dass wir die Entwicklung Myanmars und das Wohl der
Bevölkerung in den Vordergrund stellen und das Feld
nicht internationalen Unternehmen überlassen, die auf
Kosten von Beschäftigten und Umwelt ihre Produktivität
steigern wollen. Das Land braucht ein Gesetz, das faire
und ausgewogene Investitionen ermöglicht und Fehlent-
wicklungen verhindert. So ist zum Beispiel Land Grab-
bing, also die aggressive Übernahme von Land durch
Oligarchen oder Konzerne, ein sehr ernstes Problem. In
Kambodscha sehen wir, welche negativen Folgen die
Landnahme für die einfache Bevölkerung, oft Bauern,
haben kann. Hier müssen wir Strategien entwickeln und
Hilfestellung geben, die diese Entwicklung in Myanmar
verhindert. Zunächst fordern wir die Regierung von
Myanmar auf, bekannte Fälle von Landnahme zu unter-
suchen und im Sinne ihrer Bevölkerung zu lösen.

Auch die Ausbeutung der Rohstoffe in Myanmar ist
für uns Grüne ein zentrales Thema. Der Rohstoffreich-
tum von Myanmar darf nicht zu einem Fluch für das
Land werden. Besonders hier können die internationale
Staatengemeinschaft und die Bundesrepublik Einfluss

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Thomas Gambke


(A) (C)



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nehmen, um eine positive Entwicklung für Myanmar und
seine Bevölkerung zu ermöglichen. Wir sollten nicht
Staatskonzernen aus Schwellenländern das Feld über-
lassen, die häufig die Ausbeutung von Rohstoffen als
erstes Ziel verfolgen und die keine Rücksicht auf Umwelt
und Bevölkerung nehmen.

Wir können Myanmar dadurch unterstützen, dass wir
weitere Wertschöpfungsstufen im Land ermöglichen und
aufbauen. Dazu können beispielsweise die deutschen
Außenhandelskammern beitragen. So würden vor Ort
Arbeitsplätze geschaffen und die Rohstoffe könnten re-
gional verwertet werden. Die Einhaltung von Umwelt-
standards ist auch hier unerlässlich. Ansonsten würde
der Rohstoffabbau zwar zu einer positiven wirtschaftli-
chen Entwicklung führen, die aber durch Umweltschä-
den und den Verlust an Lebensqualität kompensiert
würde. Positiv zu erwähnen ist an dieser Stelle, dass die
Regierung von Myanmar angekündigt hat, sich an der
Initiative für Transparenz in der Rohstoffwirtschaft,
EITI, zu beteiligen.

Weitere Möglichkeiten zur Unterstützung des Reform-
prozesses bestehen in der Förderung der Bildung vor
Ort. Die Hilfe beim Aufbau eines funktionierenden Bil-
dungssystems ist dabei klassische Aufgabe von Entwick-
lungszusammenarbeit. Vor dem Hintergrund des dualen
Ausbildungssystems in der Bundesrepublik können wir
hier wertvolle Hinweise zu geeigneten Ausbildungs-
strukturen geben. Außerdem können wir einzelne Pro-
jekte fördern, die vor Ort Schulen unterstützen oder auf-
bauen.

Beim Thema Bildung muss auch der Austausch zwi-
schen den Ländern angesprochen werden. Bei der Ver-
gabe von Visa wird in der Bundesrepublik eher auf die
Herkunft einer Person geachtet, weniger auf den Grund
seines Aufenthaltswunsches. Es wäre begrüßenswert,
wenn wir mehr Menschen eine Ausbildung hier ermögli-
chen könnten. So können neue Erfahrungen mit anderen
demokratischen Systemen ermöglicht werden, und
erworbenes Wissen kann in Myanmar weitergegeben
werden. Leider ist die Visavergabe der Bundesrepublik
hier noch immer zu restriktiv.

Ich möchte entschieden für eine stärkere Rolle der
Bundesrepublik beim Reformprozess in Myanmar wer-
ben. Dieser wurde durch die Kabinettsumbildung im
August bestätigt. Wir sollten das an dieser Stelle würdi-
gen und den Prozess kritisch begleiten. Wir haben eine
Vielzahl von Möglichkeiten zur Unterstützung der Men-
schen vor Ort und zur Hilfe beim Aufbau demokrati-
scher Strukturen, die ökologische und soziale Belange
berücksichtigen. Deswegen kann ich nicht verstehen,
warum weder die Koalition noch die Partei Die Linke
unseren Antrag oder den der SPD unterstützt. Deswegen
stimmen wir gegen die Beschlussempfehlung des Aus-
wärtigen Ausschusses, die eine Ablehnung unserer An-
träge fordert.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720138900

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-

empfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksa-
che 17/10903.

Unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion der SPD auf Drucksache 17/9727. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposi-
tion angenommen.

Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9739.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der SPD und Grünen bei Enthaltung
der Linken angenommen.

Tagesordnungspunkt 38:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Ingo Egloff, Dr. Hans-Peter Bartels,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Kein Port Package III auf Kosten von Arbeits-
plätzen und Sicherheit

– Drucksache 17/11147 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Wie ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll
genommen.


Hans-Werner Kammer (CDU):
Rede ID: ID1720139000

Als Abgeordneter des Wahlkreises, in dem der einzige

deutsche Tiefwasserhafen liegt, danke ich meinen sozial-
demokratischen Kollegen herzlich für die Gelegenheit,
hier einige Missverständnisse zu beseitigen und Fakten
zu nennen. Mögen auch Sie, meine Damen und Herren
von der SPD, davon profitieren!

In den letzten Jahren hat die Europäische Kommis-
sion zwei Entwürfe von Richtlinien vorgestellt, die tief in
die deutsche Hafenwirtschaft eingegriffen hätten. Mit
diesen Vorhaben konnte sich die Europäische Kommis-
sion – meiner Meinung nach völlig zu Recht – nicht
durchsetzen.

Ziel dieser Entwürfe war es, den Wettbewerb zu stei-
gern: einerseits den Wettbewerb zwischen den großen
europäischen Häfen, andererseits aber auch den Wettbe-
werb innerhalb der Häfen. Mit diesen Entwürfen wollte
die EU-Kommission die Effizienz erhöhen, die Preise re-
duzieren und so den Im- und Export verbilligen. Dies
sind Ziele, denen man als Ordnungspolitiker nur zustim-
men kann.

Dennoch lohnte sich – wie immer im Leben – ein in-
tensiver Blick auf das Kleingedruckte: Diese Ziele soll-
ten durch die Ausschreibung von Leistungen und die be-
fristete Vergabe von Konzessionen erreicht werden.
Grundsätzlich sind dies sicherlich Maßnahmen, die in
vielen Fällen zur Erreichung der genannten Ziele sehr
geeignet sind. Fraglich ist aber, ob das, was auf anderen





Hans-Werner Kammer


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Gebieten gut ist, auch der Hafenwirtschaft, das heißt
den Unternehmen und den Beschäftigten, und der Volks-
wirtschaft nützt. Wir müssen genau hinschauen, damit
das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet wird.

Auf deutscher Seite gab und gibt es breiten Konsens
darüber, dass es hier keines Eingriffs der Europäischen
Kommission bedarf. Dieser Konsens wird von der Bun-
desregierung, den Küstenländern – hier insbesondere
Niedersachsen –, der Hafenwirtschaft und den Gewerk-
schaften getragen.

Die damaligen Überlegungen der Kommission sahen
vor, dass Hafengebiete, so zum Beispiel die Terminals,
maximal für 46 Jahre verpachtet werden sollten.
Danach sollte dann eine neue Ausschreibung erfolgen,
sodass auch Dritte die Chance erhalten sollten, unter-
nehmerisch in Häfen aktiv zu werden, in denen sie bisher
nicht vertreten waren.

Diese Überlegungen sind grundsätzlich zwar recht
vernünftig, bergen im konkreten Fall aber enorme Risi-
ken: Als zentrales Glied der weltumspannenden Logis-
tikkette müssen die deutschen Häfen immer auf dem neu-
esten Stand der Technik sein. Wer nicht modernisiert,
verliert!

Wären die damaligen Überlegungen der Kommission
realisiert worden, hätte die Gefahr bestanden, dass
Pächter in den letzten Jahren ihrer Pachtperiode nicht
oder nicht mehr ausreichend in die Anpassung der Ha-
fenanlagen an den Stand der Technik investiert hätten.
Unsere Häfen wären daher im internationalen Wett-
bewerb zurückgefallen. Dies hätte nicht nur dem Hafen-
standort Deutschland, sondern unserer Volkswirtschaft
insgesamt nachhaltigen Schaden zugefügt.

Zweifelhaft ist aus meiner Sicht noch heute, ob diese
Vorschläge zu einer Verbilligung des Güterumschlags
geführt hätten. Am Ende der Pachtperiode hätte der
Pächter die von ihm finanzierte Infrastruktur gratis oder
zu einem moderaten Preis dem Nachfolger überlassen
müssen. Diesen finanziellen Nachteil hätte ein wirt-
schaftlich handelndes Unternehmen natürlich über die
Jahre auf die Kunden abgewälzt.

Ferner überlegte die Kommission damals, den Ree-
dern zu gestatten, ihre Schiffe selbst abzufertigen. Dies
brachte damals nicht nur die Gewerkschaften auf, son-
dern wurde schon in der Behandlung im Europäischen
Parlament gestrichen.

Die damaligen Vorstöße der Kommission firmierten
unter den Begriffen Port Package I und Port Package II.
Vielen der Beteiligten ist heute noch der Begriff Port
Package in schlechter Erinnerung, bei einigen weckt er
sogar soziale Horrorvorstellungen.

Nichts liegt näher, als den eisigen Wind des Kapitalis-
mus und der zügellosen Liberalisierung zum Antrieb ei-
nes ansonsten lahmen Oppositionsschiffs zu nutzen. Das
ist auch sehr verständlich, wenn man sonst weder Argu-
mente noch Ideen hat.

Auch wenn es in Oppositionskreisen unpopulär ist, so
muss doch eines klargestellt werden: Port Package III
gibt es nicht und wird es auch nicht geben. Wer diesen

Begriff heute noch für seine politische Arbeit nutzt, ver-
unsichert die Menschen. Es ist aber nicht seriös, Ängste
zu schüren, um im politischen Wettbewerb mithalten zu
können.

Worum geht es in Wahrheit? Die Kommission möchte
nach wie vor Rahmenbedingungen schaffen, um das
Wachstum der europäischen Seehäfen und ihrer Hafen-
wirtschaft zu unterstützen. Vor etwas mehr als einem
Jahr hat Verkehrskommissar Kallas in Rotterdam ange-
kündigt, im Jahr 2013 neue Vorschläge für den Hafen-
sektor vorzulegen.

Diese Vorschläge betreffen den Bürokratieabbau in
den Häfen, die Verbesserung der Transparenz bei der
Finanzierung von Häfen im Interesse eines fairen Wett-
bewerbs, die Schaffung einer Grundstruktur für die Aus-
bildung der Hafenarbeiter, administrative – insbeson-
dere zollrechtliche – Erleichterungen.

Diese Punkte werden in dem Antrag der SPD entwe-
der gar nicht angesprochen oder mit einem weiteren,
den ich bisher noch nicht genannt habe, vermengt. Die
Kommission möchte in Bezug auf die Erbringung von
Hafendienstleistungen ein wettbewerbsorientiertes und
offenes Umfeld gewährleisten. Dies soll auch für tech-
nisch-nautische Dienste, so das Seelotsenwesen, gelten.
Es ist daher auch nur natürlich, dass die Überlegungen
der Kommission schon im Vorfeld Lobbyisten aktivieren.

Ich finde es immer sehr bedauerlich, wenn sich poli-
tische Parteien zu Handlangern einer kleinen Gruppe
von Pfründeinhabern machen. Klientelparteien sind
Randgruppenvertreter. Dies zeigt sich an den Umfrage-
werten der SPD deutlich.

Bezeichnend dafür ist der Reflex der SPD, jede Ver-
änderung mit einer Verschlechterung gleichzusetzen. In
dem Antrag wird folgerichtig auch ausgeführt, dass
durch die Einführung des Wettbewerbs im Lotsendienst
Kostennachteile und ein Verlust an Sicherheit und
Schutz für die Küstengewässer und die maritime Umwelt
drohen. Dumpinglöhne und eine Verschlechterung der
Arbeitsqualität gingen zulasten von Qualitätsmerkmalen
wie Schnelligkeit, Zuverlässigkeit und Arbeitsqualität.
Dies ist zu einfach. Gute Bezahlung allein bewirkt noch
lange keine hochwertige Arbeit. Das beste Beispiel da-
für ist Ihr Kanzlerkandidat.

Charakteristisch ist auch, dass Sie in Ihrem Antrag
zwischen dem kleinteiligen Lotswesen in Deutschland
und privaten Unternehmen unterscheiden. Das sind
keine Gegensätze – auch die freiberuflich tätigen Lotsen
sind private Unternehmer. Das sollen sie auch bleiben.

Ich selbst komme von der Küste und weiß, dass die
deutschen Lotsen gute Arbeit, ja, verdammt gute Arbeit
leisten. Ich weiß auch, dass sie sich der Sicherheit der
Schifffahrt und dem Schutz von Mensch und Umwelt
verpflichtet sehen. Das ist so; darüber kann man nicht
diskutieren.

Etwas befremdend finde ich allerdings, dass in die-
sem Antrag – wie auch schon in der Stellungnahme des
Bundesverbandes der See- und Hafenlotsen vom April –
suggeriert wird, dass die Seelotsen die Mutter Theresa

Zu Protokoll gegebene Reden





Hans-Werner Kammer


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der Schifffahrt und der Umwelt seien. Ich denke, dass
dies kein guter Tipp aus dem Buch „Lobbyismus für An-
fänger“ war.

Die zentrale Frage, die wir uns bei der Behandlung
dieses Komplexes stellen müssen, haben sich die Kolle-
gen von der SPD gar nicht gestellt: die Unabhängigkeit
der Lotsen. Es ist klar, dass Berufe, die in einem so gro-
ßen Maße wie der des Lotsen sowohl der Aufrechterhal-
tung der Sicherheit im Seeverkehr als auch der Siche-
rung desselben dienen, im Interesse der Allgemeinheit
nicht weisungsgebundene Dienstleister ihrer Auftragge-
ber sein dürfen. Die fachliche Autorität und Unabhän-
gigkeit des Lotsen aufgrund seiner Qualifikation muss
gegenüber dem Auftraggeber, den Hafenbehörden und
den Reedereien auf jeden Fall gewährleistet sein. Daran
kann es keinen Zweifel geben!

Wir werden in einem intensiven Diskussionsprozess
herausarbeiten müssen, ob diese Unabhängigkeit tat-
sächlich nur durch die gegenwärtige Struktur des Lots-
wesens garantiert werden kann oder ob nicht auch auf
diesem Gebiet andere Organisationsformen möglich
sind. Sie sehen, ich stehe der Frage sehr offen gegen-
über.

Die Materie ist komplex. Ich denke, dass eine sachli-
che Diskussion erst dann zielführend ist, wenn die
Vorschläge der Kommission ausgearbeitet sind. Dann
wissen wir alle, worüber wir eigentlich sprechen.

Für uns ist klar, dass wir konstruktiv und kritisch bei
der Gestaltung von Einzelmaßnahmen zur Verwirkli-
chung der Pläne der Kommission mitwirken werden. Die
Bundesregierung wird auf jeden Fall auch weiterhin in
Zusammenarbeit mit den Küstenländern und den Betrof-
fenen starke nationale Impulse auf europäischer Ebene
setzen, damit ausgewogene, zukunftsfähige Lösungen
mit dem erforderlichen Augenmaß gefunden werden.

Die dem Thema gebührende intellektuelle Differen-
ziertheit und Unabhängigkeit geht diesem Antrag, der in
seiner Diktion doch sehr an die Stellungnahme des Bun-
desverbandes der See- und Hafenlotsen erinnert, leider
völlig ab. Wäre er eine Doktorarbeit, beschäftigte er mit
Sicherheit die Plagiatsjäger.

Was so kurz greift, kann nur abgelehnt werden.


Matthias Lietz (CDU):
Rede ID: ID1720139100

Der vorliegende Antrag der SPD-Fraktion spricht

sich im Wesentlichen gegen das Port Package III aus.
Gemäß der Auffassung der Sozialdemokraten würde ein
Port Package III Arbeitsplätze und auch die Sicherheit
der Hafenmitarbeiter wesentlich gefährden. Da es die
SPD – wie üblich – mit der Angst zu tun bekommt,
sobald sie das Wort „Liberalisierung“ liest, hört oder
sobald sie auch nur gemeint hätte, jemand hätte solcher-
lei Absichten, bittet sie nun in ihrem Antrag darum, et-
was abzulehnen, von dem wir in konkreter Form noch
gar nicht wissen, was darin stehen wird.

Denn nachdem die Port Packages I und II in der Ver-
gangenheit – zurecht – an dem Veto des Europaparlamen-
tes scheiterten, ebbten Stimmen, die eine einheitliche

Rechtsschaffung zu den Themen der Dienstleistungskon-
zessionen im Bereich der Hafenwirtschaft fordern, trotz-
dem nicht ab. Die Kommission hat sich bisweilen in
verschiedenen Workshops und Konsultationsverfahren
notwendige Meinungen und Eckdaten der Betroffenen
eingeholt, um die Ideen zur Liberalsierung des Marktzu-
gangs zu verbessern. Ob dies gelungen ist, kann natür-
lich erst dann beurteilt werden, wenn die Maßnahmen
auch vorliegen. Nachdem die EU-Kommission bereits
im Jahr 2011 angekündigt hatte, ihre Vorschläge zu
überarbeiten, ist nun beabsichtigt, ein Bündel von Maß-
nahmen im nächsten Jahr vorzustellen. Diese sollen so-
dann vor allem den Bürokratieabbau in Häfen, eine bessere
Transparenz bei der Finanzierung sowie eine Grund-
struktur zur Ausbildung von Mitarbeitern enthalten.

Solange diese konkreten Vorschläge nicht vorliegen,
werden wir nichts ablehnen können. Der Antrag der
SPD-Fraktion ist dementsprechend vollkommen unan-
gebracht und soll lediglich ihre Klientel beruhigen. Da-
bei kann ich Ihnen fest versichern, dass wir die Beden-
ken der Küstenländer, der Hafenmitarbeiter und des
Zentralverbandes der deutschen Seehafenbetriebe sehr
ernst nehmen. Ich kann Ihnen ebenso versichern, dass
wir ein Port Package III ablehnen werden, wenn es
im Wesentlichen so gestaltet sein sollte wie die Port
Packages I und II. Denn weder aus Sicht der Hafenwirt-
schaft noch aus Sicht der Bundesregierung ist eine
Regulierung des Wettbewerbes der Häfen momentan
zwingend und unter allen Umständen notwendig. Ein-
wände und Bedenken zur Konzessionsregelung müssen
und werden daher auch Berücksichtigung finden.

Dennoch begrüße ich den grundsätzlichen Ansatz da-
hin gehend, faire und transparente Wettbewerbsbedin-
gungen in und zwischen den Häfen schaffen zu wollen.
Ich stehe den für 2013 vorgesehenen Beihilfeleitlinien
durch die Kommission daher von Grund auf offen ge-
genüber. Allerdings lehne ich jedweden Vorschlag, der
dazu führt, die Dienstleistungsqualität und den Arbeits-
schutz der Häfen zu verschlechtern, ab.

Es ist unsere Aufgabe, uns für eine nachhaltige Ha-
fenpolitik innerhalb der Europäischen Union einzuset-
zen. Daher bitte ich Sie, abzuwarten, bis die Kommission
das Port Package III überhaupt vorstellt. Momentan bin
ich persönlich allerdings noch nicht davon überzeugt,
dass es ein Port Package III in dem Sinne überhaupt ge-
ben wird. Davon einmal abgesehen, wird die Kommis-
sion im nächsten Jahr einige Vorschläge vorlegen. So-
bald uns eine konkrete Initiative vorliegt, werden wir
uns konstruktiv, gewissenhaft und kritisch damit aus-
einandersetzen und diese zum entsprechenden Zeitpunkt
beraten. Momentan sollte der Deutsche Bundestag aber
nichts ablehnen, das noch nicht existiert und was wir
alle noch nicht kennen. Der Antrag der SPD-Bundes-
tagsfraktion ist daher in jedem Fall abzulehnen.


Uwe Beckmeyer (SPD):
Rede ID: ID1720139200

Nach zwei vergeblichen Anläufen startet die Europäi-

sche Kommission jetzt – entgegen ihren bisherigen
Bekundungen – erneut eine Initiative zur Liberalisie-
rung der Hafendienste in Europa – obwohl Port

Zu Protokoll gegebene Reden





Uwe Beckmeyer


(A) (C)



(D)(B)


Package I und II in den Jahren 2003 und 2006 am ver-
einten Widerstand von Hafenwirtschaft, Gewerkschaften
und SPD kläglich gescheitert sind. Auch im dritten
Anlauf hält die Kommission an ihrem Ziel fest: Wett-
bewerb, Qualität und Flexibilität fördern – und neben-
bei auch noch Kosten senken.

Doch mit der angekündigten Initiative wird Brüssel
nur das Gegenteil erreichen: Wettbewerbsverzerrungen,
Qualitätseinbußen, mangelnde Planbarkeit und erhöhte
Kosten.

Mit der erneuten Initiative der Generaldirektion
Mobilität und Verkehr sowie Wettbewerb sollen unter
anderem der Marktzugang für die Hafenarbeit sowie die
technisch-nautischen Dienste neu geregelt werden: Kon-
zessionen für den Hafenumschlag, für Lotsendienste
oder Schlepper könnten damit künftig nur noch befristet
vergeben werden. Entsprechende Vorschläge sollen
noch in diesem Jahr auf dem Tisch liegen.

Dabei gibt es keinen Regelungsbedarf, weder im
Umschlagsbereich noch bei den Lotsendiensten. Das ist
auch das Ergebnis einer Fragebogenaktion der Kom-
mission unter Vertretern der Hafenwirtschaft. Mehr
noch: Die Kommissionspläne sind schädlich, stellen sie
doch einen massiven Eingriff in bewährte Strukturen
dar.

Die Wertschöpfung in den Seehäfen hängt ganz
wesentlich von der Ausbildung und Qualifizierung der
Arbeitskräfte in der Hafenwirtschaft ab. Dazu leisten in
Deutschland die Gesamthafenbetriebsvereine einen
wichtigen Beitrag – moderne Personaldienstleister, die
mit gut ausgebildetem Personal alle im Hafen anfallen-
den Tätigkeiten übernehmen, die Situation vor Ort
genau kennen und Beschäftigte je nach Bedarf qualifi-
zieren.

Noch bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts war es üb-
lich, dass die Stauer erst beim Einlaufen eines Schiffes
stunden- oder tageweise für die Arbeit im Hafen anheu-
erten. Die Folge: Einige Schiffe mussten warten, weil
sich alle Stauer zunächst auf ein oder zwei Schiffe
konzentrierten. Diese Unsicherheit auf beiden Seiten ist
längst Vergangenheit. An die Stelle der ungelernten
Hafenarbeiter sind längst Hafenfacharbeiter getreten,
und der Wandel im Hafenumschlag und die Einrichtung
der Hafenbetriebsvereine hat auch dazu geführt, dass
die Unfallgefahren bei der Hafenarbeit – traditionell
eine der unfallträchtigsten Tätigkeiten – deutlich ab-
genommen haben. Diese Errungenschaften gilt es zu
bewahren.

Wenn die Kommission künftig die Selbstabfertigung
durch Land- und Bordpersonal der Reeder zulassen will,
heißt das nichts anderes, als das Monopol von Hafen-
arbeitern auf das Be- und Entladen von Schiffen ab-
zuschaffen. Die Pläne der Europäischen Kommission
würden dazu führen, dass die Zahl der Hafendienstean-
bieter in Europa abnimmt und verstärkt Dienstleister
aus Häfen außerhalb der EU in die Märkte eindringen.
Die Folge: ein knallharter Verdrängungskampf durch
Monopolisten, in dem die europäischen Seehäfen und
vor allem die Beschäftigten der Hafenwirtschaft das

Nachsehen hätten. Doch Dumpinglöhne und schlechte
Arbeitsbedingungen in den Häfen, die am Ende zulasten
von Zuverlässigkeit, Schnelligkeit, Sicherheit und Ar-
beitsqualität und auf Kosten der Beschäftigten gehen,
können wir uns nicht leisten.

Teuer könnten am Ende auch die Kommissionspläne
zur Öffnung der Lotsdienste werden. Die Einführung
von Wettbewerb in diesem sensiblen Bereich würde die
Lotsen dazu zwingen, ihre Aufgaben künftig allein unter
kommerziellen Aspekten zu erledigen. Das kann nicht im
Interesse der maritimen Sicherheit und des Meeres-
schutzes sein. Der Nutzen der Seelotsen lässt sich nur
schwer bemessen. Klar ist jedoch: Die Kosten einer
maritimen Katastrophe wären immens.

Gerade die Revierfahrt im sensiblen Küstengewässer
macht die Begleitung durch gut ausgebildete, ortskun-
dige Lotsen unverzichtbar. Sie bilden ein wichtiges
Glied der Sicherheitskette in unserem Verkehrssystem.
Eine Kommerzialisierung der Lotsdienste und eine
Ausschreibung und Vergabe der Dienste an private
Unternehmen würde diese Sicherheitsarchitektur in-
frage stellen. Sicherheit auf See darf aber nicht einem
vermeintlichen Kostendruck zum Opfer fallen. Eine
Politik der uneingeschränkten Privatisierung, wie sie
die Kommission offenbar verfolgt, ist der falsche Weg.

Für eine zukunftsgerichtete maritime Politik gibt es
aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion klare Leitlinien –
und daran muss sich auch die Europäische Kommission
bei ihren weiteren Schritten messen lassen:

Öffnung des Marktes ja, aber kein Ausverkauf des
europäischen Standorts.

Wettbewerb ja, aber nur dort, wo er ökonomisch sinn-
voll, sozial verträglich und sicherheitspolitisch vertret-
bar ist.

Die Bundesregierung muss auf europäischer Ebene
darauf hinwirken, dass eine entsprechende Initiative der
Kommission diese Kriterien berücksichtigt – im Inte-
resse des maritimen Standorts und der Beschäftigung in
den deutschen Häfen.


Torsten Staffeldt (FDP):
Rede ID: ID1720139300

Bereits in den letzten Jahren hat es vonseiten der

Europäischen Kommission Initiativen gegeben, ein Port
Package I und II als Instrument europäischer Wettbe-
werbspolitik einzuführen. Schon bei diesen beiden
Versuchen gab es heftigen Widerspruch von der Bundes-
regierung und den Küstenländern, unabhängig von der
politischen Färbung. Beide Initiativen wurden letztend-
lich und richtigerweise vom Europäischen Parlament
gestoppt. Schon heute arbeiten die Häfen der Nordrange
unter den schärfsten Wettbewerbsbedingungen der Welt.
Hier gibt es aus unserer Sicht keinen zusätzlichen Hand-
lungsbedarf.

Die Kommission aber scheint bis heute an ihren Be-
strebungen zur wirtschaftlichen Regulierung des Hafen-
sektors festzuhalten. Aktuell arbeitet sie an Vorschlägen
zur Hafenpolitik, die im Laufe des nächsten Jahres vor-
gestellt werden sollen. Es ist immer noch offen, in wel-

Zu Protokoll gegebene Reden




Torsten Staffeldt


(A) (C)



(D)(B)


cher Rechtsform diese Vorschläge kommen werden: ent-
weder als verbindlicher Gesetzesvorschlag oder nur als
Leitlinie oder Mitteilung.

Wir als FDP vertreten in dieser Frage seit Jahren eine
eindeutige Meinung. Wir haben Port Package I und II
immer abgelehnt und wollen auch kein drittes Paket ge-
schnürt sehen. Insbesondere lehnen wir ein verpflichten-
des Ausschreibungsverfahren für Dienstleistungen des
Hafenumschlags ab und wollen nicht, dass das Lotswe-
sen als nichtkommerzielle Dienstleistung von der Kom-
mission reguliert wird. Auch ein Bestandsschutz laufen-
der Verträge muss gewährleistet bleiben.

Für uns war in dem Zusammenhang immer wichtig,
dass, wenn ein Betreiber nach Ablauf seiner neu verge-
benen Lizenz im Rahmen der dann notwendigen Aus-
schreibung unterliegt und die Lizenz verliert, der Neube-
treiber an den Altbetreiber eine Abfindung bezahlen
muss. Diese muss auf den Grundsätzen der betriebswirt-
schaftlichen Unternehmensbewertung beruhen und un-
ter Einschluss des Goodwill.

Die Kommission sah in ihren vorherigen Anläufen
hier keine Abfindung vor, und dies wäre ein Eingriff in
den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb ge-
wesen, mithin ein enteignungsgleicher Eingriff.

Im Moment sieht es aber so aus, dass die Kommission
erst einmal Informationen sammelt und den Dialog mit
den Interessenvertretern sucht. Das finde ich grundsätz-
lich erst einmal positiv.

Aber dennoch habe auch ich bei der Eröffnungsrede
von Herrn Kallas anlässlich der Hafenkonferenz letzten
Monat ganz genau zugehört. Seine Bemerkung, dass bei
Hafendienstleitungen die mangelnde Auswahl an Anbie-
tern für den Hafenumschlag ein Problem sei – vor allem
weil oft nur ein Anbieter zur Verfügung stünde –, hat
mich hellhörig gemacht.

Sehr geehrte Damen und Herren der SPD, in Ihrem
Antrag stehen viele richtige Sachen, die ich absolut un-
terstütze. Dennoch halte ich nicht viel davon, Anträge
über Sachverhalte zu beraten, deren konkreten Inhalt
wir heute noch gar nicht kennen. Aber auch wir werden
die Entwicklungen in Brüssel im Sinne unserer deut-
schen Häfen ganz genau beobachten.


Herbert Behrens (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720139400

50 000 Hafenarbeiter in zwölf europäischen Ländern

protestieren gleichzeitig gegen die „Europäische Richt-
linie über den Marktzugang für Hafendienstleistungen“
und legen ihre Arbeit nieder. Das war 2006. Am 10. und
11. Januar standen in den europäischen Häfen die
Kräne still. Es war der Höhepunkt einer europaweit ko-
ordinierten Streikserie, die eine Woche später zum
Scheitern des sogenannten Port Package II führte. Das
Europäische Parlament lehnte die marktradikalen Pläne
der Kommission mit großer Mehrheit ab. Verdi bezeich-
nete die geplante Richtlinie als Frontalangriff auf die
Hafenarbeiter, sie gefährde die Leistungsfähigkeit der
Häfen und bedrohe Tausende Hafenarbeitsplätze. Darin
war unter anderem vorgesehen, dass die Seeleute künftig
selbst die Ladung ihrer Schiffe löschen sollten, Lotsen-,

Schlepper- und Abfertigungsdienste nur noch an zeitlich
befristete Konzession gebunden werden, die europaweit
ausgeschrieben werden sollten. Damit würde ein euro-
paweiter sozialer Dumpingwettbewerb in Gang gesetzt.
Bereits Anfang 2001 unternahm die Kommission hierzu
einen ähnlichen Versuch, der nach den damals größten
Demonstrationen in der Geschichte der europäischen
Hafenarbeiter am 20. November 2003 scheiterte.

Eine erneute Initiative der Kommission in diesem
Bereich halten auch Wirtschaftsverbände wie der Zent-
ralverband der deutschen Seehafenbetriebe, ZDS, für
völlig unverständlich. Auch die Stellungnahmen der
Bundesregierung und der deutschen Küstenländer spra-
chen sich gegen eine Deregulierung in der Hafenwirt-
schaft aus. EU-Generaldirektor Matthias Ruete hat
kürzlich erklärt, dass Verkehrskommissar Siim Kallas
bis zum 15. November konkrete Vorschläge zur europäi-
schen Hafenpolitik präsentieren werde, ein Port Pa-
ckage III aber nicht beabsichtigt sei. Falscher Alarm?
Leider nicht. Auch wenn es ein Port Package III offiziell
nicht geben soll, heißt das nicht, dass die EU Kommis-
sion von ihren Plänen Abstand genommen hätte im Ge-
genteil. Sie hat nur gelernt, dass sie mit einer dritten
Neuauflage dieses Hafenpaktes erneut gegen die Wand
laufen würde. Daher sollen die gleichen Ideen einfach
unter anderem Namen umgesetzt werden. Eines davon
ist die EU-Richtlinie für die Konzessionsvergabe. In ver-
schiedensten Dienstleistungsbereichen, auch der öffent-
lichen Daseinsvorsorge, soll hier die Vergabe von Kon-
zessionen europaweit geregelt werden, auch im Bereich
der Häfen. Damit droht der Konkurrenzkampf zwischen
den Hafenstädten der EU nun auch in die einzelnen Hä-
fen getragen zu werden. Damit soll zum Beispiel erreicht
werden, dass die Flächen auf den Kais in den Häfen re-
gelmäßig öffentlich ausgeschrieben werden müssen, um
mehr Konkurrenz unter den Umschlagsbetrieben zu er-
reichen. Die jeweils unterlegenen Terminalbetreiber
müssten dann jedoch ihre dort errichteten Anlagen an
die siegreichen Konkurrenten verkaufen.

Ähnliche Konsequenzen würden auf Lotsen,
Schlepperbetriebe und andere Dienstleister zukommen.
Derartige Regelungen würden Investitionen hemmen,
Arbeitsplätze gefährden und den Seehafenstandort
Europa schwächen. Die deutschen Häfen sind bislang
mit einem blauen Auge davongekommen, da deren Flä-
che meist via Miet- und Pachtverträge und nicht über
Konzessionen vergeben werden. Die Richtlinie würde
dort nicht greifen, doch dies kann jederzeit verschärft
werden.

In Südeuropa wird bereits gestreikt. Seit Ende letzten
Monats haben Hafenarbeiter der staatlichen portugiesi-
schen Häfen die Arbeit niedergelegt. Der Protest richtet
sich gegen die umstrittenen Pläne der konservativen
Regierung unter Pedro Passos Coelho und die ihr unter-
stehende Hafenbehörde, die Arbeitsbedingungen in den
Häfen zu liberalisieren. Die Europäischen Transportar-
beiter-Föderation, ETF, warnte davor, dass der Angriff
auf die Hafenarbeit in Portugal ein Vorgeschmack auf
die künftigen Entwicklungen sei und einen konzertierten
Versuch der EU-Kommission zur weiteren Liberalisie-
rung des europäischen Hafensektors darstelle. Sie er-

Zu Protokoll gegebene Reden





Herbert Behrens


(A) (C)



(D)(B)


klärten der Kommission am runden Tisch zu maritimen
Angelegenheiten in Casablanca (Marokko), dass sie die
Einführung eines Hafenpakets III durch die Hintertür
nicht dulden werde. Der aktuelle Streik könne demnach
noch bis Dezember andauern, wenn keine Einigung mit
der Regierung gefunden wird. Für den 14. November ist
ein länderübergreifender Generalstreik in Spanien und
Portugal angekündigt, als Protest gegen die europäi-
sche Wirtschaftspolitik und die verhängten Sozialkür-
zungen.

Ein Port Package III durch die Hintertür darf es
nicht geben. Alle bisherigen Erfahren haben gezeigt,
dass jegliche Versuche, Regelungen auf europäischer
Ebene gegen die Interessen der Beschäftigten in den
Häfen durchzusetzen, auf den erbitterten Widerstand der
Betroffenen treffen und scheitern. Eine Liberalisierung
von Hafendienstleistungen, führt zu nichts anderem als
weiterem Lohndumping. Was wir brauchen, sind ver-
bindliche soziale Mindeststandards und verlässliche
Rahmenbedingungen für die Hafenbetriebe. Wir brau-
chen eine intelligente Kooperation zwischen den einzel-
nen Hafenstandorten und keine blinde Konkurrenz um
Güterumschlagsmengen. Dafür bedarf es einer stärke-
ren nationalen Koordinierung, um einen zielgenauen
Ausbau der Hafenhinterlandinfrastruktur zu erreichen
und um die zukünftige Güterumschlagsentwicklung und
Spezialisierung der Seehäfen stärker zu lenken.

Die Linke fordert: keine weiteren Deregulierungen
und Liberalisierungen unserer Häfen, insbesondere
keine Neuregelungen von Konzessionsvergaben für
Hafenumschlag, Schlepper- und Lotsendienste sowie
andere technisch-nautische Dienstleistungen.


Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720139500

Bei der Diskussion um das Port Package, also Rege-

lungen für Dienstleistungen in den Seehäfen Europas,
habe ich ein Déjà-vu: In regelmäßigen Abständen ver-
sucht die EU-Kommission immer wieder, insbesondere
die Wettbewerbsbehörde, mit großer Energie, den Mit-
gliedstaaten Gesetzespakete aufzudrücken.

Bereits in den Jahren 2003 und 2006 sind die Gesetzes-
vorhaben der EU-Kommission bei den entscheidenden
Abstimmungen im EU-Parlament gescheitert, zu Recht,
wie ich finde.

Jetzt prescht die SPD-Fraktion mit einem Antrag vor.
Dieser kommt viel zu früh, Herr Kollege Beckmeyer von
der SPD; denn wir wissen ja noch gar nicht, welche Vor-
schläge die EU-Kommission uns diesmal unterbreitet.
Die Debatte um ein Port Package III muss deswegen
zwangsläufig im Ungefähren bleiben. Wir können der-
zeit nur spekulieren, was uns die Kommission vorlegen
wird.

Daher kann ich an dieser Stelle nur hypothetische
Vermutungen anstellen, nach dem Motto: Was wäre,
wenn?

Wir müssen abwarten, was uns die EU-Kommission
vorlegt. Aber für mich gilt: Ein neues Port Package zu-
lasten der Bedingungen der Hafenarbeiter und zulasten

der Seesicherheit wird unsere Zustimmung nicht bekom-
men!

In den bisherigen Port Packages ging es jedes Mal
um vergleichbare Inhalte. Bliebe es bei den alten Vor-
schlägen, wären viele Bereiche in den Häfen betroffen.
Zwar ist es die bekannte und auch nachvollziehbare
Absicht der EU-Kommission, einen einheitlichen
Rechtsrahmen zu schaffen. Aber sie stellt damit alle be-
reits bestehenden, auch historisch gewachsenen Struktu-
ren in den Häfen unter Vorbehalt – und dies in den meis-
ten Fällen ohne Notwendigkeit.

Nach Ansicht der EU-Kommission gibt es derzeit Oli-
gopole in europäischen Häfen. Doch ob diese durch ein
Port Package aufgebrochen werden können, ist zu be-
zweifeln.

In den europäischen Seehäfen wurden in den vergan-
genen Jahrzehnten viele Investitionen getätigt. Häfen
sind ein Bereich, in dem Investitionen langfristig getä-
tigt werden müssen. Die Hafenanlagen, also die Schiffs-
anlegestellen und Hafenflächen zum Umschlagen, werden
für eine Lebensdauer von Dekaden geschaffen. So wur-
den für den Bau der Infrastruktur am neuen Container-
hafen JadeWeserPort in Wilhelmshaven 600 Millionen
Euro investiert. Hinzu kommen private Mittel in Höhe
von 350 Millionen Euro für die sogenannte Suprastruk-
tur auf den Hafenflächen, zum Beispiel Kräne und Hafen-
ausstattungen. Diese großen Beträge zeigen, dass Aus-
schreibungen für eine Dauer von acht bis zwölf Jahren,
wie durch bisherige Vorschläge bereits vorgesehen, zu
deutlich höheren Umschlagskosten in den Häfen führen
werden. Die Investitionen müssten in deutlich kürzeren
Zeiträumen refinanziert werden als bisher. Außerdem
würde sich die Planungssicherheit der Hafenunterneh-
men deutlich reduzieren. Wer will bzw. kann dann noch
Häfen in Europa betreiben?

Trotz der bestehenden hohen Kosten für die Hafenbe-
treiber sind die Umschlagskosten pro Container im welt-
weiten Vergleich immer noch relativ niedrig: So kostet
das „Anfassen“ eines Containers im Durchschnitt in eu-
ropäischen Häfen zwischen 150 und 200 Euro, in den
Häfen Asiens bzw. Nordamerikas fällt hier schon einmal
das Doppelte bis Dreifache an.

Die Frage, die meiner Auffassung nach direkt an ein
neues Port Package geknüpft werden soll, ist: Werden
durch ein neues Regelungspaket die Dienstleistungen
für den Kunden wirklich besser bzw. billiger?

Stichwort „Lotsen“: Meiner Auffassung nach soll es
im Lotswesen keinen Kostendruck zulasten der Seesi-
cherheit geben. Aber auch hier müssen wir die weitere
Entwicklung abwarten und genau beobachten, was die
Kommission vorschlägt.

Begrüßenswert wären in einem neuen Port Package
endlich einheitliche Regelungen für transparentere öf-
fentliche Finanzierungsflüsse in die europäischen Hä-
fen. Hier herrscht zwischen den Häfen der EU-Küsten-
länder nicht nur starke Konkurrenz, sondern auch ein
starker wirtschaftlicher Druck und die Tendenz zur Ver-
schleierung über die Verwendung öffentlicher Gelder.
Um hier den Druck herauszunehmen, wären endlich

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Valerie Wilms


(A) (C)



(D)(B)


Vorschläge für Transparenzleitlinien zur Finanzierung
von Häfen zu begrüßen.

Alle Fraktionen auf Bundes- und Länderebene haben
die bisherigen Planungen zu Port Package I und II kate-
gorisch abgelehnt. Sollte uns beim Port Package III wie-
der alter Wein in neuen Schläuchen aufgetischt werden,
wird die Reaktion wohl genauso ausfallen. Wir werden
die Entwicklungen genau beobachten und kritisch be-
gleiten.

Die Kommission hat die Vorstellung ihres neuen, drit-
ten Vorschlags für November 2012 angekündigt. Es
bleibt also zu hoffen, dass dieser sich nicht gegen die
Bedingungen europäischer Hafenbetreiber und die Mit-
arbeiter in den Häfen richtet, sondern vor allem ver-
stärkte Transparenz zwischen den Häfen verlangt.

Ich fordere daher auch die Bundesregierung auf, sich
die Regelungen eines neuen Port Package III ganz ge-
nau anzusehen und kritisch zu begleiten. Doch sind
meine Erwartungen an diese Bundesregierung schon
lange äußerst niedrig. Ich freue mich allerdings immer
über positive Überraschungen. Warten wir ab.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720139600

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/11147 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Keine Einwände.
Dann ist das so beschlossen.

Tagesordnungspunkte 40 a und 40 b:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom
Koenigs, Kerstin Müller (Köln), Volker Beck

(Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Die Anwendung der Administrativhaft und
willkürliche Festnahmen durch israelische
und palästinensische Sicherheitskräfte verur-
teilen

– Drucksache 17/11166 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)
Federführung strittig

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom
Koenigs, Kerstin Müller (Köln), Volker Beck

(Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Die Gaza-Blockade beenden

– Drucksache 17/11167 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)
Federführung strittig

Auch hier sind die Reden zu Protokoll genommen.


Dr. Johann Wadephul (CDU):
Rede ID: ID1720139700

Die beiden uns vorliegenden Anträge der Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen, die Gegenstand unserer heuti-
gen Beratungen sind, lassen den Schluss zu, die Bundes-

regierung bemühe sich nicht um Menschenrechte in dem
betroffenen Gebiet. Bei allem Verständnis und aller
Akzeptanz für die Rolle der Opposition muss ich hier in
aller Deutlichkeit feststellen, dass die beiden Anträge
erstens zur Unzeit kommen und zweitens den Verhand-
lungsspielraum der Bundesregierung unnötig einengen,
wenn nicht gar schwächen.

Ich möchte die Kollegen der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen an unseren fraktionsübergreifenden Antrag
vom 30. Juni 2010 erinnern. Es war ein Beispiel für
Konsensfähigkeit des Hohen Hauses. In der sehr sachli-
chen Diskussion und der parteiübergreifenden Einigung
sind wir der Tradition deutscher Außenpolitik und unse-
ren Grundsätzen treu geblieben, was die Ausrichtung
der Politik gegenüber dem Staat Israel angeht. Wir
haben die besonderen Beziehungen zu Israel nicht in
Worthülsen gekleidet, sondern die legitimen Sicherheits-
interessen Israels im Blick gehabt. In der Diskussion ha-
ben wir aber auch betont, dass hinsichtlich des Zugangs
von und nach Gaza ein grundlegender Politikwechsel
Israels erforderlich ist, der umfassenden Wiederaufbau
und nachhaltige wirtschaftliche Erholung bei gleich-
zeitiger Wahrung der Sicherheitsinteressen Israels er-
möglicht.

Die aktuellen Anträge stellen diesen Konsens infrage.
In der Frage der Administrativhaft haben wir eindeutige
Beschlüsse im Deutschen Bundestag gefasst. Diese Be-
schlüsse sind nicht aufgehoben – nein, sie sind weiterhin
Bestandteil des Auftrages an die Bundesregierung. Und
ich weise darauf hin, dass die Bundesregierung sich zu
all diesen Fragen im Austausch mit der israelischen
Regierung und der palästinensischen Behörde befindet.
Es wird nachhaltig auf die Einhaltung internationaler
Rechtsnormen gedrängt.

Gestern haben wir den 10. Bericht der Bundesregie-
rung über ihre Menschenrechtspolitik zur Kenntnis ge-
nommen. Die Menschenrechtssituation in den palästi-
nensischen Gebieten blieb in ihren Grundzügen durch
die Herrschaft der Hamas im Gazastreifen und durch die
Besatzung Israels mit der einhergehenden Einschrän-
kung der Souveränität der palästinensischen Behörde
geprägt. Es sind dennoch positive Fortschritte erzielt
worden: So weist der Bericht darauf hin, dass die paläs-
tinensische Behörde am 15. Januar 2011 bekanntgab,
die Praxis der Anwendung der Militärgerichtsbarkeit
auf Zivilisten einzustellen. Feststellen müssen wir aber
auch, dass es bei diesem Prozess zu Verzögerungen kam.

Der Bericht spricht auch eindeutig aus, dass die
sogenannte Administrativhaft als problematisch einzu-
stufen sei. In Bezug auf den Gazastreifen weist der Be-
richt darauf hin, dass das Gebiet seit der gewaltsamen
Machtübernahme der Hamas im Juni 2007 weitgehend
abgeriegelt bleibt und dass die humanitäre Lage prekär
sei. Schwere Menschenrechtsverletzungen unter der De-
facto-Herrschaft der Hamas sind zu verzeichnen, neben
massiven Einschränkungen von grundlegenden Frei-
heitsrechten insbesondere auch Folter und der Vollzug
der Todesstrafe. Niemand in diesem Hause wird das
bestreiten und niemand – da schließe ich auch die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen ausdrücklich mit ein – stellt





Dr. Johann Wadephul


(A) (C)



(D)(B)


sich gegen die Bemühungen der Bundesregierung, die
Situation nachhaltig zu verändern.

Es gibt auch bereits erste Fortschritte. Die Zahl der
palästinensischen Häftlinge geht zurück. Es ist auch ein
Rückgang der Anzahl palästinensischer Häftlinge in
sogenannter Administrativhaft zu verzeichnen. Im Früh-
jahr 2011 haben wir eine zaghafte Steigerung bei den
Genehmigungen der von UNRWA beantragten Projekte
für den Gazastreifen erfahren. Die Energiekrise im
Gazastreifen konnte abgemildert werden: seit April die-
sen Jahres werden wieder bis zu einer halben Million
Liter Treibstoff für das Kraftwerk in Gaza geliefert. Die
Lieferungen erfolgen aus Israel. Auch Ägypten hatte den
Grenzübergang Rafah kurzfristig für einen größeren
Personenkreis geöffnet, bis die Öffnung durch einen
Anschlag im August wieder revidiert wurde.

Wir bemühen uns nachdrücklich um Sicherheit und
wirtschaftliche Entwicklung im Gazastreifen. Auch die
Bundesregierung betonte auf Anfrage, dass dies Bedin-
gung und Ausfluss der Achtung von Menschenrechten
sei, zu denen universelle Werte wie die menschliche
Würde gehören.

In der Tradition der CDU/CSU-Außenpolitik betone
ich nachdrücklich die Notwendigkeit einer Zweistaaten-
lösung und der Schaffung eines palästinensischen Staa-
tes. Zuletzt hat dies unser Bundespräsident Joachim
Gauck bei seiner Nahostreise unterstrichen. Egal wie
sprachlos die beiden Seiten miteinander sind, deutsche
Bemühungen sind stets auf die Wiederaufnahme direkter
Verhandlungen gerichtet. Bevor jedoch die Zweistaaten-
lösung kommen kann, müssen die Palästinenser mit ei-
ner Stimme sprechen. Auch dort bemühen wir uns um
Versöhnung.

Die Bundesrepublik und die EU befinden sich zu allen
geforderten Punkten in Verhandlungen. Darüber hinaus
sorgen wir für humanitäre Hilfe. Wir sorgen für Unter-
bindung des illegalen Waffenhandels. Wir fördern seit
der Berliner PALSEC-Konferenz den Aufbau rechts-
staatlicher Sicherheitskräfte und Justiz in den palästi-
nensischen Gebieten. Wir befürworten die Öffnung der
Grenzübergänge und den Wiederaufbau des Gazastrei-
fens. Das sind alles langwierige Prozesse, und die
Bundesrepublik nimmt hier auf sämtlichen Wegen und
Kanälen Einfluss auf die Geschehnisse und nimmt
Verantwortung wahr. Wir erkennen das Recht Israels an,
seine Staatsbürger vor Angriffen zu schützen. Unsere
Fraktion und die von uns getragene Regierung bemüht
sich um Deeskalation im Konflikt.

Die Europäische Union hat sich ebenfalls vielfach
zur Situation in den palästinensischen Gebieten geäu-
ßert. Der Rat der Europäischen Union hat mehrfach
seine tiefe Besorgnis hinsichtlich der Situation im Gaza-
streifen zum Ausdruck gebracht und forderte einen
grundlegenden politischen Kurswechsel, der den Wie-
deraufbau und das wirtschaftliche Gedeihen von Gaza
ermöglicht bei gleichzeitigen legitimen Sicherheitsanlie-
gen des Staates Israel.

Deswegen sind ihre Anträge abzulehnen, weil diese
Forderungen bereits an die Bundesregierung herange-

tragen wurden und sich in der Umsetzung befinden. Die
Verantwortlichen müssen sich auf dieses Haus verlassen
bei solch sensiblen Themen, und wir alle sollten den
Umsetzungen der Forderungen offenen Verhandlungs-
spielraum bieten und die Bundesregierung in diesen
Fragen nicht unnötig schwächen.


Christoph Strässer (SPD):
Rede ID: ID1720139800

Gegenstand der heutigen Debatte ist die Frage der

Administrativhaft, welche von israelischen und palästi-
nensischen Behörden angewandt wird. Administrativ-
haft bedeutet die Inhaftierung von Menschen aufgrund
behördlicher Anordnung ohne richterlichen Beschluss
und ohne die Einleitung eines förmlichen Strafverfah-
rens. Sie verstößt massiv gegen geltendes internationa-
les Recht, insbesondere gegen Art. 9 des Paktes über
bürgerliche und politische Rechte, den Israel im Jahre
1991 ratifiziert hat. Es ist in keiner Weise hinnehmbar,
dass Gefangene und ihre Anwälte in keiner Form über
Beweise oder Gründe hinsichtlich des Tatvorwurfs
informiert werden. Auch die Verlängerung von Adminis-
trativhaft durch Anordnung kann nicht akzeptiert
werden und steht nicht in Einklang mit dem von Israel
anerkannten internationalen Recht.

Ebenso irritierend ist die Tatsache, dass Israel wei-
terhin Kinder und Jugendliche inhaftiert und nach Mili-
tärrecht verurteilt. Israel begründet dies damit, dass die
Kinderrechtskonvention, die es ebenfalls ratifiziert hat,
in den palästinensischen Gebieten nicht anwendbar sei.
Damit ergeben sich für palästinensische Kinder, die mit
den israelischen Sicherheitsbehörden zusammentreffen,
gänzlich andere Voraussetzungen. So werden Kinder
und Jugendliche vor dem Militärgericht schon mit 16
– nicht wie in Israel erst mit 18 Jahren – als Erwachsene
behandelt; zudem muss nach Militärrecht erst nach acht
Tagen eine richterliche Anhörung der Betroffenen erfol-
gen. Die Familien der Kinder und Jugendlichen leben so
lange oft in Ungewissheit über den Verbleib ihrer Ange-
hörigen. Wissen Angehörige dann über den Verbleib
ihrer Kinder, ist ein Kontakt oftmals nur eingeschränkt
und in großen zeitlichen Abständen möglich. Dies ist
laut UN-Kinderrechtskonvention, die auch Israel ratifi-
ziert hat, nicht zulässig. Zugleich halte ich es für men-
schenrechtlich und im Sinne der Kinderrechtskonvention
nicht vertretbar, dass die Kinder und Jugendlichen ge-
meinsam mit Erwachsenen inhaftiert werden. Kinder
brauchen in besonderem Maße Privatsphäre und können
keinesfalls in den gleichen Räumlichkeiten unterge-
bracht werden wie erwachsene Gefangene.

Es gilt weiterhin und nachhaltig: Israel hat das
Recht, seine Bevölkerung zu schützen und Sicherheit für
sein Staatsgebiet herzustellen. Gleichwohl muss dies im-
mer unter Beachtung und Einhaltung internationalen
Rechts geschehen, im Besonderen, wenn sich Israel
diesem durch Ratifizierung von Verträgen ausdrücklich
angeschlossen hat. Es ist nicht akzeptabel, dass mit
zweierlei Maß gemessen wird und Israel die Anwendung
internationaler Abkommen für einen Teil der Betroffe-
nen oder bestimmte geografische Einheiten selbststän-
dig aussetzt.

Ich glaube, dass mit der derzeit angewandten Praxis
der Administrativhaft sowie weiterer nicht mit dem in-

Zu Protokoll gegebene Reden





Christoph Strässer


(A) (C)



(D)(B)


ternationalen Recht in Einklang stehenden Maßnahmen
ein wesentliches Hindernis für eine zukünftige friedliche
Koexistenz beider Völker besteht. Insbesondere wenn
man den Umgang mit Jugendlichen betrachtet, zeichnen
sich langfristige Konsequenzen eines derartigen
Handelns ab. Welche Vorstellung sollen palästinensi-
sche Jugendliche von Israel und seiner Bevölkerung ha-
ben, die unter den geschilderten Bedingungen inhaftiert
werden? Was werden sie zu Hause erzählen? Welches
Bild haben Palästinenser von den israelischen Behörden
und Institutionen, mit denen sie in hoffentlich naher Zu-
kunft wieder in einen konstruktiven Dialog zum Frie-
densprozess eintreten werden? Es steht zu vermuten,
dass sich mit den negativen Erfahrungen und Schilde-
rungen der Jugendlichen auch eine entsprechende
Haltung ihrer Familien herausbildet. Nach meiner
Einschätzung ist dies keine gute Basis für eine Wieder-
aufnahme des Friedensprozesses, sondern spielt viel-
mehr den radikalen Kräften in die Hände.

Diese negative Haltung und Hinwendung zu radika-
len politischen Tendenzen wird auf der anderen Seite
forciert durch die aktive Beteiligung palästinensischer
Sicherheitskräfte an den Maßnahmen. Oftmals geschieht
dies schlicht aus Rache am politischen Gegner. So wer-
den Anhänger der Hamas in den von der Fatah domi-
nierten Gebieten oftmals willkürlich verhaftet; umge-
kehrt lässt die Hamas mutmaßliche Sympathisanten der
Fatah verhaften.

Die Betroffenen fühlen sich von den eigenen Behör-
den verraten und vertrauen diesen in keiner Form. Viel-
mehr kommt es zu einem Machtkampf zwischen den riva-
lisierenden Gruppen, bei denen die Administrativhaft als
probates Mittel angesehen wird – mit negativen Folgen
innerhalb der palästinensischen Gebiete, aber auch
darüber hinaus. Auf Basis dieser Erfahrungen werden
sie auch ihre eigenen Behörden und politischen Institu-
tionen kaum bei den Bemühungen hinsichtlich des
Friedensprozesses unterstützen. Insofern hat die Anwen-
dung der Administrativhaft nachhaltige Folgen in der
palästinensischen Gesellschaft und wird sich langfristig
auf den Friedenprozess mit Israel auswirken.

Mit der Anwendung der Administrativhaft wird auf
israelischem wie palästinensischem Territorium gegen
international geltendes Recht und elementare Men-
schenrechte verstoßen. Aber neben dem juristischen
Aspekt ergibt sich eine wesentlich weitergreifende, zu-
kunftsbezogene Dimension. Sowohl auf eine Stabili-
sierung der politischen Verhältnisse innerhalb der pa-
lästinensischen Gebiete wirkt sich diese Form der
Rechtsanwendung negativ aus als auch auf einen hof-
fentlich in naher Zukunft wieder auflebenden Friedens-
prozess zwischen Israelis und Palästinensern.

Ein weiterer Debattenpunkt ist die Blockade des
Gazastreifens durch Israel. Dies beschäftigt uns in die-
sem Hohen Haus seit geraumer Zeit. Leider währt der
Zustand, bei dem die israelische Regierung Warenim-
porte und -exporte blockiert und auch den Personen-
verkehr erheblich behindert, seit fünf Jahren. In dieser
Zeit haben sich die Bedingungen für die Menschen in
Gaza erheblich verschlechtert. Und dies betrifft sowohl

die wirtschaftlichen wie humanitären Lebensumstände.
Unter den Blockadebedingungen können kein wirt-
schaftliches Wachstum und keine soziale Entwicklung
stattfinden. Die Arbeit internationaler Organisationen
und von Nichtregierungsorganisationen, aber auch
bilaterale Hilfe und Unterstützung zur Entwicklung des
Gazastreifens sind unter den derzeitigen Bedingungen
nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen möglich.
Dabei würden sie dringend gebraucht. Niemand bestrei-
tet die desaströsen Bedingungen, unter denen die
Menschen im Gazastreifen leben müssen. Für eine ernst-
hafte Verbesserung der Lebenssituation braucht es
freien Zugang zu dem Gebiet und einen freien Personen-
verkehr. Dies gilt im Übrigen nicht nur für den Gaza-
streifen, sondern auch für die Westbank, wo der teilweise
willkürliche Bau einer „Schutzmauer“ in Bereichen, die
nicht dem vereinbarten Grenzverlauf – grüne Linie –
entsprechen, die Menschen in ihrem Alltag einschränkt
und behindert.

Die Arbeit internationaler Hilfsorganisationen in den
abgeriegelten Gebieten ist erheblich behindert und kann
teilweise nicht vollumfänglich realisiert werden. Aus hu-
manitärer Sicht ist dies inakzeptabel. Gerade mit Blick
auf die medizinische Versorgung ist dies katastrophal,
da es den Menschen im Gazastreifen am Nötigsten fehlt
– zugleich aber ein Ausweichen auf Krankenhäuser in
der Westbank durch die verhängte Sperre des Personen-
verkehrs unmöglich ist. Persönlich, aus humanitärer
und menschenrechtlicher Sicht empfinde ich es als
furchtbar, dass selbst einfache medizinische Versorgung
wie die Assistenz bei einer Geburt oder die schnellst-
mögliche Versorgung von Brandverletzungen nicht
möglich sind und die Menschen sich selbst überlassen
bleiben.

Durch die verhängte Blockade wird auch die wichtige
Aufbauarbeit im Gazastreifen unterbunden. Einerseits
weil die internationalen Organisationen vor Ort nicht
mehr frei tätig sein können und andererseits weil es an
wichtigen Materialien fehlt, um die Infrastruktur wieder
aufzubauen. Der Wiederaufbau von Schulen oder medi-
zinischen Versorgungseinrichtungen, die in den Aus-
einandersetzungen mit der israelischen Armee zerstört
wurden, kann ohne die Anlieferung von Baumaterialien
nicht realisiert werden. Die Aufhebung der Blockade ist
keine Frage von Politik; sie ist eine dringend gebotene
Notwendigkeit, ein humanitäres Erfordernis.

Gleichwohl, und dies ist bei aller Kritik ebenso wich-
tig zu betonen, stehen wir an der Seite Israels. So wich-
tig wie eine Aufhebung der Blockade ist, so wichtig ist
es, die Sicherheit Israels zu garantieren. Es muss un-
missverständlich klar sein, dass die Öffnung des Gaza-
streifens auf keinen Fall dazu genutzt werden darf, Waffen
in die Region zu transportieren und damit die Sicherheit
Israels zu gefährden. Zudem muss sichergestellt werden,
dass terroristische Organisationen den Gazastreifen
nicht nutzen, um in den durchaus undurchsichtigen
Verhältnissen ihre gewalttätigen Aktionen zu planen und
durchzuführen. Der fortdauernde Raketenbeschuss von
israelischen Städten wie Sderot aus dem Gazastreifen ist
menschenrechtswidrig und zu verurteilen. Die derzeitige
Praxis der Abriegelung des Gazastreifens hat allerdings

Zu Protokoll gegebene Reden





Christoph Strässer


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offenkundig nicht zu einer Beendigung dieser Angriffe
geführt und ist deshalb auch mit diesem Argument nicht
zu rechtfertigen.

Wir werden uns an der Beratung der beiden Anträge
in den Ausschüssen konstruktiv beteiligen.


Dr. Rainer Stinner (FDP):
Rede ID: ID1720139900

Die Lage im Gazastreifen und in Israel stand in die-

ser Woche wieder im Fokus der Weltöffentlichkeit. Seit
heute, Donnerstag, 0:00 Uhr gilt eine Waffenruhe. Das
wurde zwischen Israel und der im Gazastreifen herr-
schenden Hamas vereinbart. Aber die Lage bleibt weiter
fragil. Am Dienstagabend, nach dem Besuch des Emir
von Katar, hat ein Angriff aus dem Gazastreifen auf Is-
rael begonnen. Innerhalb von 24 Stunden schlugen mehr
als 80 Raketen und Mörsergranaten auf israelischem
Gebiet ein. Israel hat darauf mit Luftangriffen auf Ziele
im Gazastreifen reagiert und mit einer Bodenoffensive
gedroht. Jetzt gilt, wie gesagt, eine Waffenruhe, und wir
hoffen alle, dass sie hält.

Allerdings zeigt diese Entwicklung auch, warum Is-
rael die Warenströme in den Gazastreifen kontrolliert.
Da es immer wieder zu Angriffen aus dem Gazastreifen
auf Israel kommt, muss der Waffenschmuggel in den Ga-
zastreifen unterbunden werden. Die strengen Kontrollen
und die Beschränkungen des Warenverkehrs führen al-
lerdings zu Versorgungsschwierigkeiten im Gazastrei-
fen, unter denen die Zivilbevölkerung leidet. Dieses Pro-
blem haben wir thematisiert und konnten auch schon
Erfolge erzielen.

Die israelische Regierung hat 2010 die Einfuhrbe-
schränkungen in den Gazastreifen gelockert. Die vorhe-
rige Positivliste von erlaubten Gütern wurde durch eine
Negativliste von verbotenen Gütern ersetzt. Diese Nega-
tivliste von Gütern, die in den Gazastreifen nicht einge-
führt werden dürfen, enthält Waffen, Kriegsmaterial und
Dual-Use-Güter. Dieser Wechsel von einer Positivliste
zu einer Negativliste hat zu einer erheblichen Verbesse-
rung der gesamten Warenzufuhr geführt. Das bestätigt
auch das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Paläs-
tina-Flüchtlinge im Nahen Osten, UNRWA. Dennoch
bleibt die Warenversorgung im Gazastreifen weiterhin
verbesserungsbedürftig. Daher muss überprüft werden,
ob wirklich alle Güter auf der Negativliste eine Gefahr
für Israel darstellen.

Verantwortlich für die schlechte Warenversorgung im
Gazastreifen ist aber nicht allein Israel, sondern auch
die Hamas, die in den Schmuggel in den Gazastreifen in-
volviert ist und davon profitiert. Versorgungsengpässe
werden genutzt, um den Hass auf Israel zu schüren, wäh-
rend gleichzeitig Waffen in den Gazastreifen geschmug-
gelt werden, mit denen Israel angegriffen wird.

Unser Ziel bleibt daher die vollständige Umsetzung
der Resolution 1860 des VN-Sicherheitsrates aus dem
Jahr 2009. Dazu gehört die Öffnung der Übergänge von
und nach Gaza für Im- und Exporte, die Bekämpfung des
Waffenschmuggels in den Gazastreifen, die dauerhafte
Beendigung des Raketenbeschusses israelischen Terri-
toriums und ein dauerhafter Waffenstillstand. Dafür set-

zen wir uns sowohl bilateral als auch multilateral ein,
zum Beispiel mit den Ratsschlussfolgerungen vom
14. Mai 2012 und mit der Erklärung des Nahost-Quar-
tetts vom 11. April 2012. Ganz konkret unterstützt die
Europäische Union die Palästinensische Behörde beim
Ausbau des Grenzübergangs Kerem Shalom, um eine
Verbesserung beim Warenverkehr zu erreichen.

Sie haben außerdem einen zweiten Antrag vorgelegt –
zum Thema Administrativhaft. Ich teile Ihre Einschät-
zung, dass diese Praxis aus menschenrechtlicher Sicht
äußerst problematisch ist. In Anbetracht der massiven
Bedrohungslage und der damit verbundenen Angst in Is-
rael kann man zwar verstehen, warum zu dieser Maß-
nahme gegriffen wird, aber man muss sie deswegen
nicht gutheißen. Man kann von Israel erwarten, dass
sich der Umgang mit Gefangenen an den menschen-
rechtlichen Standards orientiert, die auch in Israel gel-
ten. Deshalb spreche ich und sprechen wir das Thema
Menschenrechte bei Treffen mit israelischen und paläs-
tinensischen Vertretern offen an und finden dabei auch
Gehör.

Die Menschenrechtslage wird ja nicht nur von außen
kritisiert. Auch in Israel selbst gibt es viele Menschen,
die die Menschenrechtslage kritisch sehen. Und israeli-
sche Menschenrechtsorganisationen kritisieren offen die
Haftbedingungen und die Anwendung der Administra-
tivhaft. Eine derart offene Diskussionskultur gibt es im
Gazastreifen übrigens nicht, weil die Hamas keine Kritik
zulässt. Die Administrativhaft wurde auch von der Bun-
desregierung gegenüber israelischen und palästinensi-
schen Vertretern bereits mehrfach thematisiert. Dabei
hat die Bundesregierung stets ihre Sorge über die umfas-
sende Anwendung der Administrativhaft zum Ausdruck
gebracht.

Das Thema ist auch Gegenstand des EU-Israel-Dia-
logs. Unter dem Eindruck von Gefangenenprotesten und
internem sowie internationalem Druck hat sich Israel im
Mai 2012 bereit erklärt, die Anwendung der Administra-
tivhaft zu reduzieren. Diese Entscheidung zeigt auch be-
reits Wirkung. In Ihrem Antrag steht noch, dass die Zahl
der palästinensischen Gefangenen in Administrativhaft
bei über 300 läge. Das zeigt mir, dass Sie diesen Antrag
im Mai 2012 oder früher verfasst haben müssen. Inzwi-
schen ist die Zahl auf 184 gesunken. Die Situation hat
sich also leicht verbessert.

Beide Entwicklungen, die Anwendung der Administ-
rativhaft und den Warenverkehr in den Gazastreifen,
werden wir weiterhin genau beobachten. Allerdings sind
beide Themen nur Einzelaspekte eines größeren Prob-
lemfeldes in Nahost. Eine wirklich nachhaltige Lösung
kann nur im Rahmen eines Gesamtfriedensschlusses ge-
funden werden, und dazu brauchen wir Fortschritte bei
den Verhandlungen zwischen Israel und den Palästinen-
sern. Das müssen wir auch bei unseren Beratungen in
den Ausschüssen beachten.


Annette Groth (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720140000

In den letzten Tagen wurde der Gazastreifen wieder-

holt durch israelisches Militär aus der Luft beschossen,
es gab mehrere Tote und viele Verletzte. Dies ist in unse-

Zu Protokoll gegebene Reden





Annette Groth


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(D)(B)


ren Nachrichten kaum mehr als eine kurze Notiz wert, es
ist zum Alltag geworden – für uns und beinahe auch
schon für die Betroffenen, die in ständiger Angst leben
müssen.

Die Bevölkerung des Gazastreifens wird durch die
Blockadepolitik der israelischen Regierung eines men-
schenwürdigen Lebens beraubt. Die von Israel verhängte
Land-, See- und Luftblockade des Gazastreifens ist völ-
kerrechtswidrig und das daraus resultierende Leid der
Bevölkerung von Gaza völlig unverhältnismäßig. Die
Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen
erwähnen den sehr eindrucksvollen Bericht der Verein-
ten Nationen „Gaza in 2020 – A liveable place?“, nach
dem der Gazastreifen im Jahre 2020 praktisch nicht
mehr bewohnbar sein wird. Das Wasser wird nicht mehr
trinkbar sein, wir werden dann auch jegliche Chancen
verspielt haben, diese Entwicklung rückgängig zu ma-
chen. Es ist erschreckend, wie wenig sich die Weltge-
meinschaft klarzumachen scheint, dass es bereits fünf
nach zwölf ist!

Auch ich fordere selbstverständlich und stellvertre-
tend für die Fraktion Die Linke, die Blockade des Gaza-
streifens aufzuheben.

Genauso fordern wir die Abschaffung der Adminis-
trativhaft, sowohl durch israelische Sicherheitsbehörden
als auch ihre palästinensischen Counterparts. Die men-
schenverachtenden Praktiken sind erschreckend. Dass
Betroffene oft keine andere Möglichkeit sehen, als ihre
elementarsten Rechte mithilfe von Hungerstreiks durch-
zusetzen und damit ihr Leben aufs Spiel setzen, spricht
für sich. Insbesondere bereitet mir das Schicksal von
Kindern und Jugendlichen in den Haftanstalten Sorgen.
Die Menschenrechtsorganisation Addameer schätzt,
dass allein 2010 allein in Jerusalem 1 200 Minderjäh-
rige verhaftet wurden. Auch wenn sie nach einigen Stun-
den oder Tagen wieder freigelassen werden, verursacht
dies bleibende Schäden. Diese Kinder sind stark trau-
matisiert!

Zugleich bin ich kein Freund von Teillösungen: Neh-
men wir einmal an, eine erhöhte Ausfuhr von Gütern aus
dem Gazastreifen und/oder der Import lebensnotwendi-
ger Güter würden erlaubt. Die israelische Regierung
würde viele der Einschränkungen für die Bevölkerung
von Gaza in Kraft lassen – immer mit dem Verweis auf
die eigenen Sicherheitsinteressen –, zum Beispiel die
unilaterale israelische Bestimmung, dass keine Schiffe
und Boote weiter als drei nautische Meilen von der
Küste Gazas entfernt fischen dürfen. Den Fischern
wurde der Zugang zu 85 Prozent derjenigen Seegebiete,
die laut Abkommen von Oslo den Palästinensergebieten
zugehörig sind, versperrt, und 3 000 Fischern mitsamt
ihren Familien wurde die Lebensgrundlage entzogen.
Darüber hinaus hat die israelische Regierung die
fruchtbarsten 17 Prozent des Gazastreifens, welche für
die Landwirtschaft von elementarer Bedeutung sind, zu
„Pufferzonen“ erklärt. Wer sich in diese Gebiete oder
weiter als drei nautische Meilen aufs Meer begibt, wird
regelmäßig durch israelisches Militär angegriffen –
allein im Jahre 2012 gab es Hunderte solcher Angriffe
mit einer Vielzahl von Toten. Die palästinensischen Kin-

der können noch nicht einmal in Sicherheit in die Schule
gehen!

Am letzten Wochenende wurde wieder ein sich in in-
ternationalen Gewässern befindliches Schiff, das Hilfs-
güter für die Bevölkerung des Gazastreifens geladen
hatte, durch die israelische Marine gestoppt; die Passa-
giere wurden unrechtmäßig festgehalten, den israeli-
schen Aktivisten soll gar der Prozess gemacht werden.
Außerdem gibt es Berichte, die Marinesoldaten hätten
bei der Enterung Gewalt angewandt. Nicht vergessen
hat die Welt die blutige Enterung der Mavi Marmara im
Mai 2010, die mit neun Toten und vielen Verletzten
endete. Einer davon liegt bis heute im Koma.

Die israelische Regierung scheint es nicht sonderlich
zu stören, wenn sich ihr Image in der Welt mehr und
mehr verschlechtert. Der israelische Außenminister sagte
erst vor einigen Tagen, die EU solle sich um ihre eigenen
Probleme kümmern, anstatt sich mit der Frage der is-
raelischen Siedlungen zu befassen. Netanjahu will der
israelischen Knesset ein Gutachten zur Abstimmung
vorlegen, welches die israelischen Siedlungen in der
Westbank als legal einstuft. Sowohl die EU als auch die
Bundesregierung haben aber mehrfach den Siedlungs-
bau auf besetztem Gebiet und die Blockade des Gaza-
streifens als völkerrechtswidrig bezeichnet. Kritisiert
wurde auch das Festhalten von Menschen ohne Begrün-
dung – die Administrativhaft.

Die Aufhebung der Gaza-Blockade ist wichtig – aber
sie ist nur ein Teilaspekt. Was haben wir gewonnen,
wenn die Siedlungen in Gaza zwar geräumt, in der West-
bank aber gleichzeitig immer neue gebaut wurden und
werden? Was, wenn allein die Möglichkeit, irgendwann
in der Zukunft einen lebensfähigen palästinensischen
Staat zu gründen, durch Fakten sowohl in Form von
Siedlungen als auch zum Beispiel der irreparablen Ver-
unreinigung von Trinkwasser zunichte gemacht wird?

Es muss darum gehen, eine ganzheitliche Lösung für
den Nahostkonflikt zu finden. Es ist zwar wichtig, an ein-
zelnen Punkten anzusetzen, aber das reicht nicht aus! Is-
rael muss endlich Verhandlungsbereitschaft zeigen und
zu echten Kompromissen bereit sein – sowohl gegenüber
den Palästinenserinnen und Palästinensern als auch den
arabischen Nachbarn. Die Signale der israelischen Re-
gierung sind nicht besonders vielversprechend, im Ge-
genteil.

Wenn Israel sich nicht bereit zeigt, seinerseits
Schritte auf dem Weg zum Frieden zu gehen und sich
überhaupt erst einmal an völkerrechtliche Bestimmun-
gen und die Respektierung der Menschenrechte zu hal-
ten, haben wir durchaus Möglichkeiten, zu handeln, ja,
wir müssen es sogar tun, wollen wir unsere Glaubwür-
digkeit nicht völlig verspielen. Am Dienstag hat nun lei-
der auch das Europäische Parlament für die Annahme
des ACAA-Zusatzprotokolls zum EU-Israel-Assoziie-
rungsabkommen gestimmt. Folge ist eine eklatante Aus-
weitung der Handelsbeziehungen zwischen der EU und
Israel. Die Parlamentarier haben damit eine wichtige
Möglichkeit verspielt. Sie hätten deutlich machen müs-
sen: Vorbedingung für eine solche Ausweitung muss die
Einhaltung des in allen Assoziierungsabkommen der EU

Zu Protokoll gegebene Reden





Annette Groth


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(D)(B)


mit den Mittelmeerländern festgeschriebenen Art. 2
durch Israel sein. Dieser Artikel fordert von allen Part-
nern die Achtung der Menschenrechte und die Einhal-
tung demokratischer Grundprinzipien. Die EU-Parla-
mentarier haben die israelische Regierung stattdessen
für ihre völkerrechtswidrige und menschenverachtende
Politik belohnt. Solange die israelische Regierung Ver-
träge nicht einhält, muss auch in Betracht gezogen wer-
den, das bereits bestehende Assoziierungsabkommen
auszusetzen.


Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1720140100

Wir reden heute über zwei Anträge meiner Fraktion,

die Menschenrechtsthemen in Israel und den palästinen-
sischen Gebieten betreffen. Lassen Sie mich deshalb mit
einer Bemerkung zum Verfahren beginnen. Wir haben
beide Anträge federführend im Ausschuss für Menschen-
rechte und humanitäre Hilfe angemeldet. Die Koalition
hat dem widersprochen und wollte, dass die Anträge fe-
derführend im Auswärtigen Ausschuss aufgesetzt wer-
den. Für uns ist das keine Kleinigkeit. Wir meinen, dass
der Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
als Vollausschuss dieses Bundestages ein wichtiges Gre-
mium ist und eine Errungenschaft dieses Parlaments.
Wir meinen, dass es dem zentralen politischen Thema,
dem Menschenrechtsschutz, angemessen ist, dass es da-
für einen Vollausschuss gibt. Seine Bedeutung droht er
aber dann zu verlieren, wenn ihm keine Vorlagen mehr
in Federführung zugewiesen werden. Wir haben es wie-
derholt erlebt, dass die Koalition sagt, dieses oder jenes
Thema solle doch besser in diesem oder jenem Fachaus-
schuss behandelt werden. Nun ist klar, dass bei den
Menschenrechten als Querschnittsthema immer auch
die Belange anderer Ausschüsse mit berührt werden.
Aber es gibt doch zentrale menschenrechtliche Frage-
stellungen und Bereiche, in denen dann auch der Men-
schenrechtsausschuss primär zuständig sein muss. Es ist
äußerst bedauerlich, dass die Koalition diese Haltung
nicht teilt. Damit wertet sie einen wichtigen Bundestags-
ausschuss ab. Ich hoffe, dass sie für den Rest dieser Le-
gislatur ihre Einstellung dazu überdenkt und ändert.

Damit komme ich zum Inhalt unserer Anträge. Wir
haben uns dem Thema Administrativhaft gewidmet, weil
wir die Praxis dieser Haft für ein schwerwiegendes men-
schenrechtliches Problem halten – überall da, wo sie
auftritt. Es gibt leider viele Länder, in denen die Admi-
nistrativhaft angewendet wird. Administrativhaft bedeu-
tet, dass den Festgenommenen ihre grundlegenden
Rechte verwehrt bleiben. Sie werden eingesperrt, ohne
zu wissen, warum. Sie haben meist keine Möglichkeit,
mit einem Anwalt oder sogar ihren Familien Kontakt
aufzunehmen. Sie schmoren unter oft entsetzlichen Be-
dingungen in ihren Zellen, mitunter jahrelang. Dies ist
für die Betroffenen furchtbar, egal wo es passiert. Aus
unserer Sicht ist es umso schlimmer, wenn die Adminis-
trativhaft in einem Rechtsstaat angewendet wird; denn
das eine geht mit dem anderen nicht zusammen. Israeli-
sche Sicherheitskräfte verhängen die Administrativhaft
seit vielen Jahren. Die Bundesregierung muss gegen-
über der israelischen Regierung klarer Stellung bezie-
hen und diese Praxis kritisch ansprechen. Auch in den

palästinensischen Gebieten werden Menschen willkür-
lich verhaftet. Auch dort sind die Haftbedingungen zum
teil katastrophal. Es gibt hervorragende Nichtregie-
rungsorganisationen, die sich um die Rechte der Häft-
linge kümmern, wie die palästinensische Organisation
Addameer oder die israelische Organisation Betselem.
Es muss aber endlich ein Umdenkungsprozess in Gang
kommen auf Ebene der Regierenden in Israel und in der
palästinensischen Autonomiebehörde. Die Administrativ-
haft gehört abgeschafft. Inhaftierte müssen rechtsstaatli-
che Strafverfahren bekommen. Die Haftbedingungen
müssen vor allem hinsichtlich der Gesundheitsversor-
gung verbessert werden.

Unser zweiter Antrag befasst sich mit der Lage in
Gaza. Ich konnte bei einem Besuch dort im Juli dieses
Jahres mit der UNRWA sprechen, mit lokalen Menschen-
rechts-NGOs, mit jungen Bloggerinnen und Bloggern,
und alle haben einstimmig erklärt, dass die Blockade
des Gazastreifens durch Israel beendet werden muss.
Wir haben hier gemeinsam bereits im Jahr 2010 die Auf-
hebung der Gaza-Blockade und eine Verbesserung der
humanitären Lage in Gaza gefordert. Seitdem hat es ge-
wisse Lockerungen gegeben; die Blockade besteht je-
doch fort, und die Lockerungen reichen nicht aus, um
die humanitäre, menschenrechtliche und wirtschaftliche
Situation in Gaza grundlegend zu verbessern. Deshalb
bitte ich Sie alle, unseren Antrag zu unterstützen und da-
mit unsere Forderung von 2010 mit Nachdruck zu wie-
derholen. Sie alle werden den Bericht der Vereinten Na-
tionen vom Ende August 2012 gelesen haben; danach
wird der Gazastreifen im Jahr 2020 nicht mehr bewohn-
bar sein, wenn bis dahin nicht grundlegende Verbesse-
rungen in den Bereichen Wasser- und Elektrizitätsver-
sorgung, Gesundheit und beim Bau von Schulen
unternommen werden. Wenn die Blockade aufrechter-
halten wird, dann wird die urbane Ökonomie des Gaza-
streifens zusammenbrechen. Lassen Sie uns gemeinsam
aus humanitären, aus menschenrechtlichen, aus außen-
und entwicklungs- und sicherheitspolitischen Gründen
ein Ende der Blockade fordern.

Und noch ein letztes Wort zu einem kontrovers disku-
tierten Thema: dem Kontaktverbot zur Hamas. Ich habe
auf meiner Reise von vielen meiner Gesprächspartner in
Gaza gehört, wie schwierig die humanitäre Arbeit dort
angesichts des bestehenden Kontaktverbots vieler Staa-
ten, auch von Deutschland, zur Hamas ist. Ich rege da-
her unter humanitären Gesichtspunkten an, die Sinnhaf-
tigkeit dieser Maßnahme zu überdenken. Verstehen Sie
mich nicht falsch: Es geht mir nicht um eine internatio-
nale Aufwertung der Hamas. Aber das Kontaktverbot er-
schwert die notwendige humanitäre Arbeit internationa-
ler Organisationen wie der UNRWA in Gaza erheblich.
Ich möchte deshalb anregen, zumindest eine Diskussion
darüber zu führen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720140200

Tagesordnungspunkt 40 a. Interfraktionell wird Über-

weisung der Vorlage auf Drucksache 17/11166 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Die Federführung ist jedoch strittig.





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP wünschen Fe-
derführung beim Auswärtigen Ausschuss. Bündnis 90/
Die Grünen wünscht Federführung beim Ausschuss für
Menschenrechte und Humanitäre Hilfe.

Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abstimmen, also Feder-
führung beim Ausschuss für Menschenrechte und Hu-
manitäre Hilfe. Wer stimmt für diesen Überweisungsvor-
schlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der
Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der CDU/
CSU, FDP und Linken gegen die Stimmen der SPD und
Grünen abgelehnt.

Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
CDU/CSU und FDP abstimmen, also Federführung
beim Auswärtigen Ausschuss. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist mit den
Stimmen der CDU/CSU, FDP und Linken gegen die
Stimmen der SPD und Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 40 b. Die Vorlage auf Drucksa-
che 17/11167 soll an die in der Tagesordnung aufgeführ-
ten Ausschüsse überwiesen werden. Auch hier ist die Fe-
derführung strittig.

Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP wünschen sie
beim Auswärtigen Ausschuss, Bündnis 90/Die Grünen
wünscht sie beim Ausschuss für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe.

Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Grünen abstimmen, also Federführung beim Ausschuss
für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe. Wer stimmt
für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist
gegen die Stimmen der Grünen bei Zustimmung der
sonstigen Fraktionen abgelehnt.

Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP abstimmen, also Fe-
derführung beim Auswärtigen Ausschuss. Wer stimmt
für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist
gegen die Stimmen der Grünen mit den Stimmen der an-
deren Fraktionen angenommen.

Tagesordnungspunkte 42 a und 42 b:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Lars
Klingbeil, Martin Dörmann, Doris Barnett, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Potenziale von WLAN-Netzen nutzen und
Rechtssicherheit für WLAN-Betreiber schaf-
fen

– Drucksache 17/11145 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien

b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Halina
Wawzyniak, Jan Korte, Nicole Gohlke, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Telemediengesetzes – Störerhaftung

– Drucksache 17/11137 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Rechtsausschuss (f)
Federführung strittig

Auch hier sind die Reden zu Protokoll genommen.


Andreas G. Lämmel (CDU):
Rede ID: ID1720140300

Uns liegen heute zwei Initiativen der Opposition vor,

die auf den ersten Blick recht vernünftig erscheinen.
Aber wie so oft im parlamentarischen Leben liegt der
Teufel im Detail.

Im Kern geht es beiden Initiativen um die stärkere
Nutzung vorhandener WLAN-Netze für die Öffentlich-
keit, die Beschränkung des Haftungsrisikos für WLAN-
Betreiber und um Schutzmaßnahmen für die Betreiber
von WLAN-Netzen zur Vermeidung ihrer Verantwort-
lichkeit bei unbefugter Nutzung durch Dritte. Zentraler
Gegenstand ist die Debatte, ob die Haftungsbeschrän-
kung für professionelle Access Provider gemäß § 8 TMG
auf andere WLAN-Betreiber ausgeweitet werden soll.

Was die Providerhaftung nach dem Telemediengesetz
anbelangt, so sind kleine Gewerbetreibende wie Inter-
netcafés mit kostenfreiem WLAN-Angebot bereits jetzt
von der Haftung für Missbrauch durch Dritte befreit.
Denn in diesen Fällen – wie auch bei sehr großen Provi-
dern mit sehr vielen Nutzern – lässt sich der Verursacher
durch technische Nachweismöglichkeiten identifizieren.
Der Gewerbetreibende ist natürlich verpflichtet, bei ers-
ten Anzeichen eines Missbrauchs geeignete Maßnahmen
zu ergreifen, um sich seine Freistellung von der Haftung
zu erhalten. Tut er dies nicht, muss auch er mit Konse-
quenzen rechnen.

Die Forderung nach einer Gleichstellung des priva-
ten Bereichs mit dem gewerblichen Bereich erscheint je-
doch nur auf den ersten Blick folgerichtig und sinnvoll.
Denn im privaten Bereich, beispielsweise wenn ein Drit-
ter den privaten Internet-/WLAN-Zugang eines Nutzers
für strafrechtlich relevante Handlungen missbraucht,
kann mit technischen Mitteln nicht nachgewiesen wer-
den, wer der eigentlich Schuldige ist. Die Tat wird dann
in der Regel dem privaten Nutzer zugerechnet, auf den
der Internet- bzw. WLAN-Anschluss angemeldet ist, es
sei denn, er kann nachweisen, dass er die Tat nicht be-
gangen haben kann. Vom privaten Nutzer wird daher
auch eine gewisse Verantwortung für den sorgsamen
Umgang mit dem Internetzugang verlangt, egal ob er
fest installiert ist oder per WLAN erfolgt. Erfolgt der Zu-
gang hingegen frei, kann auf dem WLAN-Anschluss je-
der machen, was er will, ohne dass er mit etwaigen Kon-
sequenzen rechnen muss. Strafrechtlich relevante
Handlungen können nicht verfolgt werden; der oder die
Täter können nicht zur Verantwortung gezogen werden.





Andreas G. Lämmel


(A) (C)



(D)(B)


Aufgrund der laufenden und uneinheitlichen Recht-
sprechung verschiedener Gerichte bearbeitet das Bun-
desministerium der Justiz derzeit die Frage, ob und in
welcher Form der angesprochene Aspekt der Störerhaf-
tung rechtlich geregelt werden kann, um Rechtssicher-
heit zu gewährleisten. Ich hoffe da auf konstruktive Er-
gebnisse.

Neben diesen rechtlichen Aspekten wird aber das Po-
tenzial des offenen WLAN überschätzt. Die große Mehr-
heit der Nutzer nutzt UMTS, 3G, als mobile Datenver-
bindung. Hier könnten WLAN zwar potenziell die
Mobilfunknetze entlasten. Allerdings bauen die Mobil-
funkunternehmen gerade den nächsten Standard des
Mobilfunks LTE,4G, aus. LTE kann – noch theoretisch –
Bandbreiten erreichen, welche die Leistungen der DSL-
Anschlüsse, die ja auch die Grundlage für WLAN-Rou-
ter bieten, übertreffen. Zusätzlich entlastet ein auf den
LTE-Standard aufgerüstetes Mobilfunknetz auch den
bisherigen Standard UMTS und wird auch im UMTS-
Netz die Leistungen verbessern. Vermutlich wird die
Notwendigkeit von WLAN-Angeboten für den öffentli-
chen Raum bald nachlassen.

Schließlich kann jeder Betreiber eines WLAN weiter-
hin, auch im von den Linken angesprochenen sozialen
Bereich, seinen Nutzern einen Zugangscode aushändi-
gen und sich somit vor den möglichen Folgen von
Rechtsverletzungen schützen.

Bei diesem Thema sollte Gründlichkeit vor Schnellig-
keit gehen. Ich freue mich auf die Beratung im Aus-
schuss.


Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1720140400

Wenn ich mir den vorliegenden Gesetzentwurf der

Linken zur Änderung des Telemediengesetzes anschaue,
wird mir sofort klar, wohin die Reise mal wieder gehen
soll: Da gerieren sich die Genossen erneut zu Sozial-
aposteln par excellence, fordern freies Internet für alle,
freie I-Pads für alle, freie Rechner für alle. Ich muss
schon genau in den Text hineinlesen, um zu sehen, ob es
sich hier um eine Hartz-IV-Debatte handelt oder ob es
um die Haftungsfrage für WLAN-Betreiber geht.

Da lese ich: „Gerade für Menschen mit geringem
Einkommen sind beide Zugangswege“ – gemeint sind
kabel- und funkbasierte Internetanschlüsse – „jedoch
nur schwer zu finanzieren. Es bedarf kaum der näheren
Erörterung, warum bei einem monatlichen Regelsatz
von derzeit 374 Euro zzgl. Kosten der Unterbringung 10
bis 20 Euro für einen DSL-Zugang ganz erheblich ins
Gewicht fallen.“ Ich lese davon, dass „nicht hinreichend
verfügbare Internetzugänge … die … Abhängigkeit der
individuellen Bildungschancen vom sozialen Status der
Eltern“ verschärfen, ich lese von einer „Frage der so-
zialen Gerechtigkeit“ und davon, dass „ein Computer
zum soziokulturellen Existenzminimum gehört“. Ich jeden-
falls will hier und heute keine linke Sozialdebatte à la
Linke führen, sondern mich der Haftungsfrage für
WLAN-Betreiber widmen.

Die grundlegende Frage, die sowohl in dem SPD-An-
trag als auch in dem Gesetzentwurf der Linken gestellt

wird, hat im digitalen Zeitalter – auch vor dem Hinter-
grund der bisherigen Rechtsprechung – durchaus seine
Berechtigung, nämlich die Frage: Müssen private und
kleingewerbliche WLAN-Anbieter wie Cafés dafür haf-
ten, wenn dritte Nutzer sich in ihrem Netz illegal verhal-
ten, wenn solche Nutzer zum Beispiel illegal Musik oder
Videos downloaden und damit gegen das Urheberrecht
verstoßen? Warum sollte ein Kneipenwirt dafür belangt
werden können, wenn ein Internetpirat in seinem
WLAN-Netz Beute macht? Warum sollte der Kneipen-
wirt dafür kostenpflichtig abgemahnt werden und dafür
schließlich auch noch kräftig Schadensersatz gegenüber
dem geschädigten Rechteinhaber zahlen? Dass ein sol-
cher Fall bei einem betroffenen gewerblichen WLAN-
Betreiber nicht gerade ein Anreiz ist, das Netz weiterhin
anzubieten, und dass infolge solcher Vorkommnisse viel-
leicht der öffentlich zugängliche WLAN-Ausbau in
Deutschland ins Stocken geraten könnte, vermag auf den
ersten Blick denkbar zu sein. Schließlich ist die flächen-
deckende Versorgung von Kommunen und Städten mit
frei zugänglichem Internet, wie sie jetzt zum Beispiel
Kabel Deutschland und die Wall AG in Berlin mit der
Einrichtung von Hotspots realisieren, auch ein interes-
santes Geschäftsmodell für die Telekommunikations-
wirtschaft und macht Städte und Gemeinden für Besu-
cher und Gäste attraktiver.

Nun sieht die Lösung der hellroten und der dunkelro-
ten Genossen zunächst relativ einfach aus: Man erwei-
tert einfach im Telemediengesetz den in § 8 definierten
Kreis von Diensteanbietern, die von der Haftungspflicht
ausgeschlossen sind – das sind im Wesentlichen die Ac-
countbetreiber –, um die WLAN-Betreiber, ob gewerb-
liche oder private. Zusätzlich sollen WLAN-Betreiber
von der sogenannten Störerhaftung ausgenommen wer-
den; das heißt, geschädigte Rechteinhaber, zum Beispiel
Musikverlage, sollen gegenüber dem Betreiber keinen
Anspruch auf Unterlassung mehr haben. Das ist die eine
Seite. Wie aber stehen dann die Rechteinhaber da, deren
geistiges Eigentum dem zwar immer noch illegalen, fak-
tisch aber beliebigen Zugriff von Nutzern schutzlos aus-
geliefert wäre? Denn wo keine Haftung, da kein durch-
setzbarer Schadensersatzanspruch. Diese Regelung
würde bedeuten, dass Vergehen im Netz – seien sie zivil-
rechtlicher oder strafrechtlicher Art – erstens überhaupt
nicht mehr zurückverfolgt werden könnten und zweitens
nicht mehr geahndet werden könnten. Nach derzeitiger
Rechtslage kann wenigstens der Account des WLAN-Be-
treibers über dessen IP-Adresse zurückverfolgt werden,
die diesem Betreiber eindeutig zuzuordnen ist. Dies ist
bei den verschiedenen Nutzern, die sich mit dynami-
schen IP-Adressen in das WLAN-Netz einklinken, so nicht
möglich. Denn sie sind nur während ihres Aufenthalts im
Netz über ihre MAC-Adresse identifizierbar. Mit dieser
gerätebezogenen Adresse lässt sich die Aktivität des
Users nur nachweisen, während er noch im Netz ist.
Man müsste ihn also noch in flagranti beim illegalen
Download erwischen, um ihm ein Vergehen zum Beispiel
gegen das Urheberrecht nachweisen zu können.

Selbst wenn es technisch möglich wäre, die einzelnen
Nutzer im Nachhinein zu identifizieren – das heißt, wann
welcher Nutzer welche Aktivität im Internet vorge-

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Georg Nüßlein


(A) (C)



(D)(B)


nommen hat –, wäre dies aus datenschutzrechtlichen
Gründen verboten. Dafür müsste der WLAN-Betreiber
sozusagen auf Verdacht für alle Nutzer regelrechte Da-
tenbanken mit Personendaten anlegen und speichern.
Das Telekommunikationsgesetz untersagt jedoch – zu
Recht – die Erhebung nicht erforderlicher Daten. Da-
rauf hat auch das Landgericht München in seinem Urteil
vom 12. Januar 2012 (Aktenzeichen 17 HK O 1398/11)

abgestellt.

In Ihrem Gesetzentwurf verteufeln Sie, geschätzte
Linkskollegen, dass „Betreiber/innen von drahtlosen
Netzwerken … die Mit-Nutzung ihrer Netze in aller Re-
gel durch Verschlüsselungsverfahren unmöglich“ ma-
chen. Die Betreiber versuchten, „ihre Netze so gut als
möglich abzuriegeln“. Ja, was sind das doch für böse
Menschen! Gar nicht so sozial wie die guten Linken, die
ja alles für alle öffnen wollen! Schlimm, so was! Ich
weiß nicht, ob Sie, Frau Wawzyniak, Sie, Herr Korte,
Sie, Frau Jelpke, oder Sie, Frau Pau, Ihr privates
WLAN-Netz zu Hause einfach so von Ihren Nachbarn
oder sonstigen Personen mitnutzen lassen wollen. Das
sehe ich jedenfalls schon mal aus ökonomischen Grün-
den nicht ein – soll sich der Nachbar doch einen eigenen
Zugang besorgen –, aber vor allem aus Sicherheits- und,
ja, aus Haftungsgründen.

Es ist schon heute so, dass „auch privaten Anschluss-
inhabern ... aber eine Pflicht“ obliegt, „zu prüfen, ob ihr
WLAN-Anschluss durch angemessene Sicherungsmaß-
nahmen vor der Gefahr geschützt ist, von unberechtigten
Dritten zur Begehung von Urheberrechtsverletzungen
missbraucht zu werden.“ Zwar muss der private Betrei-
ber eines WLAN-Netzes seine Netzwerksicherheit nicht
ständig auf dem neuesten Stand der Technik halten.
„Ihre Prüfpflicht bezieht sich daher auf die Einhaltung
der im Zeitpunkt der Installation des Routers für den
privaten Bereich marktüblichen Sicherungen“. So hat
der Bundesgerichtshof in seinem Urteil vom 12. Mai

(Aktenzeichen I ZR 121/08 – Sommer unseres Lebens)


In diesem Verfahren ging es um einen WLAN-Betrei-
ber, der sein WLAN nicht durch ein Passwort geschützt
hatte und damit seine Prüfpflicht im gerade zitierten
Sinne verletzt hatte. Der BGH hat hier angenommen,
dass der Beklagte – also der WLAN-Betreiber – „nach den
Rechtsgrundsätzen der sogenannten Störerhaftung auf
Unterlassung und auf Erstattung der Abmahnkosten“
– das sind nach geltendem Recht maximal 100 Euro –
haftet. Der BGH weiter: „Diese Haftung besteht schon
nach der ersten über seinen WLAN-Anschluss begange-
nen Urheberrechtsverletzung. Hingegen ist der Beklagte
nicht zum Schadensersatz verpflichtet. Eine Haftung als
Täter einer Urheberrechtsverletzung hat der Bundesge-
richtshof verneint, weil nicht der Beklagte“ – also der
WLAN-Betreiber – „den fraglichen Musiktitel im Inter-
net zugänglich gemacht hat. Eine Haftung als Gehilfe
bei der fremden Urheberrechtsverletzung hätte Vorsatz
vorausgesetzt, an dem es im Streitfall fehlte“, so der
BGH.

Die Rechteinhaber zum Beispiel von Musiktiteln oder
Filmen haben also gegenüber WLAN-Betreibern unter

bestimmten Voraussetzungen einen Rechtsanspruch auf
Unterlassung. Das ist die heißdiskutierte Störerhaftung
des WLAN-Betreibers bei rechtswidrigen Handlungen
Dritter. Wenn man den Rechteinhabern nach dem Willen
der heute parlamentarisch vereinigten Linksfront diesen
bereits eingeschränkten Rechtsanspruch nimmt, werden
die WLAN-Betreiber auf Kosten der Rechteinhaber besser-
gestellt. Die bleiben nämlich auf ihrem Schaden sitzen.
Das kann es ja auch nicht sein.

Jetzt folgert die Linke daraus: „Im Ergebnis führt ins-
besondere die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs
dazu, dass Funknetzwerke verschlüsselt werden und für
die kostenfreie Mitnutzung nicht zur Verfügung stehen.“
Dabei gäbe es „eine Reihe guter Gründe … ihre Netze
zur Mitnutzung zu öffnen“, unter anderem: „Private
könnten ihre Netze insbesondere aus sozialen Motiven
heraus öffnen, um insbesondere sozial benachteiligten
Menschen den Zugang zum Internet zu ermöglichen.“

Wenn ich zwischen diesem Mutter-Teresa-Motiv 2.0
einerseits und den Risiken und Sicherheitsbedenken bei
unverschlüsseltem WLAN-Netz andererseits abzuwägen
hätte, wüsste ich schnell, dass ich mein Netz verschlüs-
sele. Es geht bei privaten WLAN-Anbietern letztendlich
auch um Verantwortung: Will ich mein Netz für alle öff-
nen, muss dann aber auch mit den eventuellen negativen
Konsequenzen leben, oder sorge ich von vorneherein für
Einschränkungen für Dritte, damit aber auch für meinen
eigenen Schutz? Das muss letztlich jeder Einzelne für
sich entscheiden.

Ich denke, die wesentliche Problematik ist in dieser
Debatte klargeworden: hier Haftungsbürde bei unver-
schuldet schuldigen WLAN-Betreibern, da Anspruch von
Inhabern geistigen Eigentums im Netz auf Entschädi-
gung im Missbrauchsfall. Die Entscheidung, ob und in
welchem rechtlichen Rahmen wir hier tätig werden müs-
sen, sollte nicht übers Knie gebrochen werden. Gründ-
lichkeit geht bei solchen Haftungsfragen klar vor
Schnelligkeit. Ob und wie das im Telemediengesetz gere-
gelt werden muss, prüfen wir in nächster Zeit ausführ-
lich. Hoppla hopp nach dem Willen von Sozialdemokraten
und Sozialisten ist sicherlich die falsche Entscheidung.
Wir wollen ja nicht für etwas haftbar gemacht werden,
was uns und den Betroffenen früher oder später auf die
Füße fallen kann, nicht wahr?


Lars Klingbeil (SPD):
Rede ID: ID1720140500

Auf Initiative des Senates von Berlin und des Senates

der Freien und Hansestadt Hamburg hat der Bundesrat
am 12. Oktober 2012 die Bundesregierung einstimmig
aufgefordert, zu prüfen, wie das Potenzial von öffentli-
chen WLAN-Netzen stärker nutzbar gemacht und wie
das Haftungsrisiko für WLAN-Betreiber beschränkt
werden kann, beispielsweise indem klargestellt wird,
dass sich die Haftungsbeschränkung für Access Provi-
der gemäß § 8 TMG auch auf WLAN-Betreiber erstreckt.

Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt die Initiative
der beiden Stadtstaaten und des Bundesrates und fordert
die Bundesregierung auf, diese schnellstmöglich aufzu-
greifen und umzusetzen. Es ist nicht länger hinnehmbar,
dass das Potenzial von WLAN-Netzen für den Netzzu-

Zu Protokoll gegebene Reden





Lars Klingbeil


(A) (C)



(D)(B)


gang im öffentlichen Raum aufgrund der bestehenden
Haftungsrisiken brachliegt. Drahtlose lokale Netzwerke
sind ein wichtiger Bestandteil der digitalen Infrastruk-
tur, und diese können – insbesondere in Städten und Bal-
lungsräumen, aber auch in öffentlichen Räumen – einen
Zugang zum Internet eröffnen und so die öffentlichen
Räume im Netz sicherstellen. Es muss endlich eine
Selbstverständlichkeit werden, dass in öffentlichen Ein-
richtungen wie Ämtern, Bibliotheken, Universitäten oder
Schulen sowie im öffentlichen Personenverkehr auch ein
öffentlicher Zugang zum Netz möglich ist. Zu erkennen
sind darüber hinaus auch die Potenziale von WLAN-Net-
zen, die ebenso brachliegen, weil Privatpersonen, Haus-
und Wohngemeinschaften, Familien, Nachbarschaftsini-
tiativen oder auch kleinere Vereine aufgrund der derzei-
tigen Rechtsprechung daran gehindert sind, ihre Inter-
netzugänge mit anderen zu teilen. Damit wird digitale
Teilhabe gerade auch für sozial-schwache Schichten un-
nötig erschwert.

Hauptgrund des Stagnierens des Ausbaus von WLAN-
Zugängen ist die derzeit bestehende Rechtsunsicherheit.
Die Rechtsprechung hat hohe Hürden für das Betreiben
privater WLAN-Zugänge aufgestellt, die letztlich dazu
führen, dass es keine oder nur sehr wenige private offene
Netze gibt. Aber auch bei den gewerblichen Anbietern,
etwa im Hotel- und Gaststättenbereich, stellt der Betrieb
von frei und allgemein zugänglichen Funknetzen ein be-
trächtliches Risiko dar. Anders als bei den Access Provi-
dern ist die Frage der Haftung bei diesen gewerblichen
Anbietern oftmals unklar, da es sich nicht um klassische
Telekommunikationsdienstleister handelt und daher
nicht abschließend geklärt ist, ob und inwieweit sie sich
auf die Haftungsregelungen des Telemediengesetzes be-
rufen können und ob und in welchem Umfang von ihnen
auch unter dem Gesichtspunkt der von den Gerichten
insbesondere bei Urheberrechtsverletzungen angenom-
menen Störerhaftung Schutzmaßnahmen verlangt wer-
den.

Vor diesem Hintergrund ist zu begrüßen, dass auch
die Justizministerkonferenz auf ihrer Frühjahrskonfe-
renz vom 13. und 14. Juni 2012 das Bundesministerium
der Justiz gebeten hat, sich dieser Problematik anzuneh-
men und die sogenannte Störerhaftung für Inhaber von
offenen WLAN-Access-Points und mobilen Internetzu-
gängen einer Überprüfung zu unterziehen. Gleichzeitig
soll mit einer entsprechenden Neuregelung „ein Beitrag
gegen den Abmahnmissbrauch geleistet werden“.

Die Fraktion Die Linke hat sich die Mühe gemacht
und den Gesetzentwurf des Vereins Digitale Gesellschaft
zur Änderung des Telemediengesetzes eingebracht.
Auch dieser Vorschlag zielt in die gleiche Richtung. Die
Fraktion der Grünen hat ebenfalls eine Initiative zur
Haftungsbegrenzung für WLAN-Betreiber angekündigt.
Wenn man sich das Abstimmungsergebnis im Bundesrat
und die heute vorliegenden Initiativen anschaut, dann
wäre dies doch ein bedeutendes Thema, welches die
Netzpolitikerinnen und Netzpolitiker in Abstimmung mit
den Wirtschafts- und Rechtspolitikerinnen und -politi-
kern aller Fraktionen vielleicht auch als interfraktio-
nelle Initiative auf den Weg bringen könnten.

Im Grunde verfolgen alle drei Initiativen das gleiche
Ziel, und es ist zu begrüßen, dass wir uns offensichtlich
fraktionsübergreifend einig sind, dass hier dringender
Handlungsbedarf besteht. Von daher bin ich zuversicht-
lich, dass wir auch gemeinsam Wege finden können, um
dieses Ziel zu erreichen. Das zeigt aber eben auch, dass
die Bundesregierung hier – wie in vielen anderen Berei-
chen der Netzpolitik – ihre Hausaufgaben nicht gemacht
hat. Mit großem Getöse werden immer wieder Gesetzge-
bungsvorhaben angekündigt, denen aber nie irgendwel-
che konkreten Initiativen folgen. Unmittelbar nach der
Regierungsübernahme sollte der Dritte Korb zur Novel-
lierung des Urheberrechtes vorgelegt werden, um das
Urheberrecht weiter an die Herausforderungen der digi-
talen Gesellschaft anzupassen. Ergebnis: Fehlanzeige.
Das Bundesjustizministerium hat mehrfach angekündigt,
endlich die Initiative gegen den Abmahnmissbrauch zu
ergreifen. Ergebnis: Fehlanzeige. Das Bundesinnen-
ministerium hat angekündigt, endlich Regelungen vorzu-
legen, um das Recht auf informationelle Selbstbestim-
mung und den Persönlichkeitsschutz auch im Internet zu
wahren. Ergebnis: Fehlanzeige. In ihrem Koalitionsver-
trag haben die Regierungsparteien auch vereinbart, dass
sie „die Regelungen zur Verantwortlichkeit im Teleme-
diengesetz fortentwickeln“ werden und dass es auch zu-
künftig darum gehe, „einen fairen Ausgleich der berech-
tigten Interessen der Diensteanbieter, der Rechteinhaber
und der Verbraucher zu gewährleisten“. Wenig überra-
schendes Ergebnis: Fehlanzeige.

Die Bundesregierung ist daher aufgefordert, hier
endlich – unter Einbeziehung aller Fraktionen des Deut-
schen Bundestages und auch der Zivilgesellschaft – tätig
zu werden. Natürlich werden wir uns über den Weg und
die Instrumente streiten, beispielsweise ob es ausreicht,
klarzustellen, dass sich die Haftungsbeschränkung für
Access Provider gemäß § 8 TMG auch auf WLAN-Be-
treiber erstreckt. Es geht auch um die Frage, welche
Verpflichtungen sich für WLAN-Anbieter – gegebenen-
falls muss man zwischen privaten und gewerblichen An-
bietern differenzieren – aus dem Telekommunikations-
recht ergeben. Und natürlich stellt sich auch die Frage,
wie die Rechtsverfolgungsmöglichkeiten und die Funk-
tionsfähigkeit der Strafverfolgung gewahrt werden kön-
nen und wie das mit Augenmaß gelingt.

Hier hilft es aber nicht, wenn – angesichts der Tatsa-
che, dass alle Initiativen das gleiche Ziel verfolgen und
Rechtssicherheit für Betreiber herstellen wollen und das
Haftungsrisiko analog begrenzen wollen – dann mit Un-
terstellungen gearbeitet wird, denen zufolge mit der Ini-
tiative des Bundesrates den „Nutzerinnen und Nutzern
hinterhergeschnüffelt“ werden soll und „technisch sinn-
lose Sperrtechniken“ eingesetzt werden sollen. Aus die-
sem Grund fordern wir in unserem Antrag, dass darüber
hinaus auch in einer für gewerbliche sowie auch für
nichtkommerzielle Angebote handhabbaren Weise klar-
gestellt werden muss, in welchen konkreten Grenzen die
Betreiber offener WLAN-Zugänge Vorkehrungen zur
Wahrung von Datensicherheit, Datenschutz und Kom-
munikationsgeheimnis zu treffen haben. Auch die Betrei-
ber öffentlicher WLAN-Zugänge dürfen ihre Nutzer und
Nutzerinnen und ihr Surf- und Kommunikationsverhal-

Zu Protokoll gegebene Reden





Lars Klingbeil


(A) (C)



(D)(B)


ten nicht überwachen, und genauso wie wir uns – Stich-
wort: Warnhinweise – gegen eine solche flächende-
ckende Überwachung des Datenstroms zur Verfolgung
von Urheberrechtsverletzungen bei den Access Provi-
dern einsetzen, werden wir uns gegen eine solche im Be-
reich der Funknetze einsetzen. Maßnahmen zum Schutz
geistigen Eigentums müssen verhältnismäßig sein. Sie
dürfen die Bürgerinnen und Bürger nicht in ihren
Grundrechten, insbesondere nicht im Recht auf informa-
tionelle Selbstbestimmung und in Bezug auf das Fern-
meldegeheimnis, unverhältnismäßig beschränken. Das
muss auch bei öffentlich zugänglichen Funknetzen gel-
ten. Das bedeutet, dass es auch im Bereich der öffentlich
zugänglichen WLANs kein Deep Packet Inspection, Tra-
cking oder keine Inhaltefilterung geben kann – und ge-
ben darf.

Ich hoffe, dass die Bundesregierung der Aufforderung
des Bundesrates und der Justizministerkonferenz und
natürlich unseres Antrages endlich folgt und eine ent-
sprechende Gesetzesinitiative auf den Weg bringt. Ich
würde es auch sehr begrüßen, wenn wir den großen
Konsens des Bundesrates auch im Bundestag feststellen
könnten und – falls die Bundesregierung weiterhin untä-
tig bleibt – eine entsprechende Initiative aus der Mitte
des Parlamentes auf den Weg bringen könnten.


Jimmy Schulz (FDP):
Rede ID: ID1720140600

Es geht um die erste Beratung des von der Fraktion

Die Linke eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Telemediengesetzes. WLAN-Anschlussin-
haber werden neuerdings mit Klagen überzogen, oft für
Rechtsverstöße, die sie gar nicht begangen haben.
Schuld daran ist die sogenannte Störerhaftung, wonach
die Betreiber eines WLAN auch für Rechtsverstöße Drit-
ter zur Verantwortung gezogen werden können. Eine Ex-
kulpierung ist nur möglich, wenn sie ihr Netz gegen
„fremde Internetnutzung“ schützen oder sicherstellen,
dass der eigentliche Rechtsverletzer statt ihrer verfolgt
werden kann.

Übersetzt bedeutet das: Betreibt jemand ein ungesi-
chertes WLAN und werden aus diesem WLAN Rechts-
verstöße begangen, kann er dafür zur Kasse gebeten
werden. Und diese Verantwortlichkeit trifft ihn immer,
wenn er – egal ob absichtlich oder unabsichtlich – sein
Netz nicht gegen Zugriffe durch Dritte abgesichert hat.
Er kann dann von Rechteinhabern kostenpflichtig aufge-
fordert werden, dass zukünftig aus seinem Netz eben
keine Rechtsverletzungen mehr ausgehen. Die einzige
Lösung für WLAN-Betreiber ist also, dass sie ihr Netz
durch Verschlüsselung gegen den Zugriff Dritter sper-
ren.

Das Anliegen der Rechteinhaber, die Verletzung ihrer
Rechte zu unterbinden, ist völlig verständlich und liegt
in einem Rechtsstaat auch klar auf der Hand. Das Anlie-
gen der Nutzer von WLANs, eben nicht für jeden Rechts-
verstoß teilweise völlig fremder Personen zur Verant-
wortung gezogen zu werden, ist auch verständlich. Hier
muss ein Ausgleich der Interessen möglich sein; denn
wir sprechen hier nicht nur von Privatpersonen, die
WLANs für ihre Familie bereitstellen, wir sprechen auch

über Netze, die von Hausgemeinschaften genutzt wer-
den, oder auch von Cafébesitzern, die als Teil ihres
Geschäftsmodells WLANs für ihre Gäste anbieten. Eines
haben alle gemeinsam: Sie können kaum kontrollieren,
wer sich in ihrem WLAN befindet, und werden dann spä-
ter zur Kasse gebeten.

Nun mag man zuerst denken, dass das vom Bundesge-
richtshof eingeführte Rechtsinstitut der Störerhaftung
nur eine Lücke schließt und Rechteinhabern verhilft, zu
ihrem Recht zu kommen. Es ist aber anders: Es zeigt ei-
nen eklatanten Mangel im aktuellen System; denn
anonymes Surfen wird mit dieser Rechtsfigur praktisch
unmöglich gemacht, wenn sich der Anschlussinhaber
nicht horrenden Forderungen der Rechteinhaber gegen-
über sehen möchte.

All diese Probleme lösen die vorliegenden Entwürfe
der Oppositionsfraktionen von SPD und Linken jedoch
bei weitem nicht. Ganz im Gegenteil: Sie werfen sogar
neue Fragen auf und zeigen so, dass hier nur einem
schnellen Trend gefolgt werden soll, anstatt durchdachte
Lösungen zu präsentieren. Die Anträge sind daher abzu-
lehnen.

Die aktuelle Rechtslage muss an die geänderten
Nutzungsgewohnheiten angepasst werden. Gleichzeitig
muss sichergestellt werden, dass anonyme Internet-
nutzung noch möglich ist.

Klar ist für uns auf jeden Fall: Die Verpflichtung,
dass alle Nutzer des WLAN registriert werden müssen,
lehnen wir ab, da dies das Ende der Anonymität im
Internet bedeuten würde und das Fernmeldegeheimnis
und die Meinungsfreiheit erheblich einschränkt würden.
Keiner der Anträge stellt dies zu unserer Zufriedenheit
klar! Das ist es, was wir erreichen wollen.

Um sich keiner echten inhaltlichen Debatte stellen zu
müssen, hat sich der Antrag der SPD vorsichtshalber
nur auf Allgemeinposten bezogen, ohne konkrete Vor-
schläge zu machen. Dass die SPD mit Netzpolitik und
Bürgerrechten eh nichts am Hut hat, hat sie auch gerade
wieder im gestern erfolglos abgelaufenen Mitglieder-
begehren „Sozis gegen die Vorratsdatenspeicherung“
gezeigt. Es stellt sich daher die Frage, ob die SPD hier
nur versucht, ihre nicht existente netzpolitische Kompe-
tenz einmal wieder unter Beweis zu stellen, oder ob ein-
fach nur Aktionismus gezeigt werden soll.

In ihrem altruistischen Antrag hat die Linke zwar
konkrete Änderungsvorschläge für das Telemedien-
gesetz von der Digitalen Gesellschaft e. V. abgeschrie-
ben, aber sie offensichtlich nicht den Pferdefuß daran
gesehen; denn welche Verpflichtungen Betreiber eines
WLAN nach dem Telekommunikationsgesetz und dem
Telemediengesetz haben, wenn wir sie einfach unter die
Privilegierung für Provider stellen, und wie diese ge-
handelt werden sollen, wird in dem Antrag nicht klar.

Wenn ein WLAN-Betreiber – wie im Vorschlag der
Linken – mit einem Diensteanbieter gleichgestellt wird,
stellt sich die Frage, ob er dann auch dessen Pflichten,
die sich aus § 13 TMG ergeben, übernehmen muss. Und
auch im Telekommunikationsgesetz finden sich zahlrei-
che Speicher- und Auskunftspflichten für Diensteanbie-

Zu Protokoll gegebene Reden





Jimmy Schulz


(A) (C)



(D)(B)


ter, denen dann auch die privaten WLAN-Betreiber un-
terliegen könnten. Solche Kollateralschäden können nur
auftreten, wenn Vorschläge nicht zu Ende gedacht wer-
den, und das darf uns im Sinne der Verbraucher nicht
passieren!

Dies alles muss geklärt werden, um sicherzustellen,
dass anonymes Surfen möglich ist, das den WLAN-
Betreibern aber auch nicht zu viele Pflichten auferlegt.
Und so kann das Ansinnen, Internet von allen für alle
zur Verfügung zu stellen, ganz schnell nach hinten losge-
hen. Ich plädiere daher dafür, die vorliegenden Anträge
abzulehnen.

Stattdessen müssen wir eine breit angelegte Debatte
führen und dürfen nicht nur die Verantwortung immer
wieder auf andere schieben. Schnellschüsse bringen uns
hier nicht weiter! Die Opposition tut gut daran, sich mit
durchdachten Vorschlägen in die Debatte einzubringen,
anstatt populistische Forderungen aufzustellen.


Halina Wawzyniak (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1720140700

Die SPD hat einen Antrag vorgelegt, in dem sie die

Bundesregierung dazu auffordert, die in § 8 des Teleme-
diengesetzes geregelte Haftungsfreistellung für Zu-
gangsanbieter auch auf WLAN-Betreiber auszuweiten.
Damit wiederholt sie im Großen und Ganzen das, was
der Bundesrat am 12. September 2012 bereits der Bun-
desregierung aufgegeben hat. Wir halten nichts davon,
bereits erteilte Prüfaufträge zu wiederholen. Wir sind
wieder einmal einen Schritt weiter und bringen einen
Gesetzentwurf ein, der die bekannten Probleme nicht
prüft, sondern löst.

Was ist eigentlich das Problem? Das Problem ist die
sogenannte Störerhaftung. Konkret bedeutet das: Wer
sein WLAN nicht oder nur unzureichend schützt und da-
mit für jede Person in der Nähe zugänglich macht, kann
zur Verantwortung gezogen werden, wenn diese Person
bei der Verwendung des Internetzugangs eine Straftat
begeht. Wenn ich also meiner Nachbarin mein WLAN
zur Verfügung stellen möchte, weil diese sich keinen
Internetzugang leisten kann, werde ich dafür zur Verant-
wortung gezogen, wenn sie sich illegal Musik oder
Filme aus dem Netz herunterlädt. Die Absurdität dieser
Regelung muss man sich einmal vor Augen führen. Das
wäre so, als wenn ich ein Restaurant betreibe und nach
einer Prügelei für die an den beteiligten Personen ent-
standenen Schäden zur Verantwortung gezogen werden
würde. Trotz dieser offenkundigen Absurdität wurde
diese Regelung von der Rechtsprechung bestätigt. Das
hat weitreichende Folgen. So gehen Bibliotheken, Cafés,
Kommunen oder private Personen ein großes Risiko ein,
wenn sie ihre WLANs bereitstellen. Im Zweifel werden
sie darauf verzichten, dieses Risiko einzugehen. Gerade
für Kommunen, die die Idee öffentlicher Freifunknetze
unterstützen, ist dies ein zentraler Hinderungsgrund.

Die Vorteile offener WLANs liegen auf der Hand.
Gewerbetreibende hätten zum Beispiel die Möglichkeit,
ihren Kunden einen weiteren Service anzubieten. Vor al-
lem aus sozialen Gesichtspunkten sind offene WLANs
sinnvoll. Menschen mit geringem Einkommen, die sich
keinen Internetanschluss leisten können, hätten so die

Möglichkeit, das Internet kostenlos zu nutzen. Nach dem

(N Bevölkerung mit einem Einkommen von weniger als 1 000 Euro pro Monat das Internet, bei der Bevölkerungsgruppe mit einem Einkommen bis 2 000 Euro sind es nur 66 Prozent. Das wirkt sich besonders auf die Bildungschancen von Kindern aus; denn Kinder ohne Internetzugang sind von online und kostenfrei verfügbarem Wissen abgeschnitten. Offene WLANs können also einen Beitrag dazu leisten, die zunehmende digitale Spaltung der Gesellschaft zu verringern. Auf Basis eines Gesetzentwurfes, den die Digitale Gesellschaft e. V. allen Fraktionen zur Verfügung gestellt hat, schlagen wir als Lösung vor, die im § 8 des Telemediengesetzes geregelte Haftungsfreistellung auch auf gewerbliche und nichtgewerbliche Betreiber von WLANs auszuweiten. § 8 des Telemediengesetzes regelt, dass Internetanbieter nicht für fremde Informationen, die sie im Internet übermitteln oder zu denen sie den Zugang zur Nutzung vermitteln, verantwortlich sind. Die Anbieter können also nicht dafür zur Verantwortung gezogen werden, wenn eine Nutzerin oder ein Nutzer mit dem von ihnen zur Verfügung gestellten Internetanschluss eine Straftat begeht. Offensichtlich sah also auch der Gesetzgeber ein Problem darin, jemanden für Straftaten verantwortlich zu machen, die sie oder er nicht begangen hat. Bisher ist § 8 des Telemediengesetzes aber besonders auf große kommerzielle Internetanbieter zugeschnitten. Es ist nicht nachvollziehbar, warum die Haftungsfreistellung nur für diese gelten soll, nicht aber für lokale oder private, die ein WLAN nicht kommerziell oder nur als begleitenden Service anbieten. Aus diesem Grund bezieht unser Gesetzentwurf letztere ausdrücklich mit ein. Unser Gesetzentwurf tut dabei zwei Dinge. Zum einen stellt er klar, dass auch Betreiber von WLANs als Diensteanbieter im Sinne des § 8 des Telemediengesetzes gelten und damit die dort aufgeführten Regelungen ebenfalls für sie gelten. Dabei ist egal, ob sie den Zugang absichtlich oder aufgrund unzureichender Sicherungsmaßnahmen fahrlässig anbieten. Zum anderen geht der Gesetzentwurf das bereits ausgeführte Problem der Störerhaftung an, indem er die Haftungsfreistellung auch für Ansprüche auf Unterlassung ausweitet. Bisher ist nämlich unklar, ob die Haftungsfreistellung auch Unterlassungsansprüche ausschließt. Das sind Fälle, in denen der Anbieter eines WLAN dafür zur Verantwortung gezogen werden kann, was ein Nutzer mit dem Zugang zum WLAN anstellt. Um hier die dringend notwendige Rechtssicherheit zu schaffen, schlagen wir vor, Unterlassungsansprüche gegen Anbieter von WLANs ausdrücklich auszuschließen. Kurz und gut: Unser Gesetzentwurf würde die dringend benötigte Rechtssicherheit für Anbieter offener WLANs schaffen. Außerdem beseitigen wir das absurde Risiko, wegen Straftaten, die andere begehen, haftbar gemacht zu werden, auch für Anbieter offener WLANs. Damit würden die gesetzlichen Grundlagen geschaffen, die einen umfassenden Aufbau eines offenen WLANNetzes ermöglichen. Wir täten deshalb gut daran, nicht unnötig Zeit mit irgendwelchen Prüfaufträgen zu ver Zu Protokoll gegebene Reden Halina Wawzyniak plempern, sondern die Rechtssicherheit endlich herzustellen, am besten auf Basis unseres Gesetzentwurfes. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)





(A) (C)


(D)(B)


In seinem „Sommer unseres Lebens“-Urteil aus dem
Mai 2010 vertritt der Bundesgerichtshof die Meinung,
dass der Betrieb eines offenen WLAN grundsätzlich eine
Gefahrenquelle (für Rechtsverletzungen durch Dritte)

darstellt, und legt demjenigen, der ein WLAN in Betrieb
nimmt, gewisse Pflichten zu dessen Sicherung auf, um so
Rechtsverstöße zu vermeiden. Unterbleiben die gefor-
derten Sicherungsmaßnahmen, greift die sogenannte
Störerhaftung. Und weil das für die Praxis und den
Alltag der Menschen viele Probleme aufwirft, diskutie-
ren wir seit dem Urteil die Frage, inwieweit die Privile-
gierung für WLAN-Betreiber aus dem Telemediengesetz
Anwendung finden muss.

Kritiker des Urteils verweisen darauf, dass der BGH
sich nicht mit dem einschlägigen Paragrafen des TMG,
§ 8, beschäftigt hat. Die Ausblendung der im TMG vor-
gesehenen Privilegierung sei vor allem deswegen nicht
nachvollziehbar, da es sich im Zuge der Bereitstellung
eines WLAN lediglich um eine Durchleitung, nicht aber
die Speicherung von Informationen bzw. Daten Dritter
handle. Somit könne der Betreiber eines WLAN durch-
aus als Access Provider angesehen werden, weshalb
sich der BGH zwingend mit der Vorschrift des § 8 TMG
hätte beschäftigen müssen. Durch dieses Versäumnis sei
ein ursprünglich weder im TMG noch in der E-Com-
merce-Richtlinie der EU vorgesehenes Ungleichgewicht
zwischen gewerblichen und privaten Anbietern im Ver-
gleich zu kommerziellen Internetprovidern entstanden.
Man kann diesen Kritikern und dieser Argumentation
nur recht geben.

Das „Sommer unseres Lebens“-Urteil hat zu einer
erheblichen Rechtsunsicherheit bei den Betreibern öf-
fentlicher WLAN-Netzwerke geführt. Als direkte Folge
des Richterspruchs schränkten zahlreiche private Anbie-
ter und Gewerbetreibende ihre Angebote entweder stark
ein oder stellten diese komplett ein. Um es Internetcafés,
Hotels, aber zum Beispiel auch der Freifunkgemeinde zu
erlauben, anderen Personen auch weiterhin Zugang zu
WLAN-Netzwerken anzubieten, erscheint es dringend
angeraten, die durch das Urteil hervorgerufene Rechts-
unsicherheit zu beheben und die ursprünglich vorgese-
hene Gleichbehandlung von gewerblichen und privaten
Anbietern mit kommerziellen Internetprovidern wieder
herzustellen.

Das hat offenbar auch die Justizministerkonferenz
erkannt, die die Bundesregierung bereits im Juni dieses
Jahres aufforderte, hier für Rechtsklarheit zu sorgen.
Auch der Bundesrat hat sich vor kurzem dafür ausge-
sprochen und die Bundesregierung aufgefordert, zu
prüfen, inwiefern die geltende Gesetzeslage präzisiert
werden kann, um so das Potenzial vorhandener WLAN-
Netze stärker gesellschaftlich nutzbar machen zu
können. So fordert der Bundesrat die Bundesregierung
ausdrücklich auf, zu prüfen, inwieweit das Haftungsri-
siko für WLAN-Betreiber beschränkt werden kann, zum

Beispiel indem die Haftungsbeschränkung für Access
Provider gemäß § 8 TMG auf andere WLAN-Betreiber
erstreckt wird. Dies wäre ein richtiger Schritt und ist
ausdrücklich zu begrüßen.

Gleichzeitig wird die Bundesregierung in dieser
Initiative „zwecks Erhöhung der Rechtssicherheit und
unter Einbeziehung von Zumutbarkeitskriterien“ aufge-
fordert, „Schutzmaßnahmen, die die Betreiber von
WLAN-Netzen zur Vermeidung ihrer Verantwortlichkeit
für unbefugte Nutzung durch Dritte“ zu ergreifen haben,
so „zu konkretisieren, dass Betreiber bei Erfüllung
dieser Anforderungen ihre WLANs ohne Haftungs- und
Abmahnungsrisiken betreiben können“. Was genau
unter „technischen Maßnahmen“ oder „Zumutbarkeits-
kriterien“ zu verstehen ist, bleibt indes leider unklar.

Sosehr wir die Intention der Initiative einer Erhöhung
der Rechtssicherheit für Anbieter von WLAN-Netzwer-
ken begrüßen, so fraglich ist, ob den Verfassern die mög-
lichen Auswirkungen ihrer Formulierungen bei einer
– ob nun bewusst oder unbewusst – falschen Auslegung
im Klaren sind. Hierdurch, aber auch durch die vage
Formulierung von Prüfbitten in Richtung der Bundesre-
gierung erscheint zumindest fraglich, ob die Initiative
trotz ihrer richtigen Intention letztendlich ihr eigentli-
ches Ziel, einen Beitrag zur Verminderung der Rechts-
unsicherheit für private und gewerbliche Betreiber von
WLAN-Netzen und einen verbesserten Zugang für Dritte
zu leisten, tatsächlich zu ermöglichen imstande ist.

Auch halten wir eine weitere Aufforderung in Rich-
tung Bundesregierung nur für bedingt geeignet, das an-
gestrebte Ziel auch tatsächlich zu verwirklichen; denn
„aufgefordert“ wird die Bundesregierung schon lange,
was sie nicht davon abgehalten hat, diese Aufforderung
schlichtweg nicht umzusetzen. Der Meinung, dass es
nicht schaden kann, sich in die Schlange derjenigen ein-
zureihen, die die Bundesregierung auffordern, einen
Vorschlag zur gesetzlichen Klarstellung vorzulegen und
so für Rechtsklarheit zu sorgen, ist offenbar nun auch
die SPD, die heute noch einmal einen entsprechenden
Antrag vorgelegt hat.

Wie gesagt, wir hätten uns gewünscht, dieses für ei-
nen besseren Zugang zum wichtigsten Kommunikations-
raum unserer Zeit so wichtige Thema im Rahmen einer
tatsächlichen Debatte auf einem attraktiven Tagesord-
nungsplatz zu führen. Darüber hinaus hätten wir es als
zielführender erachtet, hier heute über einen ganz kon-
kreten Vorschlag zu debattieren.

Andererseits können wir das Ansinnen der SPD und
ihren Versuch, die Bundesregierung mit ihrem heutigen
Antrag doch noch zum Handeln zu bewegen, durchaus
nachvollziehen: So hat zwar die Bundesjustizministerin
im September dieses Jahres, also noch vor dem Be-
schluss des Bundesrats, im Rahmen des „Zukunftsfo-
rums Urheberrecht“ in Berlin angekündigt, tatsächlich
das Ansinnen der Justizministerinnen und Justizminister
aufzugreifen und prüfen zu wollen, welche Möglichkei-
ten bestehen, ein eventuell bestehendes Ungleichgewicht
bei der Störerhaftung für WLAN-Betreiber auszuglei-
chen. Geschehen ist bislang jedoch nichts. Während die
schwarz-gelbe Bundesregierung ansonsten gerne einmal

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Konstantin von Notz


(A) (C)



(D)(B)


Referentenentwürfe vorlegt, um anschließend zuzu-
schauen, wie diese im monatelangen Klein-Klein zwi-
schen den Ministerien Stück für Stück zerrieben werden,
wagt man im Bereich der Störerhaftung bei WLANs
scheinbar noch nicht einmal die Vorlage eines solchen
ersten Entwurfs. Vor diesem Hintergrund und aufgrund
des bisherigen Totalausfalls der Bundesregierung im
Bereich des Urheberrechts sowie wegen der Erfahrun-
gen bezüglich des bescheidenen Versuchs der Bundes-
justizministerin, das Abmahnunwesen in Deutschland
endlich einzudämmen, ist auch vor dem Hintergrund
ganz erheblicher konservativer Beharrkräfte in dem Be-
reich insgesamt heute bereits mehr als fraglich, ob eine
solche Initiative tatsächlich in dieser Legislatur noch
kommt. Es steht zu befürchten, dass hier das nächste
netzpolitische Projekt floppt.

Statt nun nur eine weitere Aufforderung in Richtung
Bundesregierung vorzulegen und sich hierbei auf die bis-
herigen Aufforderungen mit den beschriebenen Schwä-
chen zu beziehen, scheint es angeraten, lieber gleich ei-
nen konkreten Gesetzesvorschlag vorzulegen, der eine
solche rechtliche Klarstellung direkt vornimmt. Dies hat
die Fraktion der Linken heute getan, indem sie eine ent-
sprechende Initiative der Digitalen Gesellschaft e. V.
vom Juni dieses Jahres aufgegriffen hat. Diese Initiative
aus der Mitte der Zivilgesellschaft begrüßen wir aus-
drücklich und finden – das sagen wir hier in aller Deut-
lichkeit – auch nichts Verwerfliches daran, wenn eine
Fraktion des Deutschen Bundestages sich dafür ent-
scheidet, eine solche gute Initiative zu übernehmen und
heute hier einzubringen – im Gegenteil.

Vielmehr begrüßen wir es, dass die Regierungsfrak-
tionen durch die Vorlage eines konkreten Vorschlags
dazu gebracht werden, sich mit diesem für unsere mo-
derne Wissens- und Informationsgesellschaft so wichti-
gen Thema endlich auseinanderzusetzen. Die Hoffnung,
dass auch die Bundesregierung die anschließenden Be-
ratungen zum Anlass nimmt, tatsächlich noch in dieser
Legislatur einen entsprechenden Vorschlag zu unter-
breiten, geben wir indes nicht auf.

Dennoch behalten wir es uns vor, ebenfalls noch ei-
nen eigenen gesetzgeberischen Vorschlag einzubringen.
Dieser soll eine haftungsrechtliche Gleichstellung von
Bürgerinnen und Bürgern und Gewerbetreibenden, die
einen Internet-Zugang via WLAN anbieten, mit kommer-

ziellen Internetprovidern zum Gegenstand haben und
das Ziel verfolgen, es privaten Nutzern, aber auch Be-
treibern von Cafés und Geschäften sowie Freifunkern zu
ermöglichen, ihre Netze anderen Personen zur Verfü-
gung zu stellen, ohne dabei Haftungsrisiken in Kauf neh-
men zu müssen. Dieser Schritt ist überfällig und eine
wichtige Voraussetzung für unseren Weg ins digitale In-
formationszeitalter.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1720140800

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/11145 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, Sie sind
damit einverstanden. Dann haben wir das so beschlos-
sen.

Der Gesetzentwurf auf Drucksache 17/11137 soll an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse über-
wiesen werden. Auch hier ist die Federführung wieder
umstritten. Wie dramatisch! Die Fraktionen der CDU/
CSU und FDP wünschen Federführung beim Ausschuss
für Wirtschaft und Technologie, die Fraktion Die Linke
wünscht Federführung beim Rechtsausschuss.

Ich lasse zuerst über den Linken-Antrag – Federfüh-
rung beim Rechtsausschuss – abstimmen. Wer stimmt
für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen? – Der Vorschlag ist gegen die
Stimmen der Linken von den übrigen Fraktionen des
Hauses abgelehnt.

Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
CDU/CSU und FDP – Federführung beim Wirtschafts-
ausschuss – abstimmen. Wer stimmt für diesen Überwei-
sungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Der Überwei-
sungsvorschlag ist gegen die Stimmen der Linken von
den übrigen Fraktionen des Hauses angenommen.

Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 26. Oktober 2012,
9 Uhr, ein.

Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen eine
ruhige Nacht.