Protokoll:
17198

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 17

  • date_rangeSitzungsnummer: 198

  • date_rangeDatum: 18. Oktober 2012

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 22:03 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 17/198 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 198. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 I n h a l t : Wahl des Herrn Andreas Meitzner als stell- vertretendes Mitglied in den Stiftungsrat der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöh- nung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Absetzung der Tagesordnungspunkte 37 und 41 d . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachträgliche Ausschussüberweisung . . . . . . Tagesordnungspunkt 4: Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin: zum Europäischen Rat am 18./19. Oktober 2012 in Brüssel . . . . . . Dr. Angela Merkel,  Bundeskanzlerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peer Steinbrück (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rainer Brüderle (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Sigmar Gabriel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Hermann Otto Solms (FDP) . . . . . . . . . . . Norbert Barthle (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . Michael Stübgen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 5: a) Antrag der Abgeordneten Willi Brase, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans- Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Jugendliche haben ein Recht auf Ausbildung (Drucksache 17/10116) . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Agnes Alpers, Nicole Gohlke, Dr. Rosemarie Hein, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Perspektiven für 1,5 Millionen junge Menschen ohne Berufsabschluss schaffen – Ausbildung für alle garantie- ren (Drucksache 17/10856) . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Kai Gehring, Brigitte Pothmer, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Mit DualPlus mehr Jugendlichen und Betrieben die Teilnahme an der dualen Ausbildung ermöglichen (Drucksache 17/9586) . . . . . . . . . . . . . . . d) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Berufsbildungsbericht 2012 (Drucksache 17/9700) . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 2: Antrag der Abgeordneten Uwe Schummer, Albert Rupprecht (Weiden), Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeord- neten Heiner Kamp, Dr. Martin Neumann (Lausitz), Sylvia Canel, weiterer Abgeordne- 23807 A 23807 B 23809 C 23809 C 23810 C 23810 D 23818 A 23822 D 23825 A 23828 B 23830 C 23833 B 23835 A 23835 C 23836 A 23837 B 23838 B 23840 A 23841 B 23841 B 23841 B 23841 C Inhaltsverzeichnis II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 ter und der Fraktion der FDP: Das deutsche Berufsbildungssystem – Versicherung ge- gen Jugendarbeitslosigkeit und Fachkräf- temangel (Drucksache 17/10986) . . . . . . . . . . . . . . . . . Willi Brase (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Annette Schavan, Bundesministerin  BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Agnes Alpers (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Heiner Kamp (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Uwe Schummer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Oliver Kaczmarek (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Patrick Meinhardt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Thomas Feist (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU) . . . . Katja Mast (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU) . . . . . . . . . Axel Knoerig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 40: a) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz des Erbrechts und der Verfah- rensbeteiligungsrechte nichtehelicher und einzeladoptierter Kinder im Nach- lassverfahren (Drucksache 17/9427) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes über die Feststellung des Wirt- schaftsplans des ERP-Sondervermögens für das Jahr 2013 (ERP-Wirtschafts- plangesetz 2013) (Drucksache 17/10915) . . . . . . . . . . . . . . . c) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Luftverkehrsabkommen vom 17. Dezember 2009 zwischen Kanada und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten (Vertragsgesetz EU- Kanada-Luftverkehrsabkommen – EU- KAN-LuftverkAbkG) (Drucksache 17/10917) . . . . . . . . . . . . . . . d) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Änderung der Gewerbeordnung und anderer Gesetze (Drucksache 17/10961) . . . . . . . . . . . . . . . e) Antrag der Abgeordneten Angelika Graf (Rosenheim), Marianne Schieder (Schwan- dorf), Frank Hofmann (Volkach), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Konsum kristalliner Methamphetamine durch Prävention eindämmen – Neue synthetische Drogen europaweit effi- zienter bekämpfen (Drucksache 17/10646) . . . . . . . . . . . . . . f) Antrag der Abgeordneten Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Johannes Selle, Dorothee Bär, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Claudia Winterstein, Burkhardt Müller- Sönksen, Reiner Deutschmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Das Filmerbe stärken, die Kulturschätze für die Nachwelt bewahren und im digi- talen Zeitalter zugänglich machen (Drucksache 17/11006) . . . . . . . . . . . . . . g) Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Jan Korte, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Rehabilitierung und Entschädi- gung der verfolgten Lesben und Schwu- len in beiden deutschen Staaten (Drucksache 17/10841) . . . . . . . . . . . . . . h) Antrag der Abgeordneten Kathrin Senger- Schäfer, Jan Korte, Herbert Behrens, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Finanzierung zur Bewahrung des deutschen Filmerbes endlich sicher- stellen (Drucksache 17/11007) . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 3: a) Antrag der Abgeordneten Claudia Roth (Augsburg), Tom Koenigs, Hans-Christian Ströbele, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: NS-Vergangenheit von Bundesministe- rien und Behörden systematisch aufar- beiten – Bestandsaufnahme zur For- schung erstellen – Erinnerungsarbeit koordinieren (Drucksache 17/10068) . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Markus Kurth, Beate Müller-Gemmeke, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Für eine angemessene Praxis bei Anträgen auf Kindergeldabzweigung durch die So- zialhilfeträger (Drucksache 17/10863) . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Dr. Günter Krings, Michael Kretschmer, Dr. Hans- Peter Uhl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge- 23841 C 23841 D 23843 C 23845 A 23847 A 23849 A 23850 B 23851 D 23853 B 23855 A 23855 D 23856 B 23857 B 23858 D 23859 D 23861 A 23861 A 23861 A 23861 D 23861 B 23861 C 23861 C 23861 D 23861 D 23861 D Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 III ordneten Dr. h. c. Wolfgang Thierse, Siegmund Ehrmann, Angelika Krüger- Leißner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Stefan Ruppert, Patrick Kurth (Kyff- häuser), Gisela Piltz, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der FDP: Wissen- schafts- und Forschungsfreiheit stärken, Rahmenbedingungen verbessern – Die Aufarbeitung der Geschichte der wich- tigsten staatlichen Institutionen in Be- zug auf die NS-Vergangenheit durch besseren Aktenzugang unterstützen und Bestandsaufnahmen zur Aufarbeitung der frühen Geschichte der Bundesminis- terien und -behörden sowie der ver- gleichbaren DDR-Institutionen beauf- tragen (Drucksache 17/11001) . . . . . . . . . . . . . . . d) Antrag der Abgeordneten Dr. Marlies Volkmer, Dr. Karl Lauterbach, Elke Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Patientenrechte wirksam ver- bessern (Drucksache 17/11008) . . . . . . . . . . . . . . . e) Antrag der Abgeordneten Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Kerstin Andreae, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Beitragssätze nachhaltig stabilisieren, Erwerbsminderungsrente verbessern, Reha-Budget angemessen ausgestalten (Drucksache 17/11010) . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 41: a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Martin Dörmann, Gerold Reichenbach, Doris Barnett, weiteren Ab- geordneten und der Fraktion der SPD ein- gebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Telemediengesetzes (TMG) (Drucksachen 17/8454, 17/8814) . . . . . . . b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Vorschlag für einen Beschluss des Rates zur Festlegung ei- nes Mehrjahresrahmens (2013–2017) für die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (Drucksachen 17/10760, 17/11062) . . . . . c) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Frei- handelsabkommen vom 6. Oktober 2010 zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Korea andererseits (Drucksachen 17/10758, 17/11054) . . . . . e) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit: zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Par- laments und des Rates zur Aufstellung des Programms für Umwelt- und Kli- mapolitik (LIFE) – KOM(2011) 874 endg.; Ratsdok. 18627/11  (Drucksachen 17/8515 Nr. A.42, 17/10196) f) – l) Beratung der Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses: Sammelübersich- ten 473, 474, 475, 476, 477, 478, 479 zu Petitionen (Drucksachen 17/10834, 17/10835, 17/10836, 17/10837, 17/10838, 17/10839, 17/10840) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 4: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 29. Juni 2012 zwischen der Bundesre- publik Deutschland und dem Globalen Treuhandfonds für Nutzpflanzenvielfalt über den Sitz des Globalen Treuhand- fonds für Nutzpflanzenvielfalt (Drucksachen 17/10756, 17/11035) . . . . . b) Antrag der Fraktionen der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Portugal unterstützen und Parlamentsrechte wahren – hier: Stellungnahme des Deut- schen Bundestages nach Artikel 23 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundes- regierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union (Drucksache 17/11009) . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 5: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Integrität parlamentarischer Entscheidungen durch mehr Transparenz und klare Regeln ge- währleisten – Nebentätigkeiten, Karenzzeit für Regierungsmitglieder, Abgeordneten- bestechung und Parteiengesetz . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU) . . . . . . Thomas Oppermann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Hermann Otto Solms (FDP) . . . . . . . . . . . Raju Sharma (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 23862 A 23862 B 23862 B 23862 C 23862 D 23863 A 23863 B 23863 C 23864 A 23864 C 23864 C 23864 D 23866 B 23868 A 23869 B 23870 C 23871 D IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 Christine Lambrecht (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Jörg van Essen (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Helmut Brandt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Christian Lange (Backnang) (SPD) . . . . . . . . Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 6: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2012/…/EU über den Zugang zur Tätigkeit von Kreditinsti- tuten und die Beaufsichtigung von Kredit- instituten und Wertpapierfirmen und zur Anpassung des Aufsichtsrechts an die Ver- ordnung (EU) Nr. …/2012 über die Auf- sichtsanforderungen an Kreditinstitute und Wertpapierfirmen (CRD-IV-Umsetzungs- gesetz) (Drucksache 17/10974) . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär  BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Manfred Zöllmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Björn Sänger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . Dr. Carsten Sieling (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 7: a) Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Wiederherstellung eines Lebensstandard sichernden und strukturell armutsfesten Rentenniveaus (Drucksache 17/10990) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Altersarmut wirk- sam bekämpfen – Solidarische Min- destrente einführen (Drucksache 17/10998) . . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Rente erst ab 67 sofort vollständig zurücknehmen (Drucksache 17/10991) . . . . . . . . . . . . . . d) Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Kindererziehung in der Rente besser berücksichtigen (Drucksache 17/10994) . . . . . . . . . . . . . . e) Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Eine solidarische Rentenversicherung für alle Erwerbstä- tigen (Drucksache 17/10997) . . . . . . . . . . . . . . f) Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Risiko der Er- werbsminderung besser absichern (Drucksache 17/10992) . . . . . . . . . . . . . . g) Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Angleichung der Renten in Ostdeutschland auf das West- niveau bis 2016 umsetzen (Drucksache 17/10996) . . . . . . . . . . . . . . h) Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Rente nach Min- destentgeltpunkten entfristen (Drucksache 17/10995) . . . . . . . . . . . . . . i) Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Rentenbeiträge für Langzeiterwerbslose wieder einfüh- ren (Drucksache 17/10993) . . . . . . . . . . . . . . Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn  (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 23872 D 23873 D 23875 A 23876 B 23877 C 23878 D 23880 A 23880 B 23881 C 23882 D 23883 C 23884 C 23886 A 23887 C 23888 D 23889 C 23890 C 23892 A 23892 A 23892 B 23892 B 23892 C 23892 C 23892 D 23892 D 23893 A 23893 A 23894 B 23895 A 23895 D 23897 A 23899 A 23900 D 23901 D Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 V Tagesordnungspunkt 8: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Flexibilisierung von haushalts- rechtlichen Rahmenbedingungen außer- universitärer Wissenschaftseinrichtungen (Wissenschaftsfreiheitsgesetz – WissFG) (Drucksachen 17/10037, 17/10123, 17/11046) Dr. Annette Schavan, Bundesministerin  BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Peter Röhlinger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Krista Sager (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU) . . . . Klaus Hagemann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) . . . . . . Eckhardt Rehberg (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 9: Antrag der Abgeordneten Bärbel Höhn, Kerstin Andreae, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Kosten und Nutzen der Energiewende fair verteilen (Drucksache 17/11004) . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Rolf Hempelmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . Horst Meierhofer (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . . Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 6: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbe- schränkungen (8. GWB-ÄndG) (Drucksachen 17/9852, 17/11053) . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technolo- gie zu dem Antrag der Abgeordneten Kerstin Andreae, Dr. Tobias Lindner, Nicole Maisch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Verbraucherschutz und Nachhal- tigkeit im Wettbewerbsrecht verankern (Drucksachen 17/9956, 17/11053) . . . . . . c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technolo- gie zu dem Antrag der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Presse- Grosso gesetzlich verankern (Drucksachen 17/8923, 17/9989) . . . . . . . d) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Kultur und Medien zu dem An- trag der Fraktionen SPD und BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Instrumente zur Förderung der Medienvielfalt auf solide Datenbasis stellen (Drucksachen 17/9155, 17/11058) . . . . . . e) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Kultur und Medien zu dem Antrag der Abgeordneten Martin Dörmann, Siegmund Ehrmann, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Freiheit und Un- abhängigkeit der Medien sichern – Viel- falt der Medienlandschaft erhalten und Qualität im Journalismus stärken (Drucksachen 17/10787, 17/11045, 17/11082) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP) . . . . . . . . Ingo Egloff (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) . . . . Dr. Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär  BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Martin Dörmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Elke Ferner (SPD)  (Erklärung nach § 31 GO) . . . . . . . . . . . . . Wahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23903 A 23903 B 23904 C 23906 A 23907 A 23908 C 23909 D 23911 A 23912 B 23913 B 23914 C 23914 D 23916 B 23917 D 23918 B 23918 D 23919 B 23920 B 23920 C 23921 B 23923 C 23924 C 23925 B 23926 A 23927 A 23927 A 23927 B 23927 B 23927 B 23927 C 23928 C 23929 C 23930 D 23931 B 23932 A 23933 A 23934 A 23934 D 23936 A 23935 D 23936 D VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 Tagesordnungspunkt 11: a) Antrag der Abgeordneten Michael Groß, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Daniela Wagner, Bettina Herlitzius, Britta Haßelmann, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Programm „Soziale Stadt“ zukunftsfähig weiterent- wickeln – Städtebauförderung sichern  (Drucksache 17/10999) . . . . . . . . . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadt- entwicklung – zu dem Antrag der Abgeordneten Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, Martin Burkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeord- neten Bettina Herlitzius, Daniela Wagner, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: 40 Jahre Städtebauförderung – Erfolgsmodell für die Zukunft der Städte und Re- gionen erhalten und fortentwickeln – zu dem Antrag der Abgeordneten Heidrun Bluhm, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion DIE LINKE: Städtebauförderung auf hohem Ni- veau verstetigen, Forderungen der Bauministerkonferenz umsetzen (Drucksachen 17/6444, 17/6447, 17/8199) . Michael Groß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Götz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . Heidrun Bluhm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Petra Müller (Aachen) (FDP) . . . . . . . . . . . . . Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Volkmar Vogel (Kleinsaara) (CDU/CSU) . . . Tagesordnungspunkt 10: a) Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Lebensmittelverluste reduzieren (Drucksache 17/10987) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Karin Binder, Johanna Voß, Dr. Kirsten Tackmann, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Die Ursachen der Vernichtung und Verschwendung von Lebensmit- teln wirksam bekämpfen (Drucksache 17/10989) . . . . . . . . . . . . . . . Peter Bleser, Parl. Staatssekretär  BMELV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elvira Drobinski-Weiß (SPD) . . . . . . . . . . . . Hans-Michael Goldmann (FDP) . . . . . . . . . . Karin Binder (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Carola Stauche (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 20: a) – Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs ei- nes … Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuchs – Aufnahme men- schenverachtender Tatmotive als be- sondere Umstände der Strafzumes- sung (… StRÄndG) (Drucksachen 17/9345, 17/11061) . . . – Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Ent- wurfs eines … Gesetzes zur Ände- rung des Strafgesetzbuchs (… Straf- rechtsänderungsgesetz – … StRÄndG) (Drucksachen 17/8131, 17/11061) . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Ab- geordneten Volker Beck (Köln), Ingrid Hönlinger, Memet Kilic, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Vorurteilsmotivierte Straftaten wirksam verfolgen (Drucksachen 17/8796, 17/11061) . . . . . Tagesordnungspunkt 12: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Weingesetzes (Drucksachen 17/10042, 17/10124, 17/11019) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- schaft und Verbraucherschutz zu dem An- trag der Abgeordneten Alexander Süßmair, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Rettung einheimischer Rebsorten durch Erhal- tungsanbau (Drucksachen 17/7845, 17/8612) . . . . . . . Alois Gerig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Gustav Herzog (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Erik Schweickert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 23939 D 23940 A 23940 B 23941 C 23942 D 23943 D 23945 A 23946 A 23947 C 23947 C 23947 D 23948 D 23950 A 23951 A 23952 A 23953 B 23954 D 23954 D 23955 A 23955 C 23955 C 23955 D 23957 A 23958 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 VII Alexander Süßmair (DIE LINKE) . . . . . . . . . Dr. Erik Schweickert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Alexander Süßmair (DIE LINKE) . . . . . . . . . Markus Tressel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Norbert Schindler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 15: Antrag der Abgeordneten Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Petra Sitte, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Rechtliche und finanzielle Voraussetzun- gen für die Zahlung einer Ausstellungsver- gütung für bildende Künstlerinnen und Künstler schaffen (Drucksache 17/8379) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 14: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Arti- kel 91 b) (Drucksache 17/10956) . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 17: Beschlussempfehlung und Bericht des Innen- ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Viola von Cramon- Taubadel, Volker Beck (Köln), weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Für wirksamen Rechtsschutz im Asylverfahren – Konsequenzen aus den Entscheidungen des Gerichtshofs der Eu- ropäischen Union und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ziehen (Drucksachen 17/8460, 17/9008) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 16: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Änderungen vom 10. und 11. Juni 2010 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs vom 17. Juli 1998 (Drucksache 17/10975) . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 18: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung des Bauproduk- tengesetzes und weiterer Rechtsvorschrif- ten an die Verordnung (EU) Nr. 305/2011 zur Festlegung harmonisierter Bedingun- gen für die Vermarktung von Bauproduk- ten (Drucksachen 17/10310, 17/10874) . . . . . . . . Matthias Lietz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Michael Groß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Petra Müller (Aachen) (FDP) . . . . . . . . . . . . Heidrun Bluhm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Enak Ferlemann, Parl. Staatssekretär  BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 22: Antrag der Abgeordneten Gabriele Fograscher, Wolfgang Gunkel, Michael Hartmann (Wa- ckernheim), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Evaluierung der Auswir- kungen des neuen Waffenrechts (Drucksache 17/10114) . . . . . . . . . . . . . . . . . Günter Lach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Fograscher (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Serkan Tören (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frank Tempel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 19: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Umwelt, Naturschutz und Reak- torsicherheit zu der Verordnung der Bundes- regierung: Verordnung über die Höhe der Managementprämie für Strom aus Wind- energie und solarer Strahlungsenergie (Ma- nagementprämienverordnung – MaPrV) (Drucksachen 17/10571, 17/10707 Nr. 2.2, 17/10817) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU) . . . . . . . Josef Göppel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Matthias Miersch (SPD) . . . . . . . . . . . . . Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dorothée Menzner (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 28: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Ab- 23959 A 23960 A 23960 B 23960 D 23961 C 23963 C 23963 C 23963 D 23964 A 23964 B 23964 C 23964 D 23965 B 23966 A 23966 B 23968 B 23969 A 23969 A 23971 A 23972 A 23972 D 23973 C 23974 B 23974 C 23976 A 23976 D 23977 D 23978 A 23978 C VIII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 geordneten Dietmar Nietan, Uta Zapf, Josip Juratovic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Für eine ehrliche und faire europäische Perspektive der Staaten des westlichen Balkans (Drucksachen 17/9744, 17/11034) . . . . . . . . . Peter Beyer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Dietmar Nietan (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Nord (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 21: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Umwelt-Rechtsbehelfsgeset- zes und anderer umweltrechtlicher Vor- schriften (Drucksache 17/10957) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Thomas Gebhart (CDU/CSU) . . . . . . . . . Josef Göppel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Matthias Miersch (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Judith Skudelny (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Stüber (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 24: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Arbeit und Soziales – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Dr. Martina Bunge, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Behindern ist heil- bar – Unser Weg in eine inklusive Ge- sellschaft – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Dr. Martina Bunge, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Teilhabesicherungsgesetz vorlegen (Drucksachen 17/7872, 17/7889, 17/10008) . Maria Michalk (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Molitor (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 23: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung der Verordnung (EU) Nr. 1177/2010 des Europäischen Parla- ments und des Rates vom 24. November 2010 über die Fahrgastrechte im See- und Binnenschiffsverkehr sowie zur Änderung des Luftverkehrsgesetzes (Drucksache 17/10958) . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Werner Kammer (CDU/CSU) . . . . . . . . Ulrike Gottschalck (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Torsten Staffeldt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Lutze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Markus Tressel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Enak Ferlemann, Parl. Staatssekretär  BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 26: Antrag der Abgeordneten Bettina Herlitzius, Hans-Josef Fell, Oliver Krischer, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Beitrag der Raumordnung zu Klimaschutz und Energiewende (Drucksache 17/9583) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Bareiß (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Michael Groß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Petra Müller (Aachen) (FDP) . . . . . . . . . . . . Heidrun Bluhm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 25: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Umsetzung des Seearbeitsüber- einkommens 2006 der Internationalen Arbeitsorganisation (Drucksache 17/10959) . . . . . . . . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Abgeordneten Herbert Behrens, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Unverzüg- liche Ratifizierung des Seearbeitsüber- 23979 B 23979 C 23980 C 23981 B 23983 A 23983 D 23984 D 23985 C 23985 D 23986 D 23987 B 23988 A 23989 B 23990 A 23990 D 23991 A 23992 A 23992 D 23994 A 23995 A 23996 B 23997 C 23997 C 23998 D 23999 D 24000 B 24000 D 24001 C 24002 A 24002 A 24003 A 24003 D 24004 C 24005 B 24006 A 24006 D Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 IX einkommens der Internationalen Ar- beitsorganisation (Drucksachen 17/9066, 17/9614) . . . . . . . Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . . . . Josip Juratovic (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Herbert Behrens (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär  BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 30: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Die Umsetzung der UN- Resolution 1325 mit einem Rechenschafts- mechanismus fördern (Drucksachen 17/8777, 17/10904) . . . . . . . . . Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) . . . . . . . . Bijan Djir-Sarai (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Stefan Liebich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Ute Koczy (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 27: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Umwelt, Naturschutz und Reak- torsicherheit – zu der Verordnung der Bundesregierung: Verordnung zur Umsetzung der Richtli- nie über Industrieemissionen, zur Ände- rung der Verordnung zur Begrenzung der Emissionen flüchtiger organischer Verbindungen beim Umfüllen oder La- gern von Ottokraftstoffen, Kraftstoffge- mischen oder Rohbenzin sowie zur Än- derung der Verordnung zur Begrenzung der Kohlenwasserstoffemissionen bei der Betankung von Kraftfahrzeugen – zu dem Antrag der Abgeordneten Dirk Becker, Gerd Bollmann, Marco Bülow, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Schadstoffbelastung durch Abfallmitverbrennung senken – Gleiche Bedingungen für Müllverbrennung und Abfallmitverbrennung (Drucksachen 17/10605, 17/10707 Nr. 2.3, 17/9555, 17/11060) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Michael Paul (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Franz Obermeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Ute Vogt (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Lutz Knopek (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 7: a) Antrag der Abgeordneten Ulrike Gottschalck, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Neue Impulse für die Förderung des Radverkehrs setzen – Den Nationalen Radverkehrsplan 2020 überarbeiten (Drucksache 17/11000) . . . . . . . . . . . . . . b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Nationaler Radverkehrsplan 2020 – Den Radverkehr gemeinsam weiterent- wickeln (Drucksache 17/10681) . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 29: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung eines Zulassungsverfahrens für Bewachungsunternehmen auf Seeschiffen (Drucksache 17/10960) . . . . . . . . . . . . . . . . . Eckhardt Rehberg (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Ingo Egloff (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Manfred Todtenhausen (FDP) . . . . . . . . . . . . Frank Tempel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 31: Antrag der Abgeordneten Ingrid Remmers, Kersten Steinke, Dr. Kirsten Tackmann, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Bürgerbeteiligung stärken – Peti- tionsrecht ausbauen (Drucksache 17/10682) . . . . . . . . . . . . . . . . . Günter Baumann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Gero Storjohann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Sonja Steffen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Thomae (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Ingrid Remmers (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24006 D 24007 A 24008 A 24009 A 24010 A 24010 D 24011 B 24012 D 24013 A 24014 D 24015 C 24016 C 24017 B 24018 B 24018 C 24019 D 24020 C 24021 C 24022 A 24022 C 24023 C 24023 C 24023 D 24024 A 24025 D 24026 C 24027 B 24028 A 24029 B 24029 B 24030 A 24031 B 24031 D 24033 A 24033 D X Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 Tagesordnungspunkt 32: Antrag der Abgeordneten Annette Groth, Katrin Werner, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Freiheit für Mumia Abu-Jamal (Drucksache 17/8916) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Annette Groth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 33: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin Werner, Annette Groth, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Menschenrechte und Demokratie in den Staaten des Südkaukasus fördern (Drucksachen 17/7645, 17/8681) . . . . . . . . . . Erika Steinbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Ullrich Meßmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marina Schuster (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Katrin Werner (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 91 b) (Tagesord- nungspunkt 14) Monika Grütters (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Swen Schulz (Spandau) (SPD) . . . . . . . . . . . . Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD) . . . . Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) . . . . . . Nicole Gohlke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Annette Schavan, Bundesministerin  BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Rechtliche und finanzielle Vo- raussetzungen für die Zahlung einer Ausstel- lungsvergütung für bildende Künstlerinnen und Künstler schaffen (Tagesordnungs- punkt 15) Monika Grütters (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Christoph Poland (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Siegmund Ehrmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Burkhardt Müller-Sönksen (FDP) . . . . . . . . . Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) . . . . . . Agnes Krumwiede (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu den Änderun- gen vom 10. und 11. Juni 2010 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs vom 17. Juli 1998 (Tagesordnungspunkt 16) Michael Frieser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Marina Schuster (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Stefan Liebich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem Antrag: Für wirksamen Rechtsschutz im Asyl- verfahren – Konsequenzen aus den Entschei- dungen des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ziehen (Tagesordnungs- punkt 17) Helmut Brandt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24034 C 24034 C 24035 D 24037 B 24038 A 24039 A 24039 C 24039 D 24040 C 24041 C 24042 B 24043 C 24045 C 24047 A 24047 D 24048 D 24049 C 24050 C 24051 D 24052 D 24053 D 24055 A 24056 C 24057 A 24058 A 24058 D 24059 D 24060 D 24062 C 24064 A 24065 C 24066 B 24068 D 24070 A 24071 B 24071 D 24072 D Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 XI Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: Entwurf eines … Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuchs (… Strafrechtsänderungsge- setz – … StRÄndG) – Beschlussempfehlung und Bericht zu dem Antrag: – Vorurteilsmoti- vierte Straftaten wirksam verfolgen (Tages- ordnungspunkte 20 a und 20 b) Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Burkhard Lischka (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Sönke Rix (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörg van Essen (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden: Zur Beratung: Antrag: Neue Impulse für die Förderung des Radverkehrs setzen – Den Nationalen Rad- verkehrsplan 2020 überarbeiten – Unterrich- tung: Nationaler Radverkehrsplan 2020 – Den Radverkehr gemeinsam weiterentwickeln (Zusatztagesordnungspunkt 7) Gero Storjohann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Ulrike Gottschalck (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Torsten Staffeldt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Herbert Behrens (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24073 D 24075 A 24075 C 24076 B 24076 D 24077 D 24078 D 24081 B 24082 B 24083 A 24083 D Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23807 (A) (C) (D)(B) 198. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 Beginn: 9.00 Uhr
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    Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24047 (A) (C) (D)(B) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- sammlung der NATO Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 91 b) (Ta- gesordnungspunkt 14) Monika Grütters (CDU/CSU): Heute legt die Bun- desregierung ihren Entwurf zur Änderung des Grundge- setzes im Bildungsbereich vor. Lassen Sie uns noch ein- mal vergegenwärtigen, warum wir über diese Änderung beraten. Natürlich geht es zum einen darum, neue Mög- lichkeiten für bildungspolitische Kooperationen zwi- schen Bund und Ländern zu ermöglichen. Im Zentrum steht aber heute vielmehr der Ehrgeiz, zukünftig wenigs- tens nicht wieder hinter das aktuelle Kooperationsniveau zurückzufallen. Wir sollten in der Debatte nie vergessen, dass Hochschulpakt, Exzellenzinitiative und Qualitäts- pakt für die Lehre in der verfassungsrechtlichen Istsitua- tion nur zeitlich begrenzte Umwege um die grundgesetz- lichen Kooperationsgrenzen sind. Ob sie einer Klage in Karlsruhe standhalten würden, ist nicht geklärt, und an eine einfache, generelle Entfristung ist angesichts der  Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Bär, Dorothee CDU/CSU 18.10.2012 Beck (Reutlingen), Ernst-Reinhard CDU/CSU 18.10.2012* Becker, Dirk SPD 18.10.2012 Bender, Birgitt BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 18.10.2012 Brinkmann (Hildesheim), Bernhard SPD 18.10.2012 Dagdelen, Sevim DIE LINKE 18.10.2012 Ernst, Klaus DIE LINKE 18.10.2012 Fischbach, Ingrid CDU/CSU 18.10.2012 Funk, Alexander CDU/CSU 18.10.2012 Gerdes, Michael SPD 18.10.2012 Hahn, Florian CDU/CSU 18.10.2012 Dr. Hein, Rosemarie DIE LINKE 18.10.2012 Heinen-Esser, Ursula CDU/CSU 18.10.2012 Hintze, Peter CDU/CSU 18.10.2012 Dr. Kaufmann, Stefan CDU/CSU 18.10.2012 Krichbaum, Gunther CDU/CSU 18.10.2012 Kuhn, Fritz BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 18.10.2012 Lanfermann, Heinz FDP 18.10.2012 Mißfelder, Philipp CDU/CSU 18.10.2012 Möller, Kornelia DIE LINKE 18.10.2012 Nink, Manfred SPD 18.10.2012 Ploetz, Yvonne DIE LINKE 18.10.2012 Rawert, Mechthild SPD 18.10.2012 Remmers, Ingrid DIE LINKE 18.10.2012 Scharfenberg, Elisabeth BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 18.10.2012 Schmidt (Eisleben), Silvia SPD 18.10.2012 Dr. Schwanholz, Martin SPD 18.10.2012 Silberhorn, Thomas CDU/CSU 18.10.2012 Simmling, Werner FDP 18.10.2012 Wagenknecht, Sahra DIE LINKE 18.10.2012 Walter-Rosenheimer, Beate BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 18.10.2012 Weinberg, Harald DIE LINKE 18.10.2012 Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 18.10.2012 Werner, Katrin DIE LINKE 18.10.2012 Winkler, Josef Philip BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 18.10.2012 Ziegler, Dagmar SPD 18.10.2012  Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Anlagen 24048 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 (A) (C) (D)(B) klaren Vorgaben des Grundgesetzes nicht zu denken. Bund, Länder und Vertreter aller Parteien haben am Zu- standekommen dieser Pakte mitgewirkt, weil ihnen be- wusst war und ist, dass die Länder mit der Herausforde- rung der doppelten Abiturjahrgänge, mit den Folgen der Aussetzung der Wehrpflicht und mit der ohnehin gestie- genen Zahl der Studierwilligen echt überfordert sind. Es war und bleibt richtig, dass den Herausforderungen einer wissensbasierten Gesellschaft nur mit einer gesamtstaat- lichen Antwort begegnet werden kann. Der Hochschul- pakt ist deshalb ein Ergebnis politischer Vernunft und Zeichen eines verantwortungsvollen Umgangs mit dem Zukunftsfeld Bildung, an dem alle politischen Akteure im Bund und in den Ländern ihren verdienten Anteil ha- ben. Heute wissen wir, dass der Hochschulpakt aber auch ein Signal war, das tief in die Gesellschaft hineingewirkt hat. Die gemeinsame Anstrengung von Bund und Län- dern und der Konsens über Parteigrenzen hinweg haben gerade den jungen Menschen in unserem Land deutlich gemacht, welche Bedeutung und welcher Wert einer aka- demischen Ausbildung zukommt. Mehr als 46 Prozent eines Jahrgangs studieren heute schon. Mittlerweile kommen jedes Jahr mehr als 550 000 neue Studienan- fänger an die Universitäten. Das sind gute Nachrichten, aber auch große Herausforderungen, die über die Aus- wirkungen von G 8 hinausgehen. Hoffen wir, dass dieser Trend noch lange anhalten wird! Aber – das wissen wir hier alle – der Hochschulpakt als Voraussetzung dieser Erfolge ist endlich. Die zweite Programmphase läuft 2015 aus, und eine beliebige Ver- längerung dieses Instrumentes würde die Grenzen eines unveränderten Grundgesetzes sprengen. Es geht also tat- sächlich darum, dass wir die Erfolge sichern, die wir in Bund und Ländern gemeinsam erreicht haben. Nicht nur wir Politiker, sondern auch die Unis, die dort Beschäftig- ten und vor allem die Studierenden – wir alle haben viel zu verlieren, wenn wir es nicht schaffen, uns auf eine Änderung des Grundgesetzes zu einigen. Diese Einsicht liegt dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zugrunde, der heute eingebracht wird. Er beschränkt sich zunächst darauf, die Weichen für die dauerhafte Sicherung des be- reits Erreichten zu stellen. In dieser Hinsicht verändert der Entwurf den Status quo nicht, er macht ihn nur end- lich verfassungssicher und damit zukunftsfest. Aber lei- der, leider können manche Kollegen ihrem Oppositions- reflex nicht widerstehen. Gerade der SPD gehen diese Änderungen nicht weit genug. Sie will die Kooperati- onsmöglichkeiten auch auf den Schulbereich ausweiten. Und in der Tat: Auch und gerade im Schulbereich macht die fehlende Kooperation große Probleme; das wissen wir natürlich auch. Ein Kind, dessen Eltern von Berlin nach Bayern umziehen, leidet, und es verliert nicht sel- ten ganze Schuljahre dabei. Das ist vollkommen inak- zeptabel. Wenn wir mit einer Grundgesetzänderung hier Abhilfe schaffen könnten, wäre ich dazu sofort bereit. Aber – und das wissen wir und Sie natürlich ebenso gut – eine solche Regelung wird an den Ländern scheitern, so- lange sie fürchten, dass die Länder bei einer Mitwirkung des Bundes im Bereich Bildung den Kernbereich ihrer Kompetenzen zumindest teilweise einschränken müss- ten. Wenn wir nicht gemeinsam in der Lage sind, eine solche Kooperationskultur sensibel zu beschreiben und gesetzlich zu regeln, sind die Länder zu einer Verfas- sungsänderung hier zum jetzigen Zeitpunkt nicht bereit. Wer also das eine ultimativ mit dem anderen einfordert, verhindert beides. So gelingt weder eine Verbesserung der Hochschulsituation noch eine bessere Kooperations- kultur in der Schulbildung. Das hat die SPD noch nicht verstanden. Ihr Vorschlag stellt eher ein kleines trojanisches Pferd dar. Wo außen „Schulbereich“ draufsteht, ist ein kleiner Länderfinanz- ausgleich drin. Sie glauben doch tatsächlich, die födera- listischen Probleme im Schulbereich wären dann gelöst, wenn der Bund Mehrwertsteuerpunkte an die Länder ab- tritt. Damit wäre das Bildungsproblem aber gerade nicht gelöst. Eine bedingungslose Zuweisung finanzieller Mittel wird ja nicht die KMK revolutionieren und das schaffen, worauf wir seit Jahrzehnten warten: die Bil- dungssysteme und -leistungen der Länder endlich ver- gleichbar zu machen. Vielmehr fürchten wir, dass derart unspezifisch vom Bund an die Länder durchgereichte Mittel in erster Linie von den Länderfinanzministern zur Finanzierung der Lehrerpensionen verwendet würden. Das aber ist sicher nicht der Sinn der Bildungspolitik – und schon gar nicht der Bildungspolitik des Bundes. Abgesehen davon muss ein Parlament, ein Haushälter natürlich eine Mitverantwortung übernehmen können für die Vergabe der Mittel und ihre Verwendung. Eine sim- ple Abtretung erheblicher Mittel über Mehrwertsteuer- punkte bedeutet auch einen Verzicht auf Mitwirkung – was für ein politisches Ethos steckt dahinter? Einen sol- chen Umgang mit Steuergeldern kann ich als Abgeord- nete gegenüber meinen Wählerinnen und Wählern nicht verantworten – zumal er die Probleme der föderalen Ver- gleichbarkeit und Mobilität im Schulbereich überhaupt nicht löst. Ich bin mir sicher, dass auch der Großteil meiner Aus- schusskolleginnen und Kollegen – auch die Damen und Herren der SPD – das so sehen. Deshalb appelliere ich an Sie: Lassen Sie uns gemeinsam den bereits beschritte- nen Weg der verstärkten Kooperation im Bund-Länder- Bereich und die bereits sichtbaren gemeinsamen Erfolge zumindest im Hochschulbereich sichern! Hier gibt es be- reits jetzt einen Konsens mit allen Ländern, der so für den Schulbereich noch nicht besteht. Deshalb bitte ich Sie, auf Ihre Ländervertreter einzuwirken, damit diese die Einladung von Bundesministerin Annette Schavan für Ende Oktober ernst nehmen und dort nicht um Län- derfinanzfragen zocken, sondern sich um die Sicherung der gemeinsamen Erfolge in der Hochschulpolitik und der künftigen Perspektiven für die Bildungsbereiche be- mühen. Es ist vielleicht die letzte Chance, dieses Thema von überragender Bedeutung für die Zukunft unseres Landes zu einem Erfolg zu führen. Swen Schulz (Spandau) (SPD): Die Bundesregie- rung hat einen Gesetzentwurf eingebracht – aber die Koalition will ihn offenbar nicht im Plenum des Deut- schen Bundestages debattieren, hat ihn weit hinten auf der Tagesordnung versteckt und letztlich die Debatte nur Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24049 (A) (C) (D)(B) zu Protokoll gegeben. Hält die Koalition den eigenen Vorschlag selbst für so schlecht? Zumindest sieht sie ein, dass er keine Chance auf eine Umsetzung hat, weil schlicht und einfach die Mehrheit fehlt, weil er nicht überzeugend ist. Im Konsens aller Fraktionen hatten wir eine Sachver- ständigenanhörung zu diesem Thema angesetzt. Dort gab es viele interessante und überzeugende Argumente für mehr Kooperation von Bund und Ländern in der Bildung. Doch die Regierungskoalition reduziert ihren Vorschlag auf die Erweiterung der bestehenden Koope- rationsmöglichkeiten von Bund und Ländern im Bereich der Wissenschaft einzig und allein für eine Handvoll besonderer Einrichtungen. Wir haben es in den vergan- genen Monaten immer wieder gesagt: Nach der Methode „Friss, Vogel, oder stirb“ wird diese Teilmaßnahme, für die es zweifelsohne viel Zustimmung auch in unserer Fraktion gibt, isoliert als einzig wahre und machbare Lösung präsentiert. Doch dabei wird vollkommen außer Acht gelassen, dass die Fixierung auf eine solche Teil- lösung die Gesamtbalance zerstört und alles zum Schei- tern bringt. Das Motto „Lasst uns den kleinsten gemein- samen Nenner vereinbaren, alles Weitere sehen wir dann“ sieht nur auf den ersten Blick wie ein vernünftiges realpolitisches Vorgehen aus. Der Bundesrat hat den Regierungsvorschlag bereits abgelehnt. Zu Recht! Denn für diesen Bereich hatte die SPD-Fraktion bereits Möglichkeiten der Kooperation durchgesetzt. Auf dieser Basis werden etwa die Exzel- lenzinitiative und der Hochschulpakt realisiert. Die Hauptprobleme, vor denen wir heute stehen, sind jedoch andere und benötigen dringend die Zusammenar- beit von Bund und Ländern – und darum eben eine durchgreifende Änderung des Grundgesetzes. Es geht doch wohl nicht an, dass die Bundesregierung einige wenige Einrichtungen vom Bund finanzieren und For- scherstellen schaffen will, während sie nicht einmal da- rüber nachdenkt, wie Ganztagsschulen eingerichtet oder mehr Pädagogen zur Förderung von Schülern eingestellt werden können. Auch die Bildung an den Hochschulen, ihre Grundfinanzierung und die Lehre würde außen vor gelassen. Mehr Kooperation ist für Wissenschaft sinnvoll. Für die Bildung, für die Lehre an den Hochschulen und ins- besondere für die Schulen ist sie jedoch vordringlich und zwingend nötig: Wir müssen endlich überhaupt damit anfangen! Ich kenne kein Bundesland, das das Ganztags- schulprogramm der Regierung Schröder heute noch für schlecht hält. Die einzige – und berechtigte – Kritik ist, dass es auf bauliche Investitionen beschränkt war. Doch anders ging es damals nicht. Darum muss ein ganz neuer Kooperationsartikel ins Grundgesetz, der die Bildung in ihrer gesamten Breite im Blick behält. Die von der Koalition geforderte Teillösung aber würde eine solche Verbesserung für die Bildung auf den Sankt-Nimmer- leins-Tag verschieben. Nach der Ablehnung des Regierungsvorschlages im Bundesrat hat Bundesministerin Schavan die Länder zu einem Gespräch eingeladen. Es ist die Frage, was dabei herauskommen soll, wenn doch andererseits Frau Schavan immer so tut, als sei der Regierungsvorschlag der einzig realisierbare. Wir sind offen für eine Einigung. Sie muss nicht exakt unseren Vorschlag abbilden. Aber sie muss der Bildung, sie muss den Kitakindern, Schülerinnen und Schülern, den Auszubildenden und Studierenden helfen. Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD): Wir brau- chen ganz dringend mehr Kooperation zwischen dem Bund und den Ländern, was das Feld der Bildungspolitik betrifft! Das mit der Föderalismusreform im Grundge- setz verankerte Kooperationsverbot muss beseitigt wer- den. Der ganz überwiegende Teil der Bevölkerung sieht das so. Dies hat nun auch die Bundesregierung erkannt, wie der vorliegende Gesetzentwurf zeigt, den wir heute erstmalig diskutieren. Aber das was vorliegt ist sicher- lich nur ein ganz kleiner Wurf und nicht geeignet, die Aufgabe zu lösen. Der Weg zu einer umfassenden und gewinnbringen- den Kooperation ist aus meiner Sicht vergleichbar mit einem Marathon. Um mit diesem Bild ein bisschen wei- ter zu arbeiten, möchte ich einmal den vorliegenden Ge- setzentwurf dort einordnen. Dann erscheint der vorge- legte Gesetzentwurf nämlich in einem ganz anderen Licht, als man ihn derzeit verkaufen will. Er würde maxi- mal dazu nützen, die ersten beiden Kilometer zu schaf- fen. Dann geht dem Kooperationswillen der Bundes- regierung leider die Puste aus. Der vorliegende Gesetzentwurf ist maximal ein kurzer Spurt in die rich- tige Richtung, doch fehlt ihm tatsächlich die Ausdauer, um grundlegend etwas zu verbessern. Wenn man sich die Stellungnahme des Bundesrates ansieht, so wird dieser Eindruck verstärkt. Selbst unions- geführte Bundesländer haben mit dem Gesetzentwurf ein Problem, wie man zum Beispiel auch an der Reaktion aus Bayern sehen kann. So will Bayerns Wissenschafts- minister Wolfgang Heubisch, dass nicht nur bei der Spit- zenforschung kooperiert werden darf, sondern bei der Grundfinanzierung der Hochschulen insgesamt ange- setzt werden muss. Das wäre schon erfreulich, doch würde auch eine solche Reform kaum für die ersten zehn Kilometer reichen, um wieder auf den Vergleich mit dem Marathon zurück zu greifen. Denn Bildung wird nicht allein an den Hochschulen vermittelt. Was ist mit den Schulen? Unabhängig von der Schul- struktur gibt es in allen Bundesländern den dringenden Wunsch nach einem Ausbau der Schulsozialarbeit oder der Ganztagsbetreuung. Wo bleibt die außerschulische und informelle Bildung? Die Bildungslandschaft in Deutschland ist sehr breit aufgestellt. Wissen wird an un- terschiedlichsten Orten und auf vielfältige Weise vermit- telt. Bildung ist seit jeher eine der wichtigsten Ressourcen, die unser Land hat. Wer ernsthaft eine Bildungsrepublik will, der muss mehr tun, als nur Spitzenforschung bzw. Hochschulen in den Blick zu nehmen, wenn es um Kooperation zwischen Bund und Ländern geht. Ich möchte nochmals einen Blick auf Bayern werfen, um zu verdeutlichen, warum es nicht ausreicht, nur im Bereich der Hochschulen das Kooperationsverbot zu än- 24050 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 (A) (C) (D)(B) dern, selbst wenn man die Mitfinanzierung aller Hoch- schulen durch den Bund ermöglichen würde. Bayern ist zwar bei verschiedensten Bildungstests sehr gut. Aber deswegen ist die Welt an Bayerns Schulen keineswegs in Ordnung. In keinem anderen Bundesland sind zum Beispiel die Bildungsperspektiven in derart ho- hem Maß vom Geldbeutel der Eltern abhängig wie im Freistaat, ein Zeichen dafür, dass es dringend der Nach- besserung bedarf, um durch das staatliche System mög- lichst allen Kindern sehr gute Chancen zu ermöglichen. Ähnlich sieht es mit der Ganztagesbetreuung aus. Gerade Bayern wäre geholfen, wenn es endlich ein bundesweites Ganztagsschulprogramm geben würde, mit dem nicht nur in Infrastruktur, sondern auch in Personal investiert werden könnte, ein Programm, mit dem vor allem auch die Qualität an den Ganztagsschulen und nicht nur die Quantität gefördert werden könnte. Es gäbe eine Möglichkeit, an den Mittelschulen flächende- ckend Schulsozialarbeit und gebundene Ganztagsbetreu- ung anzubieten und den dort herrschenden Lehrermangel zu bekämpfen, und zwar nicht nur mit geschönten Zah- len, bei denen man so tut, als wären Teilzeitstellen oder befristete Verträge gleichzusetzen mit Vollzeitlehrerstel- len. Weiter geht es mit der frühkindlichen Bildung. Auch hier könnten mit einer umfassenden Öffnung des Koope- rationsverbots gemeinsam die Angebote verbessert und ausgebaut werden. Die CSU könnte endlich das unsin- nige Betreuungsgeld fallen lassen, wenn Bund und Länder umfassend im Bereich der Bildung kooperieren würden. Dann müsste man nicht mit fragwürdigen Ersatzangebo- ten darüber hinwegtäuschen, dass Bayern seine Hausauf- gaben in der frühkindlichen Bildung noch nicht gemacht hat. Neben der Hochschule, den allgemeinbildenden Schulen und der beruflichen Ausbildung gibt es unzäh- lige Akteure, die im Bereich der informellen Bildung ak- tiv sind. Auch hier könnten vonseiten des Bundes unter Wahrung der Kultushoheit der Länder wertvolle Impulse gesetzt werden, angesichts der Tatsache von Schulden- bremse, knappen kommunalen Haushalten und unzurei- chenden Bildungsbudgets der Länder eine sinnvolle Form der Zusammenarbeit. Doch auch dafür braucht es eine umfassende Änderung des Kooperationsverbotes, das neben Wissenschaft und Forschung vor allem die Zusammenarbeit im Bereich der Bildung erlaubt. Eine Grundgesetzänderung kann man nicht alle Tage neu diskutieren. Wenn wir nun das Projekt schon in An- griff nehmen und wenn Sie ernsthaft eine Bildungsrepu- blik wollen, dann haben Sie Mut und bringen Sie mit uns eine Grundgesetzänderung auf den Weg, die mehr er- laubt, als ein bisschen Spitzenforschungsförderung. Mit unserem Vorschlag, einen neuen Art. 104 c in das Grundgesetz aufzunehmen, würde Bildung insgesamt profitieren. Unter Wahrung der Bildungshoheit der Län- der könnte das gesamte Bildungssystem in Deutschland gestärkt werden: Hochschulen, Schulen und die unter- schiedlichsten Arten der informellen sowie außerschuli- schen Bildung. Darüber hinaus hätte unser Vorschlag den Vorteil, dass er bereits von den SPD-geführten Bundesländern mitgetragen wird und so eine breite Zustimmung im Bundesrat gegeben ist. Um zu meinem Bild des Mara- thons vom Anfang zurückzukommen: Unser Antrag führt zum Ziel. Er ist dazu angelegt, die gesamte Strecke des föderalen Langstreckenlaufes im Bereich der Bil- dung zu schaffen. Das Ziel heißt mehr Bildungsgerech- tigkeit und eine Bildungskooperation, die breiten Teilen der Bevölkerung nutzt. Nehmen Sie die Bildung in Gänze in den Blick, und gehen Sie mit uns den Weg über einen neuen Art. 104 c! Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP): Deutschlands Hochschullandschaft steht in Zeiten des Bologna- Reformprozesses, angesichts steigender Studierenden- zahlen – ob nun durch die seit Jahren anwachsende Stu- dienanfängerquote, die doppelten Abiturjahrgänge oder die Aussetzung der Wehrpflicht – und durch die haus- halts- und finanzpolitischen Zwänge – Stichwort Schul- denbremsen – vor nie da gewesenen Herausforderungen. Seit Jahren unternimmt der Bund massive Anstrengun- gen, damit diese Entwicklung nicht zulasten von Studie- renden und Lehrenden verläuft. Die christlich-liberale Koalition hat mit ihren zahlreichen Initiativen wie dem Hochschulpakt, dem Qualitätspakt „Lehre“, der Exzel- lenzinitiative oder dem Deutschland-Stipendium – um nur wenige zu nennen – in erheblichem Maße dazu bei- getragen, dass die für die Hochschulen verantwortlichen Länder mit diesen großen Herausforderungen nicht al- lein gelassen werden. Leider gehen einige Länder nicht so verantwortungsvoll mit diesen Bundesmitteln um, wie es eigentlich im Interesse der Hochschulen sein sollte. Und so verstärkt der Bund auf der einen Seite be- ständig sein Engagement für die Hochschullandschaft, und auf der anderen Seite fahren Länder wie Berlin ihre Mittel im gleichen Maße zurück. Der Tagesspiegel drückt es ganz treffend aus: Den Hauptstadthochschulen bleibt nichts anderes, als die „Suppe mit Bundesgeld zu strecken“. Der Senat stiehlt sich aus seiner Verantwor- tung. Eine Schande! Die Regierungsfraktionen sind sich einig, dass die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands zu- nehmend von der Leistungsfähigkeit des Wissenschafts- systems abhängen wird. Im Bereich der universitären Forschung hat sich – nicht zuletzt wegen des enormen Engagements des Bundes – enorm viel getan. Für den Bereich der Hochschullehre gilt es, ein ähnliches Auf- bauprogramm zu entwickeln. Es darf nicht hingenom- men werden, dass diese wichtige Aufgabe zunehmend unter die Räder gerät. Wir müssen Hochschullehre at- traktiver gestalten, Betreuungsrelationen und -intensität deutlich verbessern, innovativere Formen des Austau- sches zwischen Lehrenden und Lernenden auf den Weg bringen und die Brücke zwischen der Vermittlung von Wissen und Kompetenzen und der Erfahrbarkeit von Forschung schlagen. Das lässt sich nicht zum Nulltarif haben. Nicht zuletzt deswegen legt die Bundesregierung ei- nen Gesetzentwurf vor, mit dem eine Änderung des Grundgesetzes in Art. 91 b auf den Weg gebracht wird. Ziel ist es, dass der Bund künftig im Hochschulbereich Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24051 (A) (C) (D)(B) stärker mit den Ländern kooperieren kann. Denn spätes- tens seit dem in Zeiten der Großen Koalition im Jahr 2006 eingeführten Kooperationsverbot im Bildungsbe- reich sind die Möglichkeiten des Bundes extrem einge- schränkt, sich sinnvoll an der Finanzierung von Bil- dungsvorhaben zu beteiligen. Heute wissen wir, dass die Einführung dieses Kooperationsverbotes – um es mit den Worten Hans-Dietrich Genschers zu sagen – „zu den größten Fehlleistungen der schwarz-roten Koalition“ ge- hörte. Die FDP hat sich damals wie heute massiv gegen dieses Kooperationsverbot ausgesprochen. Insoweit ist es nur konsequent, dass wir gemeinsam mit unserem Ko- alitionspartner heute eine Regelung auf den Weg bringen wollen, um das Kooperationsverbot im Wissenschaftsbe- reich zu lockern. In den Sonntagsreden von Vertretern von SPD, Bünd- nis 90/Die Grünen und der Linken wird die Regelung von 2006 verteufelt. Gleichzeitig gibt man sich Fantaste- reien hin, malt sich aus, was wäre, wenn der Bund die Zügel in der Hand hielte. Dass der Realisierungsgehalt dieser nebulösen Vorstellungen jedoch gegen null ten- diert, klammert man dagegen allzu gerne aus. Bezeich- nend war die Reaktion der Kollegin Krista Sager auf den Hinweis, dass der grüne Ministerpräsident Baden-Würt- tembergs öffentlich erklärt habe, man werde die Länder- hoheit im Schulbereich vehement verteidigen. Es mag zwar sein, dass Herr Kretschmann nur ein einzelner Grü- ner ist, doch es drängt sich die Frage auf, wie die grüne Bundestagsfraktion angesichts der konträren Haltung ei- gener Führungspersönlichkeiten – mögen diese noch so verschroben sein – sich als seriöser Verhandlungspartner gerieren will. Jedenfalls erschwert das elende Hickhack die dringend erforderliche Konsensfindung – schließlich benötigen wir nicht nur auf Bundesebene eine Zweidrit- telmehrheit, auch die Länder müssen in gleichem Um- fang mitziehen. Und wer solche Verhandlungen mit Ma- ximalforderungen überlastet, seine unabgestimmten Positionen in den Raum wirft, gefährdet auf unverant- wortliche Weise ein für alle tragfähiges Ergebnis. Es geht hier um die Zukunft unseres Hochschulsystems und nicht um die Ausgestaltung eines Krötenwanderweges. Hier sind die kleinkrämerischen Zänkereien entschieden fehl am Platze. Kurzum: Der Gesetzentwurf der Bundesregierung, basierend auf dem Vorstoß des bayerischen FDP-Wis- senschaftsministers Dr. Wolfgang Heubisch, bietet die Chance, die wirklich drängenden Fragen zu lösen. Na- türlich bleiben Wünsche unerfüllt. Mit Lob aus den Op- positionsfraktionen war nicht zu rechnen. Aber im Inte- resse der deutschen Hochschulen und Hunderttausender Studierender wäre es angebracht, sich aus dem Schmoll- winkel herauszubegeben und endlich die Ärmel aufzu- krempeln und ernsthaft zu verhandeln. Forderungen mit Blick auf den Schulbereich, auch wenn die FDP-Bun- destagsfraktion diese grundsätzlich für sinnvoll hält, sind aufgrund der Gemengelage – man denke an die Worte des grünen Ministerpräsidenten – derzeit nicht realisierbar. Unser Vorschlag lautet: Konzentrieren wir uns auf das Machbare. Die Oppositionsfraktionen tun sich mit ihrer Verwei- gerungshaltung auch keinen Gefallen. Es mutet nicht glaubwürdig an, wenn, wie derzeit im Deutschen Bun- destag, die Änderung des Art. 91 b des Grundgesetzes mit dem Hinweis, sie sei nicht weitreichend genug, ab- gelehnt wird und man zeitgleich im Bundesrat verkün- det, dass eine weiterreichende Lockerung des Koopera- tionsverbotes nicht infrage kommt. Mit dieser unsinnigen Haltung zementiert die Opposition das Ko- operationsverbot auf lange Sicht – und die Hochschul- verbände, Studierenden und Bevölkerung sind keines- wegs so naiv, dies nicht zu erkennen. In der Öffentlichkeit wird man sehr schnell erkennen, wer die historische Chance verbockt hat. Und es ist doch klar, dass wir die Gelegenheit nutzen werden, darauf auf- merksam zu machen, wer die Saboteure einer Verfas- sungsänderung waren. Ich würde mir jedoch für unsere Hochschulen in Deutschland wünschen, dass Sie uns diesen Wahlkampfschlager aus den Händen nehmen und Vernunft walten lassen. Während nahezu alle wichtigen Institutionen im Wis- senschaftsbereich – von den Forschungsgemeinschaften über die Hochschulverbände und den Wissenschaftsrat bis hin zu den Sachverständigen in unserer öffentlichen Anhörung am 19. März 2012 im Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung – unseren Ge- setzesvorschlag einhellig begrüßen, legen die Opposi- tionsfraktionen aus rein wahltaktischem Kalkül unüber- brückbare Steine in den Weg. Da ist es nur bezeichnend, dass es mit Dr. Wolfgang Heubisch ein FDP-Wissen- schaftsminister ist, der angesichts dieser Gefechtslage einen Kompromissvorschlag formuliert, um doch noch eine Grundgesetzänderung zum Wohle der Hochschulen und damit der Studierenden zu ermöglichen. Mich ver- wundert es nicht, dass aus den Reihen der Oppositions- fraktionen hierzu keinerlei Verlautbarung zu vernehmen ist. Einzig der sozialdemokratische Politikrentner Jürgen Zöllner hat die Zeichen der Zeit erkannt, nur wird dieser in seinen eigenen Reihen schon lange nicht mehr erhört. Mich erreichen fast täglich Zuschriften von Hoch- schulpräsidenten aus ganz Deutschland, die Mut ma- chen, an dem Ziel festzuhalten, eine Mitwirkung des Bundes bei der Hochschulfinanzierung durch die Ände- rung von Art. 91 b Grundgesetz zu ermöglichen. Ich be- zweifle, dass diese Briefe nicht auch die Vertreter der Oppositionsfraktionen erreichen, und frage mich, ob diese noch mit gutem Gewissen den Vertretern der Hochschulen gegenübertreten können, sollten sie sich unserem Gesetzesvorschlag verweigern und auf lange Zeit das Kooperationsverbot zementieren. Mit diesem fahrlässigen Handeln verpassen Sie die einmalige Chance für Hochschulen und Wissenschaftseinrichtun- gen und fügen unserem Land Schaden zu, da Sie die in- ternationale Wettbewerbsfähigkeit unseres Wissen- schaftssystems auf lange Zeit gefährden. Wiederholen Sie Ihre Fehler aus dem Jahre 2006 nicht! Lassen Sie diesmal Vernunft walten! Nicole Gohlke (DIE LINKE): Im letzten Winterse- mester fehlten mehr als 100 000 Studienplätze im Bundesgebiet, Tausende Studienbewerber gingen leer aus – trotz Studienberechtigung in der Tasche. In Baden- Württemberg fehlen ab 2013 mindestens 7 000 Master- 24052 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 (A) (C) (D)(B) studienplätze pro Jahr, an der Hochschule Offenburg er- hält nur jeder zehnte Bewerber eine Zulassung zu einem Masterstudiengang. Das Studentenwerk fordert den Bau von mindestens 25 000 Wohnheimplätzen, da viele Studierende gerade jetzt zu Semesterbeginn keine finan- zierbare Wohnung finden. In Hannover kommen bei- spielsweise auf 760 freie Wohnheimplätze mittlerweile 2 650 Bewerber. In München sind derzeit mindestens 6 000 junge Menschen ohne Unterkunft. Und in den Ländern werden ab 2014 mindestens 700 Millionen Euro im Jahr für den Hochschulbau fehlen. Ende 2011 stellte der Deutsche Philologenverband fest, dass in der Bundesrepublik jede Woche rund 1 Mil- lion Unterrichtsstunden ausfallen. Die durchschnittliche Klassengröße liegt laut Statistischem Bundesamt bei 27 Schülern an Gymnasien und bei 26 an Realschulen und integrierten Gesamtschulen. Eine 2009 von Klaus Klemm veröffentlichte Studie schätzt den Einstel- lungsbedarf von Lehrerinnen und Lehrern bis zum Jahr 2015/16 bei konstanter Schüler-Lehrer-Relation auf 195 921. Diese Liste wäre leicht zu erweitern, sie beschreibt lediglich einen Ausschnitt der bildungspoliti- schen Missstände und Leerstellen in der Bundesrepu- blik. Während die Presse voll ist von solchen Nachrichten, verharrt die Bundesregierung im Aussitzmodus und hält an ihrem völlig unzureichenden und vielfach kritisierten Gesetzentwurf zur Lockerung des Kooperationsverbotes fest. Seit der Bekanntmachung des Gesetzentwurfs im März dieses Jahres wurde von den Oppositionsparteien, von Gewerkschaften und vielen bildungspolitischen Akteuren Kritik geübt. Im Bildungsausschuss gab es eine Anhörung, in der die Sachverständigen fast einhel- lig die Position vertreten haben, dass das Verbot der Kooperation abgeschafft und die Zusammenarbeit von Bund und Ländern endlich verfassungsrechtlich veran- kert gehört. Dabei müsse vor allem sichergestellt wer- den, dass sich die Zusammenarbeit auf die gesamte Bil- dung erstreckt und eben nicht nur auf „Einrichtungen und Vorhaben an einigen Hochschulen von überregiona- ler Bedeutung“, wie das der schwarz-gelbe Entwurf vor- sieht. Trotz dieser Kritik brachte die Bundesregierung ihre Grundgesetzänderung völlig unverändert im Sep- tember zur Beratung in den Bundesrat ein und erhielt dort das absehbare Ergebnis: noch nicht einmal die ein- fache Mehrheit der Stimmen. Manche Niederlagen scheinen fast gewollt zu sein. Die Bundesregierung legt einen sehr dürftigen Gesetzentwurf vor, verändert – trotz großer Kritik – keinen Satz und stellt sich dann als poli- tisch gescheiterter Veränderer des Kooperationsverbotes dar. Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, das ist scheinheilig. Wenn Sie wirklich den politischen Willen hätten, das Kooperationsverbot zu lockern, dann stellten Sie sich der Kritik, nähmen Sie die Aufforderung des Bundesrates ernst, über einen neuen Entwurf ge- meinsam zu beraten, überarbeiteten Sie Ihren Vorschlag und weiteten Sie die Möglichkeiten der Kooperation endlich auf die gesamte Bildung aus. Sie sind weiterhin am Zug, Damen und Herren von der Regierung! Die derzeitigen Probleme in allen Bildungsbereichen sind gravierend und werden in dem schwarz-gelben Ent- wurf nicht berücksichtigt; denn Sie kümmern sich einzig und allein um die Spitzenforschung. Statt des Umsteu- erns weg vom gescheiterten Wettbewerbsföderalismus hin zur politisch gewollten Kooperation von Bund und Ländern im Sinne der Bildung, statt sich der Verantwor- tung zu stellen, in einer gemeinsamen Kraftanstrengung die Qualität des gesamten Bildungs- und Wissenschafts- systems zu verbessern und endlich die Gleichheit von Bildungschancen – unabhängig von regionalen, sozialen oder herkunftsbedingten Unterschieden – politisch zu gewährleisten, setzen Sie weiter auf die Förderung eini- ger Leuchtturmprojekte in der Forschung. Noch nicht einmal die grundlegenden Probleme der Hochschulfinanzierung würden mit Ihrem Gesetz gelöst. Wir brauchen dauerhaft ein gemeinsames Engagement von Bund und Ländern für mehr Studienplätze, wenn wir die unerträglichen Zustände bei der Hochschulzulas- sung überwinden wollen. Wir brauchen gemeinsame Ini- tiativen von Bund und Ländern zur Öffnung der Hoch- schulen. Wir haben bereits eine Fernuniversität, die bundesweit arbeitet und die für viele die einzige Chance auf ein Hochschulstudium ist – aber der Bund gibt hier- für keinen Cent, und die Fern-Uni Hagen pfeift finan- ziell aus dem letzten Loch. Mit Ihrem Gesetzentwurf würde sich hieran nicht das Geringste ändern, ganz zu schweigen von den Problemen in der allgemeinen Bil- dung: weder wäre ein neues Ganztagsschulprogramm noch eine umfassende Verwirklichung von Inklusion mit vereinten Kräften möglich. Wenn Sie diese Probleme noch nicht einmal interessieren, sollten Sie von der Bil- dungsrepublik schweigen! Die föderalen Strukturen sind für diese Regierung schon längst nur noch das Abschieben von Verantwor- tung und die Ausrede für unterlassene Finanzierungen und politische Steuerung. Der Föderalismus entlässt Sie aber nicht aus Ihrer bildungspolitischen Verantwortung. Wenn Sie keine Verantwortung tragen wollen, dann treten Sie ab, statt Notwendiges zu verhindern. Die Linke fordert weiterhin die sofortige Abschaffung des Kooperationsverbotes, die Verankerung einer Ge- meinschaftsaufgabe Bildung, eine gemeinsame Bil- dungsplanung von Bund und Ländern und eine kontinu- ierliche institutionelle Mitfinanzierung der Hochschulen durch den Bund in der Fläche. Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Endlich findet nun die erste Lesung des Vorschlags der Koalition zur Änderung des Grundgesetzes statt. Was Sie uns hier leider nicht vorlegen, ist ein substanzieller Antrag zur Aufhebung des Kooperationsverbots. Der zuständigen Bundesbildungsministerin ist es bis- her nicht gelungen, einen einigungsfähigen Vorschlag vorzulegen. Stattdessen hat die Bundesregierung ihren schwarz-gelben Entwurf auf den Weg gebracht, ohne Gespräche mit den Oppositionsfraktionen und den Län- dern zu suchen. Wer die benötigte Zweidrittelmehrheit für mehr Kooperation erreichen möchte, sollte schon im Verfahren und im eigenen Handeln kooperativ sein und nicht einfach einen Konsens suggerieren, der bislang nicht hergestellt wurde. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24053 (A) (C) (D)(B) Der Koalitionsvorschlag ist aber vor allem inhaltlich nicht zielführend. Anstatt der allgemeinen Erkenntnis zu folgen, dass die Einführung des Kooperationsverbots ein riesiger Fehler war, legen Sie uns hier eine Verfassungs- änderung vor, die nur auf den Bereich Wissenschaft un- zureichend eingeht. Völlig unberücksichtigt lassen Sie die Aufhebung des Kooperationsverbots im Bildungsbe- reich. Deswegen hat ihr Vorschlag zu Recht im Bundes- rat keine Mehrheit gefunden! Wir Grüne waren von Anfang an gegen das Koopera- tionsverbot. Wir sind daher weiter sehr an einer Eini- gung interessiert. Denn es geht uns dabei um die bil- dungspolitischen Zukunftschancen aller Kinder und Jugendlichen in diesem Land. Auch die Koalition muss doch erkennen, dass viele Bundesländer finanziell kaum in der Lage sind, ihr Bildungssystem angemessen auszu- finanzieren, vor allem wenn sie zugleich die Schulden- bremse einhalten sollen. Auch deswegen brauchen wir eine Ermöglichungsverfassung für bessere Bildung und bessere Wissenschaft und ein Aufbrechen verfassungs- rechtlicher Bildungsblockaden. Es ist im gemeinsamen Interesse aller staatlichen Ebenen, die Leistungsfähigkeit und Qualität der Bildung zu steigern; denn die immensen Folgekosten unterlassener Bildungsinvestitionen und unzureichender Qualifizierung tragen die Sozialkassen aller Ebenen. Wir setzen uns daher für einen kooperativen Bil- dungsföderalismus ein. Es ist eine gesamtstaatliche Auf- gabe, für gute Bildungsinstitutionen zu sorgen – von der frühkindlichen Bildung über Ganztagsschulen bis hin zu den Hochschulen. Dies muss sich auch in der Verfassung widerspiegeln. Bildung muss in der Breite und von Be- ginn an besser werden. Wir Grüne wollen daher eine Verantwortungspartnerschaft und Vertrauenskultur mit Ländern und Kommunen eingehen. Wir sind es leid, dass hier Scheindebatten geführt werden, für die jetzt wirklich keine Zeit mehr ist: Es ist schlicht falsch, dass die Opposition die Hochschulen in „Geiselhaft“ nehmen würde – uns Grünen geht es viel- mehr um eine Lösung, die verbesserte Kooperation im gesamten Bildungswesen ermöglicht. Nur wenn dies flä- chendeckend gelingt, nützt dies auch nachhaltig der Hochschulbildung. Selbst wenn man für einen Moment den Aspekt der Schulen ausblendet: Auch für die Wissenschaft ist der vorliegende Vorschlag doch völlig unzureichend, weil damit lediglich wenigen Spitzenuniversitäten oder ein- zelnen exzellenten Einrichtungen vage Mittel in Aus- sicht gestellt würden. Auch den Hochschulen wird der Regierungsvorschlag so kaum gerecht. Wir wollen das Maximum für eine bessere Bildung erreichen und sind für dieses Ziel immer gesprächs- und handlungsbereit. Und noch eine Scheindebatte sollten wir beenden: Es ist völlig verfehlt, unseren Vorschlägen zu unterstellen, wir wollten den Ländern die Zuständigkeit für die Schu- len nehmen. Niemand – egal auf welcher Ebene, egal in welcher Partei – braucht den Popanz aufzubauen, dass es uns Grünen oder der SPD um ein Hineinregieren in die Schulen vor Ort ginge. Als Grüne wollen wir Koopera- tion ermöglichen – unter Wahrung der Kulturhoheit der Bundesländer, im Einvernehmen mit ihnen und auf der Basis fester Bund-Länder-Vereinbarungen, und das mit dem klaren Ziel, kein Kind zurückzulassen und die Bil- dungschancen aller Kinder und Jugendlichen zu verbes- sern. Denn Bildung ist präventive Sozialpolitik, ermög- licht Inklusion, Integration und Teilhabe, legt die Basis für wirtschaftliche Entwicklung und Innovationsfähig- keit. Jedem und jeder ist offensichtlich, wie sehr die beste- hende Verfassungslage sinnvolle Lösungen blockiert. Bestes Beispiel sind die Verrenkungen des sogenannten Bildungs- und Teilhabepakets. Anstatt die Bildungsein- richtungen für alle Kinder und Jugendlichen zu stärken, wurde hier ein Bürokratiemonster erschaffen, das eigent- lich alle Beteiligten gern wieder verjagen würden. Dies ist nur möglich, wenn wir die Verfassung entsprechend ändern! Wir begrüßen, dass Frau Ministerin Schavan nun end- lich auf die Länder zugeht, um im Dialog zu der für eine Grundgesetzänderung benötigten Zweidrittelmehrheit zu kommen. Das war überfällig. Schade, dass sie unsere ständig wiederholten Aufforderungen zu einem Reform- konvent für eine Verfassungsänderung monatelang igno- riert haben. Dies wäre nicht nur der effektivere Weg ge- wesen, sondern hätte der Sache sicher gedient. Nun müssen wir das immer enger werdende Zeitfenster auf dem Weg zur Kooperationskultur endlich nutzen! Jetzt ist es an der Zeit, Vorwürfe beiseitezulassen und nicht mit dem Finger auf andere zu zeigen. Es ist bitter nötig, endlich von den bildungs- und gesellschaftspoliti- schen Notwendigkeiten auszugehen. Diese bestehen in erster Linie darin, die Spaltungen im deutschen Bil- dungssystem zu überwinden. Die Finanzierung von In- klusion und besserer individueller Förderung wird nur gemeinsam gelingen. Man kann es gar nicht oft genug wiederholen: Kindeswohl muss vor Kooperationsverbot gehen. Die Bürgerinnen und Bürger, die Schülerinnen und Schüler und die Eltern wünschen – ebenso wie ein Großteil der Praktiker und Wissenschaft, der Städtetag, die Gewerkschaften und Kirchen sowie Wirtschaftsver- bände –, dass das Kooperationsverbot aufgehoben wird. Ein Blockieren dieses Ziels nützt niemandem, sondern schadet der Politik insgesamt. Zu Recht würde Bund und Ländern Reformunfähigkeit vorgeworfen und der Föde- ralismus blamiert. Das dürfen wir alle nicht zulassen. Ich hoffe und bleibe optimistisch, dass wir gemeinsam mehr erreichen können als den jetzt vorliegenden Koalitions- vorschlag. Wir halten unsere ausformulierten Vorschläge und Anträge für konkrete Änderungen der Art. 91 b und 104 c weiterhin für gute und machbare Lösungen. Dazu muss sich die Koalition bewegen und endlich für einen echten Konsens offen sein. Ihr Koalitionskonsens reicht inhaltlich nicht aus. Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bildung und Forschung: Am 30. Mai haben wir im Kabinett den Ihnen vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Ände- rung des Art. 91b des Grundgesetzes beschlossen. Wir wollen ermöglichen, dass Bund und Länder in Zukunft 24054 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 (A) (C) (D)(B) auch bei der institutionellen Förderung unserer Hoch- schulen dauerhaft zusammenarbeiten können. Diese Kooperation zielt auf zwei große Herausforderungen für die Zukunft: Deutschlands Position im internationalen Wettbewerb um Ideen und künftigen Wohlstand zu ver- bessern und die Anzahl und Qualität der Fachkräfte von morgen zu erhöhen. In der Wirtschaft und in der Wissenschaft nimmt der internationale Wettbewerb zu. Internationale Rankings sprechen hier eine deutliche Sprache: Um zur Spitzen- gruppe der Welt aufzuschließen, müssen deutsche Hoch- schulen noch besser werden. Wir dürfen nicht nur an den Wettbewerb zwischen einzelnen Bundesländern bei uns denken – auch der ist wichtig – sondern eben auch an die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands insgesamt. Zum Beispiel in Asien wird massiv in die dortigen Hoch- schulsysteme investiert. Dies ist die eine Herausforde- rung, vor der wir stehen und die wir nur gemeinsam meistern können. Es gibt aber eine zweite Herausforderung, die min- destens ebenso wichtig ist: Wir müssen die Ressourcen zur Verfügung stellen, die für die Aus- und Weiterbil- dung der künftigen Fachkräfte auf höchstem Niveau in Deutschland notwendig sind. Die Zielrichtung meiner Intention lässt sich an den Initiativen ablesen, die Bund und Länder in den vergan- genen Jahren gemeinsam für einen befristeten Zeitraum gestartet haben und mit denen wir die Hochschulen in unserem Land erfolgreich vorangebracht haben. Hiervon profitieren die Studierenden genauso wie die Forschung. Beispielhaft nenne ich den Hochschulpakt 2020, mit dem wir neue Studienmöglichkeiten für die zu erwarten- den 327 000 zusätzlichen Studienanfänger schaffen. Ich nenne weiter den Qualitätspakt Lehre, an dem ge- genwärtig 186 Hochschulen aus allen 16 Ländern betei- ligt sind. Ich nenne schließlich die Exzellenzinitiative, mit der wir die internationale Sichtbarkeit unserer Hochschulen vor allem in der Forschung entscheidend verbessern und nach vorne bringen. Die Resonanz auf diese milliardenschweren Programme zeigt: Es gibt in allen Ländern einen Bedarf dafür. Es gibt ein immenses Interesse der Hochschulen. Mit Blick auf die Studierenden und die Wett- bewerbsfähigkeit unserer Hochschulen muss ich auch sagen: Es gibt schlicht die gesamtstaatliche Notwendig- keit, dass wir gemeinsam handeln. Die angestrebte Änderung des Grundgesetzes trägt wesentlich zur Bewältigung beider Herausforderungen bei. In den Reden, die anlässlich der Befassung mit dem Gesetzentwurf im Bundesrat gehalten wurden, war von den Länderkollegen zu hören, dass der Entwurf nicht weit genug gehe, dass man auch den Bildungsbereich mit einbeziehen müsse. Ich wiederhole hier gerne noch einmal, was ich be- reits in der Debatte im Bundesrat gesagt habe: Herzlich gerne, gerne können wir über zweite und dritte Schritte reden, aber zunächst einmal lassen Sie uns gemeinsam jetzt diesen ersten Schritt tun. Der Bundesrat hat die Bundesregierung aufgefordert, mit den Ländern in Gespräche einzutreten. Deshalb habe ich nun die Kultus- und Wissenschaftsminister der Län- der für den 25. Oktober 2012 zu einem Gespräch einge- laden. Ich frage aber: Gibt es einen Konsens der Länder untereinander? Ich sehe nicht, dass die Länder wissen, welche Änderungen sie wollen und wie weit diese gehen sollen. Im Übrigen habe ich bereits mehrfach vorgeschlagen, entsprechend der Empfehlung von renommierten Bildungspolitikern und Experten – wie zuletzt von der Robert-Bosch-Stiftung – einen Bildungsrat einzurichten, der analog zum Wissenschaftsrat mit Experten und Ver- tretern der Politik von Bund und Ländern besetzt sein soll. Ein großer gemeinsamer Erfolg ist, dass wir das ver- einbarte 10-Prozent-Ziel fast erreicht haben. Der Anteil von Bildung und Forschung am Bruttoinlandsprodukt lag 2008 bei 8,6 Prozent und ist in den Jahren 2009 und 2010 trotz einer Steigerung des BIP um 5,2 Prozent mit 9,5 Prozent auf hohem Niveau konstant geblieben. Ins- gesamt betrugen 2010 die Bildungsausgaben 172,3 Mil- liarden Euro. Damit ist das vereinbarte 10-Prozent-Ziel in greifbarer Nähe. Nun hat der Bundesrat in seiner Stellungnahme des Weiteren gefordert, dass der Bund die Länderhaushalte zur Erreichung der bildungspolitischen Zielsetzungen mit zusätzlichen Umsatzsteuerpunkten unterstützt. Diese Forderung lehne ich ab. Denn da machen es sich die Länder zu einfach. Der Bund ist nicht die Spar- kasse der Länder. Auch für den Bund gilt die Schulden- bremse, und zudem ist die Finanzausstattung des Bundes – dieser Hinweis sei erlaubt – deutlich ungünstiger als die der Länder. Vielmehr geht es um zusätzliche Mittel – nicht um schlichte Umverteilung. Darüber hinaus halte ich eine solche Übertragung auch nicht für zweckmäßig, da die übertragenen Mittel der Gestaltungsund Kontrollmöglichkeit des Bundes ent- zogen wären. Ich denke, hier haben wir in diesem Hause einen Konsens. Es kann schließlich nicht sein, dass der Bund das Geld gibt, aber inhaltlich dann nicht mitspre- chen darf. Sie alle wissen: Die Zeit drängt. Sie alle wissen: Die Hochschulen brauchen diese Änderung jetzt. Sie alle kennen die Appelle der Allianz der Wissenschaftsorgani- sationen, der Hochschulrektorenkonferenz und der TU9. Deshalb bitte ich Sie: Helfen Sie den Hochschulen jetzt. Nehmen Sie nicht die Hochschulen und Studenten als Geiseln. Gerne können wir über weitere Schritte re- den, aber lassen Sie uns die Zeit nutzen und jetzt diesen wichtigen Schritt gemeinsam tun. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24055 (A) (C) (D)(B) Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Rechtliche und fi- nanzielle Voraussetzungen für die Zahlung einer Ausstellungsvergütung für bildende Künstlerinnen und Künstler schaffen (Tages- ordnungspunkt 15) Monika Grütters (CDU/CSU): Zum wiederholten Mal – das letzte Mal war es im vergangenen Jahr am 7. Juli auf Antrag der Grünen – diskutieren wir heute das Für und Wider einer Ausstellungsvergütung. Jetzt ist es die Linke, die sich einer Forderung des BBK anschlie- ßen will – es ist zwar alles schon mehrfach gesagt, aber eben nicht von allen. Sie wollen einen „unverzichtbaren Anspruch auf eine angemessene Vergütung für die Ver- wertung ihrer Werke im Rahmen von öffentlichen Aus- stellungen sichern“. Zugleich soll dafür gesorgt werden, dass „Institutionen, die zeitgenössische Kunst ausstellen (…), nicht über Gebühr belastet werden.“ Also muss der Steuerzahler wieder einmal in die Tasche greifen, denn Museen, die heute kaum noch einen Ankauf- oder Aus- stellungsetat haben, müssten ja hier noch einmal draufle- gen, und das geht eben aus den vorhandenen Haushalten kaum. Eine „Gerechtigkeitslücke“ gerade gegenüber bilden- den Künstlern im Vergleich zu Künstlern anderer Spar- ten, wie sie damals von den Grünen hier ausgemacht wurde, kann ich nicht erkennen – wir alle wissen, dass es sehr erfolgreiche Maler und Bildhauer gibt, ebenso wie arme Poeten, und nur wenige wohlhabende Musiker. Richtig ist: Der bildende Künstler lebt im Gegensatz zu anderen Künstlern vom Verkauf seiner Werke, der Autor vom Vertrieb, der Musiker von Aufführungen. Erfolg- reich verkaufen kann ein Künstler dann, wenn er zuvor bekannt gemacht wurde – zum Beispiel durch Ausstel- lungen in Museen, Kunstvereinen, Galerien etc. Das bringt dem bildenden Künstler eine große Öffentlichkeit und bestenfalls Anerkennung seines Werkes. Während die einen bei Lesung, die anderen bei Kon- zerten eine direkte Vergütung erhalten, lebt der bildende Künstler vom direkten Verkauf seiner Werke oder auch zum Beispiel von der Nutzung der Abbildungen. Die nun erneut geforderte Ausstellungsvergütung soll dazu dienen, bildenden Künstlern auch aus der Ausstellung ihrer Werke einen wirtschaftlichen Nutzen zukommen zu lassen – auf dass sich ihre wirtschaftliche und damit soziale Lage verbessere. Abgesehen davon, dass auch eine Ausstellungsvergü- tung die in vielen Fällen sicher schwierige wirtschaft- liche Situation der Künstler mitnichten auffangen würde, wäre die Ausstellungsvergütung so nur eine verkappte zusätzliche Sozialleistung. Aber mit welcher Berechti- gung eigentlich? Wenn auch in verschiedenen Systemen, so arbeiten und leben doch alle Künstler von demselben Prinzip: vom „Verkauf“, von der Verwertung, von der Nutzung ihrer kreativen Arbeit – eben indem sie sie auf- führen – Bühne, Musik – oder ihr Kunstwerk sein Publi- kum – Kompositionen, Theaterstücke – oder halt neue Besitzer – bildende Kunst – findet. Die soziale Absicherung aller (!) Künstlerinnen und Künstler in Deutschland unterstützen wir mit der Künst- lersozialkasse – eine große und übrigens weltweit in die- ser Form einzigartige Anerkennung, die die Gesellschaft den besonderen Erfordernissen diesem uns so wichtigen Berufsstand zollt. Viele Befürworter einer Ausstellungsvergütung bli- cken hoffnungsvoll auf das schwedische Modell, das 2009 in Kraft trat. Aber hat das schwedische Modell die ökonomischen Verhältnisse der Künstler oder deren Möglichkeit, ihre Werke auszustellen, tatsächlich signi- fikant verbessert? Nicht, dass wir wüssten. Zu bedenken ist aber sehr wohl, was für dramatische Konsequenzen es gerade finanziell für die Museen hätte: Solange es die Forderungen nach einem Vergütungsanspruch für die öf- fentliche Ausstellung bildender Kunst gibt, werden sie von fast allen im Kunstbetrieb Verantwortlichen abge- lehnt. Die Museen haben ja ein großes Interesse an Ausstel- lungen zeitgenössischer Kunst. Sie verleihen den Häu- sern Lebendigkeit und Aktualität. Umgekehrt wissen na- türlich auch die Künstler um die Vorteile einer Ausstellung in diesen Institutionen. Gerade Ausstellun- gen ihrer Werke in öffentlichen Museen sind für die Künstler wie ein Ritterschlag, die Arbeiten erfahren so ja auch eine enorme Wertsteigerung. Die Schattenseite: Durch Ausstellungsvergütungen werden Ausstellungen für die Veranstalter erheblich teu- rer, in der Folge planen die Museen weniger Ausstellun- gen, oder man greift gleich auf die – freien – Werke zu- rück, für die keine Gebühr bezahlt werden muss – und das geht dann endgültig zulasten derjenigen Künstler, die Sie doch begünstigen wollen. Nur die bekommen dann noch weniger Präsentationsmöglichkeiten. In fast allen Fällen werden schon heute Ausstellungen nicht einmal kostendeckend durchgeführt. Künstler an Aus- stellungseinnahmen zu beteiligen, würde in vielen Fällen den finanziellen Ruin der Veranstalter bedeuten, und das wäre dann das endgültige Aus einer wirksamen Kunst- und Künstlerförderung. Die meisten Museen verfügen ohnehin kaum noch über große Ausstellungsetats. Ihr Budget für Ausstellun- gen müsste also entsprechend erhöht werden. Wer, bitte, will das bezahlen? BKM? Oder der Aufrichtigkeit und Wahrheit halber dann doch lieber das Sozialministe- rium? Als eine Stiftungschefin, die beinahe jährlich Ausstel- lungen erarbeitet, kann ich Ihnen aus langjähriger, per- sönlicher Erfahrung berichten, dass die Mehrzahl der (Kunst-)Museumsbesucher nicht an Werken zeitgenössi- scher Künstler, sondern eher an Werken der klassischen Moderne oder der aIten Kunst interessiert ist. Diese fal- len ohnehin nicht unter die Ausstellungsvergütung. Für Werke zeitgenössischer Künstler müssen wir das Publi- kum zunächst mühsam begeistern. Kuratierung der Aus- stellung, Transport der Werke, Schreiner-, Maler- und Reinigungsarbeiten, Restaurierung, Beschriftung, Be- 24056 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 (A) (C) (D)(B) leuchtung, Bewachung, Heizung und Klimatisierung, Herstellung von Katalogen, Plakaten, Einladungskarten, deren Versand, Kosten für die Eröffnung etc. All diese Kosten übernehmen wir als Aussteller bereits. Und dann auch noch eine Vergütung an die Künstler zahlen als „Belohnung“ dafür, dass wir sie bekannt machen? Natürlich könnte man die Künstler an dem Gewinn, der mit der Präsentation ihrer Kunstwerke erwirtschaftet wird, beteiligen, wenn es denn überhaupt einen gäbe. Doch wer am Erlös beteiligt wird, müsste auch einen Teil der Kosten übernehmen – und diese übertreffen be- kanntlich in fast allen Fällen die Einnahmen aus den Ausstellungsprojekten. Hinzu kommt, dass der Kunst- markt genau dieses Geschäft betreibt, in Galerien und auf Messen. Museen haben einen anderen Auftrag. Die Auswirkungen auf die private Kunstförderung und Aus- stellungstätigkeit wären verheerend, weil sich solche Kosten nicht über die Eintrittsgelder auf die Besucher verlagern lassen. Die Enquete-Kommission hat dem Deutschen Bun- destag und der Bundesregierung empfohlen, erneut zu prüfen, „mit welchen Regelungen und Maßnahmen im Urhebervertragsrecht eine angemessene, an die wirt- schaftlichen Verhältnisse angepasste Vergütung für alle Urheber und ausübenden Künstler erreicht werden kann, da die bisherigen Regelungen im Urhebervertragsgesetz unzureichend sind“. Die bildende Kunst wird über den Verkauf verwertet. Glauben Sie wirklich, dass ein Künstler, dessen Werke nicht gekauft werden, gegen Vergütung ausgestellt würde? Sicher nicht. Eine Ausstellungsvergütung nach dem von Ihnen vorgeschlagenen Modus käme vor allem einem kleinen Kreis längst etablierter Künstler zugute. Österreich jedenfalls hat die Ausstellungsvergütung zurückgenommen – 1996 eingeführt, 2000 wieder abge- schafft –: Dort gibt es keine Ausstellungsvergütung für urheberrechtlich geschützte Werke der bildenden Kunst mehr. Die Ausstellungsvergütung bewirkte nämlich prompt eine Benachteiligung lebender Künstler und wirkte sich am Ende sogar nachteilig für den ganzen Kunststandort Österreich aus. Positiv an Ihrem Antrag ist, dass wir einmal mehr das wichtige Thema Soziale Lage der Künstler besprechen, und das werden wir in einer der nächsten Ausschusssit- zungen dann ja auch noch einmal tun. Es ist uns allen wichtig, dass unsere Künstler für ihre Arbeit – gut – be- zahlt werden. Aber eine pauschalierte Ausstellungszah- lung für Einrichtungen des BKM, für Institutionen, die überwiegend mit etablierten und auf dem Kunstmarkt bereits eingeführten Künstlern arbeiten? Das jedenfalls führt nicht zu mehr – sozialer oder wirtschaftlicher – Ge- rechtigkeit. Wichtiger ist es, die Chancen für Künstler zu verbes- sern, überhaupt ausstellen zu können, nicht, sie gesondert zu vergüten. Es braucht mehr Ausstellungsmöglichkeiten für jüngere bildende Künstler, weitere Fördermöglichkei- ten, Projektzuschüsse oder Arbeitsstipendien – Stiftung Kunstfonds, Künstlerstipendien der Villa Massimo etc. – und Ankaufetats für die Museen – und hier sind vor allem die Länder und Kommunen gefragt. Christoph Poland (CDU/CSU): Die Förderung von Künstlerinnen und Künstlern in Deutschland hat einen guten Ruf – und das zu Recht. Die Kultur hat in Deutschland schon immer eine wichtige Rolle gespielt, und der föderale Staat Bundesrepublik Deutschland braucht und fördert diese kulturelle Klammer zwischen Bund und Ländern in besonderer Weise. Der deutsche Staat fördert seine Kultur mit „nur“ 1,67 Prozent aller öffentlichen Haushalte, aber das sind circa 9,6 Milliar- den Euro jährlich. Das hat einen positiven Effekt und eine nachhaltige Wirkung! Im föderalen Bundesstaat Bundesrepublik liegt die Hoheit über Bildung und Kultur bei den Ländern. Sie fi- nanzieren den Großteil der öffentlich geförderten Kultur mit über 43 Prozent, die Kommunen sogar noch mehr, mit 44,4 Prozent. 113 Millionen Menschen besuchten 2009 deutsche Museen – eine Steigerung von circa 2,2 Millionen gegenüber dem Vorjahr. Das sind zehnmal mal so viele Gäste, wie alle Bundesligaspiele einer Sai- son Besucher hatten. Vor diesem Hintergrund kann ich nur feststellen: Der Antrag der Linken ist populistisch. Ihn von den Grünen fast wortwörtlich zu übernehmen, macht ihn und die gute Absicht nicht besser! Was würde eine Ausstellungsvergütung in Deutsch- land bewirken? Die ausstellenden Institutionen verzichten aus Kos- tengründen gänzlich oder teilweise auf die Ausstellung. Das kann uns nicht recht sein. Wir sind zu Recht stolz auf eine breite Kulturszene. Sie von den Linken nehmen bitte die Fakten zur Kenntnis: Die Forderung nach einer Ausstellungsvergü- tung geht von falschen Voraussetzungen aus. Denn nur 10 Prozent der Museen in Deutschland sind reine Kunst- museen. Überwiegend werden Kunstwerke zu Illustra- tionszwecken ausgestellt, und mit einer Ausstellungsge- bühr würden diese Werke aus dem Ausstellungskonzept herausgenommen und als verzichtbar angesehen. Die Mehrzahl der Museen in Deutschland sind klein und Einrichtungen mit geringen Besucherzahlen und wenig Personal. Auch solche kleinen Museen würden auf zeit- genössische Künstler verzichten, da der Verwaltungsauf- wand für die Abrechnung der Ausstellungsvergütung in keinem Verhältnis zu den Kosten steht. Entscheiden sich die Aussteller für die Umlage der Kosten, würde das automatisch zu einer Erhöhung der Eintrittspreise führen. Das können wir nicht wollen. Über 30 Prozent der Museen erheben keinen Eintritt, und 33 Prozent haben einen Eintrittspreis bei maximal 2 Euro. Der Jahresverdienst von Künstlerinnen und Künstlern ist nicht hoch. Das ist beklagenswert, aber auch den meisten Künstlerinnen und Künstlern bei Aufnahme ihres Berufs klar. Daher unterstützen wir mit Bundesmit- teln die Künstlerinnen und Künstler in Deutschland über Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24057 (A) (C) (D)(B) die Künstlersozialkasse. Es ist für uns in Regierungsver- antwortung eine bürgerliche Tugend, die Kunst und Frei- heit zu fördern. Das sage ich deutlich in Richtung der Linken bei so populistischen Anträgen wie diesem. Und nehmen Sie bitte auch aus der Diskussion schon um den Antrag der Grünen zur Kenntnis: Das schwedi- sche Modell einer Ausstellungsgebühr ist nicht übertrag- bar, und das österreichische Modell wurde wieder abge- schafft! Meine Erfahrung als Ausstellungsmacher war immer, dass es darum geht, Künstlern eine Plattform zu bieten und Besuchern die Schwellenangst beim Ausstellungs- besuch zu nehmen. Der Antrag der Linken ist kein Weg dahin. Siegmund Ehrmann (SPD): Vor knapp anderthalb Jahren haben wir an gleicher Stelle einen Antrag der Grünen debattiert, die ein Ausstellungshonorar bzw. eine Ausstellungszahlung fordern. Dieser Vorschlag orientiert sich am schwedischen Modell einer Künstlervergütung. Dazu hatte die Friedrich-Ebert-Stiftung im Herbst 2010 eine Studie vorgestellt und am 25. November 2010 ein Expertengespräch durchgeführt. Ich habe schon damals deutlich gemacht, dass das schwedische Modell nicht direkt auf Deutschland über- tragbar ist. Im Vergleich zu Schweden, wo auch nur eine geringe Zahl von Ausstellungshäusern und staatlichen Museen unter diese Regelung fallen, sind es in Deutsch- land deutlich mehr öffentliche Einrichtungen, die von ei- ner solchen Regelung erfasst werden müssten, und diese Einrichtungen befinden sich überwiegend in der kultur- politischen Verantwortung von Ländern und Kommu- nen. Die Forderung nach einer verpflichtenden Ausstel- lungszahlung an bildende Künstlerinnen und Künstler greift zu kurz, wenn damit nur der Bund angesprochen wird. Es wäre nach einer Regelung zu suchen, die die Länder und Kommunen und natürlich auch deren ak- tuelle finanzielle Lage berücksichtigt. Was nützt eine Forderung, wenn sie auch bei bestem Willen nicht erfüllt werden kann. Dass es Lösungen gibt, zeigt das Land Berlin. Hier wurden erstmals im Sommer 2011 für eine vom Land or- ganisierte Ausstellung – „based in berlin“, Gesamtetat: 1,2 Millionen Euro – Honorare gezahlt. Kritik gab es na- türlich sofort an der Höhe hier: 500 Euro. Berlin hat aber auch andere Wege gesucht und gefunden, die bildende Kunst zu unterstützen. Über ein Atelierprogramm bei- spielsweise wird die Möglichkeit zur Präsentation von Kunst ebenfalls gefördert. Ich meine, dass es sich die Linke etwas zu leicht macht, wenn sie fordert, der Bund möge seinen Einfluss geltend machen, dass auch die Länder und Kommunen ein verpflichtendes Ausstellungshonorar zahlen mögen. Sie sollten schon auch sagen, wie genau das gehen soll angesichts der finanziellen Lage vieler Kommunen. Wenn der Bund eine Ausstellungszahlung in seinen Ein- richtungen ermöglichen würde, was vielleicht sogar fi- nanziell überschaubar ist, würde er damit Länder und Kommunen in erhebliche Erklärungs- und Handlungs- nöte bringen. Von den über 6 500 Museen und Ausstel- lungshäusern in Deutschland sind nach Angaben des In- stituts für Museumsforschung nur knapp 60 in der Trägerschaft des Bundes; der allergrößte Anteil öffentli- cher Museen ist in kommunaler Trägerschaft. Gleich- wohl sieht die SPD-Bundestagsfraktion den Bund in der Verantwortung. Orientiert an pragmatischen Lösungen, wie in Berlin, könnten und sollten erste Schritte hin zu einer angemessenen Vergütung von bildenden Künstle- rinnen und Künstlern erfolgen. Damit wären wir beim zweiten Kernpunkt des Antra- ges. Die Linke versucht nämlich, schlauer als die Grünen zu sein, und fordert zunächst eine urheberrechtliche Ausstellungsvergütung. Solange es diese aber nicht gibt, soll es eine Ausstellungszahlung bzw. ein Ausstellungs- honorar geben. Die Linke weiß also selbst, dass es neben vielen Argumenten für eine Ausstellungsvergütung, die wir als Kulturpolitiker allesamt teilen, auch eine Menge von Argumenten dagegen gibt. Diese sollte man nicht unterschätzen, zumal diese insbesondere von kommuna- ler Seite und dem Deutschen Museumsbund, also den Akteuren, die eine solche Vergütung finanziell zu schul- tern hätten, vorgetragen werden. Sie argumentieren, dass diese Zusatzkosten dazu führen könnten, dass im Ergeb- nis weniger Ausstellungen durchgeführt werden und am Ende nur die bekannten und etablierten Künstler profi- tieren. Derartige Erfahrungen in Österreich haben dazu geführt, dass man sich dort von einer entsprechenden Regelung wieder verabschiedet hat. Ich will die Argumente für und gegen eine urheber- rechtliche Ausstellungsvergütung nicht alle einzeln noch einmal vortragen. Für die SPD will ich an dieser Stelle deutlich sagen, dass wir diese nun schon mehr als 30 Jahre alte Forderung maßgeblicher Verbände im Be- reich der bildenden Kunst, eine Ausstellungsvergütung einzuführen, immer positiv begleitet haben. Mit einem Sondervotum hat sich die SPD in der Enquete-Kommis- sion „Kultur in Deutschland“ für eine Ausstellungsver- gütung ausgesprochen. Eine parlamentarische Initiative der SPD-Kulturpolitiker 2005 war nicht erfolgreich, auch weil die Verbände der bildenden Künstlerinnen und Künstler unterschiedliche Vorstellungen hatten, wie ge- nau eine Ausstellungsvergütung rechtlich ausgestaltet sein soll. Wir halten das Anliegen einer gerechten und fairen Vergütung von bildenden Künstlerinnen und Künstlern für mehr als berechtigt. Wir wollen, dass Kultur- und Medienschaffende, Künstlerinnen und Künstler und Kreative von ihrer Arbeit leben können. In unserem Pro- jekt Kreativpakt haben wir deutlich gemacht, dass eine öffentliche Förderung auch daran geknüpft sein sollte, dass Tarifverträge und soziale Mindeststandards einge- halten werden. Die Forderung nach einer Ausstellungs- vergütung, unabhängig von der Frage nach der konkre- ten Ausgestaltung, gehört dazu. Wir halten es für wichtig, zu umfassenden und tragfä- higen Lösungen zu kommen. Unser Ziel ist es, dass die Künstler und Kreative durch ihr Schaffen und ihr Werk auch ein angemessenes Einkommen erzielen können. Die Vor- und Nachteile der vorgestellten Ansätze für 24058 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 (A) (C) (D)(B) Ausstellungszahlungen, -honorare bzw. Ausstellungs- vergütung müssen sorgfältig abgewogen werden. Nur mit einer sinnvollen und belastbaren Lösung ist den Kul- turschaffenden auch wirklich geholfen. Dabei sollten al- ternative Lösungen zur Förderung der bildenden Kunst ebenfalls bedacht werden. Burkhardt Müller-Sönksen (FDP): Das Thema Ausstellungsvergütung ist im Deutschen Bundestag ein wohlbekanntes. Bereits in der letzten Wahlperiode wurde dieses Thema in der Enquete-Kommission „Kul- tur in Deutschland“ ausführlich beraten und kontrovers debattiert. Die Enquete-Berichte sowie die Sondervoten spiegelten die Debatte wider; der Antrag der Fraktion Die Linke wiederholt sie nun. Zweifellos ist der Beteiligungsgrundsatz, nach dem der Urheber oder Leistungsschutzberechtigte an jeder wirtschaftlichen Nutzung seiner Werke oder Leistungen angemessen zu beteiligen ist, einer der tragenden Leitge- danken des Urheberrechts. Nach unserem liberalen Ver- ständnis realisiert sich darin die Verwertungsfreiheit des Einzelnen, die wir schützen und gewährleisten müssen. Für uns ist und bleibt die Einführung einer Ausstellungs- vergütung für bildende Künstlerinnen und Künstler aber der falsche Weg, um ihre – teilweise auch für uns unbe- friedigende – soziale Lage zu verbessern. Der Antrag moniert die Ungleichbehandlung bilden- der Künstlerinnen und Künstler. Für uns war diese Un- gleichbehandlung ein Grund, genauer hinzusehen, und wir stellten bereits in den Beratungen der Enquete fest: Ungleiches wird richtigerweise und dem verfassungsmä- ßigen Gleichheitssatz entsprechend ungleich behandelt. Insofern drängt sich mir der Verdacht auf, dass die Lin- ken Symbolpolitik betreiben. Nach dem Motto „Gut ge- meint ist manchmal das Gegenteil von gut“ muss ich dringend davor warnen, ungleich mit ungerecht gleich- zusetzen und die besonderen Verhältnisse im Ausstel- lungswesen zu verkennen. Bei reinen Verkaufsausstellungen dürfte die Notwen- digkeit einer weiteren Beteiligung selbst von der Links- fraktion verneint werden. Mit Blick auf die zahlreichen Ausnahmen, die der Antrag für kleinere Vereine und Projekte, Eigentümer und Galeristen vorsieht, blieben daneben nur große Ausstellungsformate vergütungs- pflichtig. Unter diesen gibt es selbstverständlich Leucht- türme wie die Documenta in Kassel oder den MOMA- Besuch in Berlin, die sich gewinnbringend vermarkten lassen. Hier werden in der Regel aber bereits etablierte Künstler gezeigt. Bei allen Bemühungen um eine leben- dige deutsche Kunstszene gebe ich mich nicht der Hoff- nung hin, dass diese Formate die Regel werden könnten. Regelmäßig betroffen wären also die übrigen Ausstel- lungen: kleinere Ausstellungen in Museen und Kunst- vereinen. Ausgerechnet diese engagierten Ausstellungs- macher würden also zusätzlich unter wirtschaftlichen Erfolgsdruck gesetzt. Für uns wäre es nur allzu verständ- lich, wenn sie als Konsequenz vorrangig auf bekannte und etablierte Künstlerinnen und Künstler setzen wür- den, um das wirtschaftliche Risiko zu minimieren. Inso- fern nützte die Ausstellungsvergütung vor allem denen, die sie gar nicht bräuchten. Es droht sogar, was der Kollege Siegmund Ehrmann in einer ähnlich gelagerten Debatte zu einem Antrag der Grünen so treffend als Bärendienst an den Künstlern be- schrieben hat. Der Deutsche Museumsbund und Vertre- ter der Kommunen und Länder, in deren Verantwortung besonders viele kleinere Museen und Ausstellungsräume stehen, weisen immer wieder auf den Effekt von Zusatz- kosten hin: weniger Ausstellungen! Dies wäre aber ge- rade für die von den Linken fokussierte Zielgruppe fatal. Gerade junge und unbekannte Künstlerinnen und Künst- ler profitieren unmittelbar von der Ausstellung ihrer Werke, weil sie ihre Bekanntheit steigert und ihnen Kon- takte zu Galeristen und Sammlern verschafft. Da es schlechterdings nicht vorstellbar ist, dass ein Künstler keine Werke verkauft und keine Aufträge erhält, aber so oft ausgestellt wird, dass er davon leben könnte, könnte sich die Lage bildender Künstlerinnen und Künstler also sogar verschlechtern. Schließlich sei nochmals darauf hingewiesen, dass die Ausstellungsmacher schon aus wirtschaftlichen Gründen die Ausstellungsvergütung einpreisen müssten. Letztlich würde sie sich also in höheren Eintritts- oder Verzehr- güterpreisen und sinkenden Besucherzahlen niederschla- gen. Wenn die Linken, wie Sie in Ihrem Antrag ebenfalls schreiben, die Zugänglichkeit zu den Ausstellungen für alle Bürgerinnen und Bürger gewährleisten wollen, ist dies sicherlich der falsche Weg. Mein Kollege Reiner Deutschmann hat in der bereits erwähnten Debatte darauf verwiesen, dass wir struktu- relle Unterstützungsmöglichkeiten suchen sollten. Wie lassen sich zum Beispiel durch Zwischennutzungen günstige Atelier- oder Ausstellungsflächen gewinnen? Welche Maßnahmen entlasten den allgemeinen Kunst- handel nach der auf zwingendem EU-Recht beruhenden Anpassung des Mehrwertsteuersatzes? Staatsminister Neumann und Staatssekretär Otto prüfen derzeit unter anderem die Möglichkeit einer Margenbesteuerung und eine Anhebung des Bundeszuschusses zur KSK. Alle diese Maßnahmen wirken strukturell und wären aus un- serer Sicht geeigneter als die von der Linken geforderte Mehrbelastung des Ausstellungswesens. Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): Als läh- menden Stillstand könnte man die Situation beschreiben, mit der wir uns heute auseinanderzusetzen haben: Seit 30 Jahren debattieren bildende Künstlerinnen und Künstler, die sie vertretenden Organisationen und Politi- kerinnen und Politiker über „rechtliche und finanzielle Voraussetzungen für die Zahlung einer Ausstellungsver- gütung“, wie es in unserem Antrag heißt. Es geht darum, eine seit langem bestehende Gerechtigkeitslücke im gel- tenden Urheberrecht zu schließen. Einen ersten Schritt in diese Richtung haben die Grünen mit ihrem Antrag „Für eine Ausstellungszahlung an bildende Künstlerinnen und Künstler sowie Fotografinnen und Fotografen bei durch den Bund geförderten Ausstellungen“, Druck- sache 17/6346, im letzten Jahr gemacht. Diesen Antrag haben wir unterstützt. Er wurde leider im mitberatenden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24059 (A) (C) (D)(B) Haushaltsausschuss abgelehnt. Seitdem wieder: lähmen- der Stillstand. Aber nun kommt Bewegung in die Geschichte. Am 12. Dezember gibt es im Kulturausschuss ein Fachge- spräch zur bildenden Kunst unter anderem auch zum Thema Ausstellungsvergütung. Der Antrag der Grünen und unserer vom heutigen Tag stehen dann zur Diskus- sion. Schweden hat 2009 eine Ausstellungsvergütung ein- geführt, deren Regelungen durch die Zusammenarbeit von Künstlerorganisationen und dem schwedischen Kul- turrat erarbeitet wurden. Seitdem sind alle staatlichen Museen verpflichtet, für alle Werke im Eigentum eines in Schweden lebenden Künstlers eine Ausstellungsver- gütung zu zahlen. 109 Kunsteinrichtungen haben sich dieser Regelung inzwischen angeschlossen. Schritt für Schritt verbessert sich so die Situation der schwedischen Künstlerinnen und Künstler. Außerdem ist diese Rege- lung Ausdruck für die Anerkennung künstlerischer Leis- tungen durch den Staat, durch die Gesellschaft. Ich frage: Warum ist es eigentlich bei uns nicht möglich, endlich eine Ausstellungsvergütung im Urheberrecht zu verankern? Wenn sich die Bundesrepublik Deutschland als Kulturstaat versteht und das Schaffen von Künstle- rinnen und Künstlern für unverzichtbar hält, dann muss sie auch die Konsequenzen daraus ziehen und dafür sor- gen, dass Kreative von ihrer Arbeit leben können. Museen, Kunstvereine und Kommunalverbände haben in der Vergangenheit vor der Einführung der Ausstel- lungsvergütung gewarnt. Sie machten deutlich, dass be- reits jetzt die Etats für Ausstellungen so knapp bemessen seien, dass die Einführung letztlich zu weniger Ausstel- lungen und damit auch zu weniger Präsentationsmög- lichkeiten für Künstler führen würde. Dieser Argumenta- tion haben sich leider viele Politiker – namentlich aus den Reihen der Koalition – angeschlossen. Sie alle ha- ben gegen die Einführung einer Ausstellungsvergütung argumentiert. Koalition und auch SPD werden nicht müde, davor zu warnen, eine solche Vergütung würde eventuell mehr schaden als nutzen. Hier gilt: Immer wenn es darum geht, Ungerechtigkeiten aus der Welt zu schaffen und Menschen zu einem besseren Anteil an ih- rer Arbeit zu verhelfen, kommt dieses Totschlagargu- ment. Das war bei der Diskussion um den Mindestlohn so. Das war beim Folgerecht so. Gerade der Fall Folge- recht zeigt, dass sich nichts von der Schwarzmalerei, die jedem Vergütungsanspruch entgegengehalten wird, in der Realität bewahrheitet hat. Anke Schierholz von der VG Bild-Kunst hat belegt, dass zum Beispiel in Groß- britannien nach der Einführung des Folgerechts das Auk- tionswesen genauso blüht wie zuvor. Dass die finanzielle Situation der Museen und anderer Kulturstätten äußerst schwierig ist, ist auch uns bekannt. Die Frage ist nur, welche Konsequenzen wir aus dieser Tatsache ziehen. Finden wir uns damit ab, dass wir ein kulturelles Prekariat haben? Halten wir das für normal, oder tun wir etwas dagegen? Wir als Linke sind nicht be- reit, diese Unterfinanzierung weiter hinzunehmen. Des- halb fordern wir in unserem Antrag auch ein Umsteuern in der Finanzpolitik des Bundes, um die Voraussetzun- gen dafür zu schaffen, dass die Länder und Kommunen ihre Aufgaben zur Daseinsvorsorge auch im kulturellen Bereich leisten können. Uns geht es um eine Lösung, die zum einen die Benachteiligung bildender Künstlerinnen und Künstler im geltenden Recht beendet und darüber hinaus sichert, dass die Vergütung auch wirklich den Ur- heberinnen und Urhebern zugutekommt. Der Vergü- tungsanspruch soll deshalb unverzichtbar sein, im Vo- raus nur an eine Verwertungsgesellschaft abgetreten und nur durch diese geltend gemacht werden können. Klei- nere Vereine und Projekte, die zeitgenössische Kunst ausstellen, sollen nicht über Gebühr belastet werden. Hier sind Ausnahmeregelungen sinnvoll. Der Kunsthan- del soll davon gänzlich ausgenommen werden. Die konkrete Ausgestaltung der rechtlichen Regelung sowie die Höhe und Kriterien einer Ausstellungsvergü- tung sollen in einem Gremium mit den Vertreterinnen und Vertretern der betroffenen Verbände und Institutio- nen sowie ausgewählten Künstlerinnen und Künstlern und Rechtsexperten beraten werden. Es geht ja nicht um Millionen oder Milliarden an finanziellem Mehrbedarf. Nehmen wir Berlin als Beispiel. Schon mit circa 400 000 Euro jährlich ließe sich hier laut einer Berechnung des BBK Berlin der Bedarf für die Ausstellungen in den sechs größeren Landeseinrichtun- gen sowie den Ausstellungsflächen der Kunstvereine decken. Unsere Kolleginnen und Kollegen in der Links- fraktion im Abgeordnetenhaus von Berlin haben in ih- rem Antrag vom Februar dieses Jahres zur Zahlung von Ausstellungsvergütungen in öffentlichen Einrichtungen des Landes Berlin im vergangenen Jahr als ersten Schritt einen Ausstellungsfonds für die kommunalen Galerien in Höhe von 200 000 Euro im Jahr gefordert. Nehmen wir an: Jeder Bezirk hat mindestens eine kommunale Galerie. Dann wären dies ungefähr 18 000 Euro pro Haus und pro Jahr. Und dies hieße um die 3 000 Euro pro Ausstellung bei sechs bis sieben Ausstellungen. Diese Summen kämen Künstlern zugute – einzeln oder in der ausstellenden Gruppe. Ist das zu viel? Zu viel ver- langt? Bricht damit unser öffentliches Finanzsystem zu- sammen? Es ist uns klar, dass wir mit diesen Forderungen die finanzielle Situation von bildenden Künstlerinnen und Künstlern nicht von Grund auf verbessern können. Es geht dabei auch um Anerkennung ihres Schaffens und um Gerechtigkeit. Vergessen wir bitte nicht, wie viel ge- rade Kunstausstellungen wert sind für eine Stadt, eine Region, wie viel sie beitragen, für deren Ausstrahlungs- kraft und Faszination. Und alles ohne einen Euro Hono- rar für die ausstellenden Künstler? Das kann doch unser politischer Wille nicht sein. Agnes Krumwiede (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir begrüßen, dass nach unserem Grünen-Antrag zur Ausstellungszahlung jetzt auch die Linken einen Antrag mit derselben Intention vorlegen. Darin übernehmen die Linken unter anderem unsere zentrale Forderung, dass der Bund eine verpflichtende Ausstellungszahlung an bildende Künstlerinnen und Künstler sowie Fotografin- nen und Fotografen in seine Förderkriterien mit aufneh- 24060 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 (A) (C) (D)(B) men soll. Wir sind überzeugt: Dies wäre ein erster Schritt von Bundesseite mit Signalwirkung an Länder und Kommunen, um die bestehende Gerechtigkeitslücke im Bereich bildende Kunst zu schließen. Interpretinnen und Interpreten erhalten für ihre öffentlichen künstleri- schen Darbietungen in der Regel eine Gage. Bildende Künstlerinnen und Künstler müssen zumindest für die öffentliche Ausstellung ihrer Werke vergütet werden. Die Linken schließen bei dieser Forderung zu Recht den Kunsthandel aus. In Galerien oder bei Kunstauktionen besteht für Künstlerinnen und Künstler die Option, dass ihre Werke verkauft werden und sie eine Gewinnbeteili- gung erhalten, ganz im Gegensatz zu Ausstellungen in Museen. Zwar werden Leihgebühren entrichtet, wenn Kunstwerke eines Museums temporär in ein anderes wandern. Aber die Schöpferinnen und Schöpfer selbst erhalten keinen Cent für das Ausleihen ihrer Werke bei nicht kommerziellen, öffentlichen Ausstellungen. Eine Ausstellungsvergütung wäre keineswegs mit immensen Kosten verbunden. Gerade einmal 2 bis 3 Prozent eines Ausstellungsetats betreffen die Ausstellungsvergütung an Künstlerinnen und Künstler, wie wir am Beispiel Schweden sehen können. Seit 30 Jahren appellieren Kunstverbände gemeinsam mit der Gewerkschaft Verdi an die Politik, die Ungleich- behandlung im Bereich bildende Kunst zu beenden. Dass es höchste Zeit ist für ein entschlossenes politi- sches Handeln zur Verbesserung der sozialen und wirt- schaftlichen Situation insbesondere von bildenden Künstlerinnen und Künstlern, belegen zahlreiche Statis- tiken. Laut einer Studie des BBK – des Bundesverbands der Bildenden Künstlerinnen und Künstler – nehmen über 50 Prozent der befragten Künstlerinnen und Künst- ler durchschnittlich lediglich 5 000 Euro pro Jahr durch den Verkauf ihrer Werke ein. Nicht unerwähnt bleiben sollte, dass Frauen im Bereich bildende Kunst ein Drittel weniger verdienen als ihre männlichen Kollegen und das, obwohl Frauen mit 60 Prozent an Kunstakademien eindeutig in der Mehrheit sind. Werke von Künstlerinnen sind wesentlich seltener in Galerien und Museen zu fin- den; unter den ersten zehn der bedeutendsten und somit bestverdienenden Künstlerinnen und Künstler der Ge- genwart befinden sich laut Manager-Magazin gerade einmal drei Frauen. Was die Gleichstellung von Frauen auch im Kulturbetrieb betrifft, haben wir Grünen ja in dieser Legislaturperiode bereits einen Antrag vorgelegt; auf die Umsetzung unserer Forderungen durch die Bun- desregierung warten wir bis heute vergeblich. Während die Ausstellung von Kunstwerken im analo- gen Raum den Künstlerinnen und Künstlern keinerlei Vergütung einbringt, ist beispielsweise die öffentliche Abbildung von Kunstwerken im Internet gemäß § 15 Abs. 2 UrhG vergütungspflichtig. Das heißt, die Schöp- ferinnen und Schöpfer erhalten entsprechend Ausschüttungen über die VG Bildkunst. Im bestehenden Urheberrecht existiert eine rechtliche Lücke für eine Ausstellungsvergütung von künstlerischen Werken im analogen Raum, welche die Linken in ihrem Antrag ebenso wie der BBK durch die Forderung einer entspre- chenden Ergänzung eines Rechtsanspruchs füllen wollen. Soweit dadurch der Zugang zu öffentlichen Aus- stellungen und somit die Möglichkeit zur Teilhabe an Kunstwerken für alle Bürgerinnen und Bürger nicht be- einträchtigt werden, ist gegen diesen Vorschlag aus un- serer Sicht nichts einzuwenden. Wir begrüßen in diesem Zusammenhang auch, dass die Linken in ihrem Antrag die Verantwortung des Bundes für eine bessere Finanz- ausstattung der Länder und Kommunen nicht außer Acht lassen. Auch ein Rechtsanspruch auf eine Ausstellungsvergü- tung als Ergänzung im Urheberrecht wird jedoch ohne grundlegende Reformen beim Urhebervertragsrecht in der Praxis – auch darauf gehen die Linken in ihrem Antrag ein – nur wenig bewirken. Schöpferinnen von künstlerischen Werken müssen eine stärkere Verhand- lungsposition gegenüber den Verwertern ihrer Werke er- halten, damit wirtschaftliche Gewinne der öffentlichen Verbreitung nicht überproportional bei marktstarken Verwertern und Vermittlern liegen. Die Bundesregierung sollte diesbezüglich schleunigst einen Gesetzentwurf vorlegen – Künstlerinnen und Künstler in Deutschland sind darauf angewiesen, dass die Politik endlich maßgebliche Entscheidungen trifft, um ihre soziale und wirtschaftliche Lage zu verbessern. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu den Änderungen vom 10. und 11. Juni 2010 des Römischen Statuts des Internationalen Strafge- richtshofs vom 17. Juli 1998 (Tagesordnungs- punkt 16) Michael Frieser (CDU/CSU): Was bereits viel zu lange währt, wird nun hoffentlich gut. In dem Gesetzent- wurf zu den Änderungen vom 10. und 11. Juni 2010 des Römischen Statuts des Internationalen Gerichtshofs vom 17. Juli 1998 wird nun das Verbrechen der Aggression definiert. Dies ist ein wesentlicher Schritt, damit in Zu- kunft die Strafandrohung durch den Internationalen Strafgerichtshof nicht nur eine leere Drohung ist. Der In- ternationale Strafgerichtshof muss als permanentes inter- nationales Gericht in die Lage versetzt werden, die Ver- antwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Um die Tragweite der geplanten Änderungen des Rö- mischen Statuts zu erfassen, muss zunächst die histori- sche Entwicklung, die zu diesen Änderungen führte, be- trachtet werden. Am 30. September und 1. Oktober 1946 verkündete das Internationale Militärtribunal in Nürnberg die Urteile gegen 22 Hauptkriegsverbrecher des Zweiten Weltkrieges. Das Urteil von Nürnberg stellte einen Aus- gangspunkt für weitere Bemühungen der Staatengemein- schaft um einen internationalen Strafgerichtshof dar. Nachfolgend bekräftigte die UN-Vollversammlung aus- drücklich die Rechtsprinzipien, die in Nürnberg zur An- wendung gekommen waren, als sogenannte Nürnberger Prinzipien. Was in Nürnberg seinen Anfang nahm, wurde stetig weiterentwickelt. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24061 (A) (C) (D)(B) Bereits 1950 legte die Völkerrechtskommission der UNO sieben Prinzipien vor, die den Anspruch darauf er- hoben, dass schwere Verstöße gegen die internationale Werteordnung geahndet werden. Diese Nürnberger Prin- zipien haben im Römischen Statut des Internationalen Gerichtshofs eine Weiterentwicklung erfahren. Das Sta- tut ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der das Völkerstraf- recht kodifiziert, damit in internationalen Beziehungen keine rechtsfreien Räume verbleiben, in denen Men- schen schutzlos den Gräueltaten von Kriegsverbrechern ausgesetzt sind. Jede Person, die eine Tat begeht, die nach dem Völkerrecht als Verbrechen bestimmt wurde, ist dafür verantwortlich und wird der Bestrafung zuge- führt, auch wenn das nationale Recht keine Strafe für eine Tat vorsieht. Um diese Prinzipien durchzusetzen, wurde mit dem am 1. Juli 2002 in Kraft getretenen Römischen Statut der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag eingerichtet. Der IStGH will die nationale Strafgerichtsbarkeit der Staaten nicht ersetzen und ist auch kein letztinstanzliches Rechtsmittelgericht, welches Verfahren der nationalen Strafgerichtsbarkeit überprüfen könnte. Der IStGH er- gänzt vielmehr die innerstaatliche Gerichtsbarkeit bei der Verfolgung von Völkerrechtsverbrechen, deren Vor- rang im Statut vielfach verankert ist. Der Internationale Strafgerichtshof ist damit Ausdruck des gemeinsamen Wunsches der Staatengemeinschaft, für Frieden und Ge- rechtigkeit auch außerhalb der nationalen Grenzen ein- zustehen. Das erste Urteil sprach der Internationale Strafge- richtshof am 14. März 2012 im Verfahren gegen den frü- heren kongolesischen Milizenführer Thomas Lubanga, der wegen der Rekrutierung und des Einsatzes von Kin- dersoldaten für schuldig befunden wurde. Er wurde da- für am 10. Juli 2012 zu einer Freiheitsstrafe von 14 Jah- ren verurteilt. Dieses Urteil zeigt, dass die Nürnberger Prinzipien kein theoretisches Konstrukt sind, sondern auch in die Praxis umgesetzt werden können. Doch die Entwicklung des Völkerstrafrechts ist durch die Errichtung des Internationalen Strafgerichtshof 2002 nicht zu einem Abschluss gekommen. Jetzt gilt es zu be- weisen, dass Deutschland aus seiner dunklen Vergangen- heit gelernt hat und seiner völkerrechtlichen Verpflich- tung nachkommt. Das Völkerstrafrecht muss zu einem wirksamen Instrument der Friedenssicherung aufgebaut werden. Bereits die Strafandrohung muss Aggressoren in ihre Schranken weisen. Dazu ist die stetige Optimierung und Weiterentwicklung des Völkerstrafrechts notwen- dig, die mit der vorliegenden Änderung unterstützt wer- den muss. Obwohl bereits im ursprünglichen Statut das Verbre- chen der Aggression als Straftatbestand angelegt gewesen war, hatten sich die Vertragsstaaten auf der Gründungs- konferenz weder auf eine Definition des Verbrechens der Aggression einigen können noch auf die vorzusehende Rolle des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Eine Kodifikation des Tatbestands scheiterte auch an umstrit- tenen Fragen wie dem Umfang des Rechts auf Selbstver- teidigung und die Zulässigkeit humanitärer Intervention. Nach Art. 5 des Statuts, wie es auf der Konferenz in Rom verabschiedet wurde, besitzt der Gerichtshof die sachliche Zuständigkeit für das Verbrechen der Aggres- sion. Da aber keine Definition der Aggression beschlos- sen werden konnte, bleibt die Norm eine leere Hülle, und zwar so lange, bis eine Definition in das Statut eingefügt wird. Dies ist angesichts der herausragenden Bedeutung des Aggressionstatbestands, dessen Zweck es ist, die Ge- waltanwendung als solche auf internationaler Ebene zu pönalisieren, ein unhaltbarer Zustand. Vom 31. Mai bis 11. Juni 2010 fand in Kampala die erste Überprüfungskonferenz des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs statt, in deren Mittel- punkt die Bemühungen um eine Einigung in Bezug auf das Verbrechen der Aggression standen. Mit den Ände- rungen des Römischen Statuts des Internationalen Straf- gerichtshofs werden nun eine Definition des Verbrechens der Aggression und die Bedingungen der Ausübung der Gerichtsbarkeit in das Römische Statut eingefügt. Auch wird der Einsatz bestimmter Waffen und Geschosse, de- ren Verwendung in internationalen bewaffneten Konflik- ten bereits ein Kriegsverbrechen darstellt, auch im nicht internationalen bewaffneten Konflikt unter Strafe ge- stellt. Diese Änderungen sind die Früchte eines langwie- rigen Prozesses, in dem das Völkerstrafrecht geschaffen und weiter ausgestaltet wurde. Einzelne Staaten sind in mühsamen Verhandlungen Kompromisse eingegangen, um das gemeinsame, höhere Ziel voranzubringen: ein umfassendes System internationaler Strafgerichtsbarkeit, die die nationale Strafverfolgung wirksam ergänzt. Die Normierung des Aggressionstatbestandes ist dabei von herausragender Bedeutung. Nur durch diesen kann eine wesentliche Lücke der völkerrechtlichen Strafbarkeit ge- schlossen werden. Der nun verabschiedete Tatbestand des Aggressions- verbrechens stellt einen ausgewogenen Kompromiss dar und trägt der Tatsache Rechnung, dass dieses Delikt im Vergleich zu den anderen im Römischen Statut aufge- führten Verbrechen durch die Kriminalisierung staatlicher Angriffshandlungen und als Führungsverbrechen einen besonderen Charakter hat. Die individuellen Tathandlun- gen wurden fast wörtlich den Vorgaben des Statuts des Nürnberger Militärgerichtshofs zum „Verbrechen gegen den Frieden“ entnommen. Von einem Verbrechen der Aggression wird ausge- gangen, wenn eine Person, die tatsächlich in der Lage ist, das politische oder militärische Handeln eines Staa- tes zu kontrollieren oder zu lenken, eine Angriffshand- lung plant, vorbereitet oder ausführt, die ihrer Art, ihrer Schwere und ihrem Umfang nach eine offenkundige Verletzung der Charta der Vereinten Nationen darstellt. Die Formulierung stellt klar, dass es sich um ein soge- nanntes Führungsverbrechen handelt, das hohe Anforde- rungen an die individuelle Täterqualität stellt. Es betrifft nicht die kleinen Befehlsempfänger, sondern zieht die Täter zur Rechenschaft, die tatsächlich für den Angriff auf den Frieden verantwortlich sind. Regierungsober- häupter dürfen nicht über dem Gesetz stehen. Eine Angriffshandlung stellt jede mit der Charta der Vereinten Nationen unvereinbare Anwendung von Waf- fengewalt durch einen anderen Staat dar, so zum Bei- 24062 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 (A) (C) (D)(B) spiel die Invasion des Hoheitsgebiets eines Staates oder der Angriff auf dieses durch die Streitkräfte eines ande- ren Staates. Auch eine militärische Besetzung, die sich aus einer solchen Invasion ergibt, sowie die Bombardie- rung oder Beschießung des Hoheitsgebiets sind umfasst. Neben der Blockade der Häfen oder Küsten eines Staates ist auch der Einsatz von Streitkräften eines Staates, die sich mit der Zustimmung eines anderen Staates in dessen Hoheitsgebiet befinden, unter Verstoß gegen die in der entsprechenden Einwilligung oder Vereinbarung vorge- sehenen Bedingungen strafbar. Damit ist nicht jede völ- kerrechtswidrige staatliche Gewaltanwendung zugleich ein Aggressionsverbrechen. Rechtlich umstrittene Ein- sätze, die im Rahmen humanitärer Interventionen durch- geführt werden, um das Leid von Menschen zu lindern und weitere Gewalt zu verhindern, werden so nicht er- fasst. Auch Fälle von nicht hinreichender Intensität sol- len gerade nicht berücksichtigt werden. Die Ausübung der Gerichtsbarkeit über das Verbre- chen der Aggression wird in den Änderungen geregelt. Der Gerichtshof kann seine Gerichtsbarkeit nur bei Ver- brechen der Aggression ausüben, die ein Jahr nach Rati- fikation oder Annahme der Änderungen durch 30 Ver- tragsstaaten begangen werden. Eine weitere wichtige Änderung betrifft die Strafbarkeit gewisser verbotener Waffen in nichtinternationalen bewaffneten Konflikten. Die Verwendung von Gift oder vergifteten Waffen, die Verwendung erstickender, giftiger oder gleichartiger Gase sowie aller ähnlichen Flüssigkeiten, Stoffe oder Vorrichtungen, die Verwendung von Geschossen, die sich im Körper des Menschen leicht ausdehnen oder flach- drücken, sind in internationalen bewaffneten Konflikten bereits strafbar. Der Zustand, dass der Einsatz von Gift- gasen zwar in internationalen Konflikten bereits als Kriegsverbrechen geahndet werden kann, Machthaber aber ihr eigenes Volk mit diesen Waffen konsequenzlos angreifen können, ist unerträglich. Hier kommt es nun zu einer Angleichung, da eine grundsätzliche Unterschei- dung zwischen den Konfliktformen auf humanitär völ- kerrechtlicher Ebene heute nicht mehr angemessen ist. Das Leiden und die Verletzungswirkung, die durch diese Waffen ausgelöst werden, sind verurteilenswert, gleich in welcher Art von Konflikt sie eingesetzt werden. Diese Änderungen liegen mir als in Nürnberg direkt gewähltem Abgeordneten besonders am Herzen. In Nürnberg entsteht ein Institut für die Durchsetzung der Nürnberger Prinzipien zum Völkerstrafrecht. Es soll als Expertenforum dazu beitragen, Frieden mit den Mitteln des Rechts zu sichern, indem es interdisziplinäre For- schung betreibt und zielgruppenspezifisches Training zu völkerstrafrechtlichen Themen sowie Menschenrechts- bildung anbietet. Ziel der Akademie ist es, die Akzep- tanz des Völkerstrafrechts und der Nürnberger Prinzi- pien international zu fördern. Die Bundesrepublik Deutschland hat an der Ausarbei- tung des Römischen Statuts aktiv mitgewirkt. Wir müs- sen uns weiterhin aktiv dafür einsetzen, dass der Inter- nationale Strafgerichtshof möglichst effektiv arbeiten kann und breite Unterstützung in der Staatengemein- schaft findet. Das Gesetz zu den Änderungen vom 10. und 11. Juni 2010 des Römischen Statuts des Internatio- nalen Strafgerichtshof vom 17. Juli 1998 ist dabei ein wichtiger und wirksamer Schritt, um Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit der Straf- barkeit zuzuführen. Christoph Strässer (SPD): Ich begrüße den Gesetz- entwurf der Bundesregierung zu den Änderungen des Rö- mischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs vom 10. und 11. Juni 2010 in Kampala. Das nicht zuletzt deshalb, weil ich in der ugandischen Hauptstadt an der parlamentarischen Begleitung zur Konferenz der Ver- tragsstaaten des Internationalen Strafgerichtshofes, IStGH, teilnehmen durfte und so den schwierigen, aber auch be- eindruckenden Einigungsprozess begleiten konnte. Es gäbe vieles über diese Konferenz zu berichten. Vor allem der Wille der meisten Beteiligten, eine tragfähige Eini- gung unbedingt zu erreichen, war und ist für mich immer noch unvergesslich. Die Konferenz war von der internationalen Vereini- gung „Parliamentarians for global Action“, PGA, in Zu- sammenarbeit mit der Protokollabteilung des Parlamen- tes von Uganda organisiert worden. Insgesamt nahmen an der Veranstaltung neben den Organisatoren und wei- teren offiziellen Vertretern 117 Parlamentarierinnen und Parlamentarier aus mehr als 30 Ländern teil. Das sichtbarste Ergebnis war die trotz großer Skepsis erkennbare Zustimmung der großen Mehrheit der Kolle- ginnen und Kollegen aus afrikanischen Ländern zur Ar- beit des IStGH. Eine vor Beginn der Konferenz befürchtete Tendenz, die beklagte „Afrika-Lastigkeit“ der bisher bekannten Ermittlungen könne auch auf der Review-Konferenz zu einer Austritts- bzw. Kündigungswelle gerade afrikani- scher Staaten führen, wurde eindrucksvoll widerlegt. Im Gegenteil, es wurde ein sehr deutliches und klares Engagement zur Unterstützung der Tätigkeit des Ge- richtshofes erkennbar. In der Abschlusserklärung wur- den in insgesamt 12 Punkten noch einmal die weitge- henden Übereinstimmungen des Treffens niedergelegt. Insbesondere wurde Wert darauf gelegt, gemeinsam in den jeweiligen Regionen für eine weitere Verbreitung des Statuts zu sorgen und das Statut in den nationalen Gesetzeswerken vollständig zu implementieren. Einer der Hauptschwerpunkte der damaligen Konfe- renz und Thema des hier zu beratenden Gesetzentwurfes der Bundesregierung war die Frage, ob der Internatio- nale Strafgerichtshof auch über Aggressionsverbrechen urteilen sollte. Für mich stand schon damals fest, dass sich gerade die deutsche Bundesregierung aufgrund unserer Ge- schichte dafür einsetzen musste, dass der Internationale Strafgerichtshof auch über Angriffskriege urteilen kön- nen soll. Zweimal hat Deutschland die Welt in einen Weltkrieg gestürzt, indem es Angriffskriege gegen seine Nachbarn führte, Kriegsverbrechen von bis dahin nicht gekanntem Ausmaß verübte und versuchte, die jüdische Bevölkerung Europas auszulöschen. Das Nürnberger Kriegsverbrechertribunal hat nach der Befreiung vom Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24063 (A) (C) (D)(B) Faschismus erstmals in der Rechtsgeschichte über einen Angriffskrieg und Völkermord gerichtet. Dabei wäre es 2010 in Kampala durchaus möglich ge- wesen, dass dieser Straftatbestand aus dem Rom-Statut gestrichen werden würde. Dahinter steckte seinerzeit vor allem die Befürchtung, der Streit über eine Definition von Aggressionsverbrechen könnte den IStGH insge- samt schwächen. Der SPD-Bundestagsfraktion und mir war es hierbei wichtig, dass der Internationale Strafgerichtshof seine Ar- beit nicht nur fortsetzen konnte, sondern dass er weitere Rechte erhalten musste. Denn der IStGH und seine Arbeit bedeuten einen wichtigen Fortschritt, ja einen Quanten- sprung für die Wahrung und Durchsetzung der individu- ellen Menschenrechte. In Kampala unterstützten wir inso- fern alle Anstrengungen, die zwei Ziele befördern sollten: die Definition des Straftatbestands „Aggressionsverbre- chen“ in der Zuständigkeit des Internationalen Strafge- richtshofes und die Stärkung der Arbeitsfähigkeit und die Erweiterung der Kompetenzen des IStGH. Deshalb ist dieser Gesetzentwurf ein Beleg für den Er- folg dieser Konferenz. Denn wir verpflichten uns hiermit, die Ergebnisse von Kampala in nationales Recht umzu- setzen. Danach liegt ein Verbrechen der Aggression vor, wenn die Planung, Initiierung oder Durchführung eines bewaffneten Angriffs gegen einen anderen Staat vorliegt. Dieses Verbrechen kann nur von politischen und militäri- schen Entscheidungsträgern eines Staates begangen wer- den. Durch die Änderung des Art. 8 Abs. 2 Buchstabe e des Römischen Statuts wird außerdem der Einsatz be- stimmter Waffen und Geschosse im Einklang mit dem Völkergewohnheitsrecht und dem deutschen Völker- strafgesetzbuch auch im nichtinternationalen bewaffne- ten Konflikt unter Strafe gestellt. Die USA, die dem IStGH bislang ferngeblieben sind und in Kampala nur mit Beobachterstatus vertreten waren, scheiterten glück- licherweise mit ihrem Versuch, den Streit um die Defini- tion neu zu entfachen. Große Diskussionen entbrannten über die Frage, wie sich diese Definition auf das Verhältnis zwischen dem IStGH und dem Sicherheitsrat der VN auswirken wird, welcher laut Kap. VII der VN-Charta einen Akt der Ag- gression in den internationalen Beziehungen bis dato als einziger feststellen konnte. Hier kollidierten die Interes- sen der fünf permanenten Mitglieder des Sicherheitsrates – USA, Russland, China, Großbritannien, Frankreich – mit jenen von Kanada, Australien und vor allem der süd- amerikanischen und afrikanischen Vertragsstaaten. Wäh- rend die Mitglieder des Sicherheitsrates ihr alleiniges Recht auf die Feststellung einer Aggression erhalten wollten, fürchtete die andere Gruppe eine Politisierung und zunehmende Abhängigkeit des IStGH. Am Ende der Diskussion stand schließlich ein Kompromiss, der meh- rere Wege offenlässt, ein „Verbrechen der Aggression“ festzustellen und strafrechtlich zu verfolgen: Erstens. Der Sicherheitsrat stellt ein „Verbrechen der Aggression“ fest und beauftragt den Chefankläger des IStGH, ein Verfahren einzuleiten. Zweitens. Der Chefankläger selbst darf ein Verfahren einleiten, wenn er der Meinung ist, dass ein „Verbrechen der Aggression“ stattgefunden hat, der Sicherheitsrat je- doch sechs Monate untätig bleibt. Drittens. Ein Vertragsstaat bittet den Chefankläger, ein Verfahren einzuleiten. Natürlich gibt es auch Anlass zu Kritik. Denn den Vertragsstaaten wird die Möglichkeit eingeräumt, ihre Entscheidungsträger vor Strafverfolgung durch eine so- genannte Opting-out-Erklärung zu schützen. Drittstaa- ten, zum Beispiel USA, Russland und China, fallen per se nicht unter die Aggressionszuständigkeit des IStGH. Das hat die unerfreuliche Folge, dass der IStGH nicht tätig werden darf, wenn ein Vertragsstaat, der die Ag- gressionszuständigkeit des Gerichts anerkannt hat, von einem Drittstaat oder einem ausoptierten Vertragsstaat angegriffen wird. Obwohl die Gerichtsbarkeit des IStGH in Bezug auf das „Verbrechen der Aggression“ frühestens am 1. Ja- nuar 2017 und nur, nachdem mindestens 30 Vertrags- staaten die in Kampala formulierten Regelungen ratifi- ziert haben, beginnt, sollten wir alle glücklich über die Möglichkeit der Verabschiedung dieses Gesetzes sein und dafür werben, wo immer es möglich ist, auch andere Vertragsstaaten von der Notwendigkeit und Nützlichkeit der Ratifizierung zu überzeugen. Dass angesichts dieser Konflikte eine Einigung er- reicht wurde, ist nämlich nichts weniger als ein histori- scher Erfolg – zumal vor dem Hintergrund der seit Jahr- zehnten festgefahrenen Absichten, den Sicherheitsrat und die UNO insgesamt zu reformieren. Die Annahme der Aggressionsbestimmung in Kampala und die Über- nahme in deutsches Recht stellt deshalb einen riesigen Schritt für die internationale Strafjustiz dar. In Anbe- tracht der mehr als ein halbes Jahrhundert andauernden Bemühungen zur Kodifikation des Aggressionsverbre- chens kann man das Ergebnis aus Kampala mit Fug und Recht als Erfolg bezeichnen. Damit der IStGH seine gegenwärtigen und künftigen Aufgaben erfüllen kann, braucht er die volle Unterstüt- zung der Vertragsstaaten. Die zahlenmäßig gestiegenen und meist sehr aufwendigen Untersuchungen und Ver- fahren erfordern ausreichende finanzielle und personelle Mittel. Schon jetzt stößt der Gerichtshof an die Grenzen seiner Arbeitsfähigkeit. Die seit letztem Jahr laufenden Untersuchungen in Libyen und in der Elfenbeinküste sind finanziell bereits nicht mehr gedeckt. Deshalb sollte Deutschland beispielgebend für andere Vertragsstaaten seinen freiwilligen Beitrag an den Gerichtshof deutlich erhöhen. Die Ergebnisse der Konferenz von Kampala werden den IStGH langfristig stärken, was einerseits eine große Verantwortung und Herausforderung bedeutet, anderer- seits aber auch eine große Chance ist. Treten die Rege- lungen von Kampala 2017 wirklich in Kraft, kann jede Gewaltanwendung gegenüber einem anderen Staat vor dem IStGH angeklagt werden. Dies wäre ein großer Schritt in Richtung einer starken und effizienten Ver- rechtlichung der internationalen Beziehungen. 24064 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 (A) (C) (D)(B) Deshalb werden wir voraussichtlich nach den Aus- schussberatungen diesem Gesetz zustimmen. Marina Schuster (FDP): „Ein historischer Durch- bruch für die Weiterentwicklung des Völkerstrafrechts“ – eindeutiger könnte die Denkschrift zum Gesetzentwurf, den wir heute debattieren, nicht sein. Die Einigung in Kampala, den Tatbestand der Aggression unter die Ge- richtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshof zu stel- len, schließt eine große Lücke des Völkerstrafrechts. Sie ist ein Meilenstein im internationalen Kampf gegen die Straflosigkeit. An dieser Stelle möchte ich mich bei Markus Löning, dem Beauftragten der Bundesregierung für Menschen- rechtspolitik und Humanitäre Hilfe, bedanken. Er war Delegationsleiter in Kampala. Dabei wurde er maßgeb- lich durch die juristische Expertise von Professor Dr. Claus Kreß und der Völkerrechtsberaterin der Bundesre- gierung, Dr. Susanne Wasum-Rainer, unterstützt. Es ist dem Einsatz des Teams zu verdanken, dass bei dieser Konferenz die Ziele Deutschlands vollständig erreicht wurden. Und auch ich stehe hier nicht ohne Stolz. Deutschland ist nach San Marino und Liechtenstein das dritte Land, das die Änderungen des Römischen Statuts ratifiziert. Als Menschenrechtspolitikerin bin ich stolz, dass Deutschland hier eine Vorbildrolle übernommen hat und ein entscheidendes Signal an andere Länder sendet. Ebenso kann ich selbstbewusst sagen, dass unsere christ- lich-liberale Koalition heute ein wichtiges Ziel – wort- wörtlich aus dem Koalitionsvertrag – erreicht hat. Die FDP-Fraktion kann damit auf eine erfolgreiche Men- schenrechtsbilanz zurückblicken, und auch das Gesetz zu den Änderungen des Römischen Statuts geht auf eine Initiative von uns Liberalen zurück. Gleichzeitig mit der Definition des Tatbestands der Aggression wurde in Kampala eine weitere wichtige Än- derung des Römischen Statuts erreicht. Deutschland war maßgeblich daran beteiligt, dass der Einsatz bestimmter besonders grausamer Waffen und Geschosse auch in nicht internationalen bewaffneten Konflikten in Zukunft als Kriegsverbrechen eingestuft wird. Mit dem Tatbestand der Aggression knüpft das Rom- Statut direkt an die Nürnberger Prozesse an. Bereits im Statut des Internationalen Militärgerichtshofs wurde die- ser als „Verbrechen gegen den Frieden“ als zentraler An- klagepunkt aufgeführt. Die Nürnberger und Tokioter Prozesse legten den Grundstein für das Ende der Straf- losigkeit und damit für eine der größten kulturellen Er- rungenschaften der modernen Menschheitsgeschichte. Die Ad-hoc-Tribunale für das ehemalige Jugosla- wien, für Ruanda, Sierra Leone und Kambodscha führen dieses Vermächtnis seit den 1990er- und 2000er-Jahren fort. Sicher ist Ihnen allen das Verfahren gegen den frühe- ren serbischen Präsidenten Slobodan Milosevic wegen Völkermordes und Verbrechen gegen die Menschlichkeit noch in Erinnerung. In Den Haag hat nun gerade der Prozess gegen den letzten Angeklagten vor dem VN-Tri- bunal für das ehemalige Jugoslawien begonnen. Goran Hadzic steht wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht. Er soll an Mord, Folter und Vertreibungen beteiligt gewesen sein. In mühseliger Detailarbeit arbeitet das Tribunal für Ruanda den grausamen Völkermord an Tutsi und Hutu auf. Und mit der Verurteilung des ehemaligen liberiani- schen Präsidenten Charles Taylor vor dem Sondergericht für Sierra Leone konnte ein großer Erfolg im Kampf ge- gen die Straflosigkeit erreicht werden. Leider gibt es aber auch Beispiele, die zeigen, dass Vergangenheitsbewältigung und Strafverfolgung nach dem Ende von Unrechtsregimen oder Völkerrechtsver- brechen häufig unbefriedigend sind. So geht die Aufar- beitung der Schreckensherrschaft der Roten Khmer nur schleppend voran. Auch wenn der hauptverantwortliche Folterer „Duch“ verurteilt werden konnte, behindert die Regierung in Phnom Penh die Ermittlungen derart, dass bereits zwei anerkannte Richter aus Deutschland und der Schweiz ihr Amt niedergelegt haben. Kambodscha ist kein Einzelfall. Diesen Sommer hatte ich die Gelegenheit, mich auf einer Reise nach Kenia di- rekt vor Ort über den Versöhnungsprozess im Anschluss an die blutigen Ausschreitungen nach den Wahlen 2007 und 2008 zu informieren. Es hat mich sehr beunruhigt, zu hören, dass keiner der Täter bisher verurteilt wurde. Viele Opfer fühlen sich alleingelassen. Dies zeigt, welch große Bedeutung der Arbeit des Internationalen Strafge- richtshofs zukommt, welcher seit 2009 diese Vorfälle untersucht. Das Verfahren gegen vier hochrangige Staatsbeamte ist für 2013 geplant. William Samoei Ruto, Joshua arap Sang, Francis Kirimi Muthaura und Uhuru Muigai Kenyatta werden Verbrechen gegen die Mensch- lichkeit vorgeworfen. Die Ermittlungen des IStGH sind die große Hoffnung der kenianischen Zivilgesellschaft, die sich nach einer Aufarbeitung der Vergangenheit sehnt. Wir sehen also immer wieder, wie wichtig die Grün- dung des Internationalen Strafgerichthofs war. Das „Wunder von Rom“, wie der renommierte Völker- rechtsprofessor Christian Tomuschat die diplomatische Bevollmächtigtenkonferenz von 1998 kürzlich nannte, bestätigte die Universalität des Gedankens von Nürn- berg. Völkermörder, Kriegsverbrecher und Verbrecher gegen die Menschlichkeit müssen nun grundsätzlich da- von ausgehen, dass sie sich für ihre Taten verantworten müssen, und zwar vor einem zentralen, überparteilichen, objektiven Gericht – ohne zeitliche Begrenzung! Der Beschluss von Kampala stärkt die Rolle der indi- viduellen Verantwortung. Die Definition sieht vor, dass das Verbrechen der Aggression nur von einer Person be- gangen werden kann, die tatsächlich in der Lage ist, das politische Handeln eines Staates zu kontrollieren oder zu lenken. Man spricht hier auch vom „Führungsverbre- chen“. Mit seinem Haftbefehl gegen den sudanesischen Präsidenten Umar al-Bahir hat der Internationale Straf- gerichtshof bereits bewiesen, dass er auch nicht vor Ver- fahren gegen amtierende Staatsoberhäupter zurück- schreckt. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24065 (A) (C) (D)(B) Bis jetzt sind 121 Staaten dem Römischen Statut bei- getreten; damit hat sich die Zahl der Mitgliedstaaten seit dem Inkrafttreten des Vertrags verdoppelt. Wenn wir al- lerdings das Ende das Straflosigkeit als ernsthaftes Ziel verfolgen, reicht dies noch lange nicht. Bis jetzt sind we- der China noch Russland oder die USA Mitglieder des Römischen Statuts; das sind drei von fünf ständigen Mit- gliedern des VN-Sicherheitsrates. Während diese Auf- zählung oft und prominent erwähnt wird, werden viele andere Staaten vergessen, die sich bisher auch noch nicht zum Internationalen Strafgerichtshof bekannt haben: In- dien, Indonesien, Israel und Irak. Tunesien ist erst kürz- lich und als einziger Staat der arabischen Welt beigetre- ten. Weitere große Herausforderungen des Gerichts sind die Beschleunigung der Verfahren und eine langfristige Finanzierung. Nach Japan ist Deutschland der zweit- größte Geldgeber des IStGH. Wir steuern knappe 12 Pro- zent des 110-Millionen-Euro-Budgets bei. Um den sehr hohen Erwartungen und Anforderungen gerecht zu wer- den, ist es unabdingbar, dass das Gericht ausreichend mit Ressourcen ausgestattet ist. Dies gilt insbesondere für qualifiziertes Personal. Die Richter des IStGH müssen nicht nur über solide Kenntnisse des humanitären Völ- kerrechts und der Menschenrechte verfügen, sondern brauchen auch praktische Erfahrungen in strafrechtli- chen Prozessen. Deutschland stellt mit Hans-Peter Kaul einen der 18 Richter. Mit dem Institut zur Durchsetzung der Nürnberger Prinzipien zum Völkerstrafrecht, das unsere christlich- liberale Koalition ins Leben gerufen hat, haben wir ein weiteres wichtiges Zeichen gesetzt. 2012 wurden bereits mehrere Modellprojekte durchgeführt: unter anderem eine Summer School zum Thema „From Nuremberg to The Hague“ mit amerikanischen und zwei kenianischen Studenten im Juni. Immer wieder bemängeln Kritiker, dass es in der zehn- jährigen Tätigkeit des IStGH lediglich ein einziges Urteil gab. Im März wurde der kongolesische Milizenführer Thomas Lubanga wegen der Rekrutierung von Kinder- soldaten schuldig gesprochen. Selten wird hingegen von den Schwierigkeiten gesprochen, die die Ermittler des Gerichts bei ihren Untersuchungen bewältigen müssen. Bei ihrer Arbeit ist die Anklagebehörde auf Zeugenaus- sagen und vor allem auf die Kooperation der Behörden vor Ort angewiesen. Ein Großteil der Ermittlungsarbeit muss in Den Haag, dem Sitz des Gerichts, stattfinden. Im Ergebnis wird hier auch von „remote justice“ – Ge- rechtigkeit aus der Ferne – gesprochen und die entste- hende emotionale Distanz kritisiert. Sehr ähnlich ist der Vorwurf, dass es sich beim IStGH um eine koloniale Institution handele. Kurz vor ihrem An- tritt als neue Chefanklägerin widerlegte Fatou Bensouda dies sehr energisch: „Als Frau, als stellvertretende Chef- anklägerin, als Afrikanerin bin ich wirklich bestürzt, wenn gesagt wird, dass der Internationale Strafgerichts- hof immer nur Afrikaner ins Visier nimmt. Das tut er nicht. Der IStGH kooperiert mit Afrika. Und er versucht, die Opfer in Afrika zu beschützen.“ Zurzeit führt das Gericht Vorermittlungen zu Fällen in Afghanistan, Kolumbien, Südkorea, Georgien und in den palästinen- sischen Gebieten und bestätigt damit den universellen Fokus des Römischen Statuts. Deutschland steht fest hinter dem Internationalen Strafgerichtshof. Mit dem heute vorliegenden Gesetzent- wurf bekennen wir uns klar zu seiner Arbeit, und wir werden das Gericht auf seinem vielversprechenden Weg mit großem Engagement begleiten. Stefan Liebich (DIE LINKE): Am 25. April 2002 debattierte der Deutsche Bundestag die Ratifizierung des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtsho- fes vom 17. Juli 1998 und stimmte schließlich einstim- mig zu. Die Fraktion der PDS hatte dazu, zum Entwurf eines Gesetzes zur Einführung des Völkerstrafgesetzbu- ches, einen Entschließungsantrag eingebracht, der zwar abgelehnt wurde, dessen teilweise Umsetzung wir aber nun nach zehn Jahren erleben. Wir forderten damals die Bundesregierung auf, die Definition eines Verbrechens der Aggression, die Aufnahme eines Verbrechenstatbe- standes des internationales Terrorismus, die Strafbarkeit des Einsatzes von Atomwaffen und anderer grausamer Waffen und die Festlegung einer Altersgrenze von 18 Jahren für den Einsatz als Soldat in den internationalen Gremien anzumahnen und dafür tätig zu werden. Jetzt liegt uns ein Gesetzentwurf der Bundesregierung vor, ein Gesetzentwurf, der die Resolutionen der ersten Überprüfungskonferenz des Rom-Statuts, die 2010 in Kampala, Uganda statt fand, umsetzt und die Verände- rungen des Rom-Statuts ratifizieren soll. Er regelt die Definition eines Verbrechens der Aggression, die Straf- barkeit der Verwendung von – im weiteren Sinne – che- mischen Waffen, obwohl die Definition der Chemiewaf- fenkonvention da sicher besser ist, und die Strafbarkeit grausamer Waffen – hier im Sinne von zum Beispiel Teilmantelgeschossen –; beides nicht nur in zwischen- staatlichen Konflikten. All das ist zu begrüßen. Immerhin, zwei von fünf For- derungen unseres damaligen Entschließungsantrages sind umgesetzt. Und es gilt festzuhalten: Der Internationale Strafge- richtshof in Den Haag hat trotz erheblichen Widerstan- des der Regierung der Vereinigten Staaten seine Arbeit aufnehmen können. 121 Staaten haben mittlerweile das Rom-Statut ratifiziert. Mit der Verurteilung von Thomas Lubanga im Juli dieses Jahres wurde das erste Verfahren zum Abschluss gebracht. Lubanga war der Versklavung von Kindern als Soldaten in Hunderten Fällen schuldig gesprochen worden. Im Fakultativprotokoll zu dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes, betreffend die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten, von der Bundes- republik unterzeichnet, aber mit einem Vorbehalt verse- hen, ist geregelt, keine Heranwachsenden unter 18 zum Dienst in Streitkräften heranzuziehen. Auch im Sinne in- ternationaler Glaubwürdigkeit kann ich Sie nur auffor- dern: Ziehen Sie diesen Vorbehalt zurück! Auch in Deutschland – und da müssen wir Vorbild sein – darf der Dienst in Streitkräften erst ab 18 möglich sein. 24066 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 (A) (C) (D)(B) Festzuhalten bleibt auch: „Erste Pflicht der deutschen Politik ist es, auf die Durchsetzung eines internationalen Rechts zu drängen, das für alle Staaten verbindlich ist. Ohne eine solche Rechtsordnung kann es keinen Frieden geben. Auch international gilt: Die Freiheit des Stärke- ren führt zur Unterdrückung. Das Recht schützt die Freiheit der Schwächeren.“ Das schrieb unser späterer Parteivorsitzender Oskar Lafontaine im Jahr 2005, und ich stimme dem aus vollem Herzen zu. Deshalb muss die Bundesregierung auf allen Ebenen dafür wirken, dass die USA und Russland ihren Wider- stand gegen den Internationalen Strafgerichtshof auf- geben. Gut, dass die Tschechische Republik 2009 als letzter EU-Mitgliedsstaat die Ratifizierungsurkunde hin- terlegt hat. Bei den Beitrittsverhandlungen zur EU sollte die Ratifizierung des Rom-Statuts und damit die Aner- kennung eines wichtigen Teils des Völkerrechts Bedin- gung sein, meine ich. Historisch ist die Definition eines Verbrechens der Aggression gar nicht hoch genug zu bewerten, bei allen Abstrichen und vielen Kompromissen. Nach den Kriegs- verbrechertribunalen von Nürnberg und Tokio und der UN-Resolution 3314 von 1974 ist es gelungen, eine breit getragene Definition zu erarbeiten, die dem Gericht Raum zu eigenem Handeln lässt. Deshalb werden wir unsere Kritik im parlamentari- schen Beratungsverfahren benennen, dem Gesetzent- wurf jedoch zustimmen. Hausaufgaben – nicht nur der Bundesregierung; sie ist aber hier unser Adressat – blei- ben: ein Tatbestand des internationalen Terrorismus und die Strafbarkeit des Einsatzes von Atomwaffen und aller Massenvernichtungswaffen. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Internationale Strafgerichtshof, IStGH, soll künftig auch über das Verbrechen des Angriffskrieges urteilen. Das beschlossen in der Nacht zum 12. Juni 2010 die da- mals 111 Mitgliedstaaten des Römischen Statuts bei ei- ner Konferenz in Ugandas Hauptstadt Kampala und füg- ten einen neuen Art. 8bis in das Römische Statut des IStGH ein. Demnach können der Sicherheitsrat der Ver- einten Nationen, die Vertragstaaten des Römischen Sta- tuts sowie die Chefanklägerin in Zukunft Ermittlungen wegen Aggressionsverbrechen einleiten. Nun müssen Präsidenten oder Armeeführer damit rechnen, wegen völkerrechtswidriger Invasionen, Bombardements oder Blockaden anderer Länder persönlich zur Verantwortung gezogen zu werden. Dies ist gerade für uns Deutsche ein wesentlicher Meilenstein in der völkerrechtlichen Ent- wicklung. Es geht beim Verbrechen der Aggression um nicht weniger als um das Erbe der Nürnberger Kriegs- verbrecherprozesse. Wir Grüne hatten die deutsche De- legation in Kampala durch einen Antrag unterstützt (Bundestagsdrucksache 17/1767). Im Nachhinein ist es umso bedauerlicher und unverständlicher, dass sowohl die schwarz-gelbe Koalition als auch die SPD diesen Antrag einst abgelehnt haben. 28 Monate nach Kampala ist es aber nun doch ein gutes Zeichen, dass die Bundes- regierung die dort gefundenen Beschlüsse ratifizieren möchte. In Kampala wurde ein Kompromiss in letzter Minute gefunden. Der IStGH kann ab 2017 nun einerseits Ag- gressionsverbrechen auch dann behandeln, wenn der Si- cherheitsrat untätig bleibt – obgleich die Chefanklägerin und die von einem Angriff betroffenen Staaten erst hohe Hürden zu überwinden haben, ehe sie ein Verfahren ein- leiten können. Andererseits darf der IStGH nicht gegen Angehörige von Staaten ermitteln, die dem Statut fern- geblieben sind, zum Beispiel die USA, China und Russ- land. Ihre Führer müssen daher nicht befürchten, wegen möglicher Aggressionen – etwa in Afghanistan, Tibet oder Georgien – belangt zu werden. Mit dem universel- len Anspruch des Gerichts ist dieser Kompromiss nach Ansicht von Bündnis 90/Die Grünen nur bedingt verein- bar. Mehr als bedauerlich ist zudem die vorgesehene Op- tionslösung, wonach die Vertragstaaten erklären können, dass der IStGH nicht für Aggressionen zuständig sein soll, die durch ihre Staatsangehörigen begangen wurden oder von ihrem Staatsgebiet ausgehen. Darüber, dass wir Grünen und vermutlich auch die Bundesregierung sich ein noch schöneres Ergebnis ge- wünscht hätten, brauchen wir uns jedoch nicht lange zu unterhalten. In erster Linie sollten wir uns über den in Kampala erzielten Durchbruch freuen – Minimalkonsens hin oder her. Der Sinn der neuen Einigung besteht vor al- lem darin, eine gefährliche Lücke im Recht der Staaten- welt zu schließen. Zwar können bislang Verbrechen in- nerhalb des Kriegs verfolgt werden, auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord. Nur beim Angriffskrieg selbst war das bisher nicht möglich. Dabei gilt er seit den Nürnberger Prozessen gegen die NS-Füh- rung als „das schwerste internationale Verbrechen“. Die deutsche Delegation hat in Kampala – genauso wie übrigens schon bei der Schaffung des Römischen Statuts – einen sehr wichtigen und konstruktiven Beitrag geleistet, um eine Einigung zu erzielen, und hat gemein- sam mit den Niederlanden eine Gruppe der Gleichge- sinnten organisiert, um auf einen Kompromiss hinzuar- beiten. Und auch wenn Menschenrechtsorganisationen wie etwa Amnesty International zu Recht kritisieren, dass man den ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates zu sehr entgegengekommen sei, so muss ich doch kon- statieren, dass eine nicht ganz perfekte Regelung des Tatbestandes des Aggressionsverbrechens immer noch deutlich besser ist als gar keine Regelung. Dennoch hat auch die Beharrlichkeit von Amnesty International, Hu- man Rights Watch und anderen NGOs insgesamt eine sehr wichtige und positive Rolle gespielt: Ohne deren Forderungen wären insbesondere Großbritannien und Frankreich nicht unter jenen enormen Druck geraten, un- ter dem sie zuletzt standen. Auch Maximalforderungen zu erheben, ist in Verhandlungsrunden legitim und von großer Bedeutung. Wer den gefundenen Konsens nun für zu schmalbrüstig erachtet, der sollte bedenken, dass die Völkerrechtsentwicklung sich eher in Dekaden als in Jahren vollzieht. Eine Erweiterung des Aggressionstat- bestandes ist wohl im steten Prozess weiterhin möglich. Die große Aufgabe, die in naher Zukunft zu bewälti- gen sein wird, ist die Implementierung des Tatbestands des Aggressionsverbrechens in die deutsche Rechtsord- nung. Für die Umsetzung des Art. 8bis des Römischen Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24067 (A) (C) (D)(B) Statuts ins deutsche Recht gibt es verschiedene denkbare Varianten. Die vermeintlich einfachste, zugleich aber auch un- ambitionierteste Möglichkeit ist wohl, keine Änderun- gen im deutschen Recht vorzunehmen und mit dem bestehenden § 80 StGB weiter zu operieren. Die Mate- rialien zu Art. 8bis des Römischen Statuts könnten dann als reine Auslegungshilfe herangezogen werden. Dafür spricht, dass es keine völkerrechtliche Pflicht gibt, das Verbrechen der Aggression ins deutsche Recht zu imple- mentieren. Gegen diese Variante ist jedoch einzuwen- den, dass die Bundesrepublik ihrer Vorreiterrolle im Völkerstrafrecht, die sie in Kampala erneut unter Beweis gestellt hat, und auch ihrer historischen Verpflichtung nur unzureichend Rechnung tragen würde. Die zweite, genau gegensätzliche Lösung wäre wohl, Art. 8bis des Römischen Statuts vollumfänglich in einer ins Deutsche übersetzten Form im deutschen Recht abzu- bilden. Hier stellt sich jedoch die Frage des Bestimmt- heitsgrundsatzes im deutschen Recht, im Strafrecht zu- mal. Dem wird Art. 8bis nicht gerecht. Insbesondere die soeben dargestellte Entstehungsgeschichte des Kompro- misses zum Tatbestand des Aggressionsverbrechens hatte es erforderlich gemacht, auf Formulierungen zurückzu- greifen, die wohl erst im Zuge der Rechtsauslegung und -anwendung näher definiert werden. Ein Umstand zwar, der in vielen nationalen Gesetzgebungsverfahren eben- falls vorkommt. Dort aber wird im Regelfall mit bereits bekannten Rechtsbegriffen jongliert, die die Verfas- sungsmäßigkeit zumindest in der Regel nicht überstrapa- zieren. So bleibt als dritte Möglichkeit wohl nur ein Mittel- weg. Aufbauend auf § 80 StGB müsste Art. 8bis des Rö- mischen Statuts in modifizierter Form ins deutsche Recht übernommen werden, wenn auch nicht unbedingt im StGB. § 80 StGB ist anerkannt verfassungsgemäß und hinreichend bestimmt, auch im Hinblick auf die De- finition des Tatbestandsmerkmals des Angriffskrieges. Natürlich müsste die Norm jedoch verändert werden. Zum einen im Hinblick auf den Täterkreis; denn klar ist, dass das Aggressionsverbrechen im Römischen Statut ein Führungsdelikt, nach deutscher Wertung also ein ab- solutes Sonderdelikt, darstellt. Insbesondere aber ist die Klärung der Frage notwendig, ob der Bezug zu Deutsch- land in der Norm erhalten bleiben solle. Ob der Bezug zu Deutschland, wie ihn derzeit § 80 StGB vorsieht, aufrechterhalten bleiben oder zugunsten eines echten Weltrechtsprinzips aufgehoben werden soll, ist eine der beiden schwierigsten Fragen bei der Imple- mentierung des Verbrechens der Aggression in die deut- sche Rechtsordnung. Der Ständige Internationale Ge- richtshof hatte im Jahr 1927 im Lotus-Fall geurteilt, dass die Ausdehnung nationaler Strafgerichtsbarkeit nur dann unzulässig sei, wenn ein ausdrückliches völkerrechtli- ches Verbot nachweisbar wäre. Dieses wegweisende Ur- teil hat das Weltrechtsprinzip begründet und gilt bis heute. Diese Lotus-Entscheidung konsequent umzusetzen, hieße, den Deutschland-Bezug aus dem neu zu schaffen- den Tatbestand zu streichen. Damit infolgedessen jedoch nicht wegen jeder weltweiten Aggression vor deutschen Gerichten verhandelt werden müsste, wäre jedoch eine strafprozessuale Einschränkung über § 153 f StPO zwin- gend erforderlich. Wir müssen uns daher fragen, ob wir so eine weite Regelung im materiellen Strafrecht tatsächlich haben möchten. Ob es wirklich sinnvoll wäre, den Anschein ei- nes weltweit für alle Aggressionsverbrechen zuständigen materiellen Strafrechts zu erwecken, wenn doch klar ist, dass die Ermittlungsbehörden und auch die Gerichte in der Vielzahl dieser Fälle an ihre Grenzen stoßen würden. Die große Mehrzahl der Strafanzeigen nach einem neuen, auf dem Weltrechtsprinzip basierenden Tatbe- stand des Aggressionsverbrechens würde aufgrund be- rechtigter strafprozessualer Erwägungen eingestellt. Dies würde in erster Linie Enttäuschung hervorrufen und das Bestreben um eine Stärkung des Völkerstrafrechts vermutlich eher behindern als fördern. Es ist daher notwendig, den neuen Tatbestand realis- tisch und auch pragmatisch zu fassen. Der Bezug zur Bun- desrepublik Deutschland – ähnlich wie er derzeit in § 80 StGB steht – sollte daher nicht pauschal aufgegeben wer- den. Denn neben dem Argument, dass die mögliche Über- frachtung der Gerichte und Ermittlungsbehörden Enttäu- schung produzieren würde, stellt sich zusätzlich die Frage, ob ein Weltrechtsprinzip im Falle der Aggression völkerrechtlich überhaupt möglich wäre. Im Gegensatz zu anderen Völkerrechtsverbrechen gibt es im Hinblick auf die Aggression keine diesbezügliche Staatenpraxis. Mit diesem Argument das Weltrechtsprinzip beim Ag- gressionsverbrechen aber nun abzulehnen, wäre zu vor- schnell. Jede Form des Völkergewohnheitsrechts nimmt aus irgendeinem Anlass und durch irgendeine Norm ihren Anfang. Das Völkerstrafrecht weiter voranbringen zu wollen, hieße also, bei der Umsetzung des Aggressions- verbrechens ins deutsche Recht nicht gänzlich auf einen weltrechtlichen Anspruch zu verzichten. Zumal andern- falls eine nicht zu erklärende Ungleichbehandlung zwi- schen den einzelnen Völkerrechtsverbrechen die Folge wäre. Eine vermittelnde Lösung wäre also auch hier an- gebracht. Nicht alle Aggressionsverbrechen sind per se vom Weltrechtsprinzip erfasst. Nichtstaatliche Akteure schließt beispielsweise auch Art. 8bis des Römischen Statuts aus. Zwar muss bei der Fassung des Tatbestandes der Gefahr entgegengewirkt werden, dass Angriffskriege in zwei Kategorien unter- teilt würden: in solche, die von deutschen Behörden ver- folgt oder nicht verfolgt werden. Doch dies kann durch eine geschickte, sich am Sinn und Zweck der Norm orientierende Formulierung des Tatbestandes und der Tathandlung vermieden werden. Dies leitet zu der zweiten aus meiner Sicht wesentli- chen Frage bei der Implementierung des Verbrechens der Aggression in die deutsche Rechtsordnung über, der Frage nach der Definition des Angriffskrieges. Es er- scheint charmant, die Definition aus Art. 8bis Abs. 2 des Römischen Statuts zu übernehmen. Dies hieße jedoch zum einen, sich erneut an bislang im deutschen Recht undefinierte Rechtsbegriffe heranwagen zu müssen – mit allen Schwierigkeiten im Hinblick auf das Bestimmt- heitsgebot und die Verfassungsmäßigkeit, und zum an- 24068 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 (A) (C) (D)(B) deren, den in Art. 8bis enthaltenen Verweis auf die Reso- lution 3314 (XXIX) der Generalversammlung der Vereinten Nationen zu übernehmen. Zu Recht wird der in Kampala gefundene Kompromiss für den Tatbestand des Aggressionsverbrechens für diesen Verweis kriti- siert. Denn die Bezugnahme auf die Resolution 3314 (XXIX) kontaminiert den Aggressionsbegriff mit politi- schen Erwägungen der Sicherheitsratsmitglieder. Im deutschen Strafrecht wäre es ein einmaliger Fremdkör- per, würde die Einschätzung des UN-Sicherheitsrates zur Tatbestandsvoraussetzung einer strafbaren Handlung. Zur Lösung dieses Problems böte es sich an, die An- griffshandlung im deutschen Recht gesondert und ohne eine Bezugnahme auf die Resolution zu definieren. Art. 3 der Resolution könnte hierfür aus seinem Kontext herausgehoben und verwendet werden. Er ist progressiv und wird international besonders von den kleineren Staa- ten begrüßt. Auch angesichts anderer Probleme bietet es sich aus meiner Sicht nicht an, die Definition aus Art. 8bis Abs. 2 des Römischen Statuts einfach zu übernehmen. Etwa die aus unserer Sicht unscharf formulierte Tathandlung der Anwendung von Waffengewalt. Oder den Buchstaben f, der Handlungen unter Strafe stellt, durch die ein Staat er- laubt, dass sein Hoheitsgebiet mit Erlaubnis von einem anderen Staat dazu genutzt wird, eine Angriffshandlung gegen einen dritten Staat zu begehen. Die Flugbasen der USA in der Bundesrepublik sind hierfür ein klassisches Beispiel. Wann immer ein von den USA geführter Krieg, bei dem in Deutschland stationierte amerikanische Sol- daten eingreifen, mit dem Vorwurf der Aggression be- legt wird, würden vermutlich sogleich zahlreiche Straf- anzeigen gegen deutsche Verantwortliche eingehen, die die Stationierung US-amerikanischer Truppen gestatten. Und zwar unabhängig von der Frage, ob der Bezug zu Deutschland im Aggressionsverbrechen aufrechterhalten bleibt oder nicht. Angesichts dieser und vermutlich noch vieler weiterer Fallstricke sollte sich der Gesetzgeber daher die Mühe machen, den Angriffskrieg selber zu definieren. Unbe- nommen davon bleibt ja die Möglichkeit, in der Begrün- dung des Gesetzentwurfs darauf zu verweisen, dass Art. 8bis des Römischen Statuts zur weiteren Auslegung des Begriffs herangezogen werden sollte. Angesichts der bereits angesprochenen Vorreiterrolle, die die Bundesrepublik Deutschland in den letzten Jahr- zehnten im Völkerstrafrecht eingenommen hat und auch weiterhin einnehmen sollte, bin ich der Meinung, dass eine Platzierung des neuen Tatbestandes des Aggressi- onsverbrechens im StGB unzureichend wäre. Anstatt § 80 StGB neu zu fassen, sollte eine neue Norm im Völker- strafgesetzbuch geschaffen werden. Nur so könnte Deutschland eine international mustergültige Regelung schaffen. Die Bundesrepublik würde hierdurch ihren Wil- len sichtbar bekräftigen, das Aggressionsverbrechen zu ächten. Denn bei aller notwendigen Begrenzung des Weltrechtsprinzips und bei allem verständlichen Wunsch, die deutschen Gerichte nicht zu überfrachten, müssen wir doch auch zugleich die Stärkung des IStGH als Institution im Blick behalten. Es hilft dem Gerichtshof nicht, wenn wir verhältnismäßig unambitionierte nationale Normen kreieren, die die wesentlichen Problemfälle dann auf den IStGH verlagern. Der IStGH ist ein Gericht nur für jenen Notfall, in dem die nationalen Gerichte und Rechtsord- nungen versagen. Daher plädiere ich für eine mutige Lö- sung und die Schaffung eines neuen Tatbestandes im VStGB. Ein Beharren auf § 80 StGB in einer modifizier- ten Form wäre der Größe des Projektes nicht angemessen. Zuletzt noch eine kurze Bemerkung zur prozessualen Flankierung. Jede noch so gute neue Regelung würde an Einfluss und Macht verlieren, wenn § 153 f StPO weiter- hin so restriktiv angewandt würde wie bislang. Er muss reformiert werden. Das Wort „insbesondere“ im zweiten Absatz suggeriert in meinen Augen, dass es sich im Ver- gleich zum ersten Absatz eher um eine Soll- als um eine Kann-Vorschrift handelt. Zudem wird – etwa in der zweiten Rumsfeld-Entscheidung – in der Rechtspraxis regelmäßig geprüft, ob angesichts der Möglichkeiten der Beweissicherung in einem fernen Staat oder der antizi- pierten Rechtshilfe ein Verfahren denn überhaupt zu ei- ner Anklage führen könne. Dieser Ansatz, so nachvoll- ziehbar und menschlich er auch erscheint, muss sehr kritisch hinterfragt werden. Er steht so nicht im Gesetz. Wer Enttäuschungen bei der Umsetzung des Tatbestan- des des Aggressionsverbrechens ins deutsche Recht vor- beugen will, der sollte auch hier ansetzen. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem Antrag: Für wirksamen Rechtsschutz im Asylverfahren – Konsequen- zen aus den Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ziehen (Ta- gesordnungspunkt 17) Helmut Brandt (CDU/CSU): In ihrem Antrag, den wir heute in zweiter Lesung beraten, kritisiert die Frak- tion Bündnis 90/Die Grünen, dass entgegen einer Grund- satzentscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Deutschland keine Möglichkeit eines effektiven Rechtsschutzes gegen die Überstellung in ei- nen anderen EU-Mitgliedstaat auf Basis der Dublin-Ver- ordnung bestehe. Nach der Entscheidung des Gerichts- hofes vom 21. Januar 2011 müssen Behörden und Gerichte eine Beschwerde, mit der geltend gemacht wird, durch die Abschiebung in ein anderes Land einer gegen Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonven- tion verstoßenden Behandlung ausgesetzt zu sein, gründ- lich untersuchen. Die zuständige Instanz muss die Kom- petenz haben, die Beschwerde in der Sache zu prüfen. Der Deutsche Bundestag soll daher die Bundesregie- rung auffordern, einen Gesetzentwurf vorzulegen, mit dem der in den §§ 27 a, 34 a Abs. 2 und 75 AsylVfG vorgesehene Ausschluss des vorläufigen Rechtsschutzes gegen Überstellungen im Rahmen der Dublin-II-Verord- nung aufgehoben wird und stattdessen das Recht auf ei- nen effektiven Rechtsschutz mit aufschiebender Wir- kung festgeschrieben wird. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24069 (A) (C) (D)(B) Hintergrund des vorliegenden Antrags ist neben einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Men- schenrechte vom 21. Januar 2011 ein Urteil des Europäi- schen Gerichtshofes vom 21. Dezember 2011. In dem Verfahren von Asylbewerbern aus Afghanistan, dem Iran und Algerien gegen das Vereinigte Königreich und die Republik Irland hat der Europäische Gerichtshof ent- schieden, dass ein Asylbewerber nicht an einen Mit- gliedstaat überstellt werden darf, in dem er Gefahr läuft, unmenschlich behandelt zu werden; das Unionsrecht lasse keine unwiderlegbare Vermutung zu, dass die Mit- gliedstaaten die Grundrechte der Asylbewerber beach- ten. Begründet wird der Antrag von Bündnis 90/Die Grü- nen damit, dass ein Schutzsuchender grundsätzlich vor einer Rückführung in einen anderen EU-Mitgliedstaat die Möglichkeit einer effektiven rechtlichen Überprü- fung mit aufschiebender Wirkung haben müsse: dass viele Verwaltungsgerichte bereits dementsprechend ent- schieden, reiche nicht aus. Ihren Antrag lehnen wir ab. Die Regelungen des Asylverfahrensgesetzes zum sicheren Drittstaat wurden 1996 vom Bundesverfassungsgericht grundsätzlich ge- billigt. Und auch der Europäische Gerichtshof hat in sei- nem Urteil vom 21. Dezember 2011 festgestellt, dass eine Prüfung der Rechtstexte, die das Gemeinsame Eu- ropäische Asylsystem bilden, die Annahme zulasse, dass alle an diesem System beteiligten Staaten die Grund- rechte beachten, einschließlich der Rechte, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention sowie in der Europäischen Menschenrechtskonvention haben. Die Mitgliedstaaten dürfen einander insoweit Vertrauen entgegenbringen. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht eng um- grenzte Ausnahmen festgelegt, in denen die von der Ver- fassung beziehungsweise dem Gesetzgeber getroffene Festlegung von Staaten als sicher und damit auch der Ausschluss des vorläufigen Rechtsschutzes gemäß § 34 a Asylverfahrensgesetz nicht gilt. Und auch der Europäi- sche Gerichtshof hat entschieden, dass von einer Rück- überstellung abzusehen sei, wenn ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe die Annahme nahelegen, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemi- sche Mängel aufweisen. Was Rücküberstellungen nach Griechenland anbe- langt, hat der damalige Bundesinnenminister, Thomas de Maizière, mit der bereits Anfang Januar 2011 zunächst auf ein Jahr befristeten und zwischenzeitlich um ein wei- teres Jahr bis Januar 2013 verlängerten vollständigen Aussetzung von Überstellungen von Deutschland nach Griechenland die entscheidende Konsequenz aus der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Men- schenrechte gezogen. Hintergrund der Entscheidung des Bundesinnenministers waren Berichte von Delegations- teilnehmern sowie Nichtregierungsorganisationen und dem Hohen Flüchtlingskommissariat, die immer wieder auf die unhaltbaren Zustände in Griechenland hinwie- sen. Trotz der geleisteten oder angebotenen Hilfe herrschten und herrschen in den Flüchtlingslagern men- schenunwürdige Zustände. Die griechische Regierung ist nach wie vor nicht in der Lage und wohl auch nicht willens, sich für eine deutliche Verbesserung der Lage der Flüchtlinge einzusetzen. Aufgrund der vollständigen Aussetzung von Über- stellungen nach Griechenland gibt es derzeit keine Ge- richtsverfahren, bei denen es auf die Frage vorläufigen Rechtsschutzes gegen Überstellungen dorthin ankommt. Ich versichere Ihnen, dass über eine mögliche Verlän- gerung der Aussetzung von Überstellungen nach Grie- chenland auf Basis der Dublin-Verordnung rechtzeitig entschieden wird. Einen akuten Bedarf für eine generelle Änderung des § 34 a Abs. 2 Asylverfahrensgesetz kann ich deshalb nicht erkennen. In Bezug auf Überstellungen in andere Mitgliedstaaten sind derzeit keine Konsequenzen veranlasst. Die deutli- che Verurteilung von Griechenland zeigt, dass es sich um eine ganz außergewöhnliche und einzigartige Situation handelt: Der Europäische Gerichtshof für Menschen- rechte stützt seine Entscheidung auf übereinstimmende und über einen längeren Zeitraum verfestigte Berichte zahlreicher europäischer Institutionen und unabhängiger internationaler Organisationen über massive strukturelle Mängel im Griechenland-Asylsystem, die im Ergebnis eine Schutzverweigerung bedeuten. Eine solche Situation besteht in Bezug auf andere Mitgliedstaaten nach derzei- tigem Kenntnisstand nicht. Soweit Verwaltungsgerichte gleichwohl Überstellun- gen in andere Mitgliedstaaten im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes untersagen, was zum Beispiel in Bezug auf Italien teilweise der Fall ist, teilen wir die darin zu- grunde liegende Einschätzung nicht: Weder für Italien noch für andere Mitgliedstaaten gibt es konkrete An- haltspunkte für sogenannte systemische Mängel des Asylsystems, die zu einer generellen Aussetzung von Überstellungen veranlassen. Eine Änderung des § 34 a Abs. 2 Asylverfahrensge- setz kommt überdies zum jetzigen Zeitpunkt für uns auch deshalb nicht in Betracht, da aktuell auf europäi- scher Ebene Verhandlungen über eine Neufassung der Dublin-Verordnung stattfinden. Im Zuge dieser Gesprä- che wird auch über die Möglichkeit eines einstweiligen Rechtsschutzes gegen eine Abschiebungsanordnung im Rahmen des Dublin-Verfahrens verhandelt. Ich bitte um Verständnis, dass wir schon aus Gründen einer einheitli- chen europäischen Regelung zunächst den Ausgang die- ser Gespräche abwarten. Ich warne jedoch ausdrücklich davor, das Dublin-Sys- tem als solches infrage stellen. Denn die auf dem Verant- wortungsgrundsatz basierenden Zuständigkeitsregelungen der Dublin-Verordnung und ihres Vorgängerabkommens haben sich in den über zehn Jahren ihrer Anwendung be- währt. Das Dublin-II-Abkommen war und ist der Garant dafür, dass wir keinen unkontrollierten und auch von uns nicht mehr zu bewältigenden Asylbewerberstrom haben. Und das Dublin-System bietet die Garantie dafür, dass das europäische Asylsystem nicht dadurch ins Stocken gerät, dass die staatlichen Behörden mehrere Anträge desselben Antragstellers bearbeiten müssen. 24070 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 (A) (C) (D)(B) Einen Alleingang dahin gehend, den in den §§ 27 a, 34 a Abs. 2 und 75 AsylVfG vorgesehenen Ausschluss des vorläufigen Rechtsschutzes gegen Überstellungen nach Griechenland im Rahmen der Dublin-II-Verord- nung generell aufzuheben, wird es deshalb mit uns nicht geben. Wichtig erscheint mir außerdem, dass wir auf euro- päischer Ebene darüber nachdenken, die Visumsfreiheit für Länder wie Serbien und Mazedonien schnellstmög- lich auszusetzen. Die Zahlen der Asylbewerber des Mo- nats September 2012 zeigen insbesondere einen sprung- haften Anstieg von Asylanträgen durch serbische und mazedonische Staatsangehörige. Das liegt zum einen an der Abschaffung der Visapflicht für diese Länder, zum anderen aber auch an der Rechtsprechung des Bundes- verfassungsgerichts, das Asylbewerbern die volle Sozi- alhilfe zuerkannte. So etwas spricht sich natürlich auch in Staaten wie Serbien und Mazedonien, die ein beson- ders großes Wohlstandsgefälle zum EU-Raum aufwei- sen, rasend schnell herum. Diese Menschen kommen nach Deutschland, um hier ein besseres Leben führen zu können. Das mag menschlich verständlich sein; aber da- für ist das Asylrecht nicht geschaffen worden. Rüdiger Veit (SPD): In seinem Urteil vom 21. Ja- nuar 2011, MSS. gegen Belgien und Griechenland (Be- schwerde-Nr. 3096/09), hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, EGMR, entschieden, dass die Rücküberstellung in dem konkreten Fall nach Griechen- land aufgrund der dortigen Haft- und Lebensbedingun- gen eine Verletzung von Art. 3 der Europäischen Men- schenrechtskonvention, EMRK, darstellt; zudem liege eine Verletzung von Art. 13 EMRK, dem Recht auf eine wirksame Beschwerde vor, da der Beschwerdeführer keine Möglichkeit hatte, vor der Überstellung nach Grie- chenland gegen diese Rücküberstellung wirksame Rechtsmittel einzulegen. Mit anderen Worten: Aus die- ser Entscheidung des EGMR folgt unzweideutig, dass es Flüchtlingen, die rücküberstellt werden sollen, möglich sein muss, dagegen Rechtsmittel einzulegen. Das geltende deutsche Recht schließt in § 34 a Abs. 2 AsylVfG die Möglichkeit eines einstweiligen Rechts- schutzes gegen Abschiebungen in einen sogenannten sicheren Drittstaat aus. Damit entspricht es nicht der Rechtsprechung des EGMR. Ende des Jahres 2011 folgte die Große Kammer des Gerichtshofs der Europäischen Union, EuGH, der Linie des EGMR. In seiner Entscheidung vom 21. Dezember 2011 stellte sie fest, „dass das Unionsrecht der Geltung einer unwiderlegbaren Vermutung entgegensteht, dass der im Sinne der Verordnung Nr. 343/2003 – Dublin-II- Verordnung – „als zuständig bestimmte Mitgliedstaat die Unionsgrundrechte beachtet“. Der EuGH führte weiter aus, „dass es den Mitgliedstaaten einschließlich der na- tionalen Gerichte obliegt, einen Asylbewerber nicht an den „zuständigen Mitgliedstaat, im Sinne der Verord- nung Nr. 343/2003 – Dublin-II-Verordnung – zu über- stellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systematischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat … Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer un- menschlichen … Behandlung … ausgesetzt zu werden“. Vielleicht wundern Sie sich, warum ich die Entschei- dungen des EGMR und des EuGH hier noch einmal so ausführlich darlege, sind sie doch auch hinreichend in dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen genannt. Ich tue dies vor allem im Hinblick auf die Kol- leginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion. Nach dem Bericht des Innenausschusses zu dem vorliegenden Antrag hatten sie die Ablehnung des Antrags empfohlen, da er auf einer „fehlgehenden Interpretation einzelner Entscheidungen des … EuGH und des … EGMR“ beruhe; mit diesen falschen Interpretationen der Recht- sprechung der höchsten europäischen Gerichte wolle die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen den Asylkompromiss von 1992/1993 „zu Fall bringen“. Was ich zuvor zu den Entscheidungen des EGMR und des EuGH berichtet habe, habe ich nicht interpretiert, sondern zitiert. Die Entscheidungen dieser beiden Gerichte sind eindeutig, klar verständlich und bedürfen insofern keiner Interpretation mehr. Ich bin mir auch si- cher, dass EGMR und EuGH bei ihren Entscheidungen nicht im Sinn hatten, den deutschen Asylkompromiss auszuhöhlen. Das erscheint abwegig. EuGH und EGMR sind die für die Mitgliedstaaten maßgebenden Oberge- richte. Sie haben entschieden, dass im Verfahren gegen Überstellungen im Rahmen der Dublin-II-Verordnung ein effektiver einstweiliger Rechtsschutz möglich sein muss und dass es keine unwiderlegliche Vermutung für die Einhaltung und Gewährung der durch die EMRK ge- schützten Rechte in den Mitgliedstaaten gibt. Das hat auch das Bundesverfassungsgericht in mehre- ren Eilentscheidungen, in denen es die aufschiebende Wirkung eingelegter Rechtsmittel gegen Rückführungen nach Griechenland aufgrund einer „grundrechtskonfor- men Auslegung“ des § 34 a Abs. 2 AsylVfG bejaht hat, so entschieden. Ebenso urteilten verschiedene Verwal- tungsgerichte quer durch die gesamte Republik. Nach Griechenland wird derzeit – wie wir alle wissen – über- haupt nicht mehr rücküberstellt. Diese Entscheidungspraxis deutscher Gerichte kann aber nicht dazu führen – wie die Kolleginnen und Kolle- gen der Unionsfraktion jedoch meinen –, dass in Deutschland kein Handlungsbedarf bestehe. Zudem kann es nicht richtig sein, das Bundesverfassungsgericht jeweils im Einzelfall mit der Frage zu bemühen, ob ein einstweiliger Rechtsschutz gegen eine Überstellung an- gezeigt sei, wenn der EGMR deutlich sagt, dass dies ein Recht ist, das grundsätzlich gegeben sein muss. Es ist eine Fragestellung, die der Gesetzgeber zu entscheiden hat und wohl auch demnächst wird entscheiden müssen; denn am 19. September 2012 hat der Innenausschuss des EPs die geänderte Dublin-II-VO verabschiedet, auf die sich EP, Rat und Kommission zuvor in Trilogverhand- lungen in erster Lesung geeinigt hatten. In dieser Neu- fassung ist ein einstweiliger genereller Rechtsschutz ge- gen Rücküberstellungen vorgesehen. Vor diesem Hintergrund begrüßen wir auch ausdrück- lich die Entscheidung des EGMR von Anfang dieses Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24071 (A) (C) (D)(B) Jahres. Der EGMR hatte einen Fall zu entscheiden, in dem Italien eine Gruppe von auf hoher See aufgegriffe- nen Menschen an libysche Sicherheitskräfte zurücküber- stellte (Urteil vom 23. Februar 2012, Hirsi Jamaa u. a. gegen Italien, Nr. 27765/09). Damit verstieß Italien ge- gen die Europäische Konvention für Menschenrechte, EMRK: Wenn Vertreter eines EGMR-Vertragsstaates effektive Kontrolle über eine Person, ein Gebiet oder ein Schiff ausüben, dann sind sie an die EMRK – insbeson- dere das Non-Refoulement-Gebot – auch außerhalb des eigenen Hoheitsgebiets gebunden. Bei einer Überarbeitung der Frontex-Verordnung müssen wir darauf drängen, dass die EU-Menschen- rechte bei Einsätzen der Grenzschutzagentur gewahrt werden. Die Entwicklungen an den EU-Außengrenzen – ins- besondere zum Beispiel in Griechenland aber auch in jüngster Zeit in Ungarn – haben deutlich gemacht, dass wir in Europa dringend eine Verantwortungsteilung brauchen. Ich halte das für die derzeit dringendste politi- sche Aufgabe im Rahmen des europäischen Flüchtlings- rechts. Eine solche ist im Dublin-II-System nicht vor- gesehen. Das ist ungerecht. Es ist ungerecht gegenüber den Mitgliedstaaten, die EU-Außengrenzen haben; sie müssen die Hauptlast tragen, und es ist ungerecht gegen- über den Flüchtlingen, weil die auf dem Papier verein- heitlichten Aufnahme-, Verfahrens- und Anerkennungs- bedingungen weit davon entfernt sind, in der Praxis tatsächlich EU-weit gleich angewandt zu werden. Gleichzeitig sollten wir darüber nachdenken, legale Wege nach Europa zu öffnen. Eine Möglichkeit ist die Vergabe von sogenannten Schutzvisa. Außerdem sind wir für den Aufbau von langfristigen Resettlement- Programmen mit einem bestimmten Kontingent. Die be- stehenden Programme sollten dementsprechend ausge- baut werden. Ich könnte mir zum Beispiel die Aufnahme von 100 000 Personen pro Jahr EU-weit vorstellen, um mal konkret eine Hausnummer zu nennen. Um ein wirksames europäisches Asylsystem zu haben, müssen wir an vielen Stellen Änderungen vor- nehmen. Die von den europäischen Gerichten eingefor- derte Möglichkeit der Gewährung einstweiligen Schut- zes gegen Rücküberstellungen in Erstaufnahmeländer ist ein notwendiger Schritt in diese Richtung. Wir stimmen dem Antrag zu. Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Über das euro- päische Asylsystem muss weiter beraten und nachge- dacht werden, und das muss auch bei den anstehenden Verhandlungen zum Ausdruck gebracht werden. Eine Nachjustierung erscheint in mancher Hinsicht sinnvoll – auch beim Rechtsschutz, allerdings ist es völlig überzo- gen, in diesem Zusammenhang plakativ von „menschen- und europarechtswidrigen Bestimmungen des deutschen Rechts“ zu sprechen, wie die Antragssteller das zum wiederholten Male tun. Ob tatsächlich das von Regierungen vereinbarte Eu- roparecht, wie die Grünen das mutig behaupten, das Ver- fassungsrecht, etwa des Parlamentarischen Rates in Deutschland bricht, darüber hat Karlsruhe sich bislang nicht so eindeutig geäußert. Als Parlamentarier finde ich, dass Recht, das direkt aus einer demokratisch-parlamen- tarischen Willensbildung entsteht, grundsätzlich Vorrang vor intergouvernementalen Vereinbarungen haben sollte. Da ist der demokratische Einfluss mir denn doch zu indi- rekt. Insofern sind Reformen zur Stärkung der parlamen- tarischen Demokratie auf europäischer Ebene geboten. Das Bundesministerium des Inneren hat voriges Jahr alle Überstellungen nach der Dublin-II-VO nach Grie- chenland ausgesetzt. Hier hat der Bundesinnenminister die volle Unterstützung der FDP-Bundestagsfraktion. Damit wird die schwierige Situation berücksichtigt, die in Griechenland für Asylbewerber besteht. Bereits im Jahr 2010 war nur ein kleiner Anteil von Personen überhaupt nach Griechenland überstellt wor- den; in den restlichen Fällen hatte die Bundesrepublik Deutschland bereits von ihrem Selbsteintrittsrecht Ge- brauch gemacht. Das Bundesverfassungsgericht hat als Reaktion auf die Aussetzung die Verfahren, die dort zur Geltendmachung einstweiligen Rechtsschutzes anhängig waren, einge- stellt. Es ist über die Notwendigkeit eines einstweiligen Rechtsschutzes also nicht entschieden worden. Man kann ja grundsätzlich der Auffassung sein, dass Deutschland angesichts der bisherigen Situation des Rechtsschutzes bei Dublin-II-Verfahren noch Nachhol- bedarf hat. Die Bundesregierung geht aber sehr verant- wortungsvoll mit dem Rückführungsmechanismus um: Rückführungen sind nun ausgesetzt; bereits im vergan- genen Jahr wurden nur 50 Personen nach Griechenland zurückgeführt; beim Rest wurde vom Selbsteintrittsrecht Gebrauch gemacht. Gleichzeitig können auch Staaten wie Griechenland nicht bevorzugt werden, wenn sie die Standards nicht einhalten: Der Druck muss aufrechterhalten bleiben. Kon- krete Hilfe hat die Bundesregierung für die griechischen Behörden auch angeboten – hinsichtlich der menschen- würdigen und schnelleren Gestaltung der Asylverfahren und der Rahmenbedingungen hierzu ist dieses ebenso wie zur stärkeren Grenzsicherheit vonnöten. Der Schutz von Menschen in Not ist für uns ein hohes Gut. Die FDP wird daher in der Koalition mit der CDU/ CSU die Asylpolitik weiterhin verantwortungsbewusst und sensibel entwickeln und die EU-Planungen konstruktiv begleiten. Ulla Jelpke (DIE LINKE): Wir behandeln heute ab- schließend einen Antrag der Grünen, in dem die volle Wiederherstellung des Eilrechtsschutzes bei Abschie- bungen im Rahmen des Dublin-Systems gefordert wird. Innerhalb der EU ist im Regelfall der Staat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig, in den eine Person zuerst eingereist ist. Wenn Asylsuchende den- noch nach Deutschland weiterreisen, wird ihr Asylantrag nicht inhaltlich geprüft und sie müssen in das Erstein- reiseland zurückkehren, um dort ihr Asylverfahren zu betreiben. Im Zuge dessen erhalten sie einen Überstel- lungsbescheid. Eine Klage gegen diesen Bescheid hat al- 24072 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 (A) (C) (D)(B) lerdings keine aufschiebende Wirkung – dies wird nach geltendem Recht sogar ausdrücklich ausgeschlossen. Ein solches Verfahren widerspricht dem EU-Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz. Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass die Behörden der Mitgliedstaaten nicht einfach automatisch von einer „Sicherheit“ in an- deren Mitgliedstaaten ausgehen dürfen. Ernstliche Zwei- fel an der Funktionsfähigkeit des Asylsystems und den Aufnahmebedingungen des Staates, in den überstellt werden soll, müssen grundsätzlich überprüft werden können. Die unerträglichen Zustände in Griechenland, aber zum Beispiel auch in Italien und Ungarn, führen das klar vor Augen. Deutsche Verwaltungsgerichte haben deshalb in mittlerweile Hunderten Fällen entgegen dem klaren Wortlaut des Asylverfahrensgesetzes einstweili- gen Rechtsschutz verfügt. Doch in der Bundesrepublik wird der Rechtsschutz nicht allein durch die Rechtslage ausgehebelt, sondern auch durch eine zutiefst rechtsstaatswidrige Behörden- praxis. Im Mai dieses Jahres hat die Abschiebebeobach- tung am Flughafen Frankfurt/Main ihren Tätigkeits- bericht für das Jahr 2011 vorgelegt. Darin wird der Fall eines 18-jährigen Jugendlichen aus dem Sudan dar- gestellt. Gemäß der Dublin-Verordnung ist Italien der zuständige EU-Staat. Der Jugendliche ist schwer trauma- tisiert, durch das stabile Umfeld einer Jugendhilfeein- richtung befindet er sich auf dem Weg der Besserung. Doch dann wird er nachts aus der Einrichtung abgeholt und zum Flughafen gebracht. Weder die Einrichtung noch sein Anwalt werden vorher informiert. Anschlie- ßende Recherchen des Forums Abschiebebeobachtung ergeben, dass das Bundesamt für Migration und Flücht- linge die zuständige Ausländerbehörde aufgefordert hat, den Bescheid über die Überstellung erst zu übergeben, wenn die Überstellung selbst stattfindet. Damit hat der Betroffene keine Möglichkeit mehr, sich wirksam gegen seine Überstellung zur Wehr zu setzen. Ein neueres Beispiel stammt aus dem August dieses Jahres. Da sollte ein Asylbewerber nach Italien zurück- geschoben werden. Das Verwaltungsgericht entschied jedoch, die Abschiebung dürfe nicht stattfinden, und er- ließ eine einstweilige Verfügung. Der Betroffene wurde da gerade zum Flieger gebracht. Die Bundespolizei wollte nicht auf den von der Ausländerbehörde telefo- nisch bereits angekündigten Beschluss warten und voll- zog die Abschiebung in Kenntnis des Urteilsspruchs. Eine Minute nachdem das Flugzeug seine Parkposition verlassen hatte, traf die richterliche Verfügung dann auch per Fax ein – zu spät. Inzwischen hat die Bundesre- gierung den Asylbewerber auf Staatskosten zurückholen müssen. Aber das Verfahren war eine unglaubliche Belastung und Zumutung für den Betroffenen, der in Europa Schutz vor Verfolgung sucht. Hätten seine Rechtsmittel gegen die geplante Überstellung aufschie- bende Wirkung gehabt, wäre allen Beteiligten eine Menge erspart geblieben. Die Bundesregierung weigert sich beharrlich, mir auf meine zahlreichen parlamentarischen Fragen zu dieser Zustellungspraxis auch nur einmal klar zu antworten. Erst eine neue Weisung des NRW-Innenministeriums an die Ausländerbehörden aus dem Juli hat bestätigt, dass das Bundesamt durch seine Vorgaben in der Praxis tat- sächlich effektiven Rechtsschutz bewusst verhindert hat. In der Weisung aus Nordrhein-Westfalen heißt es – ich zitiere –: „Das Bundesamt übermittelte die Rücküber- stellungsbescheide in der Praxis an die Ausländerbehör- den bislang mit der Bitte diese – möglichst am Überstel- lungstag – … zuzustellen.“ Nun sendet das Bundesamt den Dublin-Bescheid der zuständigen Ausländerbehörde zwei Wochen vor Termin zu, lässt aber fatalerweise komplett offen, wann er zugestellt werden soll. Ich halte also fest, dass die Bundesregierung zur rechtsstaatswidrigen Praxis des Bundesamtes bewusst unzureichende Antworten gegeben hat. Nun hat das Bundesamt den Schwarzen Peter den Ländern zugescho- ben. Wann die Ausländerbehörden die Bescheide nun zustellen, bleibt ganz ihnen überlassen. Zu befürchten ist daher, dass viele an der gängigen Praxis festhalten. Es kann aber nicht angehen, dass die Zustellung des Be- scheids aus rein taktischen Erwägungen bis zur letzten Minute herausgezögert wird. Die Effizienz des Behör- denhandelns wird mit einem solchen Vorgehen über den Rechtsstaat gestellt. Die Bundesregierung ist gefordert, hier endlich für eine einheitliche und rechtsstaatliche Praxis zu sorgen. Sobald feststeht, dass ein Asylbewer- ber in einen anderen Staat überstellt werden soll, muss das den Betroffenen auch rechtzeitig mitgeteilt werden. In der ersten Debatte dieses Antrags haben Sie von der CDU/CSU geäußert, die Einführung eines effektiven Rechtsschutzes sei überflüssig. Denn es gebe ja bereits das Selbsteintrittsrecht der EU-Staaten, von dem die Bundesrepublik im Falle Griechenlands auch Gebrauch mache. Da dort kein effektives Asylverfahren garantiert ist, werden auch keine Asylsuchenden nach Griechen- land zurückgeschoben. Ich darf Sie daran erinnern, dass es zwei Jahre gedauert hat, bis sich diese Einsicht in der Bundesregierung durchgesetzt hat – zwei Jahre, in denen Asylsuchende in Not und Elend abgeschoben wurden. Außerdem geht dieses Argument an der Sache voll- kommen vorbei. Die Grünen fordern in ihrem Antrag, den individuellen Rechtsschutz von Asylsuchenden zu stärken. Dafür sollen Überstellungsentscheidungen ge- richtlich überprüfbar gemacht werden. Das ist etwas vollkommen anderes als das Recht des Staates, von einer Überstellung im Einzelfall oder in bestimmte Länder ab- zusehen. Das ist ein reines Gnadenrecht. Wir wollen aber kein Gnadenrecht, sondern garantierte individuelle Grundrechte, deren Einhaltung von Gerichten überprüft werden kann. Die Linke stimmt dem Antrag der Grünen deshalb zu. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Noch immer haben bei Überstellungen nach der Dublin- II-Verordnung Schutzsuchende im Asylverfahren nach deutschem Recht keinen Anspruch auf effektiven einst- weiligen Rechtsschutz. Das ist eines Rechtsstaates un- würdig. Denn wie sollen Asylsuchende die Gründe für einen Verbleib in Deutschland und damit den sogenann- ten Selbsteintritt zur Durchführung des Asylverfahrens hier wirksam vorbringen? Krankheiten, familiäre Bin- dungen, aber auch gravierende Mängel im Asylsystem Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24073 (A) (C) (D)(B) des Staates, in den zurücküberstellt werden soll, können die Durchführung eines nationalen Asylverfahrens be- gründen. Nur wie soll dies durchgesetzt werden können, wenn aufgrund der Inhaftierung der allermeisten Dublin- Asylfälle – Rücküberstellungshaft – es nur wenigen ge- lingt, aus der Haft heraus einen Anwalt zu finden, der den entsprechenden Rechtsschutzantrag auf den Weg bringt? Seit den mit dem 1. EU-Richtlinienumsetzungsgesetz 2007 eingeführten Änderungen wurde über § 34 a Abs. 2 AsylVfG der einstweilige Rechtsschutz gegen Entschei- dungen im Verfahren nach der Dublin-II-Verordnung ge- nerell ausgeschlossen. Vom Ausland aus kann ein effek- tiver Rechtsschutz vor deutschen Verwaltungsgerichten aber nicht greifen. Ein Rechtsbehelf ist nur dann wirk- sam, wenn irreparable Folgen, wie sie durch die sofor- tige Vollziehung einer hoheitlichen Maßnahme vor deren gerichtlichen Überprüfung eintreten können, so weit als möglich ausgeschlossen werden können. Der Gesetzgeber ist hier zeitnah gefordert, die men- schen- und europarechtswidrigen Bestimmungen des deutschen Rechts aufzuheben und im deutschen Recht effektiven Rechtsschutz gemäß der Europäischen Men- schenrechtskonvention und unionsrechtlichen Vorgaben festzuschreiben. Dies fordert der vorliegende Antrag. Die Koalition hat in den Innenausschussberatungen hingegen weiter auf Verzögerung und Abwiegeln ge- setzt – und dies, obwohl inzwischen neben den deutli- chen Urteilen des Europäischen Gerichtshofs und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auch im Entwurf der Kommission zur Reform der Dublin-II-Ver- ordnung ein wirksamer Rechtsschutz bei Rücküberstel- lungen vorgesehen werden soll. In einem Urteil vom 21. Dezember 2011 in den ver- bundenen Rechtssachen C-411/10 und C-493/10 hat der Gerichtshof der Europäischen Union unmissverständlich klargestellt, dass ein Asylbewerber nicht in einen Mit- gliedstaat überstellt werden darf, in dem er Gefahr läuft, unmenschlich behandelt zu werden. Der EuGH hat ferner entschieden: Das Unionsrecht lässt keine unwiderleg- bare Vermutung zu, dass die Mitgliedstaaten die Grund- rechte der Asylbewerber beachten. Der Gerichtshof stellte fest, eine Anwendung der Dublin-II-Verordnung (EG 343/2003) auf der Grundlage einer unwiderlegbaren Vermutung, dass die Grundrechte des Asylbewerbers im zuständigen Mitgliedstaat beachtet werden, ist mit der Pflicht der Mitgliedstaaten zur grundrechtskonformen Auslegung und Anwendung der Verordnung unverein- bar. Zuvor hatte bereits der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einer Grundsatzentscheidung vom 21. Januar 2011 im Verfahren M.S.S. (Beschwerde-Nr. 3096/09) aus Art. 3 in Verbindung mit Art. 13 der Euro- päischen Menschenrechtskonvention die Verpflichtung der Vertragsstaaten abgeleitet, vor einer Überstellung an den zuständigen Mitgliedstaat im Rahmen einer Einzel- fallprüfung die Einhaltung der aus Art. 3 EMRK folgen- den Verpflichtungen durch den zuständigen Mitglied- staat zu prüfen. Art. 13, in Verbindung mit Art. 3, EMRK sei dann verletzt, wenn es vor einer Überstellung für den Betroffenen keine Möglichkeit gibt, gegen die Entscheidung, ihn in einen anderen Mitgliedstaat zu überstellen, wirksame Rechtsmittel einzulegen. Das bedeutet im Klartext: Eine automatische Rück- überstellung eines Asylbewerbers, ohne dass sich ein Gericht mit den Verhältnissen in dem anderen Mitglieds- land befasst, ist nicht im Einklang mit EU-Recht. Der deutsche Gesetzgeber muss nunmehr endlich den Weg frei machen und durch eine Gesetzesänderung gewähr- leisten, dass Schutzsuchenden ein effektiver Rechts- schutz gegen eine Abschiebung in einen anderen EU- Mitgliedstaat gewährt wird. Um auch dies klarzustellen: Die Entscheidung des EuGH bezieht sich auf alle Mitgliedstaaten der Europäi- schen Union – nicht nur auf Griechenland. Wenn nun also die Bundesregierung, wie im Innenausschuss vorge- tragen, sich in ihrer Haltung bestätigt fühlt, weil sie keine Asylbewerber mehr im Rahmen des Dublin-II- Verfahrens nach Griechenland zurücküberstellt, dann ist dies viel zu kurz gegriffen, was die Dimension der Ent- scheidung des EuGH angeht. Es geht also auch um sys- temische Missstände in den Asylverfahren und der Aner- kennungspraxis in anderen EU-Mitgliedstaaten, wie zum Beispiel in Ungarn, wo ein diktatorischer Folterstaat wie Syrien noch bis Anfang des Jahres als „sicheres Her- kunftsland“ eingestuft war. Das ist schlichtweg unfass- bar. Oder zu nennen in Bulgarien auch, wo Asylsu- chende unter unwürdigen Bedingungen inhaftiert werden, bloß weil sie einen Asylantrag stellen wollen. Für den deutschen Gesetzgeber ergibt sich aus den Urteilen des EuGH und des EGMR ein klarer Auftrag: § 34 a des Asylverfahrensgesetzes ist zu streichen. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Entwurf eines ... Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuchs (... Strafrechtsänderungs- gesetz - ... StRÄndG) – Beschlussempfehlung und Bericht zu dem Antrag: – Vorurteilsmotivierte Straftaten wirksam verfolgen (Tagesordnungspunkt 20 a und b) Ansgar Heveling (CDU/CSU): Zweifellos machen uns gerade die Straftaten besonders betroffen, bei denen Hass die Triebfeder ihrer Begehung ist. Was sind das für Menschen, die anderen Menschen Gewalt antun, nur weil sie eine andere Hautfarbe, Religion, Herkunft oder Weltanschauung haben oder weil sie Behinderungen ha- ben? Natürlich denken wir dabei unmittelbar an die ak- tuellen Fälle rechtsextremistischer Täter, die über den Zeitraum eines Jahrzehnts Geschäftsleute griechischer und türkischer Abstammung ermordet haben, aber auch an die Übergriffe brutalster Art in U- und S-Bahnen 24074 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 (A) (C) (D)(B) sowie auf öffentlichen Plätzen, die in jüngster Zeit ins- besondere von jugendlichen Tätern begangen worden sind. Sicherlich haben wir noch die schrecklichen Bilder, von Überwachungskameras aufgezeichnet, vor Augen: Wehrlose Menschen werden verprügelt und zu Boden getreten. Und auch dann noch, wenn sie schon am Boden liegen, wird zielgerichtet weiter auf den Kopf eingetre- ten. Aber uns sind darüberhinaus auch die vielen ande- ren Vorfälle präsent: Hetzjagden auf Ausländer, Brände, die in Asylbewerberheimen gelegt werden, Menschen, die wegen ihrer Hautfarbe oder Herkunft auf brutalste und menschenverachtende Weise gequält und misshan- delt, ja getötet werden. Es handelt sich dabei um schlimmste Übergriffe, und alle diese Taten werden von uns allen gleichermaßen verurteilt. Sie sind gerade auch deshalb von besonderer Bedeutung, weil sie durch einen besonderen Unrechtsge- halt gekennzeichnet sind. Denn es geht bei diesen Straf- taten nicht um eine individuelle, persönliche Auseinan- dersetzung zwischen Täter und Opfer. Das Opfer ist vielmehr gerade nicht deshalb Opfer, weil es ein Indivi- duum ist, sondern weil es Teil einer Gruppe ist, die vom Täter als „anders“ abgestempelt wird. Dem besonderen Unrechtsgehalt solcher Hasstaten möchten der Bundesrat und die SPD-Fraktion durch die zur Abstimmung stehenden Gesetzentwürfe Rechnung tragen. Sie haben dabei zum Ziel, eine Ergänzung in § 46 Abs. 2 des Strafgesetzbuches aufzunehmen und damit die Berücksichtigung des besonderen Unrechtsgehaltes bei der Strafzumessung ausdrücklich zu verankern. Vorge- schlagen wird, strafschärfende Regelbeispiele in die Strafzumessungsregeln zur Motivation oder Zielsetzung des Täters aufzunehmen. Besonders menschenverach- tende, rassistische oder fremdenfeindliche Motive für die Tat sollen damit bei der Strafzumessung strafschärfend zu berücksichtigen sein. Ohne Frage ist dem Anliegen von Bundesrat und SPD-Fraktion in der Sache insoweit zuzustimmen, als dass die von mir eingangs angespro- chenen Taten zu Recht die Frage aufwerfen, ob unser Strafrecht in ausreichendem Maße Instrumente bereit- hält, diese besonderen Umstände im Verfahren und vor allem schlussendlich im Urteil im entsprechenden Maße zu berücksichtigen. In den Beratungen zu den Gesetzent- würfen und zum Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, der noch einmal einen ganz anderen Akzent setzt, haben wir uns mit dieser Frage intensiv auseinandergesetzt. Insbesondere die Sachverständigenanhörung hat dazu ei- nen besonderen Beitrag geleistet. Unser Fazit ist: Einer gesetzlichen Ergänzung in § 46 Abs. 2 StGB bedarf es nicht. Der Strafrahmen, also das gesetzliche Höchst- und Mindestmaß, wird durch den konkreten Gesetzesverstoß festgestellt, mit all seinen Tatmodalitäten und Tatumständen, die den Strafrahmen erhöhen oder mildern können. In diesem festgestellten Strafrahmen sind sämtliche Umstände, die zugunsten, aber auch zuungunsten des Täter sprechen, abzuwägen. Das geltende Recht gebietet und gestattet es dabei jetzt schon, derartige Hassmotivationslagen und Zielsetzun- gen bei der Strafzumessung zu berücksichtigen. Dazu gehören, sofern dies nicht bereits Tatbestandsmerkmal ist, die Beweggründe und Tatziele, beispielsweise Taten, die auf eine verfestigte rechtsfeindliche oder gleichgül- tige Haltung zurückgehen. Als weiterer Strafschärfungs- grund ist die Gesinnung, die aus der Tat spricht, zu be- werten, wie etwa eine rohe, böswillige, gewissenlose, grausame und/oder rücksichtslose Gesinnung. Das gel- tende Recht gibt also bereits jetzt die Möglichkeit, die in den Gesetzentwürfen als Regelbeispiel ausgestalteten Strafzumessungsründe bei der Strafzumessung zu be- rücksichtigen, ohne dass diese ausdrücklich festge- schrieben sind. Das heißt zunächst einmal: Eine zu schließende rechtliche Lücke gibt es nicht. Das, was durch den Gesetzentwurf geregelt werden soll, ist bereits geltendes Recht. Damit käme der Regelung nur eines zu: Symbolcharakter. Symbolische Gesetze mögen gelegentlich auch ihre Berechtigung haben, insbesondere dann, wenn dadurch Werte und Einstellungen bekräftigt werden. Gleichwohl sollte man aber mit symbolischen Gesetzen sehr vorsich- tig und zurückhaltend umgehen. Sonst sieht man irgend- wann vor lauter Symbolen das Wesentliche nicht mehr. Und genau dieser Frage, wo die wesentlichen Defizite an dieser Stelle sind, sollten wir uns viel eher widmen. Im rechtlichen, gesetzlichen Rahmen liegen sie jedenfalls offenkundig nicht. Tatsache ist zunächst, dass gesicherte rechtstatsächli- che Erkenntnisse sowohl im Hinblick auf Art und Umfang des Vorkommens von Straftaten, die durch rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende Beweggründe motiviert sind, als auch auf den Umgang der Strafverfolgungsbehörden in sämtlichen Stadien des Verfahrens fehlen. Darauf hat in der Anhörung insbeson- dere der Sachverständige Professor Radtke hingewiesen. Hier kann ein Ansatzpunkt sein, sich die Sache noch ein- mal genau anzuschauen. Insofern verweise ich in dieser Hinsicht auch gerne, weil es ein wirklich sinnvoller Punkt ist, auf die entsprechende Forderung im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen. Das ist eine Anregung, der wir uns nicht verschließen sollten. Mit einer vertieften Untersuchung lässt sich möglicherweise das herausfin- den, wo wir momentan noch im Nebel stochern. Denn mangels rechtstatsächlicher Erkenntnisse können wir derzeit nicht beurteilen, ob es Defizite gibt oder nicht. Ferner können wir nicht beurteilen, wo diese Defizite, wenn es sie denn geben sollte, liegen: beim „Erstkon- takt“ mit einem möglicherweise strafrechtlich relevanten Vorfall, bei der staatsanwaltschaftlichen Ermittlung und Anklagevorbereitung oder in der gerichtlichen Haupt- verhandlung mit anschließender Urteilsfindung? Angesichts der fehlenden Untersuchungserkennt- nisse lässt sich dementsprechend auch ein etwaiger ge- setzgeberischer Handlungsbedarf nicht klar erkennen. Wir sollten das Thema aus den genannten Gründen nicht aus dem Blick lassen. Und möglicherweise ist das Bun- desjustizministerium ja auch auf Bitten bereit, eine ent- sprechende rechtstatsächliche Untersuchung in Gang zu setzen. Wenn eine solche dann vorliegt, mag das Anlass sein, das Problem noch einmal anzugehen. Unmittelba- ren Anpassungsbedarf bei § 46 StGB sehen wir indessen nicht. Wir werden die Gesetzentwürfe und den Antrag dementsprechend ablehnen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24075 (A) (C) (D)(B) Burkhard Lischka (SPD): Es ist jetzt knapp ein Jahr her, da stockte uns allen gemeinsam der Atem, als wir erfuhren, dass eine rechtsextremistische Terrorgruppe elf Jahre lang durch dieses Land zog, mindestens zehn schreckliche Morde verübte, Banküberfalle und Spreng- stoffanschläge durchführte. Am Anfang war Erschre- cken, Empörung, Wut und Trauer über diese fürchterli- che Mordserie – und Scham, Scham darüber, dass dies in unserem Land, ausgerechnet in unserem Land, 60 Jahre nach der nationalsozialistischen Barbarei möglich war. Und diese Scham empfinden wir noch heute. Erstaunlich war allerdings das Erstaunen, das in mancher öffentli- chen Äußerung zum Ausdruck kam. Nein, erstaunt und überrascht konnte eigentlich niemand sein. Denn in den 20 Jahren zuvor waren bereits weit über 150 Menschen durch braune Gewalt in unserem Land ums Leben ge- kommen. Die braune Gewalt- und Blutspur hatte sich bereits längst durch unser Land gelegt, spätestens seit den Pogromen von Hoyerswerda, Rostock-Lichten- hagen, Mölln und Solingen. Und auch diese schreck- lichen Vorfalle waren nur die sichtbare Spitze alltägli- cher neonazistischer Gewalttaten überall in unserem Land: Kinderwagen, die in Hausfluren angezündet wer- den, geschändete jüdische Friedhöfe, abgefackelte Dönerbuden, Behinderte, Ausländer und Jugendliche, die mit Baseballschlägern niedergeschlagen wurden, Menschen, die sich nicht mehr in bestimmte Stadtteile trauen. Das alles gehört zum Alltag in unserem Land. Und hieran hat sich trotz aller Appelle nichts geändert, bis zum heutigen Tag. Und damit werden wir uns nicht abfinden. Niemals! Rechtsextreme Gewalt wird seit vielen Jahren immer wieder bagatellisiert und verharmlost. Auch das gehört zum Alltag. Opfer brauner Gewalt berichten immer wie- der und übereinstimmend, sie würden häufig nicht ernst genommen. Zeugenaussagen werden zum Teil gar nicht oder unvollständig aufgenommen. In manchen Fällen wird den Opfern eine Mitschuld suggeriert. Rechtsextre- mistische und rassistische Hintergründe einer Tat wer- den nicht erkannt oder beiseite geschoben. Da sind die Ermittlungen bei der NSU-Mordserie überhaupt keine Besonderheit, wo ja auch über viele Jahre ein fremden- feindlicher Hintergrund ausgeblendet wurde. Wie schrieb die FAZ Anfang des Jahres: „Im gerichtlichen Alltag spielt die rassistische und fremdenfeindliche Mo- tivation von Straftaten nahezu keine Rolle“. Die feh- lende Aufklärung und unzureichende Aburteilung rechtsradikaler Straftaten sind verheerend, zuallerst für die betroffenen Opfer, aber auch für die Angehörigen und schließlich für unsere gesamte Gesellschaft. Denn wenn die Opfer das Gefühl haben, im Stich gelassen zu werden, wenn sie den Eindruck haben, es werde nicht genau hingeschaut und verurteilt, dann ist das nicht we- niger als eine Krise für unseren Rechtsstaat. Da, wo Menschen durch Straßen gejagt, misshandelt, geschlagen und getreten werden, da, wo sie um ihr Le- ben fürchten, da müssen diese Taten auch strafrechtlich als das behandelt werden, was sie sind: ein Anschlag auf die Menschenwürde, ein Anschlag auf uns alle. Und das sollte, das muss auch in unserem Strafgesetz- buch Niederschlag finden, wie in vielen vielen anderen Ländern auch. Deshalb unser Antrag, rassistische, frem- denfeindliche und menschenverachtende Motive von Gewalttaten strafschärfend zu berücksichtigen. Wenn der Gesetzgeber angesichts brutalster Übergriffe die Rechtslage hier klipp und klar verdeutlicht, dann sind wir das den Opfern, aber auch unserem Rechtsstaat schuldig! Es wird deshalb Zeit, höchste Zeit, dass wir endlich ein klares Zeichen setzen. Sönke Rix (SPD): Die Zahl der rechtextremistischen Straf- und Gewalttaten ist in der zweiten Hälfte des letz- ten Jahrzehnts nach einem vorübergehenden Rückgang wieder gestiegen. Bereits nach der Wende 1989/90 nahm in Deutschland die Anzahl rechtsextremistischer Straf- und Gewalttaten drastisch zu. Im Jahr 2010 erfasste das Bundeskriminalamt 15 905 rechtsextremistische Strafta- ten, darunter 762 Gewalttaten. Damit kommt es in Deutschland täglich zu durchschnittlich zwei bis drei ge- waltsamen rechtsextremistischen Übergriffen. Dies kann und darf in unserem Land nicht nur nicht toleriert werden, vielmehr brauchen wir ein starkes Signal, das wir dieser Motivation zur Gewaltausübung entgegenset- zen. Wir brauchen eine Regelung im Strafgesetzbuch, die rechten Gewalttätern klar verdeutlicht, welche Stra- fen sie erwarten, wenn sie Menschen aufgrund rassisti- scher, antisemitischer Motive, aufgrund ihrer Woh- nungslosigkeit oder anderer sozialdarwinistischer Beweggründe oder aufgrund ihrer sexuellen Orientie- rung und/oder Geschlechtsidentität sowie aufgrund ihrer Behinderung, ihrer nicht rechten Einstellung oder ihres Engagements gegen Neonazis angreifen. Ich bestreite nicht, dass die vorgeschlagene gesetz- liche Verankerung auch Symbolpolitik ist. Es ist ein Symbol an die betroffenen Minderheiten, dass Staat und Gesellschaft rechte Gewalt nicht hinnehmen. Wir setzen ein Zeichen, dass solche Taten ganz besonders geahndet werden, da sie als Botschaftsverbrechen geeignet sind, Angst und Unruhe zu schüren und demokratische Werte an und für sich infrage zu stellen. Aber es handelt sich nicht nur um Symbolpolitik. Wir wollen mit dieser Re- gelung auch derzeit bestehende Defizite bei den Straf- verfolgungsbehörden und Gerichten beheben. Viele Ver- eine und Verbände, die sich für Demokratie und gegen Rechtsextremismus und Rassismus engagieren, und ganz besonders die Opferberatungsstellen sagen mir im- mer wieder, dass vorurteilsmotivierte Straftaten im Rah- men der Strafverfolgung durch die Polizei und die Staatsanwaltschaften, aber auch bei der Strafzumessung schlichtweg nicht erkannt werden. Möglicherweise sollten wir den Begriff „Hasskrimi- nalität“ noch einmal überdenken. „Hass“ reduziert die Tat auf ein emotionales, individuelles Problem des Täters und verbirgt die zugrunde liegenden, gesellschaft- lich relevanten Vorurteile. Aus Respekt vor den Opfern sollte man klar benennen, was Ziele und Beweggründe waren – Rassismus, Antisemitismus, Homo-/Transpho- bie, Sozialdarwinismus oder der Wille, ein extrem rech- tes Weltbild umzusetzen und all jenen Gruppen ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit und Leben abzusprechen, die als Feinde einer imaginierten Volksgemeinschaft gel- ten. 24076 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 (A) (C) (D)(B) Die Beratungsstellen selbst sprechen von rechter Ge- walt, um in der politischen Sphäre deutlich zu machen, welche ideologische Basis den Taten zugrunde liegt. Rechtsextremismus kann nicht nur mit Gesetzen, Polizei und Verfassungsschutz erfolgreich bekämpft werden. Viel wichtiger ist die Prävention. Wir müssen die gesell- schaftlichen Bindekräfte stärken und den Rechtsextre- men keine Räume überlassen, in die sie mit ihrer Menschenfeindlichkeit eindringen können. Die Stärkung der demokratischen Zivilgesellschaft muss im Zentrum unserer Bemühungen stehen. Die Programme gegen Rechtsextremismus müssen dauerhaft und verlässlich unterstützt werden. Sie haben zum Aufbau lokaler Struk- turen beigetragen und zeigen Wirkung. Bürgerinnen und Bürger verteidigen die Demokratie gegen Neonazis: Im persönlichen Gespräch, in Bildungseinrichtungen, am Arbeitsplatz, in den Kommunalparlamenten und nicht zuletzt auch zunehmend bei Demonstrationen und Blockaden gegen Naziaufmärsche. Ohne die Opferbera- tungen, mobilen Beratungsteams und die vielen Initiati- ven vor Ort stünde der Kampf gegen Rechtsextremismus in vielen Regionen auf verlorenem Posten. Viele Träger leiden allerdings unter der Kurzfristigkeit und Prekarität ihrer Finanzierung. Gelungene Modellprojekte können deshalb oft nicht langfristig etabliert werden, Organisa- tionswissen geht verloren, und qualifiziertes Personal wandert ab. Das wollen wir ändern. Die dreijährige Be- fristung der Projekte muss aufgehoben werden. Gute Projekte dürfen auch länger dauern. Nicht zuletzt ist es eine zentrale Aufgabe, den sozia- len Zusammenhalt in unserer Gesellschaft zu stärken und allen jungen Menschen gute Zukunftschancen zu ge- ben. Dazu gehört, unsere Städte und Gemeinden finan- ziell gut auszustatten, sodass sie Kultur, Sport, Jugend- arbeit und Sozialarbeit wieder ausbauen können. Staat und Gesellschaft müssen ein klares Zeichen set- zen: Rechtsextreme, Rassisten und verfassungsfeindli- che Parteien haben in einem demokratischen Deutsch- land keinen Platz. Wir sind überzeugt: Die Stärkung der Demokratie und der engagierten Demokratinnen und Demokraten sind der beste Verfassungsschutz. Darum möchte ich am Ende festhalten: Es ist wichtig, dass die Opfer rassistischer, rechtsextremer und men- schenverachtender Gewalt als solche anerkannt werden. Und es folgt daraus für mich auch eine stärkere Bestra- fung der Täter. Aber noch mehr wünsche ich mir, dass solche Straftaten gar nicht erst passieren. Und das geht nur mit einer Zivilgesellschaft, die mit beiden Beinen fest auf dem Boden des Grundgesetzes steht. Jörg van Essen (FDP): Ich denke, die bisherige Debatte hat gezeigt, dass sich insgesamt das Gefühl ver- breitet, dass es in Deutschland keine Situation geben darf, in der rechtsradikale Straftäter ihre Taten ohne Konsequenzen begehen dürfen. Gerade der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen wie auch der Gesetzentwurf der SPD zu einer Änderung des § 46 StGB könnten den Eindruck entstehen lassen, dass es Defizite in der wirksamen Strafverfolgung oder Straf- zumessung bei Hassdelikten geben könnte. Ich habe aber über eine falsche oder unzureichende Strafzumessung bezüglich rechtsradikaler Straftaten noch keinerlei Vor- würfe mitbekommen. Ich kann ganz im Gegenteil aus meiner Tätigkeit als Staatsanwalt in einer Staatsschutz- abteilung nur feststellen, dass vorurteilsmotivierte Straf- taten stets zutreffend und mit notwendig hohen Strafen seitens der Gerichte gewürdigt wurden. Es bedarf keiner Änderung des § 46 des Strafgesetz- buchs, da die Berücksichtigung solcher Motive immer Gegenstand der Rechtsprechung in unserem Land gewe- sen ist. Zu Recht berücksichtigen die Gerichte, welche Beweggründe den Täter zu seiner Tat veranlasst haben. Im Rahmen der Strafzumessung werden alle Beweg- gründe zugunsten und zulasten des Täters gegeneinander abgewogen, sodass vorurteilsmotivierte Hassdelikte in diese Abwägung ebenfalls miteinbezogen werden. Mir ist kein Fall bekannt geworden, dass sich diese bewährte Gerichtspraxis geändert haben sollte. Die Grünen führen in ihrem Antrag selber aus, dass in der deutschen Gerichtspraxis anerkannt ist, dass rassisti- sche oder fremdenfeindliche Beweggründe nach § 46 Abs. 2 StGB zu berücksichtigen sind und regelmäßig zu einer Strafschärfung führen. Es ist nicht fördernd, wenn wir einige wenige Dinge bzw. Motive in der Strafzumessung hervorheben. An- dere Taten, die übrigens auch von Rechtsradikalen bzw. von Menschen mit rechtsradikaler Gesinnung begangen werden, sind in gleicher Weise verachtenswert und erfor- dern eine entsprechende strafrechtliche Konsequenz. Vor diesem Hintergrund ist eine generalisierende gesetzliche Regelung bestimmter strafschärfender Motive in § 46 StGB der falsche Weg. Strafzumessung ist stets eine Ein- zelfallentscheidung der Gerichte, denen man vertrauen muss und kann. Wir müssen daher Überlegungen anstellen, wie wir auf anderem Weg mit diesem Problem besser fertig wer- den. Zu verbessern wäre zum einen die frühzeitige Berücksichtigung solcher vorurteilsmotivierten Hand- lungen im Ermittlungsverfahren, um eine bessere Auf- klärung der Tatmotive und der Gesinnung des Täters zu ermöglichen. Zum anderen sollten die Verfahren be- schleunigt werden, um eine klare, schnelle und eindeu- tige Antwort der Gerichte auf dieses Fehlverhalten zu geben. Dadurch wird dem Täter deutlich gemacht, dass wir nicht bereit sind, ein solches Verhalten zu akzeptie- ren. Wir sollten den Weg der Veränderung des § 46 StGB nicht gehen. Es ist nicht ersichtlich, was als Konsequenz für die Justiz aus dieser Änderung zu erwarten ist. Wir sollten uns in diesem Zusammenhang vor Augen halten, dass die Justiz bzw. die Gerichte unabhängig und daher die Auswirkungen einer Änderung des § 46 StGB nicht abzuschätzen sind. Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Wir debattieren hier eine Änderung des Strafgesetzbuches, bei der es da- rum gehen soll, dass menschenverachtende Tatmotive als besondere Umstände in der Strafzumessung Anwen- dung finden sollen. Es geht um sogenannte Hassdelikte, Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24077 (A) (C) (D)(B) denen, da sind wir uns wohl alle einig, ein erhöhter Unrechtsgehalt innewohnt. Im Kern geht es darum, rassistische, fremdenfeindli- che und sonstige menschenverachtende Beweggründe und Ziele der Täter strafschärfend im Rahmen der Straf- zumessung zu berücksichtigen. Wir verstehen die Motive, die hinter den vorgeschla- genen Gesetzesänderungen stehen, wir halten sie aber für den falschen Weg. Bereits jetzt – die Gesetzesent- würfe des Bundesrates und der SPD weisen explizit darauf hin, und unter den Sachverständigen herrschte diesbezüglich Einigkeit – können hassgeleitete Motive der Täter strafverschärfend berücksichtigt werden. Es fehlt also nicht an einer Rechtsgrundlage. Es fehlt an ei- nem dem erhöhten Unrechtsgehalt von Hasskriminalität angemessenen Umgang. Wir sind nicht davon überzeugt, dass es hilfreich ist, das Strafgesetzbuch zu ändern, um die Gerichte zu sensi- bilisieren und der Rechtsprechung einen Anhaltspunkt zu geben, wie es im Gesetzentwurf des Bundesrates heißt. Wir glauben, dass das Problem viel früher anfängt. Bei den Behörden, bei den Straftaten aufnehmenden Polizeidienststellen und bei der Handhabung der öffent- lichen Statistiken. Sie wissen genauso gut wie wir, dass die Opferberatungsstellen für Opfer rassistischer Gewalt stets höhere Zahlen ausweisen als zum Beispiel die polizeiliche Kriminalstatistik. Hieran kann der Gesetzes- vorschlag nichts ändern, sondern hier muss eine gesell- schaftliche Sensibilisierung her. Sensibilisierung mittels einer Änderung des Strafge- setzbuches ist eine Scheinlösung. Natürlich weist diese Regelung Richterinnen und Richter noch einmal geson- dert auf die Möglichkeit hin, die Motive der Tat bei der Strafzumessung zu berücksichtigen. Aber der Hinweis im Gesetz ändert noch lange nicht die Handhabung des Gesetzes. Sensibilisierung setzt Aufklärung voraus und Präven- tion. Wir leben in einer Zeit, in der sich ein Untersu- chungsausschuss mit einer ganzen Mordserie beschäfti- gen muss, weil offensichtlich niemand sich vorstellen konnte, dass Nazis ihre Art von Hasskriminalität derart ausleben. Wir leben in einer Zeit, in der wir immer wie- der mit Nachrichten überrascht werden, dass V-Leute des Verfassungsschutzes in Naziaktivitäten verwickelt waren und sind, diese teilweise sogar gefördert haben. Wir leben in einer Zeit, in der der Innenminister ganz ungeniert fordern kann, Asylbewerbern und Asylbewer- berinnen die Leistungen zu kürzen – obwohl ein anders- lautendes Urteil des Bundesverfassungsgerichts vorliegt. Auf dem Oranienplatz in Kreuzberg campen gerade Flüchtlinge und Asylbewerber und Asylbewerberinnen, um unter anderem gegen die Residenzpflicht zu protes- tieren. Wenn wir anfangen, Flüchtlinge und Asylbewerber und Asylbewerberinnen nicht weiter zu diskriminieren, dann schaffen wir Sensibilität. Sensibilisierung schaffen wir, wenn wir Projekte, die sich um Aufklärung und Prävention kümmern, endlich einer Regelfinanzierung zuführen, statt ihnen alle drei oder vier Jahre aufzubürden, neue Projektanträge zu schreiben. Sensibilisierung schaffen wir, wenn wir hier und überall sagen: Gleiche Rechte für alle hier lebenden Menschen. Wenn wir das erreicht haben, dann werden Richterin- nen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte, aber auch Behörden und Polizistinnen und Polizisten von sich aus die Motive von Hasskriminalität bei der Strafzumessung und bei der Aufnahme von Straftaten berücksichtigen. Eine Gesetzesänderung brauchen wir dafür nicht. Wir haben im Rechtsausschuss eine Anhörung zum Thema Hasskriminalität durchgeführt. Die Sachverstän- digen waren hinsichtlich einer Änderung des Strafge- setzbuches unterschiedlicher Meinung. Ich will dennoch auch auf ein methodisches Problem der Gesetzentwürfe eingehen. Sie schaffen mit dem Begriff „menschenver- achtende Bewegründe" in Abgrenzung zu fremdenfeind- lich und rassistisch eine Formulierung, die Spielraum für Ungenauigkeiten lässt. Wir sind uns sicherlich einig: Auch Homophobie und Antisemitismus sind menschen- verachtend, auch Straftaten gegen Obdachlose oder so- zial benachteiligte Personen. Korrekt wäre es dann aber, genau das auch in den Gesetzentwürfen aufzuschreiben. Obwohl wir das hinter den Gesetzentwürfen stehende Ansinnen teilen, können wir ihnen aus den genannten Gründen nicht zustimmen. Wir sollten aber alle gemein- sam dafür Sorge tragen, dass Hasskriminalität in diesem Land keine Chance hat. Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wo- rüber herrscht zwischen uns Einigkeit? Ja, es gibt Straf- täter, die aus rassistischen, fremdenfeindlichen oder menschenverachtenden Motiven heraus handeln. Ja, wir wollen, dass diese Motive aufgedeckt und bei der Straf- zumessung berücksichtigt werden, selbstverständlich strafschärfend. Aber gibt es einen objektiven Befund, dass dies in unseren Strafgerichten nicht geschieht? An Gesetzen mangelt es nicht. § 46 Strafgesetzbuch erlaubt und fordert die Erhebung und Berücksichtigung aller Motive, also auch der rassistischen, fremdenfeindli- chen oder menschenverachtenden. Deshalb hat der Sach- verständige Graf, Richter am BGH, die Vorschläge des Bundesrates und der SPD als überflüssig und reine Sym- bolhandlung bezeichnet. Die wenigen wissenschaftlichen Untersuchungen über die Praxis an den Gerichten sprechen eher gegen die These, dass rassistische, fremdenfeindliche oder menschenverachtende Motive in großer Zahl unbeachtet bleiben. Und doch: Wir sollten auch diejenigen ernst nehmen, die vor Ort Opferbetreuung betreiben, die die Neonazi- und Rechtsradikalenszene beobachten, die die Strafver- fahren verfolgen und die berichten, dass allzu oft rassis- tische, fremdenfeindliche oder menschenverachtende Motive unausgesprochen und ungesühnt bleiben. Des- halb muss etwas gemacht werden, aber nicht irgendet- was, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, sondern das Richtige: 24078 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 (A) (C) (D)(B) Einige gewichtige Gründe sprechen gegen die Vor- schläge der SPD und des Bundesrates. Erstens. Sie setzen am Ende und nicht am Anfang an. Die Strafzumessungsvorschrift des § 46 StGB richtet sich an das Gericht, welches am Ende das Urteil spricht. Man muss aber bei der Polizei und der Staatsanwalt- schaft ansetzen. Dort werden die ersten Ermittlungen ge- führt, dort werden die ersten Beweise gesichert und die Zeugen verhört. Hier muss nach rassistischen, fremden- feindlichen oder menschenverachtenden Motiven ge- sucht und müssen Beweise hierfür gesichert werden. Der Sachverständige Professor Radtke erklärte hierzu: Man kann nicht die Strafzumessung ändern wol- len, damit das Ermittlungsverfahren besser läuft. Des- halb muss man die Ausbildung der Polizei darauf aus- richten, dass rassistischen, fremdenfeindlichen oder menschenverachtenden Motiven nachzugehen ist und Beweise dafür zu sichern sind. Man muss die Richtlinien für das Strafverfahren ändern und festlegen, dass bei Vorliegen rassistischer, fremdenfeindlicher oder men- schenverachtender Motive das öffentliche Interesse an einer Strafverfolgung in der Regel zu bejahen ist. Das ist nicht so spektakulär wie Gesetzesänderungsinitiativen, aber es ist viel wirksamer. Zweitens. Es wird die Gefahr von Fehlurteilen wegen verbotener Doppelverwertung geschürt. Am Beispiel des Strafverfahrens gegen den NSU ist dies deutlich zu ma- chen. Im kommenden Prozess vor dem OLG München wird es um die Frage gehen, ob die Morde an neun Tür- ken und einem Griechen „aus niederen Beweggründen“, also zum Beispiel aus rassistischen oder fremdenfeind- lichen Beweggründen erfolgten. Bejaht das Gericht dies, dann bleibt kein Raum mehr, etwaige rassistische, frem- denfeindliche oder menschenverachtende Motive bei der Strafzumessung zu berücksichtigen. Geschieht dies trotzdem, hätten wir es mit einem Fehlurteil zu tun. Auch in allen Verfahren wegen Volksverhetzung nach § 130 StGB haben wir mit dem Problem der verbotenen Doppelverwertung zu tun, wenn § 46 nach den Vorstel- lungen der SPD geändert wird. Der Sachverständige Graf, Richter am BGH, hat davor ausdrücklich gewarnt. Drittens. Bei der Strafzumessung nach § 46 StGB sind die „Beweggründe und Ziele des Täters“ und/oder seine „Gesinnung, die aus der Tat spricht“ in den Blick zu nehmen. Die Gesetzentwürfe wollen die Worte „ras- sistischen, fremdenfeindlichen oder menschenverachten- den“ an die Beweggründe und Ziele hängen, nicht an die Gesinnung, die aus der Tat spricht. Dies würde Fehl- urteile provozieren, wenn die Beachtung rassistischer, fremdenfeindlicher oder menschenverachtender Motive losgelöst von ihrer Bindung an die Tat in die Strafzumes- sung Eingang finden könnte. Dies wäre aber Gesin- nungsjustiz, die aus rechtsstaatlichen Gründen auch bei rassistischen, fremdenfeindlichen oder menschenverach- tende Motivlagen untragbar wäre. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich weiß, dass sie dies nicht wollen. Aber durch die Fehl- lokation ihres Vorschlags provozieren sie falsche Urteile und damit eine Beschädigung des Rechtsstaats. Viertens. Wir kennen ausschließliche Strafschär- fungsgründe – und der Bundesrat und die SPD wollen doch wohl rassistische, fremdenfeindliche oder men- schenverachtende Motive ausschließlich strafschärfend in die Strafzumessung einfließen lassen – nur als Regel- beispiele im materiellen Strafrecht mit der Folge erhöh- ter Strafrahmen. Die Beweggründe eines Täters können, angesiedelt im Allgemeinen Teil des StGB in § 46 im- mer nur strafschärfend wie auch strafmildernd sein. Aber genau das wollen weder der Bundesrat noch die SPD. Darauf hat der Sachverständige Professor Radtke ausdrücklich warnend hingewiesen. Wir Grünen haben schon 2010 in unserem Antrag „Daueraufgabe Demokratiestärkung – Die Auseinander- setzung mit rassistischen, antisemitischen und men- schenverachtenden Haltungen gesamtgesellschaftlich angehen und die Förderprogramme des Bundes danach ausrichten“, Drucksache 17/2482, 15 Punkte zum Vorge- hen gegen rassistischen, fremdenfeindlichen oder men- schenverachtenden Hass benannt. Wir wählen nicht die verengte Sichtweise auf das Strafrecht, sondern schlagen ein gesamtgesellschaftliches Vorgehen vor. Mit unserem heutigen Antrag komplettieren wir unse- ren Handlungskatalog um die Ausbildung der Ermitt- lungsbeamten und klare Regeln in den Richtlinien für das Strafverfahren. Wir gehen einen besseren und erfolg- versprechenderen Weg. Den kontraproduktiven Vor- schlägen der SPD und des Bundesrates können wir trotz ihrer guten Absichten nicht folgen. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden Zur Beratung: Antrag: Neue Impulse für die Förderung des Radverkehrs setzen – Den Nationalen Radverkehrsplan 2020 überarbeiten – Unterrichtung: Nationaler Radverkehrsplan 2020 – Den Radverkehr gemeinsam weiter- entwickeln (Zusatztagesordnungspunkt 7) Gero Storjohann (CDU/CSU): Das Fahrrad als Ver- kehrsmittel nimmt einen wichtigen und stetig wachsen- den Teil am Gesamtverkehrsaufkommen in Deutschland ein. Radfahren schont die Umwelt; denn das Fahrrad ist ein vollkommen emissionsfreies Verkehrsmittel. Rad- fahren entlastet das motorisierte Verkehrsaufkommen in unseren belebten Innenstädten. Radfahren ist gesund und hält fit. Und nicht zuletzt: Radfahren macht Spaß. Sicherlich hat jeder von uns schon Fahrradtouren mit Freunden und Familie erlebt, an die er sich noch lange gerne zurückerinnert. Das Fahrrad als Verkehrsmittel hat viele Vorteile für den Einzelnen, für die Gesellschaft und die Umwelt. Es gibt also viele gute Gründe, den Radver- kehr weiter zu fördern. Deshalb hat die Bundesregierung den Nationalen Radverkehrsplan 2020 vorgelegt. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24079 (A) (C) (D)(B) Mit diesem neuen Nationalen Radverkehrsplan setzt die christlich-liberale Koalition wichtige Impulse an die zuständigen Länder und Kommunen. Die Aufgabe des Bundes ist es, die Rahmenbedingungen für die weitere Entwicklung des Radverkehrs zu schaffen. Der Bund fördert den Radverkehr in seiner Zuständigkeit als Ge- setzgeber und in seiner Verantwortung für den Bau von Radwegen an Bundesstraßen und Bundeswasserstraßen. Mit dem Nationalen Radverkehrsplan möchte der Bund Förderer, Impulsgeber, Moderator und Koordinator sein. Es werden grundsätzliche Leitlinien für die örtliche Rad- verkehrsförderung in den kommenden Jahren formuliert. Ziel ist es, den Radverkehr in Deutschland noch attrakti- ver und sicherer zu machen. Deutschland soll noch fahr- radfreundlicher werden. Aber der Hauptadressat des Plans sind die Länder und Kommunen. Sie sind es, die für die einzelnen Maßnah- men der Radverkehrsförderung vor Ort zuständig sind. So will es unsere föderale Ordnung. Und es dient auch der Sache, dass diese Aufgabe bei den Ländern und Kommunen angesiedelt ist. Denn es sind die Entschei- dungsträger vor Ort, die am besten beurteilen können, welche Maßnahmen in den Städten und Gemeinden Sinn ergeben. Die kommunalen Entscheidungsträger wissen am besten, wie weit ihre Kommune in der Radverkehrs- förderung vorangeschritten ist und wie die nächsten Schritte individuell aussehen können. Der Nationale Radverkehrsplan ist deshalb kein verbindliches Programm für die Kommunen, in dem der Bund den Ländern und Kommunen vorschreibt, wie gute Radver- kehrsförderung auszusehen hat. Stattdessen sammelt der Nationale Radverkehrsplan Ideen einer guten Radver- kehrsförderung. Er analysiert die aktuellen Entwicklun- gen des Radverkehrs und formuliert Empfehlungen an die Kommunen. Wie sehen diese aktuellen Entwicklungen im deut- schen Radverkehr aus? Hierzu möchte ich einige Zahlen nennen. Derzeit gibt es in Deutschland 70 Millionen Fahrräder. Die Branche verkauft jedes Jahr 4 Millionen Räder und macht 5 Milliarden Euro Umsatz. Der Rad- verkehr ist somit auch ein gewaltiger Wirtschaftsfaktor. In etwas mehr als 80 Prozent aller deutschen Haushalte ist mindestens ein Fahrrad vorhanden. Jeder vierte Haus- halt verfügt sogar über drei oder mehr Räder. Derzeit wird jeder zehnte Weg in Deutschland mit dem Rad zu- rückgelegt – Tendenz steigend. Unser Ziel ist es, diesen Anteil in den kommenden Jahren auf 15 Prozent zu erhö- hen. Eine Maßnahme, um dieses Ziel zu erreichen, liegt beispielsweise im weiteren Ausbau von öffentlichen Fahrradverleihsystemen. In einigen Städten gibt es sol- che Systeme bereits. Das Bundesverkehrsministerium hat hierzu einen Modellversuch „Öffentliche Fahrrad- verleihsysteme“ durchgeführt. Durch solche Systeme stehen den Bürgerinnen und Bürgern auch dann Fahrrä- der als Verkehrsmittel zur Verfügung, wenn sie kein eigenes Fahrrad besitzen. Solche Angebote sind für die Bürgerinnen und Bürger attraktiv, weil das Fahrrad ge- rade innerstädtisch bei kurzen Strecken oftmals das schnellste Verkehrsmittel ist. Neun von zehn Fahrten mit dem Fahrrad werden für die Bewältigung einer Strecke von weniger als fünf Kilometer absolviert. Hier liegt ein besonderes Potenzial des Radverkehrs. Innerstädtisch kann der Anteil des Radverkehrs am Gesamtverkehrs- aufkommen noch weiter gesteigert werden. Dazu muss es gelingen, die Hürden zur Nutzung des Fahrrads auf solchen Wegen zu senken – durch gute Fahrradinfra- struktur oder beispielsweise durch solche öffentlichen Verleihsysteme. Es muss auch gelingen, das Fahrrad in ein Verkehrskonzept bestehend aus Radverkehr, ÖPNV und Fußgängerverkehr zu integrieren – als Alternative zum motorisierten Individualverkehr. Die Kommunen sind bei der Schaffung solcher Struk- turen unterschiedlich weit fortgeschritten. Deshalb gibt der Nationale Radverkehrsplan den Kommunen die Möglichkeit, sich selbst hinsichtlich ihres Entwicklungs- stadiums bei der Radverkehrsförderung zu kategorisie- ren. Das Konzept unterscheidet zwischen Einsteigern, Aufsteigern und Vorreitern. Einsteiger sind diejenigen Kommunen, die noch am Anfang der Radverkehrsförde- rung stehen. Der Anteil des Radverkehrs liegt in diesen Kommunen in der Regel deutlich unter 10 Prozent. Die organisatorischen Strukturen der Radverkehrsförderung sind entweder nicht vorhanden oder erst in den Anfän- gen – in kleinen Kommunen auch durch begrenzte per- sonelle Ressourcen. Als Aufsteiger werden diejenigen Kommunen bezeichnet, die in der Radverkehrsförderung fortgeschritten sind. Hier existieren ambitionierte Ziel- werte, Förderstrategien und umfangreiche Maßnahmen der Radverkehrsförderung. Der Radverkehrsanteil liegt zwischen 10 und 25 Prozent. Mindestens eine Basisinf- rastruktur für den Radverkehr ist vorhanden. Vorreiter sind schließlich jene Kommunen, die ein hohes Niveau der Radverkehrsförderung erreicht haben. Der Radver- kehrsanteil liegt bei über 25 Prozent. Die Radverkehrs- förderung stellt eine breit getragene gesellschaftliche und politische Selbstverständlichkeit dar. Die Vorreiter haben zudem eine besondere Vorbildfunktion für andere Kommunen und tragen ihre Erfahrungen und ihr Fach- wissen nach außen. Paradebeispiele für solche Vorreiter- kommunen sind Münster mit einem Radverkehrsanteil von 38 Prozent, Oldenburg mit 43 Prozent oder Greifs- wald mit 44 Prozent. Der Nationale Radverkehrsplan bündelt die Erfahrun- gen dieser unterschiedlich kategorisierten Städte. Eines der vorrangigen Ziele des Nationalen Radverkehrsplans ist es, dass die Gemeinden voneinander lernen und ihre unterschiedlichen Erfahrungen austauschen. Maßnah- men zur Förderung des Radverkehrs sind dabei auf viel- fältige Weise möglich und können durch Bund, Länder und Kommunen gemäß des jeweiligen Kompetenzberei- ches durchgeführt werden. Ich möchte einige wichtige Handlungsfelder der zu- künftigen Förderung des Radverkehrs erwähnen. Wesentliche Grundvoraussetzung des Radverkehrs sind durchgängige und vor allem alltagstaugliche Rad- verkehrsnetze. Diese müssen alle wesentlichen regiona- len Punkte verbinden. Aufgabe des Bundes ist hierbei der Bau von Radwegen an Bundesstraßen und Bundes- wasserstraßen. Gerade an den Bundesstraßen mit ihrem schnellen Kfz-Verkehr sind gut ausgebaute Radwege 24080 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 (A) (C) (D)(B) notwendig, um Radverkehr und motorisierten Verkehr zu entflechten und so zur Verkehrssicherheit beizutra- gen. Der Ausbaustand von Radwegen an Bundesstraßen ist bereits sehr hoch. Entlang der rund 40 000 Bundes- straßenkilometer finden sich rund 19 000 Kilometer Radwege. Dieser Ausbaustand ist auch vor dem Hinter- grund bereits beachtlich, dass sich manche Bundesstra- ßen aufgrund ihrer topografischen Verhältnisse nicht zum Bau von Radwegen eignen. Der weitere Bau von Radwegen wird gleichwohl mit jährlich 60 Millionen Euro aus dem Bundeshaushalt gefördert. Für die Land- und Kreisstraßen sind die Länder und Kommunen verantwortlich. 25 000 Kilometer Radwege an Landstraßen und 16 000 Kilometer Radwege an Kreisstraßen sind vorhanden. Hier sind Länder und Kommunen aufgefordert, in ihren Ausbaubemühungen ebenfalls weiter fortzufahren. Gute Erfahrungen haben einige Kommunen damit gemacht, die Förderung des Radverkehrs als Teil einer integrierten Stadtentwick- lungspolitik zu begreifen: Durch Fördermaßnahmen können Stadtteile aufgewertet werden. Es lassen sich Konzepte einer „Stadt der kurzen Wege“ entwickeln. Zu- dem unterstützt der Radverkehr die Lärmreduktions- und Luftreinhaltepläne der Kommunen. Durch aktive und innovative Radverkehrspolitik steigern die Kommunen somit direkt ihre Lebensqualität und Attraktivität. Ein weiteres wichtiges Handlungsfeld, um das Fahr- rad in den Kommunen noch populärer zu machen, ist die Schaffung sicherer und ausreichender Abstellmöglich- keiten an Bahnhöfen, an zentralen Anlaufpunkten in den Städten und an touristischen Attraktionen. Erfahrungen zeigen, dass ein Mangel an Abstellanlagen ein zentrales Hindernis für die Fahrradnutzung sein kann. Hier sind die zuständigen Kommunen aufgefordert, Abhilfe zu schaffen. Um den Kommunen hierbei unterstützend un- ter die Arme zu greifen, wird der Bund gute Beispiele sammeln und veröffentlichen, innovative Lösungen an- stoßen und den Kontakt und Erfahrungsaustausch zwi- schen den Kommunen anregen. Der Radverkehr wird zudem dann weiter wachsen, wenn es uns gelingt, die Verkehrssicherheit von Radfah- rern zu erhöhen. Auch wenn im Jahr 2011 die Zahl der getöteten und schwerverletzten Radfahrer gestiegen ist, sind die Zahlen in der langfristigen Betrachtung rückläu- fig. Hier bleibt aber noch viel zu tun. Neun von zehn Fahrradunfällen ereignen sich innerorts. Besonders ge- fährdet sind Kinder und ältere Bürgerinnen und Bürger über 65 Jahre. Bei diesen Gruppen sind die Unfallfolgen auch meist besonders schwer. Die Hälfte der 2011 im Straßenverkehr getöteten Radfahrer war über 65 Jahre alt. Ein gesteigerter Bedarf nach mehr Verkehrssicher- heit entsteht auch aus der zunehmenden Verbreitung von Elektrofahrrädern, die deutlich höhere Endgeschwindig- keiten erreichen als herkömmliche Fahrräder. Um die Verkehrssicherheit weiter zu erhöhen, ist ein gemeinsa- mes Handeln von Bund, Ländern und Kommunen zwin- gend erforderlich. Die Bundesregierung hat mit ihrem Verkehrssicher- heitsprogramm bereits einen wichtigen Baustein zur Stärkung der Verkehrssicherheit vorgelegt. Wichtig sind darüber hinaus zielgerichtete Verkehrssicherheitskampa- gnen. Zu nennen ist hier die Kampagne „Runter vom Gas“ des Bundesverkehrsministeriums und des Deut- schen Verkehrssicherheitsrates. Darüber hinaus ist es der Koalition ein besonderes Anliegen, die freiwillige Helm- tragequote weiter zu erhöhen. Fahrradhelme können ver- hindern, dass es im Falle eines Unfalls zu schwersten Kopfverletzungen kommt. In Zusammenarbeit mit der Deutschen Verkehrswacht hat das Bundesverkehrsminis- terium hierzu die Kampagne „Ich trag’ Helm“ gestartet. Der Bund prüft zudem derzeit mit den Ländern, ob und inwieweit das Sanktionsniveau im Bereich des Radver- kehrs erhöht werden soll. Es geht dabei nicht nur um Verstöße von Radfahrern, sondern auch um solche von Autofahrern, die sich negativ auf den Radverkehr aus- wirken können, wie zum Beispiel unzulässiges Parken oder Halten auf Radwegen. Länder und Kommunen sind im Bereich der Ver- kehrssicherheit dazu aufgerufen, Analysen der Unfall- schwerpunkte vor Ort durchzuführen und davon abgelei- tet Strategien und Maßnahmenbündel zu entwickeln. Wichtig sind auf Länderebene Verkehrssicherheitsnetz- werke, die die Kompetenzen von Verwaltungen, Polizei, Verbänden, Schulen und Verkehrsunternehmen bündeln und die gesellschaftliche Aufmerksamkeit für das Thema erhöhen. Zudem sind die Länder und Kommunen dazu aufgerufen, beim Bau von Radinfrastruktur die Empfehlungen des technischen Regelwerks für die grundlegenden Anforderungen und Dimensionierungen solcher Infrastruktur konsequent anzuwenden. Besonde- rer Aufmerksamkeit der Kommunen bedarf zudem die Verkehrssicherheit von Kindern auf dem Weg zur Schule. Tempo 30 vor Schulen trägt zu einem sichereren Schulweg bei. Durch die Polizei und die Verkehrswach- ten kann Mobilitäts- und Verkehrserziehung in den Schulen und Kindertageseinrichtungen sichergestellt werden. Die Kommunen sollten dieses Engagement un- bedingt weiter anerkennen und weiter ausbauen. Wie ich beschrieben habe, sind jedoch nicht nur Kin- der besonders gefährdet, sondern gerade auch ältere Menschen. Deshalb sollte ein zukünftiger Schwerpunkt auch auf die Mobilitätsbildung von Erwachsenen gelegt werden. Die Kommunen sollten entsprechende Ange- bote, wie zum Beispiel das Radverkehrstraining für ältere Menschen oder für Menschen mit Migrationshin- tergrund, stärker in ihre Aktivitäten zur Radverkehrsför- derung integrieren. Der Bund wird bei Bedarf ergänzend und unterstützend die Lehrinhalte der Fahrschulausbil- dung und der Fahrerlaubnisprüfung sowie in Abstim- mung mit den Ländern auch der Fahrlehrerausbildung kontinuierlich überprüfen und anpassen. Als letztes Beispiel möchte ich erwähnen, dass es für den weiteren Erfolg der Fahrradverkehrsförderung be- sonders wichtig ist, dass es uns gelingt, die verschiede- nen Verkehrsmittel besser miteinander zu verknüpfen. Auf lokaler Ebene sollten die Aufgabenträger des ÖPNV die Fahrradmitnahme in öffentlichen Verkehrsmitteln flächendeckend ermöglichen und für sichere Abstell- möglichkeiten an Bahnhöfen und Haltestellen sorgen. Zudem freut es mich außerordentlich, dass die Deutsche Bahn AG zugesichert hat, dass es möglich sein wird, in Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24081 (A) (C) (D)(B) den zukünftigen ICx-Schnellzügen ab 2016 Fahrräder zu transportieren. Hierdurch werden weitere Hürden der Fahrradnutzung, beispielsweise bei der Fahrt in den Ur- laub, abgebaut. Der Nationale Radverkehrsplan ist ein überzeugendes Programm für die Radverkehrsförderung auf allen politi- schen Ebenen in den kommenden Jahren. Die christlich- liberale Koalition misst dem Radverkehr einen besonde- ren Stellenwert zu. Der Fahrradverkehr ist im Zentrum der Verkehrspolitik angekommen. Noch einige Worte zu dem vorliegenden SPD-Antrag. Der Antrag der SPD wiederholt vieles, was bereits Inhalt des Nationalen Radverkehrsplans ist. Einen darüber hi- nausgehenden Mehrwert des Antrags vermisse ich. Ei- nige Aussagen des Antrags sind zudem schlicht falsch. So wird behauptet, dass der Bundesverkehrsminister In- vestitionen in die Aufklärung über die Wichtigkeit der freiwilligen Helmnutzung unterlasse. Hier empfehle ich nochmals die Internetseite www.ich-trag-helm.de des Bundesverkehrsministeriums und der Deutschen Ver- kehrswacht. Es handelt sich genau um eine solche Auf- klärungskampagne, wie sie von der SPD gefordert wird. Offensichtlich haben sich die Kollegen der SPD nicht ausreichend informiert, als sie ihren Antrag geschrieben haben. Darüber hinaus verkennt der SPD-Antrag die vorrangige Kompetenz der Länder und der Kommunen für die Radverkehrsförderung. An mehreren Stellen werden umfangreiche finanzielle Förderprogramme des Bundes für den Radverkehr gefordert. Es scheint, als wolle die SPD die Kompetenz der Radverkehrsförde- rung beim Bund bündeln. Wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion hingegen set- zen hier auf die Verantwortung der Entscheidungsträger von Ländern und Kommunen. Das föderale Verantwor- tungssystem hat den Radverkehr primär dort angesiedelt. Vor Ort kann sachgerechter entschieden werden, welche Maßnahmen zur Förderung des Radverkehrs sinnvoll sind. Der Bund bekennt sich hingegen zu seiner Verant- wortung für den Bau von Radwegen an Bundesstraßen und Bundeswasserstraßen und zu seiner Rolle als Mode- rator und Koordinator. Hier leistet der Nationale Radver- kehrsplan einen wichtigen Dienst. Der Nationale Radver- kehrsplan wird dazu beitragen, Deutschland in den kommenden Jahren noch fahrradfreundlicher zu gestalten. Ulrike Gottschalck (SPD): Fahrradfahren ist ge- sund, umweltfreundlich und kostengünstig. Der Ausbau des Fahrradverkehrs erhöht die Lebensqualität, senkt den CO2-Ausstoß und macht Städte und Gemeinden lebendiger. Wir haben also sehr gute Gründe, den Fahrradverkehr zu fördern; dies haben sozialdemokrati- sche Verkehrspolitikerinnen und Verkehrspolitiker früh erkannt. Der erste Radverkehrsplan war ein Quantensprung, weil sich sozialdemokratische Bundesverkehrsminister zu einer aktiven Rolle bei der Förderung des Fahrradver- kehrs bekannt haben. Es wurden Umsetzungsstrategien zur Radverkehrsförderung initiiert, ein fahrradfreundli- ches Klima angestoßen und wichtige Maßnahmen auf den Weg gebracht. Mit der Einrichtung eines eigenen Haushaltstitels für Bau und Erhaltung von Radwegen in der Baulast des Bundes wurden die Ausgaben für Rad- wege an Bundesstraßen verdoppelt. Seit 2003 konnten so jährlich deutlich mehr Radwege gebaut werden. Es wurde ein weiterer Haushaltstitel zum „Ausbau von Betriebswegen an Bundeswasserstraßen“ mit einem Anfangsfördervolumen von 10 Millionen Euro einge- richtet, um den Ausbau und den Erhalt von Freizeitrad- wegen im Verlauf von Bundeswasserstraßen zu fördern. Weiterhin wurde das Fahrradportal www.nationalerrad- verkehrsplan.de“ und der Bund-Länder-Arbeitskreis „Fahrradverkehr“, BLAK, eingerichtet, um die Umset- zung und Weiterentwicklung des NRVP zu fördern. Zu- dem wurden jährlich 2 Millionen für nichtinvestive Maßnahmen zur Umsetzung und Koordination des NRVP zur Verfügung gestellt. Als Erfolg können wir zu- dem den Aufbau der Fahrradakademie und einer Fahr- radkommunalkonferenz für die bundesweite Vernetzung der Kommunen verbuchen. Noch einmal: Fahrradfahren ist umweltfreundlich, ge- sund und hält mobil. Daher muss es unser gemeinsames Ziel sein, den Radverkehrsanteil in Deutschland weiter deutlich zu steigern. Das Verkehrsmittel Fahrrad muss neben dem öffentlichen Verkehr und dem motorisierten Individualverkehr als gleichwertiges Verkehrsmittel ei- ner nachhaltigen integrierten Verkehrspolitik verstanden werden und bei allen Konzepten für Verkehr, Stadtent- wicklung und Raumordnung berücksichtigt werden. Nun haben wir den am 5. September 2012 von der Bundesregierung beschlossenen neuen „Nationalen Rad- verkehrsplan 2020“ vorliegen. Auf 88 Seiten finden wir eine umfassende Bestandsaufnahme und eine Analyse der aktuellen Situation. Es sind gute Ansätze enthalten, und ich bedanke mich ausdrücklich bei den wenigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die in diesem großen Ministerium überhaupt noch für Radverkehr zuständig sind. Dies ist auch schon einer meiner Kritikpunkte. Wenn der Radverkehr wirklich ein gleichwertiges Ver- kehrsmittel werden soll, muss sich dies auch beim Perso- nal im Ministerium widerspiegeln. Aber leider ist das Gegenteil der Fall. Wie aus der Antwort zu meiner Klei- nen Anfrage hervorgeht, sind nur 6 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für Radverkehr zuständig und davon haben 2 befristete Arbeitsverträge, die zum 31. Dezember 2012 auslaufen. Wie die Bundesregierung dann mit nur noch vier Personen die notwendigen Aufgaben zur Förderung des Radverkehrs erfüllen will, bleibt offen. Dieser Widerspruch zwischen Ankündigung und Realität zieht sich leider wie ein roter – oder besser: schwarzer – Faden durch den NRVP. Die Wünsche und Pläne des NRVP passen nicht zu der politischen Realität, und ich befürchte, das liegt an der Hausspitze. Die Radverkehrspolitik von Bundesverkehrsminister Ramsauer ist unglaubwürdig. Die Bundesregierung will den Anteil des Fahrradverkehrs erhöhen, kürzt aber die Mittel. 2010 waren noch 100 Millionen Euro im Haus- halt, für 2013 sind nur noch 60 Millionen Euro vorgese- hen. Nur wenige Empfehlungen der vom Minister eigens eingesetzten Expertenkommission zur Fortentwicklung 24082 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 (A) (C) (D)(B) des NRVP 2020 wurden aufgenommen, und, wenn über- haupt, sind sie nur sehr vage formuliert. Anstatt sich als Impulsgeber für Fahrradverkehr zu profilieren, verweist die Bundesregierung immer wieder auf die Zuständigkeit der Länder und Kommunen und spielt Schwarzer Peter. Populistisch bedient der Minister mit öffentlichen Äu- ßerungen über sogenannte Kampfradler negative Vorur- teile. Er verleugnet, dass das Auto immer noch der Hauptverursacher von Unfällen im Straßenverkehr ist. Der Bundesverkehrsminister sollte sich lieber bei den Länderministern dafür einsetzen, dass genug Polizei- beamte zur Überwachung bestehender Gesetze für alle Verkehrsteilnehmer zur Verfügung stehen. Verkehrsrow- dys müssen bestraft werden, keine Frage – aber die fin- det man leider bei allen Verkehrsteilnehmern. Ein Manko ist auch, dass der Autoverkehr weitest- gehend ausgespart wird; damit umschifft Minister Ramsauer geschickt die Diskussion um den Platz im Straßenraum. Mehr Fahrradfahrer brauchen auch mehr Platz, um sicher radeln zu können. Im NRVP fehlen konkrete ambitionierte Ziele und die verbindliche Finanzierung einer engagierten Fahrrad- politik des Bundes. Wir Sozialdemokraten fordern daher mit unserem aktuell vorliegenden Antrag die Bundes- regierung auf, das Fahrradfahren in Deutschland weiter ernsthaft zu fördern und starke Impulse zu setzen. Wir fordern unter anderem die Finanzausstattung für den Bau von Radwegen an Bundesfernstraßen in einer Höhe von 100 Millionen Euro in der mittelfristigen Fi- nanzplanung festzuschreiben. Dies haben wir auch mit einem Haushaltsantrag untermauert. Eine Steigerung des Radverkehrs in Deutschland durchschnittlich auf 20 Prozent am Modal Split der Ver- kehrsträger bis 2020. Die Beauftragung eines Parlamentarischen Staats- sekretärs beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung mit der Funktion des Fahrradbeauf- tragten und eine personelle Aufwertung des Ressorts. Eine verlässliche Förderung mit Kontinuität. Ein eigenständiges Themenfeld „Radverkehr im länd- lichen Raum“. Wir haben also gute Konzepte, damit das Fahrrad wichtiger Bestandteil einer integrierten Verkehrs- und Mobilitätspolitik wird. Grundvoraussetzung ist jedoch, dass man es politisch will. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten stehen bereit, die vagen Ankündigun- gen im NRVP in konkrete Politik umzusetzen. Torsten Staffeldt (FDP): Vorab: Als täglicher Fahr- radnutzer habe ich ein großes Eigeninteresse daran, den Radverkehr zu fördern. Doch der vorliegende Antrag der Sozialdemokraten ist, wie leider häufig, ein klassischer Schaufensterantrag. Er bedient die Wünsche der Klien- tel, zeigt, dass die Sozialdemokraten vermeintlich han- deln, ist aber letztlich fernab der Realität, insbesondere was den Forderungsteil betrifft. Niemand wird bestreiten, dass Fahrradfahren eine ge- sunde und umweltfreundliche Alternative zum Auto dar- stellt. Doch Forderungen, die das Thema Fahrrad auf den Olymp aller Verkehrsträger setzen, fahren weit über die Ziellinie hinaus und sind den anderen Verkehrsträgern gegenüber maßlos übertrieben hoch, zumal ja im Antrag der Sozialdemokraten von der Gleichwertigkeit der Ver- kehrsträger die Rede ist. Insofern kann ja auch nicht der Radverkehr Sonderregelungen, wohl aber die gleiche Aufmerksamkeit wie andere Verkehrsträger erwarten. Damit stelle ich erst einmal grundsätzlich Widersprüche im Antrag fest. Völlig zu viel in die Pedale des Antrages getreten wird zum Beispiel in folgendem Punkt: Forderung eines eigenen Parlamentarischen Staatssekretärs beim Bundes- minister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung mit der Funktion des Fahrradbeauftragten der Bundesregierung. Dann können wir auch gleich aktuell einen Parlamentari- schen Staatssekretär für den Wiederaufbau des Schlosses oder für Wassersportler einsetzen. Anderer Kritikpunkt: Es soll eine neue Promille- grenze für Radfahrerinnen und Radfahrer eingeführt werden. Andererseits – Zitat – „muss die Bundesregie- rung auf die Länder einwirken, dass die Kontrolldichte von Fahrradfahrern durch die Landespolizeien erhöht wird“. Bezieht sich das auf mehr Promillekontrollen, liebe Antragsteller, oder etwa auf die Raser, die die Verkehrs- sicherheit im Radverkehr nun wirklich gefährden, oder warum sollen Radfahrer häufiger kontrolliert werden? Das hätte ich gern erläutert bekommen. Abgesehen da- von freuen sich sicherlich die Landespolizeien über den Aufwuchs an Arbeit. Nächster Kritikpunkt: Der Bau von Radwegen soll als Teil von städtebaulichen Konzepten zur Umgestaltung des öffentlichen Raumes im Rahmen von Städtebauför- derung gefördert werden. Interessanter Versuch, über den Radverkehr das Thema Städtebauförderung mit zu- sätzlichen Hunderten von Millionen Euro zu beglücken! Andererseits ist im Antrag die Rede davon, dass die Förderung des Radverkehrs im ländlichen Raum als ei- genständiges Themenfeld im Nationalen Radverkehrs- plan 2020 verankert und mit eigenen Maßnahmen unter- legt werden soll. Wir haben also die Forderung, den Radverkehr bei der Städtebauförderung zu fördern, und das Gleiche soll im ländlichen Raum erfolgen, also auf dem Lande und in der Stadt. Sicher, es blieben nur noch die Luft und das Wasser, aber die Fahrräder mit denen man über das Wasser fahren und in der Luft fliegen kann, wird es wohl erst in der Zukunft geben. Auszu- schließen ist das natürlich nicht, wenn die SPD weiterhin solche Anträge stellt. Nächster Punkt: An anderer Stelle im Antrag heißt es, dass das Radfahren „in allen Bevölkerungsschichten eine breite Zustimmung und Akzeptanz“ verzeichnet. Es ist von einem positiven Imagewandel die Rede. Anderer- seits wird der Regierung „populistische Pflege von Vor- urteilen“ vorgeworfen. Nach dieser Theorie bremst also die Regierungskoalition das Fahrrad populistisch so sehr Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24083 (A) (C) (D)(B) aus, dass das Radeln immer beliebter wird? Meine Da- men und Herren, hier wird in Bezug auf das Fahrrad vonseiten der SPD gegen die Regierung getreten, was das Zeug hält. Sie sollten an dieser Stelle einen Gang runterschalten, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD. Diese an die Regierung gerichteten Unterstellungen haben nichts in einem ernst gemeinten Antrag zu suchen. Allein schon deshalb lehnen wir den Antrag ab. Herbert Behrens (DIE LINKE): Kleine Kinder da- bei zu beobachten, mit welcher Lust und welchem Ent- deckergeist sie auf ihren kleinen Fahrrädern unterwegs sind, macht uns großen Spaß. Kinder erleben die neu ge- wonnene Freiheit durch das Fahrrad ganz unmittelbar. Stück um Stück erweitern sie ihren Erfahrungshorizont und erobern sich ihre Welt. Alles spricht dafür, diese Lust am Fahrradfahren zu erhalten und zu fördern. Das können wir tun, indem wir das Fahrradfahren so sicher und so angenehm wie möglich machen. Das muss auch das Ziel eines Nationalen Radverkehrsplans sein. Der Radverkehrsplan 2020 der Bundesregierung wird dieser Anforderung nicht in vollem Umfang gerecht. Er liefert uns zwar eine gute Beschreibung der Situation der Radfahrerinnen und Radfahrer auf den Straßen. Er liefert uns auch eine ganze Reihe von Handlungserfordernis- sen. Wenn wir uns aber die Lösungsstrategien an- schauen, dann wird es mit einem Mal ganz übersichtlich. Da bleibt es bei Appellen und Vorschlägen. Formulie- rungen wie: „Der Bund engagiert sich weiterhin …“, „Die Bundesregierung unterstützt das Ziel …“, sind Ab- sichtserklärungen, nicht mehr. Der Antrag der SPD-Fraktion kritisiert das zu Recht und fordert eine Reihe von Verbesserungen, damit das Fahrradfahren in Deutschland attraktiver und sicherer wird und mehr Leute mit dem Fahrrad fahren als heute. Sie übernehmen dabei Forderungen des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs, ADFC, und des Ver- kehrsclubs Deutschlands, VCD. Die Linke unterstützt diese viel ehrgeizigeren Ziele der Clubs und wird dem Antrag der SPD zustimmen. Allerdings, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion, taugt der Hinweis auf den sozialdemokra- tischen Verkehrsminister, der mit dem Radverkehrsplan 2012 eine breite Akzeptanz und Zustimmung des Fahrra- des initiiert habe, nicht wirklich. Ich glaube, das Fahr- radfahren hat eine erfolgreiche Geschichte, die schon vor 2002 begonnen hat. Das ist jetzt Schnee von gestern. Wir können ja dazu- lernen und künftig eine bessere Verkehrspolitik und Fahrradverkehrspolitik machen. Was gehört unserer Meinung nach dazu? Das Fahrrad muss als selbstverständliches Verkehrs- mittel wahrgenommen werden. Dafür müssen die spe- ziellen Verkehrswege für Radfahrer mindestens in einem genauso guten Zustand sein wie die für die Autofahrer. Auf den Straßen brauchen die Radfahrer eigene Fahrspu- ren. Für Autofahrer ist das schließlich völlig normal. Wir müssen das positive Image des Radfahrens för- dern. Dazu passt es überhaupt nicht, wenn der Bundes- verkehrsminister in seinen Äußerungen über aggressive Radfahrer in seiner Rhetorik nicht minder aggressiv da- herkommt. Wir müssen den Städten und Gemeinden Anregungen geben, wie der Fahrradverkehr nachhaltig in das inner- städtische Verkehrssystem eingebaut werden kann. Das klappt nicht mit Projekten, die nach dem Projektende wieder verschwinden. Es müssen gemeinsam mit den Fachverbänden Handlungsempfehlungen und Rezepte entwickelt werden, die in den Kommunen direkt umge- setzt werden können. Die höhere Bedeutung von Fahrradverkehr muss auch im Verkehrsministerium erkennbar sein. Wir wissen um das Schattendasein der Radverkehrspolitik im Ministe- rium. Impulsgeber und Ratgeber kann man aber nur sein, wenn dafür Personalkapazitäten vorhanden sind. Noch eine weitere Anregung der Fachverbände hat die SPD in ihrem Antrag aufgenommen, den die Linke ausdrücklich unterstützt. Der Verkehrsminister geht halbherzig an die Frage heran, wo wir eigentlich nach acht Jahren Radverkehrsplan stehen wollen. 15 Prozent aller zurückgelegten Wege sollen mit dem Fahrrad ge- macht werden. Das ist keine einfach nur gegriffene Zahl. Erhebungen und Prognosen mehrerer Instituten haben diese Zahl ausgeworfen. Berechnungen von Potenzialen, Szenariobeobachtun- gen und Variationsrechnungen, wie sie im Radverkehrs- plan genannt werden, sind jedoch keine politischen Ziele. Die Linke sagt, ein Radverkehrsanteil von 20 Prozent an den zurückgelegten Wegen ist erreichbar, wenn man neben dem politischen Willen auch die Unterstützung für die derjenigen sicherstellt, die mitmachen sollen, das zu erreichen. Das sind die Fachverbände, das Ministe- rium, die Länder und Kommunen. Der Radverkehrsplan bietet ein ordentliches Funda- ment für eine Überarbeitung. Die Arbeit der vielen enga- gierten Fahrradfreunde, die an diesem Plan der Bundes- regierung beteiligt waren, ist keinesfalls umsonst. Wir wissen, einige von ihnen hätten gerne mehr konkrete Ziele dringehabt. Jetzt besteht die Chance, durch eine Überarbeitung den Plan besser zu machen. Die Lust am Fahrradfahren, die wir bei Kindern sehen, werden sie sich so als Heranwachsende erhalten können. Und auch als Erwachsene werden wir das Fahrrad als selbstver- ständliches, gleichberechtigtes und attraktives Verkehrs- mittel akzeptieren und nutzen. Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir beraten heute in erster Lesung den neuen Nationalen Radverkehrsplan 2020. Bundesverkehrsminister Dr. Peter Ramsauer hat am 5. September den Kabinettsbeschluss zum Nationalen Radverkehrsplan 2020 medienwirksam in die Kameras gehalten und sich plötzlich und unerwar- tet als Förderer des Radverkehrs inszeniert. Sehr glaub- würdig ist dies allerdings nicht, denn zuvor hat er sich in seiner Amtszeit vor allem mit stigmatisierenden Äuße- 24084 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 (A) (C) (D)(B) rungen über sogenannte Kampfradler hervorgetan und den Radverkehrsetat fast halbiert. Standen im Jahr 2010 noch 100 Millionen Euro für Radwegebau an Bundes- straßen und Wasserstraßen zur Verfügung, sind es im Etatentwurf 2013 nur noch 60 Millionen Euro. Dazu passt auch, dass die schwarz-gelbe Bundesregierung als erste Amtshandlung das Radverkehrsreferat im Bundes- verkehrsministerium aufgelöst und mit reduziertem Per- sonal einer anderen Abteilung im Ministerium zugeord- net hat. Schauen wir also genauer hin, was uns die Bundesre- gierung als nationale Radverkehrsstrategie für die nächs- ten Jahre präsentiert, um dafür zu sorgen, dass sich bis zum Jahr 2020 wesentlich mehr Menschen gesund und umweltfreundlich mit dem Fahrrad fortbewegen können. Schließlich hatte Verkehrsminister Ramsauer eigens dazu ein Expertengremium zurate gezogen und mit Ver- tretern von Fachverbänden, Ländern und Kommunen umfangreiche Abstimmungsprozesse durchgeführt. Was wir bekommen haben, ist ein fachlich fundierter und na- hezu umfassender Sachstandsbericht zur Situation des Radverkehrs in Deutschland, der zahlreiche Maßnahmen und kreative Ansätze zur Radverkehrsförderung auflistet und den Trend zu einer neuen Fahrradkultur sehr gut be- schreibt. Einen ambitionierten Aktionsplan mit einer eindeutigen Strategie, wie sich die Bundesregierung Deutschland zu einem fahrradfreundlichen Land entwi- ckeln will, legt die Bundesregierung allerdings nicht vor, zumal sie grundlegende Empfehlungen der Experten nur halbherzig umsetzt oder ignoriert. So fehlen im Nationa- len Radverkehrsplan 2020 klare Ziele und Fristen, bis wann die Bundesregierung welche Maßnahmen zur Rad- verkehrsförderung umsetzen will, insbesondere dazu, wie der Radverkehrsanteil bis zum Jahr 2020 deutlich gesteigert werden soll. Der Nationale Radverkehrsplan 2020 enthält keinerlei Aussagen zur Finanzierung der vorgeschlagenen Maß- nahmen zur Radverkehrsförderung. Die Bundesregie- rung überlässt die Finanzierung der meisten Maßnahmen den Ländern und den klammen Kommunen, während der Bund nicht mal ausreichend Mittel für die Instand- haltung und den Ausbau von Radwegen an Bundesstra- ßen und Bundeswasserstraßen zur Verfügung stellt. Wie wenig ambitioniert die für möglich gehaltene Steigerung des Radverkehrsanteil auf 15 Prozent bis zum Jahr 2020 ist, zeigen aktuelle Zahlen des Deutschen Mobilitätspa- nels von 2011, das im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung jährlich erhoben wird. Danach lag der Radverkehrsanteil am Verkehrs- aufkommen im Jahr 2011 bereits bei 14,7 Prozent. Das Bundesverkehrsministerium erklärt also zum möglichen Anteil in 2020, was im Jahr der Erarbeitung des Nationa- len Radverkehrsplans schon längst Realität in Deutsch- land ist. Nicht jeder zehnte, sondern jeder siebte Weg wird aktuell bereits mit dem Rad zurückgelegt. Besondere Bedeutung muss dem Thema Verkehrssi- cherheit beigemessen werden. Diese ist in hohem Maße abhängig vom Zustand der Infrastruktur und dem örtli- chen Geschwindigkeitsniveau. Rund 75 Prozent der Zu- sammenstöße zwischen Radfahrenden und Kraftfahrzeu- gen werden durch Autofahrerinnen und Autofahrer verursacht. Die überwiegend Geschädigten sind Fahr- radfahrerinnen und Fahrradfahrer. Betroffen sind bei steigenden Unfallzahlen besonders ältere Menschen über 65 Jahre. Trotzdem unterlässt es die Bundesregierung, die Restriktionen in der StVO abzuschaffen, die verhin- dern, dass Kommunen Tempo 30 als Regelgeschwindig- keit zur Erhöhung der Verkehrssicherheit einführen kön- nen. Stattdessen lädt der Nationale Radverkehrplan 2020 die Verantwortung für die Sicherheit vor allem wieder bei den Radfahrenden ab, die fluoreszierende Radhelme tragen und bei Regelverstößen mit höheren Bußgeldern bestraft werden sollen. Wir fordern die Bundesregierung daher auf, den vom Kabinett beschlossenen Nationalen Radverkehrsplan 2020 zu überarbeiten. Erstens. Der Nationale Radverkehrplan 2020 muss verbindliche Lang- und Mittelfristziele festlegen und konkret benennen, welche Maßnahmen dazu bis wann von welcher Akteursebene – Bund, Länder, Gemeinden, Verbände – ergriffen werden sollen. Der Erfolg dieser Maßnahmen muss evaluiert werden. Zweitens. Der Nationale Radverkehrplan 2020 muss als Ziel formulieren, dass der Radverkehrsanteil an allen Wegen in Deutschland bis 2020 auf mindestens 20 Pro- zent ansteigen soll. Drittens. Die Bundeshaushaltsmittel für den Bau von Radwegen entlang von Bundesstraßen müssen auf min- destens das Niveau 100 Millionen Euro pro Jahr erhöht und verstetigt werden. Viertens. Die Bundesregierung muss sich eindeutig zur Schaffung eines flächendeckenden integrierten Rad- verkehrsnetzes in Deutschland bekennen. Der Bund ist aufgefordert, die Länder und Gemeinden beim Ausbau der Radverkehrsinfrastruktur durch die kontinuierliche Finanzierung von innovativen Modellprojekten, soge- nannte Leuchtturmprojekte, zu unterstützen. Darunter verstehen wir beispielsweise Radschnellwege, Fahr- radabstellanlagen und Ortsdurchfahrten sowie bundes- weite Imagekampagnen. Fünftens. Die Bundesregierung sollte eine(n) Radver- kehrsbeauftragte(n) auf Staatssekretärsebene benennen. Zur Koordinierung der bundesweiten Aktivitäten zur Stärkung des Radverkehrs sollte im Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ein eigenständi- ges Radverkehrsreferat eingerichtet und angemessen personell ausgestattet werden. 198. Sitzung Inhaltsverzeichnis TOP 4 Regierungserklärung zum Europäischen Rat TOP 5, ZP 2 Ausbildungspolitik TOP 40, ZP 3 Überweisungen im vereinfachten Verfahren TOP 41, ZP 4 Abschließende Beratungen ohne Aussprache ZP 5 Aktuelle Stunde zu Transparenz bei Nebeneinkünften von Abgeordneten TOP 6 Beaufsichtigung von Kreditinstituten (CRD IV) TOP 7 Rentenpolitik TOP 8 Wissenschaftsfreiheitsgesetz TOP 9 Verteilung der Kosten und Nutzen der Energiewende ZP 6 Wettbewerbsrecht undMedienvielfalt TOP 11 Städtebauförderung TOP 10 Reduzierung von Lebensmittelverlusten TOP 20 Strafrecht menschenverachtende Beweggründe) TOP 12 Weingesetz TOP 15 Ausstellungsvergütung für bildende Künstler TOP 14 Änderung des Grundgesetzes (Artikel 91b) TOP 17 Rechtsschutz im Asylverfahren TOP 16 Internationaler Strafgerichtshof TOP 18 Anpassung des Bauproduktengesetzes TOP 22 Auswirkungen des neuen Waffenrechts TOP 19 Managementprämienverordnung TOP 28 Perspektive der Staaten des westlichen Balkans TOP 21 Änderung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes TOP 24 Recht allerMenschen mit Behinderung auf Teilhabe TOP 23 Fahrgastrechte im Schiffsverkehr TOP 26 Beitrag der Raumordnung zur Energiewende TOP 25 Umsetzung des Seearbeitsübereinkommens 2006 TOP 30 Umsetzung der Resolution 1325 TOP 27 Umsetzung der Richtlinie über Industrieemissionen ZP 7 Förderung des Radverkehrs TOP 29 Bewachungsunternehmen auf Seeschiffen TOP 31 Petitionsrecht TOP 32 Mumia Abu-Jamal (Menschenrechte in den USA) TOP 33 Menschenrechte in den Staaten des Südkaukasus Anlagen
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1719800000

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich.

Vor Eintritt in die Tagesordnung müssen wir noch
eine Wahl zum Stiftungsrat der Stiftung Flucht, Ver-
treibung, Versöhnung durchführen. Der Beauftragte
der Bundesregierung für Kultur und Medien hat mitge-
teilt, dass das vom Auswärtigen Amt benannte stellver-
tretende Mitglied Jutta Frasch ausgeschieden ist und
Herr Andreas Meitzner als Nachfolger vorgeschlagen
wird. Nach § 19 des entsprechenden Gesetzes müssen
auch die von anderen Stellen vorgeschlagenen Mitglie-
der des Stiftungsrates vom Deutschen Bundestag bestä-
tigt werden. Deshalb frage ich Sie, ob Sie mit diesem
Vorschlag einverstanden sind. – Das ist offensichtlich
der Fall. Dann ist Herr Meitzner damit als stellvertreten-
des Mitglied gewählt.

Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die ver-
bundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste
aufgeführten Punkte zu erweitern:

ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und FDP:

Finanzielle Belastungen der Geringverdiener-
haushalte durch die von der rot-grünen Bun-
desregierung beschlossenen Ökostromsubven-
tionen


(siehe 197. Sitzung)


ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Schummer, Albert Rupprecht (Weiden), Michael
Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU 
sowie der Abgeordneten Heiner Kamp,
Dr. Martin Neumann (Lausitz), Sylvia Canel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Das deutsche Berufsbildungssytem – Versiche-
rung gegen Jugendarbeitslosigkeit und Fach-
kräftemangel

– Drucksache 17/10986 –

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales 
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 
Haushaltsausschuss

ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren

Ergänzung zu TOP 40

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Claudia
Roth (Augsburg), Tom Koenigs, Hans-Christian
Ströbele, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

NS-Vergangenheit von Bundesministerien und
Behörden systematisch aufarbeiten – Be-
standsaufnahme zur Forschung erstellen – Er-
innerungsarbeit koordinieren

– Drucksache 17/10068 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Ausschuss für Kultur und Medien 
Rechtsausschuss 
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Beate Müller-Gemmeke, Britta Haßelmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Für eine angemessene Praxis bei Anträgen auf
Kindergeldabzweigung durch die Sozialhilfe-
träger

– Drucksache 17/10863 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Günter Krings, Michael Kretschmer,
Dr. Hans-Peter Uhl, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU 
sowie der Abgeordneten Dr. h. c. Wolfgang Thierse,
Siegmund Ehrmann, Angelika Krüger-Leißner, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD 





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)


sowie der Abgeordneten Dr. Stefan Ruppert,
Patrick Kurth (Kyffhäuser), Gisela Piltz, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Wissenschafts- und Forschungsfreiheit stär-
ken, Rahmenbedingungen verbessern – Die
Aufarbeitung der Geschichte der wichtigsten
staatlichen Institutionen in Bezug auf die NS-
Vergangenheit durch besseren Aktenzugang
unterstützen und Bestandsaufnahmen zur
Aufarbeitung der frühen Geschichte der Bun-
desministerien und -behörden sowie der ver-
gleichbaren DDR-Institutionen beauftragen

– Drucksache 17/11001 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Rechtsausschuss 
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Marlies Volkmer, Dr. Karl Lauterbach, Elke
Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD

Patientenrechte wirksam verbessern

– Drucksache 17/11008 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)
Rechtsausschuss 
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

e) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Kerstin Andreae,
Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Beitragssätze nachhaltig stabilisieren, Er-
werbsminderungsrente verbessern, Reha-Bud-
get angemessen ausgestalten

– Drucksache 17/11010 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 
Haushaltsausschuss

ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus-
sprache

Ergänzung zu TOP 41

a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Abkommen vom 29. Juni 2012 zwi-
schen der Bundesrepublik Deutschland und
dem Globalen Treuhandfonds für Nutzpflan-
zenvielfalt über den Sitz des Globalen Treu-
handfonds für Nutzpflanzenvielfalt

– Drucksache 17/10756 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärti-
gen Ausschusses (3. Ausschuss)


– Drucksache 17/11035 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Beyer
Dr. Rolf Mützenich
Marina Schuster
Wolfgang Gehrcke
Kerstin Müller (Köln)


b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD
und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Portugal unterstützen und Parlamentsrechte
wahren

hier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta-
ges nach Artikel 23 des Grundgesetzes i. V. m.
§ 9 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von
Bundesregierung und Deutschem Bundestag
in Angelegenheiten der Europäischen Union

– Drucksache 17/11009 –

ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:

Integrität parlamentarischer Entscheidungen
durch mehr Transparenz und klare Regeln ge-
währleisten – Nebentätigkeiten, Karenzzeit für
Regierungsmitglieder, Abgeordnetenbestechung
und Parteiengesetz

ZP 6 a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Achten
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen
Wettbewerbsbeschränkungen (8. GWB-ÄndG)


– Drucksache 17/9852 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-

(9. Ausschuss)


– Drucksache 17/11053 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Ingo Egloff

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge-
ordneten Kerstin Andreae, Dr. Tobias Lindner,
Nicole Maisch, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Verbraucherschutz und Nachhaltigkeit im
Wettbewerbsrecht verankern

– Drucksachen 17/9956, 17/11053 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Ingo Egloff

c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Fraktio-
nen der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Presse-Grosso gesetzlich verankern

– Drucksachen 17/8923, 17/9989 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Georg Nüßlein





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)


d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Kultur und Medien

(22. Ausschuss) zu dem Antrag der Fraktionen

der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Instrumente zur Förderung der Medienvielfalt
auf solide Datenbasis stellen

– Drucksachen 17/9155, 17/11058 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Martin Dörmann
Burkhardt Müller-Sönksen
Kathrin Senger-Schäfer
Tabea Rößner

e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Kultur und Medien

(22. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-

ten Martin Dörmann, Siegmund Ehrmann, Petra
Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD

Freiheit und Unabhängigkeit der Medien
sichern – Vielfalt der Medienlandschaft erhal-
ten und Qualität im Journalismus stärken

– Drucksachen 17/10787, 17/11045, 17/11082 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Martin Dörmann
Burkhardt Müller-Sönksen
Kathrin Senger-Schäfer
Tabea Rößner

ZP 7 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Gottschalck, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Neue Impulse für die Förderung des Radver-
kehrs setzen – Den Nationalen Radverkehrs-
plan 2020 überarbeiten

– Drucksache 17/11000 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Innenausschuss 
Ausschuss für Gesundheit 
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 
Ausschuss für Tourismus 
Haushaltsausschuss

b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung

Nationaler Radverkehrsplan 2020 – Den Rad-
verkehr gemeinsam weiterentwickeln

– Drucksache 17/10681 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 
Ausschuss für Tourismus

ZP 8 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD

Gemeinsam die Modernisierung Russlands
voranbringen – Rückschläge überwinden –
Neue Impulse für die Partnerschaft setzen

– Drucksache 17/11005 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
Innenausschuss 
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Außerdem werden die Tagesordnungspunkte 37 und
41 d abgesetzt. Von der Frist für den Beginn der Bera-
tungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Darüber hinaus kommt es zu den in der Zusatzpunktliste
dargestellten Änderungen im Ablauf unserer Tagesord-
nung.

Schließlich mache ich noch auf mehrere nachträgli-
che Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatz-
punktliste aufmerksam:

Der am 28. Juni 2012 (187. Sitzung) überwiesene
nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Aus-
schuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung (18. Ausschuss) zur Mitberatung überwie-
sen werden:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Jahressteuergesetzes
2013

– Drucksache 17/10000 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Rechtsausschuss 
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung 
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien 
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

Der am 27. September 2012 (195. Sitzung) überwie-
sene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz (10. Ausschuss) zur Mitberatung überwie-
sen werden:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Novel-
lierung patentrechtlicher Vorschriften und
anderer Gesetze des gewerblichen Rechts-
schutzes

– Drucksache 17/10308 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

Der am 28. September 2012 (196. Sitzung) überwie-
sene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)


Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung (18. Ausschuss) zur Mitberatung überwie-
sen werden:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Tierschutzgesetzes

– Drucksache 17/10572 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)
Rechtsausschuss 
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

Der am 27. September 2012 (195. Sitzung) überwie-
sene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz (10. Ausschuss) zur Mitberatung überwie-
sen werden:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Neuregelung energiewirtschaftsrechtlicher Vor-
schriften

– Drucksache 17/10754 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung 
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

Der am 27. September 2012 (195. Sitzung) überwie-
sene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem
Innenausschuss (4. Ausschuss) zur Mitberatung über-
wiesen werden:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Vor-
schlag für eine Verordnung des Rates über die
Erweiterung des Geltungsbereichs der Verord-
nung (EU) Nummer 1214/2011 des Europäi-
schen Parlaments und des Rates über den
gewerbsmäßigen grenzüberschreitenden Stra-
ßentransport von Euro-Bargeld zwischen Mit-
gliedstaaten des Euro-Raums

– Drucksache 17/10759 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Innenausschuss 
Rechtsausschuss 
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

Der am 27. September 2012 (195. Sitzung) überwie-
sene nachfolgende Gesetzentwurf soll dem Haushalts-
ausschuss (8. Ausschuss) zusätzlich gemäß § 96 der
Geschäftsordnung überwiesen werden:

Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zu Änderungen im Bereich der gering-
fügigen Beschäftigung

– Drucksache 17/10773 –

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Finanzausschuss 
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 
Ausschuss für Gesundheit 
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

Der am 27. September 2012 (195. Sitzung) überwie-
sene nachfolgende Gesetzentwurf soll dem Haushaltsaus-
schuss (8. Ausschuss) nun nicht mehr zur Mitberatung,
jedoch zusätzlich gemäß § 96 der Geschäftsordnung
überwiesen werden:

Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung und Vereinfachung
der Unternehmensbesteuerung und des steuer-
lichen Reisekostenrechts

– Drucksache 17/10774 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Innenausschuss 
Rechtsausschuss 
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

Einwände höre ich nicht. Dann ist das so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:

Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin

zum Europäischen Rat am 18./19. Oktober
2012 in Brüssel

Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der SPD-Frak-
tion vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-
rung Eindreiviertelstunden vorgesehen. – Auch dazu
darf ich Ihr Einvernehmen feststellen. Dann ist das so
beschlossen.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundeskanzlerin Frau Dr. Angela Merkel.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Angela Merkel (CDU):
Rede ID: ID1719800100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Inmitten der schwersten
Krise seit Verabschiedung der Römischen Verträge vor
55 Jahren, inmitten der größten Bewährungsprobe, die
wir Europäer seither zu bestehen hatten, genau in dieser
Zeit wird am letzten Freitag in der Hauptstadt eines
europäischen Landes, das selbst kein Mitglied der Euro-
päischen Union ist, einer der bedeutendsten Preise der
Welt an die Europäische Union vergeben.

Wenig, wie ich finde, macht die Dramatik der gegen-
wärtigen Lage Europas mit einem Schlag so deutlich wie
die Verleihung des Friedensnobelpreises 2012 an die
Europäische Union.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)






Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)


Wenig zwingt uns so sehr, uns die Größe der Aufgabe
unserer politischen Generation bewusst zu machen, wie
diese Entscheidung in Oslo am letzten Freitag. Ich finde,
dies ist eine wunderbare Entscheidung,


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


und zwar deshalb, weil das Nobelpreiskomitee den Frie-
densnobelpreis gerade nicht in den Jahren europäischer
Triumphe und Glücksmomente – zum Beispiel 1990
nach dem Fall des Eisernen Vorhangs oder 2004 nach
der Osterweiterung der Europäischen Union –, sondern
jetzt verliehen hat.

In der Zeit der Krise ist diese Entscheidung weit mehr
als nur eine Würdigung. Sie ist weit mehr als eine Erin-
nerung an den Ausgangspunkt der europäischen Eini-
gungsidee nach Jahrhunderten des Mordens und
Sterbens auf europäischen Schlachtfeldern. Diese Ent-
scheidung ist so bedeutend, weil sie genau jetzt kommt.
Denn damit ist sie als Mahnung zu verstehen. Mehr
noch, sie ist Ansporn und Verpflichtung, und zwar für
uns alle in Europa, das Wichtige vom Unwichtigen zu
trennen und den Kern der Bewährungsprobe, in der wir
uns ja nun sichtbarerweise befinden, immer wieder zu
sehen.

Dieser Kern unserer Bewährungsprobe kann in einem
einfachen Satz ausgedrückt werden: Der Euro, um des-
sen Stärke wir mit vielen Instrumenten und Maßnahmen
gerade ringen, ist weit mehr als eine Währung,


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


der Euro steht symbolhaft für die wirtschaftliche, soziale
und politische Einigung Europas – mit großer Wirkung
weit über Europa hinaus.

Das ist der Grund, warum die Überwindung der Krise
im Euro-Raum seit nunmehr bald drei Jahren die Agenda
aller G-8-Treffen, aller G-20-Treffen und fast aller Euro-
päischen Räte der Staats- und Regierungschefs be-
stimmt. Wir haben seit Anfang 2010 allein zehn Räte ge-
habt. Auch heute und morgen, beim elften Europäischen
Rat der Staats- und Regierungschefs, wird das nicht an-
ders sein.

Es kann gar nicht oft genug gesagt werden: Die Pro-
bleme, mit denen wir uns beschäftigen, die Probleme,
mit denen wir zu kämpfen haben, sind nicht über Nacht
entstanden. Deshalb können sie auch nicht über Nacht
gelöst werden. Sie sind auf eine mangelnde Wettbe-
werbsfähigkeit, sie sind auf die Überschuldung einzelner
Mitgliedstaaten


(Zuruf von der LINKEN: Auf Ihre Politik!)


sowie auch auf Gründungsfehler des Euro zurückzufüh-
ren.

Wir begeben uns bei der Lösung dieser Probleme auf
Neuland. Es gab und es gibt nicht die Lösung, den einen
Befreiungsschlag, womit die Krise auf einen Schlag aus
der Welt geschafft worden wäre. Auch der Gipfel heute
und morgen wird nicht der letzte sein, der sich mit der
Überwindung der Krise im Euro-Raum befasst. Es wer-
den weitere folgen; denn die Stärkung des Euro ist ein
Prozess aufeinanderfolgender Schritte und Maßnahmen.

Manches ist bereits geschafft. In diesen drei Jahren der
Krise haben wir im Übrigen weit mehr geschafft als in
vielen Jahren vorher in Europa.

Wir können die Konturen einer Stabilitätsunion be-
reits deutlich erkennen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Viele Mitgliedstaaten unterziehen sich harten Reformen
und Anpassungsprogrammen, um ihre spezifischen Pro-
bleme – das sind Staats- und Auslandsverschuldung,
Bankenkrisen, Verlust an Wettbewerbsfähigkeit – in den
Griff zu bekommen.

Dies gilt auch für Griechenland. Davon konnte ich
mich bei meinem Besuch in Athen in der letzten Woche
persönlich überzeugen. Der griechische Ministerpräsi-
dent Samaras wird uns auf dem Rat einen Zwischenbe-
richt über den Stand seiner Verhandlungen mit der
Troika geben.

Es besteht überhaupt kein Zweifel: Die Lage in Grie-
chenland ist alles andere als einfach. Vieles geht zu lang-
sam. Maßnahmen, die längst hätten umgesetzt werden
müssen, sind immer noch in Arbeit. Die Rezession ist
weit stärker als erwartet. Strukturelle Veränderungen
werden oftmals nur im Schneckentempo durchgeführt.
Die Verwaltung arbeitet an vielen Stellen unzureichend,
und Betrug und Korruption sind immer noch nicht voll-
ständig eingedämmt.


(Zuruf von der LINKEN: Fast wie in der Bundesregierung!)


Ich kann gut verstehen, warum die große Mehrheit
der griechischen Bürger wütend darauf reagiert, dass
wohlhabende Griechen ihren Beitrag zur Lösung der
Probleme ihres Landes nicht leisten wollen. Angesichts
dessen ist es menschlich absolut nachvollziehbar, warum
sich so viele Griechen schwer damit tun, einzusehen,
dass die größte Zahl der Probleme zu Hause entstanden
ist und deshalb auch nur zu Hause gelöst werden kann.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Doch, liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist nur die
eine Seite der Medaille. Ich habe bei meinem Besuch
auch die andere Seite der Medaille gesehen. In Athen, in
der griechischen Regierung, bei vielen in Wirtschaft und
Gesellschaft erlebe ich einen ernsten Willen zur Verän-
derung, den Willen, die eigenen Hausaufgaben zu ma-
chen, um so das Land in eine bessere Zukunft zu führen
und Mitglied des Euro-Raums bleiben zu können.

Ich möchte exemplarisch unseren Kollegen Hans-
Joachim Fuchtel nennen, der als deutscher Verantwortli-
cher für die Deutsch-Griechische Versammlung zusam-
men mit vielen Griechen und vielen Deutschen einen un-
ermüdlichen Beitrag leistet,


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


um das Gemeinwesen auch von unten wieder aufzu-
bauen. Das ist der Weg, den wir natürlich parallel gehen
müssen. Ich möchte deshalb Danke sagen. Er heißt in
Griechenland – das hat er mir gesagt – „Fuchtelos“.





Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)



(Heiterkeit bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Ich finde, das ist ein schöner Name für seine Arbeit.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist sehr vertrauenserweckend!)


Meine Damen und Herren, weil es so ist – wir kennen
die eine Seite der Medaille, und wir kennen die andere
Seite der Medaille –, kann und werde ich dem Bericht
der Troika hier und heute nicht vorgreifen. Aber ich wie-
derhole, was ich bereits an anderer Stelle, beim Besuch
des griechischen Ministerpräsidenten genauso wie bei
meinem Besuch in Athen, gesagt habe: Ich wünsche mir,
dass Griechenland im Euro-Raum bleibt. Ich wünsche
mir das nicht nur, weil Griechenland unser Freund und
Partner in der Europäischen Union wie auch in der
NATO ist, sondern auch, weil dies immer noch, trotz al-
ler Schwierigkeiten, im Interesse Griechenlands selbst
wie auch der Euro-Zone und der Europäischen Union als
Ganzes ist. Das ist die Haltung, mit der ich, mit der die
Bundesregierung, mit der wir den Bericht der Troika ab-
warten sollten; wir sollten nicht vorher richten, sondern
uns die Ergebnisse anschauen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha! Ganz schön offen, Frau Merkel!)


Griechenland muss die verabredeten Maßnahmen, zu
denen das Land sich verpflichtet hat, einhalten. In mei-
nen Gesprächen mit Ministerpräsident Samaras in Athen
und erneut gestern am Rande des EVP-Gipfels in Buka-
rest habe ich den ernsthaften Willen gespürt, das zu
schaffen und damit den Verpflichtungen nachzukom-
men. Sobald der Troika-Bericht vorliegt, werden die
Entscheidungen über eine Auszahlung der nächsten
Tranche hier im Deutschen Bundestag zu treffen sein,
nirgendwo anders, und das werden wir gemeinsam dis-
kutieren.

Auf dem Rat wird uns auch der spanische Minister-
präsident Rajoy über die Situation in seinem Land unter-
richten. Der Bericht über die Rekapitalisierung der Ban-
ken – das haben wir verfolgt – liegt inzwischen vor. Ob
und inwieweit Spanien darüber hinaus Hilfe aus dem
ESM benötigt, ist allein – ich habe das in allen Gesprä-
chen mit dem spanischen Ministerpräsidenten immer
wieder deutlich gemacht – die Entscheidung Spaniens.
Die Bedingungen für Hilfsanträge sind durch die Richtli-
nien des ESM völlig klar vorgegeben; sie sind inzwi-
schen auch vom Deutschen Bundestag verabschiedet
worden.

Meine Damen und Herren, wir wissen, dass den Men-
schen in Spanien, in Griechenland und in den anderen
betroffenen Mitgliedstaaten außerordentlich viel abver-
langt wird. Die sehr harten Reformmaßnahmen bedeuten
natürlich viele Einschnitte für viele Bürgerinnen und
Bürger in diesen Ländern. Aber wir sehen auch, dass es
Ergebnisse gibt: In Irland, in Portugal, in Spanien, aber
eben auch in Griechenland sind die Lohnstückkosten
deutlich gesunken. Dies ist ein wichtiger Faktor für die
Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit. Wir sehen das

im Übrigen auch bei allen Ländern an der Industriepro-
duktion, die zum Teil wieder zu wachsen beginnt. Defi-
zite in den Leistungsbilanzen gehen zurück, auch Defi-
zite im Haushalt. Man kann sagen, dass sich diese
Länder in vielen Faktoren in die richtige Richtung bewe-
gen. Aber dieser Reformweg ist natürlich noch lange
nicht beendet, und er muss weiter gegangen werden. Das
heißt, wir können sagen: Es ist ein Anfang gemacht. Wir
dürfen nicht auf halbem Wege stehen bleiben. Weil
nachhaltige Konsolidierung und Wachstum einander be-
dingen, deshalb muss beides gleichermaßen verfolgt
werden.

An dieser Stelle möchte ich noch einmal sagen: Na-
türlich wissen wir, dass wieder Wachstum entstehen soll.
Natürlich wissen wir, dass Wachstum kein Selbstzweck
ist, sondern dass es um Beschäftigung in diesen Ländern
geht.


(Zuruf von der SPD: Ja, klar! Sie auch?)


Natürlich wissen wir, dass rund 50 Prozent der jungen
Menschen in Spanien, in Griechenland und auch in an-
deren Ländern – das ist ein sehr hoher Prozentsatz –
heute arbeitslos sind. Aber wir wissen doch aus eigener
Erfahrung, dass nur durch Reformen am Arbeitsmarkt,
durch Strukturreformen und solide Haushalte überhaupt
wieder Beschäftigung entstehen kann. Das ist doch kein
Mysterium. Wachstum entsteht aus unternehmerischer
Tätigkeit, unternehmerische Tätigkeit entsteht aus der
notwendigen Flexibilität, und das müssen wir in Europa
wieder schaffen, meine Damen und Herren. Da liegt der
Schlüssel.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deshalb haben wir ja auch, parallel zu all den Pro-
grammen, die für die Länder ausgearbeitet wurden, und
zu all den Vorschlägen, die die Europäische Kommission
gemacht hat, den Pakt für Wachstum und Beschäftigung
in der Europäischen Union erarbeitet. Deshalb haben wir
uns ja auch in diesem Hause nach langer Diskussion ge-
meinsam darauf geeinigt, dass dieser Pakt für Wachstum
und Beschäftigung neben dem Fiskalpakt ein wichtiger
Schritt ist, um die Probleme der Europäischen Union zu
lösen.

Ich sage auch: Trotz aller Gegensätze, die wir hier in
diesem Hause haben: An den entscheidenden Stellen ha-
ben wir uns immer wieder zusammengerauft. Ich möchte
Danke dafür sagen, dass das möglich ist,


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zurufe von der SPD)


und das nicht, weil die Gegensätze dabei vertuscht wer-
den sollen – das ist doch gar nicht der Gegenstand –,
sondern weil die große Mehrheit dieses Hauses glückli-
cherweise solche Gegensätze für die Sache Europas zu-
rückstellt und sagt: Was für Europa gut ist, das machen
wir gemeinsam.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine Damen und Herren, die Konturen einer Stabili-
tätsunion zeichnen sich aber auch deshalb ab, weil wir
inzwischen dauerhafte Instrumente der Krisenbewälti-





Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)


gung haben. Schon vor gut zwei Jahren hat sich die
christlich-liberale Koalition dafür eingesetzt,


(Zurufe von der SPD: Oh)


einen permanenten Krisenbewältigungsmechanismus zu
schaffen. Wir haben gewusst, dass 2013 die EFSF aus-
läuft, und wir haben uns deshalb rechtzeitig – denn wir
wussten, dass dabei schwierige rechtliche Fragen zu klä-
ren sind – für einen solchen dauerhaften Rettungsschirm
eingesetzt.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eingesetzt?)


Jetzt kann ich sagen: Wir haben ihn heute. Er ist ver-
abschiedet. Er ist ein dauerhaftes Instrument zur Bewäl-
tigung der Krise. Ich möchte einmal zwei Jahre zurück-
denken. Wenn wir damals gefragt hätten: „Wer in
Europa ist denn jetzt dafür?“, dann hätte man gesagt:
Das ist nie zu schaffen.

Nur weil Deutschland an vielen Stellen vorangegan-
gen ist,


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo sind wir denn vorangegangen?)


sind wir heute in Europa dort, wo wir sind, nämlich dass
wir zum Beispiel ein dauerhaftes Krisenbewältigungsin-
strument haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir haben noch etwas von Anfang an gesagt – und
das ist der Maßstab unseres Handelns –: Solidarität auf
der einen Seite im Rahmen des ESM geht Hand in Hand
mit Bedingungen und Auflagen für die jeweiligen Mit-
gliedstaaten. Unter dieser Voraussetzung haben wir stets
solidarisch gehandelt und werden das auch in Zukunft
tun.

Von besonderer Bedeutung für eine zukünftige Stabi-
litätsunion ist jedoch ohne Zweifel die Stärkung des Sta-
bilitäts- und Wachstumspaktes. Wir haben ihn im ver-
gangenen Jahr so ausgestattet, dass Fehlentwicklungen
in einzelnen Mitgliedstaaten in Zukunft nicht mehr die
Stabilität des Euro als Ganzes gefährden werden. Sie
kennen das – in Anführungsstrichen, sehr volksnah aus-
gedrückt – als „Six-Pack“.

Aber das reicht natürlich noch nicht, um die notwen-
dige Verbindlichkeit und damit auch neue Glaubwürdig-
keit zu schaffen. Meine Damen und Herren, es geht ja im
Kern immer wieder um Verbindlichkeit und Glaubwür-
digkeit. Denn im Kern ist die europäische Staatsschul-
denkrise eine Vertrauenskrise, eine Vertrauenskrise des
Euro.

Deshalb haben wir neben dem ESM auch den Fiskal-
vertrag beschlossen. Er verlangt von jedem Mitgliedstaat,
eine Schuldenbremse einzuführen, und die Einführung
dieser Schuldenbremse kann dann vom Europäischen Ge-
richtshof überprüft werden. Zehn Mitgliedstaaten haben
diesen Fiskalvertrag bereits ratifiziert – vor wenigen Ta-
gen auch Frankreich –, und ich bin deshalb sehr zuver-
sichtlich, dass Anfang 2013 dieser Fiskalvertrag in Kraft
treten kann. Im Übrigen wird es dann so sein, dass nur

derjenige, der diesen Fiskalvertrag ratifiziert hat, auch
Hilfen aus dem ESM bekommen kann. Da zeigt sich die
Verbindung dieser beiden Maßnahmen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir haben also Instrumente zur Krisenbewältigung.
Wir haben Reformen in den einzelnen Mitgliedstaaten.
Wir haben den Stabilitäts- und Wachstumspakt gestärkt.
Aber, meine Damen und Herren, damit sind die Konstruk-
tionsfehler der Wirtschafts- und Währungsunion insge-
samt noch längst nicht beseitigt. Wir brauchen mehr. Des-
halb haben uns auf dem letzten Rat im Juni die
Präsidenten des Europäischen Rates, der Europäischen
Kommission, der Euro-Gruppe und der Europäischen
Zentralbank Vorschläge für die Fortentwicklung der
Wirtschafts-und Währungsunion vorgelegt, und inzwi-
schen haben genau dazu mit den Mitgliedstaaten Konsul-
tationen stattgefunden.

Uns leitet dabei ein ehrgeiziges Ziel: Wir wollen be-
schließen – und das im Dezember –, wie wir die Wäh-
rungsunion weiterentwickeln wollen. Ich sage: Diese
Weiterentwicklung ist unverzichtbar, und sie ist Voraus-
setzung dafür, Vertrauen und Glaubwürdigkeit im Zu-
sammenhang mit der Währungsunion zurückzugewin-
nen. Ich sage: Nur so können wir die Vertrauenskrise
überwinden.

Heute und morgen, beim Europäischen Rat, wird es
nicht darum gehen, konkrete Entscheidungen zu treffen,
sondern es muss darum gehen, die Weichen für Dezem-
ber zu stellen, Grundlagen für die Entscheidungen zu
schaffen, die richtigen Fragen zu stellen und Arbeitsauf-
träge zu verteilen, wie wir diese Fragen bis zum Dezem-
ber lösen können.

Dabei ist für mich klar: Die erneuerte Wirtschafts- und
Währungsunion soll von vier starken Säulen getragen
werden: erstens von mehr gemeinsamer Finanzmarkt-
politik, zweitens von mehr gemeinsamer Fiskalpolitik,
drittens von mehr gemeinsamer Wirtschaftspolitik und
viertens von einer gestärkten demokratischen Legitima-
tion und Kontrolle.

Zum ersten Punkt: mehr gemeinsame Finanzmarkt-
politik. Die weltweite Finanzkrise hat uns dramatisch
vor Augen geführt, dass ein unzureichend regulierter
Bankenmarkt ganze Staaten an den Rand des Abgrunds
führen kann. Um so etwas für die Zukunft zu verhindern,
ist eine starke Finanzmarktregulierung sowohl bei uns zu
Hause als auch in Europa als auch weltweit notwendig.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum blockieren Sie denn dann?)


Wir sind in Europa hier schon Schritt für Schritt voran-
gekommen, um die notwendigen Regelungen zu finden.
Dies ist für mich heute nicht der Ort, um darüber zu
sprechen. Aber außerordentlich erfreulich ist – das ist
ein Fortschritt gegenüber Juni –, dass sich endlich elf
Staaten bereit erklärt haben, die Finanzmarkttransaktion-
steuer einzuführen,


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich denke, Sie blockieren das jetzt!)






Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)


und das ist eine gute Nachricht, meine Damen und Her-
ren; denn viele hier in diesem Hause haben ja dafür ge-
kämpft.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Für mehr gemeinsame Finanzmarktpolitik brauchen
wir allerdings auch eine gemeinsame Bankenaufsicht,
die effizient und unabhängiger von den nationalen Ein-
flüssen ist. Dabei soll die Europäische Zentralbank eine
zentrale Rolle spielen. Die Europäische Kommission hat
uns zu dieser Bankenaufsicht im September einen Vor-
schlag vorgelegt. Er wird nun beraten. Wir setzen uns
dafür ein, die Arbeiten auf dieser Grundlage zügig vo-
ranzutreiben. Das ist vor allen Dingen auch eine Auf-
gabe der Finanzminister. Allerdings sage ich an dieser
Stelle: Qualität muss vor Schnelligkeit gehen; denn
wenn wir zum Schluss etwas haben, das wieder nicht
besser ist als alle schon bestehenden Aufsichtsgremien,
dann können wir uns die Arbeit sparen. Darauf werden
wir in den Beratungen dringen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir haben vereinbart, dass die Vorschläge der Kom-
mission bis Ende des Jahres geprüft werden sollen. Die
Finanzminister arbeiten, wie ich schon sagte, mit Hoch-
druck. Dann muss sich das Europäische Parlament mit
dem Entwurf befassen. Der Präsident des Europäischen
Parlaments hat selbst gesagt: Das Europäische Parlament
wird es in diesem Jahr nicht mehr schaffen, dazu ab-
schließende Beschlüsse zu fassen.

Ich sage Ihnen nur: Es gibt eine Vielzahl komplizier-
ter rechtlicher Fragen. Damit mache ich das Thema nicht
schwieriger, als es ist. Fragen Sie einmal Länder, die
nicht zur Euro-Zone gehören, die aber gemeinsam mit
Ländern, die zur Euro-Zone gehören, Banken haben, wie
bei einer Verantwortlichkeit der EZB die Bankenaufsicht
geregelt werden soll. Fragen Sie bitte, wie man die geld-
politische Verantwortung der EZB genau trennt von der
Aufsichtsverantwortung. Diese Fragen müssen gut ge-
löst werden. Deutschland wird sich dort mit allem Elan
einbringen; das ist nicht unser Problem. Aber das Ergeb-
nis muss so sein, dass die Glaubwürdigkeit dadurch ver-
bessert wird und wir hinterher nicht noch schlechter da-
stehen als heute.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Einrichtung eines wirksamen Aufsichtsmechanis-
mus ist dann die Voraussetzung für eine spätere Ent-
scheidung über eine direkte Bankenrekapitalisierung
durch den ESM. Ich will es hier ganz deutlich sagen: Der
bloße Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens für eine
Bankenaufsicht reicht nicht aus, sondern diese Banken-
aufsicht muss arbeitsfähig sein, sie muss effektiv han-
deln können. Denn hier reden wir darüber, dass der ESM
eines Tages Banken rekapitalisiert in Ländern, in die wir
dann eingreifen müssen


(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Sie wollen das! Wir wollen das nicht!)


und wozu wir Beschlüsse fassen müssen. Das ist der
Punkt. Deshalb ist das eine komplizierte, aber leistbare
Aufgabe, der wir uns mit ganzem Elan verschreiben.

Meine Damen und Herren, damit kommen wir zur
zweiten Säule einer erneuerten Wirtschafts- und Wäh-
rungsunion: Das ist mehr gemeinsame Fiskalpolitik. Bei
der Stärkung der Haushaltsdisziplin sind wir zuletzt mit
dem Fiskalvertrag durchaus ein gutes Stück vorange-
kommen. Aber wir sind der Meinung – das sage ich für
die ganze Bundesregierung –: Wir könnten hier sehr gut
ein Stück weiter gehen, indem wir der europäischen
Ebene echte Durchgriffsrechte gegenüber den nationalen
Haushalten gewähren, dort, wo die vereinbarten Grenz-
werte des Stabilitäts- und Wachstumspaktes nicht einge-
halten werden. Ich weiß: Die Bereitschaft hierzu zeigen
viele Mitgliedstaaten noch nicht. Aber ich sage auch: lei-
der.

Das ändert jedoch nichts daran, dass wir uns weiter
dafür starkmachen werden. Genau in dem Moment, in
dem wir einen solchen Mechanismus hätten, dass ein
Haushalt für ungültig erklärt werden könnte und dies
auch vom Europäischen Gerichtshof überprüft werden
könnte, wären wir an dem Punkt, dass wir natürlich in
der Kommission jemanden brauchen, der dazu die Auto-
rität hat und dies tun kann. Das wäre in diesem Fall der
Währungskommissar. Ich bin schon verwundert: Kaum
hat jemand einen fortschrittlichen Vorschlag gemacht,
eine Idee gegeben, wie wir mehr Verbindlichkeit, mehr
Glaubwürdigkeit bekommen können, kommt sofort das
Geschrei: Das geht nicht, Deutschland ist isoliert, wir
werden das nie schaffen. So bauen wir kein glaubwürdi-
ges Europa. Wir sollten nicht alle Vorschläge sofort vom
Tisch wischen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Statt dass wir uns überlegen, wie wir mehr Verbind-
lichkeit und mehr Glaubwürdigkeit bekommen können,
erleben wir eine permanente Diskussion, wie wir mehr
gemeinsame Haftung für Staatsschulden bekommen
können. Auch der Zwischenbericht der vier Präsidenten
enthält diese Elemente wieder. Ich sage: Ich halte das für
einen ökonomischen Irrweg.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Denn wir setzen so nicht die richtigen Anreize, um uns
in die richtige Richtung zu entwickeln.

Jetzt überlegen wir einfach einmal: Wo läge eigent-
lich die demokratische Legitimation, wenn wir uns für
eine gemeinsame Haftung in Europa entscheiden wür-
den? Der wesentliche Kern der Haushaltsverantwortung
– das wird auf lange Zeit so bleiben – sind die Budgets
der nationalen Staaten.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Solange das so ist, müsste beispielsweise die französi-
sche Nationalversammlung über die deutsche Staatsver-
schuldung mitbestimmen, ebenso wie der Bundestag
über die französische, die italienische oder die spani-
sche.





Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)



(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, nein!)


Schon dieses Beispiel zeigt doch, dass es faktisch un-
möglich ist, in diesem Bereich als Erstes die Haftung zu
vergemeinschaften und weiter nationale Budgets zu ha-
ben. Das wird nicht funktionieren. Das ist nicht die Sta-
tik, die wir brauchen. Deshalb lehnen wir das ab.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir brauchen aber – das ist die dritte Säule – mehr ge-
meinsame Wirtschaftspolitik. Der frühere Kommissions-
präsident Jacques Delors hat bereits 1989, als es um die
Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion ging,
einen Bericht vorgelegt. Darin heißt es sehr weitsichtig
– ich zitiere –:

Eine gemeinsame Währung erfordert ein hohes
Maß an Übereinstimmung in den Wirtschaftspoliti-
ken sowie einer Reihe anderer Politikfelder, vor al-
lem in der Fiskalpolitik.

Die europäische Staatsschuldenkrise um den Euro zeigt,
wie scharfsichtig und richtig die Analyse Jacques Delors’
war.

Die Krise zeigt uns, dass Fehlentwicklungen in ein-
zelnen Mitgliedstaaten tatsächlich den gesamten Euro in
Bedrängnis bringen können. Deshalb müssen wir uns
ganz im Sinne von Jacques Delors jetzt um die Politik-
felder kümmern, in denen wir ein hohes Maß an Über-
einstimmung brauchen. Diese Felder sollten wir bis zum
Dezember identifizieren, um dann zu sagen: Wenn wir
hier nicht mehr Übereinstimmung bekommen, dann wer-
den wir auch in Zukunft ein Problem haben.

Wo wird denn eine stärkere wirtschaftspolitische Ko-
ordinierung notwendig sein? Sie wird ganz wesentlich
dort notwendig sein, wo Kernbereiche nationaler Souve-
ränität berührt sind: in der Arbeitsmarktpolitik, in der
Steuerpolitik, also in vielen Fragen, die in der nationalen
Diskussion hochsensibel sind. Zu glauben, die einzige
Antwort darauf sei, alle diese Politikfelder jetzt verge-
meinschaften zu müssen – das wäre die klassische euro-
päische Integrationslogik –, das, glaube ich, führt uns in
die Irre.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Natürlich können wir über Mindeststandards bei Steu-
ern reden; wir reden darüber seit 10, 15 Jahren. Dazu
kann ich nur sagen: Wenn wir so vorgehen, dann werden
wir nicht den Euro retten, dann werden wir nicht die Sta-
bilität unserer gesamten Kooperation verbessern, son-
dern dann werden wir mit einigen Ländern noch in Jah-
ren und Jahrzehnten darüber reden, wie wir es denn nun
halten.

Deshalb schlagen wir einen anderen Weg vor. Wir
brauchen Lösungen, die einen sinnvollen Ausgleich her-
stellen zwischen notwendigen Eingriffsrechten der euro-
päischen Ebene, um Fehlverhalten und Regelverstöße
immer wieder zu korrigieren, und dem Selbstbestim-
mungsrecht und Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaa-
ten und ihrer Parlamente. Wir brauchen auch Lösungen,

die zu verbindlichen und durchsetzbaren Reformver-
pflichtungen der Mitgliedstaaten führen, ohne dass na-
tionale Kompetenzen, das Subsidiaritätsprinzip oder de-
mokratische Verfahren untergraben werden.

Deshalb stellen wir uns vor, dass die Mitgliedstaaten
zu diesem Zweck verbindliche Reformvereinbarungen
mit der europäischen Ebene schließen, denen dann die
jeweiligen nationalen Parlamente zustimmen. Dann ist
sozusagen die demokratische Legitimierung gegeben,
dass ein Nationalstaat sich verpflichtet, bestimmte Dinge
umzusetzen. Um dann allen Mitgliedstaaten auch die
Möglichkeit zu geben, zur Verbesserung ihrer Wettbe-
werbsfähigkeit wirklich in der Lage zu sein, diese Ver-
pflichtungen umzusetzen, schlage ich vor, dass wir ein
neues Element der Solidarität einführen, einen Fonds,
aus dem zeitlich befristet projektbezogen, also nicht un-
bestimmt, sondern ganz projektbezogen Gelder in An-
spruch genommen werden können.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch auch gemeinsame Haftung, Frau Bundeskanzlerin!)


Denn nicht alle Länder werden gleichzeitig ihre Haus-
haltskonsolidierung und die notwendigen Investitionen
in Zukunftsaufgaben schaffen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind Euro-Bonds durch die Hintertür!)


Ich sage: Ja, wir brauchen Solidarität. Aber wir brau-
chen eine Form der Solidarität, die uns auch wirklich zu
dem führt, was wir brauchen, nämlich mehr Wettbe-
werbsfähigkeit, mehr Angleichung der Wettbewerbsfä-
higkeit der Mitgliedstaaten.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha!)


Meine Damen und Herren, wir haben doch gesehen,
dass nicht konditionierte Finanzzahlungen, wie sie bei
den Strukturfonds, wie sie bei den Kohäsionsfonds viel
zu sehr vorgekommen sind, nicht nur nicht geholfen ha-
ben, sondern in den Ländern zum Teil Fehlentwicklun-
gen weiter unterstützt haben. Daraus müssen wir die
richtigen Lehren ziehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deshalb ist gemeinsame Haftung die falsche Antwort.
Wir brauchen vielmehr eine dezidierte Solidarität.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer haftet denn für den Fonds?)


Ich will ganz deutlich sagen, dass ein solcher Fonds
zum Beispiel gespeist werden könnte von den Einnah-
men aus der Finanztransaktionsteuer.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oi!)


– Natürlich! – Das würde vielleicht sogar dazu führen,
dass noch mehr Euro-Mitgliedstaaten eine Finanztrans-
aktionsteuer einführen.





Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)



(Zuruf des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Meine Damen und Herren, darüber, wie die Gelder
ausgegeben werden, wird natürlich auf der Grundlage
der mit den Mitgliedstaaten vereinbarten Verträge die
Kommission zusammen mit dem Rat und dem Europäi-
schen Parlament – das ist doch ganz klar – wachen, wie
das auch bei anderen Zahlungen im europäischen Rah-
men der Fall ist.

Dies soll kein Closed Shop sein – das haben wir
schon nicht beim Fiskalvertrag gemacht –, sondern wir
sagen ausdrücklich: Alle Länder, die vielleicht morgen
oder übermorgen im Euro sein wollen, können sich an
diesem Fonds beteiligen, wenn sie gleichzeitig bereit
sind, mit der Kommission bindende Vereinbarungen ab-
zuschließen über die Verbesserung ihrer Wettbewerbsfä-
higkeit.

Des Weiteren geht es viertens um die Frage der demo-
kratischen Legitimation, die von allergrößer Bedeutung
ist. Ich habe mehrmals gesagt, dass wir zur Bewältigung
dieser Krise mehr Zusammenarbeit in Europa brauchen,
also mehr statt weniger Europa. Aus meiner Sicht führt
der Weg zu einer erneuerten Wirtschafts- und Währungs-
union, einer Stabilitätsunion, die diesen Namen auch
verdient, in einigen Bereichen ganz eindeutig zu einer
Stärkung der Rolle der Kommission, des Rates und des
Europäischen Parlaments und auch des Europäischen
Gerichtshofs.

Dies ist im Übrigen auch sehr wichtig für den Zusam-
menhalt der Europäischen Union; denn von den 27 Mit-
gliedstaaten sind 17 im Euro. Immer wieder kommt die
Frage: Wollt ihr einen Teil ausschließen? Wollt ihr eine
Zweiklassengesellschaft? Ich sage: Nein, das wollen wir
nicht. Aber wenn ein Teil in der verstärkten Zusammen-
arbeit – und so etwas ist ja der Euro – spezielle Probleme
hat, dann können wir doch nicht sagen: Diese Probleme
lösen wir nicht, weil noch nicht alle dabei sind. – Aus
diesem Grund muss es also mehr demokratische Legiti-
mation und Kontrolle geben, und dieses muss Hand in
Hand mit mehr Integration gehen.

Jede Entscheidung – das ist das Prinzip – muss auf
der Ebene legitimiert und kontrolliert werden, auf der sie
getroffen wird. Das heißt, dort, wo die europäische
Ebene gestärkt wird, muss auch das Europäische Parla-
ment gestärkt werden. Wo im Kern nationale Kompeten-
zen betroffen werden, kann die demokratische Legitima-
tion nur über die Parlamente der nationalen Staaten
gehen, das heißt, dann müssen wir dort entscheiden.

Jetzt noch ein Wort zu der Frage: Wie ist das denn,
wenn Entscheidungen auf europäischer Ebene zu treffen
sind, die nur den Euro-Raum betreffen? Da habe ich in
vielen Gesprächen mit Parlamentariern des Europaparla-
ments nicht gehört: Man darf nicht darüber nachdenken,
ob dann vielleicht nur die Parlamentarier aus den Euro-
Ländern abstimmen. – Es gibt eine ganze Menge von in-
teressanten Ideen, wie man Ausschüsse gründen oder be-
stimmte Sitzungen durchführen kann, um zu gewährleis-
ten, dass nicht diejenigen, die gar nicht Mitglieder des
Euro-Raums sind, über Dinge entscheiden, die nur den

Euro-Raum betreffen. Darüber müssen wir diskutieren.
Da kann man doch nicht immer von Anfang an sagen:
Das geht nicht. Das wäre eine Zweiklassengesellschaft.
– So kommt Europa nicht weiter. Wir werden uns dieser
Diskussion stellen, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ziel des heute beginnenden Europäischen Rates ist es
also, den weiteren Prozess so zu strukturieren, dass wir
im Dezember dieses Jahres ein Gesamtpaket zur Weiter-
entwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion be-
schließen können, inklusive eines klaren Zeitplans. Das
gilt für die Euro-Zone; aber selbstverständlich sind, wie
beim Fiskalvertrag, alle eingeladen. Beim Fiskalvertrag
machen 25 Mitgliedstaaten mit, obwohl nur 17 im Euro
sind.

Die nachhaltige Stabilisierung und Fortentwicklung
der Wirtschafts- und Währungsunion ist die zentrale
politische Herausforderung unserer Zeit, und sie ist ent-
scheidend für die Zukunft der Europäischen Union ins-
gesamt. Deshalb möchte ich allen, die mit dazu beitragen
und Vorschläge machen, die uns voranbringen, ganz
herzlich danken: neben Wolfgang Schäuble ganz beson-
ders Guido Westerwelle,


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh! Guido!)


der sich mit einer Reihe von Außenministern über genau
diese Fragen Gedanken gemacht hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Sigmar Gabriel [SPD]: In einer Rede mit Herrn Fuchtel! Schön, Westerwelle! – Weitere Zurufe von der SPD: Oh! Oh!)


– Sie murren, weil Ihnen das alles nicht passt. Ich sage
Ihnen nur: Mit dem Hinweis darauf, was alles nicht geht,
und mit den falschen Methoden der Vergangenheit wer-
den wir Europa nicht voranbringen. Wir bringen Europa
nur voran, indem wir aus den Fehlern, die wir in der Ver-
gangenheit gemacht haben, lernen. Nur so bringen wir
Europa nach vorne.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ohne Zweifel: Die Schritte, die wir jetzt gehen müs-
sen, um dieses Ziel zu erreichen, werden zu einer neuen
Qualität in der wirtschaftspolitischen Zusammenarbeit in
der Euro-Zone und darüber hinaus führen. Diese neue
Qualität ist nach unserer Auffassung zwingend notwen-
dig. Allerdings – auch das will ich hier ganz offen an-
sprechen – wäre es ganz fatal – das spüre ich an einigen
Stellen schon –, wenn die von mir grundsätzlich be-
grüßte Ankündigung der Europäischen Zentralbank, bei
klaren Konditionen unbegrenzt am Sekundärmarkt zu in-
tervenieren, jetzt dazu führen würde, dass die politischen
Anstrengungen in Richtung einer stärkeren Wirtschafts-
und Währungsunion aus genau diesen Gründen nachlas-
sen. Das wäre genau die falsche Antwort.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Es darf bei allen Instrumenten, die wir zur Eindäm-
mung der Krise brauchen und die uns zur Verfügung ste-





Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)


hen, niemals übersehen werden, dass am Ende nicht die
Krisenmaßnahmen die Lösung bringen, sondern nur eine
verbindliche politische Architektur. Nur so werden wir
einen dauerhaft stabilen Euro bekommen. Dies muss
über den Weg der Erneuerung der Wirtschafts- und Wäh-
rungsunion erzielt werden. Nur dann kann das gelingen,
was seit Beginn der Krise unser Ziel ist:


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Die Zeit ist abgelaufen!)


Dann kann Europa stärker aus der Krise hervorgehen, als
es in die Krise hineingegangen ist, und dann wird Eu-
ropa auch in Zukunft im internationalen Wettbewerb be-
stehen können.

Worum geht es bei dieser europäischen Vertrau-
enskrise denn eigentlich? Es geht darum, eine stabile,
zukunftsfähige Architektur zu bauen. Aber eigentlich
geht es um die Frage, ob sich Europa mit seinen Werten
und Interessen im globalen Wettbewerb des 21. Jahrhun-
derts behaupten kann; das heißt auch, ob Europa seinen
Wohlstand, seinen Lebensstandard und seine Art, zu le-
ben, erhalten kann.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, dies führt mich zum Aus-
gangspunkt meiner Überlegungen zurück: zu der überra-
genden Bedeutung, die die Verleihung des Friedensno-
belpreises an die Europäische Union für uns in Europa
hat. Ja, es geht immer auch darum, niemals zu vergessen,
dass die Idee der europäischen Einigung eine Friedens-
idee war, die Idee, dass die Völker Europas nie wieder
Krieg gegeneinander führen, was sie über Jahrhunderte
getan haben, mit unglaublichem Blutvergießen und dem
Opfer vieler Menschenleben. Aber für die heute Jungen,
die Europa nur als Hort des Friedens kennen und glückli-
cherweise noch nie einen Krieg erlebt haben, geht es da-
rum, ob wir in der Lage sind, den Nachweis zu erbrin-
gen, dass wir aufbauend auf dem, was wir geerbt haben,
eine gute Zukunft gestalten können. Die gute Zukunft ist
doch ganz konkret: Können wir für die jungen Menschen
in Europa wieder Arbeitsplätze schaffen? Können wir si-
cherstellen, dass der Wohlstand auch für die Zukunft ge-
sichert ist? Können wir sicherstellen, dass Menschen auf
ein gutes Gesundheitssystem und auf eine gute Alterssi-
cherung vertrauen können? Das alles sind doch die
Dinge, die Europa auszeichnen.

In diesem Jahr jährt sich die Unterzeichnung der Rö-
mischen Verträge – ich habe es am Anfang schon gesagt –
zum 55. Mal. Als wir den 50. Jahrestag der Unterzeich-
nung der Römischen Verträge hier in Berlin gefeiert
haben, haben wir an diese Anfangszeiten zurückgedacht.
Das war das Jahr, in dem Deutschland die europäische
Präsidentschaft innehatte.

Zu Beginn dieser Präsidentschaft 2007 habe ich im
Europäischen Parlament in Straßburg gesprochen. Da-
mals habe ich in meiner Rede im Europäischen Parla-
ment in Straßburg schon einmal die Frage gestellt: Wie
werden denn eigentlich Regionen weltweit erfolgreich?
Ich habe mich damals auf den amerikanischen Wissen-
schaftler Richard Florida bezogen, der sagt: Am erfolg-
reichsten entwickeln sich Regionen dann, wenn drei

Faktoren zusammenkommen: Technologie, Talente und
Toleranz. – Ich glaube, genau diese drei Dinge machen
die europäische Stärke aus: Talente, Technologie und
Toleranz. Denn es sind natürlich immer die Menschen,
die wissenschaftlich-technischen Fortschritt möglich
machen.


(Zuruf von der SPD: Ach!)


Es ist die Innovation, von der Europa lebt. Anders
werden wir unseren Wohlstand nicht halten können. Es
sind der wirtschaftliche und soziale Fortschritt und der
soziale Ausgleich, für den Europa wie keine andere Re-
gion auf dieser Erde steht. Das ist das, was wir das Prin-
zip der sozialen Marktwirtschaft nennen. Es sind die
Kraft der Toleranz, die Kraft der Rechtsstaatlichkeit, die
Fähigkeit, unterschiedliche Meinungen zu ertragen und
Widersprüche auszugleichen, und der Wille, Pressefrei-
heit und Religionsfreiheit zu ermöglichen, in einem
Wort: „Demokratie, Freiheit und Menschenrechte“, die
Europa seit mehr als sechs Jahrzehnten tragen.

Die Toleranz – davon bin ich ganz überzeugt – befä-
higt uns, aus Europas unveränderter Vielfalt von Spra-
chen und Kulturen, aber mit heute ganz gemeinsamen
Werten, das Beste zu machen. Diesen Werten und Zielen
zu dienen und sie im Alltag zu leben, uns also in diesem
Sinne des Preises von Alfred Nobel würdig zu erweisen,
ist jede Mühe und Anstrengung wert.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das wird auch der Geist sein, in dem wir heute und
morgen in Brüssel beraten werden, wo doch jeder vorher
sagt: Die Vielfalt ist so groß, Europa ist zerstritten, die
werden keinen Millimeter vorankommen. Ich sage Ih-
nen: Wir werden vorankommen, und zwar genau in dem
von mir beschriebenen Sinn, weil die Werte, die uns ei-
nen, Werte und Ziele sind, mit denen Europa auch im
weltweiten Wettbewerb des 21. Jahrhunderts bestehen
kann, weil wir uns alle, alle Staats- und Regierungschefs
der Europäischen Union, aller 27 Mitgliedstaaten, dem
Geist verpflichtet fühlen und weil wir die gemeinsamen
Werte auch wirklich teilen.

Wir wissen, dass wir in Europa in Freiheit leben. Wir
wissen, dass wir in Europa Demokratie haben. Wir wis-
sen, dass man in Europa auch demonstrieren kann, wenn
einer den anderen besucht. Wir wissen aber auch: Dafür
geht keiner ins Gefängnis, wenn er nicht gerade gewalt-
tätig geworden ist. Das eint uns; dafür werden wir arbei-
ten. Menschlich und erfolgreich wollen wir sein, in Frie-
den und Freiheit.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Langanhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1719800200

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-

ner dem Kollegen Peer Steinbrück für die SPD-Fraktion
das Wort.


(Beifall bei der SPD – Zuruf von der FDP: Die Rede ist kostenlos?)







(A) (C)



(D)(B)



Peer Steinbrück (SPD):
Rede ID: ID1719800300

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Ebenso wie Sie, Frau Bundeskanzlerin, freuen wir So-
zialdemokraten uns über die Verleihung des Friedens-
nobelpreises an die Europäische Union. In einer Zeit, in
der viele Europäer in der Tat an Europa zweifeln, in
einer Zeit, in der viele den Wert Europas nur noch an den
Zinssätzen an den internationalen Finanzmärkten bemes-
sen, erinnert uns das Nobelpreiskomitee in Oslo daran,
dass Europa weit mehr ist als ein Wechselbalg der
Ratingagenturen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir müssen dem Nobelpreiskomitee, wie ich glaube,
dankbar sein, dass es uns und auch der Welt einen Fin-
gerzeig darauf gegeben hat, warum Europa nach dem
dreißigjährigen Krieg von 1914 bis 1945 Erbfeindschaf-
ten und einen mörderischen Nationalismus überwand,
aber auch, wofür es in Zukunft immer gebraucht wird.

Im Rückblick auf über 60 Jahre Frieden und wirt-
schaftlichen Fortschritt haben wir Deutsche übrigens
einen besonderen Grund zur Dankbarkeit und eine
außerordentliche Mitverantwortung für das Wohlergehen
Europas.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Denn es waren unsere westlichen Nachbarn und sehr
weitsichtige Staatsmänner, die uns schon wenige Jahre
nach dem Krieg trotz schrecklicher Erfahrungen, trotz
unsäglicher Verbrechen einluden, an dieser europäischen
Einigung teilzuhaben. Es waren übrigens auch unsere
europäischen Nachbarn, die sich über die deutsche Wie-
dervereinigung freuten, obwohl sie mit einem starken
Deutschland in der zentraleuropäischen Geografie über
Jahrhunderte sehr schlechte Erfahrungen gemacht hat-
ten. Sie hatten uns von den Montan-Verträgen zu Beginn
der 50er-Jahre über die EWG, Römische Verträge 1957,
die EG bis zur Europäischen Union inzwischen als gute,
verlässliche und vor allen Dingen hilfsbereite Europäer
kennengelernt. Und dabei sollte es bleiben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Neben allem, worüber wir heute diskutieren und
sicherlich auch streiten werden, dürfen wir nicht verges-
sen, worum es in Wahrheit bei diesem einmaligen Pro-
jekt Europa geht: um dauerhaften Frieden, um dauer-
hafte Freiheit, um dauerhafte Demokratie für alle
Menschen auf unserem Kontinent. Gerade weil – wie der
französische Philosoph André Glucksmann sagt – De-
mokratien dazu neigen, die tragische Dimension ihrer
Geschichte gelegentlich zu ignorieren oder zu vergessen,
und gerade weil sich die Bürger in der anhaltenden Kri-
sendebatte mit all ihren Fachbegriffen, in all ihrer Kom-
plexität zunehmend orientierungslos und überfordert
fühlen, dürfen wir Politiker den Fehler nicht fortsetzen,
dieses Europa nur auf eine Währungsunion, nur auf ein
Zentralbanksystem, nur auf einen gemeinsamen Markt,

nur auf eine intergouvernementale Veranstaltung von
25 Männern und zwei Frauen zu reduzieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es geht in der Tat um die Behauptung des Zivilisa-
tionsprojektes „Europa“. Der Historiker Heinrich August
Winkler redet über das normative Projekt des Westens
unter Einschluss Nordamerikas in einer Welt dynami-
scher Veränderungen mit neu aufstrebenden Ländern und
Kontinenten. Verliert Europa aber seine Wirkungsmacht
durch Uneinigkeit und Renationalisierung – und sei es
auch noch so fahrlässig –, werden wir auch die Attrakti-
vität dieses Zivilisationsprojektes nicht behaupten kön-
nen.

Ja, Frau Bundeskanzlerin, was Europa zu bieten hat,
ist einmalig in der Welt: Gewaltenteilung, Achtung der
Menschenrechte, Minderheitenschutz, Sozialstaatlich-
keit, unabhängige Gerichte, Meinungsfreiheit, Presse-
freiheit, Demonstrationsfreiheit, die Trennung von Staat
und Kirche – das Erbe der Aufklärung. Aber diese Rede
und diese Beschreibung Europas, die hätten Sie schon
vor zwei Jahren geben müssen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Diese Beschreibung Europas und damit die Abwehr
einer Verkürzung Europas auf das bloß Ökonomische
wurden bereits vor zwei Jahren in einer Reihe von Bei-
trägen meiner Fraktion von diesem Pult aus formuliert.
Kein Rettungsschirm und keine gemeinschaftliche An-
strengung sind deshalb zu groß, um dieses Europa für
500 Millionen Menschen, ihre Kinder und ihre Kindes-
kinder zu bewahren. Kleinmut würde dem nicht gerecht.


(Beifall bei der SPD)


Deutschlands Zukunft ist Europa. In diese Zukunft
werden wir investieren müssen, genauso wie wir in die
deutsche Wiedervereinigung investiert haben. Das end-
lich den Bürgern unseres Landes zu sagen, Frau Bundes-
kanzlerin, und zu erklären, das ist Ihre Pflicht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deutschland wird mit Blick auf Griechenland im Kon-
zert weiterer europäischer Länder weitere Verpflichtun-
gen übernehmen müssen. Sagen Sie das endlich den
Menschen!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


In der Welt des 21. Jahrhunderts braucht Europa eine
gemeinsame Stimme; denn es wird so sein, dass weder
der chinesische noch der indische Staatspräsident und
nicht einmal der US-amerikanische Präsident 27 euro-
päische Staats- und Regierungschefs anrufen wird, um
sich bei Ihnen nach der europäischen Auffassung in zen-
tralen Fragen wie Krieg und Frieden, Finanzarchitektur,
Weltklima, Menschenrechte zu erkundigen. Will sagen:
Entweder wir haben eine Stimme, oder wir haben keine
Stimme.


(Beifall bei der SPD)






Peer Steinbrück


(A) (C)



(D)(B)


Genau diese Gemeinsamkeit steht aber auf dem Spiel;
denn es ist offensichtlich, dass Europa an einer Weg-
gabelung steht. Für die Europäische Währungsunion
drückt sich das in einem nach wie vor pendelnden Kon-
flikt zwischen einer gemeinsamen Währung einerseits
und nationalen souveränen Rechten und Parlamentarisie-
rung auf der anderen Seite aus. Diesen Konflikt haben
wir bisher nicht aufgelöst. Entweder wir gehen den Weg
zurück in einen losen Staatenverbund mit einem gemein-
samen Markt, in dem jeder für sich selbst verantwortlich
ist, gegebenenfalls auch abstürzt, oder wir gehen den
Weg einer weiteren europäischen Einigung und der Par-
lamentarisierung. Das ist exakt die Grundsatzfrage, die
wir zu erörtern haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


So schwer es auch sein wird: Wir dürfen nicht zulas-
sen, dass aus diesem in 60 Jahren gebauten europäischen
Haus einzelne Steine wieder herausgebrochen werden.
Dies gilt auch dann, wenn einzelne Staaten Fehler und
Versäumnisse zu verantworten haben wie Griechenland
und wenn sie mit die Ursache für eine Krise ihrer eige-
nen Volkswirtschaft sind. Ist erst einmal der erste Stein
aus diesem Gebäude herausgebrochen, dann werden
weitere folgen. Deshalb, Frau Bundeskanzlerin, war es
ein so schwerer Fehler, dass Sie es zugelassen haben,
dass im Sommer dieses Jahres Ihre Koalition monate-
lang ein Mobbing gegen die Mitgliedschaft von Grie-
chenland in der Europäischen Währungsunion betrieben
hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Sie haben nicht eingegriffen. Sie haben sich nicht be-
kannt. Sie haben laviert. Sie haben Herrn Dobrindt ge-
währen lassen, der gesagt hat: „Ich sehe Griechenland
2013 außerhalb der Euro-Zone.“ Sie haben Herrn Söder
gewähren lassen, der an Griechenland sogar ein Exem-
pel statuieren wollte. Sie haben Herrn Rösler gewähren
lassen, der darauf hinwies, dass für ihn ein Austritt Grie-
chenlands längst seinen Schrecken verloren habe. Sie
haben Herrn Brüderle gewähren lassen, der einer Zei-
tung wörtlich gesagt hat, dass der Bitte Griechenlands,
noch einmal zwei Jahre Zeit zu erhalten, nachdem es
seine Verträge nicht erfüllt hat, nicht stattgegeben wer-
den sollte. Sie haben auch dem FDP-Generalsekretär
Döring nicht widersprochen, der die Folgen einer mögli-
chen griechischen Staatspleite für beherrschbar hielt.

Frau Bundeskanzlerin, Sie haben vor zwei Wochen
den früheren CDU-Vorsitzenden und ehemaligen Bun-
deskanzler Helmut Kohl geehrt. Ehre, wem Ehre ge-
bührt. Ich sage Ihnen: Weder Helmut Kohl noch einer
Ihrer Vorgänger hätte zugelassen, einen europäischen
Nachbarn derart für innenpolitische Händel zu missbrau-
chen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dieses Doppelspiel haben Sie uns und der deutschen
Öffentlichkeit sehr lange vorgespielt. Sie wollen die

Euro-Skeptiker in Ihrer eigenen Koalition und in Ihrem
politischen Anhang nicht verprellen. Sie wollen einer-
seits auf einer Stimmungswoge surfen, die sich maßgeb-
lich aus dem Ressentiment gegen eine deutsche Zahl-
meisterrolle speist. Aber Sie wollen andererseits
natürlich niemals in diese Woge eintauchen, weil Sie
darüber Ihre Stimme und Ihre Reputation in Brüssel ein-
büßen würden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Sie sind inzwischen eine Getriebene, die zu vielem so
lange Nein sagt, bis der Druck im Kessel der Realitäten
so stark wird, dass Sie schließlich Ja sagen müssen. Das
galt für den Kauf von Staatsanleihen durch die EZB im
Mai 2010. Das galt für den permanenten Rettungsschirm
ESM, den es nach einer Wette von Herrn Schäuble
eigentlich nie hätte geben sollen. Das galt für das
Draghi-Konzept des notfalls ungebremsten Aufkaufs
von Staatsanleihen. Das gilt für die Direktkapitalisierung
von Banken durch den ESM unter der Voraussetzung
einer Bankenunion, mit der Sie entgegen einem Be-
schluss des deutschen Haushaltsausschusses einen mas-
siven Systemwechsel vornehmen. Das gilt demnächst
wahrscheinlich auch für eine Fristverlängerung zur Er-
füllung der Sparauflagen für Griechenland, die Christine
Lagarde, Managing Director des IMF, gefordert hat.
Dies würde aber konsequenterweise zu einem dritten
Hilfspaket für Griechenland oder einer Aufstockung des
zweiten Hilfspaketes führen – und damit zu einer Befas-
sung des Deutschen Bundestages.


(Beifall bei der SPD)


Aber nun auf einmal – sehr genau registriert in der
letzten Woche; o Wunder! – gibt es eine 180-Grad-Wen-
dung: Kein Wort mehr von dem Rauswurf Griechen-
lands aus der Euro-Zone. Stattdessen erklärt Bundes-
finanzminister Schäuble in Singapur zur Frage eines
möglichen Austritts aus der Euro-Zone: „There will be
no Staatsbankrott“.


(Lachen bei der SPD)


Selbst Herr Brüderle säuselt, dass er eine zeitliche Ent-
koppelung für Athen zur Erfüllung der Reformauflagen
nicht mehr ausschließt. In einem luziden Anfall räumt er
ein, dass ein Aufschub auch Geld kostet.


(Heiterkeit bei der SPD)


Alle Achtung! Ja, aber um Himmels Willen, Frau Bun-
deskanzlerin, warum haben Sie denn ein solches Be-
kenntnis zum Verbleib von Griechenland nicht im
Sommer 2010 abgegeben?


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wo war Ihr zweites Fukushima, das Sie zu einer solchen
180-Grad-Wende in Europa und unter den Baum der
Erkenntnis von Herrn Schäuble gebracht hat?


(Beifall bei der SPD – Zurufe von der CDU/ CSU)






Peer Steinbrück


(A) (C)



(D)(B)


Das Phänomen der Verspätung ist auch in Ihrem heu-
tigen Beitrag deutlich geworden. Sie reden hier plötzlich
von einem zweiten Jacques-Delors-Plan – so als ob das
besonders originell ist. Sie sind nicht originell, Sie hin-
ken hinterher. Meine Fraktion hat von einem solchen
Plan schon vor zwei Jahren von diesem Pult aus gespro-
chen.


(Beifall bei der SPD)


Das Porzellan, meine Damen und Herren, das inzwi-
schen zerschlagen wurde, bleibt zerschlagen, und dieses
zerbrochene Porzellan in Europa ist gestörtes Vertrauen.
Sie haben übrigens auch zu häufig mit der ökonomi-
schen Macht Deutschlands gedroht oder zumindest dro-
hen lassen.


(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Kavallerie!)


In Frankreich fallen deshalb Worte vom industriellen
Imperialismus der Deutschen. Manche Stimme erhebt
sich, die fragt, ob wir wieder einen neuen Sonderweg ge-
hen. Selten war Deutschland in Europa so isoliert wie
heute.


(Beifall bei der SPD – Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP)


– Dann hören Sie sich genau um in den Hauptstädten
Europas. Wir werden jedenfalls noch lange nach Ihrer
Amtszeit spüren, Frau Bundeskanzlerin, welches Porzel-
lan dort zerschlagen worden ist.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Mit dem Thema haben Sie ordentlich abkassiert!)


– Werden Sie nicht nervös. Das war auch von Ihnen eine
ganz luzide Einlassung, ein Hinweis auf meine Honorar-
verträge. Damit habe ich gar nicht gerechnet.


(Heiterkeit bei der SPD)


Und was höre ich aus den Beratungen heute beim Präsi-
denten mit Blick auf Ihr Zustimmungsverhalten zu einer
Verschärfung der Transparenzrichtlinie?


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Vor allem, meine Damen und Herren, sind die Ergeb-
nisse Ihrer Politik völlig anders als von der Bundesregie-
rung vorhergesagt. Sie sagen tagaus, tagein und landauf,
landab, dass Sie Europa in eine Stabilitätsunion führen
wollen. Schauen wir uns die Realität an: Die
Jugendarbeitslosigkeit in sieben europäischen Ländern
ist größer als 25 Prozent; in vier Ländern ist sie größer
als 30 Prozent; in zwei Ländern ist sie sogar größer als
50 Prozent. Was halten diese jungen Menschen von
Europa und Demokratie, wenn sie sich so von der weite-
ren Entwicklung ausgeschlossen fühlen?


(Beifall bei der SPD)


Die Krise in den Südländern der Europäischen Union
bewegt zunehmend Menschen, ihr Land zu verlassen.
Die ökonomischen Perspektiven für die Euro-Zone sind
für das nächste Jahr alles andere als gut. Viele Länder

werden in einer Rezession landen, und auch in Deutsch-
land hat die goldene Zeit von 2010, 2011, 2012 erkennbar
und absehbar ein Ende. Es wird die Frage auftauchen, ob
Sie nicht gegebenenfalls auch die Kurzarbeitergeld-Re-
gelung wieder reaktivieren müssen, wie das die Gewerk-
schaften längst fordern, mit Blick darauf, dass insbeson-
dere Maschinenbau und Automobilbau wieder eine
Situation erleben, die dies erfordert.


(Beifall bei der SPD)


Es bleibt die Erkenntnis, Frau Bundeskanzlerin, dass
ohne Wachstum kein dauerhafter Schuldenabbau mög-
lich ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Nur an Ihnen ist diese Erkenntnis lange vorbeigegangen.
Ich sehe eine erste Revision, auch nachdem ich Ihre
Rede beim Deutschen Arbeitgebertag vor zwei Tagen
gelesen habe. Aber wir sind inzwischen weiter. Selbst
der IMF, der nicht im Verdacht orthodoxer sozialdemo-
kratischer Wirtschaftspolitik steht, hat in seinem Wirt-
schaftsausblick festgestellt, dass die Sparprogramme
inzwischen negative Auswirkungen auf die Wirtschafts-
leistungen der Länder haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Das Ergebnis dieser Politik ist, dass die Krise über die
Währungsfrage hinaus in den letzten Jahren keineswegs
kleiner geworden ist; sie ist größer geworden. Ihre Stabi-
litätsunion ist letztendlich nichts anderes als eine Fata
Morgana, die Luftspiegelung einer Scheinstabilität.

Allein Deutschland haftet inzwischen summa summa-
rum für 100 Milliarden Euro über die Rettungsschirme.
Wenn ich die möglichen Belastungen der Deutschen
Bundesbank hinzuzähle, ist das noch sehr viel mehr.

Ihrer Politik lag zumindest für eine lange Zeit – ich
bin mir nicht sicher, ob Sie noch zu Korrekturen bereit
sind – eine große Fehleinschätzung zugrunde. Diese
Fehleinschätzung lautete, die Krise einseitig für etwas zu
halten, das sie tatsächlich allenfalls nur in Teilen war,
nämlich eine Verschuldungskrise.


(Zuruf von der SPD: Ja!)


Der ursächliche Einfluss der Finanz- und Bankenkrise
– übrigens mit der Folge von Verschuldungen von Staa-
ten, weil sie zur Stabilisierung der Banken und für Kon-
junkturprogramme Geld aufnehmen mussten – und vor
allen Dingen auch die wirtschaftlichen Ungleichge-
wichte, die strukturellen Disparitäten innerhalb der Eu-
ropäischen Währungsunion und Europäischen Union
kamen in Ihrer Analyse nicht vor. Sie wurden ausgeblen-
det.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Aus einer einseitigen Krisenanalyse folgt dann auch lo-
gischerweise eine einseitige Therapie: Sparen, Sparen,
Sparen.

Um zu ermessen, wie groß die ökonomische Torheit
ist, die in der simplen Gleichung „Stabilität durch Spa-
ren“ liegt, sollten wir gemeinsam einen Ausflug in die





Peer Steinbrück


(A) (C)



(D)(B)


deutsche Geschichte machen. Denn die Brüning‘sche
Sparpolitik Anfang der 1930er-Jahre,


(Zurufe von der FDP: Oh!)


die genau dieser Logik folgte, hat eines garantiert nicht
gebracht, nämlich Stabilität und Prosperität.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Not zerstört Demokratie. Hunger frisst gesellschaftli-
che Stabilität, meine Damen und Herren. Das gilt auch
heute in den Ländern, die davon betroffen sind.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In einem solchen Europa herrscht aber auch kein Frie-
den. Denn der Frieden in Europa ist unabweisbar abhän-
gig von Friedlichkeit in den Mitgliedsländern, abhängig
von der sozialen Balance und der gesellschaftlichen Sta-
bilität in diesen Ländern, und diese ist in einigen Län-
dern inzwischen längst in einer Unwucht.

Die Geschichte unserer Eltern und Großeltern, meine
Damen und Herren, ist aber nicht die Geschichte einer
gesellschaftlichen Spaltung. Sie wussten, dass das Land
und sie selber nur eine Chance haben, wenn man sich
dem Wohl des Gemeinwesens und dem „Wohlstand für
Alle“ verpflichtet fühlt. Lautete so nicht ein Bestseller
Ihres Ahnherrn und wichtigen Impulsgebers für das Sys-
tem der sozialen Marktwirtschaft? Wir wollen darüber
reden, wie wir das wiederherstellen können. Wir haben
das in Deutschland schon einmal geschafft, und darum
geht es auch jetzt.

Es gilt für Deutschland wie für Europa: Wir müssen
in unserem Land und auf unserem Kontinent wieder eine
neue soziale Balance schaffen. Solange wir in Europa
nicht in der Lage sind, den Menschen wieder Hoffnung
zu geben, dass Anstrengungen und Fleiß sich lohnen,
dass es gerecht zugeht, dass niemand aus der Verantwor-
tung für das Gemeinwohl entlassen wird, dass all denje-
nigen geholfen wird, die unverschuldet in Not kommen,
und ihnen die Würde des Lebens durch Solidarleistun-
gen gewährleistet wird, so lange kommt Europa nicht
wieder auf die Beine.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Im Kern geht es darum, die bewährten Mechanismen
und den bewährten Ausgleich der sozialen Marktwirt-
schaft, die Deutschland stark gemacht hat, auf Europa zu
übertragen. Als Sozialdemokraten sagen wir ganz klar:
Ja, wir wollen stabile Verhältnisse in Europa. Und ja,
dazu sind auch Sparanstrengungen, Konsolidierung und
Strukturreformen notwendig. Wir wissen aber auch, dass
dies nur gelingen kann, wenn es in Europa auch Impulse
für Wachstum und Beschäftigung gibt und wenn es in
Europa gerecht zugeht.


(Beifall bei der SPD)


Vordringlich ist zweierlei: eine wirksame Banken-
und Finanzmarktregulierung und, ja, in der Tat auch eine
Bankenunion, zu der dann allerdings auch ein Banken-

fonds zur Rekapitalisierung von Banken gehört, der
nicht von den Steuerzahlern finanziert wird, sondern von
den Banken.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Zweitens gehört dazu ein echter Wachstums- und Be-
schäftigungspakt für Europa. Hier darf man daran erin-
nern, dass es zwei Jahre und 25 Gipfel gebraucht hat, um
Sie, Frau Bundeskanzlerin, und konservativ-liberale
Kräfte in Europa davon zu überzeugen, dass ein solcher
Wachstums- und Beschäftigungspakt benötigt wird.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE])


Der Punkt ist, dass nach dem Beschluss vom Juni
2012 wenig getan worden ist. Das denke ich mir nicht
aus, sondern, wie der Brief des Ratspräsidenten Van
Rompuy vom 8. Oktober über die konkrete Einlösung
der Ankündigungen dieses Beschäftigungs- und Wachs-
tumspaktes ausweist, ist bisher sehr wenig – um nicht zu
sagen: gar nichts – geschehen. Wir erwarten, dass der
Europäische Rat dies jetzt korrigiert und die Dinge auch
mit Blick auf die Tätigkeit der Europäischen Investi-
tionsbank ans Laufen bringt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Besonders gern schaut die Bundesregierung weg,
wenn es um die eigenen Hausarbeiten der Bundesrepu-
blik Deutschland geht. Vorsichtig formuliert: Es gibt von
dieser Bundesregierung keine Vorreiterrolle beim Schul-
denabbau in Europa.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Bei null Zinsen für deutsche Staatsanleihen, bei spru-
delnden Steuerquellen, bei entlastenden Effekten auf
dem Arbeitsmarkt müsste es doch möglich sein, die
Schuldenbremse des Grundgesetzes deutlich vor 2016
einzuhalten und diese Vorreiterrolle in Europa zu doku-
mentieren.

Im Übrigen: Wenn wir davon reden, dass die länder-
spezifischen Empfehlungen, die von der Kommission
gegeben werden, umgesetzt werden sollen, dann sehen
wir: Es ist Deutschland auch hier nicht der Vorreiter und
das Vorbild; denn in diesen länderspezifischen Empfeh-
lungen steht zum Beispiel drin: kein Betreuungsgeld.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Da steht explizit drin: Verzicht auf das unsägliche Be-
treuungsgeld. Es steht explizit drin: keine Steuersenkun-
gen. Und es steht explizit drin: die Einführung eines
Mindestlohns in Deutschland.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE])






Peer Steinbrück


(A) (C)



(D)(B)


Die Frage ist: Wie wollen Sie denn andere Länder zur
Befolgung der länderspezifischen Empfehlungen veran-
lassen, wenn Sie selber die auf uns bezogenen länderspe-
zifischen Empfehlungen gar nicht umsetzen und ignorie-
ren? Das stärkt ja nicht gerade die Glaubwürdigkeit, und
das stärkt auch nicht Ihre Reputation und die Stimme,
die Sie in diesem europäischen Konzert haben.

Für mich ist der Maßstab, wie wir als Sozialdemokra-
ten jetzt und im Weiteren die Vorschläge der Van-
Rompuy-Gruppe diskutieren, ziemlich einfach. Es geht
um vier Fragen:

Erstens: Wer zahlt für das vorgeschlagene Euro-Zo-
nen-Budget, wer haftet dafür?


(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Ja!)


Sind es zusätzliche Mittel, oder sind es Mittel, die ohne-
hin in der mittelfristigen Finanzplanung vorgesehen wer-
den? Gibt es, bezogen auf die Verwendung dieser Mittel,
eine demokratische Kontrolle?

Zweitens: Führen die Vorschläge nicht einfach nur zu
mehr Europa, sondern auch zu einem besseren Europa,
weil es eine bessere Bankenaufsicht und eine bessere
Bankenabsicherung gibt, weil es eine besser verzahnte
Wirtschafts- und Finanzpolitik gibt, weil es eben auch
neue Möglichkeiten für ein antizyklisches Verhalten
gibt? Oder verlieren sich die Vorschläge in der langen
Reihe von diversen Initiativen wie der Europa-2020-
Strategie, dem Euro-Plus-Pakt, dem Europäischen Se-
mester, dem Two-Pack, dem Six-Pack, dem Pakt für
Wachstum und Beschäftigung, dem Fiskalpakt? Ich
meine: Wer blickt da noch durch, und wer betreibt ei-
gentlich eine Wirkungsanalyse all dieser Initiativen?


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Drittens: Führen diese Vorschläge zu einem Mehr an
Demokratie, weil sie das Europäische Parlament einbin-
den und stärken, oder schreiben sie den Trend zu einer
„Vergipfelung“ der europäischen Politik fort?

Viertens: Wird Europa zwischen den 17 Mitgliedstaa-
ten der Europäischen Währungsunion und den 10 weite-
ren Mitgliedstaaten in der Europäischen Union auseinan-
dergetrieben, oder schaffen wir eine positive Dynamik
für ein handlungsfähiges Europa, das trotz gewisser Bin-
nendifferenzierung weiterhin zusammensteht und zu-
sammenhält?

Auf alle diese Fragen habe ich heute von Ihnen noch
keine Antworten bekommen, aber zu diesen Fragen wer-
den wir nachhaken und nacharbeiten müssen, Frau Bun-
deskanzlerin, wenn Sie die Zustimmung meiner Fraktion
zu wahrscheinlich notwendigen weiteren Rettungspake-
ten bekommen wollen.

War Europa nach dem verheerenden Zweiten Welt-
krieg zuallererst eine Friedensgemeinschaft und zugleich
in den Zeiten des Kalten Krieges vor allen Dingen ein
Raum für Frieden, Freiheit, Sicherheit und Wohlstand,
so sind seit 1989 die Aufgaben noch einmal gewachsen.
Die Erweiterung der Europäischen Union war die erste
Herausforderung, die von Europa als neues, als ungeteil-

tes Ganzes nach dem Wunder von 1989/90 gemeistert
wurde.

Die aktuelle Herausforderung ist die anhaltende
Krise, die eben nicht nur eine Krise unserer Währung ist.
Wir merken, dass diese Krise mehr als Geld kosten
könnte, nämlich Legitimation durch die Bürgerinnen
und Bürger. Wer die Einigung unseres Kontinentes in die
Zukunft fortentwickeln will, der braucht eine neue Be-
gründung, und diese Begründung kann, wie Sie richtig
sagen – ich stimme dem zu –, nicht mehr allein die Be-
zugnahme auf den Krieg zwischen 1914 und 1945 sein.
Das versteht vielleicht meine Generation, die noch in
Trümmergrundstücken großgeworden ist; aber schon un-
sere Kinder verstehen es nicht mehr. Europa muss sich
neu konstituieren und neu erklären.

Ob Klimawandel, Migration, Bevölkerungswachs-
tum, Rohstoffversorgung, Nahrungsmittelversorgung,
demografischer Wandel oder auch soziale Spaltungsten-
denzen – auf all diese globalen Herausforderungen mit
ihren teilweise dramatischen Konsequenzen für jede und
für jeden von uns, genau dafür kann Europa Antworten
liefern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dieses Europa, meine Damen und Herren, muss aber
ein Europa mit einem inneren Gleichgewicht und damit
ein sozial gerechtes Europa der Chancen für alle sein.
Nur ein solches Europa ist stark und attraktiv genug, alle
Mitgliedstaaten und den dort lebenden und arbeitenden
Menschen Freiheit, Frieden, Schutz, soziale Ordnung,
Sicherheit und Selbstbestimmung zu gewährleisten. Nur
wenn uns das gelingt, ein solches Europa in den Blick zu
nehmen, wird die Erfahrung der Regierenden wieder in
Übereinstimmung mit den Erfahrungen der Regierten zu
bringen sein. Es ist also an Ihnen zuerst, Frau Bundes-
kanzlerin, und an Ihrer Regierung, aber auch an uns allen
hier im Hause, dass wir diesen Weg konsequent und
konzentriert fortsetzen. Ihre Politik der letzten zwei
Jahre und auch Ihre heutige Rede sind dem nicht gerecht
geworden.

Vielen Dank.


(Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1719800400

Für die FDP-Fraktion erhält nun der Kollege Rainer

Brüderle das Wort.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Rainer Brüderle (FDP):
Rede ID: ID1719800500

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In den

letzten Wochen wurde viel über Nebentätigkeiten ge-
sprochen. Ich wollte dazu eigentlich nichts mehr sagen.


(Lachen des Abg. Jürgen Trittin – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da ist Ihnen der Spaß vergangen! – Sigmar Gabriel [SPD]: Das glaubt Ihnen kein Mensch!)






Rainer Brüderle


(A) (C)



(D)(B)


Es wurde von vielen Seiten vieles erklärt. Nicht alles hat
zum Ansehen von uns Parlamentariern beigetragen.

Aber nach Ihrer Rede muss ich doch eines betonen,
Herr Kollege Steinbrück: Bundeskanzler ist keine Ne-
bentätigkeit; das ist die schwierigste Aufgabe, die deut-
sche Politik zu vergeben hat.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darauf einen Schoppen Wein, Herr Brüderle! Hatten Sie schon einen?)


Heute sind Sie größtenteils den Beweis schuldig geblie-
ben, sich der Größe der Aufgabe bewusst zu sein.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Steinbrück weiß es besser – aber immer erst hinterher;
so ist es bei ihm.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Lehman-Pleite war für Sie ein amerikanisches Pro-
blem ohne Auswirkungen auf Deutschland. Kurze Zeit
später haben Sie erklärt:

Dass die Bundesrepublik Deutschland maßgeblich
mitgeschüttelt wird, ist kein Wunder.

Hypo Real Estate, IKB, WestLB: Bei jeder großen Ban-
kenpleite der letzten Jahre hatten Sie irgendwie Ihre Fin-
ger drin.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zurufe von der SPD: Was?)


Man ist versucht, zu sagen: Holt bloß nicht den
Steinbrück rein, sonst geht ihr pleite.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Widerspruch bei Abgeordneten der SPD)


Kürzlich haben Sie in der Welt am Sonntag vor Inflation
durch die Anleihenkäufe der EZB gewarnt. Da haben Sie
ökonomisch recht; ich unterstütze das. Aber vor einem
Jahr haben Sie erklärt – ich zitiere wörtlich –: Allerdings
zeigen die Fed der USA und die Bank of England, dass
in Krisenzeiten genau dies – gemeint ist die Staatsfinan-
zierung mit der Notenpresse – die Rolle von Notenban-
ken ist. – Das ist das komplette Gegenteil von dem, was
Sie heute behaupten.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


So wollten Sie die Inflationsmaschine anwerfen.

Was gilt denn nun? Wollen Sie die Bazooka für die
EZB, oder wollen Sie das nicht? Wollen Sie Zinssozia-
lismus durch Euro-Bonds, oder wollen Sie das nicht?
Wo bleibt Ihr Plan für Deutschland, für Europa?

Bei Steuererhöhungen liefern Sie sich einen Wettlauf
mit den Grünen. Auch da frage ich Sie: Was wollen Sie
denn nun? Wollen Sie wie der sozialistische Präsident in
Frankreich den Wachstumseinbruch durch Ihre Steuer-
erhöhungen auch noch verschärfen? 30 Milliarden Euro
Steuererhöhungen will die SPD. Das ist mehr als 1 Pro-
zent des Bruttoinlandsprodukts.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zu welchem Thema sind Sie denn angetreten?)


Die Bundesregierung und die Forschungsinstitute sagen
für 2013 ein Wirtschaftswachstum von 1 Prozent voraus.
Will die SPD, wollen Sie, Herr Steinbrück, die deutsche
Wirtschaft in eine Rezession führen?


(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Genau das machen Sie doch gerade!)


Herr Trittin hat am Wochenende ein wahres Enteig-
nungsprogramm für breite Teile der Bevölkerung ange-
kündigt. Die Vermögensteuerpläne von Trittin treffen
Millionen und nicht Millionäre. Das ist ein Anschlag auf
das Eigentum. Er will das auch noch rückwirkend ma-
chen. Da wird der demokratische Rechtsstaat einfach au-
ßer Kraft gesetzt. Hier kommen die alten Reflexe des
Kommunistischen Bundes Westdeutschland bei ihm
wieder hoch.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Diese Woche trat Herr Trittin bei der Bundesvereinigung
der Deutschen Arbeitgeberverbände in feinem Zwirn
auf; aber darunter trägt er immer noch das Mao-Jäck-
chen, das ist einfach seine Einstellung.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die christlich-liberale Koalition widmet sich den gro-
ßen Herausforderungen, vor denen Deutschland und Eu-
ropa stehen; das hat die Bundeskanzlerin heute sehr
deutlich gemacht. Die Europäische Union steht mitten in
der schwersten Bewährungsprobe ihrer Geschichte.
Ökonomen sagen: Die Euro-Zone ist kein optimaler
Währungsraum, zwei Dinge fehlen: die volle Mobilität
auf dem Arbeitsmarkt und die politische Union. Die
mangelnde Mobilität der Arbeitskräfte ändert sich ge-
rade, wenn auch unter dramatischen Vorzeichen, in Süd-
europa. Wer Europa als Ganzes sehen will, wird verste-
hen, dass Europa einen gemeinsamen Arbeitsmarkt
braucht. Deshalb ist zu begrüßen, wenn gut ausgebildete
Spanier oder Griechen einen Arbeitsplatz in Deutschland
suchen. Das ist ein Schritt der Integration und ein Schritt
zu einem einheitlichen Wirtschafts- und Währungsraum.

Die größere Herausforderung ist die politische Union.
Als der Euro eingeführt wurde, war es vor allem wegen
der Bedenken Frankreichs nicht möglich, damals eine
politische Union zu erreichen. Deshalb haben Helmut
Kohl, Hans-Dietrich Genscher und Theo Waigel den Sta-
bilitätspakt durchgesetzt. Das stabilitätspolitische Erbe,
das europapolitische Erbe von Helmut Kohl und Hans-
Dietrich Genscher wurde von Rot-Grün verspielt.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich verkenne nicht, was Gerhard Schröder im Inland
geleistet hat, die Agenda 2010. Das war eine große
Kraftanstrengung. Sie wird von den Liberalen meistens
mehr gewürdigt als von der Sozialdemokratie.





Rainer Brüderle


(A) (C)



(D)(B)


Aber Gerhard Schröder hat Europa nicht weiterentwi-
ckelt, sondern zurückentwickelt. Er hat einen Rück-
schritt gemacht. Er hat ein Stück Renationalisierung mit
auf den Weg gebracht. Gerhard Schröder sprach von
dem Euro als der „kränkelnden Frühgeburt“ – wörtlich.
Er hat seine Prophezeiung offensichtlich selbst erfüllen
wollen und gemeinsam mit Frankreich den Stabilitäts-
pakt beerdigt. Er hat Griechenland in die Europäische
Union aufgenommen, obwohl es nicht die Voraussetzun-
gen für den Euro hatte. Ihre eklatanten Fehler, Ihre
Scherben, die Sie hinterlassen haben, müssen wir heute
wegräumen. Das ist die Aufgabe, vor der wir stehen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Das ist alles falsch! – Weitere Zurufe von der SPD)


Ratspräsident Van Rompuy hat mit anderen Vor-
schläge für eine politische Union gemacht. Es ist ein mu-
tiger Entwurf, auch wenn wir Liberale nicht alles teilen,
was dort aufgeschrieben wurde. Den Ansatz eines Eu-
ropa der mehreren Geschwindigkeiten finde ich aber gut.
Alle sind eingeladen, mitzugehen. Wer aber nicht mitge-
hen will, soll diejenigen, die vorangehen wollen, nicht
aufhalten dürfen. Darum geht es. „A plusieurs vitesses“
fordert jetzt der französische Präsident. Europapolitisch
ist er in der Realität angekommen. Ich bin optimistisch,
dass er das finanzpolitisch auch noch hinbekommt.

Wir wollen, dass Europa erfolgreich ist. Dazu kann
ein Euro-Zonen-Budget sinnvoll sein. Exogene Schocks
können einzelne Länder der Währungsunion treffen.
Zum Auffangen solcher Schocks haben wir kein Instru-
ment. Aber man muss die Bedingungen eines solchen In-
struments auch klar definieren. Erstens. Es darf keine
Steighilfe für einen europäischen Finanzminister sein.
Zweitens. Es darf nicht der Einstieg in Euro-Bonds sein.
Und drittens. Es darf nicht der Anlass zur Einführung ei-
ner EU-Steuer sein.

Die Idee von Europa darf nicht darauf reduziert wer-
den, lediglich immer mehr Geld nach Brüssel zu über-
weisen. Wenn überhaupt, kann es dabei nur um eine Um-
schichtung bestehender Mittel gehen.

Nach der Präsidentschaftswahl in den USA erscheint
der nächste Troika-Bericht. Er muss ernst genommen
werden. Ich bin sehr gespannt, was der Kollege
Steinbrück dazu erklären wird; denn auch zum Thema
Griechenland hat er alles im Angebot: Früher hat er eine
Insolvenz gefordert. Dann hat er vor diesem Schritt ge-
warnt. Vor der Sommerpause war er gegen ein drittes
Griechenland-Paket. Heute ist er dafür.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: So ist er halt!)


Wie bei allen Reformen und großen Veränderungen wird
man meines Erachtens allenfalls in der Zeitachse über
kleine Zugeständnisse an die griechische Regierung re-
den können. Zeit kostet Geld. Das ist richtig. Eine Finan-
zierung von Reformpausen wird es nicht geben dürfen.
Keine Leistung ohne Gegenleistung. Das ist eine klare
Linie dieser Koalition.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Aber man darf sich nichts vormachen. Selbst wenn
Griechenland freiwillig zur Drachme zurückkehren
würde, bedeutet das kein Ende der Finanzhilfen. Grie-
chenland bleibt Mitglied der EU mit allen Pflichten und
Rechten, auch dem Recht auf Solidarität. Vor allem eines
weiß keiner: Wie ist es mit der Ansteckungsgefahr Grie-
chenlands? Es gibt die Kettentheorie, die besagt: Das
Auswechseln des schwächsten Glieds stärkt den Rest. Es
gibt die Dominotheorie: Wenn der Schwächste fällt, fal-
len die anderen hinterher. Beide Szenarien sind denkbar.
Beides sind Theorien, aber wir müssen in der Praxis Ent-
scheidungen treffen. Dabei helfen uns die Theorien
nicht. Sie nehmen uns die Entscheidung nicht ab. Für die
FDP ist der Weg der Entscheidung klar: Zuerst muss
Griechenland seine Hausaufgaben machen, dann muss
Griechenland die Klassenarbeit, sprich die Bewertung
durch die Troika, bestehen. Danach wird über die Verset-
zung entschieden. Ein Fass ohne Boden darf es nicht ge-
ben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Herr Oberlehrer!)


Meine Damen und Herren, die Europäische Union hat
– darauf sind wir alle ein Stück weit stolz – den Frie-
densnobelpreis bekommen. Das ist das erfolgreichste
Friedensprojekt der Geschichte. Jetzt geht aber die Dis-
kussion los: Wer holt den Preis ab?


(Elke Ferner [SPD]: Sie schon mal nicht! – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Wir machen es! Gysi holt ihn ab!)


Das zeigt: Europa hat noch immer nicht die eine Tele-
fonnummer, wie es Kissinger einmal ausgedrückt hat.
Aber wir machen gerade Fortschritte. Wir brauchen
klare Strukturen. Europa muss von den Bürgern getragen
werden. Es braucht verständiges Recht. Das Recht muss
eingehalten werden, das in Europa geschaffen und ver-
einbart wird. Wir haben Defizite. Ich nenne als Beispiel
die Stimmenverhältnisse bei der Europäischen Zentral-
bank. Dort ist Malta formal genauso stark wie Deutsch-
land. Das bildet weder die Wirtschaftskraft noch die Be-
völkerungszahl noch das Risiko ab, das Deutschland
gegebenenfalls zu tragen hätte. Auch bei den Wahlen
zum Europaparlament zählt eine deutsche Stimme weni-
ger als andere. Ein bürokratischer Superstaat ohne de-
mokratische Kontrolle ist falsch. Europa muss das Prin-
zip „One woman, one vote – one man, one vote“
erfüllen. Das ist Demokratie, die ihren Namen voll ver-
dient. Wir brauchen diese weitere Demokratisierung Eu-
ropas.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Was soll denn das heißen?)


Europa muss von einem Gefühl getragen werden. Eu-
ropa muss erlebt und gelebt werden. Europa muss ein
Stück Faszination bieten. Mit immer mehr Zentralisie-
rung und größerer Bürokratie erreichen wir das nicht.
Wir müssen die Herzen der Menschen erreichen, sonst
bleibt Europa ein Projekt der Eliten. Europa muss in sei-
nen Möglichkeiten erweitert werden, das aber solide und
stabil.





Rainer Brüderle


(A) (C)



(D)(B)


Da darf man nicht mit Illusionen oder kurzfristigen
Effekten operieren. Ebenso verfehlt ist die Vorstellung
der SPD, die die deutschen Exporte wieder drosseln will.
50 Prozent unserer Exporte gehen an unsere europäi-
schen Nachbarn. Weshalb wollen die Sozialdemokraten
den Arbeitnehmern die Aufträge für Exporte in die euro-
päischen Nachbarländer nehmen? Sie sollten einmal die
Realität anpacken, und Herr Steinbrück sollte sich da-
rüber klar werden, was er wirklich will, und nicht jedem
etwas bieten, wie es gerade passt.


(Zuruf von der SPD: Das ist eine Beleidigung!)


Steinbrück kann alles, nur nichts ist klar.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1719800600

Nächster Redner ist der Kollege Gregor Gysi für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719800700

Herr Bundestagspräsident! Meine Damen und Her-

ren! Heute hat der Bundestagswahlkampf offiziell hier
im Bundestag begonnen. Das ist schon ein bisschen
merkwürdig; denn es gibt noch gar kein Wahlrecht etc.


(Zuruf von der FDP: Wir sind aber auf einem guten Weg!)


Aber das lasse ich alles mal dahingestellt sein.

Es wird für Sie schwer werden, Frau Bundeskanzle-
rin, und auch für Sie, Herr Steinbrück, sich als Alternati-
ven zu präsentieren. Alle Europabeschlüsse haben Sie
zusammen gefasst.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Deregulierung der Finanzmärkte haben Sie unter der
Regierung von Frau Merkel gemeinsam betrieben. Die
prekäre Beschäftigung haben Sie in Deutschland in gro-
ßem Ausmaß eingeführt. Wo soll sich denn da eine wirk-
liche, knallharte Alternative abzeichnen, die wir meines
Erachtens brauchen?


(Beifall bei der LINKEN)


Viele haben sich hier zum Friedensnobelpreis für die
EU geäußert. Lassen Sie mich dazu etwas sagen: Die
Europäische Union hat es tatsächlich erreicht, dass
60 Jahre lang Frieden zwischen den Mitgliedsländern
herrschte. Das ist in Anbetracht der europäischen Ge-
schichte gar nicht hoch genug zu bewerten. Ich stelle
fest, dass man in Asien, Afrika und Lateinamerika regio-
nale Zusammenschlüsse wie die EU als erstrebenswert
ansieht.

Aber es gibt auch eine andere Seite der EU.

Erstens bin ich sowieso dagegen, dass Institutionen
ausgezeichnet werden. Dahinter stecken immer Men-
schen. Ich bin dafür, dass einzelne Menschen ausge-
zeichnet werden, die sich wirklich für den Frieden enga-
gieren.


(Beifall bei der LINKEN)


Zweitens sind die EU-Länder einschließlich Deutsch-
land an einer Vielzahl von Kriegen beteiligt. Die EU-
Länder sind äußerst hoch aufgerüstet und besonders
stark beim Export von Kriegswaffen, auch Deutschland.
Die EU strebt ferner ein eigenes Militär an, um endlich
auch an Kriegen außerhalb der EU teilnehmen zu kön-
nen. Dafür verdient man alles Mögliche, aber keinen
Friedensnobelpreis.


(Beifall bei der LINKEN)


Kommen wir nun aber zur Euro-Krise und damit auch
zu Griechenland. Ich muss feststellen: Die Bundesregie-
rung beginnt, in einigen Fragen zaghaft und vorsichtig
den Linken zu folgen.


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU – Sigmar Gabriel [SPD]: Bei aller Kritik an der Bundesregierung: Das wollen wir nicht hoffen!)


– Ja, Moment. Was Sie jetzt zum Teil zu Europa sagen,
ist das, was wir schon vor Jahren gesagt haben. Darf ich
den Mindestlohn als weiteres Beispiel anführen? Als Sie
noch dagegen waren, haben wir ihn schon längst vorge-
schlagen. Da waren auch noch die Grünen und die meis-
ten Gewerkschaften dagegen. Wir waren die Ersten, die
ihn gefordert haben. Heute klingt es in Deutschland so,
als seien alle dafür.


(Beifall bei der LINKEN)


Darf ich daran erinnern, dass Sie alle für die Einfüh-
rung der Praxisgebühr waren? Die Einzigen, die sich ge-
gen die Praxisgebühr ausgesprochen haben, waren wir.
Jetzt reden Sie alle dagegen.


(Beifall bei der LINKEN)


Auch bei der Finanztransaktionsteuer haben wir einiges
erlebt; darauf komme ich noch zurück.

Durch eine falsche Politik der EU und auch der Bun-
desregierung sind unerträgliche Verhältnisse in Grie-
chenland, Portugal, Italien und Spanien entstanden. Der
Druck wird immer größer, Griechenland nicht abzu-
bauen, sondern endlich aufzubauen.

Selbst der Internationale Währungsfonds beginnt jetzt
selbstkritisch festzustellen, dass die harten Kürzungs-
maßnahmen zulasten der Beschäftigten, zulasten des
Mittelstandes und zulasten der kleinen und mittleren Un-
ternehmen sowie der Rentnerinnen und Rentner nicht
nur übertrieben waren, sondern die Krise massiv ver-
schärft haben. Der Währungsfonds stellt die Kürzungs-
programme also generell infrage. Das ist ein miserables
Zeugnis für die Bundesregierung, die immer darauf be-
standen hat.


(Beifall bei der LINKEN)


Die jetzige griechische Regierung macht aber alle Kür-
zungen mit. Das Einzige, worum sie bittet, ist, dass sie
für die Reformen zwei Jahre mehr Zeit bekommt.

Herr Brüderle, es bleibt dabei: Es gab ein klares Nein
von Ihnen; es gab ein klares Nein der Bundesregierung.





Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)


Aber jetzt werden Merkel, Schäuble und Brüderle weich.
Warum? Mit dieser Frage hat sich auch Herr Steinbrück
beschäftigt; aber ich finde, er hat sie nicht vollständig
beantwortet. Ich komme noch darauf zurück.

In Griechenland betragen die Kürzungen der Löhne
und Gehälter in der Privatwirtschaft und der Renten jetzt
20 Prozent. Es gibt 30 Prozent weniger Steuereinnah-
men. Das ist ein unvorstellbarer Rückgang, und er resul-
tiert übrigens auch aus der Lohn- und Rentenkürzung.
Deshalb gibt es auch eine höhere Verschuldung. Die
Wirtschaftsleistung selbst ist um 20 Prozent zurückge-
gangen. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei fast 50 Pro-
zent. Das europäische Geld einschließlich des deutschen
Geldes wird auf diese Art und Weise in den Sand ge-
setzt. So kann Griechenland ja gar nicht zurückzahlen.
Ich behaupte: Das, was Sie hier angerichtet haben, ist
eine schwere Untreue zum Nachteil der Steuerzahlerin-
nen und Steuerzahler in Deutschland.


(Beifall bei der LINKEN)


Es müssen immer diejenigen die Kosten der Krise tra-
gen, die sie nicht verursacht haben. Warum haben die
Bundesregierung, der Internationale Währungsfonds, die
EU-Kommission und die Europäische Zentralbank bis-
her nie gefordert, dass diejenigen, die die Krise verur-
sacht und an ihr verdient haben, endlich auch die Kosten
tragen? Nun gibt es einen Zwischenbericht der drei Ein-
richtungen, und plötzlich werden Forderungen nach der
Belastung der stärkeren Schultern laut – spät, aber es be-
ginnt.

Den öffentlichen Schulden – das will ich Ihnen sagen
– stehen immer auch Vermögen gegenüber. Ich nenne Ih-
nen nur drei Beispiele: In Griechenland gibt es 300 Mil-
liarden Euro Schulden und ein Privatvermögen von
540 Milliarden Euro, und zwar nur bei den 2 000 reichs-
ten Familien, nicht etwa in der gesamten Bevölkerung.
In Portugal gibt es 190 Milliarden Euro Schulden und
553 Milliarden Euro privates Vermögen. Bei uns gibt es
2,1 Billionen Euro Schulden und 1,9 Billionen Euro Ver-
mögen nur bei den reichsten 0,6 Prozent der Bevölke-
rung, und die FDP schreit immer auf, wenn sie nur einen
halben Euro mehr bezahlen sollen. Das ist wirklich nicht
mehr nachvollziehbar.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir brauchen eine Vermögensabgabe und eine Vermö-
gensteuer. Aber die Devise der Bundesregierung ist und
bleibt eine Umverteilung von unten nach oben, nie in
umgekehrter Richtung.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1719800800

Herr Kollege Gysi, einen Augenblick, bitte. – Darf

ich darum bitten, dass wir auf der Regierungsbank


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


zumindest die Sicht auf den Redner wiederherstellen,
wenn schon nicht die allgemeine Aufmerksamkeit si-
chergestellt werden kann.


Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719800900

Wissen Sie, Frau Bundeskanzlerin, wenn zu Ihrer

Rede eine Aussprache stattfindet, sollte man ab und zu
auch einmal hinhören und nicht eine solche Arroganz an
den Tag legen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn sich nun aber etwas verändert – ganz vorsichtig –,
dann liegt das in erster Linie an den Protesten in Grie-
chenland, auch in Spanien und in Portugal. Die Bevölke-
rungen dort erzwingen eine Änderung der jeweiligen Re-
gierungspolitik, niemand anderes.


(Beifall bei der LINKEN)


Nachdem es so viel Kritik von Ihnen gab, sage ich: Ja,
unser Parteivorsitzender Bernd Riexinger hat in Grie-
chenland für soziale Gerechtigkeit mit demonstriert.


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Gegen Deutschland!)


Darüber regen Sie sich auf. Wir wollen doch mehr Eu-
ropa. Sagen Sie einmal: Darf ein Deutscher nicht in
Griechenland demonstrieren? Darf Ihrer Meinung nach
ein Grieche nicht in Deutschland demonstrieren? – Wo
leben wir hier eigentlich? Das ist doch eine Selbstver-
ständlichkeit.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich sage auch etwas zu den Hakenkreuzen, die dort
gezeigt wurden. Wir lehnen das genauso ab wie Sie.
Aber Sie müssen verstehen: Die Griechen verbinden Ha-
kenkreuze gar nicht mit den KZs und diesen Verbrechen,
sondern nur mit der Besatzungszeit. Trotzdem ist es völ-
lig falsch.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Gysi rechtfertigt Hakenkreuze! Sehr interessant!)


Herr Schäuble begeht jetzt den Fehler, zu sagen: Grie-
chenland bekommt ein Sperrkonto, damit das Geld ganz
sicher nur an Banken, Versicherungen und Hedgefonds
geht. – Kein einziger Euro soll für Investitionen einge-
setzt werden. Das ist doch eine Bevormundung. Lassen
Sie das sein!

Die Hakenkreuzfahnen sind trotzdem falsch.
Deutschland ist nicht faschistisch und die Kanzlerin erst
recht nicht. Das sehen wir genauso; das sagen wir auch
den Griechen. Die Vertreter der mit uns befreundeten
griechischen Partei tragen diese Fahnen auch nicht. Aber
das Demonstrieren für soziale Gerechtigkeit in Grie-
chenland ist mehr als berechtigt und dringend nötig.


(Beifall bei der LINKEN)


Jetzt nenne ich Ihnen den Grund für Ihre veränderte
Politik; Herr Steinbrück, Sie haben diesen Grund nicht
genannt. Frau Merkel war doch in China. Ich werde Ih-
nen etwas erzählen. Es gibt diese veränderte Haltung
nämlich auch wegen China. China möchte nicht nur den
Dollar als Weltwährung, sondern auch den Euro, damit
es ein bisschen spielen und anders auf dem Finanzmarkt
eingreifen kann.





Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)



(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie kennen sich ja in China aus!)


Deshalb hat China europäische Staatsanleihen aufge-
kauft. Das Handelsblatt hat geschrieben – nicht ich,
liebe Frau Künast –, dass es sich dabei um ein Viertel al-
ler Euro-Anleihen handelt, einschließlich der deutschen.

Nun waren Sie in China, Frau Bundeskanzlerin. Da
hat Ihnen der Ministerpräsident gesagt, dass China nicht
will, dass Griechenland aus dem Euro ausscheidet; denn
China geht davon aus, dass das den Euro zerstört. Er hat
Sie ein kleines bisschen genötigt und soll Ihnen gesagt
haben: Wenn Griechenland aus dem Euro ausscheidet,
wird China alle Euro-Staatsanleihen auf den Markt wer-
fen. – Dann hätten wir die nächste Krise. Ich sage Ihnen
auch, warum. Wenn so viele Euro-Staatsanleihen auf den
Markt geworfen werden, sind sie natürlich nichts mehr
wert. Dann ziehen sich die Investoren zurück, und es
kommt zu einer schweren Währungskrise. Deshalb fuhr
Frau Merkel danach nach Griechenland und sagte: Ihr
müsst bleiben. – Ich wundere mich, Frau Bundeskanzle-
rin – ich muss das einmal sagen –: Sie hören viel zu we-
nig auf uns, die demokratischen Sozialistinnen und So-
zialisten.


(Beifall bei der LINKEN – Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)


Aber auf die chinesischen Kommunistinnen und Kom-
munisten hören Sie. Das ist schon merkwürdig. Herr
Brüderle, Sie sollten einmal darüber nachdenken, wer
hier das Mao-Jäckchen trägt.


(Beifall bei der LINKEN)


Auf jeden Fall haben Sie, Frau Bundeskanzlerin, Sie,
Herr Steinbrück, und wir recht: Griechenland darf nicht
aus dem Euro gedrängt werden. Die Bertelsmann-Stif-
tung hat jetzt festgestellt: Wenn das passiert, erleben wir
eine Rezession der Weltwirtschaft und anschließend hef-
tige globale soziale Spannungen. – Wenn Sie nicht dafür
sind, dann hören Sie mit diesem Gerede auf. Ich sage
deshalb noch einmal: An Griechenland darf kein Exem-
pel statuiert werden, wie das der weltberühmte bayeri-
sche Ökonom Markus Söder forderte. Das geht völlig
daneben, wenn ich einmal darauf hinweisen darf.


(Beifall bei der LINKEN)


Was braucht Griechenland? Griechenland braucht ei-
nen Stopp der bisherigen Kürzungspolitik. Das sagt auch
die SPD. Aber, liebe SPD, dann können Sie hier nicht je-
dem Europabeschluss, der genau diese Kürzungspolitik
unterstreicht, zustimmen. Das ist nicht aufrichtig.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir brauchen endlich einen Marshallplan und Investitio-
nen. Dann – und nur dann – bekommen wir auch unser
Geld zurück. Es müsste direkte Konjunkturkredite und
einen direkten Kauf von Staatsanleihen durch die EZB
geben; es darf keinen Umweg über die privaten Banken
geben; die müssen wir dabei nicht reich machen. Das ist
durch die Verträge verboten – ich weiß das –, und des-
halb müssen die Verträge geändert werden. Wir brau-
chen einen weiteren Schuldenschnitt der Banken. Die

haben sich schon dumm und dämlich verdient; mehr
muss nicht sein. Wir brauchen endlich eine Heranzie-
hung der Vermögenden in der EU, auch wenn das Ver-
mögen im Ausland liegt.

Ich nenne immer drei Stichworte: Steuergerechtigkeit
brauchen wir. Steuerhinterziehung muss bekämpft wer-
den. Steuerflucht muss verhindert werden. – Zur Verhin-
derung von Steuerflucht – die Vermögenden ziehen im-
mer so gerne auf die Seychellen, nach Liechtenstein und
was weiß ich wohin – gibt es einen einfachen Weg: Wir
müssen in Deutschland und in ganz Europa lediglich
US-Recht einführen und die Steuerpflicht an die Staats-
bürgerschaft binden.


(Beifall des Abg. Alexander Ulrich [DIE LINKE])


Dann können sie wohnen, wo sie wollen, und sie können
ihr Vermögen hinbringen, wohin sie wollen; aber dann
bleiben die Deutschen hier steuerpflichtig, und die grie-
chischen Vermögenden bleiben in Griechenland steuer-
pflichtig. Warum führen wir das nicht ein? Ich habe da-
rauf noch keine vernünftige Antwort von Ihnen gehört.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Darüber hinaus muss es in Griechenland zu einer Hal-
bierung der Rüstungsausgaben kommen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Nun komme ich zur Finanztransaktionsteuer. Es gibt
jetzt elf Euro-Länder, die sie einführen wollen. Das ist
ein Erfolg der Antiglobalisierungsbewegung und auch
ein Erfolg der Linken.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie, Herr Steinbrück, haben im Haushaltsausschuss ge-
sagt, dass die Finanztransaktionsteuer eine sozialistische
Spinnerei sei.


(Peer Steinbrück [SPD]: Wann?)


– Ja, das liegt schon ein bisschen zurück. – Jetzt gibt es
nur zwei Möglichkeiten, Herr Steinbrück: Entweder sind
auch Sie ein sozialistischer Spinner, oder die Antigloba-
lisierungsbewegung und die Linken hatten schon damals
recht. – Äußern Sie sich doch einmal zu diesen beiden
Varianten!


(Beifall bei der LINKEN)


Bei der Umsetzung darf es aber keine Verwässerung
geben. Die Bundesregierung hat in ihrem Antrag an die
EU-Kommission nämlich darauf verzichtet, die Steuer
auch beim Devisenhandel anzuwenden. Aber genau das
hatten Union, FDP, SPD und Grüne anders vereinbart,
und ohne den Devisenhandel ist die Steuer natürlich we-
niger als die Hälfte wert.

Auch in Deutschland führt die Krise zu immer mehr
Verliererinnen und Verlierern. Dazu zählen Millionen
von Bürgerinnen und Bürgern, die private Lebensversi-
cherungen abgeschlossen haben oder Riester-Verträge
besitzen. Auch die betriebliche Altersvorsorge ist be-





Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)


droht; denn sämtliche Renditeversprechungen werden
Schritt für Schritt hinfällig.

Es gibt auch eine Krise der Realwirtschaft. Der Inter-
nationale Währungsfonds prognostiziert ein Wirtschafts-
wachstum in China von 8,2 Prozent, in den USA von
2,1 Prozent und in der Euro-Zone von minus 0,4 Pro-
zent. Damit wird die Euro-Krise zur größten Sorgen-
quelle der Weltwirtschaft. Lange Zeit haben viele ge-
glaubt: Deutschland trifft das nicht. Aber das ändert sich.
Durch die Kürzungsdiktate, durch die Senkung der
Kaufkraft in den südeuropäischen Ländern gehen jetzt
auch unsere Exporte zurück, und zwar immer deutlicher.
Ich nenne nur folgende Beispiele: Die Quote der Exporte
nach Portugal ist um 14,3 Prozent gesunken; die Quote
der Exporte nach Spanien ist um 9,4 Prozent gesunken;
die Quote der Exporte nach Griechenland ist um 9,2 Pro-
zent gesunken. Nun schildere ich Ihnen noch den Ab-
satzeinbruch bei der deutschen Automobilindustrie.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1719801000

Nein, Herr Gysi, das schildern Sie jetzt bitte nicht, je-

denfalls nicht in dem Umfang, den Sie offenkundig ge-
plant hatten.


Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719801100

Das ist sehr schade. Dann sage ich Ihnen nur: Es wa-

ren 11 Prozent; damit Sie es wissen, Herr Bundestags-
präsident.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1719801200

Ich hätte das natürlich ohnehin gewusst.


Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719801300

Zum Schluss sage ich Ihnen: Sie müssen Ihre Politik

in Europa ändern. Wenn Sie wollen, dass es mehr Eu-
ropa gibt, müssen Sie Europa auch für die Jugend attrak-
tiver machen. Dafür gibt es eine Bedingung: Die Umver-
teilung von unten nach oben muss beendet werden, und
mit einer gerechten Umverteilung von oben nach unten
muss begonnen werden. Anders werden Sie diese Krise
niemals meistern.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1719801400

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege

Volker Kauder.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Volker Kauder (CDU):
Rede ID: ID1719801500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Die Bundeskanzlerin hat in beeindruckender Präzision
und Klarheit beschrieben, was im europäischen Reform-
prozess auf uns zukommt.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Na ja! – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann hat sie das denn gemacht? Wann war das, Herr Kauder?)


Wir haben einige Fragen und Anmerkungen, aber – Frau
Bundeskanzlerin, das sollen Sie auch für die Beratungen
heute Abend und morgen wissen – die Richtung stimmt.
Wir stehen hinter Ihrer Politik in Europa.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Gut, dass das mal einer sagt!)


Herr Steinbrück, dass Sie das eine oder andere heute
zum ersten Mal von der Bundeskanzlerin gehört haben,
verwundert uns nicht. Seien Sie in Zukunft öfter an ei-
nem Donnerstag im Plenum! Dann wissen Sie, was die
Bundesregierung meint und worauf es wirklich an-
kommt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich empfehle Ihnen auch dringend, keine falsche Spur
zu legen, sondern die Dinge so zu sagen, wie sie wirklich
sind. Auf das Wort eines Bundeskanzlers muss Verlass
sein. Dahin gehend sind auch die Worte eines Kanzler-
kandidaten zu überprüfen. Wir wurden gerade informiert
– wir wussten das aber schon –, dass Ihre Aussagen zu
den Empfehlungen der Europäischen Kommission zum
Reformprogramm in Deutschland nicht zutreffend sind.
Dort steht in keinem einzigen Satz etwas über das Betreu-
ungsgeld. Darin steht etwas über die Ganztagsbetreuung.
Eine solche unzulässige Interpretation von Empfehlun-
gen, die im Amtsblatt veröffentlicht wurden, ist unzuläs-
sig, Herr Steinbrück.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zurufe von der CDU/CSU, an Abg. Peer Steinbrück [SPD] gewandt: Pfui!)


In den Empfehlungen steht etwas, was vermutlich
auch Sie, Herr Steinbrück, richtig finden. Sie haben
nicht darauf hingewiesen, dass in diesen Empfehlungen
steht, dass die Abgaben- und Steuerlast für Geringver-
dienende in Deutschland zu hoch ist, und Deutschland
ermahnt wird, genau dies zu ändern. Dazu könnten Sie
beitragen, indem Sie im Bundesrat endlich Ihre Blocka-
dehaltung aufgeben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Herr Kollege Steinbrück, da in den europäischen Emp-
fehlungen für Deutschland von einer zu hohen Abgaben-
last die Rede ist, wollen wir jetzt die Beiträge zur Ren-
tenversicherung reduzieren. Aber da machen Sie nicht
mit. Dort, wo die Empfehlungen klar aufzeigen, was zu
tun ist, verweigern Sie sich, weil Sie glauben, dass Sie
dies den Linken in Ihrer Partei nicht zumuten können.
Das ist die eigentliche Position.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Herr Kollege Steinbrück, Sie müssen sich die Frage
gefallen lassen, was noch gilt. Auf das Wort eines Kanz-
lers und auch auf das eines Kanzlerkandidaten muss Ver-
lass sein. Sie haben heute hier davon gesprochen, dass
wir Wachstum brauchen. Richtig! Wir haben in Europa
ein Wachstumspaket aufgelegt und in diesem Zusam-
menhang klare Positionen formuliert. Im Übrigen war
schon im Vertrag von Lissabon ein Wachstumspaket vor-
gesehen. Wenn sich alle an das gehalten hätten, was da-





Volker Kauder


(A) (C)



(D)(B)


mals in Lissabon vereinbart worden ist – wir haben uns
daran gehalten –, wären wir schon ein gewaltiges Stück
weiter.

Jetzt komme ich zum Thema. Wer wirklich Wachstum
will, Herr Kollege Steinbrück, der kann doch nicht in
Deutschland das Wachstum abwürgen. Genau das würde
geschehen, wenn Ihre Vermögensabgabe oder Vermö-
gensteuer eingeführt würde. Genau dadurch würde das
Wachstum gebremst. Jetzt sage ich Ihnen einmal, was
Kollege Steinbrück hier vor einiger Zeit richtigerweise
gesagt hat. Er hat gesagt, eine Vermögensteuer sei des-
halb falsch, weil sie im Ertrag zu wenig bringe und weil
die Probleme in der Abgrenzung zu unseren Familienbe-
trieben zu groß seien.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Peer Steinbrück [SPD]: Das stimmt!)


– Er sagt jetzt auch noch, dass das stimmt. – Wenn Sie
bestätigen, dass es stimmt, dass eine Vermögensteuer für
unsere Betriebe schädlich ist: Wie können Sie sich dann
hier hinstellen und erzählen, dass Sie eine Vermögensab-
gabe, eine Vermögensteuer wollen?


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich habe weder vom Kollegen Trittin noch von Ihnen
bisher eine verfassungsgemäße Lösung für dieses Pro-
blem gesehen.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch! Die liegt vor! Sie müssen sie nur lesen! Lesen bildet, Herr Kauder!)


– Nein, nein, Herr Trittin. – Ich kann nur sagen: Wer
Wachstum will, darf nicht denjenigen Geld wegnehmen,
die es brauchen, um zu investieren, damit Wachstum in
unserem Land entsteht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lachen des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Deshalb sind Sie auf der völlig falschen Fährte.

Ich halte fest: Wenn Sie die Empfehlungen für
Deutschland wirklich umsetzen wollen, dann müssen Sie
jetzt im Bundesrat ganz schnell den Steuervorhaben zu-
stimmen und zustimmen, dass wir die Beiträge zur Ren-
tenversicherung senken. An diesen beiden Punkten wer-
den wir Sie messen. Daran werden wir sehen, ob Sie
tatsächlich bereit sind, in Europa das Notwendige zu tun.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Herr Kollege Steinbrück, wir brauchen gerade von Ih-
nen keine Belehrungen


(Peer Steinbrück [SPD]: Doch!)


zum Umgang in Europa. Wie Sie sich hinsichtlich der
Schweiz verhalten haben, das ist kein Beispiel für den
Umgang in Europa. Herr Kollege Steinbrück, das ist
wahrhaftig kein Beispiel.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich rate Ihnen, nicht mit einer solchen Arroganz aufzu-
treten.


(Peer Steinbrück [SPD]: Nein! Nein! Ihre Leisetreterei hat gar nichts gebracht! Ihre Leisetreterei ist mit verantwortlich für die Entwicklung!)


– Herr Steinbrück, ich kenne Sie aus den Zeiten der Gro-
ßen Koalition gut. Da habe ich vieles an Ihnen geschätzt.
Aber Sie zeigen jetzt wieder etwas, das ich damals schon
erlebt habe: eine persönliche Dünnhäutigkeit. Sie sind
sehr gut im Austeilen; aber Sie müssen auch im Einste-
cken gut werden. Herr Kollege, merken Sie sich das.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir stehen vor entscheidenden Veränderungen in Eu-
ropa. Wir wissen, dass wir mehr Europa brauchen. Wir
wissen, dass eine intensive Diskussion darüber stattfin-
det. Die Bundeskanzlerin hat recht, wenn sie sagt: Dis-
kussionen als Vielstimmigkeit zu beklagen, kann als Er-
gebnis nur haben, dass wir gar nicht mehr darüber reden,
wie es weitergehen soll. Wenn wir als nationales Parla-
ment die Aufgabe haben, die Entwicklung Europas mit-
zugestalten, dann muss auch darüber diskutiert werden.

Ich kann nur sagen: Ich habe mich heute Morgen sehr
gewundert. Zu keinem einzigen wesentlichen Punkt kam
eine Antwort auf die Fragen, die sich gerade in der Dis-
kussion befinden; wohl aber gab es einen geradezu fle-
henden Ruf von Ihnen, Herr Kollege Steinbrück, man
möge möglichst viel Geld nach Griechenland schicken.
Sie hätten sagen müssen: Wir müssen in Griechenland
dafür werben, dass die notwendigen Reformen durchge-
führt werden. – Nur das hilft dem Land, nicht aber sol-
che Sprüche, wir müssten auf jeden Fall mehr Geld ge-
ben.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das hat er doch gar nicht gesagt!)


Wir sind uns der Solidarität bewusst. Aber ohne Gegen-
leistung kann es keine Leistung geben. Diesen Satz habe
ich von Ihnen nicht gehört.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deswegen glaube ich, dass Sie kein guter Vertreter deut-
scher und europäischer Interessen sein können.

Wenn wir Europa wettbewerbsfähig machen wollen,
müssen alle mitmachen. Das gilt für alle in Europa.
Auch wir haben, wie ich vorhin an zwei Beispielen ge-
zeigt habe, Bedarf, noch etwas zu verändern. Aber wir
müssen klar und deutlich im Interesse vor allem der jun-
gen Generation sagen: Es müssen Strukturen geschaffen
werden, die Arbeitsplätze ermöglichen. – Spanien ist
beispielsweise auf einem guten Weg, ein duales Ausbil-
dungssystem auf den Weg zu bringen. Portugal ist bei-
spielsweise dabei, entsprechende Strukturveränderungen
vorzunehmen. Wer glaubt, den Menschen immer nur mit
mehr Geld helfen zu können,


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Wer sagt denn das?)






Volker Kauder


(A) (C)



(D)(B)


der wird merken, dass genau das Gegenteil eintritt; denn
an Geld hat es in Griechenland bisher nicht gemangelt,
sondern an dem Willen, etwas zu verändern. Das muss
nun vorangebracht werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Frau Bundeskanzlerin, ich bin Ihnen dankbar dafür,
dass Sie das Augenmerk auch auf ein Thema gelenkt ha-
ben, das für uns im Parlament von besonderer Wichtig-
keit ist; ich habe das schon das letzte Mal angesprochen.
Ein Mehr an Europa kann nicht ein Mehr an Europa von
Bürokratie, Kommissionen und vielem anderem bedeu-
ten, sondern ein Mehr an Europa muss ein Mehr an de-
mokratischer Legitimation bedeuten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Deswegen werden wir in der Koalition einer Übertra-
gung von neuen Kompetenzen nur nachgeben können,
wenn wir wissen, welche Kompetenzen, die aus der na-
tionalen parlamentarischen Kontrolle übertragen wer-
den, in eine neue parlamentarische Kontrolle hineinkom-
men.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Mehr Räten ohne parlamentarische Legitimation werden
wir nicht zustimmen können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dies ist ein zentraler Punkt für uns; darüber müssen wir
als Parlament intensiv diskutieren.

Ich bin auch ganz klar der Meinung, dass wir für eine
dauerhafte Lösung in Europa – und damit, Herr Trittin,
zu Ihrem Zwischenruf von vorhin – nicht das als Maß-
stab nehmen können, was in einer Krise notwendig ist.
Deswegen kann nicht eine Schuldenunion, eine Alt-
schuldenunion und die Einführung von Euro-Bonds
Maßstab sein.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen Sie doch gerade!)


Vielmehr muss klar und deutlich sein, dass jeder so
lange Verantwortung für seine nationale Politik trägt, bis
wir eine gemeinsame Aufsicht, eine Bankenaufsicht,
eine Haushaltsaufsicht haben. Sie reden einer Verge-
meinschaftung von Schulden und Geldanleihen das Wort
und nehmen damit den Druck heraus, die notwendigen
Regelungen zu treffen, die Voraussetzung dafür sein
könnten, über so etwas überhaupt erst nachzudenken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das ist Quatsch! Das ist primitiv, weil es falsch ist!)


Ich kann nur sagen, Herr Kollege Steinbrück, nicht
weil ich der Koalition angehöre, der auch die Bundes-
kanzlerin und der Vizekanzler angehören, sondern weil
es sich heute Morgen wieder einmal gezeigt hat: Wir
können froh und dankbar sein, dass diese Koalition in
dieser schwierigen Zeit unser Land regiert und Angela
Merkel die Interessen unseres Landes in Europa vertritt.


(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1719801600

Nächste Rednerin ist die Kollegin Renate Künast,

Bündnis 90/Die Grünen.


Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719801700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber

Herr Kollege Kauder, lassen Sie mich am Anfang eine
halbe Minute dafür verwenden, Sie darauf hinzuweisen,
wie die europäischen Empfehlungen zur deutschen
Haushaltspolitik lauteten. Ja, das Wort Betreuungsgeld
wird nicht ausdrücklich erwähnt,


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Aha! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU: So, so! – Na also!)


vielleicht deshalb nicht, weil man auf europäischer
Ebene gar nicht so schlecht und so kurios denken kann,


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Na ja! – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Versuch gescheitert!)


dass man wirklich glaubt, in Deutschland würde so et-
was eingeführt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Hören Sie doch auf! Ihr Versuch ist schon gescheitert!)


Aber, meine Damen und Herren, in den Empfehlungen
steht, dass Deutschland aufgefordert ist, eine Ganztags-
betreuung einzurichten bzw. Ganztagsschulen für die
Kinder des Landes zu bauen;


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Machen wir doch!)


das hält man auf europäischer Ebene in wirtschaftlicher
und sozialer Hinsicht nämlich für richtig. Sie können
Ganztagsbetreuung und Ganztagsschulen gerne als abso-
lutes Gegenstück zum Betreuungsgeld verstehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE])


Was Sie nicht erwähnt haben, Herr Kauder – daran
zeigt sich Ihr Hang zur Vollständigkeit –: In den Emp-
fehlungen steht auch, dass das Ehegattensplitting abge-
schmolzen werden muss, um die Kinder in diesem Land
zu finanzieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE])


Herr Kollege Steinbrück, das hatten Sie ganz vergessen,
zu erwähnen. Woran lag das? Wir werden es sehen.

Nun zur Regierungserklärung der Kanzlerin. Frau
Merkel, es hat mir nicht gereicht, dass Sie hier und heute
den Friedensnobelpreis für die EU erwähnt und lediglich
gesagt haben, wie schön dieser Schatz in unserer Hand
ist. Eine Bemerkung kann ich mir an dieser Stelle nicht





Renate Künast


(A) (C)



(D)(B)


verkneifen: Auf der einen Seite erleben wir, dass die Eu-
ropäische Union den Friedensnobelpreis bekommt, und
wir sehen, welchen Schatz wir in der Hand halten. In der
gleichen Woche werden auf der anderen Seite Sinti und
Roma, die in Serbien und Mazedonien in Bretterbuden
gehaust haben und den Winter fürchteten, als sie nach
Deutschland kommen, bezichtigt, Asylmissbrauch zu
betreiben. Meine Damen und Herren, das ist eines Frie-
densnobelpreisträgers nicht würdig. Das hat mir nicht
gereicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Mir hat auch nicht gereicht, was Sie aus der gegen-
wärtigen Verschnaufpause, bedingt durch den Anleihen-
kauf der EZB, gemacht haben. Sie haben lange zugelas-
sen, Frau Merkel – auch wenn Sie gerade etwas anderes
gesagt haben –, dass es in der Europapolitik und in der
Griechenland-Politik Deutschlands zu einer Art Söderi-
sierung kam. Das ist, glaube ich, so ziemlich das
Schlimmste, was man erleben kann:


(Beifall der Abg. Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


die Stammtischadler, die in Kneipen über den Stamm-
tischen im Luftraum kreisen und nicht daran denken,
was für Deutschland und Europa gut ist. Auch an dieser
Stelle kamen Sie zu spät, Frau Merkel.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sie kamen zu spät – das kann ich Ihnen nicht ersparen –,
obwohl Sie hier und heute gesagt haben, Deutschland sei
in vielen Bereichen vorangegangen. Sie redeten über den
Delors-Plan. Ja, über den hätten wir vor zweieinhalb
Jahren reden können. Wo ist Deutschland da vorange-
gangen? Sie redeten über den Europäischen Stabilitäts-
mechanismus. Wir hätten ihn gerne schon im letzten
Herbst verabschiedet. Aber Sie haben sich nicht dürfen
getraut, weil Ihre Truppe offensichtlich nicht mitge-
macht hätte.

Wenn wir über Euro-Bonds und eine wirklich ge-
meinschaftliche Haftung reden, sagen Sie: „Das wollen
wir nicht“, um am Ende, wenn auch immer spät, doch
umzufallen. Ein Beispiel dafür sind die EZB-Anleihen.
In welchem Umfang haftet Deutschland? Wir haften für
27 Prozent. Was ist denn das? Ein anderes Beispiel ist
die Diskussion über eine extra Finanzkapazität für den
Euro-Raum. Das alles sind Themen, bei denen wir ers-
tens sehen, dass Sie wieder zu spät dran sind, und bei de-
nen wir zweitens sehen, dass Sie am Ende doch umfal-
len.

Es war mir auch zu wenig, dass es in Ihrer heutigen
Rede nur um das Paket ging.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie haben heute keine wirkliche Perspektive aufgezeigt
und keine Reformen vorgeschlagen. Ich muss Ihnen
auch sagen: Sie haben heute nicht die ganze Wahrheit
gesagt.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Na, na!)


An dieser Stelle müssen wir kurz über Griechenland
reden. Schäuble hat ja am Sonntag letzter Woche in
Singapur gesagt: „… there will be no Staatsbankrott in
Greece“. Das kommt auch zweieinhalb Jahre zu spät.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Er hat deutsch gesprochen, der Schäuble!)


Was kommt jetzt? Jetzt kommt die Idee eines Sperr-
kontos, auf das die Gelder für die Griechen eingezahlt
werden sollen. Was ist das nun wieder, Frau Merkel?
Das ist eine Art Alibi dafür, dass erst die Schulden ge-
tilgt werden. Dahinter steckt, dass in Griechenland die
Notenpresse angeworfen wird, um seine Probleme vor
Ort zu lösen. Ich kann Ihnen nur sagen, Frau Merkel: Sa-
gen Sie doch die ganze Wahrheit! Das ist wieder eine
krude Idee, weil Sie sich nicht trauen, zu sagen: „Es wird
in diesem Hause ein drittes Griechenland-Paket geben“;
denn Sie trauen sich nie, die ganze Wahrheit zu sagen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Herrn Kauder möchte ich bezüglich Griechenland sa-
gen: Es tut mir wirklich weh, dass Sie an dieser Stelle
Richtung Griechenland schlicht und einfach rufen: Es
mangelt am Willen, zu verändern. Damit stehen Sie übri-
gens im Dissens zu Ihrer Kanzlerin, die ja gerade gesagt
hat, sie habe erfahren, in Griechenland wolle man doch
etwas ändern.


(Zuruf von der SPD: Richtig! – Volker Kauder [CDU/CSU]: Ich habe von Lissabon gesprochen!)


Herr Kauder, was mich daran ärgert, ist, dass Sie hier
als konservativer Europäer stehen, der von der Ehe ja
vielleicht etwas verstehen sollte. Oder? Zu der Ehe heißt
es: in guten wie in schlechten Zeiten.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das machen wir ja auch!)


Ich kann nur sagen: Das heißt es auch in der Europäi-
schen Union. In guten wie in schlechten Zeiten!


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das machen wir ja auch!)


Deshalb darf man heute nicht einfach nur kritisieren,
sondern muss in diesen Zeiten den 50 Prozent arbeitslo-
sen Jugendlichen in Griechenland sagen: Ja, wir küm-
mern uns darum, dass ihr eine Perspektive bekommt. –
Darüber habe ich nur wenig gehört.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Volker Kauder [CDU/ CSU]: Da braucht man sich nicht zu fragen, warum Sie in Berlin nicht gewonnen haben!)


Ich habe eigentlich nichts über das europäische Inves-
titionsprogramm gehört, das wir hier im Juli verabschie-
det haben, als wir uns wegen Spanien getroffen haben.
Wo ist denn dieses europäische Investitionsprogramm?
Wo wird es denn eigentlich umgesetzt? Wo ist das Geld?


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: In dieser Woche!)






Renate Künast


(A) (C)



(D)(B)


Sie reden hier über Wachstum. Wir haben zu dem ent-
sprechenden Zeitpunkt doch gesagt, wofür wir Gelder
investieren wollen, damit sich zum Beispiel Griechen-
land, aber nicht nur Griechenland, modernisieren und
wirtschaftlich entwickeln kann: den Schienenverkehr,
den öffentlichen Verkehr, die Energie. Wo ist dieses Pro-
gramm? Sie sagen: Deutschland geht voran. Ich sage
Ihnen: Deutschland hat nicht einmal die Hausaufgaben
gemacht, die wir hier im Deutschen Bundestag verein-
bart haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Volker Kauder [CDU/ CSU]: Jawohl, Frau Lehrerin!)


– So ist es.

Nun zu den Vorschlägen, die im Detail gemacht wor-
den sind. Schauen wir uns einmal die Vorschläge von
Van Rompuy bzw. der vier Präsidenten an. Sie sind ja
auch im Auftrag der Bundeskanzlerin auf den Weg ge-
bracht worden. Was wollen wir denn jetzt eigentlich?
Van Rompuy oder Schäuble? Es ist schon eine gewisse
Chuzpe, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Be-
richts der vier Präsidenten zu sagen: Nun schlagen wir
wieder einmal das Gegenteil vor. – Das ist das typische
von Merkel und Schwarz-Gelb in Europa angerichtete
Chaos.

Im Bericht von Van Rompuy bzw. der vier Präsiden-
ten werden einige Punkte angesprochen: der Schuldentil-
gungsfonds, die Bankenaufsicht, eine bessere Überwa-
chung der nationalen Haushalte usw. Sie sind am Ende
aber doch wieder nur Skeptiker. Ich will das einmal an
den vier Punkten deutlich machen, die ja nicht Sie erfun-
den haben, sondern im Bericht der Präsidenten stehen:

Erstens. Die gemeinsame Finanzmarktpolitik. Sie
wollen jetzt auch eine Finanzmarktaufsicht bis Ende des
Jahres. Ich kann das ja nur begrüßen, weil Sie bisher alle
immer nur mit Samthandschuhen angefasst haben.

Eine effiziente Regulierung wollen wir jetzt aber auch
sehen. Das heißt, wir brauchen eine europäische Ab-
wicklungseinheit oder eine europäische Einlagensiche-
rung. Sie, Frau Merkel, haben an dieser Stelle am Ende
aber doch wieder nur Andeutungen gemacht.

Zweitens. Die gemeinsame Fiskalpolitik. Wir spre-
chen uns für mehr Haushaltsdisziplin aus. Ja, aber die
vier Präsidenten – darauf gehen Sie am Ende nicht ein –
reden über die mögliche Einführung eines Altschulden-
tilgungsfonds. Schon wieder verweisen sie darauf, dass
ein Altschuldentilgungsfonds nötig ist, allein schon, um
den Zinsdruck für die betroffenen Mitgliedstaaten zu
verringern. Das würde der Fonds ermöglichen. Was ha-
ben Sie zur Zinsdrucksenkung angeboten, Frau Merkel?
Bis zum Augenblick eigentlich gar nichts!

Drittens. Die gemeinsame Wirtschaftspolitik. Ihren
Reden, Frau Merkel, folgen nie Taten. Bislang hat sich
die Bundesregierung eben nicht wirklich für eine Har-
monisierung der Steuerpolitik oder gegen Steuerdum-
ping eingesetzt.

Wo ist Ihre Arbeitsmarktpolitik? Deutschland war
bisher kein Vorkämpfer für eine europäische Regelung.

Gegen die Jugendarbeitslosigkeit – ich habe es schon ge-
sagt – haben Sie auch kein konkretes Programm. Das
sind Sie heute schuldig geblieben.

Am Ende wollen Sie sogar eher noch den europäi-
schen Haushalt kürzen, aus dem man solche Programme
finanzieren könnte. An dieser Stelle, Frau Merkel, sind
Sie nicht glaubwürdig. Sie reden zwar immer für das
Soziale, aber trotzdem wollen Sie den europäischen
Haushalt kürzen, sodass Sie das Soziale dann eben nicht
mehr finanzieren können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Zu dem vierten Aspekt, der stärkeren demokratischen
Legitimation, die Van Rompuy und andere vorschlagen,
kann man ja sagen: Deutschland steht dafür – im wahrs-
ten Sinne des Wortes –, die europäischen Institutionen zu
schwächen.

Nun zu einigen Ihrer Detailvorschläge, die wilden
und unabgestimmten Vorschläge von Herrn Schäuble,
die Sie heute auch wieder benannt haben. Gucken wir
uns das einmal an. Da soll jetzt ein Mann in Brüssel den
Daumen heben oder senken


(Lachen des Abg. Peer Steinbrück [SPD])


über den Haushaltsplan eines demokratisch gewählten
Parlaments. Meine Damen und Herren, wir wollen mehr
Haushaltsdisziplin und durchaus ein Stück Aufsicht an
dieser Stelle. Aber was schlagen Sie faktisch vor, weil
Sie eben nicht weitergehen? Sie schlagen doch faktisch
einen Supermann, einen Superkommissar vor: Der ist
dann sozusagen Erster in einer Kommission. Das spaltet
die Europäische Kommission, weil es Kommissare un-
terschiedlichster – –


(Gisela Piltz [FDP]: Können Sie sich auch vorstellen, dass es eine Frau wird?)


– Bei Ihnen kann ich mir sofort vorstellen, dass es eine
Frau wird, Frau Piltz. Machen Sie erst einmal die Quote
in Aufsichtsräten, bevor Sie einen solchen Zwischenruf
machen!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ihr Vorschlag ist ein Superkommissar als Erster unter
Gleichen in einer Kommission. Und wer sucht den dann
aus, meine Damen und Herren?


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie!)


Im Gemauschel, im Hinterzimmer die Regierungen wie-
der, meine Damen und Herren. Dann hätten Sie doch
mindestens an dieser Stelle sagen müssen, wie Sie sich
das vorstellen. Ein ausgemauschelter Kommissar, bei
dem das Parlament den Gesamtblock wählt, ist doch
nicht demokratischer. Dann hätten Sie an dieser Stelle
sagen müssen: Diese Person wird durch das Europäische
Parlament eigenständig gewählt und könnte auch abge-
wählt werden. Das wäre das Mindeste; aber das trauen
Sie sich wieder nicht, weil es dann aus dem Hinterzim-
mer raus und rein ins Europäische Parlament geht, meine
Damen und Herren.





Renate Künast


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Frau Künast, wir machen eine Mitgliederbefragung!)


Alle Ihre Vorschläge sind meines Erachtens viel zu eng
geworden. Am Ende muss ich sagen: Was ich mir ge-
wünscht hätte


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Eine Mitgliederbefragung machen wir!)


– ich komme gleich zur Mitgliederbefragung, Herr
Kauder –, wäre, bei Ihren Worten am Ende über die
Kraft Europas, darüber, dass Europa mehr als Wäh-
rungs-, Geld- und Haushaltspolitik ist, wenn wirklich
klar gesagt würde: Wir wollen ein ökologisches und
soziales Europa.

Sie haben über Talente und Technologien geredet.
Dann sagen Sie es doch wirklich: Ein Europa, das mit
seinen Nachbarn gut zusammenlebt, das nicht auf Kos-
ten anderer Menschen irgendwo auf der Welt lebt, das
nicht auf Kosten der Jugend lebt, meine Damen und Her-
ren. Dieses Europa – das haben Sie verpasst, Frau
Merkel – braucht jetzt dringend jenseits des Dickichts
der aktuellen Verhandlungen einen europäischen Kon-
vent unter Beteiligung –


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719801800

Frau Kollegin.


Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719801900

– mein letzter Satz – der Sozialpartner, unter Beteili-

gung der Zivilgesellschaft, und dann kommen wir raus
aus den internen Zirkeln und machen einen Volksent-
scheid, an dem die gesamte europäische –


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719802000

Frau Kollegin.


Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719802100

– Bevölkerung beteiligt wird. Das hätte eine Perspek-

tive heute sein können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Volker Kauder [CDU/CSU]: Bravo!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719802200

Gerda Hasselfeldt hat jetzt das Wort für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1719802300

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! Ja, es ist richtig, ich bin auch der Meinung,
Europa ist mehr als der Euro. Das haben wir nicht nur
heute mehrfach betont, sondern das wird in jeder dieser
Debatten, in denen wir über den Euro und über Europa
reden, von uns immer wieder betont – und nicht nur in
diesem Hause.

Wenn jemand das noch nicht verstanden hat und nicht
gehört hat, wie der Herr Steinbrück das vorhin zum Aus-
druck gebracht hat, dann, finde ich, muss die Frage
schon erlaubt sein: Wo war er denn dann,


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Gisela Piltz [FDP]: Wo ist der eigentlich! – Rainer Brüderle [FDP]: Und wo ist er jetzt? Wo ist er denn jetzt?)


als dies immer wieder zum Ausdruck gebracht und dis-
kutiert wurde?


(Rainer Brüderle [FDP]: Vorträge halten!)


Trotzdem, meine lieben Kolleginnen und Kollegen,
sollten wir uns heute schon auch noch einmal mit der
Frage befassen: Wo stehen wir bei der Debatte über die
Vertiefung bei der Wirtschafts- und Währungsunion?
Was haben wir erreicht? Haben wir etwas erreicht?

Da können wir mit Fug und Recht heute sagen: Wir
sind in den letzten Monaten ein großes Stück vorange-
kommen!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Der Europäische Stabilitätsmechanismus arbeitet be-
reits, der Fiskalvertrag kann in Kraft treten, er wurde von
uns beschlossen. Die Finanzmarktsteuer wird kommen.
Auch das haben wir in den letzten Monaten erreicht,
nicht wegen des Geschreis der Opposition, sondern we-
gen der Hartnäckigkeit und des hohen und großen Ver-
handlungsgeschicks unseres Finanzministers. Dafür
danke ich ihm herzlich.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Auch die Situation in den Krisenländern ist besser ge-
worden. Wir sehen dort rückläufige Handelsbilanzdefi-
zite. Wir sehen, dass dort die Lohnstückkosten sinken,
und damit sind diese Länder auf dem Weg zu mehr Wett-
bewerbsfähigkeit. Einige Krisenländer haben sich in den
vergangenen Wochen zu erträglichen Konditionen am
Kapitalmarkt refinanzieren können.

Bei all den noch vorhandenen Problemen, die norma-
lerweise mit jeder Umstrukturierung einer Wirtschaft
verbunden sind, sind dies Erfolge, die man nicht einfach
auf die Seite schieben soll, sondern diese Erfolge ma-
chen deutlich: Der Weg ist richtig. Der Stabilitätskurs ist
richtig. Vor allem Auflagen in Verbindung mit den Hil-
fen sind richtig, aber eben Auflagen und Hilfen gemein-
sam.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


In einem schwierigen internationalen Umfeld ist auch
Deutschland auf einem guten wirtschaftlichen Weg. Wir
haben eine weiterhin stabile positive wirtschaftliche Ent-
wicklung. Wenn wir das machen würden, was uns von-
seiten der Sozialdemokraten immer wieder empfohlen
wird, nämlich Erhöhung der Erbschaftsteuer, der Vermö-
gensteuer, der Einkommensteuer, dann hätten wir diese
Chance verspielt, dann wären wir nicht mehr Wachs-
tumslokomotive in Europa, wie wir es jetzt sind.





Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Herr Steinbrück hat vorhin gesagt: Wir haben euch
gezeigt, wie es geht. Schauen wir doch einmal: Was ha-
ben Sie uns denn gezeigt? Sie haben uns gezeigt, wie
Fehler gemacht werden. Sie haben uns durch das Auf-
weichen der Stabilitätskriterien in Ihrer Regierungszeit
gezeigt, wohin das führen kann: dass sich nämlich nie-
mand mehr in Europa an die Stabilitätskriterien gehalten
hat, weil Sie das Signal dazu gegeben haben, sich nicht
daran zu halten.

Was haben Sie uns denn noch gezeigt? Sie haben uns
gezeigt, wie man nach seiner Regierungszeit 5 Millionen
Arbeitslose hinterlässt. 5 Millionen Menschen ohne Be-
schäftigung in einer Zeit, in der es keine Krise gegeben
hat! Auf solche Rezepte können wir verzichten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Nun gibt es eine aktuelle Diskussion über die Weiter-
entwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion. Ich
finde das richtig. Es ist notwendig, die Lehren aus der
Krise zu ziehen, die Defizite, deren Folgen wir in den
vergangenen Jahren erleben mussten, zu beseitigen. Da
gibt es meines Erachtens zwei Ziele, die bei all den Maß-
nahmen, die zurzeit diskutiert werden, immer im Blick
behalten werden müssen. Das Erste ist das Ziel einer
Stabilitätsunion in Europa. Das Zweite ist das Ziel der
Wettbewerbsunion in Europa. Beide Ziele müssen glei-
chermaßen verfolgt werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Diesen Zielen müssen die entsprechenden Maßnahmen,
die heute diskutiert werden, die im Rat diskutiert werden
und die in den nächsten Monaten in ganz Europa disku-
tiert werden, gerecht werden.

Ein Vorschlag ist die Einrichtung einer europäischen
Bankenaufsicht. Sie ist notwendig. Sie ist richtig. Aber
bei dem Punkt einer gemeinsamen europäischen Ban-
kenaufsicht sind noch viele Fragen zu klären: Wie viele
Banken sollen beaufsichtigt werden? Auch hier, finde
ich, gilt das Subsidiaritätsprinzip. Es brauchen nicht
Tausende von Banken durch die europäische Bankenauf-
sicht beaufsichtigt zu werden, sondern nur die system-
relevanten, die grenzüberschreitenden.

Eine anderer Punkt ist: Wenn diese Aufsicht bei der
EZB angesiedelt sein soll, muss es eine strikte Trennung
zwischen Geldpolitik und Aufsichtstätigkeit geben.
Nicht zuletzt muss auch klar sein: Eine direkte Banken-
rekapitalisierung durch den ESM kann es nur dann ge-
ben, wenn diese europäische Bankenaufsicht nicht nur
etabliert ist, nicht nur auf dem Papier steht, nicht nur
vertraglich abgesichert ist, sondern wenn sie wirklich
arbeitsfähig ist, wenn sie handlungsfähig ist, wenn sie
effektiv arbeiten kann. Erst dann kann es diese direkte
Rekapitalisierung geben,


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


und auch dann, liebe Kolleginnen und Kollegen, immer
nur mit Auflagen und Bedingungen. Es darf auch hier

keinen Blankoscheck geben. Darauf muss geachtet wer-
den.

Eine ganz zentrale Frage ist: Wie schaffen wir es
denn, dass wir wirklich die vereinbarten Stabilitätskrite-
rien einhalten? Es war in den vergangenen Jahren ein
ganz großes Defizit, dass von den vereinbarten Kriterien
abgewichen wurde. Da muss man sich fragen: Ist das al-
les wirklich abgesichert? Reichen die jetzigen Instru-
mente? Reichen die jetzigen Kompetenzen? Diese Frage
ist, finde ich, durchaus berechtigt. Bei der Beantwortung
müssen wir sehr darauf achten, hier die richtigen Ant-
worten zu geben und nicht über das Ziel hinauszuschie-
ßen.

Sinn und Zweck kann nur die wirklich verbindliche
Einhaltung der Stabilitätskriterien sein. Der Stabilitäts-
rahmen muss die Grenzen dafür setzen; aber die Maß-
nahmen müssen auch wirklich dazu geeignet sein, Stabi-
lität zu erreichen. Da kann es sein, dass Kompetenzen
auf eine andere Ebene übertragen werden. Sie dürfen
aber nur dann übertragen werden, wenn wirklich sicher-
gestellt ist, dass die Stabilitätskriterien damit besser und
verbindlicher eingehalten werden, als das bisher der Fall
war. Vor diesem Hintergrund ist das alles zu prüfen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Es gibt natürlich – das ist mir ein ganz besonders
wichtiges Anliegen – noch eine Frage. Ich dachte eigent-
lich, diese sei mittlerweile durch die vielen Diskussionen
bei uns und auch in Europa auf die Seite gelegt. In dem
Bericht aber, der heute diskutiert wird, ist wieder die
Rede von gemeinschaftlicher Haftung. Meine Damen
und Herren, das war und ist auch heute noch nicht das
richtige Mittel, um die Probleme zu lösen, und zwar des-
halb nicht, weil dann jeder Druck von den Krisenlän-
dern, die die Hilfen nur mit Bedingungen und Auflagen
bekommen, weggenommen wird. Es wird dann von den
Ländern, die ihre Reformen durchführen müssen, um
wettbewerbsfähig zu werden, jeder Druck genommen.
Weiter wird damit Druck von den Krisenländern genom-
men, ihre Haushalte zu konsolidieren. Es muss das we-
sentliche Ziel unserer Arbeit sein, für Stabilität und für
Wettbewerbsfähigkeit zu sorgen. Das kann nur in den
einzelnen Ländern geschehen. Diesen Druck wegzuneh-
men, wäre fatal und würde dem Ziel widersprechen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine Damen und Herren, ich begrüße, dass die Dis-
kussion intensiv geführt wird. Ich weiß auch die Anliegen
Deutschlands bei der Bundeskanzlerin in guten Händen.
Frau Bundeskanzlerin, ich möchte mich ausdrücklich für
Ihre Standfestigkeit bei der Verhinderung von gemein-
schaftlicher Haftung bedanken, für die immer wiederkeh-
rende Mahnung nach Stabilität in jedem europäischen
Land, aber auch für die Mahnung in Richtung Wettbe-
werbsfähigkeit in jedem europäischen Land; denn davon
leben wir insgesamt.

Europa ist mehr als derEuro, aber der Euro ist ein
wichtiger Teil dieses Europas. In den letzten Monaten
haben wir gesehen, dass wir gerade in dieser Krise auch
ein Stück mehr zusammengewachsen sind. Das, was





Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)


noch vor einigen Jahren nicht so selbstverständlich war,
nämlich ein Stabilitätsbewusstsein –


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719802400

Frau Kollegin!


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1719802500

– ich bin gleich fertig –, ist in allen Herzen der euro-

papolitisch Verantwortlichen spürbar geworden. Darauf
müssen wir aufbauen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719802600

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem

Kollegen Sigmar Gabriel.


Sigmar Gabriel (SPD):
Rede ID: ID1719802700

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr

Kollege Kauder hat vorhin meinem Kollegen Steinbrück
vorgeworfen, er habe bei dem Hinweis darauf, dass die
Europäische Kommission Deutschland kritisiert und auf-
gefordert habe, die Finger vom Betreuungsgeld zu las-
sen, die Europäische Kommission falsch zitiert, und ihm
vorgeworfen, hier nicht die Wahrheit gesagt zu haben.
Ich will das gerne klarstellen, weil Herr Kauder unrecht
hat. Ich weiß nicht, Herr Kauder, ob es an der Überset-
zung liegt oder woran auch immer. Ich lese es Ihnen ein-
fach vor, und ich finde, damit sollten wir dann diese
Auseinandersetzung beenden.


(Lachen bei der CDU/CSU – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das denken Sie sich! – Gegenruf des Abg. Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sie können sich auch entschuldigen!)


– Ja, gut. – Ich unterstelle jetzt einmal, dass Sie Englisch
verstehen. Deswegen lese ich es einfach vor. Die Kom-
mission hat in ihren länderspezifischen Empfehlungen
zu Deutschland in der vom Rat gebilligten Version vom
6. Juli 2012 ausgeführt:

The low full-time participation of women in the la-
bour force is a concern.

Dann heißt es dort wörtlich:

Fiscal disincentives for second earners and the lack
of full-time childcare facilities and all-day schools
hinder female labour market participation.

„Fiscal disincentives for second earners“ heißt: finan-
zielle Fehlanreize für Zweitverdiener. In Deutschland
gibt es nur einen finanziellen Fehlanreiz für Zweitver-
diener, den wir aktuell debattieren,


(Widerspruch bei der CDU/CSU – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zwei!)


und das ist Ihre wirklich schwierige Idee, ein Betreu-
ungsgeld einzuführen, um Leute bzw. Frauen daran zu
hindern, arbeiten zu gehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das hat die Europäische Union kritisiert. Auf diesen Be-
schluss vom 6. Juli 2012 hat der Kollege Steinbrück zu
Recht hingewiesen.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Jeder blamiert sich so, wie er kann!)


Ihre Unterstellung, er habe hier die Unwahrheit gesagt,
ist falsch.

Ich finde die Tatsache, dass die Frau Bundeskanzlerin
in der Empfehlung dem Rat zugestimmt hat, in Ordnung.
Sie hat offensichtlich dieser Empfehlung der Kommis-
sion zugestimmt. Ich finde, es gibt ausreichend Gründe,
die auch in Ihrer eigenen Fraktion vorgetragen werden,
von diesem Unfug die Finger zu lassen. Warum ausge-
rechnet Sie das noch öffentlich verteidigen, ist mir, ehr-
lich gesagt, schleierhaft.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719802800

Der Kollege Kauder zu einer Kurzintervention.


Volker Kauder (CDU):
Rede ID: ID1719802900

Herr Kollege Gabriel, zunächst einmal finde ich es

bemerkenswert gerade aus Ihrem Munde und aus Rich-
tung der SPD, dass der sogenannte Zweitverdiener im-
mer automatisch eine Frau sein soll, wie Sie es gesagt
haben.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das finde ich ausgesprochen bemerkenswert.


(Sigmar Gabriel [SPD]: Das sagt die Kommission! Sie haben es wieder nicht gelesen! Ich habe es zitiert! Sie können kein Englisch!)


Jetzt zum Text. Wir sind uns einig, dass hier im Deut-
schen Bundestag bei der Beratung von Vorlagen der
deutsche Text verwendet wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Denn noch immer ist die Sprache im deutschen Parla-
ment Deutsch.

Jetzt will ich Ihnen vorlesen, was dort steht, damit das
klar ist:

… die fiskalischen Fehlanreize für Zweitverdiener
abschafft und die Zahl der Ganztagskindertagesstät-
ten und -schulen erhöht.


(Sigmar Gabriel [SPD]: Sie machen das Gegenteil!)


Jetzt kann ich nur sagen: Wenn ein Kanzlerkandidat unter
fiskalischen Fehlanreizen für Zweitverdiener ausschließ-
lich das Betreuungsgeld versteht, dann ist er sowieso fehl
am Platz. Das ist eine unglaubliche Interpretation.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Herr Steinbrück hat gesagt, dass das Betreuungsgeld
kritisiert wird. Das steht nicht drin. Ich rate dringend für
die Zukunft, sich präzise an das zu halten, was kommt.





Volker Kauder


(A) (C)



(D)(B)


Zitate müssen stimmen. Bei Ihnen haben sie nicht ge-
stimmt, Herr Kollege.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Sigmar Gabriel [SPD]: Stimmt nicht!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719803000

Der Kollege Hermann Otto Solms hat das Wort für

die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1719803100

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Frau Bundeskanzlerin, wir sind Ihnen
sehr dankbar, dass Sie die Weiterentwicklung von Eu-
ropa heute in so klarer und präziser Form geschildert und
an die Grundprinzipien erinnert haben, auf deren Basis
wir Europa weiterentwickeln wollen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dazu gehört insbesondere die demokratische Legitima-
tion der zuständigen Institutionen und Körperschaften.

In diesem Zusammenhang will ich daran erinnern,
dass das Bundesverfassungsgericht uns erst vor kurzem
daran erinnert und angemahnt hat, dass über die Haus-
haltsmittel bzw. die Steuermittel in Deutschland der
Bundestag alleine zu entscheiden hat.


(Beifall bei der FDP)


Wenn jetzt die Finanztransaktionsteuer in die Diskus-
sion eingeführt wird, mit der ein europäischer Fonds
möglicherweise finanziert werden soll, dann will ich da-
ran erinnern, dass dies aus unserer Sicht auf keinen Fall
ein Einstieg in eine Europasteuer ist. Das kommt über-
haupt nicht infrage.


(Beifall bei der FDP)


Das Geld der Finanztransaktionsteuer steht dem Haus-
halt zur Verfügung, und der Deutsche Bundestag ent-
scheidet darüber, wie dieses Geld eingesetzt wird. Wenn
die Mittel des Strukturfonds und Kohäsionsfonds in Eu-
ropa, die teilweise nicht sehr gut eingesetzt worden sind,
neu ausgerichtet werden und in vernünftige Projekte ein-
geführt werden, dann ist das eine gute Idee.

Die Finanztransaktionsteuer im Übrigen – daran will
ich auch erinnern – ist an bestimmte Bedingungen gebun-
den, denen wir, die Fraktionen, alle zugestimmt haben.
Sie soll nämlich nicht die Kleinsparer und die Altersver-
sorgung der Riester-Rentner belasten, sie soll auch nicht
die Finanzierung des deutschen Mittelstandes belasten,
und sie soll den deutschen Finanzplatz im Wettbewerb
mit internationalen Finanzplätzen nicht zurücksetzen.
Dann bin ich gespannt, wie der Inhalt dieser Steuer aus-
sehen wird.

Im Übrigen haben Sie daran erinnert, dass die Prinzi-
pien der sozialen Marktwirtschaft gelten sollen, dass
mehr Wettbewerb in Europa organisiert werden muss,

dass das Prinzip der Subsidiarität endlich auch stärker
berücksichtigt werden muss, dass Hilfen gewährt wer-
den, die aber strikt an Konditionen gebunden sind. Es
muss bei dieser Konditionalität bleiben.

In diesem Zusammenhang möchte ich daran erinnern,
dass auch die FDP niemals den Austritt von Griechen-
land gefordert hat.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen!)


Was wir gefordert haben, ist, dass Griechenland die von
ihm selbst zugesagten Bedingungen auch erfüllt; denn
wenn es das nicht tut, geraten wir selbst in Glaubwürdig-
keitskonflikte gegenüber unseren Steuerzahlern in
Deutschland.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Dafür brauchen Sie Griechenland nicht, das schaffen Sie gut ganz alleine!)


Wir stellen Milliarden für Griechenland zur Verfügung;
aber wir wollen, dass das Geld auch vernünftig einge-
setzt wird und dazu führt, dass die Wirtschafts- und Leis-
tungskraft von Griechenland in Zukunft gestärkt wird,
und dass das Geld nicht zweckentfremdet eingesetzt
wird.

Schließlich gilt das Prinzip des Verbots der Haftungs-
vermischung. Es muss das Grundprinzip unserer Rechts-
ordnung gelten, dass jeder für sein Handeln verantwort-
lich ist und zur Verantwortung gezogen werden kann.
Dies gilt für den einzelnen Bürger genauso wie für den
Staat und die Staaten. Deswegen kann es keine Euro-
Bonds oder andere Formen der Haftungsvermischung
geben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Herr Kollege Steinbrück, Sie haben ja neulich in einer
Pressekonferenz einen großen Aufschlag zur Regulie-
rung der Finanzmärkte gemacht. Die Zielsetzung ist in
Ordnung; damit sind wir völlig einverstanden. Ich habe
mir die einzelnen Vorschläge angeschaut und habe fest-
gestellt, dass etwa 80 Prozent dieser Vorschläge bereits
realisiert sind


(Peer Steinbrück [SPD]: Unsinn! Stimmt nicht! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wunschdenken!)


oder sich auf dem Weg der Realisierung befinden und
dass dann als origineller Vorschlag nur noch die Frage
des Trennbankensystems übrig bleibt. Dies ist, wie Sie ja
auch selbst wissen, in der Fachwelt höchst umstritten.
Ich will gar kein Urteil darüber fällen; aber das ist jeden-
falls ein sehr umstrittener Vorschlag. Damit werden Sie
keine großen Punkte machen können. Für uns ist jeden-
falls wichtig, dass es auch in Deutschland handlungsfä-
hige, funktionsfähige Banken geben muss, die den deut-
schen Mittelstand bei einer Internationalisierung auch im
Ausland begleiten können.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das ist die Aufgabe der Banken, und diese Zielsetzung
darf in keinem Fall eingeschränkt werden.





Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


Die Bankenunion und die Aufsicht der Banken in Eu-
ropa sind richtig. Aber sie muss so organisiert werden,
dass sie auch funktioniert. Jeder in diesem Hause weiß:
Eine neue Bankenaufsicht aufzubauen, geht nicht von
heute auf morgen. Da brauchen Sie viel Sachverstand
und qualifizierte Menschen; das dauert Jahre. Deswegen,
meine ich, sollte die Aufsicht so organisiert werden, dass
sie mit den nationalen Aufsichten eng zusammenarbeitet
und dass die europäische Bankenaufsicht im Zweifelsfall
eben den einzelnen Konfliktfall an sich ziehen kann,
aber nicht generell für alle Banken zuständig ist. Das
kann man auch nicht daran bemessen, ob eine Bank sys-
temrelevant ist oder nicht. Wenn Sie an die spanischen
Sparkassen denken, werden Sie feststellen, dass sie ge-
nauso Gegenstand der Überprüfung der europäischen
Bankenaufsicht sein können wie eben Großbanken, die
tatsächlich systemrelevant sind. Das muss man dann im
Einzelfall entscheiden können.

Meine Damen und Herren, die FDP-Fraktion setzt
sich entschieden dafür ein, in Europa voranzukommen
und ein gemeinschaftliches Europa weiterzuentwickeln,
aber grundsätzlich auf der Basis der demokratischen Le-
gitimation. Da gibt es noch erhebliche Defizite, die zu
beseitigen sind.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719803200

Der Kollege Norbert Barthle hat das Wort für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Norbert Barthle (CDU):
Rede ID: ID1719803300

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Wir befinden uns jetzt im Vorfeld des Europäischen Ra-
tes wieder in der Situation, uns ernsthaft mit dem Thema
Europa auseinandersetzen zu müssen. Nach wie vor
müssen wir einerseits kurzfristige Stabilisierungsmaß-
nahmen ergreifen – ich denke an Griechenland, ich
denke an Spanien –, andererseits aber auch grundsätzli-
che, weitreichende Weichenstellungen für die Zukunft
der Europäischen Union und der Euro-Zone vornehmen.
Lassen Sie mich deshalb drei kurze Anmerkungen ma-
chen.

Erstens. Es ist gerade in diesen aufgeregten Zeiten
immer gut, sich zu vergewissern, was unsere Grundposi-
tionen sind. Sie lauten für mich eindeutig: Alle Mitglied-
staaten sind aufgefordert, solide zu wirtschaften und ihre
Volkswirtschaft wettbewerbsfähig aufzustellen.

Wir brauchen ein vernünftig reguliertes Finanzsys-
tem, um Exzesse in jede Richtung vermeiden zu können.
Unsere Banken sind Voraussetzung für funktionsfähige
Märkte, sind der Schmierstoff für eine wachsende Wirt-
schaft, für wettbewerbsfähige Staaten. Daran darf man
nicht rütteln. Deshalb appelliere ich vor allem an die Op-
position, von eventuellen Überlegungen, einen Anti-
Banken-Wahlkampf zu führen, Abstand zu nehmen. Wer

das macht, schadet nicht nur der Wirtschaft, sondern
auch dem europäischen Gedanken.


(Zuruf von der CDU/CSU: Genau!)


Die Politik hat mit dem ESM und mit dem Fiskalver-
trag grundsätzliche Bausteine für die Stabilitätsarchitek-
tur in Europa geschaffen. Wir sind mit der Finanzmarkt-
regulierung schon ein ganzes Stück vorangekommen.
Deshalb kann man feststellen, dass diese Koalition, die
Koalition aus CDU, CSU und FDP, der Motor für die
Stabilisierung Europas ist. Daran soll auch künftig nicht
gerüttelt werden, dabei soll es auch bleiben. Das hat uns,
nebenbei gesagt, auch der Weltwährungsfonds in Tokio
bestätigt, der von „significant progress“,


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das ist ja Englisch!)


von signifikanten Fortschritten in Europa – ich habe
wörtlich zitiert –, gesprochen hat.

Signifikante Fortschritte sind erzielt worden, und das
war das Ergebnis der Arbeit dieser Koalition, meine Da-
men und Herren. Da brauchen wir auch keine Ratschläge
von der Opposition, die hier mit der Attitüde – Herr Kol-
lege Steinbrück, erlauben Sie mir diese Anmerkung – ei-
nes etwas arrogant wirkenden Besserwissers vorgetragen
werden;


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das tut weh!)


denn wer nur darstellt, was man in der Vergangenheit
vielleicht hätte besser machen können, anstatt zu sagen,
wohin man in Zukunft gehen muss, der verfehlt eigent-
lich sein Ziel.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wenn Sie sich als ehemaliger Finanzminister hier hin-
stellen und sagen, eigentlich müssten wir doch unsere
Ziele, was die Konsolidierung anbelangt, viel schneller
erreichen, dann rate ich Ihnen: Wenden Sie sich an Ihre
eigenen Haushälter. Ich bin gespannt auf die Einsparvor-
schläge. Bei der Infrastruktur und den Investitionen kön-
nen wir nicht weiter sparen. Wo es noch Spielräume
gäbe, das wäre im sozialen Bereich. Da bin ich einmal
gespannt auf Ihre Vorschläge.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wie wäre es denn mit dem Betreuungsgeld? – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Haben Sie schon mal was von höheren Einnahmen gehört? – Gegenruf des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]: Steuererhöhung ist immer eure Lösung! Sagen Sie es doch!)


Zweitens. Wir brauchen für die Zukunft Europas wei-
tere Korrekturen an den Fundamenten unserer Wäh-
rungsunion. Dazu trägt der jetzige Rat mit Sicherheit bei,
vor allem dann bis Ende des Jahres. Unsere Positionen
sind ganz klipp und klar: keine systematische Verge-
meinschaftung von Schulden, keine Euro-Bonds, keine
Altschuldentilgungsfonds.

SPD und Grüne klatschen immer Beifall, wenn sie
den Begriff Altschuldentilgungsfonds hören.


(Beifall des Abg. Swen Schulz [Spandau] [SPD])






Norbert Barthle


(A) (C)



(D)(B)


Die Position muss klar sein: Ein Altschuldentilgungs-
fonds darf niemals dazu führen, dass man den Ländern,
die ohnehin über eine überhöhte Verschuldung klagen,
die Möglichkeit eröffnet, erneut Schulden aufzunehmen.
Das wäre der falsche Weg; er führt in die Irre. Deshalb
sind wir an dieser Stelle sehr zurückhaltend.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Haben Sie schon mal den Sachverständigenrat gehört?)


Wir sind der Meinung: Die Euro-Zone muss hand-
lungsfähig bleiben. Deshalb darf es auch nicht sein, dass
einige wenige Staaten dauerhaft wichtige Projekte, die
zur Stabilität beitragen, blockieren können. Deswegen
braucht es neue Regelungen. Man hat immer wieder den
Eindruck: Auf den Gipfeln vereinbart man donnerstags
und freitags gute Beschlüsse, schließt man gute Verträge,
aber kaum ist der eine oder andere montags zu Hause,
dann überlegt er, wie er um die Regeln herumkommt.
Das ist in der Vergangenheit unter Rot-Grün mit den
Maastricht-Kriterien passiert. So etwas darf es in Zu-
kunft nicht mehr geben. Auch dafür müssen wir Vorkeh-
rungen treffen.

Wenn es dann noch gelingt, für entsprechende Kon-
trollmechanismen eine stärkere demokratische Legitima-
tion einzubauen, dann kommen wir tatsächlich weiter.
Dabei kommen wir sehr schnell zur Frage der nationalen
Haushalte und zum Budgetrecht des Bundestages.

Meine Damen und Herren, wir haben mit dem Euro-
päischen Semester beschlossen, dass Haushalte bereits
im Entwurfsstadium nach Brüssel gemeldet werden. Das
ist gut und richtig, und das haben wir alle beklatscht. Es
entsteht jedoch die Frage: Was geschieht dann? Werden
die Haushalte nur zur Kenntnis genommen, oder gibt es
tatsächlich jemanden, der die Gelbe oder die Rote Karte
ziehen kann, wenn ein nationaler Haushalt aus dem Ru-
der läuft und Korrekturnotwendigkeiten entdeckt wer-
den? Eine solche Person müssen wir auf europäischer
Ebene demokratisch legitimieren, damit sie die Gelbe
oder die Rote Karte ziehen und sagen kann: Freunde, ihr
müsst noch einmal darüber nachdenken, ob ihr auf dem
richtigen Weg seid.


(Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Wie wollen wir dann unsere Budgethoheit aufrechterhalten?)


Mehr Europa heißt an mancher Stelle auch: mehr Kon-
trolle, aber eben demokratisch legitimierte Kontrolle.

Drittens. Lassen Sie mich ein kurzes Wort zur Ban-
kenunion sagen. Unsere Bundeskanzlerin hat recht,
wenn sie sagt: Zuerst braucht es eine funktionierende
Aufsicht; dann kann man über alles Weitere reden. Eine
Übernahme von Haftung kann nicht zuvor erfolgen, son-
dern erst dann, wenn es eine funktionierende Aufsicht
gibt. Deshalb genügt es nicht, sozusagen auf der Über-
holspur irgendwelche Strukturen aufs Papier zu schrei-
ben. Aufsichtsstrukturen müssen auch installiert werden,
damit man entsprechende Vorkehrungen treffen kann.
Bei Fehlentwicklungen muss eingegriffen werden kön-
nen. Wir brauchen europaweit so etwas wie eine Re-

strukturierungsmöglichkeit, um bei Fehlentwicklungen
eingreifen zu können, vor allem bei den großen, system-
relevanten Banken.

Wir wollen allerdings nicht, dass national, regional
oder gar lokal tätige Institute in diese Haftung einbezo-
gen werden. Uns geht es um grenzüberschreitend tätige
Großbanken, um systemrelevante Banken. „Too big to
fail“ muss der Vergangenheit angehören. Dazu braucht
es entsprechende Vorkehrungen.

Ich freue mich, dass unsere Bundesregierung, allen
voran unsere Bundeskanzlerin, in der Vergangenheit in
all diesen Fragen immer mit großer Standhaftigkeit und
mit großer Beharrlichkeit verhandelt hat. Das war er-
folgreich, und das wird auch in Zukunft erfolgreich blei-
ben. Ich wünsche unserer Bundeskanzlerin für die anste-
henden Verhandlungen dieselbe Standhaftigkeit und
Beharrlichkeit.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719803400

Der Kollege Klaus-Peter Flosbach hat jetzt das Wort

für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Klaus-Peter Flosbach (CDU):
Rede ID: ID1719803500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir haben in den letzten fünf Jahren drei Krisen erlebt:
erst die Bankenkrise 2007, die Finanzkrise, 2009 die
Wirtschaftskrise und Anfang 2010 den Beginn der
Staatsschuldenkrise. Die meisten wissen gar nicht, dass
wir, diese Koalition, erst seit drei Jahren an der Regie-
rung sind. Wir hätten diese Probleme heute nicht, wenn
nicht Mitte des ersten Jahrzehnts dieses Jahrtausends die
rot-grüne Koalition den Stabilitätspakt gebrochen hätte.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Aha!)


Herr Steinbrück hat in seiner Rede intensiv über Fi-
nanzmarktregulierung gesprochen. Wir haben in diesen
drei Jahren über zwanzig Maßnahmen der Finanzmarkt-
regulierung durchgeführt. Das Wichtigste war: mehr Ei-
genkapital, insbesondere bei großen Banken. Heute
Nachmittag diskutieren wir über die Widerstandskraft
der Banken in Deutschland und in Europa, insbesondere
über die Themen Eigenkapital und Liquidität. Parallel
dazu diskutieren wir über die Regulierung von Hedge-
fonds. Parallel dazu diskutieren wir über eine Regulie-
rung außerbörslich gehandelter Derivate.

Wir in Deutschland sind die Ersten, die ein Restruktu-
rierungsgesetz verabschiedet haben – mit einer Banken-
abgabe.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wir sind die Ersten mit einer Regulierung des Hochge-
schwindigkeitshandels. Wir sind die Ersten mit dem Ver-





Klaus-Peter Flosbach


(A) (C)



(D)(B)


bot der sogenannten ungedeckten Leerverkäufe, der Spe-
kulationsgeschäfte. Wir sind auch die Ersten mit einer
neuen Regelung der Honorarberatung. Wir haben den
Anlegerschutz verbessert.

Wir diskutieren auch über die europäische Aufsicht
über Banken, Versicherungen und Wertpapiere, die wir
auch inzwischen umgesetzt haben. Auch das Thema
Schattenbanken ist aktuell in der Beratung. Ebenso ist
der Vorschlag von Liikanen – Stichwort: Eigenhandel
der Banken bzw. Trennbanken – in der Debatte. Herr
Steinbrück, Sie haben über dieses Thema gesprochen.
Ich mache Ihnen keinen Vorwurf; denn Sie haben nicht
mit uns über diese Themen diskutiert. Ich habe von Ih-
nen mehrere Reden aus dem Jahr 2009 nachgelesen. Sie
haben immer über Ihre Bemühungen gesprochen, erst
auf der internationalen und der europäischen Ebene und
erst dann auf deutscher Ebene etwas umzusetzen. Herr
Steinbrück, wir haben uns nicht bemüht, wir haben um-
gesetzt. Diese Regierung mit Kanzlerin Merkel und mit
Finanzminister Schäuble hat in den letzten drei Jahren
Maßnahmen umgesetzt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine Damen und Herren, wir stehen vor dem Euro-
päischen Rat. Es wird über eine einheitliche Bankenauf-
sicht diskutiert. Wir sprechen von der Bankenunion.
Kann die Aufsicht verbessert werden? Ich bin der Mei-
nung: Ja, die Bankenaufsicht kann verbessert werden.
Das bisherige System der Regulierungsbehörde, der
EBA – so heißt sie –, in Verbindung mit den nationalen
Behörden ist meines Erachtens nicht ausreichend. Ich
denke, eine europäische Aufsicht einzurichten, die bei
systemrelevanten Banken durchgreift, die international
tätig sind, ist genau der richtige Weg. In der Startphase
sind hier natürlich die nationalen Aufsichtsbehörden ge-
fordert. Das ist meines Erachtens der richtige Ansatz.

Es kann aber nicht sein, dass alle Banken einer euro-
päischen Aufsicht unterstehen. Es gibt das Prinzip der
Subsidiarität – Frau Hasselfeldt hat es gerade noch ein-
mal deutlich dargestellt –, das besagt: Was vor Ort gere-
gelt werden kann, muss auch vor Ort geregelt werden.
Deswegen kann ich nicht akzeptieren, dass zum Beispiel
Volksbanken, die vor Ort tätig sind, der Aufsicht von Eu-
ropa unterstehen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Volker Kauder [CDU/CSU]: Sparkassen!)


Nein, überall dort, wo es systemische Risiken gibt,
muss es selbstverständlich eine europäische Aufsicht ge-
ben, ansonsten ist die Aufsicht vor Ort zu regeln.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Rolle der europäischen Aufsicht soll die Europäi-
sche Zentralbank übernehmen. Das ist natürlich eine
neue Rolle für die Europäische Zentralbank; denn sie ist
bisher ausschließlich für die Finanzmarktstabilität zu-
ständig. In Zukunft soll sie auch eine Aufsichtsrolle
übernehmen, und zwar neben der Geldversorgung. Nach
wie vor ist sie für die Banken zuständig. Hier gibt es na-
türlich einen Konflikt. Deswegen erwarten wir, dass eine
klare Trennung vorgenommen wird und dass, was die

Aufsicht angeht, eine demokratische Kontrolle gewähr-
leistet ist.

Es wird viel davon gesprochen, dass schon zum 1. Ja-
nuar die Bankenunion realisiert werden sollte. Nicht nur
wir, sondern auch die Wissenschaft haben größte Zwei-
fel daran. Wer marktunabhängig ist, weiß, dass das im
Grunde nicht umsetzbar ist; denn es sind nur noch zwei
Monate bis zum Jahresende. Wir können eine gemein-
same Bankenaufsicht nur dann akzeptieren, wenn eine
spürbare Verbesserung gewährleistet ist, wenn die Zu-
ständigkeiten geklärt sind und auch das Verhältnis von
Europäischer Zentralbank zu den nationalen Aufsichts-
behörden und den europäischen Behörden geklärt ist.

Es gibt den Vorwurf, dass viele dies schnell umsetzen
wollen, um möglicherweise ohne Konditionen an Gelder
aus dem ESM zu kommen. Deswegen fordere ich die
Bundeskanzlerin auf, bei den Verhandlungen mit den
Präsidenten der verschiedenen europäischen Institutio-
nen deutlich zu machen, dass wir erst dann eine Abgabe
von Souveränitätsrechten akzeptieren werden, wenn die
Funktionsfähigkeit der europäischen Aufsicht gegeben
ist.

Auf europäischer Ebene wird bei dem Thema Ban-
kenunion auch über das Restrukturierungsgesetz gespro-
chen. Wir halten das für den richtigen Weg. Banken, die
in eine Schieflage geraten, müssen saniert werden, sie
müssen aber auch gegebenenfalls restrukturiert oder
auch abgewickelt werden können. Wir müssen in dieser
Phase aufpassen, dass wir nicht Entscheidungen auf die
europäische Ebene verlagern, ohne dass vorher die na-
tionale Verantwortung dafür geprüft wurde. Wir erwar-
ten, dass jede Bank, die in Zukunft auf europäischer
Ebene geprüft wird, zunächst einen Stresstest durchläuft.
Es muss deutlich gemacht werden, dass die Verantwor-
tung für die Banken zuerst auf nationaler Ebene wahrge-
nommen werden muss, damit nicht einige Länder ihre
Verantwortung auf Europa abschieben, um von Zahlun-
gen befreit zu sein.

Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Wir akzeptieren keine gemeinsame Einlagensicherung.
Wir haben in Deutschland ein bewährtes System mit den
verschiedenen Säulen. Das hat sich bewährt. Wir sollten
nicht zerstören, was sich bisher bewährt hat.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich kann nur sagen: Diese Regierung steht für Stabili-
tät. Diese Regierung steht zu Europa. Deswegen wün-
sche ich unserer Kanzlerin viel Erfolg beim anstehenden
Gipfel.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719803600

Michael Stübgen hat jetzt das Wort für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)



Michael Stübgen (CDU):
Rede ID: ID1719803700

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit bald drei
Jahren beschäftigen wir uns in diesem Bundestag regel-
mäßig mit der Euro-Finanzierungskrise; ich glaube, so
formuliert man es am besten. Von Anfang an haben nicht
nur die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen,
sondern im Wesentlichen vier Fraktionen in diesem
Haus immer einen doppelten Ansatz versucht.

Zunächst war und ist es notwendig, dass wir direkt
mit den entsprechenden Rettungsschirmen auf die Krise
reagieren und Hilfsprogramme durchführen. Daran ar-
beiten wir seit zweieinhalb Jahren. Wir haben mit In-
krafttreten des Europäischen Stabilitätsmechanismus
jetzt auch ein effizientes, effektives System geschaffen.

Nach meiner Einschätzung sind die flankierenden
Maßnahmen, die die Europäische Zentralbank unabhän-
gig, von sich aus für bestimmte Instrumente vorsieht, der
richtige Ansatz, um jetzt in der Krise schnell auf
schlechte Entwicklungen an den Finanzmärkten und auf
Entwicklungen im Zusammenhang mit der Euro-Staa-
tenfinanzierung reagieren zu können.

Allerdings haben wir uns auch von Anfang an mit
dem Thema beschäftigt, dass die Ursache dieser Krise,
in der wir versuchen, kurzfristig das Schlimmste zu ver-
hindern, auch in Fehlkonstruktionen der Europäischen
Union und der europäischen Strukturen liegt.

Es ist nicht das erste Mal, dass wir uns damit beschäf-
tigen. Schon vor anderthalb Jahren haben wir mit dem
Euro-Plus-Pakt auf Fehlkonstruktionen der Europäi-
schen Union reagieren wollen. Das sogenannte Six-Pack
– die Kanzlerin hat darauf hingewiesen –, die Schärfung
der Kontrolle der Fiskalpolitik, aber auch der Wirt-
schaftspolitik der Euro-Länder, ist ein wichtiger Be-
standteil für einen langfristigen Umbau.

Wir alle wissen, dass die Europäische Union an ver-
schiedenen Punkten noch weiter umstrukturiert werden
muss. Hierüber wird der Europäische Rat heute Abend
und morgen in einer Art Zwischenetappe diskutieren, je-
doch noch nicht zu Endergebnissen kommen.

Nach meiner Einschätzung ist das angestrebte Ziel
der vier Präsidenten, die sogenannte Vier-Säulen-Struk-
tur, der richtige Ansatz. Die vier Präsidenten haben fest-
gestellt: Wir brauchen eine gemeinsame europäische
Bankenkontrolle, wir brauchen eine europäische Fiskal-
kontrolle, wir brauchen eine stärkere Verzahnung der
europäischen Wirtschaftspolitik für mehr Wettbewerb
und Wachstum, und wir brauchen für die neuen Instru-
mente und Kompetenzübertragungen an die Europäische
Union eine ausreichende demokratische Kontrolle und
Legitimierung.

Zu einem dieser Punkte liegen uns mittlerweile kon-
krete Vorschläge der Europäischen Kommission, und
zwar zur sogenannten europäischen Bankenkontrolle,
sowie zwei Verordnungsvorschläge, einer zum Kontroll-
gremium und einer zur Umstrukturierung der EBA, vor.

Hierzu will ich einige Punkte nennen.

Ein grundsätzliches Problem besteht darin – das kann
man in dem vorgeschlagenen Text leider nicht genau

nachlesen –, als welches Instrument die Europäische
Kommission die gemeinsame Bankenaufsicht sieht. Sie
sieht diese gemeinsame Bankenaufsicht eben nicht als
eine langfristige, nachhaltige Orientierung zu mehr Kon-
trolle der Bankenpolitiken in der Europäischen Union,
sondern als kurzfristiges zusätzliches Kriseninstrument.

Das erkennt man auch, wenn man sich den Verord-
nungsvorschlag anschaut. Dieser ist sehr kurz und knapp
gefasst, geht in keinem einzigen Punkt ins Detail, soll
am besten ganz schnell verabschiedet werden und am
1. Januar 2013 in Kraft treten. Wenn wir einmal anneh-
men, das würde funktionieren, dann wären wir spätes-
tens Mitte 2013 in der Lage, durch den ESM – kleine
Änderungen sind notwendig, so die Vorstellung der
Kommission –, eine direkte Bankenrekapitalisierung
vorzunehmen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieser von
der Europäischen Kommission vorgestellte Weg ist ein
Holzweg. Ich kann zwar verstehen, dass krisengeschüt-
telte Euro-Länder natürlich überlegen, möglicherweise
über diesen Umweg Rettungsmittel zu erhalten, wenn sie
notleidend sind, ohne sich mit der lästigen Troika aus-
einandersetzen zu müssen. Verstehen kann ich das, es
wäre aber trotzdem der falsche Weg.

Wenn wir auf diese Weise in die Situation kommen
würden, die Kontrolle und die Konditionalität der euro-
päischen Hilfen aufzugeben, dann beraubten wir uns der
Sicherheit, dass die Gelder, die wir als Bürgschaften zur
Verfügung stellen, auch zurückgezahlt werden. Das wäre
ein falscher Weg.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Kollege Flosbach hat es angesprochen: Der Ansatz
der Europäischen Kommission ist ein sehr zentraler, man
kann auch sagen: zentralistischer. Nach Vorstellung der
Europäischen Kommission soll die EZB in Kombination
mit der EBA alle europäischen Banken am besten auf
Anhieb kontrollieren, weit über 6 000. Abgesehen da-
von, wieweit das überhaupt möglich ist, was für ein Heer
von Kontrolleuren man brauchte, um das umzusetzen,
und wie lange es dauern würde, bis es effizient funktio-
nieren kann, ist hier über eine wichtige Frage zu
entscheiden. Nach unseren Erfahrungen mit der europäi-
schen Finanzierungskrise wissen wir, dass die systemi-
schen Banken starke Auslöser großer Krisen sind. Syste-
mische Banken – das wissen wir – sind durch nationale
Kontrollbehörden nicht ausreichend zu kontrollieren.
Also ist es wichtig, dass wir zu einer europäischen Kon-
trolle kommen, wobei sich aber die Europäische Zentral-
bank in erster Linie auf die systemischen Banken kon-
zentriert.

Allerdings muss ich einen Zusatz machen: Die Euro-
päische Kommission liegt in einem Punkt richtig. Wir
wissen aus der europäischen Verschuldungskrise und aus
den Erfahrungen gerade mit der Immobilienblase in Spa-
nien, dass es nicht nur die systemischen Banken sein
müssen, die eine falsche Politik, eine geradezu abenteu-
erliche Kreditvergabepolitik betreiben, sondern es kön-
nen – wie in Spanien über viele Jahre – auch andere sein.
Insofern wissen wir: Es wird nicht ausreichen, dass eine
europäische Kontrolle vor kleinen und Regionalbanken





Michael Stübgen


(A) (C)



(D)(B)


absolut haltmacht. Deswegen unterstütze ich den Vor-
schlag der Bundesregierung, in einem solchen Fall zu ei-
nem Einstiegsrecht der oberen Behörde zu kommen,
welches klar definiert ist und nur dann wahrgenommen
werden kann, wenn ein begründeter Verdacht vorliegt,
dass die nationalen Kontrollen versagen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich halte
diesen Kommissionsvorschlag für eine gute Arbeits-
grundlage. Ich denke aber, dass wir noch sehr intensiv an
den Detailfragen arbeiten müssen. Wenn wir dies hin-
bekommen, dann werden wir zu einer funktionierenden
europäischen Bankenkontrolle kommen. Das wird nach
meiner Einschätzung aber frühestens übernächstes Jahr
sein und nicht schon Anfang nächsten Jahres.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord neten der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719803800

Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-

ßungsantrag der Fraktion der SPD, den Sie auf Druck-
sache 17/11003 finden. Wer stimmt für den Entschlie-
ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Der Entschließungsantrag ist damit abgelehnt. Zuge-
stimmt hat die einbringende Fraktion. Abgelehnt wurde
er von CDU/CSU und FDP. Enthalten haben sich Linke
und Bündnis 90/Die Grünen.

Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 d so-
wie den Zusatzpunkt 2 auf:

5 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Willi
Brase, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-
Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Jugendliche haben ein Recht auf Ausbildung
– Drucksache 17/10116 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales 
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 
Haushaltsausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
Alpers, Nicole Gohlke, Dr. Rosemarie Hein, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Perspektiven für 1,5 Millionen junge Men-
schen ohne Berufsabschluss schaffen – Ausbil-
dung für alle garantieren
– Drucksache 17/10856 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)
Ausschuss für Arbeit und Soziales 
Haushaltsausschuss

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Brigitte Pothmer, Ekin Deligöz, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Mit DualPlus mehr Jugendlichen und Betrie-
ben die Teilnahme an der dualen Ausbildung
ermöglichen

– Drucksache 17/9586 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales 
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung

Berufsbildungsbericht 2012

– Drucksache 17/9700 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)
Sportausschuss 
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales 
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 
Ausschuss für Gesundheit 
Ausschuss für Tourismus 
Haushaltsausschuss

ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Schummer, Albert Rupprecht (Weiden), Michael
Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Heiner Kamp, Dr. Martin
Neumann (Lausitz), Sylvia Canel, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der FDP

Das deutsche Berufsbildungssystem – Versi-
cherung gegen Jugendarbeitslosigkeit und
Fachkräftemangel

– Drucksache 17/10986 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales 
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 
Haushaltsausschuss

Hierzu ist es verabredet, eineinhalb Stunden zu debat-
tieren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.
Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Der Kollege Willi Brase
hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Willi Brase (SPD):
Rede ID: ID1719803900

Frau Präsidentin! Guten Morgen, liebe Kolleginnen

und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir dis-
kutieren heute über die Ausbildungspolitik in der Bun-
desrepublik Deutschland. Wir haben wie immer einen
gelungenen und guten Berufsbildungsbericht, der die
Situation anhand von Zahlen verdeutlicht. Wenn wir
gleich hören werden, dass alles wunderbar ist, dass wir
sehr viele Ausbildungsplätze haben, aber angeblich nicht
genügend Auszubildende, nicht genügend Jugendliche,
die ausbildungsreif sind, so verweise ich auf die BIBB-





Willi Brase


(A) (C)



(D)(B)


Studie, die feststellt: Das, was wir derzeit zahlenmäßig
am Ausbildungsmarkt erleben, ist auch ein Produkt der
demografischen Entwicklung und weniger ein Produkt
der Regierungspolitik von Rot-Grün.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Lachen des Abg. Patrick Meinhardt [FDP])


Wir haben derzeit 50 Prozent der jungen Leute in
dualer Ausbildung, 20 Prozent in schulisch-beruflicher
Ausbildung nach Landesrecht und 30 Prozent im Über-
gangssystem. Wir von der SPD sind der Meinung, dass
das, was derzeitig im Übergangssystem abläuft, nicht
mehr ertragbar ist und die Aktivitäten, die im Nationalen
Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs in
Deutschland beschlossen wurden, ungenügend, teilweise
sogar gar nicht umgesetzt wurden. Es ist zu kritisieren,
dass sich die Bundesregierung im Pakt zwar verpflichtet
hat, ihren Wust an Maßnahmen im Übergangssystem ein
Stück weit zu durchforsten, dass aber als Ergebnis he-
rausgekommen ist: Wir können nichts ändern, aber wir
wollen das zukünftig bei neuen Maßnahmen ein biss-
chen berücksichtigen. – Das ist absolut mangelhaft. Wir
wissen, dass die Vielfalt der Maßnahmen im Übergangs-
system zu groß und daher nicht hilfreich ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Da verweise ich doch gerne auf neun Bundesländer,
die 2009 die Initiative „Übergang mit System“ gestartet
haben. Die Bertelsmann-Stiftung – keine Kaderschmiede
der SPD – hat diesen Prozess begleitet und festgestellt:
Wenn wir dieses Übergangssystem mit der Vielfalt an
Aktivitäten auf kommunaler, auf Landes- und auf Bun-
desebene und teilweise EU-finanziert weiterführen, wer-
den wir auch noch 2025 230 000 junge Leute mehrjährig
in diesem Übergangssystem vorfinden. Das ist verkehrt
und falsch. Wir müssen schauen, dass wir von diesem
System wegkommen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie, die Vertreter der Bertelsmann-Stiftung, haben wei-
ter überlegt: Wie können wir unsere Forderung „Kein Ab-
schluss ohne Anschluss“ auf den Weg bringen? – Sie sa-
gen: Würden wir sozusagen eine Ausbildungsgarantie für
die jungen Leute aussprechen, dann könnten wir nicht nur
real Geld sparen – das Übergangssystem kostet mittler-
weile 6 Milliarden Euro jährlich und ist insofern höchst
ineffizient –, sondern langfristig auch 150 000 oder
160 000 junge Menschen direkt und besser qualifizieren
und in Ausbildung bringen.

Ich möchte an dieser Stelle die Bundesregierung auf-
fordern, diesen Prozess zu unterstützen, damit die Viel-
falt der Maßnahmen in diesem System endlich verringert
wird. Es ist völlig falsch, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wenn wir von Ausbildungsgarantie sprechen, dann
sagen wir als SPD: Ja, wir wollen das machen, was diese
neun Bundesländer ein Stück weit – übrigens werden

alle farbenmäßig völlig unterschiedlich regiert – auf den
Weg bringen wollen. Wir wollen, dass das duale System
weiter ausgebaut wird. Ich sagte eingangs, dass sich
50 Prozent der Auszubildenden im dualen System befin-
den. Dieser Anteil müsste gesteigert werden. Schließlich
gibt es immer noch genügend Betriebe, die zwar die
Ausbildungsfähigkeit besitzen, aber nicht ausbilden. In-
sofern erwarten wir auch vom Nationalen Pakt Initiati-
ven, damit mehr Betriebe dazu gebracht werden, sich an
der dualen Ausbildung zu beteiligen. Das geht nicht mit
Schönwetterreden. Da muss man teilweise auch Druck
machen.


(Beifall bei der SPD)


Also, diese Ausbildungsgarantie ist machbar. Wenn
diese im dualen System allerdings nicht unterzubringen
ist, dann sind wir für eine staatlich finanzierte Ausbil-
dungsunterstützung. Das kann im vollzeitschulischen
Bereich sein. Das kann bei den ÜBSen sein. Das kann
bei den Berufsbildungszentren sein, und das kann auf
der Grundlage BBiG, Handwerksordnung oder mögli-
cherweise auch Landesrecht geschehen. Das ist für die
jungen Menschen allemal besser, als ein, zwei oder drei
Jahre im Übergangssystem zu verweilen.


(Beifall bei der SPD)


Wenn das nicht reicht, sehr geehrte Kolleginnen und
Kollegen, dann müssen wir uns um die kümmern, die
tatsächlich Probleme haben und möglicherweise noch
nicht die nötigen Fähigkeiten und Kompetenzen besit-
zen, um in Ausbildung zu gehen. Da erachte ich die Ein-
führung einer „Einstiegsqualifizierung Plus“ als weiteres
Segment der Abqualifizierung oder der weiteren Austa-
rierung als völlig falsch. Es reicht völlig aus, die Ein-
stiegsqualifizierung zu nehmen und diese Einstiegsquali-
fizierung nur bei den Jugendlichen, die diese benötigen,
und nicht bei den sogenannten Marktbenachteiligten vo-
rauszusetzen. Das ist der falsche Weg.

Wenn die Wirtschaft wirklich im Sinne von Fachkräf-
teentwicklung Leute braucht, dann muss man den Weg
gehen, dass man auch den Marktbenachteiligten hilft.
Zur Not müssen wir auch die Hürden der Einstiegsquali-
fizierung erhöhen, aber wir sollten nicht „Einstiegsquali-
fizierung Plus“ einführen. Das ist der falsche Weg.


(Beifall bei der SPD)


Ich will einen weiteren Punkt ansprechen, weil dieser
zunehmend eine Rolle spielt. Das ist die Qualität und die
Qualitätsentwicklung in der beruflichen Bildung. Wenn
es richtig ist, Frau Ministerin, dass der Nationale Pakt
für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs diesen Punkt
als wesentlichen Aspekt enthält, dann darf man auch ein-
mal nachfragen, was wir mit den 1,5 Millionen Men-
schen zwischen 20 und 29 Jahren ohne Berufsabschluss
machen. Ich meine diejenigen, die weder eine duale Be-
rufsausbildung noch eine Ausbildung nach Landesrecht
noch eine Assistentenausbildung oder einen Hochschul-
abschluss haben. Was machen wir mit denen? Wie pa-
cken wir die an? Das sind 1,5 Millionen. In der Alters-
gruppe der 25- bis 35-Jährigen sind es sogar 2 Millionen.
Das heißt, wir haben eine Menge Leute, die nicht qualifi-
ziert sind. Wir brauchen endlich konzeptionelle Vor-
schläge, wie wir diesen Menschen über das SGB III oder





Willi Brase


(A) (C)



(D)(B)


das SGB II – eventuell benötigen wir dafür Steuermittel –
eine Chance geben können.

Wir wissen alle: Wer nicht qualifiziert ist, geht in den
Niedriglohnbereich. Ich spare mir jetzt einen Debatten-
beitrag dazu. Im Niedriglohnbereich verdient er aber
nicht viel, und im Alter muss er Grundsicherung bekom-
men. Das ist doch „linke Tasche – rechte Tasche“. Das
bringt doch nichts. Legen Sie ein gutes Konzept vor, wie
wir diese hohe Zahl von 1,5 Millionen Menschen ein
Stück weit verringern können.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die DGB-Jugend befragt alljährlich – auch dieses
Jahr wieder – die an der dualen Ausbildung Beteiligten,
vor allen Dingen die Auszubildenden, wie sie die Quali-
tät ihrer Ausbildung einschätzen. Es verwundert die
Fachleute nicht, dass dabei herauskam, dass der Bereich
Hotel und Gaststätten allergrößte Probleme hat. Gleich-
zeitig diskutieren wir – ich bin auch Mitglied im Aus-
schuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher-
schutz – über die Weiterentwicklung des Tourismus.
Dazu sage ich: In diesem Bereich müssen schnell Maß-
nahmen ergriffen werden. Die Abbrecherquote ist hoch.
Zwischen 40 und 50 Prozent der Ausbildungsverträge
werden aufgelöst. Zwischen 20 und 25 Prozent der Aus-
bildungsplätze sind unbesetzt.

Ich will darauf hinweisen – damit will ich nicht Wer-
bung machen, sondern verdeutlichen, dass manches, was
wir hier beschlossen haben, durchaus Sinn hatte –, dass
sich im Kammerbezirk meines Wahlkreises Siegen-Witt-
genstein Vertreter der Gewerkschaften, der Kammer und
der Betriebe zusammengesetzt haben, um die Frage zu
klären, wie man diese schwierige Situation verändern
kann. Ich sage nichts zu dem Prüfungsergebnis; denn das
wäre schon fast peinlich.

Die Frage ist: Wie können wir diese Situation ändern?
Im Jahr 2005 haben wir mit der Reform des BBiG den
örtlichen Berufsbildungsausschüssen mehr Aufgaben
gegeben und sie beauftragt, sich um die Qualität zu küm-
mern. Ich kann nur jeder und jedem empfehlen, vor Ort
zu schauen, wie es um die Qualität bestellt ist. Ausbil-
dungsmärkte sind regionale Märkte. Manchmal müssen
sich auch die Kammern bewegen. Manchmal müssen sie
auf Unternehmen zugehen und Druck machen, damit die
Ausbildung besser wird. Schauen Sie sich den Ausbil-
dungsreport 2012 der DGB-Jugend an. Darin steckt eine
Aufforderung, darüber zu diskutieren, wie wir die Quali-
tät im Bereich der beruflichen Bildung verbessern kön-
nen. Wenn die Fachkräftediskussion einen Sinn haben
soll, dann müssen wir bei der Qualität ansetzen. Dann
dürfen Überstunden, schlechte Bezahlung, schlechte Ar-
beitsbedingungen usw. usf. nicht auf der Tagesordnung
stehen. Dann muss die duale Ausbildung auch ein hohes
Maß an Qualität aufweisen. Dann ist sie vertretbar, und
dann lässt sie sich auch im Ausland gut verkaufen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719804000

Das Wort hat die Bundesministerin Dr. Annette

Schavan.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-
dung und Forschung:

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die berufliche
Bildung, die duale Ausbildung erfahren international
derzeit eine Zustimmung und Akzeptanz wie nie zuvor.
Das hat zwei Gründe: Der eine ist die hohe Arbeitslosig-
keit unter jungen Leuten, und zwar nicht nur in europäi-
schen Ländern. In vielen Regionen der Welt besteht die
Gefahr, dass ein akademisches Proletariat entsteht. Der
zweite Grund hängt mit der Frage zusammen, wie es an-
gesichts des raschen technologischen Wandels und der
raschen Entwicklung des Selbstverständnisses und der
Anforderungen der Unternehmen gelingen kann, die
richtigen Fachkräfte zu bekommen.

Angesichts dessen sagen Kollegen aus Europa, aus
Südamerika, aus Indien, aus China und vielen anderen
Ländern: Wir wollen diese starke Seite des Bildungssys-
tems in den deutschsprachigen Ländern einführen. Des-
halb werden wir eine europäische Berufsbildungskonfe-
renz in Berlin durchführen. Wir wollen uns nicht nur mit
der Frage beschäftigen, wer aus anderen Ländern kurz-
fristig nach Deutschland kommen kann, um hier ausge-
bildet zu werden, sondern wir wollen uns auch mit der
Frage beschäftigen, wie die Bildungssysteme und Lern-
kulturen in anderen Ländern durch die Zusammenarbeit
verschiedener Akteure und mithilfe eines großen Einsat-
zes der Unternehmen weiterentwickelt werden können.

Es stimmt, was im BIBB-Bericht steht, also im Be-
richt des Bundesinstituts für Berufsbildung: Die jetzige
Entwicklung hat mit der demografischen Veränderung
zu tun.

Lieber Herr Brase, Sie haben recht, wenn Sie sagen,
dass die guten Zahlen nicht nur das Ergebnis rot-grüner
Regierungspolitik sind; da stimme ich Ihnen sofort zu.
Das Ergebnis nur unserer Regierungspolitik sind sie aber
auch nicht. Weder Schwarz-Gelb noch Rot-Grün ist aus-
schlaggebend. Aber unterschätzen wir nicht das, was
diese Bundesregierung seit 2005 gerade im Blick auf
benachteiligte Jugendliche, gerade im Blick auf die Wei-
terentwicklung der beruflichen Bildung auf den Weg ge-
bracht hat. Ohne kluge Politik entwickelt sich Berufsbil-
dungspolitik nicht weiter.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Damit komme ich zu den Fakten. Die Zahl der Ausbil-
dungsverträge hat sich bundesweit um 10 000 erhöht.
Entsprechend ist die Zahl derer, die unversorgt sind, deut-
lich zurückgegangen. Verglichen mit 2010 gibt es einen
Rückgang um 10 000 bzw. 5,7 Prozent. In dieser Gruppe
sind jetzt noch rund 174 000. Das ist die Gruppe, die Sie
unter anderem angesprochen haben, um die wir uns be-
sonders kümmern. Man muss allerdings auch sagen: Al-
lein in den letzten vier Jahren ist diese Gruppe um
100 000 zurückgegangen. Der Rückgang um 100 000 im





Bundesministerin Dr. Annette Schavan


(A) (C)



(D)(B)


Übergangssystem ist nicht Konsequenz der demografi-
schen Entwicklung, sondern Konsequenz zahlreicher
Maßnahmen mit vielen Akteuren. Dazu gehört unter an-
derem der Ausbildungspakt der Bundesregierung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Zahl der Eintritte in das Übergangssystem ist um
8 Prozent gesunken. Auch das ist interessant, Herr
Brase: Die Zahl derer, die in das Übergangssystem ge-
kommen sind, ist seit 2005 um knapp 30 Prozent gesun-
ken. Deshalb bin ich sehr zuversichtlich. Wir haben eine
Verbindung von richtigen Maßnahmen.

Dies gilt übrigens auch beim Einstieg. Ich halte die
Initiative „EQ Plus“, die im Rahmen des Paktes verein-
bart worden ist, für nicht so schlecht. Wir müssen immer
wieder über Maßnahmen nachdenken, mit deren Hilfe
die, die sich schwertun, den Einstieg schaffen, nicht, um
dann niedriger qualifiziert zu werden, sondern um er-
folgreich den Einstieg zu schaffen und über die zweijäh-
rige in die dreijährige Ausbildung zu kommen. Ich bin
sehr zuversichtlich, dass die richtigen Maßnahmen, die
richtigen Weichenstellungen und die demografische Ent-
wicklung zu einem deutlichen Abbau des Übergangsbe-
reichs in den nächsten Jahren führen können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Schließlich noch etwas zur Gruppe der Ungelernten;
auch diese hat Herr Brase angesprochen. Ich nenne jetzt
einmal die Altersgruppe 20 bis 24 als Beispiel.


(Katja Mast [SPD]: Bis 29!)


Man kann nicht einfach warten, bis sie irgendwo eine
Chance bekommen. Deshalb erinnere ich an die Förder-
initiative „Abschlussorientierte modulare Nachqualifi-
zierung“. Da wird übrigens deutlich, dass gerade im Be-
reich der Nachqualifizierung die Möglichkeiten, Module
anzubieten, eine hohe Bedeutung haben. Das gilt für den
Weiterbildungsbereich, aber auch für den Nachqualifi-
zierungsbereich. Das Programm „Perspektive Berufsab-
schluss“ des BMBF zeigt gute Quoten; auch in dieser
Gruppe gibt es einen Rückgang.

Die Bundesagentur für Arbeit rechnet bis zum Jahr
2025 mit einem Rückgang der Zahl der Erwerbstätigen
um 6,5 Millionen. Natürlich sind diese Prognosen über
unsere Bevölkerungsentwicklung ein ganz wesentlicher
Grund dafür, dass wir sagen: Wir müssen erreichen, dass
die Unternehmen in unserem Land Fachkräfte bekom-
men. Aber ich füge hinzu: Für mich sind die Zukunfts-
chancen der jungen Generation nach wie vor die aller-
erste Motivation in der Berufsbildungspolitik. Das muss
Markenzeichen unserer Politik sein, und das ist Marken-
zeichen unserer Politik. Wir müssen Sorge dafür tragen,
dass junge Leute in Deutschland Zukunftsperspektiven
haben. Die Erfahrungen, die wir gesammelt haben, müs-
sen auch in einen Prozess der internationalen Weiterent-
wicklung der Bildungssysteme einfließen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Aufgrund der demografischen Entwicklung gibt es
zusätzlichen Reformbedarf. Die Stichworte hier sind:
Ausbildung in der Fläche, Berufsgruppen. Wer berufli-

che Schulen und Ausbildungsbetriebe besucht, der weiß,
dass es für die Ausbildungsbetriebe wichtig ist, dass die
Ausbildung in der Nähe des Betriebes stattfindet. Aber
bei immer mehr klassischen Berufsbildern müssen die
jungen Leute viele Kilometer fahren, um überhaupt noch
beschult zu werden. Deshalb werden wir den Prozess der
Bildung von Berufsgruppen im Zuge der Neuordnung
von Berufsbildern deutlich voranbringen. Wir werden
Sorge dafür tragen, dass attraktive Bildungs- und Be-
rufsperspektiven damit verbunden sind.

Berufsfamilie oder Berufsgruppe – wie man es nennt,
ist mir egal – heißt auch: Jetzt haben wir die Chance,
dass bei Neuordnungen, bei Weiterentwicklungen noch
stärker definiert wird: Welchen Grundbestand an Kom-
petenzen haben wie viele Berufe? Nehmen Sie etwa den
Bäcker, den Konditor oder den Speiseeismeister. Was ist
das gemeinsame Fundament? Wie kann eine Berufsfa-
milie aussehen? Was sind Module für Spezialisierung?

Das beinhaltet auch neue, zusätzliche Perspektiven,
weil der, der das eine Modul belegt hat, in der Lage ist
und die Möglichkeit hat, im Laufe seines Berufslebens
weitere Module hinzuzunehmen. Die Debatte über Mo-
dularisierung werden wir also ganz anders führen als vor
einigen Jahren. Da bestand die Gefahr, dass junge Leute
bei Modularisierung zu früh abspringen und nicht eine
wirklich qualifizierende Ausbildung erhalten. Heute ist
der Begriff „Modularisierung“ auch bei den Sozialpart-
nern sehr viel mehr mit Weiterentwicklungsperspektiven
verbunden. Damit müssen wir zügig vorangehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Schließlich war ein ganz wichtiger Punkt – das merke
ich überall, vor allem im Handwerk, aber auch bei den
Industrie- und Handelskammern –: Die Gleichsetzung
des Technikers und des Meisters mit dem Bachelor ist im
deutschen Qualifikationsrahmen ein unglaublich wichti-
ges Symbol gewesen. Die symbolische Wirkung ist noch
viel höher als das, was damit an Philosophie der Berufs-
bildungspolitik tatsächlich verbunden ist.

Das Gleiche gilt für das Anerkennungsgesetz. Auch
hier gibt es viele positive Nachrichten darüber, wie sich
die Kammern vor Ort darum kümmern, dass die Aner-
kennungsverfahren sowie die konkreten Prozesse positiv
ablaufen. Angesichts dessen sage ich:

Erstens. Die Demografie wird uns vor weiteren Re-
formbedarf stellen. Ob man sie jetzt positiv oder negativ
empfindet, ist ganz egal. Tatsache ist: Unsere Unterneh-
men bieten mittlerweile Ausbildungsstellen an, die nicht
besetzt werden. Das macht ihnen Sorge, weil sie früher
ihre Auszubildenden übernommen haben. Nun fragen
sie uns, wie es noch besser gelingen kann, dass sie genü-
gend Fachkräfte bekommen.

Zweitens. Diejenigen, die im Übergangssystem sind,
brauchen viele verschiedene Wege, um die Kompeten-
zen zu erhalten, die ihnen einen guten Einstieg in die be-
rufliche Bildung ermöglichen.

Drittens. Wir werden bei der Neuordnung nicht mehr
immer mehr Spezialisierung zulassen dürfen. 360 Aus-
bildungsberufe sind – dies kann man sagen – ein Zeichen





Bundesministerin Dr. Annette Schavan


(A) (C)



(D)(B)


für unsere sehr ausdifferenzierte Landschaft. Aber es
dürfen nicht mehr werden, und es muss in der großen
Gruppe der 360 Ausbildungsberufe Strukturen geben,
die zu deutlich mehr Berufsgruppen oder Berufsfamilien
führen.

Insofern mein Votum: Lassen Sie uns jetzt nicht über
solch alte Klamotten wie Ausbildungsgarantie oder Um-
lagefinanzierung reden. Vielmehr setzen wir auf das frei-
willige hochverantwortliche Engagement unserer Unter-
nehmen. Ich möchte die Unternehmen jetzt dafür
gewinnen, sich eben auch in Spanien, in Portugal, in der
Slowakei, in Indien, wo Anfang November darüber bera-
ten wird, und anderswo dafür zu engagieren. Das hilft
unseren jungen Leuten mehr. Deren Zukunftschancen
müssen das erste Ziel sein, das uns leitet, wenn wir über
Berufsbildungspolitik sprechen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719804100

Das Wort hat die Kollegin Agnes Alpers für die Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Agnes Alpers (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719804200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine Damen und Herren! Frau Schavan,
über genau diese alten Klamotten wie Ausbildungsga-
rantie müssen wir in Anbetracht der Probleme heute sehr
wohl noch reden. Aber darauf werde ich später noch zu-
rückkommen.


(Beifall bei der LINKEN)


Unsere Regierungsfraktionen sagen immer: Die Aus-
bildungsplatzchancen steigen. Es gibt mehr unbesetzte
Stellen als Bewerberinnen und Bewerber. Das größte
Problem ist, 30 000 freie Ausbildungsstellen zu beset-
zen. – Aber das hat nichts mit der Realität zu tun.

Der Berufsbildungsbericht 2012 besagt, dass von den
bei der Bundesagentur für Arbeit rund 540 000 gemelde-
ten Ausbildungsbewerberinnen und -bewerbern nur gut
die Hälfte einen Ausbildungsplatz bekommen hat. Bei
über 100 000 jungen Menschen weiß diese Agentur, wo
sie verblieben sind. Aber sie haben keinen Ausbildungs-
platz erhalten. Von fast 86 000 Bewerberinnen und Be-
werbern weiß man nicht, was aus ihnen geworden ist.
Aber auch sie haben keinen Ausbildungsplatz erhalten.
Wir halten also fest: Sie zählen fast 200 000 junge Men-
schen in Ihrer Statistik als „vermittelt“, obwohl sie gar
keinen Ausbildungsplatz erhalten haben.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Was?)


Das ist doch nichts anderes als schnöde Trickserei. So et-
was lassen wir Ihnen nicht durchgehen.


(Beifall bei der LINKEN)


Das heißt also, insgesamt befinden sich weit über
200 000 junge Menschen im Übergangssystem. 1,5 Mil-
lionen junge Menschen zwischen 20 und 29 Jahren

haben keine Ausbildung. Rechnen wir die Menschen bis
34 Jahre hinzu, sind es sogar 2,2 Millionen. Die Linke,
Frau Schavan, bleibt dabei: Setzen Sie das Recht auf
Ausbildung um und führen Sie endlich die Ausbildungs-
umlage ein!


(Beifall bei der LINKEN)


Das zweite Problem. Trotz des Ausbildungspakts
bilden nur noch 22,5 Prozent der Betriebe aus. Der
Grund – so die Arbeitgeber –: Nur gut die Hälfte der Be-
triebe darf noch ausbilden, und kleine Betriebe können
ihre Ausbildungsplätze nicht besetzen. – 2003, meine
Damen und Herren, wurde die Pflicht, eine Ausbilder-
eignungsprüfung vorzuweisen, aufgehoben, um zu er-
möglichen, dass auch Betriebe ohne Ausbilderin oder
Ausbilder ausbilden. Es wurden aber fast keine neuen
Ausbildungsplätze eingerichtet. Sechs Jahre später
wurde die Ausbildereignungsprüfung deshalb wieder
eingeführt.

Was also hindert die Betriebe tatsächlich daran, aus-
zubilden? Arbeitgeber in kleinen Betrieben sagen mir:
Der Druck ist sehr groß. Jeder Auftrag muss schnell und
fachgerecht ausgeführt werden. Es gibt keine Ausbilder,
oder man hat keine Zeit, um den Lehrlingen alles zu er-
klären und die Erklärungen zu wiederholen. Generell
brächten die Azubis zu wenig Praxiserfahrung mit. – Wir
Linke sagen: Kleine Betriebe müssen unterstützt wer-
den, wenn sie eine Ausbildungsbefähigung erwerben
wollen. Sie sollen gefördert werden, wenn sie erstmals
einen Ausbildungsplatz schaffen oder einen zusätzlichen
Ausbildungsplatz einrichten. Auch die Ausbildung im
Verbund wollen wir fördern.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Dann können Sie ja mal mit den Gewerkschaften anfangen!)


Ich selbst bilde im Bundestag eine Auszubildende
aus. Sicher: Man muss sich darauf einstellen, und man
muss sich umstellen. Allerdings eröffnet man einem jun-
gen Menschen Zukunftschancen. Deshalb, meine Damen
und Herren, lohnt sich Ausbildung. Als Lehrerin für
23 Ausbildungsberufe weiß ich, wie wichtig eine konti-
nuierliche Anbindung an den Betrieb ist.

An dieser Stelle wende ich mich den Grünen zu: Mit
Ihrem Konzept DualPlus propagieren Sie immer noch
die flächendeckende Modularisierung der Ausbildung.
Sie sehen den Vorteil darin, dass Betriebe nicht mehr die
gesamte Ausbildungsverantwortung übernehmen müs-
sen, sondern nur noch einzelne Ausbildungsbausteine
anbieten. Das ist Unsinn. Denn junge Menschen, ins-
besondere Menschen mit Unterstützungsbedarf, brau-
chen kein Modulhopping, sondern einen verlässlichen
Betrieb, in dem sie handlungsorientiert lernen und konti-
nuierlich die Berufsbildungsreife erwerben.


(Beifall bei der LINKEN)


Dritter Punkt – nun zu Ihnen, Frau Schavan –: Sie er-
zählen uns häufig von Bildungsketten, Berufsorientie-
rung und Einstiegsbegleitung. Dann behaupten Sie, dass





Agnes Alpers


(A) (C)



(D)(B)


der demografische Wandel die Ausbildungsprobleme
von ganz allein lösen wird.


(Uwe Schummer [CDU/CSU]: Das hat sie nie gesagt!)


Auch das ist Unsinn.


(Heiner Kamp [FDP]: Das sagt sie ja auch nicht!)


Das Bundesinstitut für Berufsbildung sagt klipp und
klar: Die Beschäftigungschancen von Menschen ohne
Berufsabschluss werden sich durch die demografische
Entwicklung nicht verbessern. – Eine der wichtigsten
Aufgaben ist doch heute, für die 1,5 Millionen jungen
Menschen ohne Berufsabschluss Perspektiven zu schaf-
fen. Dies gilt allerdings auch im Hinblick auf die
Menschen im Übergangssystem und alle Menschen ohne
Berufsabschluss.

Vierter Punkt – nun zur Einstiegsqualifizierung –: Ge-
dacht war sie, um jungen Menschen mit eingeschränkten
Vermittlungsperspektiven über die Praxis im Betrieb ei-
nen Ausbildungsplatz zu vermitteln. Die Arbeitgeber er-
halten dafür monatlich 216 Euro und einen Zuschuss zur
Sozialversicherung. Die Praxis zeigt aber, dass nicht nur
sogenannte benachteiligte junge Menschen eine Ein-
stiegsqualifizierung erhalten haben, sondern zur Hälfte
auch junge Menschen mit mittlerem Schulabschluss und
Abitur. Von all diesen jungen Menschen haben direkt
nach der Maßnahme aber nur 44 Prozent einen Ausbil-
dungsplatz erhalten. Ich frage Sie: Welche dieser jungen
Menschen – die ohne Schulabschluss oder die mit
Hauptschulabschluss oder die mit mittlerer Reife oder
die mit Abitur? – haben die Ausbildungsstellen wohl be-
setzt?

Fest steht jedenfalls, dass der begleitende Berufs-
schulunterricht, der ja keine Pflicht ist, meist nicht in
Anspruch genommen wird. Es gibt häufig kein Zertifi-
kat, also keinen Nachweis über die erworbenen Qualifi-
kationen.

Bei all diesen Mängeln verstehe ich nicht, warum die
SPD die Einstiegsqualifizierung als zentrales Instrument
im Übergangsbereich festschreiben will.

Dennoch finde ich: Dieses Instrument kann viele Vor-
teile bieten, wenn es richtig ausgestaltet wird. Ich sage
Ihnen: Wer eine Einstiegsqualifizierung erwirbt, der
muss auch einen Ausbildungsplatz bekommen. Die
Grundregel lautet für uns: Alle Maßnahmen müssen in-
dividuell auf die einzelnen Menschen abgestimmt wer-
den und verlässlich in Ausbildung führen.


(Beifall bei der LINKEN)


Fünfter Punkt. Warum können bestimmte Ausbil-
dungsplätze nicht besetzt werden? Das liegt zum einen
an den regionalen Ungleichgewichten. Während bei-
spielsweise in Bayern und an der Ostseeküste in ver-
schiedenen Berufen Auszubildende gesucht werden, gibt
es in Herford oder auch in meiner Heimatstadt Bremen
mehr Bewerberinnen und Bewerber als Plätze.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Damit ist der Wahlkreis erwähnt!)


Zum anderen gibt es große Unterschiede zwischen den
einzelnen Branchen.

Das Bundesinstitut für Berufsbildung geht davon aus,
dass für Büroberufe auch noch im Jahre 2030 ein ausrei-
chendes Fachkräfteangebot zur Verfügung stehen wird.
Ganz anders sieht es im Hotel- und Gaststättenbereich
aus. So kommen in der Gastronomie heute nur 37 Be-
werberinnen und Bewerber auf 100 Ausbildungsstellen.
Auszubildende im Hotel- und Gaststättengewerbe in
Bremen haben mir in Gesprächen und bei meiner Befra-
gung folgende Gründe genannt: Überstunden, ausbil-
dungsfremde Tätigkeiten, schlechte Vermittlung der
Ausbildungsinhalte, regelmäßig Arbeit nach der Berufs-
schule, kaum Freizeit, geringe Vergütung und geringe
Wertschätzung ihrer Person.

Angesichts dessen fordern wir als Linke: Die duale
Ausbildung muss attraktiv bleiben. Eine hohe Qualität,
eine gute Vergütung, Übernahmegarantie mit guten
Tarifen und Aufstiegsperspektiven, das schafft klare Per-
spektiven für all diese jungen Menschen.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Thomas Feist Planwirtschaft! Sechster Punkt. Fachkräftesicherung durch die Integration von jungen Menschen ohne Berufsausbildung. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales schätzt die Wirksamkeit, unterschiedliche Gruppen als Fachkräfte zu mobilisieren, folgendermaßen ein: Große Chancen werden darin gesehen, die Arbeitszeiten von erwerbstätigen Frauen auszuweiten und Ältere länger in Arbeit zu halten. Mittelund langfristig wird es aber auch sehr wirksam sein, nichterwerbstätige Mütter zu integrieren und die Bildungsangebote sowie die Angebote zur Betreuung von Kindern auszubauen. Im Gegensatz dazu stuft das Ministerium die Wirksamkeit der Anerkennung von ausländischen Abschlüssen und der Aktivierung von Langzeitarbeitslosen dafür, diese Menschen als Fachkräfte zu mobilisieren, als gering ein. Auch langfristig wird es kaum wirksam sein, Frauen für die MINT-Berufe zu interessieren. Die geringste Wirksamkeit hat die Integration von mehr Jugendlichen in die Berufsausbildung. Junge Menschen ohne Berufsausbildung müssen sich also wieder ganz hinten in der Schlange anstellen. Das ist nicht verantwortbar. Siebter Punkt. Ganz schlechte Perspektiven haben bei Ihrer Politik Menschen mit Migrationshintergrund, Menschen mit Behinderung und Frauen. Der Anteil aller mit Frauen abgeschlossenen Ausbildungsverträge liegt gerade noch bei 40 Prozent. Menschen mit Behinderung und Menschen mit Migrationshintergrund werden bei der Vergabe von Ausbildungsstellen oft gar nicht berücksichtigt. Nur jeder dritte Mensch mit Migrationshintergrund erhält heute einen Ausbildungsplatz – und das bei gleichen Interessen und gleichen Abschlüssen. Das ist nicht nur zu verurteilen, sondern das haben Sie auch abzustellen. Agnes Alpers Achter Punkt. Das große Konzept dieser Regierung heißt seit 2010: Nationaler Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs in Deutschland. Doch hier tut sich noch immer nichts Wesentliches. Es reicht eben nicht, mit den Arbeitgebern Absichtserklärungen auf einem Stück Papier abzugeben, sondern es muss endlich verbindlich für alle Menschen ohne Berufsausbildung gehandelt werden. (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Planwirtschaft!)


(CDU/CSU): Recht auf Aufstieg, das ist doch


(Beifall bei der LINKEN)


(Beifall bei der LINKEN)





(A) (C)


(D)(B)


Frau Ministerin Schavan, Sie schwadronieren


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das macht sie nun überhaupt nicht!)


über das duale System in Europa, in der ganzen Welt.
Garantieren Sie endlich hier allen Menschen eine gute
Ausbildung! Dann wird man Ihnen auch wieder glauben.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719804300

Heiner Kamp hat das Wort für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Heiner Kamp (FDP):
Rede ID: ID1719804400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Geschätzte Kollegin Alpers,
ich glaube, Sie haben heute über vieles geredet, aber
nicht über die Situation am Ausbildungsmarkt,


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das hat sie sehr wohl!)


die sehr erfreulich ist und die in der Tat mit Herausforde-
rungen verbunden ist, denen wir auch begegnen werden.
Ich werde Ihnen dies jetzt erläutern. Ich empfehle Ihnen,
gut zuzuhören.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


„Never touch a running system“: Wenn ein Motor
rund läuft, empfiehlt es sich eben nicht, an den Kolben
herumzuwerkeln; sonst entsteht Pfusch. Diesen klugen
Rat aus Betrieb und Werkstätte sollten sich Pädagogen,
Sozialwissenschaftler und Lehrer auf den Oppositions-
bänken hinter die Ohren schreiben.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP)


Bezwingen Sie doch einmal Ihren Drang, die Finger in
das gut geölte Räderwerk unseres Berufsbildungssys-
tems zu stecken. Sie ersparen dadurch unserem Land den
erwartbaren Pfusch und Murks und sich einige Tränen
der Reue.

Der deutsche Motor läuft rund. Die internationalen
Delegationen strömen ins Land, sie wollen „Training
made in Germany“ sehen, wollen erfahren, was es heißt,
wenn Berufsschulen und Ausbildungsbetriebe partner-
schaftlich kooperieren.

Ausbildungsplatzabgabe, Ausbildungsplatzgarantie
und das grüne DualPlus-Murks-Modell interessieren die
Besucher aus Spanien, Italien, China und Südamerika
dagegen nicht im Ansatz. Wen wundert’s!


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wenn wir uns den Berufsbildungsbericht 2012 anse-
hen, so haben wir allen Grund zur Freude. Das haben die
meisten eingesehen, auch die auf der Oppositionsbank.

Auch in diesem Berichtsjahr hat sich die Situation am
Ausbildungsmarkt wiederum weiter verbessert. Die
Schulabgängerzahlen gehen zurück. Die Zahl der Be-
werber ist um 2,5 Prozent zurückgegangen. Trotzdem ist
die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge
um 1,8 Prozent gestiegen.

Ganz besonders freue ich mich darüber, dass die Zahl
der betrieblichen Ausbildungsverträge um mehr als
20 000 angestiegen ist. Denn eine betriebliche Ausbil-
dung genießt für uns gegenüber außerbetrieblichen
Modellen ganz klare Priorität. Über diese Entwicklung
können junge Menschen in Deutschland zu Recht jubeln.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Erfreulich ist auch, dass die Anstrengungen zur Sen-
kung der Zahl der Altbewerber nach Jahren endlich ge-
fruchtet haben. Ihre Zahl ist merklich gesunken. Wir
sind auf dem richtigen Weg.

Liebe Frau Alpers, der Ausbildungspakt trägt
Früchte. Unser Dank gilt neben den Sozialpartnern, ne-
ben den Kammern, neben den Verbänden auch unserem
Bundeswirtschaftsminister Rösler, der die Weichen für
die Neuausrichtung des Paktes mehr als erfolgreich ge-
stellt hat.


(Beifall bei der FDP – Zuruf von der FDP: Guter Mann! – Willi Brase [SPD]: Brüderle hat unterschrieben! Das ist doch lächerlich!)


Nicht Ausbildungsplätze wie zu Zeiten von Rot-Grün,
sondern junge Auszubildende werden heute gesucht.
Wer heute einen Ausbildungsplatz sucht, hat so gute
Karten wie schon lange nicht mehr.

Die große Stärke unserer dualen Berufsausbildung ist
doch die Nähe zur betrieblichen Praxis. Sie sichert einer-
seits eine bedarfsgerechte und praxisnahe Ausbildung,
andererseits gewährleistet sie hohe Quoten der Über-
nahme in Beschäftigung. Eine Ausbildung ist und bleibt
die beste Garantie für gesellschaftliche Teilhabe und
Integration in den Arbeitsmarkt.

Wir, Deutschland, sind in der Krise gerade deswegen
so erfolgreich, weil unser System der beruflichen Aus-
bildung uns innovationsfähiger macht als unsere Nach-
barn, denen die Brücke zwischen Berufsschule und
Betrieb fehlt. Darum ist das Handwerk in Deutschland
so stark. Deswegen sind unsere mittelständischen Be-
triebe so innovativ. Das ist nichts Neues. Doch da meine
Worte die Zweifel im Oppositionslager eventuell nicht
ganz werden ausräumen können,


(Heiterkeit bei der FDP)






Heiner Kamp


(A) (C)



(D)(B)


möchte ich auf den Innovationsindikator der Deutsche-
Telekom-Stiftung und des BDI verweisen, der in der
nächsten Woche vorgestellt wird.


(Willi Brase [SPD]: BDI, das sind Lobbyisten!)


In der oberen Hälfte des Innovationsrankings finden sich
vor allem Länder, die vorwiegend – wen wundert’s! –
dual ausbilden. Das ist ein Beleg dafür, dass die Durch-
akademisierung unserer Bevölkerung nicht zwingend
zum Glück und zum Wohle der Nation führt. Man blicke
nur auf Finnland mit einer Jugendarbeitslosigkeit von
über 20 Prozent.

Mit 8,1 Prozent verzeichnete Deutschland im August
2012 die geringste Jugendarbeitslosigkeit in Europa.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Es hat sich ausgezahlt, dass wir nicht, wie von so vie-
len Visionären verlangt, die Axt an unser System der
Berufsausbildung gelegt haben. Wir sind gut damit ge-
fahren, dass wir von den so vollmundig geforderten Ex-
perimenten abgesehen haben und die Forderung nach
Auflagen, nach Zwangsmaßnahmen für Ausbildungsbe-
triebe abwehren konnten. Nicht zuletzt deswegen bilden
sich vor den Türen des Bundesministeriums für Bildung
und Forschung und unseres bundeseigenen Berufsbil-
dungs-Think-Tanks BIBB lange Schlangen. Das erfolg-
reiche deutsche Berufsbildungssystem wird zunehmend
ein Exportschlager. Da ist es ein richtiger Schritt, wenn
wir beim BIBB eine Zentralstelle für internationale Zu-
sammenarbeit einrichten. Durch seine bereits bestehen-
den internationalen Kooperationen ist es für diese Auf-
gabe mehr als gut gerüstet.

Auf einem Berufsbildungsgipfel in Berlin werden wir
bald gemeinsam mit mehreren unserer europäischen
Partner über eine Modernisierung der beruflichen Bil-
dung in Europa beraten. Ergebnis soll ein konkreter
Fahrplan sein. Es gilt, unseren Nachbarn und Freunden
zu helfen, die eigenen Bildungssysteme zu impfen und
diese für spätere Krisen weniger anfällig zu machen. Es
ist doch ein großer Erfolg, wenn zum Beispiel Indien auf
Anregung aus Deutschland nun die Zusammenarbeit von
Berufsschulzentren und Wirtschaft zulässt: ein erster
Schritt in Richtung Dualität, ein wichtiger Schritt für das
Bildungssystem der größten Demokratie auf unserem
Globus.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Bei allem Erfolg der beruflichen Bildung in Deutsch-
land und der weiter verbesserten Lage am Ausbildungs-
markt dürfen wir aber auch die Augen nicht vor den
Herausforderungen verschließen, die noch vor uns liegen.
Zwei sind auch in diesem Berichtsjahr wieder deutlich
geworden: Erstens. In einigen Regionen und Branchen
haben Unternehmen zunehmend Probleme, passende Be-
werber zu finden. Zweitens. Auch fällt es – natürlich –
gerade den leistungsschwächeren Jugendlichen nach wie
vor noch schwer, einen Einstieg in die Ausbildung zu
finden.

Die Initiative „Bildungsketten“ und der Ausbildungs-
pakt sind die richtigen Antworten auf diese zwei As-

pekte. Mit ihnen helfen wir leistungsschwächeren Schü-
lerinnen und Schülern auf die Beine. Wir unterstützen
sie und Betriebe dabei, ein echtes Ausbildungsverhältnis
einzugehen. Keine Maßnahme, kein Übergangssystem,
kein Tun-als-ob: Nichts ist so gut wie echte betriebliche
Ausbildung.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Genau deswegen nehmen wir 75 Millionen Euro in die
Hand, um diese echten Ausbildungsplätze zu unterstüt-
zen; Hilfe zur Selbsthilfe und keine Dauerschleifen der
Beschäftigungstherapie.

Ganz anders die Opposition. Da will die SPD tatsäch-
lich der unter Volldampf stehenden Maschine Ausbil-
dung die Zahnräder austauschen. Trotz Ausbildungs-
platzüberschuss wird nun eine Ausbildungsplatzgarantie
gefordert. Was kommt als Nächstes?


(Agnes Alpers [DIE LINKE]: Wo ist denn der Überschuss, Herr Kamp, bei Millionen von Menschen ohne Berufsausbildung? – Willi Brase [SPD]: Das waren doch Ihre Landesregierungen, die das gemacht haben! Informieren Sie sich mal richtig!)


Strafen für Ausbildungsbetriebe, weil sie keine Auszu-
bildenden finden? Lässt Herr Steinbrück die Kavallerie
schon aufsitzen?

Die Grünen üben sich dagegen wieder einmal in
Zwangsbeglückung. Sie präsentieren mit ihrem Wunder-
modell DualPlus die Minusnummer schlechthin. Im Ge-
spräch mit Sozialpartnern und Kammervertretern ernte
ich stets Stirnrunzeln, Unverständnis, ja manchmal auch
ein Schmunzeln, wenn DualPlus zur Sprache kommt.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Waren Sie dabei?)


Bislang ist mir noch nie ein Sachverständiger oder Ex-
perte untergekommen, der diese windigen Projekte auch
nur im Ansatz für praktikabel und umsetzbar gehalten
hätte. Kurzum: Wir brauchen keine Zwangsabgaben,
keine Strafen für Ausbildungsbetriebe, kein schulisches
Ergänzungsmodell. Wir brauchen eine vernünftige be-
rufliche Bildung.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719804500

Kurzum: Ihre Redezeit ist abgelaufen.


Heiner Kamp (FDP):
Rede ID: ID1719804600

Lassen Sie mich ganz kurz noch auf unsere Maßnah-

men und Vorschläge eingehen; dann bin ich auch schon
fertig.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719804700

Nein, Herr Kollege. Sie sind jetzt schon über eine

Minute über Ihre Redezeit.


Heiner Kamp (FDP):
Rede ID: ID1719804800

Ist es schon eine Minute?


(Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719804900

Ja. Das müssen Sie vielleicht in den weiteren Bera-

tungen ausführen.


Heiner Kamp (FDP):
Rede ID: ID1719805000

Schade. – Sie können das in unserem Antrag gerne

nachlesen.


(Willi Brase [SPD]: Der Antrag ist schwach! Da haben Sie schon bessere gemacht!)


Er ist umfassend, er ist nicht ideologiegeführt. Unsere
Vorschläge sind sachgerecht und vor allem praktikabel.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719805100

Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt der Kollege Kai

Gehring für Bündnis 90/Die Grünen.


(Beifall der Abg. Katja Mast [SPD])



Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719805200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Auch der siebte Berufsbildungsbericht unter Ministerin
Schavan bilanziert, dass Berufsbildung nicht zu den Her-
zensanliegen dieser Koalition zählt.


(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)


Auf großer Bühne und überall in Europa lobt die
Ministerin zwar seit Jahren die duale Ausbildung. Ange-
sichts dramatischer Jugendarbeitslosigkeitsquoten in an-
deren Ländern ist das Interesse dort auch groß. Bei der
konkreten Berufsbildungspolitik hierzulande hakt es
aber. Noch immer hat die Koalition kein Konzept vor-
gelegt, um gemeinsam mit Ländern, Kommunen und der
Bundesagentur für Arbeit das Dickicht der Über-
gangsangebote zwischen Schule und Ausbildung zu lich-
ten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Auch in der Antwort der Bundesregierung auf unsere
Kleine Anfrage haben wir vergeblich danach gesucht,
und noch immer verweist die Koalition lieber auf immer
neue Projekte, als das ganze System endlich geschlossen
und entschlossen zukunftsfähig zu machen. Angesichts
des steigenden Fachkräftemangels ist das zu wenig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Bezeichnend ist auch, dass der Berufsbildungsbericht
erst ein halbes Jahr nach seiner Beratung im Kabinett
und ein halbes Jahr vor der Vorlage des nächsten Berich-
tes im Parlament beraten wird – und nicht etwa auf Re-
gierungsinitiative, sondern weil die Opposition kluge
Anträge zur Reform der beruflichen Bildung vorgelegt
hat.

Für die Schulabgängerinnen und -abgänger ist es kein
gutes Zeichen, dass Schwarz-Gelb auch 2013 weiter
ausschließlich auf eine gute Konjunktur, den eher uner-
giebigen Ausbildungspakt mit der Wirtschaft und den

demografisch sinkenden Anteil von Ausbildungsplatzsu-
chenden setzt. Das ist kein Konzept für die notwendige
Modernisierung des Berufsbildungssystems, das ist Aus-
sitzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Für uns als Grüne-Fraktion ist gute Ausbildung der
Schlüssel zu Bildungsgerechtigkeit und Teilhabe. Wir
wollen die Betriebe mit mehr potenziellen Fachkräften
zusammenbringen, und wir wollen für alle Jugendlichen
das Recht auf eine anerkannte qualifizierende Ausbil-
dung verwirklichen, egal ob ohne oder mit Einwande-
rungsgeschichte, ob leistungsstark oder schulmüde, ob
gehandicapt oder nicht. Es kommt darauf an, jeden und
jede bis zum Berufsabschluss mitzunehmen. Dafür müs-
sen sich alle – Sozialpartner, Gesellschaft und Politik –
viel stärker ins Zeug legen. Wir dürfen niemanden zu-
rücklassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Natürlich stimmt es auch uns sehr optimistisch, dass
sich der Ausbildungsmarkt leicht entspannt. Das ist aber
kein Grund zur Entwarnung und kann nicht darüber hin-
wegtäuschen, dass es rund 175 000 Altbewerber gibt, die
sich seit mehr als einem Jahr um einen Ausbildungsplatz
bemühen, dass auch 2011 fast 300 000 Neuzugänge in
unwirksamen Maßnahmen des Übergangssektors ge-
parkt wurden und dass die Chancen auf einen Ausbil-
dungsplatz ungerecht verteilt sind und viel zu viele
Jugendliche durchs Raster fallen.

Daher frage ich Sie, Frau Ministerin Schavan: Was
tun Sie für die 2,2 Millionen bis 34-Jährigen ohne Be-
rufsabschluss, die sich weder in einer Maßnahme noch
in Ausbildung befinden? Der DGB nennt diese Gruppe
zu Recht „Generation abgehängt“, da ihr prekäre Ar-
beitsverhältnisse oder Arbeitslosigkeit drohen. Für diese
Gruppe stehen viel zu wenig Qualifizierungsangebote
bereit. Das muss sich ändern. Die Spaltung des Ausbil-
dungsmarktes in Chancenreiche und Chancenarme muss
beendet werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Der Weg der Koalition, sich nur auf die Paktpartner
zu verlassen, bringt zu wenig; denn sie haben ihr Ziel,
die Zahl der Ausbildungsabbrüche zu verringern, klar
verfehlt. Die Vertragslösungsquote ist sogar auf 23 Pro-
zent gestiegen. Ein Teil der Abbrüche ist auf schlechte
Arbeitsbedingungen zurückzuführen, bis hin zu Fällen
von Ausnutzung. Das heißt, wir müssen die Qualität der
Ausbildung weiter stärken.

Der übergroßen Mehrheit der Ausbildungsbetriebe in
unserem Land gebührt die Anerkennung des gesamten
Hauses. Sie leisten wahnsinnig viel für die Perspektiven
der jungen Generation und die Chancen unserer Wirt-
schaft. Wir beobachten aber aufmerksam und mit Sorge,
dass der Anteil der Ausbildungsbetriebe rückläufig ist.
Hier fordern wir eine Trendumkehr. Wir brauchen wie-
der mehr Betriebe, die ausbilden, und wir brauchen mehr





Kai Gehring


(A) (C)



(D)(B)


mutige Betriebe, die auch Jugendlichen mit schlechten
Zeugnissen eine Chance geben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Genau hier setzt unser Konzept DualPlus an. Dual-
Plus garantiert individuelle Förderung, bringt Betriebe
und Bewerber zusammen und fügt sich in die unter-
schiedlichen Gegebenheiten der Bundesländer ein. Dual-
Plus gestaltet diesen ineffizienten Übergangsdschungel
zu einer echten Eingangsphase der beruflichen Ausbil-
dung für alle Jugendlichen um; denn alle ausbildungs-
interessierten Jugendlichen, die keinen Ausbildungsplatz
bekommen haben, erhalten ein Angebot. Nach dem dua-
len Prinzip durchlaufen sie einen Teil ihrer Ausbildung
in der Berufsschule und einen Teil im Betrieb. Dabei er-
reichen sie auch Zwischenziele, weil die Ausbildung in
einzeln zertifizierten und bundesweit anerkannten Aus-
bildungsbausteinen unter Wahrung des Berufsprinzips
absolvierbar ist.

Überbetriebliche Ausbildungsstätten – das ist neu –
unterstützen Jugendliche zusätzlich. Hier können sie ihre
Stärken ausbauen und Schwächen ausbügeln, zum Bei-
spiel mit gezielter Sprachförderung. Diese Unterstüt-
zungsstruktur entlastet ausbildende Betriebe; auch
kleinste und spezialisierte können sich beteiligen. Dual-
Plus ist gut anschlussfähig bei Reformkonzepten von
Bundesländern, die ihr Übergangssystem längst neu
strukturieren, sei es in Hamburg oder Nordrhein-West-
falen. Deshalb schlagen wir DualPlus zur bundesweiten
Umsetzung vor.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Politik und Tarifpartner sind in der Pflicht, gute und
verlässliche Ausbildung für alle Jugendlichen zu garan-
tieren. Das gelingt nicht durch Warten auf Konjunktur
und demografischen Wandel, liebe Koalition. Jugend-
liche brauchen Ausbildung statt Aussitzen. Packen Sie
es endlich an!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719805300

Uwe Schummer hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Uwe Schummer (CDU):
Rede ID: ID1719805400

Meine Damen und Herren! Verehrtes Präsidium!

DualPlus wird nach dem, was wir in unseren Gesprächen
mit dem Handwerk gehört haben, vom Handwerk mas-
siv abgelehnt, weil es als Abkehr vom dualen System ge-
sehen wird.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt nicht!)


Aber darüber können Sie mit dem Handwerk gerne wei-
ter diskutieren.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das tun wir auch! Wir haben ein gemeinsames Papier! – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben ein gemeinsames Papier mit denen erarbeitet!)


Wir werden das aufmerksam verfolgen.

Interessant war gestern unser gemeinsames Fachge-
spräch im Bildungsausschuss über grenzüberschreitende
Ausbildungskooperationen. Dabei ist eindeutig festge-
stellt worden, dass die duale Ausbildung in Deutschland,
Österreich und der Schweiz mittlerweile weltweit Vor-
bild geworden ist als ein Instrument, mit dem die Krise
überwunden und jungen Menschen Handlungskompe-
tenz vermittelt werden kann. Viele Länder überlegen
mittlerweile, dieses System zu übernehmen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wir Deutschen haben mit 7,9 Prozent die geringste
Jugendarbeitslosigkeit nach der Krise innerhalb der
Europäischen Union. Der Durchschnitt der Jugendar-
beitslosigkeit der unter 25-Jährigen in der Europäischen
Union liegt bei 22,6 Prozent; die Spitzen der Jugendar-
beitslosigkeit in Griechenland und Spanien liegen bei
über 50 Prozent.

Lernen in der Praxis für die Praxis hat eine hohe Inte-
grationskraft in Bezug auf die Arbeitswelt. Wissen ist
wichtig. Das Wissen auch anwenden zu können – das,
was in der dualen Ausbildung mit der Handlungskompe-
tenz vermittelt wird –, ist aber am Ende entscheidend.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Spanien und Griechenland wollen Formen der dualen
Ausbildung entwickeln. Auch Themen wie Solartechnik,
effizientes Bauen und deutsche Handwerkskultur sind
eng mit der dualen Ausbildung verknüpft. Das ist eine
Voraussetzung, die wir in Deutschland haben und die an-
dere Volkswirtschaften entwickeln wollen, um wirt-
schaftliche Potenziale in ihren Ländern zu schaffen, und
damit auch ein Teilelement, um die Überwindung der
Krise in diesen Staaten voranzutreiben.

Ein solcher europäischer Bildungsraum braucht auch
Mobilität, und Mobilität braucht so etwas wie Angebote
zum Jugendwohnen. Es war eine ganz wichtige Ent-
scheidung der christlich-liberalen Koalition, dass die
550 Jugendwohnheime für Jugendliche in der Ausbil-
dung, die wir in Deutschland haben, wieder Investitions-
förderung bekommen. Damit bieten wir wieder pädago-
gische Begleitung und eine Unterkunftsmöglichkeit, und
es kann entsprechender Förderunterricht organisiert wer-
den, wenn Mobilität von Hunderttausenden junger Men-
schen im Rahmen der Ausbildung notwendig und sinn-
voll ist.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wir sollten dankbar sein, dass bei uns in Deutschland
über die duale Ausbildung 30 Milliarden Euro jährlich
von der Wirtschaft für Ausbildungsvergütungen, Ausbil-
dungswerkstätten und Ausbilder, die freigestellt werden,
zur Verfügung gestellt werden. Das heißt, 70 Prozent der
gesamten dualen Ausbildungskosten finanziert bei uns





Uwe Schummer


(A) (C)



(D)(B)


die Wirtschaft. Es ist kaum denkbar, dass diese Finanzie-
rungslast von den öffentlichen Haushalten alleine getra-
gen werden könnte. Das ist der Ansatz, die Wirtschaft
mit ins Boot zu holen – auch bei der Finanzierung, der
Qualitätssicherung und der Bereitstellung entsprechen-
der Ausbildungsplätze.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ein wichtiger Erfolg der Bundesregierung der letzten
Jahre ist, dass die Zahl der sogenannten Altbewerber – das
heißt derjenigen, die vor mehr als zwölf Monaten aus der
Schule entlassen wurden und einen Ausbildungsplatz su-
chen – von 380 000 auf immerhin 175 000 abgebaut
worden ist.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Ganz hervorragend!)


Der Trend, diese Gruppe mit einer Ausbildung zu ver-
sorgen, geht massiv weiter. Es zeigt sich auch eine Bil-
dungsrendite der dualen Ausbildung im Hinblick darauf,
wo die Arbeitslosigkeit am geringsten ist. Bei den Aka-
demikern liegt die Arbeitslosigkeit derzeit bei etwa
3,2 Prozent. In der Gruppe derer, die eine Weiterbil-
dungsqualifikation im dualen System erworben haben
wie Meister und Techniker, liegt die Arbeitslosigkeit
derzeit bei 2,7 Prozent. Das heißt, die Bildungsrendite
und letztendlich auch der Schutz vor Arbeitslosigkeit
sind in der dualen Ausbildung in den Weiterbildungs-
möglichkeiten am stärksten, noch stärker als in der aka-
demischen Qualifizierung. Auch das muss man hier und
heute klar und deutlich sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir – gerade unsere Ministerin Frau Schavan – haben
mit den Bildungsketten einen systematischen Übergang
von der Schule in den Beruf geschaffen. Wir haben da-
mit auch erreicht, dass ein Stück weit das Übergangssys-
tem geglättet und auch besser aufeinander abgestimmt
worden ist. Wir sagen, dass wir eine frühzeitige Berufs-
orientierung brauchen, beispielsweise nicht erst drei Mo-
nate vor der Schulentlassung, sondern drei Jahre vorher
mit einer Potenzialanalyse. Darauf aufbauend durchlaufen
die Jugendlichen dann in überbetrieblichen Werkstätten,
beim Handwerk oder in anderen Bereichen verschiedene
Berufsfelder wie Holz, Metall, Hauswirtschaft, Verwal-
tung, Gartenbau, um dort zu schauen, in welchem Be-
rufsfeld sie noch in der Schule betriebliche Praktika ab-
solvieren und ihre Berufsorientierung entsprechend
zielgerichtet organisieren können. Auch dies ist ein In-
strument gewesen, um die Schulabbrecherquote durch
mehr Motivation, durch frühzeitige und bessere Berufs-
orientierung von fast 10 Prozent auf 5,5 Prozent abzu-
senken.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das bedeutet 30 000 bis 40 000 weniger Schulabbrecher
aufgrund einer neuen Perspektive durch eine organi-
sierte, vernünftige Berufsorientierung. Es gibt eine Per-
spektive nach dem Abschluss: kein Abschluss in der
Schule ohne weiteren Anschluss.

Wir brauchen weiterhin auch Instrumente im Bereich
der Behinderten. In diesem Bereich liegt die Beschäfti-

gungsquote bei nur 0,9 Prozent. Das ist zu wenig. Ich er-
lebe in meiner Region am Niederrhein, wie mit einer Ini-
tiative der Lebenshilfe oder der Initiative „Kindertraum“
Behinderte sehr wohl in der Lage sind, beispielsweise
Gartenarbeiten durchzuführen, in Jugendzentren im Kü-
chendienst zu arbeiten oder auch in einem Museum alte
Gebäude zu restaurieren. Das alles dauert länger, man
braucht mehr Zeit. Aber ich denke, bei bestimmten Akti-
vitäten kann man ihnen diese Zeit auch einräumen.

Gemeinsam mit dem Berufsbildungsinstitut wollen
wir klären, dass aus den Berufsbildern heraus Bausteine
entwickelt werden, die einfache Arbeiten darstellen, mit
denen Teilqualifikationen vermittelt werden können, so-
dass man den Behinderten eine Chance gibt, integriert in
Unternehmen und außerhalb der betreuten Werkstätten
eine sinnvolle Beschäftigung zu finden. Da müssen wir
Potenziale nutzen und auch diese Potenziale stärker mit
in die Arbeitswelt hineinbringen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Eine gute Information: Bei unserer gestrigen Anhö-
rung im Ausschuss haben die Kammern zu dem Gesetz
zur Anerkennung der Kompetenzen gesagt, dass sich
von den 300 000 Menschen – diese Zahl hatten wir ge-
schätzt –, die aus dem Ausland nach Deutschland ge-
kommen sind, die bei uns leben und eine Qualifizierung
haben und diese Qualifizierung bei den Kammern aner-
kannt bekommen wollen, bereits 170 000 bei den Kam-
mern gemeldet hätten, und dies in den wenigen Wochen,
seitdem das Anerkennungsgesetz, das wir verabschiedet
haben, in Kraft getreten ist. Auch dies zeigt: Wir nutzen
und schöpfen Potenziale in unserer Wirtschaft. Das Po-
tenzial unserer Wirtschaft ist der Mensch, und der
Schlüssel zur Hebung dieses Potenzials ist die Bildung.
Da haben wir die beste Bildungsministerin in Deutsch-
land seit 1949 mit Annette Schavan.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zurufe von der SPD: Oh!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719805500

Oliver Kaczmarek hat jetzt das Wort für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Oliver Kaczmarek (SPD):
Rede ID: ID1719805600

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich

möchte zu Beginn eine grundsätzliche Anmerkung ma-
chen und auch auf den Redebeitrag der Ministerin zu-
rückkommen. Wenn wir über die grundsätzlichen He-
rausforderungen reden, dann müssen wir doch zwei
Dinge sehen: Das eine ist, dass wir jungen Menschen
durch eine qualifizierte Ausbildung Teilhabe gewähren.
Das andere ist, dass wir natürlich der Herausforderung
des Fachkräftemangels begegnen müssen. Da geht es
nämlich um nicht weniger als um die wirtschaftliche
Leistungsfähigkeit Deutschlands und um nicht weniger
als den Wohlstand, von dem wir alle leben. Vor diesem
Hintergrund und auch, wenn ich mir die Prognosen im
Berufsbildungsbericht zur Entwicklung der Abgänger-
zahlen ansehe, komme ich zu der Erkenntnis: Wir brau-





Oliver Kaczmarek


(A) (C)



(D)(B)


chen jeden jungen Menschen, der jetzt in der Schule ist,
der jetzt keine Beschäftigung hat, der jetzt keine Ausbil-
dung gefunden hat, egal woher er kommt, was seine El-
tern verdienen, wo er geboren worden ist. Das ist alles
egal, wir brauchen jeden. Deswegen ist es kein alter Hut,
zu sagen: Das Recht auf Ausbildung ist wichtig. Viel-
mehr ist es gesellschaftlich und auch wirtschaftlich, öko-
nomisch, dringend geboten, dass wir jedem eine faire
Chance auf Ausbildung anbieten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Weil die grundsätzliche Betrachtungsweise der SPD-
Fraktion durch den Kollegen Brase schon vorgetragen
worden ist, möchte ich zwei Anmerkungen zu Themen
machen, die uns besonders wichtig erscheinen.

Wenn ich sage, jeder wird gebraucht, dann meine ich
auch die 65 000 Schülerinnen und Schüler, die in jedem
Jahr die Schule ohne Abschluss verlassen. Rund die
Hälfte von ihnen kommt von Förderschulen. Wir brau-
chen auch sie.

Ebenso brauchen wir – Herr Schummer hat das ge-
rade ebenfalls angesprochen – die Menschen mit Behin-
derung, aber auch in einer qualifizierten Ausbildung;
denn nicht alle Behinderten sind nur für Hilfstätigkeiten
geeignet. Vielmehr müssen wir durch unsere Förderung,
durch unser Schulsystem dafür sorgen, dass sie auch
Schulabschlüsse machen können. Viel zu viele sind in
Förderschulen, machen dort einen Abschluss und sind
dann mit dem Abschluss einer Förderschule stigmati-
siert. Schwerbehinderte können eben auch einen Beitrag
zur Leistungsfähigkeit der Wirtschaft und ebenso einen
Beitrag zur Bekämpfung des Facharbeitermangels leis-
ten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Deswegen dürfen wir sie eben nicht am Rande stehen
lassen, sondern müssen eine auf ihre Bedürfnisse abge-
stimmte Strategie entwickeln.

Ich will dazu nur drei kurze Punkte nennen:

Erstens. Wir müssen Menschen mit Behinderung
frühzeitig, intensiv und handlungsorientiert auf ihre spä-
tere Berufstätigkeit vorbereiten; dazu braucht es eine
konsequente Berufsorientierung. In diesem Zusammen-
hang ist das, was die Bundesregierung in der „Initiative
Inklusion“ in diesem einen Punkt vorgelegt hat, voll-
kommen richtig und durchaus zu begrüßen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Willi Brase [SPD], an die CDU/CSU und die FDP gewandt: Ihr müsst mal klatschen da drüben!)


Das ist sicherlich notwendig. Aber es ist nicht hinrei-
chend. Es sind natürlich weitere Schritte notwendig, die
auch die Situation von Menschen mit Behinderung auf
dem Arbeitsmarkt substanziell verändern.

Zweitens. Wir können auf Werkstätten für Menschen
mit Behinderung nicht verzichten. Aber wir müssen auf
ihre Kompetenz aufbauen, insbesondere im Hinblick auf
ihre Berufsorientierungskompetenz. Wir müssen ge-

meinsam mit ihnen Wege entwickeln, damit Menschen
aus der Werkstatt in den ersten Arbeitsmarkt oder in öf-
fentliche Beschäftigung hinein vermittelt werden kön-
nen. Ich glaube, das ist ein ganz wichtiges Signal auch
an die Werkstätten, wenn wir mit ihnen gemeinsam an
einer neuen Rolle arbeiten.


(Beifall bei der SPD)


Drittens. Ich bin der Meinung, dass die Bundesagen-
tur für Arbeit einen besonderen Auftrag hat – er ist auch
gesetzlich definiert –, nämlich den Auftrag der Berufs-
orientierung und der Berufseinstiegsbegleitung. Dem
muss sie auch nachkommen können.

Ich weise darauf hin: Die Bundesregierung hat sich
im Ausbildungspakt zu dem Versprechen verpflichtet,
sich für eine bessere Integration von Jugendlichen mit
Behinderung in die betriebliche Ausbildung einzusetzen.
Dazu will sie prüfen – ich lese das einmal vor –, „ob und
inwieweit auch in diesem Bereich arbeitsmarktpolitische
Instrumente angepasst werden müssen“.

Das ist ja erst einmal gut. Die Wahrheit sieht aber an-
ders aus. Allein im Bundeshaushaltsentwurf für das
nächste Jahr, den wir im Moment noch im Bundestag de-
battieren, sollen 6,5 Milliarden Euro bei der aktiven Ar-
beitsmarktpolitik eingespart werden. Wer aber benach-
teiligten jungen Menschen eine Chance geben will,
durch eine qualifizierte Berufsausbildung in die Er-
werbsarbeit zu finden, der darf die Bundesagentur für
Arbeit und ihr Instrumentarium, der darf die Arbeits-
marktpolitik eben nicht zur Spardose für das Sparpaket
machen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wenn Sie dies machen würden, würden Sie diejeni-
gen im Stich lassen, die jetzt noch nicht von der Ent-
wicklung am Ausbildungsmarkt profitieren konnten und
die ohne Hilfe keinen Anschluss am Arbeitsmarkt fin-
den. Wir haben dazu einen Antrag gestellt; das werden
wir an anderer Stelle noch debattieren.

Das zweite Thema, das ich kurz ansprechen möchte:
Am Ende der Ausbildung – ich habe das im letzten Jahr
bei der Debatte zum Berufsbildungsbericht bereits ange-
sprochen – haben immer mehr junge Menschen keine
gesicherte Perspektive auf Übernahme in eine unbefris-
tete Beschäftigung. Wer den DGB-Ausbildungsreport
liest, stellt fest, dass weniger als die Hälfte der jungen
Menschen, die sich im letzten Ausbildungsjahr befinden,
eine Perspektive auf Übernahme im Betrieb haben. Von
dieser Teilmenge hat wiederum nur gut ein Drittel Aus-
sicht auf eine unbefristete Übernahme.

Wenn aber selbst der Abschluss einer qualifizierten
Berufsausbildung für junge Menschen keine gesicherte
Erwerbsperspektive bedeutet, wenn das nicht ausreicht,
wie sollen junge Menschen dann die Zuversicht gewin-
nen, sich für die Gesellschaft einzusetzen, Familie zu
gründen, am Wohlstand mitzuwirken? Deswegen sagen
wir: Zur guten Ausbildung gehört im Regelfall auch die
Übernahme in eine unbefristete Beschäftigung.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)






Oliver Kaczmarek


(A) (C)



(D)(B)


Ich möchte das auch vor dem Hintergrund des Fach-
gesprächs, das wir gestern im Ausschuss hatten, noch
einmal kurz spiegeln. Ich halte das nämlich für einen
zentralen Punkt, wenn wir über die Attraktivität der Aus-
bildung im dualen System sprechen. Es werden sich
auch zukünftig nur dann junge Menschen mit guten
Schulabschlüssen dafür entscheiden, eine duale Ausbil-
dung zu beginnen, wenn sie eine gesicherte Perspektive
haben, wenn sie davon ausgehen können, dass es ihnen
einen Job bringt, der einigermaßen sicher ist, nicht aber,
wenn sie damit rechnen müssen, dass nach der Ausbil-
dung alles wieder vorbei ist. Deswegen ist das ein ganz
wichtiger Punkt.


(Beifall bei der SPD)


Es liegt auf der Hand: Wer das Problem in den Griff
bekommen will, der muss die prekäre Beschäftigung in
den Griff bekommen. Das ist gerade aus Sicht der jun-
gen Arbeitnehmer wichtig. Das heißt aus unserer Sicht
erstens, dass die sachgrundlose Befristung abgeschafft
werden muss. Wer in einem Betrieb gelernt hat, der muss
sich nicht mehr einarbeiten. Deswegen gibt es auch kei-
nen Grund, ihn nur befristet einzustellen. Deswegen sind
wir für die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Zweitens geht es darum, die Leih- und Zeitarbeit auf
ihren ursprünglichen Zweck zurückzuführen und insge-
samt zu begrenzen.

Drittens muss das auch in Bezug auf die Minijobs ge-
schehen. Die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen
hat hierzu eine gute Initiative in den Bundesrat einge-
bracht,


(Zuruf von der FDP: Das wäre die erste!)


bei der es darum geht, eine Höchststundenzahl für Mini-
jobs einzuführen.


(Beifall bei der SPD)


Dabei geht es insgesamt um die Frage: Wie können
wir die Wahrscheinlichkeit reduzieren, dass der Weg
junger Menschen im Anschluss an ihre Ausbildung vor-
geprägt ist und in Richtung prekäre Beschäftigung führt?

Damit komme ich zum Schluss. Was wir jetzt bei der
Integration junger Menschen in Erwerbsarbeit, in den
ersten Arbeitsmarkt, verpassen, können wir vor dem
Hintergrund des Fachkräftemangels und der wirtschaftli-
chen Entwicklung womöglich nicht mehr aufholen. Das
würden wir teuer bezahlen müssen. Deshalb sage ich:
Verzichten können wir auf keinen Einzigen. Da sehe ich
bei der Arbeit der Regierung noch ein bisschen Nachhol-
bedarf.


(Beifall bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719805700

Patrick Meinhardt hat das Wort für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Patrick Meinhardt (FDP):
Rede ID: ID1719805800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen

und Kollegen! Bei einer Debatte über berufliche Bildung

im nationalen und internationalen Zusammenhang ist es
sinnvoll, einmal einen Blick in die internationale Com-
munity zu werfen. Vor nicht einmal 48 Stunden ist der
Weltbildungsbericht von der UNESCO vorgestellt wor-
den. Ausdrücklich gelobt wird dabei das deutsche Mo-
dell der dualen Ausbildung mit Berufsschule auf der ei-
nen und praktischer Arbeit im Betrieb auf der anderen
Seite. Diese besondere Form der Berufsvorbereitung ist
der Grund für die in der Bundesrepublik Deutschland
vergleichsweise niedrige Jugendarbeitslosenquote und
damit einer der wichtigsten Punkte, dass man hier nicht
von einer verlorenen Generation sprechen muss.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und was ist mit den 2 Millionen ohne Berufsabschluss?)


So weit die UNESCO, so weit der Weltbildungsbericht.
Diese Perspektive sollte man im Zusammenhang mit der
Debatte, die wir hier führen, einmal hervorheben.

Zum Zweiten. Es ist von mehreren Rednern angespro-
chen worden; aber es ist wichtig, dies immer wieder
deutlich hervorzuheben: Es gibt keine Leistung nur ir-
gendeiner Bundesregierung, es gibt keine Leistung nur
irgendeiner Landesregierung – es gibt eine Leistung, die
von der gesamten Wirtschaft und den Ausbildungsbetrie-
ben erbracht worden ist. Wenn ich sehe, dass gerade in
diesen schwierigen Zeiten das Handwerk, der Mittelstand
im Bereich der Ausbildungsangebote so stark engagiert
ist, dass am Schluss 10 000 zusätzliche Ausbildungs-
plätze zur Verfügung stehen und 11 000 Jugendlichen,
die einen Ausbildungsplatz suchen, 30 000 offene Aus-
bildungsplätze gegenüberstehen, kann ich nur ganz deut-
lich sagen: Gott sei Dank gibt die Wirtschaft in der Bun-
desrepublik Deutschland, gibt der Mittelstand in der
Bundesrepublik Deutschland jungen Menschen gerade
in der Krise eine Chance. Das ist ein gutes und positives
Zeichen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Flankierende Maßnahmen, die die Bundespolitik ak-
tiv einbringen kann, gibt es eine ganze Reihe, und die
Regierung setzt ja auch an vielen Punkten an. Das Pro-
gramm „Bildungsketten“ ist angesprochen worden. Ich
greife bewusst die Maßnahme der Bildungslotsen he-
raus, eine gemeinsame Aktivität von Bundeswirtschafts-
ministerium, Bundesarbeitsministerium und Bundesbil-
dungsministerium. Dadurch haben wir in der Summe
2 000 Bildungslotsen gewonnen, die junge Menschen
beim Übergang von der Schule in den Beruf an die Hand
nehmen, ihnen Orientierung geben, ihnen helfen, in eine
Ausbildung zu kommen, in einen Beruf zu kommen.
Wer vor Ort in den Schulen, in den Betrieben ist, wird
feststellen können: Dort, wo Bildungslotsen aktiv sind,
wo Bildungslotsen junge Menschen begleiten, bekom-
men die jungen Menschen eine hervorragende Möglich-
keit, ihre eigene Ausbildungsorientierung zu finden.
Deswegen ist das Programm „Bildungsketten“ gerade in
dieser Krisensituation so wichtig.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)






Patrick Meinhardt


(A) (C)



(D)(B)


Ein weiterer wichtiger Aspekt: Wir wissen, dass es
gerade für kleine und mittlere Unternehmen nicht ganz
einfach ist, eigenständig Ausbildungsplätze anzubieten.
Umso wichtiger ist es, dass Ausbildungsverbünde, über-
betriebliche Ausbildungsformen schlagkräftig ausgestat-
tet werden. Es ist ein gutes und richtiges Zeichen, dass
sich die Regierungsfraktionen und die Regierung wieder
dazu durchgerungen haben, die überbetrieblichen Be-
rufsbildungsstätten auf dem hohen Niveau von 40 Mil-
lionen Euro weiterhin zu fördern und sogar so viel Flexi-
bilisierung einzubauen, dass wir gerade in diesen Zeiten
noch mehr Dynamik herausbekommen. Jede überbe-
triebliche Berufsbildungsstätte, die es in der Bundesre-
publik Deutschland gibt, ist eine zusätzliche Chance für
junge Menschen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Die Regierung und die sie tragenden Fraktionen sa-
gen – gerade gestern haben wir im Ausschuss darüber
gesprochen –: Das Programm „Maßnahmen zur Verbes-
serung der Berufsorientierung“ läuft Gott sei Dank gut,
es läuft sogar sehr gut. Es läuft so gut, dass wir jetzt
noch einmal 10 Millionen Euro, das heißt 15 Prozent,
draufsatteln, weil wir bei den jungen Menschen, bei de-
nen die größte Gefahr besteht, dass sie eine Ausbildung
frühzeitig abbrechen, gegensteuern wollen. Dort wollen
wir ansetzen. Es ist in diesen Zeiten die richtige Ant-
wort, die Mittel für das Maßnahmenpaket „Berufsorien-
tierungsprogramm“ zu erhöhen, um den Weg junger
Menschen mit vorbereiten zu können.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, die Ein-
stiegsqualifizierung ist vielfach angesprochen worden.
Dieses Instrument halten wir als FDP für ein sehr gutes
Instrument. Wir müssen aber den Rahmen dafür noch
weiter verbreitern. Im Bereich der Einstiegsqualifizie-
rung haben wir 40 000 Plätze in der Bundesrepublik
Deutschland. Im Augenblick sind leider nicht all diese
40 000 Plätze besetzt. Da müssen wir ansetzen; denn die
Einstiegsqualifizierung führt dazu, dass 70 Prozent der-
jenigen, die sie durchlaufen und die momentan keine
Chance auf eine Ausbildung hätten, am Ende dieses
Jahres in eine Ausbildung kommen. Diese Einstiegsqua-
lifizierung gibt es seit ungefähr fünf Jahren. Das bedeu-
tet, dass über 100 000 Jugendliche in dieser Zeit über die
Einstiegsqualifizierung zusätzlich die Chance bekom-
men haben, den Weg in die Ausbildung zu schaffen.
Deswegen müssen wir die Einstiegsqualifizierung
stärken und daraus ein weiteres wichtiges Instrument
machen. Das ist ein wichtiges politisches Zeichen, das in
dieser Diskussion zum Ausdruck kommen muss.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Ich habe mich gewundert, wie wenige das Thema
Altbewerber in dieser Debatte angesprochen haben. Ich
erinnere mich noch daran, dass vor drei Jahren immer
davon gesprochen wurde, dass es ein Skandal sei, dass
wir 300 000 Altbewerberinnen und Altbewerber haben.
Wir haben innerhalb von drei Jahren die Zahl der Altbe-

werberinnen und Altbewerber auf 174 000 reduziert.
Das war eine intensive Anstrengung, von der man sagen
kann: Es ist gut, wenn diese Akzente gesetzt werden.
Deswegen muss dies an dieser Stelle eine vollumfängli-
che Anerkennung finden. Jede Reduzierung bei der An-
zahl der Altbewerber ist ein gesellschaftspolitischer
Schritt in die richtige Richtung.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen, ein letzter Punkt: Im Hinblick auf
die Flexibilisierung im Ausbildungsbereich halte ich es
für ausgesprochen spannend, sich die Situation bei den
zwei- und dreijährigen Ausbildungsberufen anzuschauen.
Wir haben bewusst gesagt: Wir brauchen niedrigschwelli-
gere Angebote. Wir haben momentan 560 000 Ausbil-
dungsplätze in der dualen Ausbildung, 50 000 Plätze in
der zweijährigen Ausbildung.


(Agnes Alpers [DIE LINKE]: Das ist doch gelogen!)


Jetzt wird es spannend: Von den Auszubildenden in einer
zweijährigen Ausbildung haben 60 Prozent einen Haupt-
schulabschluss. Bei den gesamten dualen Ausbildungs-
berufen sind es nur 33 Prozent. Wir haben mit den zwei-
jährigen Ausbildungen genau das geschaffen, was wir
brauchen: ein niedrigschwelliges Angebot für all die jun-
gen Menschen, die einen Hauptschulabschluss haben
und eine Ausbildung machen wollen.


(Agnes Alpers [DIE LINKE]: Das ist Quatsch, Herr Meinhardt! Absoluter Quatsch!)


Deswegen ist der Weg über die Einstiegsqualifizie-
rung, die zweijährige Ausbildung, die dreijährige Aus-
bildung und die dreieinhalbjährige Ausbildung richtig.
Damit schaffen wir eine Perspektive für junge Menschen
aus allen Bereichen des Bildungssystems in der Bundes-
republik Deutschland.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719805900

Herr Kollege, Sie müssen wirklich zum Schluss kom-

men.


Patrick Meinhardt (FDP):
Rede ID: ID1719806000

Vielen herzlichen Dank, Herr Präsident. – Die

Debatte macht eines deutlich: Wichtig ist, dass die duale
Ausbildung ein wirkliches Rückgrat in der Gestaltung
der Bundesrepublik Deutschland ist. Um es anders zu
formulieren: Die Garantieerklärung von Politik und
Wirtschaft für die Perspektiven der Jugendlichen in der
Bundesrepublik Deutschland ist die duale Ausbildung.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719806100

Das Wort hat nun Brigitte Pothmer für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.






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Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719806200

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr

Meinhardt, es ist doch nicht so, dass irgendeine Fraktion
in diesem Hause das duale System auch nur ansatzweise
infrage stellen würde. Alle hier sind für das duale
System.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Wir weisen nur darauf hin, Herr Meinhardt, dass es
offensichtlich so ist, dass ein nicht unerheblicher Teil
junger Menschen von diesem dualen System nicht profi-
tiert. Die Zahlen sind hier schon genannt worden:
2,2 Millionen junge Menschen sind weder in Ausbildung
noch in Arbeit. Fast 300 000 befinden sich immer noch
in diesem perspektivlosen Übergangssystem. Anders als
Frau Schavan es heute gesagt hat, gehen die Experten im
Berufsbildungsbericht davon aus, dass circa 230 000
junge Leute noch sehr lange in diesem Übergangssystem
bleiben werden.

Herr Meinhardt, das ist das Problem, um das wir uns
heute kümmern müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir müssen uns im Klaren darüber sein, dass die Pro-
gnose, dieses Problem werde durch die Konjunktur,
durch den demografischen Wandel oder durch den Fach-
kräftemangel gelöst, nicht zutrifft.


(Zuruf von der FDP: Dieses Problem löst unsere Politik!)


Deswegen müssen wir etwas tun. Das Problem wird
sich nicht von selber lösen. Es ist unsere Aufgabe, dafür
zu sorgen, dass wirklich alle jungen Menschen eine be-
rufliche Perspektive erhalten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Sie können nicht darüber hinwegreden, dass insbeson-
dere jungen Leuten mit Förderbedarf, den sogenannten
Marktbenachteiligten, der Zugang zum dualen System
immer noch versperrt ist.

Ganz besonders skandalös – darüber hat heute über-
haupt noch niemand geredet – ist die Ausbildungsquote
bei den Migrantinnen und Migranten.


(Agnes Alpers [DIE LINKE]: Das stimmt gar nicht! Hatte ich erwähnt!)


Sie liegt bei beschämenden 33,5 Prozent; bei den Deut-
schen ist sie mit 65 Prozent etwa doppelt so hoch. Diese
jungen Leute werden abgehängt, und um sie müssen wir
uns kümmern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das haben sie nicht nur verdient und darauf haben sie
nicht nur einen Anspruch, sondern das Ganze ist auch
vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels zu sehen.

Das Gleiche gilt vor dem Hintergrund der demografi-
schen Entwicklung; das will ich an dieser Stelle noch
einmal sagen. Schon derzeit ist es so, dass eine kleinere
Kohorte junger Leute eine große Kohorte älterer Men-
schen ernähren muss. Wenn dann aber von diesen jungen
Leuten fast ein Fünftel nicht nur nicht auf dem Erwerbs-
arbeitsmarkt aktiv werden kann, sondern auch noch ein
Leben lang alimentiert werden muss, dann überfordert
das jede Volkswirtschaft. Deswegen müssen wir etwas
tun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dass das machbar ist, zeigt das Beispiel der Bertels-
mann-Stiftung. Die Bertelsmann-Stiftung ist wahrlich
keine grüne Kaderschmiede, aber sie hat gemeinsam mit
der Bundesagentur für Arbeit und acht Bundesländern
den Versuch unternommen, diesen Übergangsdschungel
zu ordnen, und hat daraus, wie sie es nennt, „Übergänge
mit System“ entwickelt.

Dieser Vorschlag liegt sehr dicht an unserem Vor-
schlag des DualPlus.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719806300

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus

den Reihen der CDU/CSU?


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719806400

Ja, bitte.


Dr. Thomas Feist (CDU):
Rede ID: ID1719806500

Sehr verehrte Frau Kollegin, ich habe es schon in ei-

nigen Redebeiträgen gehört – ob es nun vom Kollegen
Brase war oder vom Kollegen Gehring –, und auch Sie
haben es noch einmal erwähnt: die Perspektivlosigkeit
von jungen Leuten im Übergangssystem und dessen
Ineffektivität.

Nicht nur deshalb, weil ich selbst zwei Jahre als Aus-
bilder für sogenannte lernbehinderte und benachteiligte
junge Leute gearbeitet habe, halte ich Ihre Aussage für
eine sehr starke Unterstellung. Wie meinen Sie es, wenn
Sie sagen, dass das Übergangssystem völlig perspektiv-
los oder ineffektiv sei? Hierzu hätte ich gerne eine Aus-
kunft von Ihnen. – Vielen Dank.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719806600

Es gibt inzwischen diverse wissenschaftliche Evaluie-

rungen über das Übergangssystem, und sie alle kommen
zu dem Ergebnis – um es einmal salopp auszudrücken –:
Das Übergangssystem ist teuer, es kostet fast 6 Milliar-
den Euro im Jahr, und es ist schlecht, weil es die Jugend-
lichen nicht stärker an die Ausbildungsreife heranführt,
sondern sie im Wesentlichen frustriert.

Die jungen Leute im Übergangssystem sind nicht sel-
ten weniger ausbildungsreif, als sie es zuvor waren.
Deswegen können wir dies nicht länger akzeptieren. Wir
brauchen eine Alternative. Unsere Alternative heißt
DualPlus. – Ich danke Ihnen.





Brigitte Pothmer


(A) (C)



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(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten und des Abg. Swen Schulz [Spandau] [SPD])


DualPlus ist übrigens keine Erfindung vom grünen
Tisch, sondern das gibt es bereits in Österreich – nur mit
einem etwas anderen Namen –, und wird es dort sehr er-
folgreich eingesetzt.

Ich will es noch einmal sagen: Das Ganze rechnet
sich in dreifacher Hinsicht. Es rechnet sich für die
Jugendlichen, weil sie einen guten Start in Arbeit und
Ausbildung bekommen. Es rechnet sich für die Betriebe,
weil sie gute Fachkräfte erhalten. Und – das ist ebenfalls
erheblich – es rechnet sich für die öffentliche Hand, weil
alle Investitionen in Ausbildung zu 100 Prozent zu einer
Rendite führen.

Meine Damen und Herren, es ist doch wirklich nicht
schwer: Ausbildungsgarantie statt Warteschleife – das
bringt Perspektiven statt Frust. Das erreichen wir mit
DualPlus.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719806700

Das Wort hat nun Nadine Schön für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Die Botschaft durchzieht die Debatte wie ein
roter Faden: Die duale Ausbildung in Deutschland ist ein
Erfolgsmodell. Dank der dualen Ausbildung haben wir
die geringste Jugendarbeitslosigkeit in ganz Europa. Sie
ist der Grund dafür, dass im vergangenen Jahr über
570 000 Jugendliche eine Berufsausbildung beginnen
konnten, mehr als in den Jahren zuvor. Sie sichert den
Fachkräftenachwuchs unserer Betriebe, und das auf ho-
hem Niveau. Unsere dual ausgebildeten Fachkräfte sind
international anerkannt und können mit so manchem
akademischen Abschluss konkurrieren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie ist das Modell, für das sich viele andere europäi-
schen Länder interessieren. Darauf können wir zu Recht
stolz sein.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Heiner Kamp [FDP])


Gerade weil wir von diesem Modell so begeistert sind
und zu Recht so stolz darauf sind, möchte ich heute ei-
nen kritischen Punkt ansprechen. In den vergangenen
Monaten treibt die Mitglieder meiner Fraktion ein
Thema um, das uns sehr große Sorgen macht und das in
meinen Augen in eine solche Debatte gehört; ich wun-
dere mich, dass es bisher noch niemand angesprochen
hat. Es geht um die Änderungsvorschläge der Europäi-
schen Kommission zur Berufsanerkennungsrichtlinie.
Da Sie schon jetzt genervt gucken, liebe Kollegen der

SPD, weiß ich nicht, ob Sie die Dimension dieses
Themas für unser Land wirklich erkannt haben.

Worum geht es? Die Kommission will, dass Ab-
schlüsse in Europa leichter anerkannt werden und Aus-
bildungen europaweit vergleichbar gestaltet werden. Das
soll die Mobilität in Europa erhöhen. Ich sage deutlich:
Das begrüßen wir; das ist ein gutes Ziel. Aber im Richt-
linienentwurf der Kommission gibt es auch eine ganze
Menge Vorschläge, die alle Alarmglocken zum Läuten
bringen müssen, Vorschläge, die nämlich mit dem deut-
schen System der dualen Ausbildung nicht oder nur
schwer vereinbar sind, so etwa die Vorschläge zum par-
tiellen Zugang, zu Änderungen bei den Niveaustufen, zu
gemeinsamen Ausbildungsgrundsätzen und zur Einfüh-
rung eines europäischen Berufsausweises. All diese Ein-
zelregelungen müssen sehr präzise ausgestaltet werden.
Wir müssen sehr genau darauf achten, dass sie so ausge-
staltet werden, dass sie die Mobilität erhöhen und Trans-
parenz schaffen, ohne auf der anderen Seite die Qualität
zu gefährden. Zurzeit gibt es an diesen Vorschlägen noch
viel Kritik. Wir plädieren da entschieden für Verände-
rungen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Auf besonders großes Entsetzen stoßen die Pläne der
Kommission, die Mindestschulzeit für eine Ausbildung
in den Pflegeberufen auf zwölf Jahre zu erhöhen. Das
würde bedeuten, dass 45 Prozent der Krankenpfleger
und Krankenpflegerinnen und 85 Prozent der Altenpfle-
gerinnen und Altenpfleger in Deutschland derzeit von
der Ausbildung ausgeschlossen würden, weil sie nur die
mittlere Reife haben und damit keine zwölfjährige
Schulzeit vorweisen können.


(Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Vollkommen unvorstellbar!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, das wäre ein Desaster
für die deutsche Pflegelandschaft. Dadurch würde die
Qualität keineswegs verbessert. Im Gegenteil: Die Er-
schwerung des Zugangs würde den Fachkräftemangel im
Pflegebereich und damit die Arbeitsbelastung der Mitar-
beiterinnen und Mitarbeiter deutlich erhöhen. Wir haben
im Pflegebereich eine hohe Fachkraftquote. Wir haben
hervorragend ausgebildetes Fachpersonal. Deshalb wen-
den wir uns entschieden gegen die Pläne der Kommis-
sion, die Zugangsvoraussetzungen zu erhöhen und eine
Schulausbildung von zwölf Jahren vorauszusetzen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Liebe Kollegen, wir sind da in guter Gesellschaft: Die
Mehrheit der betroffenen Verbände – die Allianz reicht
von der Deutschen Krankenhausgesellschaft über die
IHK bis hin zu Verdi und Caritas – wendet sich gegen
die Pläne der Kommission. Wir kämpfen gemeinsam da-
für, dass es die Voraussetzung einer zwölfjährigen
Schulzeit nicht geben wird. Ich bin froh, dass auch in
diesem Haus eigentlich Einigkeit darüber besteht. Wir
hatten dazu vor drei Wochen vonseiten des Wirtschafts-
ausschusses einen Entschließungsantrag eingebracht,
und alle Kollegen von SPD und Grünen haben die deut-
sche Position unterstützt und ebenfalls gesagt, die Vo-





Nadine Schön (St. Wendel)



(A) (C)



(D)(B)


raussetzung einer Schulbildung von zwölf Jahren sei
eine Katastrophe.

Deswegen hat es mich überrascht und entsetzt, liebe
Kollegen der SPD – da komme ich wieder zu Ihnen –,
dass es in den Reihen der SPD auf EU-Ebene Parlamen-
tarier gibt, die diese deutsche Position nicht vertreten.
Offensichtlich werben SPD-Parlamentarier in Brüssel
für die Vorschläge der Kommission


(Zurufe von der SPD: Wer denn?)


und schwächen damit deutlich die Verhandlungsposition
unseres Landes.


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Nennen Sie Ross und Reiter!)


– Ich kann Ihnen gerne die Namen nennen. Ich wollte es
an dieser Stelle vermeiden, aber sprechen Sie einmal mit
Ihren Kolleginnen Weiler, Gebhardt und Sippel, die sich
nämlich ganz anders äußern, als Sie das tun.


(Uwe Schummer [CDU/CSU], an die SPD gewandt: Da müsst ihr euch mal unterhalten!)


Sie kämpfen hier im Deutschen Bundestag entschie-
den für die duale Ausbildung, aber Ihre Kolleginnen in
Brüssel tun das Gegenteil. Deshalb will ich an Sie appel-
lieren: Werben Sie auch bei Ihren Parteifreunden auf eu-
ropäischer Ebene für die duale Ausbildung. Wir müssen
hier an einem Strang ziehen. Wir müssen hier mit einer
Stimme sprechen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir wollen unser duales System erhalten, und dafür
müssen wir gemeinsam kämpfen, damit wir auch in den
nächsten Jahren die Fortschritte unseres dualen Systems
anhand des Berufsbildungsberichtes und anhand dieser
Debatten verfolgen können.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719806800

Das Wort hat nun Katja Mast für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Katja Mast (SPD):
Rede ID: ID1719806900

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Ich will zwei Dinge vorweg klarstellen:
Erstens. Niemand greift das duale System in Deutsch-
land an.


(Beifall der Abg. Agnes Alpers [DIE LINKE] – Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Doch! – Das ist so!)


Wir wollen das duale System in Deutschland bewahren.


(Zuruf von der CDU/CSU: Schauen Sie sich die Anträge der Grünen und Linken an! Das ist Angriff!)


Uns geht es aber um die Menschen, die im dualen Sys-
tem nicht unterkommen. Zu diesen Menschen habe ich

in der heutigen Debatte von der Regierungskoalition
noch nichts gehört.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Agnes Alpers [DIE LINKE] – Uwe Schummer [CDU/CSU]: Wo waren Sie?)


Zweitens freuen wir uns alle darüber, dass Deutsch-
land die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit in der Euro-
päischen Union hat. 8 Prozent sind ein tolles Ergebnis.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


– Ja, da können Sie ruhig applaudieren; aber ich weiß
nicht, ob Ihnen mein nächster Satz genauso gut gefällt.


(Zuruf von der FDP: Mit Sicherheit nicht!)


Leider hat es nichts mit Ihrer Politik zu tun,


(Zurufe von der FDP: Oh!)


dass wir bei 8 Prozent liegen.


(Beifall bei der SPD)


Dass es nichts mit Ihrer Politik zu tun hat, liegt daran,
dass Sie sich zurücklehnen. Sie lehnen sich in einer Zeit,
in der wir gute Arbeitsmarktzahlen haben, zurück und
sagen: Na ja, was wollen wir da denn tun? Die Zahlen
sehen doch ganz gut aus.


(Heiner Kamp [FDP]: Wo leben Sie denn? Das stimmt doch nicht!)


Mir geht es aber darum, dass in Deutschland kein ein-
ziger Jugendlicher verloren gehen darf.


(Zuruf von der CDU/CSU: Zustimmung!)


In Deutschland müssen wir uns Sorgen machen um die
77 000 Jugendlichen, die letztes Jahr keinen Ausbil-
dungsvertrag bekommen haben,


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das bestreitet doch niemand!)


und um die 86 000 Jugendlichen, die sich gar nicht mehr
bewerben, weil sie aufgrund der Verfahren frustriert
sind. Insgesamt hat letztes Jahr fast jeder dritte Jugendli-
che keinen Ausbildungsvertrag bekommen, obwohl er
einen wollte.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Sie müssen die Studenten mitrechnen! Die haben auch keinen Ausbildungsplatz!)


Das sind die Zahlen, die mich beunruhigen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Deshalb geht es darum, dass keiner von ihnen verloren
gehen darf.

Wir finden in Deutschland die Situation vor – auch
das ist heute noch nicht klar geworden –, dass der Aus-
bildungsmarkt gespalten ist. Der Ausbildungsmarkt ist
gespalten, weil es in den Betrieben einen Wettbewerb
um die besten Köpfe gibt. Jeder kann dazu Geschichten
aus seinem Wahlkreis erzählen. Ich kann gerne die Situa-
tion in Pforzheim und im Enzkreis darstellen, woher ich





Katja Mast


(A) (C)



(D)(B)


komme. Da haben alle Jugendlichen, die ein gutes Zeug-
nis, einen guten Abschluss haben, überhaupt kein Pro-
blem, einen Ausbildungsplatz zu finden. Aber viele
Schülerinnen und Schüler beispielsweise der Bohrain-
schule in Pforzheim, einer Förderschule, erlangen nicht
einmal den Hauptschulabschluss und bekommen diesen
auch nicht nach einem BVJ oder dem Besuch einer
BVE. Angesichts dessen kann ich mich doch nicht hier
hinstellen und sagen: In Deutschland ist alles in Ord-
nung.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Für einen Hauptschulabschluss muss man auch etwas tun! Den kriegt man auch nicht geschenkt! Außerdem besteht die Möglichkeit, den Hauptschulabschluss nachzumachen! Zweite Chance nennt man das!)


Denn diese Jugendlichen haben ein Recht auf eine Aus-
bildung in dieser Republik, und nichts anderes sagt unser
Antrag.


(Beifall bei der SPD)


Ich habe gesagt, Sie lehnen sich zurück und denken
gar nicht darüber nach, was mit den anderen 8 Prozent
der Jugendlichen los ist.


(Uwe Schummer [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht, was Sie hier sagen!)


– Jetzt lassen Sie mich doch ausreden.


(Uwe Schummer [CDU/CSU]: Lohnt sich das denn?)


Sie reden hier die ganze Zeit von Programmen und
Progrämmchen, die Sie neu aufgelegt haben. Ich gestehe
Ihnen sogar zu, dass Sie das gemacht haben; ich bin
schließlich Arbeits- und Sozialpolitikerin. Gleichzeitig
kürzen Sie jedoch während Ihrer Regierungszeit 7,5 Mil-
liarden Euro in der aktiven Arbeitsmarktpolitik.


(Uwe Schummer [CDU/CSU]: Weil die Arbeitslosigkeit halbiert wurde durch unsere Politik und weil es fast zwei Millionen weniger Arbeitslose gibt!)


Das ist das Geld, das für eine aktive Arbeitsförderung
der Jugendlichen nicht zur Verfügung steht. Deshalb
können sie keine Ausbildung machen.


(Beifall bei der SPD – Uwe Schummer [CDU/ CSU]: Das sind die Zahlen, die Sie nicht kennen!)


– Herr Schummer, da können Sie so laut schreien, wie
Sie wollen. Das stimmt einfach. Lassen Sie sich an Ihren
Zahlen messen und nicht an Ihrer Lautstärke, liebe Kol-
legen von der CDU/CSU.

Es ist wichtig, dass wir hier darüber diskutieren, wie
wir den Jugendlichen, die heute durch das Netz fallen,
helfen können, einen Ausbildungsplatz zu finden. Auf
diese Frage habe ich von Ihnen keine Antwort gehört.

Ich will an dieser Stelle ausdrücklich eine Initiative
aus dem Bundesland Hamburg positiv hervorheben. In
Hamburg wurden Jugendberufsagenturen gegründet,

Häuser, in denen Jugendlichen geholfen wird, in Ausbil-
dung zu kommen. In diesen Häusern wird die gesamte
Arbeit mit jungen Menschen koordiniert, und zwar nicht
nur die Arbeit der Bundesagentur für Arbeit, nicht nur
die Arbeit der Jobcenter, sondern auch die der Jugend-
hilfe, also der kommunalen Hilfe. Das ist ein vielver-
sprechender Ansatz, weil dadurch die Angebote, die die
jungen Menschen beim Übergang von der Schule in den
Beruf brauchen, gebündelt werden. Gab es entspre-
chende Initiativen Ihrer Regierung? Fehlanzeige! Sie ha-
ben drei Ministerien – Bildung, Arbeit und Familie –,
die die Programme, die sie auflegen, überhaupt nicht ko-
ordinieren. Sie sorgen dadurch zusätzlich für Unüber-
sichtlichkeit.

Zum Schluss kommend will ich noch einmal betonen,
was uns die Bertelsmann-Stiftung mit auf den Weg gege-
ben hat: Eine Ausbildungsgarantie ist in der Bundesre-
publik Deutschland solide zu finanzieren. Jeder Jugend-
liche soll eine Ausbildungsgarantie bekommen. Wir
wollen darüber hinaus, dass es in Deutschland ein So-
fortprogramm für die 1,5 Millionen jungen Menschen
gibt, die zwischen 20 und 29 Jahre alt sind, keine Aus-
bildung haben, aber im Berufsleben stehen. Diesbezüg-
lich werden wir Sie mit unseren Vorschlägen konfrontie-
ren; denn von Ihnen kommt dazu nichts.

Es geht darum, auch in Zukunft den Fachkräftebedarf
decken zu können. Es geht darum, dass der Mittelstand
ausbildet; das ist auch für den Mittelstand in Baden-
Württemberg wichtig. Keiner darf verloren gehen. Jeder
hat das Recht auf Ausbildung.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719807000

Das Wort hat nun Reinhard Brandl für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Reinhard Brandl (CSU):
Rede ID: ID1719807100

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Vor kurzem habe ich einen schönen Begriff gehört: Bil-
dung à la Merkel. So nennen die Spanier das deutsche
System der beruflichen Bildung. Nicht nur dort, sondern
in ganz Europa wird unser System bewundert.


(Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Aber nicht wegen Merkel!)


Das hat einen ganz speziellen Grund: Bei der Jugend-
arbeitslosigkeit lagen wir im August in Deutschland bei
8,1 Prozent. Das ist spitze in Europa. Der Durchschnitt
liegt bei 22,7 Prozent. Spanien erreichte traurige
52,9 Prozent. Dass wir bei diesem Wert, der wie kaum
ein anderer die Zukunftsperspektiven junger Menschen
ausdrückt, so gut sind, hat seinen Grund auch im System
der beruflichen Bildung. Das liegt natürlich auch an der
wirtschaftlichen Lage und an der demografischen Ent-
wicklung, aber eben auch an dem System der berufli-
chen Bildung.





Dr. Reinhard Brandl


(A) (C)



(D)(B)


In Madrid gibt es eine Modellschule, in der nach deut-
schem Vorbild ausgebildet wird. Rund 1 400 Absolven-
ten haben diese Schule bisher durchlaufen. Der Schullei-
ter wird auf Spiegel Online mit den Worten zitiert: Mir
ist kein einziger arbeitsloser Schüler bekannt.

Ich weiß, dass keiner von Ihnen das System der beruf-
lichen Bildung, das System der dualen Ausbildung in-
frage stellt. Das heißt aber nicht, dass wir unser System
nicht noch weiter verbessern können. Dabei dürfen wir
aber nicht den Fehler machen, unsere Stärken zu schwä-
chen.


(Willi Brase [SPD]: Wer macht das?)


Die zentrale Stärke unseres Systems ist, dass die Be-
triebe in genau den Bereichen ausbilden, in denen sie zu-
künftig einen Fachkräftebedarf erwarten.


(Willi Brase [SPD]: Und was machen wir mit dem Rest?)


Es wird nicht am Markt vorbei ausgebildet. Deswegen
erteilen wir Ansätzen, bei denen die Entscheidung, in
welchen Berufen in welcher Zahl ausgebildet wird, auf
den Staat oder auf Einzelne übertragen wird, eine Ab-
sage. Wir wollen nicht, dass der Staat oder Einzelne das
entscheiden. Wir wollen, dass das weiterhin auf dem
Markt entschieden wird; denn das hat bisher sehr gut
funktioniert.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Der Staat muss die jungen Menschen dabei unterstüt-
zen, aus dem bestehenden Angebot am Markt den für sie
richtigen Ausbildungsplatz zu finden. Da müssen wir
besser werden. Es ist heute schon mehrmals gesagt wor-
den: Eine Abbrecherquote von 23 Prozent ist nicht ak-
zeptabel, auch wenn viele von diesen 23 Prozent nahtlos
eine andere Beschäftigung finden. Dass sie ihren Ausbil-
dungsvertrag auflösen, kostet auf allen Seiten unnötig
Zeit und Energie.

Die Bundesregierung hat sich dieses Themas im Rah-
men des Ausbildungspakts angenommen. Die Verbesse-
rung der Berufsorientierung ist Teil unseres Antrags.
Ebenso fordern wir in unserem Antrag eine bessere Vor-
bereitung von Jugendlichen, die sich – warum auch im-
mer – schwertun, einen Ausbildungsplatz zu finden. Ich
kann Ihnen nur zustimmen: Keiner darf verloren gehen.

Es gibt eine ganze Reihe von Programmen – sie sind
heute schon mehrfach genannt worden, beispielsweise
die Einstiegsqualifizierung –, mit denen die Bundesre-
gierung im Rahmen des Ausbildungspakts gemeinsam
mit der Wirtschaft versucht und Möglichkeiten bietet,
den Jugendlichen im Übergangsbereich zu helfen. Die
Einstiegsqualifizierung ist eine Art gefördertes Prakti-
kum von mindestens sechs bis maximal zwölf Monaten.
44 Prozent der Geförderten werden direkt vom Betrieb
übernommen. Immerhin 69 Prozent der Geförderten ha-
ben innerhalb eines halben Jahres nach der Förderung ei-
nen Ausbildungsplatz.

Es geht bei der Zukunft des dualen Ausbildungssys-
tems aber nicht nur darum, die Schwachen zu integrie-
ren, sondern wir müssen auch darauf achten, dass die

Starken der beruflichen Bildung nicht den Rücken keh-
ren. Wenn 55 Prozent eines Altersjahrgangs mit einem
Hochschulstudium beginnen, ist das erfreulich. Aber das
darf nicht zu einer Überakademisierung führen. In Spa-
nien nennt man das Titulitis. In keinem anderen Land ar-
beiten so viele Universitätsabsolventen in einem Job, für
den sie überqualifiziert sind.

Wir dürfen jetzt aber nicht den Fehler machen, beruf-
liche Ausbildung und akademische Ausbildung gegenei-
nander auszuspielen. Beides ist gleichwertig. Das zeigt
auch die Einstufung im Qualifikationsrahmen. Bildung à
la Merkel ist, wenn beides verbunden wird. Ich nenne als
Beispiel die dualen Studiengänge. Das sind Studien-
gänge, die eine Lehre mit einem Bachelorstudium ver-
binden. Ich komme aus einer Familie, die seit Jahrzehn-
ten im Handwerk ausbildet. Ich habe die Erfahrung
gemacht, dass die Jugendlichen, die Lehre und Studium
verbinden, die besonders Leistungsfähigen und die be-
sonders Leistungswilligen sind. Das sind die Fachkräfte,
die wir in unserer Wirtschaft auch in Zukunft brauchen
können und brauchen werden.

Trotz der steigenden Zahl der dualen Ausbildungs-
gänge sind diese immer noch zu wenig bekannt bzw.
werden zu wenig geschätzt, zum Teil auch bei den Un-
ternehmen. Genauso zu wenig bekannt, insbesondere bei
den Eltern, ist die Möglichkeit, mit einem beruflichen
Bildungsabschluss, zum Beispiel einem Meister, auf
eine Fachhochschule und von dort aus mit einem Bache-
lor zur Universität zu gehen.


(Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Das ist nicht so einfach!)


In Bayern ist das Motto im Bildungswesen: Kein Ab-
schluss ohne Anschluss.


(Katja Mast [SPD]: Kein Abschluss ohne Ausbildung!)


Wenn das gelebt und von allen Seiten akzeptiert wird,
dann ist mir um die Zukunft unseres beruflichen Bil-
dungswesens nicht bange.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719807200

Letzter Redner in dieser Debatte ist Axel Knoerig für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Axel Knoerig (CDU):
Rede ID: ID1719807300

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die duale Be-
rufsausbildung ist seit langem ein einzigartiges Aushän-
geschild für unser Land.


(Beifall der Abg. Katja Mast [SPD])


Dieses erfolgreiche Modell betrieblicher und schulischer
Ausbildung genießt einen hohen Stellenwert, nicht nur
im Inland, sondern auch im Ausland. Das Interesse unse-





Axel Knoerig


(A) (C)



(D)(B)


rer Nachbarländer an der dualen Berufsausbildung hat
zugenommen. Darauf hat das Bundesministerium für
Bildung und Forschung reagiert. So wurde im Septem-
ber dieses Jahres eine zentrale Anlaufstelle für interna-
tionale Bildungskooperationen eingerichtet.

In dem dualen Ausbildungssystem sehen viele euro-
päische Nachbarstaaten ein gutes Vorbild, um die Ju-
gendarbeitslosigkeit im eigenen Land zu reduzieren.
Zwischen Deutschland und Spanien wurde im Juli 2012
eine Kooperation im Bereich der Berufsausbildung be-
schlossen. Zur Information: In Spanien ist – die Quote
beträgt 46 Prozent; das ist eine traurige Zahl – fast die
Hälfte aller Jugendlichen arbeitslos. Deutschland hat da-
gegen mit 7,9 Prozent die niedrigste Quote in ganz
Europa.

An dieser Stelle, meine sehr verehrten Damen und
Herren, lassen Sie uns in die Vergangenheit schauen. Im
Jahre 2005, nach sieben Jahren Rot-Grün, betrug die
Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland beträchtliche
15 Prozent, Frau Mast.


(Zuruf von der CDU/CSU: Unglaublich!)


Ich denke, dieser Zahlenvergleich bedarf keiner weiteren
Kommentierung, Herr Brase. Diese Zahlen sprechen
deutlich für den Erfolg von Schwarz-Gelb.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieser Erfolg der dualen Berufsausbildung in
Deutschland basiert auf mehreren Vorteilen:

Erstens. Die Ausbildung ist praxisnah.

Zweitens. Vor allem die mittelständischen Betriebe
bilden branchennah und mit Heimatbezug aus.

Drittens. Das Ausbildungssystem entspricht dem Be-
darf an Fachkräften.

Viertens. Die Berufsprofile bei den einzelnen Bran-
chen werden immer aktuell dem Arbeitsmarkt angepasst.
Das ist ganz wichtig.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Union
garantiert dieses Modell und sichert es für die Zukunft.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Willi Brase [SPD]: Oh! Vorsichtig!)


Die Entwicklung – und das sehen wir auf dem Arbeits-
markt – hat dazu geführt, dass sich die Ausbildungssi-
tuation für junge Menschen weiter verbessert hat. Bun-
desweit sind 2011 rund 570 000 Ausbildungsverträge
geschlossen worden. Das sind 1,8 Prozent mehr als
2010.


(Willi Brase [SPD]: Weniger als 2007!)


Nun haben die Grünen wieder einmal ihren Evergreen
aufgelegt


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na, na, na!)


und das System DualPlus in die Beratung eingebracht.
Sie wollen ja neben Berufsschule und Betrieb eine dritte
Säule in der Ausbildung etablieren. Sie fordern einen zu-
sätzlichen Ausbildungsteil, der von den Betrieben getra-

gen wird. Wir als Union sagen ganz klar: Das ist wirt-
schaftsfern. Wir halten an dem Erfolgsmodell der dualen
Berufsausbildung fest.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ihr System DualPlus, auch wenn es ein Evergreen ist,
steht lediglich für mehr Bürokratie sowie für eine stär-
kere Regulierung unserer Wirtschaft. Das wollen wir un-
seren Betrieben in Deutschland nicht zumuten. Wir set-
zen auf Freiwilligkeit; denn Freiwilligkeit ist der
Schlüssel zum wahren Erfolg.

Deswegen konzentrieren wir uns vielmehr auf den
Übergang von der Schule zur Ausbildung. Wir haben in-
soweit heute bereits mehrmals zwei Lösungen vorgetra-
gen. Doch diese sind so gut, dass ich sie gerne noch ein-
mal an zwei Beispielen erwähnen möchte:

Erstens. Wir haben den Nationalen Pakt für Ausbil-
dung und Fachkräftenachwuchs verlängert.


(Willi Brase [SPD]: Wer hat den entwickelt?)


Jugendliche, die schwer vermittelbar sind, können so
leichter in die betriebliche Ausbildung einsteigen.

Zweitens. Um die Zahl der Schulabbrecher zu redu-
zieren, gibt es das Programm – Sie, Herr Kollege Kamp,
haben es hervorragend dargestellt – „Bildungsketten bis
zum Ausbildungsabschluss“. Das Bildungs- und For-
schungsministerium hat hierfür rund 360 Millionen Euro
zur Verfügung gestellt.

Zu diesem Programm gehören auch die sogenannten
Ausbildungslotsen. Das sind Mentoren, die praxisnah
aus ihrem Beruf und mit ihrer Ausbildungserfahrung die
Jugendlichen bei ihrer Berufsorientierung unterstützen.
Ich habe das auch in meinem Wahlkreis Diepholz/Nien-
burg in Niedersachsen erlebt. Dort wurde das Projekt
„Ausbildungslotsen“ erfolgreich an zwei Schulen gestar-
tet. An einer Oberschule in Sulingen und an der Koope-
rativen Gesamtschule Stuhr-Brinkum wird es für Schüler
ab der 8. Klasse angeboten.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich halte
fest: Wir als christlich-liberale Koalition garantieren das
duale Ausbildungssystem zum Wohle aller Jugendli-
chen, die einen Ausbildungsplatz anstreben, sowie für
alle Betriebe, die den Fachkräftenachwuchs in unserem
Land sichern.

Hierfür danken wir besonders unseren mittelständi-
schen Betrieben, den Handwerksmeistern, den Innungen
sowie den Berufsschulen. Ich halte zum Schluss fest:
Wir haben hierzulande ein vorbildliches Ausbildungs-
system, auf das wir stolz sein können.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719807400

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/10116, 17/10856, 17/9586, 17/9700
und 17/10986 an die in der Tagesordnung aufgeführten





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan-
den? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 40 a bis 40 h sowie
die Zusatzpunkte 3 a bis 3 e auf:

40 a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz des Erb-
rechts und der Verfahrensbeteiligungsrechte
nichtehelicher und einzeladoptierter Kinder
im Nachlassverfahren

– Drucksache 17/9427 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP-

(ERPWirtschaftsplangesetz 2013)


– Drucksache 17/10915 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Finanzausschuss 
Haushaltsausschuss

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Luftverkehrsabkommen vom 17. Dezember
2009 zwischen Kanada und der Europäischen

(Vertragsgesetz EU-Kanada-Luftverkehrsabkommen – EU-KAN-LuftverkAbkG)


– Drucksache 17/10917 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Ausschuss für Tourismus

d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung der Gewerbeordnung und anderer Ge-
setze

– Drucksache 17/10961 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Innenausschuss 
Rechtsausschuss 
Finanzausschuss

e) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Angelika Graf (Rosenheim), Marianne Schieder

(Schwandorf), Frank Hofmann (Volkach), weite-

rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Konsum kristalliner Methamphetamine durch
Prävention eindämmen – Neue synthetische
Drogen europaweit effizienter bekämpfen

– Drucksache 17/10646 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)
Innenausschuss 
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

f) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Johannes Selle,
Dorothee Bär, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU 
sowie der Abgeordneten Dr. Claudia Winterstein,
Burkhardt Müller-Sönksen, Reiner Deutschmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Das Filmerbe stärken, die Kulturschätze für
die Nachwelt bewahren und im digitalen Zeit-
alter zugänglich machen

– Drucksache 17/11006 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)
Rechtsausschuss 
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

g) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Jan Korte, Agnes Alpers, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Rehabilitierung und Entschädigung der ver-
folgten Lesben und Schwulen in beiden deut-
schen Staaten

– Drucksache 17/10841 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kathrin
Senger-Schäfer, Jan Korte, Herbert Behrens, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Finanzierung zur Bewahrung des deutschen
Filmerbes endlich sicherstellen

– Drucksache 17/11007 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)
Haushaltsausschuss

ZP 3 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Claudia
Roth (Augsburg), Tom Koenigs, Hans-Christian
Ströbele, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

NS-Vergangenheit von Bundesministerien und
Behörden systematisch aufarbeiten – Be-
standsaufnahme zur Forschung erstellen – Er-
innerungsarbeit koordinieren

– Drucksache 17/10068 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Ausschuss für Kultur und Medien 
Rechtsausschuss 
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Beate Müller-Gemmeke, Britta Haßelmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Für eine angemessene Praxis bei Anträgen auf
Kindergeldabzweigung durch die Sozialhilfe-
träger

– Drucksache 17/10863 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Günter
Krings, Michael Kretschmer, Dr. Hans-Peter Uhl,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU 
sowie der Abgeordneten Dr. h. c. Wolfgang Thierse,
Siegmund Ehrmann, Angelika Krüger-Leißner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD 
sowie der Abgeordneten Dr. Stefan Ruppert,
Patrick Kurth (Kyffhäuser), Gisela Piltz, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Wissenschafts- und Forschungsfreiheit stär-
ken, Rahmenbedingungen verbessern – Die
Aufarbeitung der Geschichte der wichtigsten
staatlichen Institutionen in Bezug auf die NS-
Vergangenheit durch besseren Aktenzugang
unterstützen und Bestandsaufnahmen zur
Aufarbeitung der frühen Geschichte der Bun-
desministerien und -behörden sowie der ver-
gleichbaren DDR-Institutionen beauftragen

– Drucksache 17/11001 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Rechtsausschuss 
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Marlies Volkmer, Dr. Karl Lauterbach, Elke
Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD

Patientenrechte wirksam verbessern

– Drucksache 17/11008 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)
Rechtsausschuss 
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

e) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Kerstin Andreae,
Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Beitragssätze nachhaltig stabilisieren, Er-
werbsminderungsrente verbessern, Reha-Bud-
get angemessen ausgestalten

– Drucksache 17/11010 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 
Haushaltsausschuss

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist so.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 41 a bis c, 41 e
bis l sowie die Zusatzpunkte 4 a und 4 b auf. Es handelt
sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen
keine Aussprache vorgesehen ist.

Wir kommen zunächst zu Tagesordnungspunkt 41 a:

Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Martin Dörmann, Gerold Reichenbach,
Doris Barnett, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines
… Gesetzes zur Änderung des Telemedienge-
setzes (TMG)


– Drucksache 17/8454 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-

(9. Ausschuss)


– Drucksache 17/8814 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Andreas G. Lämmel

Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/8814, den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/8454 abzulehnen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Oppositionsfraktionen abgelehnt. Damit entfällt nach
unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.

Tagesordnungspunkt 41 b:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zum Vorschlag für einen Beschluss des Rates
zur Festlegung eines Mehrjahresrahmens

(2013-2017) für die Agentur der Europäischen

Union für Grundrechte

– Drucksache 17/10760 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)


– Drucksache 17/11062 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Eva Högl
Marco Buschmann
Raju Sharma
Ingrid Hönlinger

Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/11062, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/10760 an-





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung einstimmig angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist einstimmig angenommen.

Tagesordnungspunkt 41 c:

Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Freihandelsabkommen
vom 6. Oktober 2010 zwischen der Europäi-
schen Union und ihren Mitgliedstaaten einer-
seits und der Republik Korea andererseits

– Drucksache 17/10758 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-

(9. Ausschuss)


– Drucksache 17/11054 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Ulla Lötzer

Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/11054, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
Drucksache 17/10758 anzunehmen.

Zweite Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktio-
nen gegen die Stimmen von Linken und Grünen bei Ent-
haltung der SPD angenommen.

Tagesordnungspunkt 41 e:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss)


zu dem Vorschlag für eine Verordnung des
Europäischen Parlaments und des Rates zur
Aufstellung des Programms für Umwelt- und
Klimapolitik (LIFE)


KOM(2011) 874 endg.; Ratsdok. 18627/11

– Drucksachen 17/8515 Nr. A.42, 17/10196 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Josef Göppel
Frank Schwabe
Angelika Brunkhorst
Sabine Stüber
Undine Kurth (Quedlinburg)


Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/10196, in Kenntnis der Unter-
richtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für

diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstim-
mig angenommen.

Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.

Tagesordnungspunkt 41 f:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 473 zu Petitionen

– Drucksache 17/10834 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 473 ist einstimmig an-
genommen.

Tagesordnungspunkt 41 g:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 474 zu Petitionen

– Drucksache 17/10835 –

Wer stimmt dafür? – Enthaltungen? – Gegenstim-
men? – Auch die Sammelübersicht 474 ist einstimmig
angenommen.

Tagesordnungspunkt 41 h:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 475 zu Petitionen

– Drucksache 17/10836 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 475 ist gegen die Stim-
men der Grünen von den übrigen Fraktionen des Hauses
angenommen.

Tagesordnungspunkt 41 i:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 476 zu Petitionen

– Drucksache 17/10837 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 476 ist gegen die Stim-
men der Linken von den anderen Fraktionen des Hauses
angenommen.

Tagesordnungspunkt 41 j:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 477 zu Petitionen

– Drucksache 17/10838 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 477 ist mit den Stimmen
von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der
Grünen und der Linken angenommen.





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Tagesordnungspunkt 41 k:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 478 zu Petitionen

– Drucksache 17/10839 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 478 ist mit den Stimmen
der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von
SPD und Grünen bei Enthaltung der Linken angenom-
men.

Tagesordnungspunkt 41 l:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 479 zu Petitionen

– Drucksache 17/10840 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 479 ist mit den Stimmen
der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
drei Oppositionsfraktionen angenommen.

Zusatzpunkt 4 a:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Abkommen vom 29. Juni 2012 zwi-
schen der Bundesrepublik Deutschland und
dem Globalen Treuhandfonds für Nutzpflan-
zenvielfalt über den Sitz des Globalen Treu-
handfonds für Nutzpflanzenvielfalt

– Drucksache 17/10756 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärti-
gen Ausschusses (3. Ausschuss)


– Drucksache 17/11035 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Beyer
Dr. Rolf Mützenich
Marina Schuster
Wolfgang Gehrcke
Kerstin Müller (Köln)


Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/11035, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
17/10756 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenom-
men.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist einstimmig angenommen.

Zusatzpunkt 4 b:

Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Portugal unterstützen und Parlamentsrechte
wahren

hier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta-
ges nach Artikel 23 des Grundgesetzes i. V. m.
§ 9 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von
Bundesregierung und Deutschem Bundestag
in Angelegenheiten der Europäischen Union

– Drucksache 17/11009 –

Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen
der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von
SPD und Grünen bei Enthaltung der Linken abgelehnt.

Ich rufe nunmehr Zusatzpunkt 5 auf:

Aktuelle Stunde

auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Integrität parlamentarischer Entscheidungen
durch mehr Transparenz und klare Regeln ge-
währleisten – Nebentätigkeiten, Karenzzeit für
Regierungsmitglieder, Abgeordnetenbestechung
und Parteiengesetz

Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen
Volker Beck für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das
Wort.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719807500

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nir-

gendwo fallen Reden und Handeln bei dieser Koalition
so auseinander wie beim Thema „Nebentätigkeiten und
Transparenz für Abgeordnete“.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Manfred Grund [CDU/CSU]: Woher wissen Sie das?)


In der letzten Woche haben Sie auf einmal Gefallen an
mehr Transparenz gefunden. Seit heute wissen wir: Das
gilt nur, wenn es um den Kollegen Steinbrück geht.


(Christine Lambrecht [SPD]: Genau!)


Wenn es mir keinen Ordnungsruf eintragen würde, Herr
Präsident, dann würde ich das Verhalten der Koalition
glatt als Heuchelei bezeichnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zu
den Transparenzrichtlinien des Bundestages gesagt:
Wähler müssen

Zugang zu den Informationen haben, die für ihre
Entscheidung von Bedeutung sein können. … Die
parlamentarische Demokratie basiert auf dem Ver-
trauen des Volkes; Vertrauen ohne Transparenz …
ist nicht möglich …





Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)


Interessenverflechtungen und wirtschaftliche Ab-
hängigkeiten der Abgeordneten sind für die Öffent-
lichkeit offensichtlich von erheblichem Interesse.
… Das Volk hat Anspruch darauf, zu wissen, von
wem – und in welcher Größenordnung – seine Ver-
treter Geld oder geldwerte Leistungen entgegen-
nehmen.

Diese Worte des Verfassungsgerichts sollten Sie sich
hinter die Ohren schreiben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Es geht nicht um Sozialneid. Ehrlich verdientes Geld
ist ehrlich verdientes Geld.


(Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Ach!)


Transparenz schützt aber die Integrität und Legitimität
parlamentarischer Entscheidungen. Die Menschen müs-
sen wissen, dass wir, die wir hier handeln und entschei-
den, im Sinne unseres Wählerauftrages unterwegs sind
und unsere Entscheidungen nach bestem Wissen und
Gewissen für das Wohl der Bevölkerung treffen und dass
diese Entscheidungen nicht nach den subjektiven wirt-
schaftlichen Interessen der Abgeordneten oder ihrer
Auftraggeber, mit denen sie wirtschaftliche Verbindun-
gen haben, getroffen werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Meine Damen und Herren von der christlich-liberalen
Koalition, Sie fürchten mehr Transparenz wie der Teufel
das Weihwasser.


(Beatrix Philipp [CDU/CSU]: So ein Quatsch! – Zuruf von der FDP: Quatsch!)


Das haben Sie am 30. Juni 2005 bewiesen, als wir die
geltende Transparenzregelung eingeführt haben. Das
Plenarprotokoll vermerkt dazu: „Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen der Koalition“ – das war da-
mals Rot-Grün – „bei Gegenstimmen der CDU/CSU und
der FDP angenommen.“

Kein Abgeordneter der Koalition wollte 2005 mehr
Transparenz bei der Nebenbeschäftigung von Abgeord-
neten. Heute haben Sie wieder so gehandelt. In der
Rechtsstellungskommission haben Sie bewiesen, dass
Sie keinen Schritt weiter sind. Sie waren nicht zu einem
Beschluss bereit, obwohl wir Ihnen sogar zwei Alternati-
ven angeboten haben,


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ja, als Tischvorlage!)


nämlich einmal Veröffentlichung der Nebentätigkeit auf
Heller und Pfennig


(Michael Grosse-Brömer ihr doch bekämpft! – Sie waren ja auch zu keinem Grundsatzbeschluss in diesem Sinne bereit, Herr Grosse-Brömer. Die Alternative waren wenigstens zehn zusätzliche Transparenzstufen bei der Veröffentlichung. Im Widerspruch zur Geschäftsordnung hat Herr Solms darauf bestanden, über die Anträge noch nicht einmal abzustimmen. Das zeigt doch: Bei Steinbrück fordern Sie die brutalstmögliche Transparenz, und in der Rechtsstellungskommission kneifen Sie. Das ist so ein bisschen Spiel nach „good cop, bad cop“. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das ist Heuchelei, und das werden wir Ihnen nicht
durchgehen lassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Die Generalsekretäre der Koalition haben Sie letzte
Woche von der Kette gelassen. Dobrindt und Döring
haben gegen Steinbrück gehetzt. Was haben sie nicht
alles gefordert? „Er täte gut daran, volle Transparenz
walten zu lassen und zu sagen, wie viel Geld er von der
Finanzindustrie bekommen habe,“ forderte Herr
Dobrindt. Weiter sagt er: „Einfach sagen, in welcher
Höhe“ – hört, hört! – „er in den letzten Jahren aus der
Finanzindustrie Gelder erhalten hat.“ Dann kann sich je-
der Gedanken darüber machen, ob hier Abhängigkeiten
entstanden sind.


(Zuruf des Abg. Thomas Oppermann [SPD])


Ja, richtig. Dann machen wir das aber für alle und nicht
nur für den Kollegen Steinbrück.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Herr Grosse-Brömer, bei Ihnen geht der Riss ja mitten-
durch. Auch Sie machen „good cop, bad cop“. Außer-
halb der Rechtsstellungskommission machen Sie den
„bösen Polizisten“, und in der Rechtsstellungskommis-
sion sagen Sie: Wir müssen alle ein bisschen nachdenk-
licher werden. Das schadet uns allen.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Reden Sie von mir?)


– Ja, ich zitiere Sie, Herr Kollege: Wer als Banken-
schreck auftritt, von dem will der Bürger wissen, was er
von den so Kritisierten ganz konkret bekommen hat.


(Zurufe von der SPD: Hört! Hört!)


– Ja, das wollen wir wissen, aber wir wollen es dann
auch von allen wissen, auch von Herrn Döring, auch von
Herrn Glos. Wir wollen keine Abgeordneten erster oder
zweiter Klasse schaffen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Ihr Angebot heute Morgen, man könne durchaus über
weitere Stufen bei der Transparenz reden,


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ist schon mehrere Wochen alt!)






Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)


ist ja wohl wirklich ein schlechter Witz. Wir reden seit
drei Jahren in der Rechtsstellungskommission bei Kaffee
und Croissant darüber,


(Zurufe von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!)


wie wir zu weiterer Transparenz kommen. – Ohne
Ergebnis! So auch am heutigen Tag. Bewegt hat sich
einfach gar nichts.

Meine Damen und Herren, die Transparenz bei den
Nebenbeschäftigungen ist eine Sache. Aber bei Transpa-
renz geht es natürlich um mehr. Wir Grünen fordern eine
umfangreiche Transparenzinitiative, die auch beinhaltet,
die Korruption, also Abgeordnetenbestechung, zu be-
strafen. Es kann nicht sein, dass Deutschland neben
Österreich das einzige Land in Europa ist, –


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719807600

Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719807700

– das die UN-Konvention gegen Korruption nicht

verabschiedet hat.

Ein wichtiger Punkt – die anderen wird mein Kollege
Konstantin von Notz dann ausführen können – ist die
Karenzzeit bei ausgeschiedenen Regierungsmitgliedern.


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Warum ist es in der EU-Kommission selbstverständlich,
dass ein Kommissar, der ausscheidet, sich seine An-
schlussverwendung genehmigen lassen muss –


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719807800

Herr Kollege.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719807900

– um es mit den Worten von Herr Rösler zu sagen –,

und bei uns geht das nicht? Da müssen wir uns an den
europäischen Standard anpassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719808000

Das Wort hat nun Michael Grosse-Brömer für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU – Thomas Oppermann [SPD]: Jetzt entschuldige dich mal!)



Michael Grosse-Brömer (CDU):
Rede ID: ID1719808100

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Machen wir uns nichts vor, diese Aktuelle
Stunde verdanken wir nicht unwirksamen Transparenz-
regeln, sondern der Sorge von Rot-Grün, dass Peer
Steinbrück mit seinen Vortragsreisen weiterhin in der
Diskussion bleibt.


(Beifall bei der CDU/CSU – Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Schlechter Versuch!)


Dabei zeigt gerade die Causa Steinbrück, dass wir Re-
geln zur Transparenz haben, die funktionieren.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Sie auch nicht wollten!)


Innerhalb kürzester Zeit waren in sämtlichen Zeitungen
die zehn besten Nebenverdiener veröffentlicht. – Herr
Beck, Sie haben doch gerade Ihren letzten Schwung hier
am Pult gelassen. Nun bleiben Sie doch ein bisschen
locker.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe noch Energie übrig, aber keine Redezeit!)


– Ich finde das absolut spannend, aber Sie müssen auch
bei diesem Thema lernen, ein bisschen ruhiger zu wer-
den.


(Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Und zuzuhören! – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Ausgerechnet!)


Die Causa Steinbrück besteht doch auch darin,


(René Röspel [SPD]: Es gibt keine Causa Steinbrück!)


dass er sich freundlicherweise freiwillig zur Offenlegung
bereit erklärt hat, möglicherweise deshalb, weil er sich
vom normalen Abgeordneten dadurch unterscheidet,
dass er Kanzlerkandidat Ihrer Partei geworden ist.


(Christine Lambrecht [SPD]: Das können wir doch alle werden!)


Er hat sich dazu freiwillig bereit erklärt und gesagt: Ich
lege gerne alles auf den Tisch.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben Sie doch gefordert? Haben Sie es gefordert?)


– Ich habe das nicht gefordert. Sie haben in der Ihnen ei-
genen Art, als Sie mich zitierten, die Hälfte weggelas-
sen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das lag an der Redezeit! Geben Sie mir mehr Redezeit und ich zitiere länger!)


Ich habe nämlich gesagt: Wenn denn jemand freiwillig
sagt: „Ich offenbare alles“, dann muss er es auch tun.
Diese Forderung habe ich aufgestellt. Das können Sie
gerne noch einmal nachlesen.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht doch gar nicht um Steinbrück! Es geht um grundsätzliche Regelungen!)


Ich finde, die bisherigen Transparenzregeln geben
auch die Möglichkeit, nachzufragen. Genau so ist es
richtig. Ich bin mit Ihnen der Auffassung: Jeder Bürger
muss wissen: „Gibt es irgendwelche wirtschaftlichen





Michael Grosse-Brömer


(A) (C)



(D)(B)


Interessen, die einen Abgeordneten in irgendeinem Zu-
sammenhang in seinem Mandat beeinträchtigen?“


(Zuruf von der SPD: Ah! Das ist ja etwas Neues!)


– Das ist nicht neu. Herr Kollege Lange, und Sie, Herr
Kollege Beck, wissen genau, dass ich das nicht nur
heute, sondern schon in der letzten Woche permanent er-
zählt habe.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Seit drei Jahren bekämpfen Sie das! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo sind Ihre Vorschläge?)


Deswegen will ich jetzt diese Heuchelei nicht bewerten,
die sich darin zeigt, dass heute so getan wird, als würden
wir hier völlig neue Vorschläge machen,


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie machen gar keine Vorschläge!)


die wir im Übrigen schon beim letzten Mal gemacht
haben, als wir die Sitzung vertagen mussten, weil die
SPD-Kollegen nicht da waren.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie spielen auf Zeit und sonst gar nichts!)


Ich finde, die Öffentlichkeit hat ein berechtigtes Inte-
resse an der Offenlegung der Einkünfte von Abgeordne-
ten; gar keine Frage. Das ist unstreitig. Das war im
Übrigen auch immer in unserer Fraktion unstreitig.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Von welcher reden Sie?)


Es muss erkennbar sein, ob ein Abgeordneter bei der
Mandatsausübung wirtschaftlich frei ist und im Auftrag
seiner Wählerinnen und Wähler handelt. Mögliche Ab-
hängigkeitsverhältnisse müssen klar benannt werden.
Die Frage ist nur: Welchen Weg wählen wir, um genau
dieses Ziel zu erreichen?

Wir unterstützen die Forderung nach mehr Transpa-
renz und auch die Verschärfung der bisherigen Regeln.
Das haben wir mehrfach gesagt, nicht zuletzt in der
Rechtsstellungskommission. Deswegen wäre es sinn-
voll, Herr Kollege Beck, wenn Sie endlich aufhörten,
uns Blockade vorzuwerfen. Sie waren jedes Mal dabei,
wenn wir unsere Angebote gemacht haben.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wollten einen schmutzigen Deal! Sie wollten weniger Transparenz!)


Wir haben immer gesagt: Wir sind bereit, mehrere Stu-
fen einzurichten. Das hat mit Blockade überhaupt nichts
zu tun.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich will Ihnen Folgendes sagen: Unserer Meinung
nach hat sich das Stufenmodell bewährt. Einkünfte wer-
den pauschaliert und nach Herkunft angezeigt. Diese
Meinung hatten auch SPD und Grüne eine recht lange

Zeit. Ich zitiere einmal, was Sie gesagt haben, als Sie
beim letzten Mal den Gesetzentwurf befürwortet haben,
der dazu beigetragen hat, diese Transparenzregeln einzu-
führen. Damals waren Sie folgender Auffassung, und
zwar SPD und Grüne: Nach einem Gutachten für die
Rechtsstellungskommission von Professor Hans Meyer
tragen wir dem Ausgleich der widerstreitenden Positio-
nen der verfassungsrechtlichen Stellung des Abgeordne-
ten, auch soweit er Grundrechtsträger ist, Rechnung. –
Achtung:

So sei das vorgeschlagene Stufenmodell bei der
Veröffentlichung von Einkünften gerade in der
Abwägung zwischen den Grundrechten des Abge-
ordneten einerseits und dem berechtigten Interesse
der Öffentlichkeit auf Offenlegung von Einkünften
andererseits gewählt worden.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir hatten heute eines im Angebot! Das wollten Sie auch nicht!)


Dies gilt gerade deshalb, weil dieses Stufenmodell der
passende Ausgleich zwischen dem notwendigen freien
Mandat, verfassungsrechtlich garantiert, und der not-
wendigen Information der Bürger ist, ob es und, wenn ja,
in welchem Umfang wirtschaftliche Interessen gibt, die
offenzulegen sind.

In diesem Zusammenhang halte ich deshalb auch die
Forderung nach Offenlegung auf Heller und Pfennig für
falsch. Wo ist der Mehrwert, wenn alles auf Heller und
Pfennig offenbart werden muss, im Vergleich zu diesem
Stufenmodell, bei dem pauschaliert wird? Im Übrigen
wird dem Bundestagspräsidenten alles ganz konkret an-
gezeigt, aber für die Öffentlichkeit wird das pauschaliert
dargelegt. Den Mehrwert bei der Transparenz sehe ich
nicht. Den hat mir bislang keiner erklärt, auch heute
Morgen nicht in der Rechtsstellungskommission.

Wenn dieses Instrument der Offenlegung auf Heller
und Pfennig keinen Mehrwert hat, dann muss man sich
die Frage stellen: Ist es denn im Vergleich zum Stufen-
modell geeignet, mehr Transparenz zu schaffen? Wenn
es nicht geeignet ist, mehr Transparenz zu schaffen, dann
erlaube ich mir allerdings, an die Auffassung des
Bundesverfassungsgerichtes zu erinnern, dessen Richter
damals bei der Bewertung der Transparenzregeln sehr
uneinig, nämlich mit 4 : 4, abgestimmt haben.

Das Bundesverfassungsgericht hat geschrieben: Der
Schutz der Privatsphäre gilt auch für Abgeordnete.

Das bedeutet, dass sich eine Offenlegung nur recht-
fertigt, soweit es … Informationen sind, die auch
tatsächlich dazu geeignet sind, auf die Gefahr von
Interessenverknüpfungen und Abhängigkeiten des
Abgeordneten hinzuweisen.

Wir wollen uns an der Verschärfung der Transparenz-
regeln beteiligen, und wir sind – wie wir jetzt schon
mehre Wochen lang betonen – bereit, mehrere Stufen
einzurichten. Infolgedessen sind wir auch die Fraktion,
die dazu beiträgt, dass Abhängigkeitsverhältnisse in der
Öffentlichkeit deutlich werden,


(Beifall CDU/CSU – Heiterkeit bei der SPD)






Michael Grosse-Brömer


(A) (C)



(D)(B)


nicht nur bei einem Kanzlerkandidaten, sondern bei
allen Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719808200

Das Wort hat nun Thomas Oppermann für die SPD-

Fraktion.


Thomas Oppermann (SPD):
Rede ID: ID1719808300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu den

wenigen wirklich frustrierenden Erfahrungen als Abge-
ordneter des Deutschen Bundestages gehört meine
Mitarbeit in der Kommission des Ältestenrates für die
Rechtsstellung der Abgeordneten.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kriegst du eine Erschwerniszulage?)


Seit zwei Jahren debattieren wir jetzt intensiv aufgrund
verschiedener Vorlagen und bemühen uns, die Transpa-
renzvorschriften für Abgeordnete zu erweitern. Nichts
ist in dieser Zeit passiert. Nichts hat sich bewegt. Es geht
immer nach der Methode „Verschleppen, verzögern, ver-
hindern“.


(Beifall bei der SPD)


Das änderte sich aber schlagartig vor zwei Wochen.
Als Peer Steinbrück Kanzlerkandidat wurde, sprangen
die drei Generalsekretäre der Koalitionsparteien gleich-
zeitig auf die Bühne und forderten umfassende Transpa-
renz von Steinbrück. Er solle alle Nebeneinkünfte auf
Euro und Cent offenlegen. Für einen ganz kurzen
Moment hatten die Generalsekretäre vergessen, was vor-
her passiert war, nämlich dass Union und FDP bei allen
Abstimmungen über die Erweiterung von Transparenz-
stufen im Bundestag oder in den Ausschüssen immer
dagegen gestimmt haben.


(Patrick Döring [FDP]: Sie zitieren falsch!)


Deshalb stelle ich fest: Wer für sich selbst Transparenz
verhindert, aber von anderen Transparenz fordert, der ist
ein Pharisäer und ein scheinheiliger Zeitgenosse, Herr
Döring.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Patrick Döring [FDP]: Habe ich nie gefordert! Das wissen Sie auch!)


Ganz besonders peinlich wird es, wenn einer wie Sie,
der auch noch der Nebentätigkeit als Vorstand einer
Haustierversicherung nachgeht und selber nicht über
seine Einkünfte aus dieser Tätigkeit nach Euro und Cent
Rechenschaft ablegt,


(Patrick Döring [FDP]: Weil ich auch das nie gefordert habe! Nie gefordert!)


Peer Steinbrück angeht und sogar sagt, der habe nicht
das Gen des ehrbaren Kaufmanns. Das war eine massive
Beleidigung von Peer Steinbrück. Ich warte immer noch,
dass Sie sich dafür entschuldigen.


(Beifall bei der SPD)


Mein lieber Herr Döring, wie aber konnten Sie so ver-
gesslich sein? Wie konnten Sie glauben, dass wir den
Ball, den Sie uns da zugespielt haben, nicht mit großer
Freude nach vorne spielen – und nicht nur mit Schaden-
freude. Wir wären doch schlechte Politiker, wenn wir
diese Gelegenheit nicht nutzen würden, jetzt auch in der
Sache voranzukommen. Und wir müssen in der Sache
vorankommen, meine Damen und Herren. Die Zeit ist
reif für neue Transparenzvorschriften im Deutschen
Bundestag.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir wollen die Offenlegung auf Euro und Cent von allen
Nebeneinkünften.

Jetzt heißt es natürlich ganz kleinlaut bei meinem
Kollegen Grosse-Brömer,


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ich finde, ich war ganz deutlich!)


das sei mit dem freien Mandat nicht vereinbar: Wir wol-
len nicht den gläsernen Bürger. – Auch wir wollen nicht
den gläsernen Bürger, aber wir wollen den transparenten
Abgeordneten.


(Beifall bei der SPD – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sie wollen den gläsernen Abgeordneten!)


Wenn Sie nicht wissen, was der Unterschied ist, kann ich
Ihnen das gerne anhand unserer Verfassung erklären.
Abgeordnete sind Vertreter des ganzen Volkes, an
Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem
Gewissen unterworfen. Das ist eine herausgehobene
Stellung der Abgeordneten. Aus der dürfen Sie nicht nur
Rechte, sondern aus der müssen Sie auch Verpflichtun-
gen ableiten, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie haben ein sehr gesundes Verhältnis zu den Rechten,
aber offenbar ein gestörtes Verhältnis zu den Verpflich-
tungen.

Wir wollen keine Neiddebatte über Nebeneinkünfte
von Abgeordneten, ganz im Gegenteil.


(Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Es darf gelacht werden!)


Ich finde es völlig in Ordnung, wenn einzelne Kollegen
versuchen, über Nebentätigkeiten ihre berufliche
Qualifikation zu erhalten oder auch den Kontakt zum
Wirtschaftsleben darüber aufrechtzuerhalten. Im Mittel-
punkt muss aber die Unabhängigkeit des Abgeordneten
stehen, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD)


Die Bürgerinnen und Bürger müssen erkennen können,
ob sich Abgeordnete von Dritten abhängig gemacht ha-
ben. Mögliche Interessenkollisionen, mögliche
Interessenverflechtungen müssen erkennbar, müssen kri-
tisierbar, müssen diskutierbar werden. Das ist der Sinn
der Transparenzvorschriften; das ist der Sinn des Trans-





Thomas Oppermann


(A) (C)



(D)(B)


parenzgebotes. Es geht darum, das Vertrauen der Bürger
in die Unabhängigkeit der Abgeordneten zu stärken.
Wenn Sie nicht das Misstrauen, sondern das Vertrauen
stärken wollen, dann hilft nur eins: Offenlegung aller
Nebeneinkünfte auf Euro und Cent.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Von der Union sind es über 100 Kollegen und Kolle-
ginnen und von der FDP über 40, die einer vergüteten
Nebentätigkeit nachgehen.


(Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Selbstständige! Freiberufler!)


Ich rufe den Kollegen zu: Stehen Sie zu Ihrer Nebentä-
tigkeit! Schämen Sie sich nicht dafür, dass Sie mit ehrli-
cher Arbeit Geld verdienen! Aber ich finde, was man
ehrlich verdient hat, das kann man auch sagen.


(Beifall bei der SPD)


Deshalb: Gehen Sie mit uns den nächsten Schritt, und
verändern Sie mit uns die Nebentätigkeitsvorschriften!
Sorgen Sie mit uns für volle Transparenz!

Ich möchte zum Schluss noch eine Bemerkung ma-
chen, Herr Präsident. Ich habe nämlich noch eine weitere
Bitte an die Koalition: Klären Sie endlich Ihr gestörtes
Verhältnis zur Strafbarkeit der Abgeordnetenbeste-
chung!


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn Sie das länger hier im Deutschen Bundestag blo-
ckieren, blamieren Sie den Deutschen Bundestag bis auf
die Knochen. Der Bundestag darf nicht das einzige Par-
lament und Deutschland nicht die einzige parlamentari-
sche Demokratie auf der Welt sein, wo Abgeordnetenbe-
stechung auch in Zukunft straffrei möglich ist. Bewegen
Sie sich bei dem Thema! Kommen Sie endlich in die
Schuhe!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719808400

Das Wort hat nun Hermann Otto Solms für die FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1719808500

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Ich habe als Mitglied des Präsidiums des Bun-
destages das Vergnügen oder auch manchmal die Last,
die Rechtsstellungskommission zu leiten. In dieser
Funktion und mit entsprechendem Auftrag versuche ich,
in der Frage der Transparenz der Einkünfte der Abgeord-
neten – ob das Nebeneinkünfte sind, ist schon eine Zwei-
felsfrage – eine Verbesserung zu erzielen.

Wir wollen mal bei den Fakten bleiben: Erstens. Die
jetzige Regelung mit den drei Stufen ist, wie eben gerade
von Herrn Beck bestätigt wurde, nicht von uns, sondern
von Rot-Grün eingeführt worden.


(Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Das haben sie schon vergessen! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie hätten gar nichts gemacht!)


Sie wird nun von Ihnen genauso wie von uns als unzu-
reichend angesehen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Damals war es zu weitgehend!)


Aber Sie sollten auch bestätigen, dass Sie Ihre Meinung
auch erst einmal neu entwickeln mussten.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Wir waren damals schon für Heller und Pfennig! Die SPD wollte es nicht! – Gegenruf von der FDP: Die Grünen waren es nie!)


– Jetzt bin ich dran. – Zweitens. Wir haben in der
Rechtsstellungskommission einen Vorschlag in der Dis-
kussion – wenn ich mich recht erinnere, seit über einem
Jahr – zu einer Zehn-Stufen-Regelung bis zu
150 000 Euro. Es ist überhaupt nicht wahr, dass nicht da-
rüber diskutiert worden ist.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gleichzeitig nehmen Sie die monatliche Anzeigepflicht raus! Das ist ein toller Vorschlag!)


Wir haben auf einer realen Grundlage diskutiert und
sind bis jetzt nicht zu einer Einigung gekommen. So sind
die Fakten.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann setzen Sie es doch durch! Wir haben es auch durchgesetzt!)


Vor 14 Tagen, als die Rechtsstellungskommission das
erste Mal nach der Sommerpause getagt hat, war die Ko-
alitionsseite bereit, über eine weitergehende Stufenrege-
lung zu reden. Leider waren die Kollegen der SPD ver-
hindert. Ich sage das nicht vorwurfsvoll. Es ist einfach
ein Faktum. Deswegen konnten wir nicht darüber spre-
chen. Die Causa Steinbrück ist erst danach hochgekom-
men. Bis zu diesem Zeitpunkt war die SPD voll ent-
schlossen, über eine Stufenregelung zu reden und nicht
die Berichterstattung auf Heller und Pfennig einzufor-
dern.


(Zuruf von der CDU/CSU: Genau so ist es!)


Das heißt, der Sachzusammenhang mit der Causa
Steinbrück ist deutlich erkennbar.


(Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Reflexhaft!)


Wir sind auch jetzt bereit, über eine weitgehende Stu-
fenregelung zu reden.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das tun wir ja schon eine Weile!)






Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


Das geht natürlich nicht mit einem Termin, der nur
40 Minuten dauert wie heute Morgen. Dafür muss man
sich etwas mehr Zeit nehmen.


(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Wollt ihr, oder wollt ihr nicht?)


– Entschuldigung, wenn man eine gemeinsame Lösung
erzielen will, muss man darüber reden. Es geht eben
nicht so, wie es der Kollege Beck getan hat, indem er
eine Tischvorlage einbringt und verlangt, dass wir sofort
darüber abstimmen,


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben Sie schon gestern gehabt!)


bevor irgendjemand Gelegenheit hatte, sich diese Tisch-
vorlage anzuschauen. Das geht nicht.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In den Ausschüssen legen Sie solche Pakete vor als Koalition, und zwar jeden Mittwochmorgen um 9 Uhr!)


– Herr Kollege Beck, das hätte doch die Lösungsfindung
nur erschwert und nicht erleichtert. Jetzt sollte man das
alles einmal ein bisschen herunterhängen;


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wird Ihnen nicht gelingen! Grund war doch Ihre Zögerlichkeit!)


denn diese ganze Diskussion schadet dem ganzen Haus
und allen Fraktionen hier im Hause.


(Beifall bei der FDP)


Ich bin es nun endlich leid. Diese laufenden Schuldzu-
weisungen hin und her führen dazu – –


(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Sagen Sie das zu Herrn Döring!)


– Ich nehme niemanden aus.


(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Gut! Sie haben es gehört, Herr Döring?)


Ich habe mit dem Kollegen Döring schon unter vier Au-
gen über das Problem gesprochen,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der SPD: Oh! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der wird ganz rot, der Kollege Döring!)


und ich hoffe, dass das andere auch getan haben im Hin-
blick auf Kollegen in ihren Fraktionen.

Ich bitte jetzt nur die Kollegen aus der Rechtsstel-
lungskommission, sich für die nächste Woche etwas
mehr Zeit zu nehmen; denn ich bin überzeugt davon,
dass wir in der nächsten Woche die Chance haben, zu ei-
nem Ergebnis zu kommen. Das muss unser Interesse
sein, damit diese leidige Diskussion endlich beendet
wird.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719808600

Das Wort hat nun Raju Sharma für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Raju Sharma (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719808700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn es

Regeln gibt, dann sollte man sie einhalten. Dies gilt ins-
besondere dann, wenn es Regeln sind, die man selber
aufgestellt hat. Darüber sollten wir heute sachlich debat-
tieren.

Mit Peer Steinbrück lohnt sich eine politische Aus-
einandersetzung. Dafür gibt es gute Gründe, und diese
Auseinandersetzung sollten wir auch führen. An die gel-
tenden Transparenzregelungen hat er sich aber nach
dem, was wir wissen, offenbar gehalten. Das Problem ist
bloß, dass die geltenden Transparenzregelungen nicht
das halten, was sie dem Namen nach versprechen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Nun regen sich alle über Peer Steinbrücks Nebentätig-
keiten auf: die Union und die FDP. Den Grünen ist das
sogar eine Aktuelle Stunde wert. Was mich wundert, ist,
dass die Genossinnen und Genossen von der SPD sich
nicht aufregen; denn da wird jemand als MdB bezahlt,
leistet aber nicht.


(Christine Lambrecht [SPD]: Wie kommen Sie denn darauf? – Thomas Oppermann [SPD]: Haben Sie heute Morgen die Rede nicht gehört? Waren Sie heute Morgen nicht da?)


Statt den Ruhm der Sozialdemokratie in Facharbeitskrei-
sen und in den Ausschüssen zu mehren, mehrt Peer
Steinbrück seinen eigenen Ruhm und seine eigene Ehre
und bekommt dafür Honorare wie Jerry Lewis zu seinen
besten Zeiten in Caesar’s Palace.


(Beifall bei der LINKEN – Thomas Oppermann [SPD]: Da sind Sie richtig neidisch, was? – Christine Lambrecht [SPD]: Ihre Rede ist das nicht wert!)


Wenn ich Sozialdemokrat wäre und vielleicht in Mett-
mann etwas bewegen wollte, dann würde ich mich wirk-
lich aufregen.

Aber es regen sich ganz andere auf, zum Beispiel der
Kollege Dobrindt. Der wird immerhin dafür bezahlt,
dass er sich aufregt:


(Thomas Oppermann [SPD]: Wo ist er überhaupt?)


von der Allianz, von BMW, von der bayerischen Metall-
industrie, die allesamt kräftig der CSU spenden.


(Beifall bei der LINKEN)


Außerdem meldet sich Patrick Döring zu Wort, aus-
gerechnet Patrick Döring, der selber zu den Top Ten der
Nebenverdiener gehört.


(Thomas Oppermann [SPD]: Aber nur bei den Nebenverdienern!)






Raju Sharma


(A) (C)



(D)(B)


– Die Honorare bekommt er allerdings nicht für Vor-
träge; sie wären vermutlich auch intellektuell wenig
inspirierend.


(Heiterkeit bei der LINKEN – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die will keiner hören! – Zuruf von der FDP: Das ist ja unterirdisch!)


– Unterirdisch?


(Zuruf von der FDP: Ja, es ist unterirdisch, sich so gegenüber dem Kollegen zu verhalten! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Unterirdisch“ im Zusammenhang mit Döring ist immer eine richtige Aussage!)


Ausgerechnet Union und FDP melden sich zu Wort,
also die Fraktionen, die an anderer Stelle mit fadenschei-
nigen Begründungen verhindern, dass endlich die UN-
Konvention gegen Korruption ratifiziert wird und dass
die Empfehlungen der Staatengruppe gegen Korruption
umgesetzt werden. Ich finde, das ist selbst für einen vor-
gezogenen Wahlkampfstart ziemlich platt.


(Beifall bei der LINKEN – Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Peinlich ist das, peinlich!)


Die Rechtslage in diesem Fall ist klar; aber sie ist un-
zureichend.


(Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Sie waren doch in der Anhörung!)


– Natürlich war ich gestern in der Anhörung; ich habe
auch einiges gesagt.


(Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Da merkt man aber nix von!)


– Ich kann Ihnen ein bisschen was aus der Anhörung er-
zählen. Die Anhörung, die wir gestern zum Thema Ab-
geordnetenbestechung gehabt haben, hat nämlich erge-
ben, dass man, wenn man es will, entweder über die
Vorschläge, die die Oppositionsfraktionen, nämlich
Linke, SPD und Grüne, zu einer Verschärfung der Abge-
ordnetenbestechung gemacht haben, weiterkommt, um
die Voraussetzung für die Ratifizierung der UN-Konven-
tion zu schaffen,


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das findet ja nicht mal der DAV gut!)


oder dass man es anders machen kann. Dazu haben
selbst die von Ihnen benannten Sachverständigen Vor-
schläge gemacht. Letztlich scheitert es nur daran, dass
Sie nicht wollen. Das ist fadenscheinig, und daran müs-
sen wir jetzt endlich einmal herangehen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Bei den Transparenzregelungen ist die Rechtslage
völlig klar; aber sie ist unzureichend. Formal – das habe
ich schon gesagt – hat sich Peer Steinbrück vermutlich
richtig verhalten. Dass wir dennoch diese Diskussion
hier haben, zeigt, dass die Regelungen weiterentwickelt
werden müssen. Wir brauchen neue Transparenzricht-

linien. Im Prinzip sollte jede Nebentätigkeit angezeigt
werden, und zwar mit Nennung des Auftraggebers und
der Höhe des Honorars. Die Linke wird hier mit gutem
Beispiel vorangehen. Wir werden, sofern nicht im Aus-
nahmefall Rechte Dritter dem entgegenstehen, Nebentä-
tigkeiten und daraus erzielte Einkünfte unter www.links-
fraktion.de bzw. auf den Webseiten der Abgeordneten
öffentlich machen.


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Auch die Einkünfte von den Gewerkschaften?)


– Alles.

Wir wollen keine Neiddebatten führen, und es geht
auch nicht um Neid. Ich missgönne Herrn Döring seine
Honorare ebenso wenig wie Herrn Steinbrück. Es hat
aber etwas mit Aufrichtigkeit, mit Offenheit und Ehr-
lichkeit denjenigen gegenüber zu tun, die unsere Diäten
finanzieren. Die Bürgerinnen und Bürger sollten wissen,
wer unter Umständen von wem profitiert.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist unstreitig!)


Von mehr Transparenz profitieren wir Abgeordneten
alle; denn das erspart uns, dass wir einem Generalver-
dacht ausgesetzt werden, und es erspart uns auch, dass
wir wie hier in der Aktuellen Stunde einer Diskussion
über die Nebentätigkeiten von Peer Steinbrück ausge-
setzt werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719808800

Das Wort hat nun Wolfgang Götzer für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Wolfgang Götzer (CSU):
Rede ID: ID1719808900

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Seit der SPD-Kanzlerkandidat wegen seiner Vortragsho-
norare in die Schlagzeilen geraten ist, überbieten sich
SPD und Grüne geradezu mit Vorstößen zu Neuregelun-
gen zur Transparenz.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir kommen kaum an Herrn Dobrindt ran!)


Der Tagesspiegel hat dies in seiner gestrigen Ausgabe
eine „Verlegenheitsoffensive“ genannt, und genau das ist
der treffende Ausdruck.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Das, was ihr macht, ist eine Verlegenheitsoffensive!)


Ich meine, wir sollten zu einer vernünftigen und sach-
lichen Debatte zurückkehren, wie sie dem Thema ange-
messen ist.





Dr. Wolfgang Götzer


(A) (C)



(D)(B)



(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Erst auf die Kante hauen und dann sagen: Wie gemein!)


Worum geht es denn eigentlich, verehrte Kolleginnen
und Kollegen? Sollen Neidgefühle bedient werden, oder
soll sinnvolle Transparenz geschaffen werden? Transpa-
renz, so sagt unser Bundestagspräsident – ich kann ihm
da nur beipflichten –, ist kein Selbstzweck, und er weist
in einem Interview vor wenigen Tagen zu Recht auf die
Auffälligkeit hin – ich zitiere –, „mit welcher Selbstver-
ständlichkeit man von politischen Mandatsträgern eine
Transparenz erwartet, die man sich für den Rest der Ge-
sellschaft ausdrücklich verbittet.“ Bemerkenswert!

Es kann doch nicht angehen, verehrte Kolleginnen
und Kollegen, Abgeordnete zu zwingen, Dinge von sich
preiszugeben, die zur Privatsphäre gehören, auf die jeder
Mensch ein Recht hat, auch Abgeordnete.


(Thomas Oppermann [SPD]: Sie sind eine öffentliche Person!)


Worum es gehen muss, ist, Interessenkollisionen auf-
zuzeigen, Abhängigkeiten offenzulegen und beispiels-
weise aufzuzeigen, ob die politische Tätigkeit vermark-
tet wird und etwa auch, ob die Mandatsausübung im
Mittelpunkt steht. Das sind die Fragen, um die es bei der
Forderung nach mehr Transparenz gehen muss. Auf Ant-
worten darauf haben die Bürger ein Recht und einen An-
spruch.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Diesen Zielen, wie ich sie gerade genannt habe, müs-
sen Verhaltensregeln dienen. Verhaltensregeln müssen
also danach beurteilt werden, ob sie insoweit aussage-
kräftig und damit zielführend sind.

Nun meinen SPD und Grüne seit einiger Zeit, dass die
von ihnen selbst – Herr Kollege Solms hat noch einmal
darauf hingewiesen; manche hier haben es anscheinend
vergessen – im Jahr 2005 geschaffene Drei-Stufen-Rege-
lung diesen Maßstäben nicht genügt. Wir von der Union
sind offen für eine Änderung. Wir diskutieren in der Tat
in der Rechtsstellungskommission seit längerem da-
rüber. Wir haben seit langem die Bereitschaft zu einer
Neuregelung mit deutlich mehr und höheren Stufen
signalisiert.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, mehr und höhere
Stufen bringen in bestimmten Fällen, zum Beispiel bei
Vortragshonoraren, tatsächlich einen weiteren Erkennt-
nisgewinn; denn hier weichen Brutto- und Nettozufluss
kaum oder gar nicht voneinander ab. Daran aber, dass
aus der Höhe der Nebeneinkünfte allein immer auch Er-
kenntnisse über Abhängigkeiten, über Interessenkolli-
sionen gewonnen werden können, sind Zweifel ange-
bracht. Außerdem bleibt ein Grundfehler der Regelung
von 2005 von Rot-Grün, nämlich das Brutto-Zufluss-
prinzip.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das klingt ja schon wieder ganz anders als bei Herrn Grosse-Brömer! Jetzt wissen wir: Das wird ein langer, langer, langer Weg!)


Wegen dieses Prinzips sind die Angaben in vielen Fällen
nämlich nicht aussagekräftig.

Gleichwohl, ich sage es noch einmal: Die Union bzw.
die Koalition ist für eine neue Stufenregelung bereit.
Aber wir sollten uns in diesem Zusammenhang auch Ge-
danken über eine klare Differenzierung zwischen Ein-
künften einerseits machen, die aus dem erlernten und
meist auch vor der Parlamentszeit bereits ausgeübten
Beruf erzielt werden, und Nebenverdiensten anderer-
seits, die – ich zitiere noch einmal den Tagesspiegel von
gestern – „erkennbar nicht ‚berufsspezifisch‘ sind, son-
dern mehr oder weniger offenkundige Folge der politi-
schen Tätigkeit“; ich sage es im Klartext: wo es um die
Vermarktung von Amt oder Mandat geht.

Leider wird – einer der Grundfehler dieser Regelung
von 2005 – alles pauschal als Nebeneinkünfte bezeichnet
und den gleichen Regelungen unterworfen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir könnten auch ein Schiedsgericht einrichten!)


Da halte ich es für durchaus verständlich, dass man-
che Kollegen, die etwa Handwerker, Gewerbetreibende
oder Rechtsanwälte sind, sich ungerecht behandelt füh-
len und dass viele, die sich eine Kandidatur zum Deut-
schen Bundestag überlegen, dadurch abgeschreckt wer-
den.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben Sie das letzte Mal bei den Rechtsanwälten auch erzählt!)


Wir brauchen aber Abgeordnete, verehrter Herr Kollege
Beck, die noch ihren Beruf ausüben; das sage ich gerade
an die Adresse Ihrer Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Gerade ein während des Mandats ausgeübter Beruf stützt
die politische Unabhängigkeit des Abgeordneten und ist
damit im Interesse des Parlamentarismus.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Deshalb dürfen wir jetzt nicht das Kind mit dem Bade
ausschütten. Wir sind für Transparenz, wenn sie kein
Selbstzweck ist, sondern zielführend.

Ich bedanke mich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719809000

Das Wort hat nun Christine Lambrecht für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Christine Lambrecht (SPD):
Rede ID: ID1719809100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Kollegen! Sehr

verehrte Damen und Herren! Wenn wir in dieser Aktuel-
len Stunde über mehr Transparenz reden, dann ist das
kein Selbstzweck, sondern es geht darum: Wie schaffen





Christine Lambrecht


(A) (C)



(D)(B)


wir es, dass die Bürgerinnen und Bürger wieder mehr
Vertrauen in Politik und in Politiker haben? Dazu gehört
auch die Frage: Wie können wir endlich die UN-Kon-
vention zur Korruptionsbekämpfung in diesem Land
umsetzen? Das ist bereits seit 2003 ein Anliegen. Wir
haben es bis heute nicht erreicht, einen Straftatbestand
der Abgeordnetenbestechung zu schaffen.

In dieser Woche gab es in dieser Frage endlich Bewe-
gung. Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was
erzählen. So hat uns Herr Siegfried Kauder, CDU, Vor-
sitzender des Rechtsausschusses des Deutschen Bundes-
tages, berichtet, wie es auf seiner Reise letzte Woche in
Afrika war. In Afrika ist er darauf angesprochen worden,
wie es denn mit Korruption ist – nicht etwa in Afrika,
nein, in Deutschland –, warum wir denn in Deutschland
nicht mehr für die Bekämpfung von Korruption tun.


(Jörg van Essen [FDP]: Stimmt überhaupt nicht, nicht ein einziges Mal! Ich war bei der Reise dabei! – Gegenruf des Abg. Raju Sharma [DIE LINKE]: Gesagt hat er es!)


– Dann müssen Sie das vielleicht mit ihm klären, Herr
van Essen. Zumindest den Journalisten gegenüber hat er
erklärt, dass das bei ihm zu einem Umdenken geführt hat
und er jetzt darüber nachdenkt, wie man so etwas in
Deutschland regeln könne.


(Beifall des Abg. Raju Sharma [DIE LINKE])


Da kann ich Ihnen sagen, Herr Kauder: Sie hätten
nicht erst nach Afrika fahren müssen. Sie hätten, jenseits
von Afrika,


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Gestern konnten wir von Ihnen nichts hören!)


schon vor vielen Jahren – beispielsweise von Organisa-
tionen wie Transparency International – hören können,
wie wichtig es ist, dass die Regeln dieser Antikorrup-
tionskonvention in Deutschland umgesetzt werden. Sie
hätten, jenseits von Afrika, einfach nur zuhören müssen,
wie Grüne, Linke, SPD mit zahlreichen Gesetzesinitia-
tiven versucht haben, einen Weg zu finden, Abgeordne-
tenbestechung gesetzlich zu fassen. Sie hätten, jenseits
von Afrika, einfach nur zuhören müssen, wie Bundes-
tagspräsident Lammert oder auch Herr Waigel dringend
dazu aufgerufen haben, endlich Regeln zur Bekämpfung
von Abgeordnetenbestechung in diesem Land zu finden.
Sie hätten, jenseits von Afrika, diesen Sommer einfach
nur zuhören müssen, wie ein Großteil der deutschen
Wirtschaft uns allen ins Stammbuch geschrieben hat:
Macht endlich etwas! Es ist uns peinlich, dass wir im
Ausland darauf angesprochen werden, dass ausgerechnet
in Deutschland kein Straftatbestand der Abgeordneten-
bestechung bekannt ist. – Wir stehen damit in einer
Reihe mit Staaten, in deren Gesellschaft wir uns sonst
nicht so sehr wohlfühlen: Syrien, Saudi-Arabien und,
und, und. Jenseits von Afrika wäre das alles möglich ge-
wesen.

Aber Sie mussten erst diese Reise machen. Gut, jetzt
haben Sie diesen Erkenntnisgewinn. Sie sagen: Wir ma-

chen uns darüber Gedanken. – Herr Kauder und meine
Damen und Herren von der Koalition, wir werden es Ih-
nen nicht durchgehen lassen, wenn wieder nur warme
Worte kommen, wir werden genau beobachten, ob den
Worten Taten folgen. Zu sagen: „Wir überlegen jetzt
mal. Das ist aber sehr schwer, und ob wir das noch in
dieser Legislaturperiode schaffen …“, ist, glaube ich,
kein angemessener Umgang mit dem Thema.

Das ist vergleichbar mit den Stellungnahmen, die wir
hier zur Frage der Transparenz bei Nebeneinkünften be-
kommen. Auch bei diesem Thema kommt erst jetzt Be-
wegung in die Diskussion. Seit Jahren diskutieren wir
darüber, ob die Regeln ausreichen. Es geht nicht, dass
man immer wieder vertröstet, immer wieder Erklärun-
gen abgibt, aber trotzdem glaubt, dass das zu mehr Ver-
trauen der Bürgerinnen und Bürger in Politik und in
Politiker führt. Wir müssen dafür sorgen, dass wir die
Nebeneinkünfte offenlegen, dass wir zeigen: Wir haben
keinen Dreck am Stecken. Deswegen zeigen wir offen,
von wem wir wofür bezahlt werden. Darum geht es; es
geht hier nicht um eine Neiddiskussion oder darum, ei-
nen gläsernen Abgeordneten zu schaffen. Vielmehr muss
deutlich werden: Wer bekommt von wem Geld wofür?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Dann kann sich der Bürger Gedanken darüber machen,
ob er sich von diesem Abgeordneten vertreten fühlt.
Dazu reicht es aber nicht aus, zu sagen: Wir machen nur
ein paar Stufen.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das wolltet ihr bis vor zwei Wochen doch auch noch!)


Selbstverständlich muss es möglich sein, weiterhin als
Anwalt, als Arzt, als Vortragsreisender, als Tierversiche-
rer zu arbeiten. Aber der Bürger muss wissen: Von wem
bekommt der Abgeordnete Geld wofür? Deswegen kann
ich Ihnen nur dringend zurufen: Hören Sie auf mit dieser
Verschleppungstaktik! Das schadet uns allen und bringt
uns alle in eine Situation, die mit Vertrauen bestimmt
nichts zu tun hat. Lassen Sie Ihren Worten endlich Taten
folgen!

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719809200

Das Wort hat nun Jörg van Essen für die FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Jörg van Essen (FDP):
Rede ID: ID1719809300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

empfehle uns allen, ein Stück abzurüsten. Es ist schon
mehrfach in der Debatte gesagt worden: Es nützt nie-
mandem, wenn wir uns gegenseitig Vorwürfe machen.





Jörg van Essen


(A) (C)



(D)(B)



(Zuruf von der SPD: Wer hat denn aufgerüstet?)


Ich stelle fest: Der Kollege Steinbrück hat seine Ne-
bentätigkeiten ordnungsgemäß angemeldet,


(Christine Lambrecht [SPD]: Warum haben Sie sich dann darüber aufgeregt?)


aber er muss sich natürlich den Fragen stellen. Wenn
man so vielen Nebentätigkeiten nachgegangen ist und
Reden gehalten hat, wenn man eines der höchsten Ämter
in diesem Lande anstrebt und im Bundestag nur ganz
wenig geredet hat,


(Zuruf von der FDP: Viermal!)


dann muss man sich Fragen gefallen lassen und darf
nicht so dünnhäutig reagieren, wie wir das heute in der
Debatte erlebt haben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Christine Lambrecht [SPD]: Er hat souverän reagiert und nicht dünnhäutig!)


Trotzdem: Ich glaube, dass wir auch gut beraten sind,
zu sehen, dass es in den Fraktionen unterschiedliche In-
teressen gibt. Die SPD-Fraktion ist die Fraktion mit dem
höchsten Anteil an Gewerkschaftsfunktionären. Das kri-
tisiere ich nicht.


(Thomas Oppermann [SPD]: Wir finden das gut!)


Ich finde, dass Arbeitnehmervertreter ganz selbstver-
ständlich auch im Bundestag anwesend sein müssen, da-
mit sie die Interessen der Arbeitnehmer vertreten kön-
nen. Der Bundestag lebt davon, dass wir solche
Interessenvertretungen, auch einseitige Interessenvertre-
tungen, haben. In der Fraktion der Grünen gibt es den
höchsten Anteil der Berufslosen, den höchsten Anteil
der Lehrer. Die haben wiederum andere Interessen. Der
Kollege Beck beispielsweise versucht, seitdem er im
Bundestag ist, uns nahezubringen, dass die, die keinen
Beruf haben, am unabhängigsten sind.


(Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU)


Ich versuche, hier das Gegenteil zu vermitteln, nämlich:
Derjenige, der einen Beruf hat, ist am unabhängigsten.
Herr Beck, es gibt niemanden in diesem Parlament, der
abhängiger von Politik ist als Sie. Was sollen Sie denn
ohne Berufsabschluss sonst machen?


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Deswegen werbe ich dafür, dass wir ein breites Parla-
ment mit vielen Berufen sind. Für mich gehört dazu,
dass sich meine Fraktion dadurch auszeichnet – darüber
bin ich froh –, dass wir den höchsten Anteil an Hand-
werksmeistern und Selbstständigen haben. Denn auch
die gehören in den Bundestag.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das Interesse von Selbstständigen und Handwerkern
ist ein anderes als von denen, die, wie ich, als Beamte,
als Lehrer, als Gewerkschaftsfunktionäre jederzeit wie-
der in ihren Beruf zurückkehren können. Die durch-

schnittliche Dauer der Zugehörigkeit eines Abgeordne-
ten zum Bundestag beträgt zwei Perioden, acht Jahre.
Ein Bäckermeister – in unserer Fraktion ist gerade einer
nachgerückt – kann seine Bäckerei nicht schließen und
nach acht Jahren wieder öffnen, um als Bäcker wieder
Fuß zu fassen. Deshalb ist es sinnvoll, dass er seinen Be-
ruf weiter fortführt. Das macht ihn unabhängig. Er kann
jederzeit wieder in seinen Beruf zurückkehren.

Deshalb: Alle Regeln, die wir schaffen, klopfen wir
daraufhin ab, ob sie so beschaffen sind, dass dem Bundes-
tag auch Selbstständige weiterhin angehören können,
ohne dass sie ihre Selbstständigkeit, ihren Beruf gefähr-
den. Das gilt beispielsweise auch für viele freie Berufe,
bei denen ebenfalls Verschwiegenheitspflichten zu be-
achten sind.

Meine zweite Bemerkung betrifft den Korruptionstat-
bestand. Ich erinnere mich noch sehr genau: Als die
Bundesregierung die UN-Konvention unterzeichnen
wollte, haben alle damals vertretenen Fraktionen – die
Linke war nicht dabei, aber Herr Beck war schon dabei –
die Bundesregierung gebeten, sie nicht zu unterzeichnen,


(Christine Lambrecht [SPD]: Wegen der Formulierung!)


weil in der Formulierung kein Unterschied gemacht wird
zwischen Beamten und Abgeordneten.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zwischen Amt und Mandat! Aber das kann man doch durch einen Vorbehalt heilen!)


Als Abgeordneter habe ich nach Art. 38 des Grundgeset-
zes das Recht auf die freie Ausübung des Mandats.


(Christine Lambrecht [SPD]: Das hat aber nichts mit Bestechung zu tun!)


Das bedeutet natürlich auch, dass man Pflichten hat. Der
Kollege Oppermann hat sie ausgeführt. Ich finde es aus-
gesprochen richtig, dass Sie das getan haben. Aber der
Abgeordnete ist frei. Ich bin es als Beamter nicht. Des-
halb lege ich als Beamter auch einen Diensteid ab. Ein
Abgeordneter tut es nicht. Deshalb muss es unterschied-
liche Regeln dafür geben.


(Christine Lambrecht [SPD]: Ja! Deswegen Trennung!)


Wenn man die gestrige Anhörung von Anfang an mit
verfolgt hat – der Kollege Sharma war dabei; Sie, Frau
Lambrecht, glaube ich, auch –, dann wurde einem klar:
Es war ein klarer Verriss dessen, was Sie vorgetragen ha-
ben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Christine Lambrecht [SPD]: Nein!)


Diejenigen, die hier den Eindruck erwecken wollen,
die Oppositionsfraktionen hätten Vorschläge gemacht,
die den Anforderungen der Verfassung genügen, der
lügt.


(Christine Lambrecht [SPD]: Dann waren Sie auf einer anderen Veranstaltung!)






Jörg van Essen


(A) (C)



(D)(B)


Denn das Gegenteil ist der Fall: Diese Vorschläge be-
inhalten entweder eklatante Verstöße gegen den Art. 103
des Grundgesetzes oder eklatante Verstöße gegen den
Art. 38.

Dieser Verriss wäre noch deutlicher geworden, wenn
zwei Sachverständige, die leider nicht anwesend sein
konnten, ihre Auffassung vorgetragen hätten; so lagen
die Stellungnahmen nur schriftlich vor. Wir wissen, dass
sie genau die gleiche Kritik geäußert hätten. Von all de-
nen, die wohlfeil sagen: „Da muss sich was tun“, erwarte
ich, dass sie gesetzes- und vor allen Dingen verfassungs-
konforme Vorschläge machen. Solche Vorschläge habe
ich bisher nicht gesehen.

Ich hätte meinen Beruf als Oberstaatsanwalt verfehlt,
wenn ich Korruption unterstützen wollte. Das will ich
natürlich nicht, aber ich möchte Regeln, die den Anfor-
derungen der Verfassung genügen. Das haben wir bisher
nicht gesehen. Nur daran und nicht an unserem schlech-
ten Willen ist das Ganze gescheitert.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719809400

Das Wort hat nun Konstantin von Notz für die Frak-

tion Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter
Herr Kollege van Essen, Ihr Seitenhieb gegen die Be-
rufslosen zeigt, wie hart an den Kern bei Ihnen diese
Diskussion gehen muss, wenn Sie nicht anerkennen,
welchen großen gesellschaftlichen Beitrag auch der Kol-
lege Volker Beck geleistet hat in dem, was er beruflich
getan hat. Das ist unterirdisch, das finde ich nicht okay.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das führt uns auch weg von der Debatte. Herr Grosse-
Brömer und auch der Kollege Götzer haben auf den
„gläsernen Bürger“ Bezug genommen. Darum geht es
doch genau nicht. Allerdings würde ich mir diesen Ap-
pell gegen den gläsernen Bürger von Ihnen auch bei der
Vorratsdatenspeicherung und beim Datenschutz wün-
schen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Dort hört man dieses Argument jedoch seltener. Hier
geht es allein darum, dass die Bürgerinnen und Bürger
Transparenz darüber erlangen, was Abgeordnete in der
Zeit, in der sie Diäten erhalten, nebenher verdienen. Um
diese Transparenz geht es, und nicht um den gläsernen
Bürger.

Wir verhandeln unter diesem Tagesordnungspunkt
viele gute Themen. Eine transparentere Regelung der
Nebeneinkünfte – das ist hier schon viel besprochen
worden – ist überfällig. Die Einführung der Genehmi-

gungspflicht für eine Berufstätigkeit von ausscheidenden
Regierungsmitgliedern – überfällig. Die Novellierung
des Parteiengesetzes – überfällig. Die Bekämpfung der
Abgeordnetenbestechung und die Ratifizierung des
Übereinkommens der VN – auch das ist angesprochen
worden – sind überfällig, und es ist peinlich, dass das
noch nicht geschehen ist.

Ein verpflichtendes Lobbyistenregister – hierüber ha-
ben wir in dieser Legislaturperiode bereits gestritten – ist
ebenso überfällig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie verhindern an allen Ecken und Enden, dass diese
Dinge umgesetzt werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Christoph Strässer [SPD])


Ich möchte gerne aus dieser Selbstbespiegelungsnum-
mer herauskommen und deutlich machen, worüber wir
hier eigentlich reden: Es geht nicht um ein selbstreferen-
zielles Thema, das sich nur um Abgeordnete dreht. Die
Themen Transparenz und Bürgernähe sind kein grünes
Hirngespinst, das man mal eben aus der Kiste holt, son-
dern das sind die großen gesellschaftlichen Themen un-
serer Zeit.

Wenn Sie mit den Bürgerinnen und Bürgern in Ihrem
Wahlkreis sprechen, wenn Sie Umfragen lesen, dann er-
kennen Sie: Das ist ein ganz zentrales Thema unserer
Zeit, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Diese Bundesregierung vertrödelt die Entwicklung
der Transparenz in noch ganz anderen Bereichen. Auch
im Bereich Open Data – das sei angemerkt – sind wir ein
Transparenzentwicklungsland. Sie wehren sich auch mit
Händen und Füßen dagegen, dass Bürgerinnen und Bür-
ger das Recht darauf bekommen, von Ministerien und
Verwaltungen proaktiv informiert zu werden. Das ist wie
bei der Abgeordnetenbestechung: Dieses Recht zu ver-
weigern, ist nicht konservativ oder liberal, sondern es ist
angestaubt und hinterwäldlerisch.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ihre jahrelange Verhinderungs-, Hinhalte- und Verzö-
gerungstaktik in diesem Bereich ist meiner Ansicht nach
letztlich nur Ausdruck eines noch nicht ganz überwunde-
nen preußischen Obrigkeitsverständnisses.


(Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Das weise ich als Rheinländer zurück!)


– Ja, das wusste ich; das ist besonders bitter für die CSU.

Im 21. Jahrhundert hat das in unserer Demokratie
nichts mehr zu suchen.


(Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Ich bin ein Rheinländer, kein Bayer, wie man schon an meiner Idiomatik merken kann!)


Unklare Nebenverdienstregelungen, Amtsverschwiegen-
heit, Geheimniskrämerei – damit ist im 21. Jahrhundert
kein Staat mehr zu machen. Deswegen brauchen wir ein





Dr. Konstantin von Notz


(A) (C)



(D)(B)


neues Verhältnis des Staates zu seinen Bürgerinnen und
Bürgern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das Recht jedes Einzelnen und jeder Einzelnen auf
Zugang zu staatlichen Informationen ist die Basis für in-
formierte Mitbestimmung in einer modernen Demokra-
tie. Deshalb haben wir hier vor einigen Wochen einen
eigenen Gesetzesentwurf zum Informationszugangs-
grundrecht eingebracht. Wenn Sie auch kein Grundrecht
wollen, so müssen Sie doch zumindest zustimmen, dass
die Regelungen zur Informationsfreiheit insgesamt drin-
gend einer Reform bedürfen.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Haben Sie noch mehr Textbausteine? – Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Außerdem bin ich für den Weltfrieden!)


Nur ein Beispiel dafür: Bisher können sich Verwaltun-
gen und Unternehmen viel zu oft mit Verweis auf Be-
triebs- und Geschäftsgeheimnisse herausstehlen und
Auskünfte verweigern, selbst bei der Deutschen Bahn
und bei Public-private-Partnerships, bei denen es um die
Verwendung von Steuermilliarden geht. Das alles hat in
der Bevölkerung keine Akzeptanz mehr, ebenso die be-
stehenden Regelungen zu Nebenverdiensten. Deswegen
geht es so nicht weiter.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Aufregung hier in der Debatte, aber auch in der
Diskussion um Herrn Steinbrück ist groß. Das öffentli-
che Interesse ist groß, ebenso der Reformdruck. Wir
brauchen mehr Transparenz, stärkere Informationsrechte
und eine gesetzliche Open-Data-Verpflichtung. Dafür
muss man aber Transparenz politisch wirklich wollen,
nicht nur halbherzig, nicht nur so ein bisschen, nicht nur
wochenweise, wenn es um gegnerische Kanzlerkandida-
turen geht. Fangen wir endlich damit an! Wenn wir die
heute hier diskutierten Punkte umgesetzt haben, dann
müssen viele andere Schritte folgen.

Ganz herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719809500

Das Wort hat nun Helmut Brandt für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Helmut Brandt (CDU):
Rede ID: ID1719809600

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Kolle-

ginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich
weiß nicht, wie oft sich das Parlament bereits mit dieser
Frage beschäftigt hat. Es ist jedenfalls ein wiederholtes
Mal der Fall. Die Überschrift, die die antragstellende
Fraktion hier gewählt hat, ist allerdings – darauf werde
ich gleich noch eingehen – für mich etwas verräterisch.
Wenn man die Debatte über Nebeneinkünfte von Abge-
ordneten, Karenzzeiten, Abgeordnetenbestechung und

die entsprechenden Regelungen im Parteiengesetz in ei-
nem Tagesordnungspunkt zusammenfasst, dann hat das
schon den Geschmack, dass man das eine mit dem ande-
ren verweben will, obwohl es unmittelbar überhaupt
nichts miteinander zu tun hat.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den Zusammenhang habe ich ja gerade erläutert!)


Es ist schon mehrfach zur Sprache gekommen – jeder
weiß es; man braucht es nicht auszusprechen –: Der
Grund für die Aufregung, die hier künstlich erzeugt
wurde und aufrechterhalten werden soll, liegt allein in
den Presseveröffentlichungen und der darauf folgenden
öffentlichen Diskussion über die hohen Nebeneinkünfte
des Kollegen Steinbrück. Das schmeckt der Opposition
nicht, die sonst gerne den Eindruck erweckt, Nebenein-
künfte in dieser Größenordnung gäbe es nur bei den
Politikern der Koalition.


(Thomas Oppermann [SPD]: Stimmt nicht! – Christine Lambrecht [SPD]: Wer sagt denn so was?)


Deshalb wird nun in einem hektischen Aktionismus ver-
sucht, sich gegenseitig mit vermeintlich besseren Rege-
lungsvorschlägen zu übertreffen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Von uns gibt es zu allem Drucksachen!)


Kommen wir zu den Nebeneinkünften. 2005 wurde
– das ist hier schon erwähnt worden – die heutige Rege-
lung von Rot-Grün eingeführt. Nach unserer Auffassung
hat sie sich im Wesentlichen bewährt. Das beweist im
Grunde genommen die Veröffentlichung der Einkünfte
von Herrn Steinbrück; er hat sie angegeben. Ich habe gar
nichts gegen diese Einkünfte; eigentlich hatte keiner
Einwände dagegen.


(Christine Lambrecht [SPD]: Das hat sich aber anders angehört!)


Aber die Diskussion kam nun einmal auf. In der Öffent-
lichkeit wird von einem Kanzlerkandidaten – zu Recht
oder zu Unrecht; darüber kann man lange diskutieren –
mehr erwartet, als er bislang geliefert hat. Warten wir es
in aller Ruhe ab! Er hat weitere Angaben angekündigt.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was war eigentlich mit dem Vizekanzlerkandidaten Westerwelle? – Thomas Oppermann [SPD]: Hat Westerwelle schon offengelegt?)


Die Art der Einkünfte ist doch durchaus unterschied-
lich – der Kollege Götzer hat das eben zu Recht gesagt –:
Führt ein Abgeordneter eine Tätigkeit fort, die er bereits
zuvor ausgeübt hat oder innehatte, oder aber – das ist ein
großer Unterschied – beruhen die zusätzlichen Einkünfte
auf einer früheren Zugehörigkeit zur Regierung oder
zum Parlament? Das ist ein qualitativer Unterschied, den
man sicherlich beachten muss. Im letzten Fall muss man
natürlich fragen, wofür, von wem und wie viel er dafür
bekommt.





Helmut Brandt


(A) (C)



(D)(B)


Jedenfalls müssen wir – darauf lege ich Wert – bei al-
len Regelungen darauf achten, dass die Grenzen des
freien Mandats beachtet werden. Dazu gehört insbeson-
dere auch, dass der Schutz von Berufsgeheimnisträgern
wie Anwälten, Ärzten, Steuerberatern und anderen ge-
wahrt bleiben muss. Wir müssen darauf achten, dass das
Parlament – auch das ist eben zu Recht betont worden;
ich danke Herrn van Essen, dass er das so deutlich ge-
macht hat – für Unternehmer, Handwerker und Freibe-
rufler offen und attraktiv bleibt und nicht nur für diejeni-
gen, die ohne Probleme später wieder in ihren Beruf
zurückkehren können, beispielsweise Beamte oder Ge-
werkschafter.

Wir sollten uns insgesamt davor hüten, bei der Dis-
kussion verschiedene Dinge, die nichts miteinander zu
tun haben – damit komme ich auf den Beginn meiner
Ausführungen zurück –, zu vermengen. Wer etwa die
Frage der Nebentätigkeiten mit der Problematik der Ka-
renzzeit für Regierungsmitglieder oder auch der Abge-
ordnetenbestechung vermischt, will offensichtlich be-
wusst den Eindruck erwecken, dass Nebentätigkeiten per
se etwas Negatives sind oder gar ein Zusammenhang mit
diesen Themen besteht. Ich halte das, offen gesagt, für
fatal. Wir alle schaden uns mit einer auf diese Art ge-
führten Diskussion selbst.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Man gewinnt schon den Eindruck, dass die jetzt in der
Opposition befindlichen Fraktionen wohlfeile Vor-
schläge zu dem Thema machen, weil nicht die Gefahr
besteht, dass diese Vorschläge tatsächlich umgesetzt
werden. Das gilt insbesondere für das Thema der Abge-
ordnetenbestechung. Wir haben gestern im Rahmen der
Sachverständigenanhörung deutlich vernommen, dass
sämtliche vorgelegten Vorschläge der Opposition so
nicht umsetzbar sind.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Christine Lambrecht [SPD]: Dann waren Sie auf einer anderen Veranstaltung!)


Insofern halte ich es für sehr problematisch, heute hie-
raus Vorwürfe zu entwickeln. Aber es kommt noch di-
cker. Sie hatten während Ihrer Regierungszeit anderthalb
Jahre Zeit, die UN-Konvention umzusetzen, und für die
Umsetzung des Europaratsabkommens standen Ihnen
sogar sechs Jahre zur Verfügung.

Ich möchte zum Schluss ein Zitat des früheren rechts-
politischen Sprechers der SPD-Fraktion, des Kollegen
Joachim Stünker, bringen. Er hat in einer Debatte am
25. September 2008 – das kann man im Plenarprotokoll
der 179. Sitzung auf Seite 19 144 nachlesen; so viel wird
hier geredet – gesagt:

Aber dann mussten wir koalitionstreu sein, und wir
durften sie

– gemeint waren die Vorschläge –

nicht ins Parlament einbringen, weil uns die Grünen
blockiert haben.


(Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Namen!)


… Das war eine Regelung, die dem Kollegen Beck
zu weit und dem Kollegen Ströbele nicht weit ge-
nug ging.

So viel zur Tätigkeit von Rot-Grün.

Besten Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719809700

Das Wort hat nun Christian Lange für die SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD)



Christian Lange (SPD):
Rede ID: ID1719809800

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Am 17. Juni 2005 durfte ich für die SPD-Frak-
tion den Änderungsantrag zum Abgeordnetengesetz und
damit die Transparenzvorschriften, über die wir heute
sprechen, einbringen. Damals, meine lieben Kolleginnen
und Kollegen von CDU/CSU und FDP, waren Sie dage-
gen. Deshalb bitte ich Sie dringend: Erwecken Sie nicht
den Eindruck, als ob Sie für noch mehr Transparenz, für
noch mehr Stufen geworben hätten. Das Gegenteil ist
und war der Fall.


(Beifall bei der SPD)


Ich nehme zur Kenntnis, dass Sie seit der Peer-
Steinbrück-Diskussion Ihre Position geändert haben.


(Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Sie auch!)


Seit wenigen Tagen vertreten Sie plötzlich die Auffas-
sung, dass Sie dieses Stufenmodell, das Sie seit Beginn
dieser Wahlperiode vor drei Jahren erbittert bekämpft
haben, toll finden.


(Jörg van Essen [FDP]: Stimmt doch gar nicht!)


Ich nehme es zur Kenntnis; aber das ist eine Änderung
Ihrer Position. Die Redlichkeit gebietet es, dies auch so
zu sagen.


(Beifall bei der SPD)


Es ist wichtig, ein Zweites festzuhalten. Wenn wir für
Transparenz werben, dann muss eines klar sein: Trans-
parenz muss für alle gelten. Was für den Abgeordneten
Steinbrück gilt, das muss auch für den Abgeordneten
Riesenhuber, für den Abgeordneten Glos und für den
Abgeordneten Döring gelten. Erklären Sie bitte im Deut-
schen Bundestag, warum es für diese nicht gelten soll!
Erklären Sie bitte, warum für den einen Extraregeln gel-
ten sollen, für diese Personen aber nicht.


(Beifall bei der SPD)


Für die Juristen unter uns – ich sehe, dass der Kollege
Grosse-Brömer schon gegangen ist –


(Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Er ist zum Ältestenrat!)


– ja, da gehen wir alle noch hin –, will ich Folgendes
doch noch einmal sagen: Tun Sie bitte nicht so, als ob





Christian Lange (Backnang)



(A) (C)



(D)(B)


das Bundesverfassungsgericht sich gegen Transparenz-
regeln ausgesprochen hätte. Das Gegenteil ist der Fall.
Ich will hier einmal die Gründe nennen, die zur Rechts-
kraft der vorhandenen Regelung und zu mehr Transpa-
renz geführt haben. Das Bundesverfassungsgericht hat
nicht nur gesagt: „Der Wähler muss wissen, wen er
wählt“. Es hat auch gesagt: Es entspricht damit einem
Grundanliegen demokratischer Willensbildung, Abge-
ordnete zu verpflichten, Angaben über Tätigkeiten ne-
ben dem Mandat zu machen, die auf Interessenverflech-
tungen und wirtschaftliche Abhängigkeiten hindeuten
können. Weiter heißt es:

Das Interesse des Abgeordneten, Informationen aus
dieser Sphäre vertraulich behandelt zu sehen, ist ge-
genüber dem öffentlichen Interesse an der Erkenn-
barkeit möglicher Interessenverknüpfungen …
grundsätzlich nachrangig.

Es ist „nachrangig“. Deshalb sind die Transparenzvor-
schriften verfassungskonform. Deshalb unterstützt das
Bundesverfassungsgericht die Vorschläge der SPD-Frak-
tion, endlich alles auf Heller und Cent offenzulegen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Das Bundesverfassungsgericht geht sogar noch einen
Schritt weiter. Wenn wir weiterlesen – das sage ich den
Kolleginnen und Kollegen, die ein Interesse an dem
Thema haben –, stellen wir fest, dass darin sogar etwas
über uns steht. Darin steht:

Auch Mit-Abgeordnete haben ein legitimes Inte-
resse, zu wissen, welchen Interessenverbindungen
ihre Kollegen unterliegen, weil dies für die Ein-
schätzung, nach welcher Richtung hin deren Argu-
mente besonders wachsamer Prüfung bedürfen, von
Bedeutung sein kann.

Es ist also nicht nur für die Wählerinnen und Wähler,
sondern auch für uns von Bedeutung, diese Abhängig-
keiten zu erkennen. Deshalb ist die Zeit reif für eine Of-
fenlegung nach Heller und Cent.


(Beifall bei der SPD)


Ich will Ihnen, meine Damen und Herren, und insbe-
sondere Herrn van Essen noch etwas zum Thema Selbst-
ständige sagen. Ja, Sie haben recht: Wir haben hier zu
wenig Selbstständige. Wir brauchen mehr Selbststän-
dige.


(Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Dazu trägt diese Regelung aber nicht bei!)


Da bin ich ganz bei Ihnen. Leute wie ich, die Landesbe-
amte sind, die aus einem Ministerium kommen, haben es
da besser. Eines ist aber auch klar: Niemand fordert ein
Verbot von Nebentätigkeiten, wie wir es in anderen Län-
dern haben. Niemand! Wir sind immer der Auffassung
gewesen, dass wir das in dieser Wahlperiode für die
nächste Wahlperiode beschließen müssen, damit die
Kandidaten sich darauf vorbereiten und einstellen kön-
nen. Das war immer Konsens in diesem Hause, und das
ist auch die Position der SPD.

Eines steht auch fest: Wenn es dazu kommt und je-
mand nicht bereit ist, die Nachrangigkeit seines wirt-

schaftlichen Eigeninteresses anzuerkennen, dann hat er
noch andere Möglichkeiten.


(Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Da geht es auch um Interessenkonflikte!)


Zum Beispiel könnte sein Betrieb treuhänderisch weiter-
geführt werden usw. Es ist aber wichtig, dass wir das
jetzt beschließen, damit das für die nächste Wahlperiode
gelten kann.

Ein Letztes: Ich bitte Sie wirklich, jetzt den Weg da-
für frei zu machen, dass die Einkünfte aus Nebentätig-
keiten auf Euro und Cent offengelegt werden. Ich bitte
Sie wirklich, den Weg frei zu machen für die Korrup-
tionsbekämpfung. Die SPD-Fraktion hat einen Antrag
zur Änderung von § 108 e Strafgesetzbuch eingebracht.
Ich bitte Sie wirklich, den Weg frei zu machen für ein
verbindliches Lobbyregister. Auch hierzu haben wir ei-
nen Antrag eingebracht. Auch dies ist bislang aufgrund
Ihrer Blockade gescheitert. Ich bitte Sie schließlich auch
darum, den Weg frei zu machen für eine Regelung für
Externe in den Bundesministerien. Viermal zu blockie-
ren ist wirklich zu viel des „Guten“. Ändern Sie Ihre
Position, nicht nur im Lichte der Kandidatur von Peer
Steinbrück, sondern zum Wohle der Bürgerinnen und
Bürger. Transparenz ist angesagt. Deshalb bitte ich um
Zustimmung und Unterstützung für die Anträge der
SPD.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719809900

Letzter Redner in der Aktuellen Stunde ist Ansgar

Heveling für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Ansgar Heveling (CDU):
Rede ID: ID1719810000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es

könnte auf den ersten Blick fast ein wenig verwundern,
dass sich bei diesem Gemischtwarenladen von Themen
der Aktuellen Stunde vonseiten der Opposition haupt-
sächlich Kolleginnen und Kollegen zur Abgeordneten-
bestechung geäußert haben, die, abgesehen vom Kolle-
gen Sharma, gestern nicht oder nicht die ganze Zeit bei
der diesbezüglichen Anhörung dabei gewesen sind.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Christine Lambrecht [SPD]: Was ist das denn? „Nicht die ganze Zeit“? Ich war dort!)


Und wer dann die ganze Zeit dabei gewesen ist und
wer einen Gesamteindruck von der Veranstaltung be-
kommen hat, der hätte heute hier sicherlich nicht so ge-
redet.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das Thema ist entschieden komplizierter, als es auf
den ersten Blick aussieht. Zumindest das ist in der De-
batte deutlich geworden, in der neben offensichtlichen
Unterschieden auch erkennbare Übereinstimmungen in
der Beurteilung dieser differenzierten Sachverhalte of-





Ansgar Heveling


(A) (C)



(D)(B)


fenkundig geworden sind. – Dies hat unser Bundestags-
präsident Norbert Lammert vor einiger Zeit zu diesem
Thema gesagt.

Von differenzierten Sachverhalten ist in dieser Ak-
tuellen Stunde allerdings nicht viel zu merken. Man sieht
schon an der thematischen Gestaltung: Alles wird in ei-
nen Topf geworfen, und daraus wird ein Süppchen ge-
kocht. Ob daraus Kost wird, die den Bürgerinnen und
Bürgern schmeckt, sei dahingestellt.

Wenn wir wirklich etwas für die Integrität parlamen-
tarischer Entscheidungen tun wollen, hilft eine Aktuelle
Stunde sicherlich nicht weiter. Der gestrigen Anhörung
zum Thema Abgeordnetenbestechung wäre sicherlich
die gleiche Aufmerksamkeit zu wünschen gewesen wie
der heutigen Aktuellen Stunde. Die Anhörung war je-
denfalls eine wirkliche Lehrstunde dafür, wie mühsam
und schwierig es ist, abstrakte Ziele in konkret handhab-
bare Vorschriften umzusetzen. Mein Fazit der gestrigen
Anhörung ist, dass da noch eine ganze Menge Arbeit vor
uns liegt. Wer gesehen hat, wie sehr schon die Sachver-
ständigen bei jedem Punkt mit sich gerungen haben, dem
ist klar, welch diffizile Aufgabe auf uns Abgeordnete zu-
kommt, wenn wir eine sachgerechte Regelung beim
Thema Abgeordnetenbestechung treffen wollen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Insofern, glaube ich, sollte man besser einmal inne-
halten und das gegenseitige Überbieten darin, wer nun
kein Interesse an einer Regelung habe und aus welchen
Gründen, einen kurzen Moment einstellen. Es wäre na-
türlich auch für mich ein Leichtes, aufzuzählen, wer
wann einmal was regeln wollte und warum er dann an
wem gescheitert ist. Das ist alles kein Problem. Dafür
braucht man nur einmal in die Stenografischen Berichte
dieses Parlaments zu schauen. Wenn man ein bisschen
blättert, wird man ganz schnell fündig, auch bei den
Fraktionen auf der linken Seite dieses Hauses.


(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Nur bei Ihnen nicht! Sie wollten nie etwas regeln!)


Mein persönliches Highlight ist das Bekenntnis eines
ehemaligen Kollegen von der SPD aus dem Jahr 2008
– Kollege Brandt hat das eben ausführlich zitiert –, der
hier freimütig erklärte, man habe das alles schon 2005
regeln wollen, aber dann habe es Koalitionsprobleme ge-
geben. Dem Koalitionspartner Beck sei der Regelungs-
vorschlag zu weit gegangen, dem Koalitionspartner
Ströbele aber nicht weit genug. Man findet also schnell
Beispiele; aber ich glaube, das führt uns nicht weiter.

Wichtig ist – das ist gar keine Frage –, dass wir erst
einmal aus dem Dilemma herauskommen, ratifizierte
Abkommen noch nicht ausreichend umgesetzt zu haben.


(Christine Lambrecht [SPD]: Überhaupt nicht umgesetzt zu haben!)


Das ist auf die Sache bezogen ein formaler Kritikpunkt.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD)


– Hören Sie zu, was ich noch sage; dann lachen Sie viel-
leicht nicht mehr. Dazu gleich mehr.


(Christine Lambrecht [SPD]: Da muss auch noch was kommen!)


Es ist gleichzeitig der wesentliche Punkt in der interna-
tionalen Diskussion. Aber die Umsetzung einer entspre-
chenden Konvention besagt zunächst einmal nicht viel.
Deutschland und Japan, die beide die Konvention unter-
zeichnet, aber noch nicht umgesetzt haben, liegen
gemeinsam auf Platz 14 des internationalen Korrup-
tionsindexes von Transparency International – vor den
Umsetzungsstaaten Großbritannien auf Platz 16 und
Frankreich auf Platz 25 und weit vor den Umsetzungs-
staaten Paraguay, Libyen und Venezuela. Das zeigt ganz
eindeutig, dass es nicht auf die Buchstaben eines Geset-
zes ankommt, sondern darauf, wie eine Gesellschaft mit
diesem Thema umgeht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Also, wer nicht umsetzt, ist frei von Korruption?)


Wie dem auch sei; die Tatsache, dass wir die von uns ra-
tifizierten Konventionen noch nicht umgesetzt haben, ist
und bleibt ein Zustand, der auf Dauer nicht hinnehmbar
ist. – Jetzt können Sie sich wieder beruhigt zurückleh-
nen.


(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Was meinen Sie, wie ich bin, wenn ich mich aufrege?)


Die Bereitschaft zur Regelung ist ohne Frage gege-
ben. Aber die gestrige Anhörung hat ganz deutlich ge-
zeigt: Es ist ausgesprochen schwierig, einen tragfähigen
Ansatzpunkt zu finden. Gerade die Sprachlosigkeit, das
minutenlange Schweigen des Sachverständigen von
Transparency International – wer gestern anwesend war,
hat es erlebt – war beispielgebend, und zwar nicht im
positiven Sinne.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das Ganze ist so zu regeln, dass die Mitglieder von Or-
ganen zweier Gewalten, nämlich Legislative und Exeku-
tive, Parlament und Räte, von den Regelungen umfasst
sind.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719810100

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.


Ansgar Heveling (CDU):
Rede ID: ID1719810200

Aus meiner Sicht sollten wir daher erst einmal sehr

offen und sehr genau über das nachdenken, was uns die
Sachverständigen gestern gesagt haben. Entscheidend
aber ist und bleibt, dass es eines gesellschaftlichen Kli-
mas der Transparenz bedarf, eines Klimas, das dafür
sorgt, dass korruptive Verhaltensweisen ans Licht gezerrt
werden. Denn damit wird Korruption in all ihren Formen
am besten der Boden entzogen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719810300

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.






(A) (C)



(D)(B)



Ansgar Heveling (CDU):
Rede ID: ID1719810400

Das tue ich jetzt.

Ganz herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719810500

Die Aktuelle Stunde ist beendet.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-
zung der Richtlinie 2012/…/EU über den Zu-
gang zur Tätigkeit von Kreditinstituten und
die Beaufsichtigung von Kreditinstituten und
Wertpapierfirmen und zur Anpassung des
Aufsichtsrechts an die Verordnung (EU)

Nr. …/2012 über die Aufsichtsanforderungen
an Kreditinstitute und Wertpapierfirmen

(CRD-IV-Umsetzungsgesetz)


– Drucksache 17/10974 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Rechtsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Parlamentarischen Staatssekretär Hartmut Koschyk.


(Beifall bei der FDP)


H
Hartmut Koschyk (CSU):
Rede ID: ID1719810600


Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Mit
den im Dezember 2010 veröffentlichten Empfehlungen
des Basler Ausschusses für Bankenaufsicht wurde eine
neue Grundordnung für die Banken weltweit geschaffen.
Diese „Basel III“ genannten Empfehlungen sind eine der
wichtigsten Konsequenzen aus der Finanzmarktkrise,
und sie dienen dem Zweck, Banken in Zukunft krisen-
fester zu machen; denn eines haben wir in der Krise ge-
lernt: Banken, die mit zu wenig Eigenkapital ausgestattet
sind und zu stark über ihre Eigenkapitalquote hinausge-
hende Risikogeschäfte eingehen, können nationale und
internationale Finanzsysteme in große Erschütterung
versetzen. Die Umsetzung von Basel III ist ein Herz-
stück der Reformen auf dem Finanzmarkt; denn ein
nachhaltig funktionierendes Bankensystem braucht nicht
nur qualitativ hochwertiges Eigenkapital, sondern muss
auch über hinreichend Eigenmittel verfügen.

Im Rahmen der G 20 hat sich Deutschland, haben
sich die Europäer verpflichtet, Basel III als zentrales
Element der Bankenregulierung jetzt umzusetzen. Auch
auf internationaler Ebene – und das ist für die Bundes-
regierung ganz entscheidend – ist die Umsetzung voran-
gekommen. So haben die USA im Juni 2012 ihre Vor-
schläge zur Umsetzung zur Konsultation gestellt und
wollen mit der Implementierung am 1. Januar 2013 be-
ginnen. Auch Japan will mit der Umsetzung ab Ende des

ersten Quartals 2013 beginnen und die Arbeiten an den
nationalen Regulierungsvorschriften weitgehend been-
den.

Auf EU-Ebene haben die Finanzminister am 15. Mai
dieses Jahres die Vorschläge zur Umsetzung von Ba-
sel III mittels einer EU-Verordnung und einer Richtlinie
gebilligt. Auf europäischer Ebene unterstützt die Bun-
desregierung mit Nachdruck einen schnellen Abschluss
der Verhandlungen zwischen Rat, Europäischem Parla-
ment und Kommission noch in diesem Jahr. Bundes-
finanzminister Schäuble hat in den letzten Wochen mit
vielen Mitgliedstaaten, mit der Kommission und auch
mit den maßgeblichen Persönlichkeiten im Europäischen
Parlament gesprochen; denn ein Aufschub der Umset-
zung von Basel III dient der Sache nicht, vor allem weil
die Wirkung dieser Regulierung über die unmittelbar be-
troffenen Banken hinausgeht und Wirtschaft und Gesell-
schaft insgesamt betrifft. Daher haben wir auch in
Deutschland das nationale Gesetzgebungsverfahren
frühzeitig eingeleitet. Natürlich müssen wir jetzt auf den
Ausgang der Trilog-Verhandlungen warten. Aber wir
wollten in Deutschland alles tun, um unsere Entschlos-
senheit zu bekunden, Basel III so zeitgerecht und so früh
wie möglich umzusetzen.

Mit der neuen EU-Verordnung wird die Harmonisie-
rung des EU-Bankenaufsichtsrechts weiter gestärkt. Alle
Mitgliedstaaten müssen dieselben Vorschriften anwen-
den und dürfen nur in ausdrücklich zugelassenen Fällen
abweichen. Dies ist ein besonderer Baustein für eine
kommende einheitliche europäische Aufsichtsstruktur.

Das Gesetzespaket enthält zahlreiche neue Sicher-
heitsstandards und gibt der deutschen Bankenaufsicht
neue und verschärfte Kontroll- und Sanktionsmöglich-
keiten an die Hand. Die neuen Regelungen schützen All-
gemeinheit und Steuerzahler besser vor dem Risiko, bei
Ausfällen im Bankensektor in Haftung genommen zu
werden.

Ein Teil der Umsetzung von Basel III erfolgt mittels
einer unmittelbar in Deutschland geltenden EU-Verord-
nung. In dieser Verordnung werden unter anderem stren-
gere Mindesteigenkapitalanforderungen an Banken,
insbesondere eine deutliche Erhöhung des harten Kern-
kapitals, festgelegt, eine Verschuldungsobergrenze ab
2018 nach einer entsprechenden Beobachtungsphase
eingeführt und zwei neue Liquiditätskennziffern zur Ab-
deckung der Liquidität für 30 Tage und zur Abdeckung
der Liquidität bis zu einem Jahr vorgesehen.

Im Kern verlangt Basel III von den Banken qualitativ
besseres und quantitativ umfangreicheres Eigenkapital.
Hier bestanden in der Vergangenheit Defizite, die für
Unsicherheiten und Misstrauen hinsichtlich der Haf-
tungseigenschaft der Kapitalinstrumente gesorgt haben.
Nicht zuletzt deshalb mussten in Schieflage geratene
Banken vom Staat und damit vom Steuerzahler gestützt
werden. Vor diesem Hintergrund war es sehr wichtig, in
diesem Sektor grundsätzlich und grundlegend tätig zu
werden.

Mit den Änderungen des Kreditwesengesetzes voll-
ziehen wir folgende Veränderungen: Es wird eine Ver-





Parl. Staatssekretär Hartmut Koschyk


(A) (C)



(D)(B)


besserung der Transparenz der Bankgeschäfte und eine
umfangreichere Offenlegung von Millionenkrediten ge-
genüber den Aufsichtsbehörden geben. Es werden die
Anforderungen an die Art und Weise, wie eine Bank zu
führen ist, erhöht. Es wird in Abhängigkeit von der
Größe der Bank zur Einrichtung zusätzlicher Ausschüsse
kommen, um weitere interne Kontroll- und Beratungs-
möglichkeiten zu schaffen. Wir werden eine Verschär-
fung der Sanktionsmaßnahmen durch Erhöhung des
Bußgeldrahmens bekommen; damit wird grundsätzlich
auch ermöglicht, die durch Verstöße gegen das Banken-
aufsichtsrecht erzielten Gewinne abzuschöpfen. Schließ-
lich werden neue Kapitalpuffer eingeführt, die unabhän-
gig voneinander festgesetzt werden und zu einer
Erhöhung des harten Kernkapitals führen.

Für uns als Bundesregierung war sowohl bei den Ver-
handlungen im Basler Ausschuss, die BaFin und Bun-
desbank geführt haben, als auch bei der Umsetzung auf
europäischer Ebene entscheidend, die bewährte Infra-
struktur der deutschen Bankenlandschaft zu sichern.
Deshalb haben wir sowohl bei den Verhandlungen als
auch bei der Umsetzung von Basel III sehr darauf geach-
tet, Lösungen zu finden, die unserem Wirtschaftssystem
und seinen Finanzierungsbedürfnissen angepasst sind
und den vielfältigen Merkmalen des bewährten Drei-
Säulen-Systems des deutschen Bankensektors gerecht
werden.

Im Basler Ausschuss für Bankenaufsicht wurde eine
prinzipienbezogene Ausgestaltung der qualitativen An-
forderungen an das Eigenkapital im Sinne des Grundsat-
zes „Qualität des Eigenkapitals geht vor dessen rechtli-
cher Form“ geschaffen. Das hat bei der Umsetzung in
zahlreichen Mitgliedstaaten, die anders strukturierte
Bankensysteme haben, Widerstand hervorgerufen. Aber
wir haben es geschafft, dafür zu sorgen, dass die regula-
torischen Rahmenbedingungen für Banken in der
Rechtsform einer Aktiengesellschaft, einer eingetrage-
nen Genossenschaft oder einer öffentlichen Anstalt wie
einer Sparkasse in diesem zentralen Punkt gleichwertig
ausgestaltet werden. Das heißt, eine Genossenschafts-
bank kann die Genossenschaftsanteile ebenso ihrem har-
ten Kernkapital zurechnen wie etwa eine Sparkasse die
Einlagen stiller Gesellschafter.

In den Ratsverhandlungen zur Umsetzung von Ba-
sel III hat die Bundesregierung zudem eine Klausel
durchgesetzt, die auch den nicht als Konzern organisier-
ten Finanzverbünden eine günstige Berechnung ihres
Eigenkapitals im Hinblick auf ihre Finanzbeteiligungen
erlaubt. Das Eigenkapital steht den Verbundinstituten
zur Ausreichung von Krediten im Aktivgeschäft weiter
zur Verfügung. Auch in Zukunft werden so Genossen-
schaftsbanken und Sparkassen in Deutschland ihre zen-
trale Rolle im Privatkundengeschäft und ebenso bei der
Finanzierung der Wirtschaftsunternehmen umfassend
und letztlich besser als zuvor erfüllen können.

Seitens der Bundesregierung wollen wir alles dafür
tun, diesen großen Regulierungsschritt weiter im Gleich-
klang mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union
voranzubringen. Sie können sich darauf verlassen, dass
die Bundesregierung alles tun wird, um die schwierigen

Trilog-Verhandlungen zwischen Rat, Kommission und
Europäischem Parlament zügig zu einem Abschluss zu
bringen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1719810700

Das Wort hat nun Manfred Zöllmer für die SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD)



Manfred Zöllmer (SPD):
Rede ID: ID1719810800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ba-

sel III ist ein dringend notwendiges Regelwerk zur Sta-
bilisierung des Finanzsystems. Es ist notwendig, weil
der Verlauf der Finanzmarktkrise gezeigt hat, dass eine
verbesserte Ausgestaltung der Banken mit Eigenkapital
dringend erforderlich ist, um die Stabilität des Finanz-
systems insgesamt zu verbessern. Eigenkapital stabili-
siert, mehr Eigenkapital bedeutet aber auch weniger
Geld für riskante und spekulative Geschäfte.

Basel II, das Vorläufermodell, hatte die Weichen in
die falsche Richtung gestellt. Danach ist es de facto zu
einer geringeren Eigenkapitalunterlegung gekommen, da
die Regelung es den Banken erlaubt hat, Risiken mit ei-
genen Modellen zu bewerten und zu gewichten und die
Risikobewertungen auf Ratingagenturen zu verlagern.
Der Verlauf der Finanzmarktkrise hat gezeigt: Dies war
ein falscher Weg. Das musste korrigiert werden.


(Beifall bei der SPD)


Die G 20 hatte deshalb schon 2009 in London und
Pittsburgh gefordert, durch die Erhöhung der Quantität
und der Qualität des Eigenkapitals bei verbesserter inter-
nationaler Vergleichbarkeit der Eigenmittel die Liquidi-
tät des Bankensystems weltweit zu stärken und damit die
Widerstandskraft des Systems gegen Krisen zu verbes-
sern. Kernpunkte waren höhere Eigenkapitalanforderun-
gen mit einem Zuschlag für systemrelevante Banken,
neue Definitionen zur Qualität des Eigenkapitals und
eine nicht risikobasierte Schuldenobergrenze, im Engli-
schen: Leverage Ratio. Diese Leverage Ratio soll aller-
dings noch nicht verbindlich sein. Wir hoffen aber, dass
sie in absehbarer Zeit endlich verbindlich eingeführt
wird. Kapitalpuffer sollen eingeführt werden, damit die
Banken auch in schwierigen Situationen über ausrei-
chend Liquidität verfügen.

Eigentlich hätten wir hier heute über einen Gesetzent-
wurf zur Umsetzung von Basel III diskutieren sollen.
Das steht ja auf der Tagesordnung, und wir haben auch
ein dickes Paket von 184 Seiten Gesetzestext auf den
Pulten liegen. Eine ganze Reihe bestehender Gesetze
wird geändert: Pfandbriefgesetz, Kreditwesengesetz bis
hin zum Gesetz über die Landwirtschaftliche Renten-
bank, worüber ich mich schon gewundert habe. So weit,
so gut. Wer aber in den Gesetzentwurf hineinschaut,
stellt fest: An den wirklich wichtigen Punkten finden Sie
genau dieses, nämlich Punkte und keine Inhalte.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)






Manfred Zöllmer


(A) (C)



(D)(B)


Das Werk sollte eigentlich am 1. Januar 2013 in Kraft
treten. Es ist aber nicht fertig. Die Bundesregierung hat
bei den Verhandlungen in Brüssel bisher nicht vermocht,
ein Ergebnis zu erzielen.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Na, na, na! – Björn Sänger [FDP]: Mein Gott!)


– Herr Flosbach, das ist eine Tatsache, entschuldigen
Sie. Oder wie soll man es nennen, wenn die eigene Ziel-
setzung nicht erreicht wird?

Es gibt eine Reihe von strittigen Punkten in diesem
sogenannten Trilog auf europäischer Ebene. Alle Betei-
ligten bemühen sich, zu einem Ergebnis zu kommen,
aber eine ganze Reihe sehr wichtiger Fragen ist noch of-
fen. Dabei geht es zum Beispiel um die Liquiditätssiche-
rung, die Eigenkapitaldefinition oder die Managergehäl-
ter. Das sind für uns zentrale Punkte, die geregelt werden
müssen. Erst dann können wir die Qualität dessen, was
letztendlich in Kraft treten soll, auch wirklich bewerten.

Wir können über die Umsetzung von Basel III heute
gar nicht substanziell debattieren, weil wir nur eine Ver-
packung, aber noch keinen Inhalt vorliegen haben.


(Beifall des Abg. Dr. Carsten Sieling [SPD])


Deshalb ist meine Bitte an die Bundesregierung: Tun Sie
in der Öffentlichkeit doch bitte nicht so, als würden be-
reits jetzt strengere Eigenkapitalregeln umgesetzt. Das
ist nicht der Fall.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Auf den Ärger mit den Briten will ich gar nicht einge-
hen. Eine interessante Frage hinterher wird sein: Schaf-
fen wir es wirklich, einheitliche Regeln umzusetzen?
Die Briten sind ja bereits jetzt dabei, sich hier herauszu-
stehlen, nachdem sie das Ganze erst erhöhen wollten.
Jetzt wollen sie deutlich unterhalb der Kriterien bleiben.
Das ist wirklich schwierig.

Ich glaube, wir müssen aber auch über die Frage dis-
kutieren: Reicht Basel III eigentlich aus? – Wenn man
sich wissenschaftliche Studien anschaut, dann stellt man
fest: Es gibt eine ganze Reihe solcher Studien, die sagen:
Basel III ist zu lasch. Es bändigt die Banken nicht wirk-
lich.

Ich darf hier einmal Herrn Adair Turner zitieren, der
sagt:

Um das Finanzsystem wirklich sicher zu machen,
müssten die Eigenkapitalauflagen für Banken deut-
lich schärfer sein als Basel III.

Immerhin ist er Chef der britischen Finanzmarktauf-
sicht, ein ausgewiesener Experte, kein Vertreter irgend-
einer Occupy-Bewegung.

Auch andere Wissenschaftler haben sich dieser Über-
legung angeschlossen. Sie sagen, bei einer Eigenkapital-
quote von 16 bis 20 Prozent würde die Wahrscheinlich-
keit neuer Finanzkrisen deutlich sinken.

Wir wissen auf der anderen Seite, dass sich die Ban-
ken aber vehement dagegen wehren, höhere Eigenkapi-

talanteile zu unterlegen. Die große Frage ist: Kommt es
dann wirklich dazu, dass die Zahl der Kredite, die verge-
ben werden können, dann deutlich geringer wird? Wird
es zu einer Kreditklemme kommen? Wie sind die Aus-
wirkungen auf die Realwirtschaft?

Man wird das im Moment sicherlich nur ansatzweise
beurteilen können. Es gibt sehr seriöse Schätzungen, die
sagen, die Auswirkungen deutlich höherer Eigenkapital-
unterlegungen sind begrenzt. Also, zum Beispiel hat die
Bank für internationalen Zahlungsausgleich einmal ge-
sagt: Eine Verdoppelung der Basel-III-Quote würde das
Wachstum um ungefähr 0,7 Prozent bremsen. Das wäre
dann natürlich ein relativ überschaubarer Preis für ein si-
cheres Finanzsystem.

Ich sage nicht, dass wir das fordern, ich sage nur, man
muss es sehr genau beurteilen, evaluieren und wissen-
schaftlich begleiten.

Wir wären schon froh, wenn es gelänge, Basel III im
vereinbarten Zeitplan umzusetzen und eine vernünftige
Eigenkapitalunterlegung zu schaffen.

Die Bundesregierung ist aufgefordert, nun den Wor-
ten auch Taten folgen zu lassen. Wir werden dann über
die entsprechenden Details reden. Wir können nur hof-
fen, dass es sehr bald gelingt, auch wirklich Fakten zu
schaffen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719810900

Vielen Dank, Kollege Manfred Zöllmer. – Nächster

Redner ist für die Fraktion der FDP unser Kollege Björn
Sänger. Bitte schön, Kollege Björn Sänger.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Björn Sänger (FDP):
Rede ID: ID1719811000

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Wir beginnen heute die Beratungen über ein ganz
zentrales Gesetzesvorhaben in der Regulierung der
Finanzmärkte. Gemeinsam mit dem Bankenrestrukturie-
rungsgesetz wird es meiner Auffassung nach das Funda-
ment einer neuen Sicherheitsarchitektur darstellen.

In der Tat ist es ein ungewöhnliches Verfahren, Herr
Kollege Zöllmer, wenn man mit den Beratungen be-
ginnt, bevor die eigentliche Richtlinie in Brüssel fertig
ist. Das ist völlig richtig.

Heute früh hat Ihr Kanzlerkandidat gesagt, man soll
den europäischen Partnern nicht immer gleich mit der
Kavallerie drohen, wenn aus deutscher Sicht irgend-
etwas nicht richtig läuft.


(Manfred Zöllmer [SPD]: „Kavallerie“ hat er nicht gesagt!)


– Also, den europäischen; die Schweiz gehört ja nicht
dazu.

Insofern wundert es mich jetzt schon, dass Sie der
Auffassung sind, dass hier am deutschen Wesen dann
auch die Welt bzw. die europäische Welt genesen soll.





Björn Sänger


(A) (C)



(D)(B)


Tatsache ist, es hakt in Brüssel, aber – der Staats-
sekretär Koschyk hat das schon sehr richtig gesagt – wir
sind bereit, das umzusetzen. Insofern finde ich es auch
richtig und gut, dass die Bundesregierung jetzt mit den
Beratungen beginnt, um auch einen kleinen Hinweis
nach Brüssel zu geben, dass man dort vielleicht das eine
oder andere Problem etwas schneller löst.

Worum geht es? Es gibt zwei grundlegende Probleme
für jedes Unternehmen, in Schwierigkeiten zu kommen.
Das eine ist eine Überschuldung, das andere ist ein Li-
quiditätsengpass. Beide Probleme haben wir im Rahmen
der Finanzkrise bei Banken gesehen. Beide Probleme
sind eben bei Banken aufgrund der Verflechtungen und
auch der Wichtigkeit für die Realwirtschaft nicht so
ohne Weiteres zu lösen.

Diese beiden Probleme werden mit dem Basel-III-
Vorhaben oder CRD-IV-Vorhaben in den Griff zu be-
kommen sein. Es wird eine risikoadäquate Eigenkapital-
unterlegung geben. Es gibt eine neue Definition dessen,
was überhaupt Eigenkapital ist, welche Qualität das ha-
ben sollte. Auch hier herzlichen Dank an die Bundesre-
gierung, dass die deutschen Besonderheiten entspre-
chend berücksichtigt werden. Die sind gelöst.

Darüber hinaus werden weitere Risiken, die es geben
kann, geregelt, beispielsweise das Gegenparteiausfall-
risiko, das Risiko, das sich aus der Unternehmensfüh-
rung einer Bank ergeben kann. Glücklicherweise ist das
alles so angelegt, dass wir über den Umsetzungsweg in
Form einer Verordnung zumindest in Europa auf ein „le-
vel playing field“ kommen. Aber ich erinnere noch ein-
mal an den Entschließungsantrag, den dieses Haus im
letzten Jahr zu diesem Thema mit großer Mehrheit be-
schlossen hat. Wichtig ist, dass diese Regeln auf allen re-
levanten Finanzmärkten dieser Welt umgesetzt werden.

Die Abhängigkeit von Ratingagenturen wird durch
das Vorhaben reduziert werden. Es wird eine Stärkung
des internen Ratings geben, sodass wir dann insgesamt
zu einer guten Aufstellung kommen: auf der einen Seite
die CRD-IV-Maßnahmen, die präventiv wirken, auf der
anderen Seite das Bankenrestrukturierungsgesetz, das
dann, sollte es zu Problemen kommen, eine geordnete
Abwicklung ermöglicht.

Mit dem im Bankenrestrukturierungsgesetz vorgese-
henen „living will“ werden sich Kreditinstitute so orga-
nisieren müssen, dass sie problematische Teile relativ
schnell herauslösen können. Das ist im Prinzip eine Art
Trennbankensystem, das da entsteht. Diese Regelungen
in Kombination mit der Einlagensicherung werden dann
die Sparer schützen und unser Finanzsystem stabilisie-
ren.

Der Binnenmarktkommissar Barnier hat bei der Vor-
stellung des Richtlinienentwurfs gesagt:

Die Finanzkrise hat viele Familien und Unterneh-
men in Europa hart getroffen. Wir dürfen nicht zu-
lassen, dass es noch einmal zu einer solchen Krise
kommen kann und unser Wohlstand durch einige
wenige Finanzmarktakteure aufs Spiel gesetzt wird.

Das ist richtig. Da ist schon viel erreicht worden, um
Vorsorge zu treffen. Es ist auch noch einiges offen. Aber
es ist ein großes Verdienst dieser Bundesregierung, dass
wir schon extrem weit gekommen sind.

Das nutzt uns aber nichts, wenn die Regulierung am
Ende dafür sorgt, dass die Finanzbranche nicht mehr in
der Lage ist, ihrer Aufgabe vernünftig nachzukommen,
nämlich die Realwirtschaft zu finanzieren; denn um den
von Herrn Barnier angesprochenen Wohlstand zu errei-
chen, brauchen wir Wachstum. Das Wachstum muss
finanziert werden. Die kumulativen Wirkungen der Re-
gelungen, die wir schon jetzt haben – es kommen noch
weitere –, bereiten möglicherweise doch die eine oder
andere Sorge, dass es hier zu Problemen kommt.

Im Handwerk gibt es einen Spruch, der da lautet:
Nach Fest kommt Ab. – Auch das muss beachtet werden.
Insofern freue ich mich auf die Beratungen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719811100

Vielen Dank, Kollege Björn Sänger. – Nächster Red-

ner in unserer Aussprache ist für die Fraktion Die Linke
unser Kollege Dr. Axel Troost. Bitte schön, Kollege
Dr. Axel Troost.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Axel Troost (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719811200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Diese Beratung hat schon eine gewisse Komik. Das ist
schon deutlich geworden, sowohl durch die Rede von
Staatssekretär Koschyk als auch vom Kollegen Zöllmer
von der SPD. Wir beraten hier einen Gesetzentwurf.
Aber die dazugehörige Richtlinie und Verordnung der
EU liegen nicht vor. Insofern haben wir hier in der Tat
eine Hülle und keinen Inhalt, über den man wirklich
konkret streiten könnte.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Durchlesen!)


Warum dieser unreife Gesetzentwurf? Sie wollen da-
mit besondere deutsche Termintreue beweisen. In Pitts-
burgh ist 2009 beschlossen worden, dass das Basel-III-
Abkommen bis Ende 2012 vorliegen soll. In Pittsburgh
ist aber auch beschlossen worden, dass sich bis dahin
alle zu den UN-Millenniumszielen und zu der Entwick-
lungshilfequote bekennen sollen. Dabei haben Sie bisher
keine solche Termintreue zeigen können.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Jetzt aber zum Basel-III-Abkommen selber. Wir sind
uns in drei wesentlichen Punkten in der Tat einig: Ers-
tens. Das Basel-III-Abkommen ist nur ein Element einer
umfassenden Finanzmarktregulierung. Zweitens. Höhe-
res und besseres Eigenkapital ist für Banken sinnvoll,
weil Banken damit widerstandsfähiger sind. Drittens.
Bank ist nicht gleich Bank. Das Basel-III-Abkommen
darf nicht dazu führen, dass Sparkassen und Genossen-
schaftsbanken auf der Strecke bleiben. Das würde das





Dr. Axel Troost


(A) (C)



(D)(B)


Finanzsystem nicht sicherer, sondern nur noch wackeli-
ger machen.


(Beifall bei der LINKEN)


Doch über dieses Grundsätzliche hinaus gibt es aus
unserer Sicht allen Anlass, zu meckern. Die Reform geht
grundsätzlich in die richtige Richtung. Sie wird der Tiefe
der Krise und dem bestehenden Veränderungsbedarf
aber nicht gerecht. Insbesondere differenziert die No-
velle ungenügend zwischen auf der einen Seite den Ban-
ken, die im internationalen Kapitalmarkt das große Rad
drehen, und auf der anderen Seite den Tausenden kleinen
Banken, welche hauptsächlich Spareinlagen verwalten
und private Haushalte sowie kleine und mittelständische
Unternehmen mit Krediten versorgen. Es sind aber die
wenigen großen Banken vom Schlage einer Deutschen
Bank oder einer Commerzbank, die uns Kopfschmerzen
bereiten, und nicht die vielen kleinen Sparkassen und
Genossenschaftsbanken. Außerdem wird das Problem
der Schattenbanken überhaupt nicht angegangen, son-
dern bleibt völlig außen vor. Außer vagen Absichtserklä-
rungen haben Sie zu diesem Bereich bisher rein gar
nichts geliefert.

Doch bleiben wir bei den Banken im Engeren. Die
systemrelevanten Banken sollen einen Eigenkapitalzu-
schlag von 1 bis 3,5 Prozent bekommen. Insgesamt liegt
deren Eigenkapitalquote damit im historischen Vergleich
aber immer noch relativ niedrig. Staaten wie die
Schweiz und Schweden wollen im nationalen Allein-
gang deutlich höheres Eigenkapital verlangen.

Laut Finance Watch, einer Organisation, die den Ka-
pitalmarkt schon genau beobachtet, hätte in der jüngsten
Krise – das ist eben auch angesprochen worden – eine
Eigenkapitaldecke von ungefähr 16 Prozent die meisten
Verluste einzelner Banken absorbiert. Bei 24 Prozent
– so deren Berechnung – hätten beinahe alle Verluste in
sämtlichen Bankenkrisen seit 1988 absorbiert werden
können.

Wir liegen aber mit den Entwürfen und den Gedanken
bisher weit darunter. Gerade große Banken müssen aber
gezwungen werden, entsprechend mehr Eigenkapital
vorzuhalten. Doch Sie lehnen entsprechende Zuschläge
in großem Umfang für systemrelevante Banken ab. Ba-
sel III ist daher wesentlich zu zaghaft. In den letzten Jah-
ren haben sich zahlreiche Finanzprodukte, Institute und
Geschäftsmodelle entwickelt. Dafür gab es immer den
Applaus, weil die Märkte das entwickelt haben. Dann
hat man gesagt: Wir wollen eine Art Selbstregulierung
haben. Diese Selbstregulierung ist nach wie vor auch die
Logik von Basel III. Sie drehen sie nur etwas zurück.

Seit Basel II können Banken nämlich ihr eigenes Risi-
komanagement anwenden. Es ist eben die Frage, ob das
ausreichend und sicher ist. In Zeiten, in denen alles gut
gelaufen ist, gab es hohe Boni und Gewinne. Als es dann
schlecht lief, mussten die Steuerzahler und die Staaten in
die Bresche springen. Wir sagen daher: Die Höhe des Ei-
genkapitals zu bestimmen, ist Aufgabe der Aufsicht und
nicht Aufgabe der Bank selbst oder privater Agenturen.


(Beifall bei der LINKEN)


Deshalb fordern wir, keine mit internen Modellen be-
rechneten Risikogewichte zu akzeptieren. Wir fordern
auch, sämtliche Passagen aus dem Gesetz herauszuneh-
men, in denen externe Ratings zugrunde gelegt werden.
Wir fordern eine Aufsicht auf Augenhöhe bei den Ban-
ken und mit den Banken. Wir müssen uns trauen, den
Banken in der Tat Vorgaben zu machen, die eine ausrei-
chende Eigenkapitalvorsorge bedeuten und den interna-
tionalen großen Banken, die am großen Rad drehen, so
viel Rückhalt geben, dass sie im Falle einer Auseinan-
derentwicklung bzw. einer Krise Auffanglösungen aus
dem Eigenkapital haben und nicht die Staaten zu Ret-
tungsaktionen herangezogen werden.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719811300

Vielen Dank, Kollege Dr. Axel Troost. Nächster Red-

ner in unserer Aussprache ist für die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen Dr. Gerhard Schick. Bitte schön, Kol-
lege Dr. Gerhard Schick.


Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719811400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In

der Tat ist es bemerkenswert, dass das Regelwerk auf eu-
ropäischer Ebene noch nicht fertig ist und wir hier trotz-
dem schon eine Vorlage haben. Ich finde, es ist aber ei-
gentlich sinnvoll, dass wir versuchen, so zügig wie
möglich an die Umsetzung zu gehen und den Prozess zu
beginnen.

Wenn man über die Verhandlungen in Brüssel redet,
muss man, finde ich, aber einmal sagen, was da eigent-
lich die Verhandlungsposition ist und wer da auf welcher
Seite steht. Darüber habe ich noch nicht viel gehört. Der
erste Punkt sind die Liquiditätsregeln. Aus dem Rat, dem
Vertreter der Regierungen, wird verhindert, dass ein fes-
tes Datum festgelegt wird. Das Parlament will hier ein
festes Datum für die Einführung festlegen. Ich glaube,
das ist auch sinnvoll.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Dann sagen Sie aber mal, welche Regierung, Herr Schick! Ich glaube, das ist die französische Regierung, nicht die deutsche!)


– Sie können nachher gerne Ihre Ausführungen machen
und das darlegen.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Er hat gemerkt, dass es stimmt!)


– Ich habe nicht widersprochen. An dieser Stelle ist es
vielleicht ausnahmsweise einmal nicht die Bundesregie-
rung. Das können Sie nachher gerne ausführen. Sonst
melden Sie sich bitte zu einer Zwischenfrage, wenn Sie
das genauer haben wollen.

Der zweite Punkt sind die Bonuszahlungen. Viele
Menschen haben sich zu Recht darüber empört, dass
Millionenboni dazu geführt haben, dass Banken große
Risiken eingehen und nachher genau die Leute, die Boni
kassiert haben, nicht die Verantwortung übernehmen,
wenn es schiefgeht.





Dr. Gerhard Schick


(A) (C)



(D)(B)


Unsere grüne Position im Europäischen Parlament ist,
dass wir die Bonuszahlungen so tief drücken, dass sie
nicht höher sind als das Fixgehalt – höchstens eins zu
eins. Die Regierungen der Mitgliedstaaten wollen diese
Position aufweichen. Ich glaube, es ist im Interesse der
Bürgerinnen und Bürger und eines stabilen Finanzmark-
tes, dass wir zu Regelungen für niedrigere Bonuszahlun-
gen kommen und die Fehlentwicklungen in der Vergan-
genheit endlich korrigieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dann geht es um die Aufschläge für systemische Ban-
ken. Dabei muss man sagen: Es ist notwendig, dass wir
für große Banken einen zusätzlichen Kapitalpuffer auf-
bauen, der mit zusätzlicher Größe ansteigt. Es ist näm-
lich so, dass seit Ausbruch der Finanzkrise viele Institute
noch größer geworden sind und damit die Gefahr bei ei-
nem Zusammenbruch noch gewachsen ist. Deswegen
sind wir Grünen für eine Größenbremse für Banken, die
sicherstellt, dass Größe sich nicht lohnt, sondern teuer
wird, und wollen auch im Europäischen Parlament
durchsetzen, dass es Aufschläge gibt, die auf europäi-
scher Ebene gemeinsam etabliert werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Axel Troost [DIE LINKE])


Es geht auch darum, dass die europäische Bankenauf-
sicht festlegen kann, wie die Qualität des Kapitals ausse-
hen soll. Auch hier stehen wieder die nationalen Regie-
rungen im Rat auf der Bremse. Wir diskutieren über eine
europäische Bankenaufsicht, und gleichzeitig wird noch
dabei gebremst, gemeinsame europäische Standards über
die bereits bestehende europäische Bankenaufsicht
durchzusetzen. Ich glaube, es ist notwendig, dass wir
hier einen Schritt vorankommen.

Ich will noch zu einem weiteren Punkt kommen, der
wichtig ist: Was leistet eigentlich Basel III in Bezug auf
die Eigenkapitalausstattung? Das ist der zentrale Kern
der neuen Regulierung. Wir können sehen, dass man im-
mer noch bei dem alten Modell bleibt.

Ich nehme das Beispiel Deutsche Bank: Bilanz
2,2 Billionen Euro. 56 Milliarden Euro sind regulatives
Eigenkapital. Trotzdem heißt es: Die Kapitalquote be-
trägt 9,5 Prozent. Das klingt erst einmal viel und hört
sich nach Stabilität an. Aber wenn man die zwei genann-
ten Größen zueinander ins Verhältnis setzt, kommt man
auf eine Relation von 2,5 Prozent. Dann sieht man den
Unterschied in der Frage, ob man es den Banken wie bis-
her erlaubt, ihre Bilanz kleinzurechnen und damit eine
größere Kapitalquote auszuweisen, als vorhanden ist,
oder ob wir ein stabileres System mit einer Schulden-
bremse für Banken schaffen, indem wir wirklich fragen:
Wie ist das Verhältnis von Eigenkapital zur gesamten Bi-
lanzsumme?

Dabei müssen wir eines sehen: Auch fünf Jahre nach
Ausbruch der Finanzkrise wird in Deutschland einer
Bank wie der Deutschen Bank eine Eigenkapitalausstat-
tung von nur 2,5 Prozent erlaubt. Dieselbe Bank würde
einem mittelständischen Unternehmen, das nur 2,5 Pro-
zent Eigenkapital hat, nie einen Kredit geben. Dazu sagen

wir Grünen zusammen mit vielen wissenschaftlichen In-
stitutionen: Es braucht definitiv eine Untergrenze, eine
Schuldenbremse für Banken. Wir wollen ein Eigenkapi-
tal von 5 Prozent als Minimum vorschreiben, wie es in
Kanada bereits der Fall ist, wo wir unter anderem bei ei-
ner Reise des Finanzausschusses gelernt haben, dass
auch deswegen die kanadischen Banken von der Krise
nicht so stark getroffen worden sind wie die deutschen
Banken.

Dabei ist ein Punkt sehr wichtig. Dass die deutsche
Bundesregierung – in dem Fall war es wirklich die deut-
sche Bundesregierung, und dazu müssen auch die Koali-
tionsfraktionen stehen – in Basel, vertreten durch die
Bundesbank, und in Brüssel darauf gedrängt hat, dass
die Leverage Ratio, also die ungewichtete Eigenkapital-
untergrenze, nicht festgeschrieben wird, sondern wir erst
noch fünf Jahre beobachten, halte ich für falsch. Da
stand die Bundesregierung auf der falschen Seite. Denn
wir müssen es endlich schaffen, Stabilität sicherzustel-
len. Es ist viel zu gefährlich, Banken mit so wenig Ei-
genkapital zuzulassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Dr. Axel Troost [DIE LINKE])


Wir haben jetzt einen großen Gesetzentwurf mit sehr
vielen einzelnen Punkten vor uns. Sie sind schon ge-
nannt worden: Es geht um Anpassungen bei der Renten-
bank – das halten wir für sinnvoll –, es geht darum, das
in vielen einzelnen Punkten anzupassen.

Dann haben wir die Möglichkeit, nationale Wahl-
rechte auszuüben. Da gilt es jetzt wieder, genau hinzu-
schauen, was uns eigentlich die Koalition hier vor-
schlägt. Das ist im Kern unsere Aufgabe als Deutscher
Bundestag: zu entscheiden, welche dieser Wahlrechte
wir wie ausüben. Wir stellen fest, dass bei entscheiden-
den Punkten, bei denen der nationale Gesetzgeber das
umsetzen kann – zum Beispiel bei der Frage der Risiko-
gewichtung bei Immobilienkrediten –, die Bundesregie-
rung uns vorschlägt, diese Wahlrechte nicht zu nutzen
und damit aufsichtsrechtlich bei uns nicht so stark auf-
gestellt zu sein, wie wir es sein könnten. Angesichts der
Entwicklung, dass wir an manchen Stellen gerade in
Deutschland im Immobiliensektor eine beginnende
Blase haben, halten wir es für falsch, an dieser Stelle die
Wahlrechte nicht auszunutzen. Vielmehr müssten wir
auch national entsprechend dort vorsorgen, wo uns das
europäische Recht die Möglichkeit dazu gibt.

Es gibt also Bedarf, nachzusteuern: zum einen beim
Thema Leverage Ratio, also beim Thema Schulden-
bremse für Banken. Wir wollen eine stabile Eigenkapi-
taluntergrenze. Zum anderen müssen wir dafür sorgen,
dass die nationalen Wahlrechte so ausgeübt werden, dass
der deutsche Finanzmarkt stabil ist. Denn eines muss
man in Deutschland zur Kenntnis nehmen – die interna-
tionalen Vergleiche sind sehr eindeutig –: Im internatio-
nalen Vergleich – ich zitiere den Global Financial Stabi-
lity Report des Internationalen Währungsfonds vom
Oktober 2012, also ganz aktuell – sind die deutschen





Dr. Gerhard Schick


(A) (C)



(D)(B)


Banken diejenigen mit der schwächsten Eigenkapital-
ausstattung. Das heißt, wir haben hier noch richtig was
zu tun.

Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719811500

Vielen Dank, Kollege Dr. Gerhard Schick. – Nächster

Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege
Klaus-Peter Flosbach. Bitte schön, Kollege Klaus-Peter
Flosbach.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Klaus-Peter Flosbach (CDU):
Rede ID: ID1719811600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

sind im fünften Jahr der Banken- und Finanzenkrise. Je-
der Presseartikel, jedes Buch, jeder Wissenschaftler, der
über die Krise spricht, wird über das Eigenkapital von
Banken sprechen. Überall wird dargelegt, die erste Er-
kenntnis aus dieser Krise sei gewesen, dass die Banken
mehr Eigenkapital haben müssen. Dies setzt sich in allen
Bereichen durch, und deswegen unterscheiden wir uns
auch in dieser Grundsatzfrage nicht. Die Risiken werden
gemindert, je mehr Eigenkapital da ist. Auch viele unse-
rer Diskussionen über Trennbanken, über Fragen der In-
solvenz oder über Einlagensicherung relativieren sich, je
mehr Eigenkapital im Bankensystem vorhanden ist.

Weil das so eine zentrale und wichtige Frage ist, stel-
len wir uns als Regierungspartei natürlich auch die
Frage, warum sich der Kanzlerkandidat der SPD, der in
einem Papier von 5 plus 25 Seiten dargelegt hat, wie er
das alles regulieren würde, nicht dazu bequemt, doch
einmal in dieses Parlament zu kommen, um mit den
Finanzpolitikern über diese zentrale Frage zu diskutie-
ren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: So ein Blödsinn!)


Das mag auch daran liegen, dass in seiner Stellung-
nahme von diesen insgesamt 30 Seiten sich überhaupt
nur eine einzige Seite mit diesem Thema beschäftigt hat,
das allgemein als die zentrale Sache der Finanzmarkt-
regulierung anerkannt ist.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute geht es um
die Umsetzung der europäischen Richtlinie. Es ist ein
Rahmenwerk zur Stärkung der Widerstandskraft der
Banken, auch bekannt geworden unter dem Thema Ba-
sel III, weil es eben in Basel einen Ausschuss gibt, der
aus Notenbankern und Vertretern von Aufsichtsbehörden
besteht und im Grunde die Standards für die Finanz-
marktstabilität festlegt.

Es ist von den Kollegen angesprochen worden, dass
wir bereits jetzt beginnen. Wir haben seit dem 22. Au-
gust einen Kabinettsentwurf vorliegen, obwohl die Ent-
scheidung auf der europäischen Ebene in der Tat noch
nicht gefallen ist.

Wir waren letzte Woche mit einigen Kollegen im
französischen Parlament und haben dort einen Unter-
schied in der Finanzdiskussion festgestellt. Wir haben

nämlich einen anderen parlamentarischen Prozess als die
Franzosen, die das möglicherweise in ganz kurzer Zeit
verabschieden, während wir uns sehr intensiv über
Monate mit diesem Thema beschäftigen. Ich halte es für
richtig, dass wir das machen, auch wenn noch nicht jedes
Detail geklärt ist.

Auf der europäischen Ebene gibt es noch ein Vermitt-
lungsverfahren zwischen dem Europäischen Parlament,
der Europäischen Kommission und dem Europäischen
Rat, bekannt als das Trilogverfahren. Nach meinen Er-
kenntnissen wird sich das noch einige Monate hinziehen.
Ich glaube nicht, dass wir den 1. Januar halten können.
Die Ziele sind aber dennoch festgelegt worden, wobei es
sich hier um folgende Fragen handelt: Wie schaffen wir
eine größere Widerstandskraft? Wie sieht es mit Risiko-
management aus, und wie sieht es mit Transparenzsyste-
men aus?

Zentral ist aber auf jeden Fall, dass deutlich gemacht
wird: Wir brauchen mehr Eigenkapital im Bankensys-
tem, sowohl von der Qualität als auch von der Quantität
her. Die normalen Banken müssen bis zum Jahre 2019,
also Zug um Zug, diese Vorgabe auch hier in Deutsch-
land umsetzen. Das ist für die eine oder andere Bank
aber nicht ganz einfach, weil die Banken neben der Be-
schaffung von zusätzlichem Eigenkapital auch noch die
Bankenabgabe zu tragen haben. Zudem sind wir auf dem
Weg zur Finanztransaktionsteuer. Es ist also mit weite-
ren Belastungen zu rechnen.

Bei dem Treffen der G 20 in Cannes ist deutlich ge-
worden: Je größer eine Bank ist, desto mehr Eigenkapi-
tal muss vorgehalten werden. Deswegen kann ich hier
nicht den Eindruck bestätigen, dass die großen Banken
kein erhöhtes Eigenkapital vorlegen müssten. Gerade in
Cannes ist noch einmal eine Erhöhung um 2,5 Prozent-
punkte vorgenommen worden. Wir haben mehr oder we-
niger positiv auch die sogenannten Stresstests in Europa
begleitet, die EBA-Stresstests, deren Ergebnis war, dass
13 deutschen Banken gesagt wurde, sie müssten deutlich
mehr Eigenkapital schon bis zum 30. Juni des Jahres
2012 vorhalten. Hier ging es allein um eine Summe von
13 Milliarden Euro. Wichtig ist, dass die großen Banken
natürlich deutlich mehr Eigenkapital vorhalten müssen.

Wir haben hier heute morgen auch schon über die
Bankenunion gesprochen. Da geht es um die Frage, ob
die Europäische Zentralbank eine neue Aufsichtsposi-
tion übernehmen soll. Meines Erachtens ist es bei dieser
Diskussion über Basel III oder CRD IV einfach wichtig,
dass wir auch in den nächsten Monaten darauf achten,
dass wir die Regulierung angemessen, proportional um-
setzen. Das heißt, kleine Banken dürfen nicht so kontrol-
liert werden wie große Banken. Was die Sparkassen und
die Volksbanken angeht, sollte deutlich werden, dass
hier proportional kontrolliert und beaufsichtigt wird,
aber nicht das Gleiche wie bei den großen Banken ge-
macht wird.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben nun ein-
mal in Europa unterschiedliche Bankensysteme. Für uns
war es sehr wichtig, dass auch bei der Definition des
Eigenkapitals auf die Rechtsformneutralität geachtet
wurde. Rechtsformneutral heißt, dass die sogenannten





Klaus-Peter Flosbach


(A) (C)



(D)(B)


stillen Einlagen unserer Sparkassen oder die Genossen-
schaftsanteile der Genossenschaftsbanken als hartes
Kapital akzeptiert werden.

Wir diskutieren über die Liquidität und haben in der
Krise erfahren, dass gerade die Liquidität bei den Ban-
ken ein ganz großes Problem gewesen ist. Auch hier gibt
es noch Fragen, zum Beispiel wie Liquidität definiert
wird.

Als sehr problematisch sehe ich den Ansatz an, den
Herr Schick gerade angesprochen hat; wir werden ihn
diskutieren. Auch Herr Steinbrück hat das in seinem
Papier vorgelegt. Es geht darum, dass möglicherweise
Privatanleger, die ein Haus bauen, nicht nur 20 Prozent
Eigenkapital vorweisen müssen, sondern Immobilien
möglicherweise nur bis zu 60 Prozent finanziert werden
können, dass also ein höheres Eigenkapital vorhanden
sein muss. Ich vermute, das würde manchem die Mög-
lichkeit nehmen, ein Haus zu bauen. Die Erfahrung, die
wir mit dem Hypothekensystem hier in Deutschland ge-
sammelt haben, ist meines Erachtens sehr gut. Wir er-
möglichen auch Beziehern kleinerer Einkommen, eine
Immobilie zu erwerben. Ich möchte an diesem System
nicht rütteln.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Es gibt auch Kritik am jetzigen Verfahren, nämlich
dass es eine Verordnung gegeben hat. Wir haben auch
die Möglichkeit, einen Teil über eine Richtline umzuset-
zen. Wir haben nationale Einflussmöglichkeiten, ins-
besondere was die Aufsicht angeht. Das betrifft die Kon-
trolle vor Ort, aber auch die Abhängigkeit von externen
Ratings oder die Sanktionierung bei Verstößen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Trilog, das Ab-
stimmungsverfahren, läuft. Auch wir fordern, dass Mit-
telstandskredite anders unterlegt werden, dass also die
Möglichkeit zur Finanzierung unserer Realwirtschaft,
insbesondere unserer mittelständischen Wirtschaft, ent-
sprechend berücksichtigt wird. Auch werden wir prüfen
müssen, ob die Bewertung von Beteiligungen so ange-
messen ist. Aber ich denke nach wie vor: Es ist und
bleibt das Kernthema.

Ein letzter Satz noch einmal zu Steinbrück: In den
25 Seiten seiner Vorlage hat er auf eines überhaupt nicht
hingewiesen, was möglicherweise für uns auch Gegen-
stand einer Diskussion sein wird, nämlich auf die Eigen-
kapitalunterlegung für Staatsanleihen. Mit diesem
Thema müssen wir uns in den nächsten Jahren beschäfti-
gen. Das ist das zentrale Problem der jetzigen Staats-
schuldenkrise. Dass dieses Thema von Herrn Steinbrück
überhaupt nicht angesprochen worden ist, zeigt doch
nur, dass er sich die Möglichkeiten einer höheren Staats-
verschuldung auch in Zukunft nicht nehmen lassen will.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Was sagt denn Herr Schäuble dazu? Haben Sie Herrn Schäuble gefragt?)


Vielen Dank.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719811700

Vielen Dank, Kollege Klaus-Peter Flosbach.

Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die
Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege
Dr. Carsten Sieling. Bitte schön, Kollege Dr. Carsten
Sieling.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Carsten Sieling (SPD):
Rede ID: ID1719811800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

fühle mich heute der größten Herausforderung meiner
Parlamentarierzeit unterworfen.


(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)


Das liegt vor allem daran, dass wir heute einen Gesetz-
entwurf beraten, der – mehrere vor mir haben es gesagt –
noch gar keine Grundlage hat.


(Norbert Schindler [CDU/CSU]: Dann würde ich doch nicht dazu reden!)


Es gibt einen Kabinettsbeschluss vom 22. August; aber
den wollen wir ja noch verändern. In Wirklichkeit hat
dieses Gesetz noch überhaupt keine Grundlage.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: 93 Seiten!)


Auch Sie sagen, dass Sie es anders machen wollen. Wir
stehen hier und müssen über einen schwebenden Vor-
gang reden. Das ist nahezu eine artistische Übung. Ich
nenne das ein virtuelles Gesetz – und das zu einer so
wichtigen Frage. Ich hätte erwartet, dass Sie – Kollege
Flosbach hat einige Punkte angesprochen – etwas klarer
sagen, was die Bundesregierung denn wirklich an harten
Verhandlungspunkten einbringen will. Das brauchen wir.
Der Vorgang ist zu ernst. Es muss eine ernsthafte Regu-
lierung in diesem Land, aber auch auf der europäischen
Ebene geben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Norbert Schindler [CDU/CSU]: Das ist wie beim Katalysator!)


Ich sage mit Blick auf die Verhandlungsposition der
Bundesregierung: Wir müssen in viel stärkerem Maße,
als das im Rahmen von Basel III ursprünglich vorgese-
hen war, nicht nur in Deutschland, sondern auch im in-
ternationalen Raum die Besonderheiten der Bankaktivi-
täten gewichten und unterstreichen.

Ich will, damit Sie nicht auf dumme Ideen kommen,
in dieser Debatte noch einmal sagen, was wir Sozial-
demokraten uns vorstellen. Wenn Sie sich einmal die Mühe
machen würden, sich das Papier von Peer Steinbrück ge-
nau anzuschauen, würden Sie sehen, dass die dort vorge-
schlagene Regulierung durchgreift und richtig ist. Da
reichen die lockeren Leistungspunkte, die Sie hier vorle-
gen, bei weitem nicht hin; da müssen Sie schon mehr auf
den Tisch legen.

Bei diesem Mehr geht es insbesondere um das Ver-
hältnis von Risiken und Haftung. Das ist ein wesentli-
ches Grundprinzip. Da bedarf es einer größeren Anstren-





Dr. Carsten Sieling


(A) (C)



(D)(B)


gung und klarer Veränderungen. Bisher ist überlegt
worden, dass unterschiedliche Risiken auch unterschied-
lich behandelt werden sollen. Das muss ein Grundakzent
sein.

Der wichtigste Aspekt ist in diesem Zusammenhang,
dass wir bei den Eigenkapitalregeln, aber auch bei den
Liquiditätsregeln – inklusive der Leverage Ratio, der
Verschuldungsgrenze – die Größe der Institute ins Auge
fassen müssen; ich komme gleich noch einmal darauf zu
sprechen. Ich will an dieser Stelle sagen: Die 2,5 Pro-
zentpunkte, um die die Anforderungen noch einmal er-
höht worden sind, reichen uns nicht. Das ist nicht genug,
um den Sektor sicher zu machen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Axel Troost [DIE LINKE])


Wir werden uns aber auch das Geschäftsverhalten ge-
nauer anschauen müssen. Nicht umsonst kommen wir zu
dem Vorschlag eines Trennbankensystems, also einer
Trennung der Aktivitäten. Wir halten das gerade in Ver-
bindung zu den realwirtschaftlichen Notwendigkeiten
für bedeutend. Dass mit Mittelstandskrediten anders um-
gegangen werden muss als mit spekulativen Geschäften
oder mit Eigenhandel von Banken, ist klar. Das sind un-
terschiedliche Risiken, und die sind unterschiedlich zu
behandeln.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Damit sind wir bei den unterschiedlichen Instituten.
Wir wissen: Die, die mit ihrem Kreditgeschäft die ge-
werbliche Wirtschaft, die Industrie, ja wirtschaftliche
Aktivitäten im Land überhaupt unterstützen, sind in
überdurchschnittlichem Maße Sparkassen und Genos-
senschaftsbanken. Trotz aller Bemühungen der Groß-
banken muss man eigentlich sagen: Großbanken sind
wirtschaftspolitische Blindgänger. Ich finde, das muss
man auch entsprechend gewichten.

Ein weiteres Thema, das ich ansprechen möchte, ist
die Auswirkung auf die Kommunalfinanzierung. Das hat
mit den Volksbanken und den Sparkassen zu tun. Wir
Sozialdemokraten machen uns große Sorgen, dass es im
Zusammenhang mit der Leverage Ratio, der Verschul-
dungsgrenze, zu unterschiedlichen Herangehensweisen
kommt. Das, was ich gerade differenziert ausgeführt
habe, gilt auch dort.

Kollege Schick hat das Europäische Parlament ange-
sprochen. Ich finde, nicht alle Ebenen des Vorschlags
des Europäischen Parlaments sind umfänglich betont.
Das Europäische Parlament hat einen Vorschlag mit drei
Stufen gemacht. Die erste Stufe heißt: Banken, die im-
mer noch meinen, Spekulationsgeschäfte betreiben zu
müssen, müssen eine Leverage Ratio von 5 Prozent er-
füllen. Normale Risiken werden mit 3 Prozent und das
risikoarme, margenschwache Geschäft wird mit einer
Obergrenze von 1,5 Prozent belastet. Ich finde diesen
Vorschlag richtig. Wir sollten das, was dazu im Europäi-
schen Parlament angedacht wird, in die Debatte aufneh-
men. Das zu diesem Punkt.


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Was sind denn Spekulationsgeschäfte?)


– Herr Kollege, Sie werden gleich noch die Gelegenheit
haben, hier zu reden. Es wäre schön, wenn Sie darlegen
würden, was durch den Eigenhandel passiert ist, wie sich
viele Sektoren entwickelt haben und wie wir dort ein-
greifen und begrenzen müssen. Ich sage Ihnen an dieser
Stelle – hierzu möchte ich, Herr Kollege Wissing, ein
klares Wort von Ihnen hören –: Die Boni müssen deut-
lich reduziert werden. Ich bin sehr dafür, dass die flexi-
blen Bestandteile, also Prämien und Ähnliches, Anreize,
die auch in die falsche Richtung führen können, nicht
höher sein dürfen als die festen Bestandteile. Ich will
auch sagen: Es muss auch eine steuerliche Begrenzung
der Absetzbarkeit von Boni geben. Das ist jedenfalls un-
sere Position als Sozialdemokratinnen und Sozialdemo-
kraten.


(Beifall bei der SPD)


Lassen Sie mich zum Schluss etwas sagen, weil ich
ahne, was jetzt kommt. Mich erinnert das immer an den
unvergessenen Rudi Carrell. Ich bitte aber darum, Kol-
lege Wissing, heute nicht so viel an Carrell zu denken.
Rudi Carrell hat gesagt: Schuld ist immer die SPD, an
dem schönen Wetter, aber auch am schlechten Wetter. –
Ich befürchte, dass jetzt wieder eine Rede kommt, die
sich leider nicht mit dem Thema auseinandersetzt, son-
dern das Lied zu singen versucht: Schuld ist immer die
SPD. Ich sage: Vorangehen wird es in diesem Land und
eine ordentliche Regulierung wird es geben, wenn die
SPD wieder mehr zu sagen bekommt und regiert.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719811900

Vielen Dank, Kollege Dr. Sieling. – Nächster Redner

ist der Kollege Dr. Volker Wissing für die FDP. Wir
haben eben gehört, die Erwartungen an ihn vonseiten der
Sozialdemokraten sind sehr groß. Bitte schön, Kollege
Volker Wissing.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Volker Wissing (FDP):
Rede ID: ID1719812000

Herr Präsident! Ich danke Ihnen. Falls Rudi Carrell

jemals gesagt haben sollte: Schuld ist immer nur die
SPD


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Das hat er gesungen!)


– oder es gesungen hat –, dann kann man feststellen,
dass er ein kluger Kopf gewesen ist.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Sie müssen weiterlesen! – Joachim Poß [SPD]: Es ging um das Wetter!)


Ich möchte heute über das Thema Basel III reden. Ich
sage Ihnen: Wir haben Lehren aus der Krise gezogen.
Wir haben in der Krise gesehen, dass Banken Probleme
hatten, weil sie keine ausreichende Liquidität hatten. Wir





Dr. Volker Wissing


(A) (C)



(D)(B)


haben gesehen, dass Banken Probleme hatten, weil sie
kein ausreichendes Eigenkapital hatten. Wir haben uns
zu Beginn dieser Legislaturperiode als Koalitionsfrak-
tion die Frage gestellt: Welches sind die zentralen Leh-
ren aus dieser Krise? Wir haben gesagt: Der Schwer-
punkt muss darauf liegen, die Eigenkapitalausstattung
der Banken zu verbessern und Liquiditätspuffer zu
schaffen, damit sich das Gleiche nicht wiederholt. Dann
haben wir gesagt: Wir brauchen auch einen Restrukturie-
rungsfonds. Für den Fall, dass Banken wieder ins Strau-
cheln geraten, soll der Steuerzahler nicht dafür aufkom-
men. Dafür brauchen wir eine Bankenabgabe. Die muss
der Höhe nach so ausfallen, dass genügend Möglichkei-
ten vorhanden sind, Liquiditätspuffer zu finanzieren und
Eigenkapitalvorsorge zu treffen.

Sie haben sich für einen anderen Weg entschieden.
Sie haben – Sie lassen hier im Plenum keine Gelegenheit
aus, das zu betonen; das gilt auch für Peer Steinbrück
mit seinem Papier – den Schwerpunkt auf eine höhere
Bankenabgabe gelegt und sagen immer, dass sie noch
höher sein muss. Deswegen können Sie sich hier nicht
glaubwürdig hinstellen und sagen, Basel III sei der
richtige Weg. Der Weg, den Sie immer propagieren, ist
eine höhere Bankenabgabe. Der Weg, den wir für besser
halten, ist Basel III: Eigenkapitalvorsorge, Liquiditäts-
puffer.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Das verstehen nur Sie!)


Deswegen ist es falsch und außerdem scheinheilig,
wenn Sie sich Basel III zu eigen machen. Sie argumen-
tieren immer gegen diesen Regulierungsansatz. Wir ha-
ben uns für einen anderen Ansatz entschieden als Sie;
wir haben uns Basel III zu eigen gemacht, weil mit Ba-
sel III genau die richtigen Lehren aus der Krise gezogen
werden.


(Zurufe von der SPD)


Sie wollen einen staatlichen Fonds füllen; Sie können
den Menschen jedoch nicht erklären, wie eine Bank
1 Euro aus ihrem Gewinn gleich dreimal ausgeben kann.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Das Problem ist, dass sie ihn zehnmal ausgegeben haben!)


1 Euro bleibt 1 Euro. Dann kommen Sie auch noch
und verlangen, dass Banken möglichst hohe Finanz-
transaktionsteuern und zugleich eine höhere Bankenab-
gabe bezahlen und dann auch noch für Eigenkapitalvor-
sorge und Liquiditätspuffer sorgen.


(Zuruf von der SPD)


Ich wiederhole: 1 Euro ist 1 Euro, und wenn die So-
zialdemokraten das nicht verstehen, belegen sie damit
nur, dass sie eben immer falsch liegen und nicht rechnen
können.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Das Gute an Basel III ist, dass es bereits erste Wir-
kungen zeitigt


(Zuruf von der SPD: 4 Prozent sind 4 Prozent!)


und die Banken ihre Geschäftsmodelle heute schon da-
nach ausrichten. Ich kann Ihnen nur sagen: Ihre Vor-
würfe, die Sie heute versuchsweise eingestreut haben,
nämlich dass Basel III von der Bundesregierung nicht
schnell genug vorangetrieben würde, sind schlicht und
einfach falsch.

Wenn an der einen oder anderen Stelle gebremst wird,
dann kommt das eher vonseiten der französischen Regie-
rung. Das sind diejenigen, zu denen Sie noch hingefah-
ren sind und die Sie als die Besseren in Europa bezeich-
net haben. Das sind Ihre Freunde. Eine Verzögerung
kommt jedoch keinesfalls von einer christlich-liberalen
Koalition, die Basel III entschieden voranbringt. Sie lie-
gen tatsächlich in allen Punkten falsch. Rudi Carell hat
recht, lieber Kollege Sieling.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719812100

Herr Kollege Wissing, der Kollege Dr. Schick will

Ihre Redezeit verlängern, indem er Ihnen eine Zwischen-
frage stellt.


Dr. Volker Wissing (FDP):
Rede ID: ID1719812200

Ja, bitte.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719812300

Bitte schön.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Kollege, ich würde gerne wissen – jetzt gar nicht
auf Frankreich bezogen, sondern auf Deutschland –, ob
Sie es richtig finden, dass wir es weitere fünf Jahre zu-
lassen, dass Banken mit weniger als 3 Prozent Eigenka-
pital arbeiten können. Nehmen wir als Beispiel die Deut-
sche Bank mit 2,5 Prozent. Oder sind Sie der Meinung,
dass mehr Eigenkapital nötig ist?


Dr. Volker Wissing (FDP):
Rede ID: ID1719812400

Herr Kollege Schick, im Gegensatz zu Ihnen bin ich

der Meinung, dass die Bankenabgabe nicht erhöht wer-
den sollte, sondern dass sie auf dem derzeit richtigen jus-
tierten Maß bleiben sollte. Außerdem bin der Meinung,
dass das Eigenkapital kontinuierlich auf ein ausreichen-
des Niveau angehoben werden muss.

Dabei muss man jedoch die Tatsache im Blick behal-
ten, dass die notwendige Kreditvergabe und somit die
Liquiditätsversorgung der Wirtschaft sichergestellt wer-
den muss. Dies zeichnet das Augenmaß der christlich-
liberalen Regierung aus, während Sie, ebenso wie die
Sozialdemokraten, den Menschen in Deutschland einre-
den, man könne 1 Euro dreimal, viermal oder fünfmal
ausgeben. Das hat mit der Realität nichts zu tun.

Deswegen müssen Sie sich klar bekennen: Wollen Sie
höhere Bankenabgaben, wollen Sie hohe Finanztrans-
aktionsteuern für die Banken, oder wollen Sie ein höheres
Eigenkapital? Sie stehen nämlich mit all Ihren Forderun-
gen gegen eine höhere Eigenkapitalausstattung. Also be-
haupten Sie hier doch nicht immer wieder das Gegenteil!


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)






Dr. Volker Wissing


(A) (C)



(D)(B)


Entscheiden Sie sich doch einmal, was die Banken
mit ihren Gewinnen machen sollen! Man kann 1 Euro
nur einmal ausgeben. Eins und eins ist eins und nicht
drei.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Eins und eins ist zwei! – Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Eins bleibt eins und ist nicht zwei oder drei. Ja, Herr
Sieling, ist ja gut.


(Weitere Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Frage ist beantwortet.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719812500

Den Mitgliedern des Finanzausschusses wird immer

unterstellt, das Einmaleins bestens zu kennen.


Dr. Volker Wissing (FDP):
Rede ID: ID1719812600

Eins bleibt eins, liebe Kollegen. Freuen Sie sich, das

ist geschenkt. – Sie werden jedoch von dieser Fragestel-
lung nicht loskommen. Sie können sich nicht hinstellen
und den Leuten immer wieder sagen, die Bankenabgabe
sei zu niedrig, die Finanztransaktionsteuer müsse kom-
men und das Eigenkapital sowie der Liquiditätspuffer
seien zu niedrig.

Sie müssen den Banken irgendwann die Frage beant-
worten, woraus das Ganze finanziert werden soll.


(Zuruf des Abg. Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Das geht ja nur aus dem Gewinn, und den gibt es eben
nur einmal. Das wollte ich Ihnen verdeutlichen.

Deswegen führt das, was auf europäischer Ebene mit
Basel III vorangebracht wird, zur Schließung weiterer
Lücken im Regulierungssystem. Das ist genau der rich-
tige Weg, um unseren Bankensektor sicherer zu machen,
begleitet von einer Aufsichtsreform, die wir in dieser
Woche im Finanzausschuss beraten haben.

Das Ganze wird begleitet von vielen einzelnen Schrit-
ten, die unseren Finanzsektor stabiler machen, sowie von
einer europäischen Aufsichtsreform. Am Ende werden
wir in Europa ein stabiles Finanzsystem vorfinden. Ich
freue mich jedenfalls, dass Basel III schon heute in den
Geschäftsmodellen der Banken antizipiert wird. Es ist
ein gutes Gesetz. Sie hingegen sollten sich endlich ein-
mal entscheiden, welche Regulierung Sie für richtig hal-
ten. Die Quadratur des Kreises, die Sie vorschlagen, ist
jedenfalls nicht möglich. Deswegen bleiben wir dabei:
Wir haben Lösungsansätze, Sie liefern nur Papier.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719812700

Vielen Dank, Kollege Dr. Volker Wissing. – Der

letzte Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion
der CDU/CSU unser Kollege Ralph Brinkhaus. Bitte
schön, Kollege Ralph Brinkhaus.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Ralph Brinkhaus (CDU):
Rede ID: ID1719812800

Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine Damen und

Herren! Eigentlich ist heute ein ziemlich historischer
Tag. Wir hatten 2008 eine fundamentale Bankenkrise,
die nicht nur dazu geführt hat, dass wir zweistellige Mil-
liardenbeträge an Liquidität in die Banken hineinpusten
mussten und dreistellige Milliardenbeträge als Haftung
bereitgestellt haben, sondern auch dazu, dass es einen
veritablen Konjunkturabschwung und Ausfälle bei den
Steuer- und Sozialversicherungseinnahmen in Milliar-
denhöhe gab. Nicht zuletzt hat die Bankenkrise dazu ge-
führt, dass die Menschen in diesem Land nicht nur die
Frage nach der Sinnhaftigkeit des Bankensystems, son-
dern auch die Systemfrage gestellt haben. Wir alle in der
Politik, die wir hier sitzen, wissen eines: Wenn sich
solch eine Bankenkrise wiederholt, dann haben wir ganz
andere Fragen zu beantworten als jene, die wir heute zu
beantworten haben.

Die Politik hat sich deswegen damals, zur Zeit der
Großen Koalition, auf den Weg gemacht, die Banken zu
regulieren. Uns war eines immer klar: Vorschriften zu
Eigenkapital und Liquidität sind die wichtigsten Instru-
mente, um Banken zu regulieren. Nach 2008 hat es vier
Jahre gedauert, bis wir zum heutigen Tag gekommen
sind, an dem wir versuchen, entsprechende Instrumente
in deutsches Recht umzusetzen. Das ist bemerkenswert.
Wenn wir die Debatte, die wir heute führen, vor vier Jah-
ren geführt hätten, dann hätte sie mehr Aufmerksamkeit
erregt, dann wäre sie insbesondere vonseiten der Oppo-
sition etwas intensiver und weniger lustlos geführt wor-
den.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich habe gesagt: Wir haben uns auf den Weg gemacht,
die Banken zu regulieren. Man kann die Maßnahmen in
fünf Kategorien einteilen:

Die erste Kategorie. Wir haben dafür gesorgt, dass in
Banken weniger Fehler gemacht werden, durch die Ver-
änderung der Vergütungsstrukturen, durch die Regulie-
rung von Ratingagenturen, durch das Paket zum Hoch-
frequenzhandel, das wir jetzt auf den Weg bringen,
durch viele Maßnahmen, die im Rahmen der Kapital-
adäquanzrichtlinie umgesetzt worden sind.

Die zweite Kategorie. Wir haben dafür gesorgt, dass
die Fehlertragfähigkeit bei Banken, offenen Immobilien-
fonds und in vielen anderen Bereichen erhöht worden
ist.

Die dritte Kategorie. Wir haben die Aufsichtsstruktu-
ren verbessert, indem wir bei Leerverkäufen Transpa-
renz und neue Aufsichtsarchitekturen geschaffen haben,
ganz aktuell hier in Deutschland und vor einigen Mona-
ten in Europa. Auch das ist bemerkenswert.

Die vierte Kategorie. Wir sind uns immer im Klaren
darüber gewesen, dass das nicht reicht, dass wir einen
Restrukturierungsmechanismus für Banken brauchen.
Im Gegensatz zu dem, was Herr Steinbrück heute Mor-





Ralph Brinkhaus


(A) (C)



(D)(B)


gen erzählt hat, haben wir hier in Deutschland einen
Bankenrestrukturierungsmechanismus auf den Weg ge-
bracht. Wir haben eine Bankenabgabe eingeführt und da-
für gesorgt, dass zumindest die ersten Verluste von den
Banken selber getragen werden, nämlich über einen
Fonds, der über die Bankenabgabe gespeist wird.

Die fünfte Kategorie. Wir haben auch dafür gesorgt,
dass wir die Lasten verteilen. Die Bundesregierung hat
auf europäischer Ebene dafür gesorgt, dass die Finanz-
transaktionsteuer nunmehr von ganz vielen Ländern un-
terstützt wird.


(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Wo ist sie denn?)


Das alles ist in den letzten Jahren gemacht worden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Trotzdem hat eines gefehlt. Wir haben hier über 50 De-
batten geführt; wir haben fast 20 Gesetze und Initiativan-
träge auf den Weg gebracht. Wenn wir mit irgendeiner
Sache fertig waren, haben wir immer gesagt: Das war
wieder ein kleinerer oder größerer Baustein, um die Ban-
kenwelt sicherer und besser zu machen. Aber der ganz
große Baustein, das Fundament hat noch gefehlt. Das
Fundament bildet tatsächlich das, was wir heute verab-
schieden. Dementsprechend können wir, der Deutsche
Bundestag, wirklich stolz darauf sein, dass wir es, ob-
wohl die europäischen Regelungen noch nicht fertig sind
– das ist richtig –, geschafft haben, ein Gesetz auf den
Weg zu bringen, das sicherstellt, dass wir in Europa zu
den Ersten gehören, die das Paket tatsächlich umsetzen.
Das ist gut und richtig.

Meine Damen und Herren, ich habe gesagt: Wir ha-
ben 2008 eine wirklich fundamentale Krise gehabt. Wir
in der Politik haben das kapiert; wir haben aus dieser
Krise gelernt. Wenn ich mir aber teilweise anschaue, wie
die Branche, die Finanzinstitute auf unsere Maßnahmen
reagieren, dann scheint mir, dass diese Menschen nichts
daraus gelernt haben. Leichte Kritik ist okay; auch
schwerere Kritik ist teilweise okay, weil wir nicht alles
richtig machen. Aber das permanente Ablehnen von Re-
gulierungsmaßnahmen, das Genöle der Branche, dass
dieses oder jenes dazu führe, dass die Realwirtschaft zu-
sammenbricht, dass ganze Geschäftsmodelle zusammen-
brechen, führt nicht weiter.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Ja!)


Da schaue ich jetzt auch zu den Kollegen in der Op-
position; da sind wir alle in diesem Haus uns einig. Ich
würde mir mehr konstruktive Beiträge wünschen. Ich
glaube, das ist angesichts der Krise, die durch diese
Branche verursacht worden ist, durchaus berechtigt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD sowie des Abg. Dr. Axel Troost [DIE LINKE])


Ich habe gesagt, dass die Krise durch diese Branche
verursacht worden ist. In dem Zusammenhang möchte
ich sagen, was mich des Weiteren stört. Es wird immer
wieder gesagt – die Kollegen, die in diesem Bereich als
Berichterstatter tätig sind, kennen es genauso wie ich –:

Ich habe mit der Krise nichts zu tun gehabt. Wir sind
nicht verantwortlich. Wir sind die Guten. Reguliert bitte
die Schlechten.

Das ist eine Geschichte, die so nicht stimmt. Wir müs-
sen uns an den Risiken, die tatsächlich im Bankenwesen
entstehen, orientieren, und es gibt zwei gute Messlatten
für die Risiken: Das sind Eigenkapital und Liquidität,
und Eigenkapital und Liquidität sind das Rückgrat der
Basel-III-Regulierung.

Meine Damen und Herren, trotz aller Dinge, trotz al-
ler Gesetze, trotz aller Maßnahmen, die wir auf den Weg
gebracht haben, müssen wir eines sehen: Eine hundert-
prozentige Garantie, dass wir eine Krise wie die, die
2008 aufgetreten ist, in Zukunft werden verhindern kön-
nen, kann niemand geben.

Finanzmarktregulierung ist nicht der große Wurf.
Finanzmarktregulierung ist ein hartes Geschäft. Finanz-
marktregulierung beinhaltet viele Einzelmaßnahmen,
und Finanzmarktregulierung heißt auch, dass wir uns
immer wieder damit auseinandersetzen müssen, dass
– der Kollege Schick hat es angesprochen – die eine oder
andere Regierung irgendetwas anders sieht, dass wir uns
mit unseren Vorstellungen international nicht durchset-
zen und dass es in den Märkten Menschen gibt, die
schneller – sie sind im Übrigen auch besser bezahlt als
wir – auf Ideen kommen, um unsere Regulierungen zu
umgehen.

Das ist einfach die Realität. Es geht nicht darum, ein
auf ewige Zeiten stabiles Finanzsystem hinzubekom-
men. Das werden wir nicht hinbekommen. Es geht da-
rum, die Instabilitäten, die in diesem Finanzsystem ent-
halten sind, gut zu managen, und deswegen bin ich
immer noch über das, was die SPD und der Kanzlerkan-
didat der SPD in den letzten Wochen geboten haben,
nachhaltig verärgert.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Nicht nur, dass er komplett ignoriert hat, was in den
letzten vier Jahren – übrigens auch unter seiner Mitwir-
kung – an Finanzmarktregulierung auf den Weg gebracht
worden ist – nein, er behauptet auch: Ihr müsst einfach
nur das machen – und Herr Sieling hat es gerade bestä-
tigt –, was in meinem göttlichen Papier steht. Das ist der
große grüne Knopf, und wenn wir den drücken, dann
wird alles gut in dieser Welt.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Der Knopf ist rot! Nicht grün!)


Meine Damen und Herren – und das gilt für die Besu-
cher hier und für die Damen und Herren, die vor dem
Fernsehschirm sitzen –, wenn Ihnen jemand verspricht,
er habe im Finanzmarktbereich und in anderen Politikbe-
reichen den großen grünen Knopf gefunden, auf den
man drücken könne, und dann werde alles gut, dann
glauben Sie ihm nicht.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719812900

Kollege Ralph Brinkhaus war der letzte Redner in un-

serer Debatte, die ich folglich nun schließe.

Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/10974 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nun die Ta-
gesordnungspunkte 7 a bis 7 i auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Wiederherstellung eines Lebensstandard si-
chernden und strukturell armutsfesten Ren-
tenniveaus

– Drucksache 17/10990 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Finanzausschuss 
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 
Ausschuss für Gesundheit

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Altersarmut wirksam bekämpfen – Solidari-
sche Mindestrente einführen

– Drucksache 17/10998 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Finanzausschuss 
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 
Ausschuss für Gesundheit

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Rente erst ab 67 sofort vollständig zurückneh-
men

– Drucksache 17/10991 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Finanzausschuss 
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 
Ausschuss für Gesundheit

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Kindererziehung in der Rente besser berück-
sichtigen

– Drucksache 17/10994 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Finanzausschuss 
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 
Ausschuss für Gesundheit

e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Eine solidarische Rentenversicherung für alle
Erwerbstätigen

– Drucksache 17/10997 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Finanzausschuss 
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 
Ausschuss für Gesundheit

f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Risiko der Erwerbsminderung besser absi-
chern

– Drucksache 17/10992 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Finanzausschuss 
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 
Ausschuss für Gesundheit

g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Angleichung der Renten in Ostdeutschland
auf das Westniveau bis 2016 umsetzen

– Drucksache 17/10996 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Finanzausschuss 
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 
Ausschuss für Gesundheit

h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Rente nach Mindestentgeltpunkten entfristen

– Drucksache 17/10995 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Finanzausschuss 
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 
Ausschuss für Gesundheit





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)


i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
W. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Rentenbeiträge für Langzeiterwerbslose wie-
der einführen

– Drucksache 17/10993 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Finanzausschuss 
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 
Ausschuss für Gesundheit

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Sie sind infolgedessen damit ein-
verstanden. Das ist also beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner in unserer
Aussprache ist für die Fraktion Die Linke unser Kollege
Matthias Birkwald. Bitte schön, Kollege Matthias
Birkwald.


(Beifall bei der LINKEN)



Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719813000

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Warum legt Ihnen die Linke neun einzelne
Anträge vor? Nun, die Linke will konkrete und schnelle
Verbesserungen – am besten natürlich in Form des ge-
samten linken Rentenkonzepts, das wir hier bereits im
März debattiert haben. Wir wissen aber, dass das hier im
Parlament noch nicht mehrheitsfähig ist.

In einzelnen Punkten gibt es jedoch Übereinstimmun-
gen. Uns geht es hier um konkrete einzelne Schritte im
Kampf gegen Altersarmut und für eine gute Rente.


(Beifall bei der LINKEN)


In der Rentenpolitik muss sich etwas bewegen, und
darum fordere ich Sie auf, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen: Verweigern Sie sich nicht. Machen Sie mit. Legen
Sie Ihre parteipolitischen Scheuklappen ab, und unter-
stützen Sie die Forderungen, die Sie selbst für richtig
halten.


(Beifall bei der LINKEN)


Da komme ich direkt zur CDU/CSU. Jüngst war im
Handelsblatt zu lesen, dass Sie, Herr Kollege Weiß, und
Karl-Josef Laumann von der Christlich-Demokratischen
Arbeitnehmerschaft


(Zuruf von der CDU/CSU: Gute Männer!)


– wie im Übrigen auch die SPD – fordern, die Rente
nach Mindestentgeltpunkten für Zeiten nach 1992 fort-
zuführen. Das ist eine gute Idee, weil lange Jahre zu
niedriger Löhne in der Rente deutlich besser bewertet
würden. Darüber hinaus käme diese Rentenform Frauen
zugute. Verzichten Sie auf die Einkommensanrechnung,
und stimmen Sie unserem Vorschlag zu. Dann sind wir
an dieser Stelle auf einem guten Weg für Menschen mit
niedrigen Löhnen.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Frauen in der Union fordern ähnlich wie wir, dass
allen Müttern und Vätern für jedes Kind bei der Renten-
berechnung drei Jahre Kindererziehungszeiten gutge-
schrieben werden. Sie fordern das allerdings nur im Hin-
blick auf diejenigen, die in Zukunft in Rente gehen
werden. Wir sagen: Es muss gelten, dass jedes Kind dem
Staat und der Gesellschaft gleich viel wert ist, und des-
halb müssen wir diejenigen Mütter und Väter, die vor
1992 Kinder bekommen haben, gleichstellen. Es ist
nämlich überhaupt nicht einzusehen, dass es für diese
Kinder nur 74 bis 84 Euro mehr Rente gibt und für Kin-
der, die bis 1991 geboren wurden, nur 25 bis 28 Euro
mehr. Damit wir diese Gleichstellung zustande bringen,
sollten Sie auch diesem Vorschlag der Linken zustim-
men.


(Beifall bei der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ja, es
ist richtig: Man muss darüber reden, dass es Armut trotz
Erwerbsarbeit gibt. Wir brauchen am Arbeitsmarkt gute
Tariflöhne. Wir brauchen einen gesetzlichen Mindest-
lohn. Zwei Drittel der Leiharbeiterinnen und Leiharbei-
ter erhalten, wie wir diese Woche gehört haben, Niedrig-
löhne. Deswegen müssen wir die Leiharbeit regulieren.
Wir würden sie am liebsten verbieten. Ich könnte noch
vieles mehr nennen.

Trotz der Tatsache, dass es gute Erwerbsarbeit gibt,
haben wir das Problem der Altersarmut. Deswegen müs-
sen wir an die Gründe dafür herangehen. Einer der
Hauptgründe ist das weiter absinkende Rentenniveau.
Das ist ein wesentlicher Risikofaktor für Altersarmut.
Das darf auf gar keinen Fall so bleiben. Das muss geän-
dert werden. Die Rente muss wieder den Lebensstandard
sichern.


(Beifall bei der LINKEN)


Damit das geschieht, muss das Rentenniveau auf 53 Pro-
zent angehoben werden. Durchschnittlich verdienende
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hätten rund
160 Euro Rente verloren, wenn das Rentenniveau heute
nur noch bei 43 Prozent läge. Das ist doch ein Skandal!


(Beifall bei der LINKEN)


Liebe Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten,
manche von Ihnen wollen aus guten Gründen ebenfalls
das Rentenniveau anheben oder zumindest beibehalten.
Darum bitte ich Sie: Ordnen Sie Ihre rentenpolitische
Vernunft nicht leichtsinnig dem Vizekanzlerkandidaten-
konzept Ihrer Partei unter und unterstützen Sie diesen
Antrag, der Millionen von hart arbeitenden Männern und
Frauen zugutekäme.


(Beifall bei der LINKEN)


Weitere rentenpolitische Kürzungsmaßnahmen for-
cieren das Problem der Altersarmut, zum Beispiel die
Rente erst ab 67. Deswegen muss sie abgeschafft wer-
den.


(Beifall bei der LINKEN)


Bei der Erwerbsminderungsrente sind Abschläge sys-
temfremd. Wer krank ist, hat keine Wahl. Darum müssen
die Abschläge aus der Erwerbsminderungsrente heraus.


(Beifall bei der LINKEN)






Matthias W. Birkwald


(A) (C)



(D)(B)


Hinein in die Rente müssen aber unbedingt wieder die
Rentenbeiträge für Langzeitarbeitslose, die von dieser
Regierung auf null gesetzt worden sind. Hartz-IV-Be-
troffene dürfen nicht unter die Räder geraten. Deswegen
brauchen wir anständige Rentenbeiträge für Langzeit-
arbeitslose.


(Beifall bei der LINKEN)


Insgesamt ist es wichtig, dass alle Erwerbstätigen in
die Rentenversicherung einbezogen werden, also auch
Selbstständige, Beamtinnen und Beamte und vor allen
Dingen Abgeordnete, Ministerinnen und Minister,
Staatssekretärinnen und Staatssekretäre.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Das hilft der Rentenkasse ungemein!)


Alle Erwerbstätigen sollen in die Rentenversicherung
einzahlen, und zwar entsprechend der Löhne und Gehäl-
ter, die sie beziehen. Wer ein Gehalt von 10 000 Euro im
Monat hat, soll auch für 10 000 Euro Rentenversiche-
rungsbeiträge zahlen und nicht nur für 5 600 Euro.


(Beifall bei der LINKEN)


Ein ganz wichtiger Punkt: 22 Jahre nach der Einheit
muss endlich Schluss sein mit der erbärmlichen Sankt-
Nimmerleins-Tag-Politik. Union und FDP und die Kanz-
lerin persönlich haben ihre Wählerinnen und Wähler
belogen. Rentnerinnen und Rentner im Osten, die durch-
schnittlich verdienende Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer waren, erhalten immer noch durchschnittlich
142 Euro weniger Rente im Monat. Es muss aber gelten:
Gleiche Rente für gleiche Lebensleistung. Deswegen
müssen wir jetzt angleichen und die Sache bis 2016 ab-
schließen.


(Beifall bei der LINKEN)


Herr Präsident, ich komme zum Schluss. Wir haben
schon heute Altersarmut. 436 000 Menschen befinden
sich in der Grundsicherung im Alter. Rechnet man die
Dunkelziffer hinzu, stellt man fest, dass es um weit über
1 Million Menschen geht. Deswegen brauchen wir schon
heute eine solidarische Mindestrente in Form eines ein-
kommens- und vermögensgeprüften steuerfinanzierten
Zuschlags. Denn es muss gelten: Niemand soll im Alter
in Armut leben müssen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719813100

Vielen Dank, Kollege Birkwald. – Ich weise darauf

hin, dass wir uns hier im Hause einig sind, dass das Wort
„Lüge“ nicht parlamentarisch ist.

Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU
unser Kollege Peter Weiß.


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1719813200

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Das Statistische Bundesamt hat uns erst kürzlich die
neuesten Untersuchungen zur Bevölkerungsentwick-
lung in Deutschland vorgelegt, und es hat festgestellt:

Deutschland hat im Durschnitt die älteste Bevölkerung
in Europa und die zweitälteste in der Welt. Die Deut-
schen werden immer älter und bekommen immer weni-
ger Kinder. Im Jahr 2010 war nicht einmal jeder siebte
Deutsche jünger als 15 Jahre und zugleich jeder fünfte
65 Jahre und älter. Pro 1 000 Einwohnerinnen und Ein-
wohner werden nur noch acht Kinder geboren. Damit ist
Deutschland weltweit bei einem Negativrekord ange-
langt.

Auf der anderen Seite gibt es eine eigentlich erfreuli-
che Entwicklung, nämlich dass die Lebenserwartung der
Deutschen kontinuierlich ansteigt, um etwa sechs Wo-
chen pro Jahr. Ein 60-jähriger Mann hat heute im Durch-
schnitt die Aussicht, noch mindestens 20 Jahre zu leben.
Das sind fünf Jahre mehr, als es für einen 60-Jährigen im
Jahr 1960 galt. Bei den Frauen sind es sogar 24 Jahre
und damit 6 Jahre mehr, als es für eine Frau im Jahr 1960
galt.

Mir persönlich, auch unserer Fraktion, CDU/CSU,
fallen eine Menge wünschenswerter Dinge ein, die wir
zugunsten unserer Rentnerinnen und Rentner neu ins
Gesetz schreiben könnten. Aber wir wissen auch: Die
umlagefinanzierte Rente bedeutet, dass das, was wir
heute und in den kommenden Jahren und Jahrzehnten
Rentnerinnen und Rentnern zusätzlich geben, von den
immer weniger werdenden jungen Leuten, die eines Ta-
ges in Arbeit und Brot stehen werden, bezahlt werden
muss.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: So ist es!)


Offensichtlich blendet die Linke dies schlichtweg aus.
Sie ist die jugendfeindlichste Partei, die es in Deutsch-
land gibt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei Abgeordneten der LINKEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nein! Sie nehmen doch den Jungen von heute die Rente weg!)


In einer kürzlich veröffentlichten repräsentativen Um-
frage haben 41 Prozent der Befragten erklärt, dass sie
den Generationenvertrag, auf dem die Rente basiert, für
ungerecht halten. Dies begründeten sie damit, dass Jün-
gere in diesem System zu stark belastet werden. Ich
frage mich: Welche Akzeptanz würde das Alterssiche-
rungssystem in Deutschland bei der Bevölkerung finden,
wenn wir die Jüngeren noch mehr belasten würden,


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Man müsste sie aufklären und nicht auf die Bäume treiben!)


als es nach der heutigen rechtlichen Regelung der Fall
ist?

Das zeigt mir, verehrte Damen und Herren: Ein Al-
terssicherungssystem kann nur funktionieren, wenn es
Generationengerechtigkeit abbildet, wenn die Zusage an
die Älteren gilt, dass sie eine sichere Rente bekommen,
und wenn die Jüngeren wissen, dass sie das von dem,
was sie eines Tages durch ihre Arbeit verdienen werden,
finanzieren können.






(A) (C)



(D)(B)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719813300

Herr Kollege Peter Weiß, gestatten Sie eine Zwi-

schenfrage unseres Kollegen Ralph Lenkert?


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1719813400

Bitte schön.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719813500

Bitte schön, Herr Kollege.


Ralph Lenkert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719813600

Vielen Dank. – Herr Kollege Weiß, Sie sagen immer,

wir müssten aus Gründen der Demografie heute die Ren-
ten der Zukunft abschmelzen.


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1719813700

Nein, das habe ich nicht gesagt.


Ralph Lenkert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719813800

Ich stelle Ihnen eine Frage. Ich betrachte es jetzt ein-

mal unabhängig vom Geld, einfach nur von den Produk-
ten her. Die Generation, die, so wie Sie und ich, im Ar-
beitsleben ist, muss in ihrem Arbeitsleben alle Güter,
materiellen Werte und Ausbildungsmittel produzieren
und bereitstellen, die notwendig sind, um die Seniorin-
nen und Senioren zu versorgen und gleichzeitig die Aus-
bildung der kommenden Generation sicherzustellen; das
muss sie machen. Ich betrachte das jetzt unabhängig
vom Geld, rein von den Waren her. In 40 Jahren muss
die Generation, die dann im Arbeitsleben sein wird – un-
abhängig davon, wie groß diese Gruppe sein wird –,
ebenfalls für die Seniorinnen und Senioren und gleich-
zeitig für die nachwachsende Generation die Mittel be-
reitstellen.

Jetzt kommt meine Frage an Sie: Welche Produkte
und Güter kann ich 40 Jahre lang einlagern und aufhe-
ben, die ich dann in Anwendung bringen kann, wenn
nicht mehr genügend produziert wird? Denn Geld kann
man ja bekanntlich nicht essen.


(Beifall bei der LINKEN – Max Straubinger [CDU/CSU]: Einen Trabbi! – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: So kann man es auch erklären! Das ist auch eine Variante!)



Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1719813900

Ein Einlagern findet in der gesetzlichen Rente nicht

statt. Weil das, was die Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer heute einzahlen, am nächsten Tag an die Rentne-
rinnen und Rentner ausgegeben wird, funktioniert dieses
System immer. Da haben Sie recht.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Aber das Problem, vor dem wir in Deutschland stehen,
ist: Heute sind die sogenannten geburtenstarken Jahr-
gänge – hoffentlich – allesamt im Erwerbsleben. An der
Spitze befindet sich der Jahrgang 1964. Damals sind die
meisten Kinder in Deutschland geboren worden, näm-
lich 1,35 Millionen.

Wenn wir – die meisten Anwesenden im Plenum des
Deutschen Bundestages kommen aus geburtenstarken
Jahrgängen – und unsere Altersgenossinnen und Alters-
genossen eines Tages Rentnerin oder Rentner sein wer-
den, dann werden diese geburtenstarken Jahrgänge, die
dann ja auch die geburtenstarken Rentnerinnen- und
Rentnerjahrgänge sein werden, durch das finanziert wer-
den müssen, was die jungen Leute – letztes Jahr haben
wir, glaube ich, 640 000 Geburten in Deutschland ge-
habt; das war also nicht einmal die Hälfte der Menschen,
die 1964 geboren worden sind – für die Sicherstellung
des Rentenaufkommens aufbringen. Wie diese Rech-
nung aufgeht, das können uns die Linken nicht erklären.
Sie handeln mit ihren Anträgen fundamental gegen das
Gesetz: Generationengerechtigkeit ist die Grundlage ei-
ner solidarischen Sozialversicherung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719814000

Herr Kollege Peter Weiß, ich frage Sie, ob Sie eine

weitere Zwischenfrage aus der Fraktion Die Linke, näm-
lich unseres Kollegen Matthias Birkwald, beantworten
wollen.


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1719814100

Das mache ich alles sehr gerne.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719814200

Bitte schön, Kollege Matthias Birkwald.


Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719814300

Herzlichen Dank, Herr Präsident. Herzlichen Dank,

Herr Weiß, dass Sie die Frage zulassen. – Sie haben ge-
fragt, ob wir Ihnen das erklären können. Auf diese Frage
von Ihnen hin habe ich mich gemeldet. Ich bin jetzt
gerne bereit, Ihnen das zu erklären.


(Beifall bei der LINKEN – Max Straubinger [CDU/ CSU]: Dann ist das aber keine Frage!)


Zu Bismarcks Zeiten kamen 12 Erwerbsfähige im Al-
ter zwischen 15 bis 65 Jahren auf 1 Rentner und 1 Rent-
nerin. Im Jahre 1916 wurde das Renteneintrittsalter von
65 Jahren eingeführt; da waren es immer noch ungefähr
12. Bei Einführung der dynamischen Rente durch Ihren
Parteifreund Dr. Adenauer 1957 und 1960 waren es
5,8 Menschen im erwerbsfähigen Alter, die einen Rent-
ner oder eine Rentnerin finanzieren mussten. Im Jahre
2010 waren es 3,3, und in Zukunft, in den Jahren 2030
und 2040, werden es 2 sein.

Diesen großen demografischen Wandel von 12 Er-
werbsfähigen, die es brauchte, um 1 Rentner oder
1 Rentnerin zu ernähren, auf heute 3,3 und auf in Zu-
kunft 2 kann man bewältigen durch zwei Punkte, näm-
lich durch steigendes Wirtschaftswachstum – durch ein
größer werdendes Bruttoinlandsprodukt, das über Jahre
und Jahrzehnte im Durchschnitt immer um die 1,4 oder
1,5 Prozent gelegen hat – und durch eine steigende Ar-
beitsproduktivität, die im Durchschnitt immer bei
1,7 oder 1,8 Prozent gelegen hat.

Das heißt, selbst wenn die Rentenbeiträge deutlich
anstiegen – in Zukunft, nicht heute –, dann hätten die





Matthias W. Birkwald


(A) (C)



(D)(B)


Menschen bei einem Wirtschaftswachstum auf diesem
niedrigen prozentualen Niveau trotzdem mehr in der Ta-
sche als heute, und wir könnten sowohl die Älteren als
auch die Jüngeren finanzieren. Hinzu kommt Folgendes:
Als die gerade von Ihnen angesprochenen geburtenstar-
ken Jahrgänge jung waren – ich bin ja auch einer aus die-
sem Jahrgang –, mussten für sie Kindertagesstätten,
Grundschulen, Universitäten etc. finanziert werden; da-
mals gab es aber wenig Ältere. Dieser Gesamtquotient,
also die Jungen und die Alten gemeinsam im Verhältnis
zur erwerbstätigen Bevölkerung, war schon im Jahre
1970 niedriger, als er in Zukunft sein wird.

Sind Sie also bereit, anzuerkennen, dass man mit dem
Wirtschaftswachstum und mit der Arbeitsproduktivitäts-
steigerung in Zukunft sehr wohl in der Lage ist, anstän-
dige Renten für die heute jüngere Generation zu zahlen?


(Beifall bei der LINKEN)



Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1719814400

Herr Kollege Birkwald, wir können selbstverständlich

gern ein historisches Seminar hier im Plenum des Deut-
schen Bundestages durchführen.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Ein Wirtschaftsseminar!)


Sie haben natürlich manches verschwiegen. Sie haben
die Einschnitte durch den Ersten und den Zweiten Welt-
krieg verschwiegen, und Sie haben verschwiegen, wie
hoch die Beiträge beim Start der Rentenversicherung
waren, nämlich unter 10 Prozent, und wo sie heute ste-
hen.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Und die Rentenhöhe!)


– Sie haben auch die Rentenhöhe verschwiegen. –


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Und den Beitrag!)


Sie negieren schlichtweg, dass es eine in Deutschland in
dieser Form bislang noch nie dagewesene Situation ist,


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Das ist doch falsch!)


– doch! –


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Nein, das ist falsch!)


dass wir eine solch große Zahl geburtenstarker Jahr-
gänge haben – diese Personen sind heute zwischen
35 und 55 Jahre alt –, dass wir danach aber deutlich klei-
nere Jahrgänge haben, was die Anzahl der geborenen
Jungen und Mädchen anbelangt, während wir es gleich-
zeitig mit einer deutlich höheren Lebenserwartung als in
der Vergangenheit zu tun haben. Das heißt, einen sol-
chen demografischen Wandel, wie er uns in den kom-
menden Jahren erwartet, hat es in dieser Form in
Deutschland historisch noch nie gegeben.


(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Das ist falsch!)


Insofern ist die Antwort, die Sie geben, falsch.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, das, was ich
vorgetragen habe, heißt nicht, dass im Rentensystem
nicht gehandelt werden muss, wenn Sicherheit im Alter
für die deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
auch in Zukunft eine verlässliche Perspektive sein soll.
Insofern ist es gut, zunächst einmal an den Problem-
punkten anzusetzen.

Wenn man sich anschaut, welche älteren Mitbürgerin-
nen und Mitbürger heute ergänzend auf den Bezug von
Leistungen der Grundsicherung, also auf staatliche Sozi-
alhilfe, angewiesen sind, weil ihr Einkommen im Alter
nicht ausreicht, dann fällt auf, dass darunter vor allem
solche Menschen sind, die wegen Krankheit oder
bedingt durch einen Unfall vorzeitig aus dem Erwerbsle-
ben ausscheiden mussten. Schon heute müssen 9,6 Pro-
zent der sogenannten Erwerbsminderungsrentner ergän-
zende Leistungen der Grundsicherung beziehen, und in
der Perspektive steigt dieser Anteil deutlich an.

Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, dass wir in der
Koalition bereits vereinbart haben, die Berechnung der
Erwerbsminderungsrente deutlich zu verbessern, um
dieser – derzeit größten – sozialpolitischen Herausforde-
rung klar zu begegnen. Wir wollen, dass Erwerbsminde-
rungsrentner künftig besser dastehen als heute, damit sie
nicht auf Leistungen der staatlichen Grundsicherung an-
gewiesen sind.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Dann können Sie unseren Antrag unterstützen!)


Da unser Alterssicherungssystem, vor allen Dingen
seit Rot-Grün es 2001 umgebaut hat, davon lebt, dass
man ergänzend für das Alter vorsorgt, ist die Frage zu
stellen, warum nicht auch die ergänzende Altersvor-
sorge, also die betriebliche bzw. private Vorsorge, im
Fall des Bezugs einer Erwerbsminderungsrente eine
Leistung erbringt. Morgen bringt die Koalition einen
Gesetzentwurf ins Parlament ein, mit dem sie den Anteil
eines Riester-Sparvertrages, der für den Fall einer Er-
werbsminderungsrente vorgesehen werden kann, erhö-
hen will.

Als ich vorgestern auf dem Arbeitgebertag hier in
Berlin an einer Diskussion teilgenommen habe, war ich
positiv überrascht, dass die Befürworter der betriebli-
chen Altersvorsorge auf den Vorschlag, auch in diesem
Bereich eine verbindliche Vorsorge für den Erwerbsmin-
derungsfall zu treffen, durchaus positiv reagiert haben.
Insofern gilt: Die zweite und dritte Säule der Alters-
sicherung müssen für den Fall der Erwerbsminderungs-
rente mehr leisten, als es heute der Fall ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Sabine Leidig [DIE LINKE]: Zum Wohl der Konzerne!)


Generell gilt: Wer ein Leben lang gearbeitet, Beiträge
gezahlt und für das Alter vorgesorgt hat, der sollte sicher
sein können, dass er im Alter mehr hat als jemand, der
nicht vorgesorgt und keine Beiträge gezahlt hat. Wir dis-
kutieren in der Koalition also zu Recht darüber, wie wir
dieses Prinzip im Rentenrecht generell stärker verankern





Peter Weiß (Emmendingen)



(A) (C)



(D)(B)


können. Der Vorschlag „Mindestrente für alle“ ist aber
ein Schlag ins Gesicht von Gerechtigkeit:


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nein! Nicht für alle! Nur für die, die es brauchen!)


ein Schlag ins Gesicht von Generationengerechtigkeit
und Leistungsgerechtigkeit. Wir setzen uns für ein Ren-
tensystem ein, in dem auch zukünftig gilt: Wer etwas ge-
leistet und vorgesorgt hat, der soll mehr haben als derje-
nige, der nicht vorgesorgt und nichts geleistet hat. Das
ist Gerechtigkeit im Rentensystem.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das gilt doch schon seit zehn Jahren nicht mehr! Das ist doch alles schon Vergangenheit!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719814500

Vielen Dank, Kollege Peter Weiß. – Nächster Redner

für die Fraktion der Sozialdemokraten ist unser Kollege
Anton Schaaf. Bitte schön, Kollege Anton Schaaf.


(Beifall bei der SPD – Max Straubinger [CDU/ CSU]: Toni, bleib bei der Sache!)



Anton Schaaf (SPD):
Rede ID: ID1719814600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der

Respekt vor den Mitgliedern des Hauses gebietet es,
dass ich mich im Wesentlichen mit den Anträgen der
Linken beschäftige. Aber ich muss sagen: Peter Weiß hat
mich durch die Art und Weise, wie er sich hier gerade
dargestellt hat, ganz schön gereizt.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Echt? – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das kann er sehr gut!)


Peter, die Akzeptanz des Rentenversicherungssystems
ausschließlich daran festzumachen, wie hoch die Bei-
tragssätze sind, ist relativ einfach. Allerdings ist das
auch ein bisschen schlicht. Für die Menschen ist nämlich
auch wichtig, was dabei herauskommt.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Richtig!)


Beides muss in einem vernünftigen und gesunden Ver-
hältnis zueinander stehen.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Ja!)


Indem die Arbeitsministerin darauf hingewiesen hat,
dass das Rentenniveau bis 2030 auf 43 Prozent des
durchschnittlichen Nettolohns sinkt, hat sie Angst vor
Altersarmut geschürt. Sie hätte es eigentlich besser wis-
sen müssen; denn im Gesetz steht: Bei einem Renten-
niveau von 46 Prozent ist die Regierung aufgefordert,
Vorschläge dafür zu machen, wie man dieses Niveau
halten kann. 43 Prozent sind überhaupt kein Ziel. Die
Ministerin hat versucht, diese Truppe, die rentenpoli-
tisch völlig zerstritten ist, auf den Weg zur Zuschuss-
rente zu zwingen.

Bei der Rentenversicherung geht es immer auch um
die Akzeptanz der Leistungen und nicht nur der Bei-

tragssätze. Hier seid ihr völlig ignorant. Bei uns in der
Partei gibt es eine heftige Debatte über das Leistungs-
niveau. Ich gebe hier unumwunden zu, dass das noch
nicht entschieden ist. Der jungen Generation aber zu sa-
gen: „Bei 43 Prozent werdet ihr altersarm“, und dann zu
erwarten, dass dieses System bei der jüngeren Genera-
tion Akzeptanz findet, ist fast schon zynisch.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Da ich gerade dabei bin: Diese Ministerin ist in dieser
Legislaturperiode mit all dem, was sie rentenpolitisch
auf den Weg bringen wollte, kläglich gescheitert. Die
Zuschussrente hat noch nicht einmal die Ressortabstim-
mung überlebt. Jetzt habt ihr eine neue Kommission zur
Entwicklung von Plänen gegen Altersarmut eingesetzt.
Ein Jahr lang habt ihr für eine Zuschussrente getagt, die
am Ende nicht realisiert worden ist – übrigens korrekter-
weise nicht, weil diese Zuschussrente eigentlich eine so-
zialpolitische Leistung ist und über Beiträge finanziert
werden sollte. Die Ordnungspolitiker in der FDP haben
das korrekterweise verhindert, zwar aus anderen Grün-
den und ideologisch anderer Motivation heraus. Aus
meiner Sicht haben sie Gott sei Dank verhindert, dass
eine Sozialleistung über Beiträge finanziert wird.

Zum Beitragssatz. Da man große Teile der deutschen
Einheit über die Beiträge an die Sozialversicherung
finanziert hat, darf man sich über steigende Beitrags-
sätze nun wirklich nicht wundern und beschweren. Das
geht nun gar nicht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Jetzt zu den Anträgen der Linken, Matthias Birkwald.
Ich finde, es ist eine deutliche Verbesserung, dass nicht
grundsätzlich alles falsch und einiges sehr zustimmungs-
fähig ist, wie zum Beispiel der Punkt, dass man generell
sagt: Die Erwerbsminderungsrente muss verbessert wer-
den. D’accord! Ihr schreibt in eurem Antrag allerdings
auch, dass die Zugänge offener werden müssen. Hierbei
will ich lieber genau wissen, worüber wir reden, bevor
ich einem solchen Antrag zustimme.

Zur Rente nach Mindestentgeltpunkten: D’accord!

Alle Anträge haben letzten Endes aber gleichermaßen
wenig Substanz. Dass sie beispielsweise nicht mit Zah-
len unterlegt sind, ist wohl auch beabsichtigt. Ihr fordert
die Bundesregierung mit diesen Anträgen auf, zu han-
deln. Dann muss man auch nicht konkret werden. Bei
ganz vielem würde ich aber gerne wissen, was ihr genau
damit meint.

Ihr sprecht zum Beispiel von der Wiederherstellung
der lebensstandardsichernden Rente.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja!)


Was heißt das denn konkret?


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: 53 Prozent!)






Anton Schaaf


(A) (C)



(D)(B)


Heißt das, eine Rentenhöhe von 53 Prozent ist lebens-
standardsichernd? Ich bin da anderer Meinung. Für eine
Friseurin, eine Krankenschwester oder eine Frau in ei-
nem typischen Frauenberuf werden diese 53 Prozent nie-
mals lebensstandardsichernd sein.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Richtig! Deswegen wollen wir ja eine Mindestrente!)


Daher ist das Ganze an dieser Stelle nicht konsistent,
also ein Widerspruch. Insofern bin ich hier etwas anderer
Meinung.

Nun zur solidarischen Mindestrente. Auch wir haben
gesagt, man brauche eine Mindestabsicherung für Men-
schen, die langjährig gearbeitet haben. Ihr sagt aber: Wir
brauchen eine Mindestabsicherung für Menschen, auch
wenn sie überhaupt keine Beiträge gezahlt haben.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: So ist es!)


Das ist dann aber keine rentenrechtliche Frage, sondern
eine sozialpolitische Frage. Dann geht es letzten Endes
darum, dass ihr nur die Grundsicherung im Alter von
dem jetzigen Betrag von 680 Euro auf 1 050 Euro anhe-
ben wollt. Das sagt dann doch auch! Noch einmal: Das
gehört dann aber nicht in eine Rentendebatte, sondern in
eine sozialpolitische Debatte, und es hat im Rentenkon-
zept letzten Endes nichts zu suchen.


(Beifall bei der SPD)


Übrigens: Da das sozusagen bedingungslos sein soll,
also nicht durch Beiträge hinterlegt werden muss, hat die
Katja Kipping euch bei dem bedingungslosen Grundein-
kommen sicherlich über den Tisch gezogen. Anders
kann ich mir nicht erklären, dass das so darin steht.

Bezüglich der Rente mit 67 bin ich völlig anderer Mei-
nung; das wisst ihr. Innerhalb unserer Partei gibt es auch
keine ausreichende Mehrheit dafür, die Rente mit 67 zu-
rückzunehmen. Ich finde, diese Erkenntnis ist ein Fort-
schritt auch in unserer eigenen Debatte: Wir müssen die
Übergänge in die Rente anders, flexibler und sozialver-
träglicher gestalten.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Da ist was dran!)


Man kann in der Rückschau natürlich sagen: Wir hätten
das eigentlich machen müssen, als wir die Rente mit 67
eingeführt haben. Ich halte hier aber kein Geschichts-
seminar und sage nicht, wer schuld daran ist, dass das
nicht gemacht wurde. Das wäre völliger Quatsch. Wir
haben damals für die Rente mit 67 die Hand gehoben,
und jetzt geht es darum, die Wege dahin vernünftig zu
gestalten.

Was die Erwerbstätigenversicherung angeht, bin ich
der festen Überzeugung, dass es richtig ist, dass jeder,
der ein Erwerbseinkommen hat, in irgendeiner Form in
die sozialen Sicherungssysteme einzahlt. Wie die Kap-
pung oben aussehen soll, zum Beispiel bei einem Abge-
ordneten, sollte man dann allerdings auch konkretisie-
ren, damit man weiß, worauf man sich einlässt.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das steht drin! Steht in der Begründung!)


Ab wann wird gekappt, und in welcher Höhe wird ge-
kappt?


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Toni, das steht in der Begründung drin!)


Das ist auch eine Frage von Akzeptanz.

Jetzt haben 80 000 Selbstständige Frau von der Leyen
per Internet die Mitteilung zukommen lassen, dass sie
nicht zwangsweise in die gesetzliche Rentenversiche-
rung hineinwollen. Also, man braucht auch für einen sol-
chen Weg Akzeptanz.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Weil es zu teuer ist!)


Die Frage Angleichung von Ost und West ist in der
Tat eine, die wir auf dieser Seite des Hauses abladen
können. Sie haben den Menschen im Osten vorgemacht,
Sie führten in dieser Legislaturperiode Schritte zur ren-
tenrechtlichen Angleichung durch. Nichts, gar nichts ist
geschehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Die Menschen im Osten sind an dieser Stelle belogen
worden. Ich sage das, auch wenn es unparlamentarisch
ist. Ich entschuldige mich auch sofort dafür. Es ist in der
Tat so, dass Sie den Menschen vorgemacht haben, Sie
würden ihnen helfen. Einige der Menschen im Osten ha-
ben Sie wahrscheinlich deshalb gewählt, und sie sind mit
Sicherheit und zu Recht maßlos enttäuscht, dass Sie an
dieser Stelle nichts gemacht haben.


(Steffen-Claudio Lemme [SPD]: Das machen diese Menschen nie wieder!)


Zur Rente nach Mindestentgeltpunkten – das steht in
unserem Konzept; das will ich unumwunden sagen –:
Das ist in Ordnung. Da können wir mitmachen.

Zur Frage, ob man Langzeitarbeitslose mit 0,5 Punk-
ten aufwertet: Na ja, man kommt dann schnell in die Ka-
tegorie derer, die für geringe Gehälter arbeiten, die kei-
nen, eventuell nur einen halben oder einen dreiviertel
Entgeltpunkt erarbeiten. Ich sage: Da ist die Rente nach
Mindestentgeltpunkten, also die Aufwertung bei nachge-
lagerter Betrachtung, eigentlich das Richtige. Man sollte
nicht im Voraus sagen, was jemand auf jeden Fall be-
kommt, sondern man sollte im Nachhinein schauen, wel-
che Ansprüche jemand hat und wie man sie entspre-
chend aufwerten muss.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist schon ein Unterschied zwischen der Hälfte und drei Viertel!)


Matthias Birkwald, du siehst, wir sind nicht in allen
Punkten völlig unterschiedlicher Meinung. Aber bei ei-
nigen hätten wir mit Sicherheit noch Diskussionsbedarf,
bevor ich einem solchen Antrag zustimmen könnte. Da-
bei wäre der Charme tatsächlich, wenn wir eine Mehr-
heit hätten, diese Anträge zu beschließen, weil sie sich
ausschließlich an die Bundesregierung richten. Die Bun-
desregierung soll einmal Konzepte vorlegen. Es wäre
spannend, zu sehen, was bei diesem zerstrittenen Haufen





Anton Schaaf


(A) (C)



(D)(B)


dabei herauskommt. Dabei würde nämlich nichts heraus-
kommen, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich danke für die Aufmerksamkeit.


(Zuruf von der CDU/CSU: Unterschätzt uns nicht!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719814700

Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die

Fraktion der FDP unser Kollege Dr. Heinrich Kolb. Bitte
schön, Kollege Dr. Heinrich Kolb.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1719814800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das

Weltbild der Linken ist einfach. Herr Birkwald, Sie wis-
sen, was richtig ist, und an einer echten Diskussion mit
dem Rest des Hauses ist Ihnen nicht wirklich gelegen.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie waren schon besser, Herr Kolb!)


Zu diesem Schluss muss ich jedenfalls kommen – warten
Sie einmal ab, Herr Strengmann-Kuhn –, wenn ich fest-
stelle, dass Sie neun Anträge zur Beratung angemeldet
haben, die uns am Dienstag, spät am Abend, noch nicht
zugegangen waren,


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Ja!)


gestern noch nicht mit einer Bundestagsdrucksachen-
nummer erfasst waren und die wir heute schon mit Ihnen
diskutieren sollen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die haben aber alle höchstens zwei Seiten!)


Das zeigt: Sie sind ignorant. Sie wollen wirklich nicht
die Diskussion in der Sache, sondern Sie wollen nur Ihre
Ideologie nach vorne bringen. An dieser Stelle können
Sie mit uns nicht rechnen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Dann fangen Sie doch mit der Diskussion an!)


Nachdem ich mir diese Anträge heute angesehen
habe, muss ich sagen, dass darin wirklich nichts Neues
ist. Sie bringen zum x-ten Mal die gleichen Forderungen.
Herr Birkwald, Sie kennen vielleicht das Krankheitsbild
der Diarrhö.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Zum Glück nicht!)


Ich sorge mich wirklich, dass irgendjemand in Ihrer
Fraktion an „Graphorrhö“ leidet und nicht mehr kontrol-
lieren kann, was aus seinem Computer oder aus seiner
Feder herausläuft.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist eine Spitzenauseinandersetzung, die Sie da gerade bringen!)


Da wäre wirklich weniger mehr. Wen wollen Sie denn
mit dieser Flut von Anträgen beeindrucken, Herr Kol-
lege Birkwald?


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sagen Sie doch mal was zum Inhalt!)


– Ich sage ja etwas zum Inhalt.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nein!)


– Ich komme schon dazu.

Ich will Ihnen zunächst einmal vorhalten, dass Sie die
falschen Grundannahmen treffen. Wer von falschen
Werten und falschen Annahmen ausgeht, muss am Ende
auch zu falschen Ergebnissen kommen. Am falschesten
ist die Annahme, Deutschland brauche neun Anträge der
Linken, um rentenpolitisch voranzukommen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Das ist wirklich nicht der Fall.

Wir haben mit dem Alterssicherungsstärkungsgesetz,
das sich derzeit in der Ressortabstimmung befindet, sehr
deutlich gemacht, dass wir Anpassungen bei der Zurech-
nung der Erwerbsminderungsrente wollen, dass wir eine
demografiefeste Neufassung des Rehabudgets wollen
– Stichwort „atmender Deckel“ – und dass wir vor allen
Dingen Verbesserungen bei den Hinzuverdienstmöglich-
keiten für Rentner wollen.


(Anton Schaaf [SPD]: Ah!)


Das ist ein wichtiger Schritt, Toni Schaaf, für den flexi-
blen Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Steht das im Gesetzentwurf?)


Daran müssen wir alle ein Interesse haben.

Es ist doch nicht so, dass wir nichts täten. Aber so,
wie Sie das machen – immer wieder einmal hopplahopp
ein paar Anträge fallen lassen, und dann geht es zwei
Wochen später in die nächste Runde –, kommt man ren-
tenpolitisch wirklich nicht voran.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sie haben ja gar nichts! Das ist ja das Problem!)


Es ist immer schön, wenn man Debattenzeit bekommt
– das ist das einzig Positive an Ihren Anträgen –, in der
man sich etwas ausführlicher mit einzelnen Aspekten be-
fassen kann.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Aha!)


Eine weitere Fehlannahme von Ihnen ist nämlich, das
Rentenniveau sinke auf 43 Prozent, das sei im Gesetz so
festgeschrieben.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das stimmt doch nicht! – Anton Schaaf [SPD]: Hat die Ministerin auch gesagt!)


Das steht so nicht im Sozialgesetzbuch VI, Herr Kol-
lege Birkwald. Ich finde da nur eine Rentenformel. Die





Dr. Heinrich L. Kolb


(A) (C)



(D)(B)


Rentenformel beinhaltet einen Nachhaltigkeitsfaktor,
mit dem der Rentenanstieg gedämpft wird,


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Mit dem die Rente gekürzt wird!)


und zwar in Abhängigkeit von dem Verhältnis der Äqui-
valenzrentner – das ist ein statistisches Modell – zu den
Äquivalenzbeitragszahlern. Wie sich das tatsächlich ent-
wickelt, steht auf einem ganz anderen Papier.

Ich will Ihnen einmal Zahlen nennen, damit wir etwas
Neues in die Debatte hineinbekommen. Unter rot-grüner
Regierungszeit sank das Nettorentenniveau von 53,6 Pro-
zent im Jahre 1998 auf 50,0 Prozent im Jahre 2005. Ak-
tuell, Juni 2012, liegt das Rentenniveau praktisch unver-
ändert hoch bei 49,9 Prozent statt den von Walter Riester
damals für diesen Zeitpunkt prognostizierten 47,5 Pro-
zent. Merken Sie etwas? Es kommt darauf an, wie man
es macht, wie sich die Dinge am Arbeitsmarkt entwi-
ckeln. Dann kommen Sie auch zu zählbaren Ergebnissen
in der Politik. In dem Rentenversicherungsbericht 2011
– wir werden bald neuere Zahlen bekommen – geht man
von 47,8 Prozent für 2020 und 46,2 Prozent für 2025
aus. Das ist alles mehr als 43 Prozent.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Aber das fördert alles Armutsrenten!)


Anstatt jetzt Krokodilstränen darüber zu vergießen,
dass das alles so schlimm sei, sollten wir gemeinsam un-
sere Anstrengungen darauf richten, dass über die beein-
flussbaren Faktoren in der Rentenformel die Renten-
anpassung in Zukunft möglichst ungedämpft verläuft.
Das ist doch das Ziel, das uns umtreiben muss.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Dafür haben wir die neun Anträge unterbreitet!)


Dabei sind Flexibilisierung und längere Teilhabe am Er-
werbsleben ein Thema. Da ist die Frage zu beantworten,
wie Teilzeitstellen in Vollzeitstellen umgewandelt wer-
den können, und andere Dinge mehr. Das wäre des
Schweißes der Edlen wert. Aber so, wie Sie das hier ma-
chen, geht es meines Erachtens nicht.

Falsch ist auch Ihre Annahme – das ist der zweite
Punkt, den ich in der verbleibenden Zeit noch kurz anrei-
ßen kann –, das Rentensystem würde dann stabiler, wenn
man mehr Menschen in das System einbezieht. Das ist
falsch.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Ja!)


In dieser einfachen und schlichten Darstellung, wie Sie
das bringen, ist das falsch. Denn die Menschen, die in
das System einbezogen werden, zahlen Beiträge und er-
werben mit ihren Beiträgen Anwartschaften. Das heißt,
man kann vielleicht kurzfristig ein Strohfeuer entfachen.
Aber wir haben in der Rente ein langfristiges und struk-
turelles Problem. Das lösen Sie nicht damit, dass Sie
mehr Menschen in das System aufnehmen.

Man kann natürlich jetzt so wie Sie sagen, wir neh-
men nicht nur mehr Menschen in das Rentensystem auf,
sondern wir schaffen auch die Beitragsbemessungs-

grenze ab und flachen am oberen Ende die Ansprüche
der erworbenen Anwartschaften ab.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Genau!)


Ich sage Ihnen: Das ist verfassungswidrig.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nein!)


Damit werden Sie in Karlsruhe zwangsläufig scheitern.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ich wette dagegen!)


Aber diese beiden Annahmen – mehr Redezeit habe
ich leider nicht – zeigen, dass Sie mit Ihren rentenpoliti-
schen Anträgen auf einem vollkommen falschen Funda-
ment stehen. Ich kann Sie nur noch einmal dazu auffor-
dern, Herr Birkwald – das spart auch ein bisschen Arbeit
und Energie –: Produzieren Sie weniger, aber dafür bes-
sere Anträge.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wir machen viel und das gut! Das ist noch besser!)


Dann haben Sie vielleicht irgendwann einmal die
Chance, mit uns in einen ernsthaften Dialog über Ihre
Vorstellungen einzutreten.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Dass wir mit der FDP in einen ernsthaften Dialog kommen, glaube ich nicht!)


Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719814900

Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn. Bitte schön, Kollege
Dr. Strengmann-Kuhn.


(BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
wäre schön, Herr Kolb, wenn die Regierungskoalition
einmal etwas vorlegen würde, aber es gibt nichts.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es gibt einen Referentenentwurf, der in der Ressortab-
stimmung ist, aber schon wieder kassiert worden ist.
Hier im Bundestag diskutieren wir immer nur über An-
träge der Oppositionsfraktionen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein, es gibt einen!)


Es gibt diesen einen Gesetzentwurf, mit dem der Au-
tomatismus, der im Gesetz steht, umgesetzt werden soll.
Das ist aber auch schon alles. Sonst gibt es keine zu-
kunftsweisenden Konzepte der Regierungskoalition, zu-
mindest keine abgestimmten. Es gibt viele verschiedene
Konzepte. Die FDP hat eines. In der CDU gibt es min-
destens zwei Konzepte. Im BMAS gibt es ein weiteres





Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn


(A) (C)



(D)(B)


Konzept. Die CSU hat eines. Aber hier herrscht Leere.
Darüber kann man nicht diskutieren.

Meine Redezeit läuft schon. Ich kann nicht auf alle
neun Anträge eingehen, sondern will mich auf vier
Punkte konzentrieren.

Es ist immer wichtig, zu schauen: Wohin will man bei
der Rente langfristig? Dann weiß man auch, was jetzt zu
tun ist. Ein wesentliches Ziel in dem grünen Rentenkon-
zept ist, langfristig eine Bürger- und Bürgerinnenversi-
cherung auch in der Rente zu schaffen. Das, was Sie
eben dazu gesagt haben, Herr Kolb, ist falsch.


(Anton Schaaf [SPD]: So ist das!)


Natürlich ist es nachhaltiger, wenn man mehr Menschen
in der Rentenversicherung hat. Sonst würden sich auch
mehr Geburten nicht nachhaltig auswirken. Wenn mehr
Kinder geboren werden, bekommen auch sie irgendwann
einmal Rente. Mehr Menschen in die Rentenversiche-
rung einzubeziehen, ist ökonomisch nichts anderes, als
mehr Geburten zu haben. Insofern ist eine Ausweitung
auf weitere Bevölkerungsgruppen genauso effektiv wie
mehr Geburten. Sie ist sogar effektiver, weil man nicht
noch 18 Jahre warten muss, bis die Menschen einzahlen;
vielmehr zahlen sie sofort ein.


(Zuruf des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP])


– Stellen Sie eine Zwischenfrage, dann kann ich darauf
reagieren.

Mit einer Bürgerversicherung, in die alle – Selbststän-
dige, Beamte, Politiker, Politikerinnen, alle Bürgerinnen
und Bürger – einzahlen und an der möglichst alle Ein-
kommen beteiligt sind, bekommt man langfristig eine
nachhaltige Finanzierung hin. Das wäre sozial gerecht
und ökonomisch nachhaltig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir wissen, dass wir diese Bürgerversicherung nicht
auf einmal hinbekommen. Das wird schrittweise erfol-
gen. Die Wirkung wäre sowieso nur langfristig spürbar.
Wir müssen aber schneller agieren.

Deswegen haben wir zweitens das Konzept einer grü-
nen Garantierente; das haben wir hier schon des Öfteren
präsentiert. Es beinhaltet das Prinzip, dass bei mindes-
tens 30 Versicherungsjahren – nicht Beitragsjahren, son-
dern Versicherungsjahren – 30 Entgeltpunkte garantiert
werden. Das wäre ein Niveau, das über dem durch-
schnittlichen Grundsicherungsniveau liegt. Langfristig
Versicherte wären damit so gestellt, dass sie nicht auf
Grundsicherung angewiesen sind. Dadurch erhöhen wir
die Akzeptanz der Rentenversicherung und verhindern
drohende Altersarmut. Diese grüne Garantierente ist ein
zentrales grünes Konzept.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dritter Punkt: Ost-West-Angleichung. Dazu sagen
auch wir, dass wir – wir wollen das noch schneller als
die Linken – ein einheitliches Rentenrecht in Ost und
West brauchen. Nach über 20 Jahren deutscher Einheit
ist es wichtig, die innerdeutsche Mauer bei der Rente
endlich abzureißen und ein einheitliches Rentenrecht zu

schaffen. Wir wollen, dass der Rentenwert Ost auf den
Rentenwert West angehoben wird; denn Altersarmut ist
besonders im Osten bedrohlich. Sie wird dort besonders
ansteigen. Die Garantierente, die wir vorschlagen, soll
im Osten genauso hoch sein wie im Westen.

Wir wollen das aber nicht wie die Linken machen,
sondern wir wollen es kostenneutral finanzieren. Das
heißt, die bisher erworbenen Rentenansprüche sollen
gleich bleiben und in Zukunft in Ost und West einheit-
lich berechnet werden. Das soll aber, wie gesagt, mit ei-
ner Garantierente verbunden werden, die in Ost und
West gleich ist.

Vierter und letzter Punkt. Nachhaltige Finanzierung
ist für uns ein ganz zentrales Ziel. Wir wollen langfristig
nachhaltige, stabile Beitragssätze in der Rentenversiche-
rung haben. Aus dem Grund ist es falsch, jetzt die Ren-
tenbeiträge zu senken. Das ist kurzsichtig und nicht
nachhaltig. Wir wollen, dass die Rentenbeiträge jetzt
nicht gesenkt werden, damit sie über das Jahr 2020 hi-
naus kontinuierlich unter 20 Prozent bleiben können.

Außerdem wollen wir frei werdende Mittel dafür ver-
wenden – das ist ein zentrales Problem, das auch schon
angesprochen worden ist –, die Erwerbsminderungsrente
zu verbessern. Wer aus medizinischen Gründen nicht
mehr arbeiten darf, für den sollten die Abschläge abge-
schafft werden.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)


Bürgerversicherung, Garantierente und stabile Bei-
tragssätze sind Kernelemente des grünen Rentenkon-
zepts. Ein solches Rentenkonzept wäre ökonomisch,
nachhaltig und sozial gerecht.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719815000

Vielen Dank, Kollege Dr. Strengmann-Kuhn. – Letz-

ter Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der
CDU/CSU unser Kollege Max Straubinger. Bitte schön,
Kollege Max Straubinger.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1719815100

Geschätzter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und

Kollegen! Die Fraktion Die Linke überhäuft uns
wiederum mit Anträgen, die sie schon x-mal gestellt hat
und die letztendlich nur dazu dienen, hier ein Bild zu
zeichnen von einer angeblich sehr schwierigen Rentensi-
tuation in Deutschland. Das ist ein verzerrtes Bild.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Heute hat das Statistische Bundesamt nachgewiesen, dass die Zahlen der Grundsicherung um 5,9 Prozent gestiegen sind!)


Ich möchte zuerst feststellen, Herr Kollege Birkwald,
dass das Rentenniveau in Deutschland ständig steigt und
dass darüber hinaus vor allen Dingen auch die Finanz-





Max Straubinger


(A) (C)



(D)(B)


grundlagen für die Rentenversicherung von dieser Bun-
desregierung nachhaltig gefördert worden sind. Deshalb
haben wir stabile Rentenfinanzen. Darauf können sich
die Bürgerinnen und Bürger verlassen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Kollege Weiß hat bereits darauf hingewiesen, dass
heute sehr viele Wünsche geäußert werden. Es ist unge-
fähr wie beim Wunsch an das Christkind. Vieles von
dem, was gefordert wird, überlegen auch wir; manches
ist auch von uns abgeschrieben worden.


(Lachen bei der LINKEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Davon träumen Sie nachts!)


Dafür hätten wir die Linken nicht benötigt.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Unser Rentenkonzept ist im Januar vorgelegt worden! Davon träumen Sie echt nachts! – Anton Schaaf [SPD]: Der war gut!)


Entscheidend ist aber auch, dass wir auf die Finan-
zierbarkeit und die Beitragszahlerinnen und Beitragszah-
ler in unserem Land achten. Ich glaube, dies ist wichtig
und entscheidend für eine verantwortliche Rentenpolitik.

Ich möchte mich nicht mit allen Anträgen in irgendei-
ner Art und Weise befassen. Aber eines ist für mich ent-
scheidend und wichtig, nämlich dass die Linke wieder
eine Angleichung der Ost- und Westrenten fordert. Ich
bin sehr dafür, auf einer tatsächlich sachlich fundierten
Grundlage darüber zu reden und es dann vor allen Din-
gen auch in ein Gesetz zu fassen.


(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Dann machen Sie doch mal eine sachlich fundierte Vorlage! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Warum legen Sie dann keinen Gesetzentwurf vor?)


Aber es geht natürlich nicht so, wie Sie es wollen, Herr
Kollege Birkwald. Erstens insinuieren Sie mit Ihrem An-
trag, es gäbe eine Benachteiligung der Rentnerinnen und
Rentner und der Menschen im Osten Deutschlands. Das
ist keineswegs der Fall.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Fragen Sie die mal, dann sagen die Ihnen was anderes!)


Denn Sie wissen haargenau, dass die Renten aufgestockt
werden und dementsprechend mittlerweile feststellbar
ist, dass das Rentenniveau im Osten Deutschlands im
Durchschnitt höher ist als im Westen Deutschlands.

Darüber hinaus gilt auch unter aktuellen Gesichts-
punkten, Herr Kollege Birkwald: Wenn jemand im Osten
ein Bruttoeinkommen von 30 000 Euro im Jahr hat


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist schon ein Annahmefehler! Das gibt es ja so gut wie nicht!)


und im Westen ebenfalls 30 000 Euro die Grundlage
sind, dann erwirbt man im Osten Deutschlands eine Ren-
tenanwartschaft von 27,08 Euro im Jahr und im Westen
Deutschlands von 25,95 Euro im Jahr. Das zeigt sehr

deutlich, dass die derzeitige Situation die Menschen im
Osten bei der Rentenversicherung bevorteilt.

Ein weiterer Punkt: Derzeit wird sehr viel über ange-
hende Altersarmut und insgesamt über Altersarmut in
unserer Gesellschaft gestritten. Es ist bezeichnend, dass
wir immer darauf bauen und derzeit auch darauf bauen
können, dass es eine geringe Inanspruchnahme von
Grundsicherungsleistungen gibt, weil die Versorgung
aus der gesetzlichen Rentenversicherung gut ist. Das
zeigt sich vor allen Dingen auch sehr deutlich für die
Bürgerinnen und Bürger im Osten.

Die Enquete-Kommission des Landtages von Meck-
lenburg-Vorpommern „Älter werden in Mecklenburg-
Vorpommern“ stellt in einer Kommissionsdrucksache
vom 9. Oktober 2012 als Fazit fest – ich darf daraus zi-
tieren –:

In Deutschland wird derzeit viel von Altersarmut
gesprochen und insbesondere auf die prekäre Lage
von Rentnerinnen verwiesen. Die aktuellen Zahlen
beschreiben jedoch ein ganz anderes Bild – auch in
MV.

Den Älteren steht heute tendenziell mehr Einkom-
men zur Verfügung als noch vor zehn Jahren,

– hört, hört! –

weit über 80 % verfügen über ein gewisses Geld-

(40 – 50 % je nach Altersklasse)

vor; rund ein Viertel der Rentnerhaushalte und 43 %
der Jüngeren unter den Älteren (55 – 64 Jahre) kann
auf Versicherungsansprüche aus Lebens- und priva-
ter Rentenversicherung bauen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Und die andere Hälfte?)


Der Anteil von Grundsicherungsbeziehern unter
den Älteren ist und bleibt vermutlich bis 2020 eher
gering.

Er liegt derzeit bei 1,5 Prozent.

Mehr als die Hälfte der über 75-jährigen Frauen in
den neuen Bundesländern beziehen neben Versiche-
rungsrenten auch Witwenrenten und erreichen hier-
durch von allen Vergleichsgruppen das höchste
Renteneinkommen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Weil sie jahrzehntelang gearbeitet haben! Die haben geschlossene Erwerbsbiografien!)


In MV beziehen rund 34 % der Rentnerinnen Mehr-
fachrenten und erzielen auf diese Weise ein Ein-
kommen, das seit 2004 jedes Jahr anstieg; 2011 be-
trug es 1 230 Euro. Die Analyse des Bezugs von
Mehrfachrenten zeigt, dass es notwendig ist, sorg-
fältig zwischen den Aussagen zu Renten und Rent-
nern zu unterscheiden.

Ich glaube, dass es notwendig ist, bei der Frage von
Altersarmut auch darüber zu diskutieren und dies viel-
leicht auch einmal stärker in das Blickfeld der Öffent-
lichkeit zu rücken. Ich danke ausdrücklich für diese





Max Straubinger


(A) (C)



(D)(B)


Kommissionsdrucksache, die von der Universität Ros-
tock erarbeitet worden ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Damit bin ich auch schon am Ende meiner Redezeit.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Die Anträge
der Linken werden wir natürlich ablehnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719815200

Wir sind am Ende unserer Aussprache, liebe Kolle-

ginnen und Kollegen.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/10990 bis 17/10998 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sie sind damit einverstanden? – Ich sehe keinen Wider-
spruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Flexibilisierung von haushaltsrechtlichen
Rahmenbedingungen außeruniversitärer Wis-

(Wissenschaftsfreiheitsgesetz – WissFG)

– Drucksachen 17/10037, 17/10123 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung (18. Ausschuss)


– Drucksache 17/11046 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Tankred Schipanski
René Röspel
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Petra Sitte
Krista Sager

Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke vor.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach einer inter-
fraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine
Dreiviertelstunde vorgesehen. Sie sind damit einverstan-
den? – Dann haben wir das auch gemeinsam so be-
schlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin in unserer
Aussprache ist für die Bundesregierung Frau Bundes-
ministerin Dr. Annette Schavan. Bitte schön, Frau Bun-
desministerin.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-
dung und Forschung:

Danke schön, Herr Präsident. – Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren!
Einrichtungen der Wissenschaft stehen in einem starken
internationalen Wettbewerb um Wissen und Technolo-
gien, und sie stehen in einem Wettbewerb um gute Rah-

menbedingungen, der ebenso stark ist. Sie brauchen Ge-
staltungsspielraum, sie brauchen Handlungsfreiheit,
Eigenverantwortung, einen autonomen Status ihrer Insti-
tution. Dies beschäftigt uns seit langem. Ich habe gerade
Frau Flach, die sich, bevor sie ins Gesundheitsministe-
rium ging, viele Jahre dafür stark gemacht hat, gesagt,
dass es uns nun gelingt, den Einrichtungen die Bedin-
gungen zu geben, die notwendig sind, um international
stark und souverän auftreten zu können.


(Beifall bei der FDP)


Der Gesetzentwurf, den wir heute in zweiter und drit-
ter Lesung beraten, hat deshalb auch einen starken und
ungeteilten Zuspruch aus der Wissenschaft bekommen.
Er hat über Fraktionsgrenzen hinweg einen breiten poli-
tischen Konsens gefunden; das freut mich. Das Gesetz
ist damit nicht nur ein Gesetz der einen oder anderen
Gruppe im Parlament, sondern auch das Ergebnis eines
langjährigen Dialoges der wissenschaftspolitischen
Sprecher mit unseren Wissenschaftsorganisationen. Drei
Säulen tragen dieses Gesetz: Autonomie, Eigenverant-
wortung und Transparenz.

Autonomie heißt Selbstständigkeit, wenn es um Pro-
fil, Programme, Projekte und Strategien geht. Die Ein-
richtungen müssen selbst entscheiden können. Wenn
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Forschungs-
projekte betreuen und gestalten, müssen sie immer auch
kurzfristig die Möglichkeit haben, neue Wege zu gehen,
umzuplanen und bislang nicht Vorhersehbares aufzugrei-
fen. Neue Ansätze müssen berücksichtigt werden, For-
schungsergebnisse in die weiteren Planungen aufgenom-
men werden. Hierfür ist größtmögliche Flexibilität in der
Mittelbewirtschaftung erforderlich. Dafür sind Global-
haushalte notwendig. Genau das ermöglicht dieses Ge-
setz.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich nenne Ihnen ein Beispiel, das viele von uns in den
letzten Jahren verfolgt haben: Die Gründungsphase des
Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankun-
gen hat uns gezeigt, wie wichtig diese operative Flexibi-
lität vor Ort ist. Nur so können wir aktuelle, gesellschaft-
lich relevante Forschungsgebiete zügig erschließen und
uns im internationalen Vergleich an der Spitze positio-
nieren.

Die Wissenschaftseinrichtungen werden durch das
Gesetz mehr Freiheit und Selbstständigkeit bei Finanz-
und Personalentscheidungen, bei Kooperationen und
Bauvorhaben erhalten. Wir machen Ernst mit der De-
regulierung und in der Folge dann auch mit dem Büro-
kratieabbau, nicht nur, weil es effizienter ist, sondern
auch, weil wir die Einrichtungen und ihre Mitarbeiterin-
nen und Mitarbeiter darin unterstützen wollen, sich auf
ihre Kernkompetenzen zu konzentrieren. Wir wissen,
das steigert die Leistung.

Zweitens: Eigenverantwortung. Freiheit ist an Verant-
wortung gebunden. Deshalb kann ich Ihnen versichern
– das sage ich ganz besonders den Mitgliedern des Haus-
haltsausschusses, die uns berechtigterweise viele Fragen
gestellt haben –: Die Pilotphase der Wissenschaftsfrei-
heitsinitiative hat gezeigt, dass die Einrichtungen maß-





Bundesministerin Dr. Annette Schavan


(A) (C)



(D)(B)


voll und verantwortungsbewusst mit ihrer Selbstständig-
keit umgehen und dass sie unser Vertrauen verdient
haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Mehr Eigenverantwortung bedeutet auch, die Detail-
steuerung durch Staat und Verwaltung weiter zurückzu-
fahren. Das bedeutet aber nicht Regellosigkeit. Die Ver-
antwortungsbereiche von Wissenschaftseinrichtungen,
Staat und Politik werden insgesamt klarer gefasst und
damit auch transparenter. Ich glaube, das ist ein zentraler
Punkt. Wir bauen nicht Regeln ab. Autonomie heißt
nicht Anarchie. Vielmehr haben wir neue Formen der
Rechenschaftsgebung und der Rechenschaftslegung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Drittens: Transparenz. Transparente Strukturen ma-
chen Verantwortung sichtbar. Mit dem Monitoring zum
Pakt für Forschung und Innovation und mit den damit
verbundenen Zielvereinbarungen haben wir bereits gute
Erfahrungen gemacht. Auf diesen Erfahrungen bauen
wir auf. Wir wollen kein starres Berichtswesen, sondern
ein flexibles Instrumentarium, mit dem wir auch kurz-
fristig auf aktuelle Entwicklungen reagieren können. Wir
wollen keine neue Bürokratie, sondern wir wollen den
Abbau bisheriger Bürokratie.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine Damen und Herren, das Wissenschaftsfreiheits-
gesetz ist schlank konzipiert. Herr Professor Schubert
vom Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsfor-
schung hat dies im Rahmen der Expertenanhörung zur in-
haltlichen Seite des Gesetzentwurfes treffend formuliert.
Ich zitiere: Es sind sieben einfache Paragrafen, die in wei-
ten Bereichen oder in weiten Teilen eine Diskussion be-
enden – zumindest für die außeruniversitäre Forschung –,
die wir nun seit mindestens 20 Jahren führen.

Ich bin davon überzeugt: Das Wissenschaftsfreiheits-
gesetz wird dem gesamten Wissenschaftssystem positive
Impulse geben. In diesem Zusammenhang nenne ich
ausdrücklich auch die Ressortforschungseinrichtungen.
Mit dem Entwurf für den Haushalt 2013 hat die Bundes-
regierung auch für solche Einrichtungen wichtige Flexi-
bilisierungen auf den Weg gebracht.

Und ich freue mich sehr, dass das Parlament auch den
DAAD und die Alexander-von-Humboldt-Stiftung in
dieses Gesetz aufnimmt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


– Danke an alle. – Auch hier gilt das Struck’sche Gesetz:
Kein Gesetz geht so hinaus, wie es hereingekommen ist.
Dies begrüße ich außerordentlich.

Meine Damen und Herren, ich ermutige schließlich
die Länder, im Blick auf die Hochschulen ausdrücklich
gemeinsam mit uns diesen Weg zu gehen. Wir haben
viele Kooperationen zwischen Hochschulen und außer-
universitären Forschungseinrichtungen, und genau da-

für ist es wichtig, dass auch die Hochschulen ein ver-
gleichbares Maß an Autonomie erhalten.

Ich bin davon überzeugt: Für die Wissenschaft in
Deutschland, für die betroffenen Wissenschaftseinrich-
tungen ist dieses Gesetz Signal zum Aufbruch, eine wei-
tere Etappe zur Stärkung in einem harten internationalen
Wettbewerb.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719815300

Vielen Dank, Frau Bundesministerin. – Nächster Red-

ner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der Sozial-
demokraten unser Kollege René Röspel. Bitte schön,
Kollege Röspel.


(Beifall bei der SPD)



René Röspel (SPD):
Rede ID: ID1719815400

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Zunächst, Frau Ministerin Schavan, herzlichen
Dank, dass Sie mit relativ wenig Pathos und sehr sach-
lich in das Wissenschaftsfreiheitsgesetz eingeführt ha-
ben.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: So ist sie eben!)


Wir haben das in den letzten Wochen und Monaten in
den Ausschussanhörungen oder in den Debatten manch-
mal durchaus etwas anders erlebt.

Wir debattieren heute in der Tat nicht über Wissen-
schaftsfreiheit. Das haben wir im Hohen Hause an ande-
rer Stelle durchaus gemacht, immer dann, wenn die Wis-
senschaftsfreiheit wirklich tangiert war, bei embryonaler
Stammzellforschung und Ähnlichem.

Beim Wissenschaftsfreiheitsgesetz geht es um die
Flexibilisierung haushaltsrechtlicher Rahmenbedingun-
gen der Forschung, also Erleichterungen im Wissen-
schaftsmanagement.


(Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Es geht um die Freiheit! – Zuruf von der FDP: Das ist eine Initiative der FDP-Fraktion!)


Das ist eine Initiative der Großen Koalition von 2008.
Ich habe schon damals kritisiert, dass der Titel eigentlich
zu hoch gehängt ist, wenngleich viele der Maßnahmen
für außeruniversitäre Einrichtungen durchaus sinnvoll
sind. Wir stärken damit sozusagen ein Bein im Mara-
thonlauf um ein besseres Bildungs- und Wissenschafts-
system in Deutschland und mehr Wettbewerbsfähigkeit
im internationalen Vergleich.

Aber auch das andere Bein muss man immer im Blick
behalten: Das ist die universitäre Forschung. Im Hin-
blick darauf, wie die Hochschulen künftig aufgestellt
sind, treibt uns doch die Sorge um. Auch dieses Bein
muss weiterentwickelt werden. Leider geht die Debatte
über die Änderung des Grundgesetzes heute Abend zu
Protokoll. Wir hätten Ihnen gerne in dieser Debatte un-
sere Vorschläge vorgestellt, wie man dauerhaft, nachhal-





René Röspel


(A) (C)



(D)(B)


tig und sicher Bildung, aber auch universitäre Hoch-
schulforschung und -lehre besser finanzieren kann.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Das ist dringend notwendig; denn wenn Sie nur bei ei-
nem Bein den Muskel stärken, werden Sie feststellen,
dass Sie irgendwann im Kreis laufen und nicht wirklich
vorankommen.

Unabhängig davon bedeutet das Wissenschaftsfrei-
heitsgesetz für außeruniversitäre Einrichtungen sicher-
lich einen Fortschritt. Ich will den beiden Berichterstat-
tern, Herrn Schipanski und Herrn Rehberg, ausdrücklich
meinen Dank dafür aussprechen, dass sie unser Ge-
sprächsangebot angenommen haben, zu schauen, an wel-
chen Stellen wir gemeinsam noch etwas verbessern kön-
nen. Daraus ist ein interfraktioneller Antrag geworden.
Dass nun auch die Alexander-von-Humboldt-Stiftung
und der DAAD in das Gesetz aufgenommen sind, ist si-
cherlich ein Fortschritt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Das führt dazu, dass wir diese Initiative mit einer Enthal-
tung begleiten.

Zustimmen können wir leider nicht, weil wir an ande-
ren Stellen – das werden Sie uns nachsehen – weiterhin
Probleme oder Verbesserungsbedarf sehen. Wir hätten es
zum Beispiel besser gefunden, wenn die Ressortfor-
schungseinrichtungen des Bundes verbindlicher in das
Gesetz aufgenommen worden wären, als das jetzt über
Maßnahmen haushaltsrechtlicher Art erfolgt. Dieser
Punkt war uns wichtig; doch wir haben ihn leider nicht
hineinverhandeln können. Schon jetzt erreichen uns An-
fragen aus den entsprechenden Instituten,


(Klaus Hagemann [SPD]: So ist es!)


warum sie, die sie doch gute Forschung machen, nur
deswegen, weil sie zum Bund gehören, von den Rege-
lungen des Wissenschaftsfreiheitsgesetzes keinen Ge-
brauch machen könnten.

Andere Punkte, die wir für wichtig und richtig halten
– wir finden es gut, dass das endlich kommt –, sind De-
ckungsfähigkeit und Überjährigkeit. Nach der Vorlauf-
phase, die es gab, wird es den Instituten jetzt endlich
möglich sein, Sachmittel, die nicht abgerufen worden
sind, in Personalmittel umzuschichten und damit zum
Beispiel für die nächsten Jahre einen Doktoranden zu fi-
nanzieren. Das ist wirklich gut für die außeruniversitäre
wissenschaftliche Arbeit. Schlecht wäre es allerdings,
wenn umgekehrt der Fall entstünde, dass vorhandene
Personalmittel, die nicht abgerufen wurden, in Sachmit-
tel umgewandelt werden und damit zum Beispiel – zuge-
gebenermaßen ein extremes Beispiel – dem neuen Di-
rektor eine Dienstvilla gebaut wird; im Gesetz steht ja
auch etwas von baurechtlichen Erleichterungen. Wenn
die Bürger uns fragen würden: „Warum macht ihr so et-
was?“, könnten wir kaum sagen: Wir haben den Institu-
ten 1 Milliarde Euro zur Verfügung gestellt; was sie da-
mit machen, wissen wir jedoch nicht.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Wer macht denn so was? Das macht doch keiner!)


Deswegen ging es in einem unserer Anträge – er
wurde im Ausschuss leider abgelehnt – um ein verbes-
sertes Steuerungs- und Informationssystem, das das Par-
lament beschließt, um die Kontrolle nachvollziehbar und
sichtbar zu machen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Natürlich Kontrolle! Wie denn sonst?)


Wir sind es, die dem Bürger gegenüber zu rechtfertigen
haben, was mit dem Geld, das den Einrichtungen zur
Verfügung gestellt wird, passiert. Das ginge über das hi-
naus, was in § 3 Abs. 3 des Entwurfs des Wissenschafts-
freiheitsgesetzes steht; da kommt das aus unserer Sicht
zu kurz. Da hätten wir uns eine stärkere parlamentari-
sche Beteiligung gewünscht.

Gut für die außeruniversitären Einrichtungen ist si-
cherlich auch, dass man Berufungen, Neueinstellungen
von Spitzenwissenschaftlern dadurch begleiten kann,
dass man ihnen ein höheres Gehalt zahlt, als eigentlich
vorgesehen ist – solange dieses zusätzliche Geld aus
nichtöffentlichen Quellen kommt.

So gut das für die außeruniversitären Einrichtungen
ist, so sehr sehen wir auch drei Probleme, die damit ver-
bunden sind:

Erstens führt ein solches Verfahren zu einem Un-
gleichgewicht in den Instituten. Wir bekommen schon
jetzt mit, dass sich viele Mitarbeiter zu Recht fragen, wa-
rum es eine Stärkung in der Spitze und nicht in der
Breite gibt. Über das Tarifsystem in außeruniversitären
Forschungseinrichtungen wird an anderer Stelle, im Zu-
sammenhang mit dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz,
zu reden sein.

Das zweite Problem, das wir sehen, ist: Wie steht es
eigentlich mit der Unabhängigkeit von Spitzenwissen-
schaftlern, wenn künftig über private Industriebeiträge
ein Teil ihres Gehalts finanziert wird? Kann Unabhän-
gigkeit wirklich gewährleistet werden? Ich habe zwar
erst einmal Vertrauen in die Wissenschaft,


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das ist gut!)


aber es ist ein schwieriger Ansatz, das muss man schon
sagen.

Das dritte Problem, das wir sehen, ist: Wie ist das im
Verhältnis zu Universitäten und Hochschulen, die es sich
nicht leisten können, diesen zusätzlichen Zuschlag zu
gewähren? Auch da ist die Balance zwischen außeruni-
versitärer und universitärer Forschung ein Problem.

Leider haben Sie unseren Antrag, etwas für den wis-
senschaftlichen Nachwuchs – und nicht nur für die
Spitze – zu machen, im Ausschuss abgelehnt. Das hätten
wir für gut befunden. Wissenschaftsfreiheit in unserem
Sinne bedeutet nämlich auch, dass Wissenschaftler frei
von Sorgen um ihre Existenz forschen und kreativ arbei-
ten können.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)






René Röspel


(A) (C)



(D)(B)


Das bedeutet, eine Zukunftsperspektive und vernünftige
Arbeitsbedingungen zu schaffen. Dafür werden wir uns
weiterhin einsetzen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1719815500

Vielen Dank, Kollege René Röspel. – Nächster Red-

ner für die FDP-Fraktion ist unser Kollege Dr. Peter
Röhlinger. Bitte schön, Kollege Dr. Röhlinger.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Peter Röhlinger (FDP):
Rede ID: ID1719815600

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute ist ein
Tag für die Wissenschaft. Wir freuen uns darüber. Wenn
wir ehrlich sind, dann müssen wir feststellen – ich kann
das zumindest für meine Fraktion sagen –: Insbesondere
Grundlagenforschung hat nicht so eine große Lobby, wie
man sich das manchmal wünscht. Schauen Sie sich die
Programme der Parteien einmal dahin gehend an, wie
häufig sich dort das Wort „Grundlagenforschung“ wie-
derfindet. Ich habe es getan. Ich war erstaunt, wie groß
die Differenz ist: „Bildung“ ja; „Grundlagenforschung“
und „Forschung“ schon nicht so sehr. Insoweit ist es ein
gutes Zeichen, mit dem heutigen Tag diesen Akzent über
die Parteigrenzen hinaus zu setzen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie des Abg. Klaus Hagemann [SPD])


Dies ist ein Zeichen der Politik für Verlässlichkeit und
Dauerhaftigkeit, insbesondere auch ein Zeichen von Ver-
trauen. Wir haben es heute schon von der Ministerin ge-
hört: Es ist ein Ausdruck der Einheit von Freiheit und
Verantwortung. Wir wollen einen Beitrag dazu leisten,
dass die Wissenschaftseinrichtungen nicht gegängelt
werden, sondern dass sie einen gewissen Entscheidungs-
spielraum haben, der ihnen Luft zum Atmen gibt.

Meine Damen und Herren, uns allen liegt die Be-
schlussempfehlung und der Bericht des Bundestagsaus-
schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung zur Annahme des Entwurfs eines
Wissenschaftsfreiheitsgesetzes mit Änderungen vor. Bei
genauerem Hinsehen werden wir unschwer erkennen:
Auch dieses Mal ist es gelungen, dem Grundsatz zu fol-
gen, dass ein Gesetz das Plenum anders verlässt, als es
Eingang gefunden hat. Dies ist also Ausdruck dessen,
dass wir zuhören.


(Klaus Hagemann [SPD]: Aber nicht vollständig!)


Herr Röspel, Sie haben es angesprochen: Es gibt beim
Gesetzgeber, insbesondere bei den Koalitionären, durch-
aus das Begehren bzw. den Wunsch, den Oppositions-
parteien so weit entgegenzukommen, möglichst einen
Antrag auf den Weg zu bringen, bei dem es partei- und
fraktionsübergreifend die Möglichkeit der Zusammenar-
beit gibt. Das geht nicht bis zum Schluss, und irgendwie
muss die Opposition auch Kante zeigen, wie man in der

Politik sagt. Aber in vielen Dingen ist es uns doch gelun-
gen. Ich freue mich darüber, dass der Änderungsantrag
der christlich-liberalen Koalition zum Gesetzentwurf
auch von der SPD mitgetragen wurde.


(René Röspel [SPD]: Das war anders herum! – Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein gemeinsamer Antrag gewesen!)


Das ist insofern bemerkenswert, als das zugleich als ein
Signal – Herr Röspel, hören Sie genau zu –


(René Röspel [SPD]: Ich höre immer gut zu!)


an die von der SPD geführten Landesregierungen ver-
standen werden kann,


(Klaus Hagemann [SPD]: Aber an die anderen auch! An die schwarz-gelben auch!)


schnell entsprechende Landesgesetze auf den Weg zu
bringen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Klaus Hagemann [SPD]: Eure auch!)


Der Bund kann nicht alles alleine machen, und das will
er auch gar nicht.


(Patrick Meinhardt [FDP]: Sehr gut! Gebt den Hochschulen Freiheit!)


Hier sind die Landesregierungen gefragt. Alle Initiati-
ven, diesbezüglich etwas auf den Weg zu bringen, wer-
den von uns unterstützt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dieses Gesetz verbinde ich ganz persönlich mit einer
Erinnerung. Als ich mich nach Berlin in den Bundestag
beworben habe, bin ich zu den Präsidenten dieser Ein-
richtungen gegangen und habe sie gefragt: Was kann ich
für euch tun? Ich war über die Antworten erstaunt, denn
mir wurde gesagt: Geld brauchen wir nicht, Herr
Röhlinger,


(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh!)


wir brauchen weniger Bürokratie. Uns stört diese ewige
Gängelung. Sehen Sie bitte zu, dass das aufhört. Wir
wollen weniger Beobachtung, dafür mehr Unterstützung
und mehr Freiraum.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Das ist uns gelungen. In diesem Zusammenhang be-
danke ich mich ganz herzlich bei all denen, die den Ge-
setzentwurf auf den Weg gebracht haben. Ist Frau Flach
noch da? Ja, da hinten sind Sie, liebe Frau Flach.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719815700

Vielleicht können Sie ihr das direkt sagen; denn Ihre

Redezeit ist mehr als abgelaufen.


Dr. Peter Röhlinger (FDP):
Rede ID: ID1719815800

Alles Gute auf diesem Wege!


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719815900

Die Kollegin Dr. Petra Sitte hat jetzt das Wort für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Petra Sitte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719816000

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir be-

raten heute einen Gesetzentwurf, den die Koalition ge-
wissermaßen in einem Anflug von Hochstapelei als Wis-
senschaftsfreiheitsgesetz bezeichnet hat.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Ulla Burchardt [SPD] – Lachen bei der CDU/CSU und der FDP – Patrick Meinhardt [FDP]: Das ist Hochstapelei, was Sie machen!)


Genau genommen – Herr Röspel hat schon darauf
hingewiesen – geht es gar nicht um Wissenschaftsfrei-
heit. Vielmehr geht es darum, dass Institutsleitungen,
Präsidien und Forschungsministerien mehr Handlungs-
spielraum bekommen sollen.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Also mehr Freiheit!)


Insofern wäre es allemal ehrlicher gewesen, wenn Sie
das ganze Konstrukt „Wissenschaftsmanagementge-
setz“ genannt hätten. Aber nein, wie man Sie so kennt,
schlagen Sie lieber ein bisschen Schaum auf einer
Pfütze, die ziemlich flach, trübe und natürlich auch klein
ist.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Hey! Wir sind doch nicht beim Karneval!)


Die Linke fürchtet nach den Erfahrungen der letzten
Jahre allerdings, dass die Wissenschaftsfreiheit eher ver-
liert als gewinnt. Das will ich Ihnen gerne erklären.

Das Problem liegt gar nicht so sehr in den acht
schlichten Paragrafen, für die Sie immerhin drei Jahre
gebraucht haben, sondern vielmehr in dem, was gerade
nicht in dem Entwurf steht. Jetzt wollen Sie sozusagen
Globalhaushalte einführen, Sie wollen Stellenpläne ab-
schaffen, Sie wollen, dass sich die Einrichtungen leichter
an Unternehmen beteiligen können. Schließlich sollen
die einrichtungseigenen Kompetenzen bei Bauverfahren
erweitert werden.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Gut erkannt!)


Insoweit könnte man jetzt meinen, dass Entwarnung
signalisiert werden könnte – wenn sich nicht in den letz-
ten Tagen ausgerechnet der Bundesrechnungshof kri-
tisch bis ablehnend zu Wort gemeldet hätte.


(Patrick Meinhardt [FDP]: Na und?)


Aber auch das haben Sie in der gestrigen Turboberatung
im Bildungsausschuss ganz tapfer ignoriert.


(Patrick Meinhardt [FDP]: Noch bin ich frei gewählter Abgeordneter!)


Für die Linke ergeben sich, wie ich es schon angedeu-
tet hatte, Probleme vor allem aus dem, was nicht in die-
sem Gesetz enthalten ist. Sie zelebrieren sozusagen den

Rückzug aus angeblicher staatlicher Detailsteuerung und
verkennen gänzlich, dass Sie sich auch aus Ihrer politi-
schen Verantwortung zurückziehen.


(Beifall bei der LINKEN)

Mit solchen Fragen, wie man in den Einrichtungen,

wenn man ihnen schon mehr Autonomie einräumt, mehr
Transparenz oder größere Mitbestimmung für ihre Be-
schäftigten schaffen kann, haben Sie sich schon gar nicht
belastet.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das ist auch nicht unsere Aufgabe!)


Hierzu will ich Ihnen gerne ein Beispiel nennen:
Wenn man auf Stellenpläne verzichtet und das Besser-
stellungsverbot für Wissenschaftlerinnen und Wissen-
schaftler aufhebt,


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Ein Meilenstein!)


dann ergeben sich daraus nicht nur für diese Gruppe,
sondern für alle Beschäftigten Konsequenzen. Warum
ergeben sich für alle Beschäftigten daraus Folgen: Weil
das Besserstellungsgebot nicht für alle Beschäftigten
gilt; Herr Röspel hat das bereits angedeutet. Es soll nur
für das Personal gelten, das einen sogenannten wesent-
lichen Beitrag zum wissenschaftlichen Prozess leistet.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: § 4!)


Dahinter verbirgt sich – das sage ich für die Zuhöre-
rinnen und Zuhörer – die Möglichkeit, dass sogenannte
Spitzenkräfte, die gewonnen werden können oder sollen,
in ihren künftigen Einkommen aus Drittmitteln aus pri-
vatwirtschaftlicher Auftragsforschung bessergestellt
werden können.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Was ist denn gegen Spitzenkräfte einzuwenden?)


Für diese Gruppe ist so etwas also möglich. In diesem
Falle gehen Sie auch über die Vergütungsregelungen des
öffentlichen Dienstes hinaus.


(Patrick Meinhardt [FDP]: Sehr gut!)

Allerdings wollen wir an dieser Stelle einmal festhal-

ten, dass diese Praxis bereits vom Bundesrechnungshof
kritisiert worden ist, weil sie in den letzten Jahren in-
transparent gestaltet worden ist. Daher fordert der Bun-
desrechnungshof klare Regeln und eine Gehaltsober-
grenze. Ich kann mich da dem Bundesrechnungshof nur
anschließen.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Peter Röhlinger [FDP]: Klar! Das glaube ich!)


Meine Damen und Herren, wieso wird eigentlich das
Personal in den Laboren, an den Großgeräten und im
Wissenschaftsmanagement ausgeschlossen?


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Werden sie nicht!)


Ich frage: Wieso werden Beschäftigte, insbesondere der
wissenschaftliche Nachwuchs im Mittelbau, ausge-
schlossen? Wissenschaftliches Arbeiten ist viel komple-
xer geworden; man kann das gar nicht mehr so abgren-
zen. Deshalb kritisieren wir es.





Dr. Petra Sitte


(A) (C)



(D)(B)


Ich erinnere daran: Wir haben hier schon mehrfach
darüber geredet, dass drei Viertel der Beschäftigten
befristet angestellt sind, was übrigens ein Hauptgrund
dafür ist, dass neu gegründete Einrichtungen beispiels-
weise in den neuen Bundesländern überhaupt keine Inte-
ressenvertretung mehr haben. Da gibt es gar keinen Be-
triebsrat, weil die Beschäftigten im Wesentlichen
befristete Verträge haben. Das muss man schon kritisie-
ren.


(Beifall bei der LINKEN – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Wir haben doch die Linke!)


Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass wir hier im
Bundestag alle gemeinsam schon einen Antrag zur Ver-
besserung der Situation des wissenschaftlichen Nach-
wuchses beschlossen haben.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Ja, richtig! Aber nicht in diesem Gesetz!)


Also müsste man nicht nur eine Art Wissenschaftsma-
nagementgesetz vorlegen, sondern auch das Wissen-
schaftszeitvertragsgesetz ändern. Sie müssten die Tarif-
sperre aufheben, damit die Tarifpartner bessere
Bedingungen schaffen können.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Tankred Schipanski [CDU/ CSU]: Sie müssen mal schauen, wer zuständig ist! Das sind die Länder, nicht der Bund!)


Wer gute Forschung will, muss gute Arbeitsbedingungen
bieten, und das auf allen Ebenen, auf allen Karrierestu-
fen und für alle Beschäftigten.

Fazit: Dieses erste Bundesgesetz für die Forschung
hätte eine Initialzündung für eine Zukunftsdebatte geben
können, für eine Debatte über die Frage, wie die Wissen-
schaftslandschaft von morgen aussehen soll, über die
Profile und Aufgaben unserer Forschungsorganisatio-
nen, über moderne, digital vernetzte Wissenschaft und
schließlich über gute Arbeit in den Wissenschaftsein-
richtungen.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das ist nicht der Zweck des Gesetzes!)


Das alles findet nicht statt. Das gibt auch dieses Gesetz
nicht her. Deshalb hat es den hochtrabenden Namen
„Wissenschaftsfreiheitsgesetz“ auch nicht verdient.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719816100

Frau Kollegin.


Dr. Petra Sitte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719816200

Keine Zwischenfrage, Frau Präsidentin.


(Heiterkeit)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719816300

Ich wollte Ihnen keine Zwischenfrage stellen.


(Heiterkeit)


Ich wollte Ihnen einen Hinweis geben.


Dr. Petra Sitte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719816400

Das war nur ein Versuch, zu scherzen.


(Heiterkeit)


Ich will nur noch sagen, dass dieses Gesetz aus diesen
Gründen für uns nicht annehmbar ist.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719816500

Wenn Sie den Scherz demnächst bitte schriftlich ein-

reichen könnten, damit auch ich ihn verstehe?


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Okay!)


Krista Sager hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.


Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719816600

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dieses

Gesetz ist im Grunde ein Schritt nachholender Moderni-
sierung. Warum „nachholend“? Weil viele Forschungs-
einrichtungen die Rechte, die heute gesetzlich fixiert
werden, schon in der Praxis nutzen, weil viele Hoch-
schulen seitens der Bundesländer schon seit längerem
ähnliche Rechte und einen ähnlichen Autonomiestatus
hinsichtlich ihrer eigenen Belange eingeräumt bekom-
men haben. Das heißt, wir bewegen uns in einem Feld,
in dem wir schon jahrelang Erfahrungen gesammelt
haben.


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Genau!)


Dann wundert mich aber doch so manches im Zusam-
menhang mit diesem Gesetz.

Ich muss den Kollegen der FDP sagen: Es hat mich
sehr gewundert, dass im ursprünglichen Regierungsent-
wurf die Wissenschaftseinrichtungen, die dort ressortie-
ren, wo die FDP selber den Hut auf hat, nicht als Nutz-
nießer dieser Freiheit vorgesehen waren.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Da frage ich mich schon, Herr Röhlinger, warum sie ur-
sprünglich am Gängelband bleiben sollten.


(Patrick Meinhardt [FDP]: Weil sie schon die Freiheiten haben!)


Ich habe mich auch gewundert, wie lange ausgerechnet
die FDP gebraucht hat, sich in dieser Frage neu zu sor-
tieren.


(Patrick Meinhardt [FDP]: Ohne uns gäbe es das nicht!)


Gut, wir haben diese Angelegenheit gestern im Aus-
schuss geheilt, die Regierungskoalition gemeinsam mit
Grünen und SPD. Das ist auch gut so. Ich möchte Sie
aber daran erinnern, dass Sie nicht vergessen sollten,
diese Heilung jetzt auch im Haushaltsgesetz umzuset-
zen. Auch darin muss sich die Budgetflexibilisierung
wiederspiegeln; sonst haben die Einrichtungen davon
keinen Nutzen. Also vergessen Sie das bitte nicht auch
noch.





Krista Sager


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Patrick Meinhardt [FDP]: Wir haben das, was Sie über die Jahre nicht gemacht haben, geheilt!)


Wenn wir bedenken, dass wir uns hier in einem Be-
reich bewegen, in dem wir viele Erfahrungen gesammelt
haben, ist es im Grunde unverständlich, dass letztendlich
offengeblieben ist, mit welchen Instrumenten man tat-
sächlich von der Inputsteuerung zur Outputsteuerung
übergehen will. Das heißt, welche Indikatoren sollen
jetzt eigentlich die relevanten Indikatoren sein, um die
Leistung dieser Einrichtungen zu messen? Wie soll der
Unterschiedlichkeit, der Besonderheit von einzelnen
Einrichtungen Rechnung getragen werden? Wie soll
aber auch mit Kennzahlen eine Vergleichbarkeit herge-
stellt werden? Trotz der großen Unterschiede der Ein-
richtungen muss es schließlich vergleichbare Kennzah-
len geben. Wie soll das Ganze mit Elementen der
leistungsabhängigen Mittelzuweisung begleitet werden,
und welche Auswirkungen hat das auf Zielvereinbarun-
gen? Da hat die Bundesregierung – das muss ich ganz
ehrlich sagen – ihre Hausgaben nicht gemacht. Dazu
sagt sie vielmehr: Wir gucken weiter, nachdem wir das
Gesetz gemacht haben. – Das halte ich, ehrlich gesagt,
für zu wenig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Meine Damen und Herren, wir reden hier nicht über
Peanuts. Es geht hier um ein Volumen von 4,6 Milliar-
den Euro, und da ist die Frage, wie bei den außeruniver-
sitären Forschungseinrichtungen die Steuerungs- und
Monitoringelemente aussehen sollen, nicht gerade eine
Petitesse. Ich finde es vollkommen richtig, was der Kol-
lege Röspel gesagt hat: Wir müssen auch das Parlament
beteiligen.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: In der Anhörung wurde ganz deutlich gesagt, wie das funktioniert! Kommen Sie einfach mal vorbei!)


Die Angelegenheit ist einfach zu wichtig, als dass das
Parlament einfach außen vor bleiben könnte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE])


Richtig ist auch, dass eine verantwortliche Personal-
politik nicht erst bei den Spitzenforschern, sondern beim
wissenschaftlichen Nachwuchs anfängt. Uns haben in
der Vergangenheit aus einigen Forschungseinrichtungen
zu Recht Klagen erreicht, wie mit diesen Menschen in
den Verträgen umgegangen wird. Ich hätte es richtig ge-
funden, dieses Wissenschaftsfreiheitsgesetz zugunsten
einer verantwortlichen und nachhaltigen Personalpolitik
und zugunsten des gesamten Personals um einen Code of
Conduct zu erweitern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Misstrauen Sie doch nicht immer der Wissenschaft!)


Ein weiteres großes Problem ist hier angesprochen
worden. Es gibt bei den Gehältern von Spitzenkräften in
der Forschung jetzt mehr Handlungsspielräume. Wenn
aber in den einzelnen Einrichtungen Milliarden bewegt
werden, dann braucht man auch in der Verwaltung und
in den technischen Infrastrukturen Spitzenkräfte.


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Dass die Handlungsspielräume auf diese Kräfte nicht
ausgeweitet werden, leuchtet mir, ehrlich gesagt, nicht
ein.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das ist eine Frage der Auslegung des Gesetzes!)


Von der Bundesregierung erwarte ich, dass sie Sorge
dafür trägt, dass auch die Leibniz-Gemeinschaft von den
Möglichkeiten dieses Gesetzes profitieren kann und dass
wir erfahren, wie es mit Blick auf die Einrichtungen der
Ressortforschung weiterentwickelt werden kann und wie
einzelne Elemente wie die Überjährlichkeit vielleicht
auch bei den Begabtenförderungswerken angewendet
werden können.

Darüber hinaus müssen wir uns der Frage widmen,
wie wir verhindern können, dass die Universitäten als
Arbeitgeber noch mehr Nachteile gegenüber den außer-
universitären Forschungseinrichtungen haben. Diese
Frage ist für die Wissenschaftspolitik eine der aktuells-
ten Fragen; sie ist noch nicht gelöst. Wir brauchen nach-
haltige Personalstrukturen.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Erst einmal Zuständigkeit!)


Wir brauchen einen Pakt für den wissenschaftlichen
Nachwuchs. Das heißt, es gibt in der Wissenschaftspoli-
tik auch in Zukunft noch eine ganze Menge zu tun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE])



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719816700

Der Kollege Albert Rupprecht hat das Wort für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Albert Rupprecht (CSU):
Rede ID: ID1719816800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Frau Sitte, was wir heute beschließen,
ist nicht Kleinkram, sondern hat eine Dimension, wie es
sie in dieser Größenordnung noch nie gegeben hat. Wir
schaffen erstmalig – so etwas hat es in der Tat noch nie
gegeben – ein eigenes, separates Haushaltsrecht für ei-
nen speziellen Politikbereich. Das ist einzigartig und hat
eine historische Dimension.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wer dieses Gesetz, Frau Sitte, kleinredet – Sie sagten,
es seien nur acht schlichte, dürftige Paragrafen –, hat,
glaube ich, die Dimension und die Wirkung dieses Ge-
setzes noch nicht verstanden.





Albert Rupprecht (Weiden)



(A) (C)



(D)(B)



(Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Ich prognostiziere Ihnen, Frau Sitte, dass das, was wir
heute beschließen – Frau Sager, Sie haben recht, an man-
chen Hochschulen ist dies bereits Realität, aber an vielen
eben nicht –, eine Dynamik entfalten, eine Welle auslö-
sen wird, die letztendlich auch vor den Hochschulen
nicht haltmachen wird. Vielmehr wird es auch an den
Hochschulen aufgrund dieses Gesetz zu wesentlichen,
substanziellen Veränderungen kommen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Was wir heute machen, ist in eine Studie, in ein Doku-
ment des Wissenschaftsrates von Juli 2000 einzubetten.
Damals hat der Wissenschaftsrat letztmalig umfassend
das deutsche Wissenschaftssystem untersucht. Er hat in
diesem Zusammenhang elf Anforderungen an die Politik
formuliert. Er forderte eine stärkere Anwendungsorien-
tierung, eine stärkere internationale Ausrichtung und
viele andere Dinge mehr. Einer dieser elf Punkte war die
Aufforderung des Wissenschaftsrates an die Politik, für
mehr Selbststeuerung und weniger Detailsteuerung
durch die Politik zu sorgen, eben das, was wir heute mit
dem Wissenschaftsfreiheitsgesetz beschließen.

Die Aufgaben, die der Wissenschaftsrat damals ge-
nannt hat, sind wir in den letzten zwölf Jahren angegan-
gen, auch zusammen mit der SPD in der Großen Koali-
tion. Die Reform wurde von Frau Bulmahn angestoßen
und von Frau Ministerin Schavan in großer Dimension
umgesetzt und vollzogen. Dieser Bericht war die Grund-
lage für die Arbeit der letzten Jahre. Das gilt für die
Hightech-Strategie, die Exzellenzinitiative und den
Hochschulpakt. Mit den Paketen, die wir als Lösung
politisch beschlossen haben, haben wir im Wissen-
schaftssystem Deutschlands eine Dynamik in Gang ge-
setzt, die eine historische Dimension hat. Wir haben
damit das Wissenschaftssystem in Deutschland neu aus-
gerichtet.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich will in diesem Zusammenhang nur einen Betrag
nennen: Der Bund hat seit 2000, über die Regierungszei-
ten der verschiedenen Koalitionen hinweg, deutlich
mehr als 150 Milliarden Euro investiert, um das Wissen-
schaftssystem in Deutschland neu auszurichten. Das war
ein Riesenkraftakt, aber damit waren wir, wie ich finde,
ausgesprochen erfolgreich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Heute beschließen wir den letzten gewichtigen Bau-
stein, den der Wissenschaftsrat damals eingefordert hat:
mehr Freiheit für die Wissenschaft. Herr Röspel, dieses
Gesetz bringt sehr wohl mehr Freiheit. Dieser Einzel-
baustein fügt sich in ein Ganzes. Ich sage es nochmals:
Über die Parteigrenzen hinweg haben wir unsere Mis-
sion aus dem Jahr 2000 erfüllt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


In der parlamentarischen Beratung haben wir vier
Themen vertieft behandelt:

Erstens. Wir wollten – Sie haben das Thema ange-
sprochen; das wollten aber auch die Unionsfraktion und
die FDP-Fraktion –, dass die AvH und der DAAD in den
Gesetzentwurf aufgenommen werden. Dafür war ein
Stück Überzeugungsarbeit bei den Fraktionskollegen aus
den anderen Fachbereichen notwendig. Das ist letztend-
lich gelungen. Der Punkt ist somit erledigt.

Zweitens: das Berichtswesen. In der Tat war die Frage
– Sie haben es angesprochen –, ob wir das Berichtswe-
sen im Gesetzentwurf inhaltlich konkret und präzise
festschreiben wollen. Letztendlich war der entschei-
dende Punkt, dass wir der Überzeugung sind, dass mehr
Freiheit auch mehr Verantwortung bedeutet. Und mehr
Verantwortung heißt für uns ganz konkret: Wir erwarten
von den Wissenschaftsorganisationen, dass sie aufgrund
von mehr Freiheit zusätzliche, weitere und bessere wis-
senschaftliche Ergebnisse vorlegen. Wir erwarten von
den Forschungseinrichtungen, dass sie systematisch,
kontinuierlich und aussagekräftig darüber berichten. Das
ist unstrittig. Die Frage war letztlich nur, ob wir das jetzt
mit diesem Gesetz konkret und detailliert regeln sollten.
Nach vielen Gesprächen, die wir geführt haben, sind wir
zu der Erkenntnis gekommen, dass das falsch wäre, weil
sich ein derartiges, outputorientiertes Berichtssystem nur
im Dialog, im Zuge der Umsetzung und im Zusammen-
spiel von Wissenschaftseinrichtungen, Parlament und
Regierung über Monate hinweg entwickeln kann. Wir
können das heute an dieser Stelle nicht abschließend und
detailliert festlegen. Das ist eine Aufgabe, deren Lösung
heute beginnt. Der Beschluss, die Verabschiedung des
Gesetzentwurfs ist letztendlich der Einstieg in genau die-
sen Dialog, der notwendig ist.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich sehe, dass meine Redezeit leider Gottes schon zu
Ende ist. Ich verstehe gar nicht, wieso.


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Ich schon!)


Ich hätte gerne noch weitere Themen angesprochen, zum
Beispiel den Bereich des wissenschaftlichen Nachwuch-
ses. Aber dafür sind fünf Minuten wesentlich zu kurz.


(Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär: Keine Zwischenfragen!)


Ich hätte auch gerne noch etwas zu den Ressortfor-
schungseinrichtungen gesagt. Das wird der Kollege für
mich übernehmen.

Lassen Sie mich abschließend sagen: Ich habe in den
zehn Jahren, in denen ich Mitglied des Deutschen Bun-
destages bin, keinen Gesetzentwurf erlebt, der so viel
Zustimmung von den betroffenen Institutionen erhalten
hat wie dieser Gesetzentwurf. Wir werden von den Wis-
senschaftseinrichtungen wie Schellenkönige – so sagt
man in Bayern – für diesen Gesetzentwurf gelobt. Ich
glaube, das ist ein starkes Zeichen dieser Einrichtungen
dafür, dass wir heute hier in der Tat einen richtigen
Schritt machen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719816900

Der Kollege Klaus Hagemann hat das Wort für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Klaus Hagemann (SPD):
Rede ID: ID1719817000

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege
Röspel hat davor gewarnt, heute mit zu viel Pathos in die
Diskussion zu gehen. Daran musste ich gerade bei der
Rede des Kollegen Rupprecht denken. Sie haben es so
dargestellt, als ob ein neues Zeitalter beginnt, als ob ein
Urknall durch die Wissenschaftsszene geht.


(Beifall des Abg. Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU])


Wenn wir in die Genese gehen, lieber Kollege
Rupprecht, dann sehen wir, dass es nichts Neues ist. Sie
haben darauf hingewiesen, dass wir das Gesetz nicht
schlecht- und kleinreden sollen. Die Wissenschaftsfrei-
heitsinitiative, die wir in der Großen Koalition geregelt
hatten, enthielt schon fast alles von dem, was jetzt im
Gesetz steht. Die Wissenschaftsorganisationen konnten
also schon handeln, und die Anregungen des Wissen-
schaftsrates sind in diesem Zusammenhang umgesetzt
worden.

Wir könnten in dieser Frage schon wesentlich weiter
sein, wenn es nicht den einen oder anderen Bremser in
der Zeit der Großen Koalition gegeben hätte. Ich schaue
nach rechts zum damaligen haushaltspolitischen Spre-
cher der Union und heutigen geschätzten Staatssekretär
Peter Kampeter.


(Zurufe von der SPD: Ah!)


Er war einer derjenigen, die am meisten gebremst haben.
Er wollte nicht, dass Haushaltsrechte an Außenstehende
abgegeben werden. Wir, Frau Ministerin Schavan, haben
gekämpft, um dies im Haushaltsausschuss voranzubrin-
gen. Das sollten wir noch einmal in Erinnerung rufen
und deutlich machen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich bin auch dankbar – jetzt spreche ich den Kollegen
Rehberg an –, dass wir in Vorgesprächen einiges bewe-
gen konnten, leider nicht so, dass wir alle Anregungen,
lieber Kollege Dr. Röhlinger, aufgreifen konnten. Einige
Anregungen sind nicht umgesetzt worden; ich komme
darauf gleich noch zu sprechen. Deswegen können wir
uns heute – Kollege Röspel hat darauf hingewiesen – nur
der Stimme enthalten. Aber der Grundzug ist richtig.
Diesen haben wir in der Zeit der Großen Koalition fest-
gelegt. Wir haben dabei die Anregungen aus den Wis-
senschaftsorganisationen übernommen.

Dass die AvH, die Alexander-von-Humboldt-Stif-
tung, und der Deutsche Akademische Austauschdienst
im Gesetz enthalten sind, ist sehr positiv; denn sie brau-
chen mehr Flexibilität in ihren Haushalten.

Ich möchte aber auch die Ressortforschungseinrich-
tungen ansprechen. Ich finde es nicht gut, dass sie nicht

im Gesetz stehen. Man regelt das jetzt über Vermerke im
Haushaltsplan. Weil die Ressortforschungseinrichtungen
der einzelnen Ministerien auch von der politischen Di-
rektive der Ministerien abhängig sind, besteht aber die
Gefahr, dass hier keine Freiheit so wie bei den Wissen-
schaftsorganisationen gegeben ist. Deswegen, so meine
ich, müssen sie ins Gesetz aufgenommen werden, zum
Beispiel die Physikalisch-Technische Bundesanstalt, die
BAM, also die Bundesanstalt für Materialforschung und
-prüfung, und der Deutsche Wetterdienst. Man hätte sie
in das Gesetz aufnehmen sollen, um ihnen mehr Flexibi-
lität zu geben. Hier besteht eine gewisse Gefahr, dass
Willkür herrscht, dass über politische Direktiven Ein-
fluss genommen werden kann und dass politischer Op-
portunismus eine Rolle spielt. Diese Einrichtungen
müssten daher unserer Ansicht nach in das Gesetz aufge-
nommen werden.


(Beifall des Abg. René Röspel [SPD])


Die Kritik des Rechnungshofes ist schon angespro-
chen worden. Ich möchte hier auf eine Pressemitteilung
hinweisen – darüber haben wir uns schon heute Nach-
mittag im Haushaltsausschuss unterhalten –: „Rech-
nungshof verreißt Wissenschaftsfreiheitsgesetz“. Ich
darf einen kurzen Abschnitt zitieren:

Angesichts der stetig wachsenden Mittel für die
Forschungsorganisationen fehle ein ausreichendes
Controlling. Gelder könnten auf Selbstbewirtschaf-
tungskonten geparkt werden.

Das darf nicht passieren; denn sie sollen in der For-
schung verausgabt werden.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE])


Ich zitiere weiter:

Bei den geplanten Spitzenvergütungen für heraus-
ragende Wissenschaftler fehle es an Transparenz …

Auch das sollten wir als Parlamentarier ernst nehmen.
Wir sollen im Blick behalten, ob hier entsprechend ge-
handelt wird.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Es sollte auch – so steht es in der Pressemitteilung – eine
Gehaltsobergrenze eingeführt werden.


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Diese Kritikpunkte des Rechnungshofes sind berech-
tigt. Ich sage nicht, dass ihnen allen gefolgt werden
kann, aber sie müssen beachtet werden.

Lassen Sie mich zum Schluss – mir geht es wie dem
Kollegen Rupprecht; auch mir läuft die Zeit davon –
noch einmal deutlich machen: In der ersten Lesung hatte
ich sehr kritisiert, dass eine der Forschungseinrichtun-
gen, die Max-Planck-Gesellschaft, gerade im Bereich
der Förderung von Stipendiaten, von Doktoranden sehr
zurückhaltend war. Wir haben hier Verbesserungen ge-
fordert. Seit der ersten Lesung ist etwas geschehen: Die
Max-Planck-Gesellschaft hat festgelegt, dass Stipendia-
ten, dass Doktoranden mit einem Höchstbetrag von – ich





Klaus Hagemann


(A) (C)



(D)(B)


hoffe, ich habe es richtig im Kopf – 1 350 Euro gefördert
werden. Das sollte beispielhaft für alle Organisationen
werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Denn, wie vorhin schon formuliert wurde, gute Wissen-
schaftler bedingen gute Nachwuchswissenschaftler. Die
Wissenschaft erzielt nur Erfolge, wenn entsprechend
gute Leute zur Verfügung stehen.

Zum Schluss noch dieses: Der Kollege Rachel und
ich haben in dieser Woche an einer Gremiensitzung einer
großen Wissenschaftsorganisation teilgenommen. Da
wurde seitens des Gesamtbetriebsrates kritisiert, dass
man nur die Spitzenwissenschaftler aufnimmt und nicht
auch die wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mit-
arbeiter. Diese Kritik nehmen wir auf, und die werden
wir hier auch weiter verfolgen.


(Beifall bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719817100

Herr Kollege Hagemann.


Klaus Hagemann (SPD):
Rede ID: ID1719817200

Ich komme zum Ende und möchte darum bitten, das

zu beachten.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719817300

Der Kollege Professor Dr. Martin Neumann hat für

die FDP-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Martin Neumann (FDP):
Rede ID: ID1719817400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich beginne mit dem bemerkenswertesten
Begriff, der hier gefallen ist, nämlich mit dem Thema
„Outputsteuerung“ – ich sage es mal auf Deutsch –, also
Steuerung auf Zielsetzung. Das, was hier dazu gesagt
wurde, stimmt so nicht; denn die Zielvereinbarungen
werden mit den Wissenschaftseinrichtungen getroffen.
Wir geben damit – das will ich an der Stelle hervorhe-
ben, denn darum geht es ja in diesem Gesetzentwurf –
Freiheit und übertragen Verantwortung an die Einrich-
tungen auf der Grundlage genau dieser Zielvereinbarun-
gen.

Gestatten Sie mir noch eine zweite Bemerkung. Frau
Sager, Sie sprachen beispielsweise von Leibniz und der
Rolle der Länder dabei. Auch das, was Sie hierzu gesagt
haben, ist nicht richtig. Die Länder können und müssen
in der gemeinsamen Wissenschaftskonferenz für ent-
sprechende Landesregelungen sorgen. Das haben wir
immer wieder deutlich gesagt. Dazu laufen gegenwärtig
Beratungen. Verdrehen Sie die Tatsachen bitte nicht. Ich

habe bisher keine Anzeichen dafür bemerkt, dass sich
Länder hier sperren wollten.

Kommen wir zum Inhalt. Wir haben jetzt drei Jahre in
der Koalition an einem für die Wissenschaft äußerst
wichtigen Gesetz gearbeitet. Hier sind ja verschiedene
Fragmente genannt worden, die ich kurz zitieren
möchte; ich habe mir das gerade aufgeschrieben. Ge-
sprochen worden ist von wissenschaftlichem Nach-
wuchs, von Intransparenz, und von der Outputsteuerung
war die Rede. Sie haben aber nicht mit einem einzigen
Wort gesagt, was notwendig ist für die Spitzenfor-
schung, welche Bedingungen wir in Deutschland organi-
sieren müssen, um hier Spitzenforschung zu bekommen.

Wir reden also nun drei Jahre darüber, wir diskutieren
darüber, und auch hier im Parlament wurde oft darüber
gesprochen. Aber fünf Minuten vor der Angst bekom-
men wir Änderungsanträge, die Sie mit den zuvor zitier-
ten Bemerkungen umschrieben haben.


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das machen Sie doch auch! Hallo!)


– Jetzt, Frau Sitte, gestatten Sie mir noch eine Bemer-
kung zu den Ressortforschungseinrichtungen.


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Eine Minute hatten wir gestern Redezeit!)


– Ja, das war aber etwas ganz anderes.

Auch die Sache mit den Ressortforschungseinrichtun-
gen ist tatsächlich nicht so, wie Sie das hier dargestellt
haben. Ich habe in der diesjährigen Sommerpause eine
ganze Reihe von Einrichtungen der Ressortforschung in
Berlin und Brandenburg besucht, unter anderem die
Physikalisch-Technische Bundesanstalt und die Bundes-
anstalt für Materialforschung und -prüfung. Die Kolle-
gen dort haben mir etwas völlig anderes gesagt als das,
was Sie hier behaupten. Sie wollen nämlich nur
bestimmte Flexibilisierungen. Sie wollen nicht das
gesamte Gesetz; das muss man an der Stelle sagen. Des-
halb haben wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, die be-
treffenden Regelungen mit Maß und Verstand in den
jetzt vorliegenden Gesetzentwurf aufgenommen.

Ein kleines Beispiel: Die Bundesanstalt für Material-
forschung und -prüfung möchte im Jahre 2013 mit einem
Pilotprojekt starten, bevor man dort Stellenpläne kom-
plett verändert. Die Bundesanstalt wartet auf die Ergeb-
nisse, die man dann dort gemeinsam erzielen wird. Das
geht vollkommen gegen das, was Sie hier in den Geset-
zestext aufzunehmen versuchen.


(Beifall bei der FDP)


Sie, liebe Frau Kollegin Sager, haben uns vorgewor-
fen, dass wir ein Verhinderer von Freiheit seien, dass wir
die Ausweitung des Gesetzes blockierten. Dazu kann ich
nur Folgendes sagen, und das will ich wirklich lobend
hervorheben: Die Ressortforschungseinrichtungen der
FDP-geführten Ministerien machen am meisten von den
Flexibilisierungsregelungen Gebrauch. Das Gesund-
heitsministerium und das Auswärtige Amt haben ge-
zeigt, dass man weitreichende Flexibilisierungen auf-
nehmen kann. Wir sind nicht Verhinderer, liebe





Dr. Martin Neumann (Lausitz)



(A) (C)



(D)(B)


Kolleginnen und Kollegen, sondern die Förderer der
Wissenschaftsfreiheit.

Ich bedanke mich bei den Kolleginnen und Kollegen
der Opposition ausdrücklich dafür, dass sie die Rege-
lung, die Alexander-von-Humboldt-Stiftung und den
DAAD mit aufzunehmen, mittragen.

Ich komme zum Schluss. Wir wollen mit dieser Rege-
lung, so wie wir sie heute vorgestellt haben, letztendlich
ganz konkret zum Ausdruck bringen, dass wir ein klares
politisches Signal von Ihnen vermissen. Sie haben ohne
Blick auf die richtige Zielrichtung gesprochen. Sie lie-
ben es, uns über das Thema „Freiheit in der Wissen-
schaft“ zu belehren.


(Ulla Burchardt [SPD]: Es geht um den Freiheitsbegriff!)


Vor diesem Hintergrund fordere ich Sie ganz deutlich
auf: Wenn es Ihnen tatsächlich um ein Signal an die Wis-
senschaft geht und wenn Sie ein solches Gesetz ernsthaft
fordern, dann stimmen Sie doch endlich für unser Wis-
senschaftsfreiheitsgesetz!

Ich bedanke mich.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719817500

Das Wort hat der Kollege Eckhardt Rehberg für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eckhardt Rehberg (CDU):
Rede ID: ID1719817600

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Ich würde dieses Thema nicht so abtun wollen,
als ob wir lediglich ein paar haushaltsrechtliche Rege-
lungen verändern oder aufheben. Nein, meine sehr ver-
ehrten Damen und Herren, das, worum es heute geht, ist
für die deutsche Wissenschaftslandschaft ein Schritt
nach vorne.

Ich glaube, Herr Kollege Hagemann, es ist ganz
normal, dass im Vorfeld bestimmte Schritte notwendig
waren, um das zu erreichen, was man jetzt erreicht hat:
Globalhaushalte, die weitgehende Befreiung von Rege-
lungen im Baubereich usw. usf. Ich glaube, es wäre nicht
ziel- und sachgerecht gewesen, wenn man diese Maß-
nahmen schon 2008 so durchgeführt hätte, wie wir es
heute tun. Ich erinnere nur an die Helmholtz-Debatte, in
der es darum ging, dass, wie es der Bundesrechnungshof
dargestellt hat, angeblich Mittel liegengeblieben sind. Im
Nachhinein hat sich herausgestellt, dass es nicht so war,
sondern dass im Rahmen der Selbstbewirtschaftungs-
grenzen sachgerecht gearbeitet worden ist. Insofern sage
ich als für den Einzelplan 30 zuständiger Haushälter: Ich
glaube, heute ist ein mehr als guter Tag. Da dieser Ge-
setzentwurf heute im Deutschen Bundestag verabschie-
det wird, ist es für den deutschen Wissenschaftsbereich
sogar ein ganz entscheidender Tag.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieser Prozess wurde ganz maßgeblich von Annette
Schavan und Ulrike Flach gestaltet. Sie haben auch da-

für gesorgt, dass dieses Vorhaben im Koalitionsvertrag
verankert wurde. Dass es dagegen Widerstände der
Fachressorts gibt, halte ich für ganz normal.


(Ulla Burchardt [SPD]: Streit ist also normal bei Ihnen, oder was?)


Ich komme noch einmal auf den DAAD und die AvH-
Stiftung zu sprechen. Beide werden aus drei Ressorts ge-
speist: aus dem des Auswärtigen Amts, dem des Ent-
wicklungshilfeministeriums und dem des Bildungs- und
Forschungsministeriums. Deswegen waren auch hier
Widerstände zu überwinden. Wir, die Abgeordneten von
CDU/CSU und FDP, sind allerdings so selbstbewusst,
meine sehr verehrten Damen und Herren von der Oppo-
sition, dass wir sagen: Wenn wir das für richtig und
sachgerecht halten, wird das auch umgesetzt. – Wir
bedanken uns bei der SPD und beim Bündnis 90/Die
Grünen, dass Sie das mittragen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Frau Sager, Sie kritisieren, dass es zwischen den For-
schungs- und Wissenschaftseinrichtungen, die im Wis-
senschaftsfreiheitsgesetz aufgeführt sind, und den Hoch-
schuleinrichtungen der Länder einen Niveauunterschied
geben wird. Dazu kann ich nur eines sagen: Dann sollen
doch bitte auch die Länder Globalhaushalte einführen!


(Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Genau so ist es! – Krista Sager [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das haben sie doch schon! – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das haben die schon lange!)


Dann sollen doch bitte auch die Länder ihre Universitä-
ten und Fachhochschulen von stringenten Regelungen
befreien!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das ist doch schon lange geschehen! – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach! Das ist doch Unsinn!)


Dann, glaube ich, gäbe es noch mehr Wettbewerb, so-
wohl zwischen den Ländern als auch innerhalb der Län-
der, und man könnte sehen: Wo ist man erfolgreich, und
wo kommen wir voran?


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das ist doch schon längst geschehen! – Gegenruf des Abg. Tankred Schipanski [CDU/CSU]: In den neuen Bundesländern nicht in einem einzigen Land! – Gegenruf der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Ach! Du weißt doch gar nicht, wovon du redest! Das ist doch völliger Unsinn!)


– Das ist in vielen Ländern überhaupt noch nicht gesche-
hen. In vielen Ländern haben die Universitäten keine
Globalhaushalte. In den meisten Ländern frönt man noch
dem Urzustand der Kameralistik und Gängelung. Den-
jenigen, der sich darüber beklagt, dass der Bund in die-
sem Bereich voranschreitet, kann ich nur auffordern, es
dem Bund gleichzutun. Dann braucht man sich an dieser
Stelle nicht mehr zu beklagen.





Eckhardt Rehberg


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gut, dass Sie das an Bayern adressieren!)


– Wissen Sie: Es ist mir ganz egal, welche Parteifarbe in
einem Bundesland gerade vorherrscht.


(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber in Bayern ist es immer die gleiche!)


Das war eine generelle Aussage im Hinblick auf die
Wissenschafts- und Forschungslandschaft in Deutsch-
land. Da achte ich überhaupt nicht auf Parteibücher.

Noch eine Anmerkung zum Thema Ressortforschung.
Ich halte es für nicht sachgerecht, das Wissenschaftsfrei-
heitsgesetz in dieser Art und Weise für die Ressortfor-
schungseinrichtungen des Bundes zu öffnen. Sach-
gerecht war vielmehr der Kabinettsbeschluss vom Mai
dieses Jahres, der vorsah, dass die Ressorts selber ent-
scheiden: Wer kann die Flexibilisierung nutzen, und wer
kann sie nicht nutzen? Es gibt Ressortforschungseinrich-
tungen, die überwiegend Forschung betreiben, und es
gibt auch viele, die in hohem Maße administrative Auf-
gaben haben. Ich glaube, hier muss man ein bisschen
aufpassen, dass man nicht zu viel des Guten tun wird.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Ulla Burchardt [SPD]: Nicht zu viel Freiheit!)


Eine letzte Bemerkung: Ich glaube, ich verrate kein
Geheimnis, wenn ich sage: Ich denke, es ist ein falsches
Ansinnen, jetzt schon mit einer Neiddebatte anzufangen.
Es geht um das Thema „Transparenz von Gehältern bei
den Forschungseinrichtungen“. Wir haben uns dazu ent-
schieden, dass sie durch Drittmittel, durch private Mittel,
aufgestockt werden können, und sollten nicht gleich im
nächsten Schritt dafür sorgen, dass diese Gehälter offen-
gelegt werden. Überlegen Sie auch einmal, was wäre,
wenn Sie das gleiche Ansinnen, dass sämtliche Einkom-
men personenbezogen offengelegt werden müssen,
bezogen auf ein Unternehmen hätten. Das macht kein
Unternehmen.


(Ulla Burchardt [SPD]: Das wollen Sie ja auch nicht bei den Abgeordneten!)


Deswegen bin ich strikt dagegen, dass wir als Erstes
damit anfangen, eine Neiddebatte zu führen, indem wir
alle Gehälter in den Forschungseinrichtungen offenle-
gen; denn dies führt nicht zum Ziel, sondern nur zu
Neiddebatten in der Öffentlichkeit. Das Wissenschafts-
freiheitsgesetz wird aber nicht dazu da sein, eine
Neiddebatte zu initiieren, sondern Wissenschaft und
Forschung voranzubringen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719817700

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Flexibili-
sierung von haushaltsrechtlichen Rahmenbedingungen
außeruniversitärer Wissenschaftseinrichtungen.

Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik-
folgenabschätzung empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/11046, den Gesetzentwurf
der Bundesregierung auf den Drucksachen 17/10037
und 17/10123 in der Ausschussfassung anzunehmen.
Diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
bitte ich jetzt um ihr Handzeichen. – Die Gegenstim-
men! – Die Enthaltungen! – Damit ist der Gesetzentwurf
in zweiter Beratung bei Zustimmung durch die Koali-
tionsfraktionen angenommen. Dagegen hat die Fraktion
Die Linke gestimmt, SPD und Bündnis 90/Die Grünen
haben sich enthalten.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Wer ist für den Gesetzentwurf
und erhebt sich deswegen? – Die Gegenstimmen! – Die
Enthaltungen! – Damit ist der Gesetzentwurf in dritter
Beratung bei gleichem Stimmenverhältnis wie zuvor an-
genommen.

Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über den
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/11064. Wer stimmt für den Entschließungsan-
trag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit
ist der Entschließungsantrag bei Zustimmung durch die
einbringende Fraktion abgelehnt. Die Fraktion Bündnis
90/Die Grünen, die CDU/CSU und die FDP waren dage-
gen, die SPD hat sich enthalten.

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 9 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel
Höhn, Kerstin Andreae, Hans-Josef Fell, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Kosten und Nutzen der Energiewende fair
verteilen

– Drucksache 17/11004 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
Haushaltsausschuss
Federführung strittig

Für die Beratung ist eine halbe Stunde vorgesehen. –
Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist
das so beschlossen.

Das Wort für Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege
Hans-Josef Fell.


Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719817800

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Seit Monaten gibt es wegen angeblich untrag-
barer Strompreiserhöhungen eine Hetzkampagne gegen
den Ausbau der erneuerbaren Energien.


(Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: „Hetzkampagne”!)


Kampagnenchef ist Wirtschaftsminister Rösler, assistiert
wird ihm von Umweltminister Altmaier, FDP-Fraktions-
chef Brüderle und Energiekommissar Oettinger.





Hans-Josef Fell


(A) (C)



(D)(B)



(Manfred Grund [CDU/CSU]: Das ist schon Wahlkampf! – Dr. Georg Nüßlein [CDU/ CSU]: Das ist der Abspann!)


Verbreitet werden die übelsten Diffamierungen gegen
die erneuerbaren Energien, auch in millionenschweren
Anzeigen von der Initiative Neue Soziale Marktwirt-
schaft.


(Ulrich Kelber [SPD]: Sogenannte „Neue“!)


Sie alle verschweigen völlig den Beitrag des Ökostroms
zum Klimaschutz und zur Ablösung der Erdölwirtschaft,
die die Verbraucher und die gesamte Wirtschaft mit im-
mer höheren Ölpreisen unter Druck setzt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Doch Ihnen von Union und FDP geht es ja gar nicht
um die Lösung zentraler Menschheits- und Wirtschafts-
probleme, sondern ausschließlich um den Bestands-
schutz der schmutzigen Stromerzeugung aus Kohle, und
Sie bereiten Ihre dritte Kehrtwende für eine Laufzeitver-
längerung von Atomkraftwerken vor,


(Zuruf von der CDU/CSU: Was?)


wie sie der Fraktionsvize Vaatz gestern gefordert hat.
Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Die wahren Strompreistreiber sind Sie, meine Damen
und Herren von Union und FDP. 2005, am Ende der rot-
grünen Regierungsverantwortung, lag die EEG-Umlage
gerade mal bei 0,7 Cent pro Kilowattstunde.


(Horst Meierhofer [FDP]: Weil Sie keine Erneuerbaren ausgebaut haben!)


Sie von Union und FDP haben sie mit gravierenden Feh-
lern in verschiedenen EEG-Novellen auf heute 5,3 Cent
hochgetrieben.


(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP – Birgit Homburger [FDP]: Aufhören!)


Ohne Ihre verfehlte Politik läge die EEG-Umlage trotz
erfolgreichen Ausbaus der erneuerbaren Energien heute
sozialverträglich unter 3 Cent.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Der erste Fehler der Union, den Sie zusammen mit
der SPD machten, passierte schon 2009, als Sie den
Umlagemechanismus verändert haben. Sie haben damit
den wegen der erneuerbaren Energien sinkenden Bör-
senstrompreis zur Basis für die Berechnung der EEG-
Umlage gemacht und so schon die EEG-Umlage um
1 Cent pro Kilowattstunde hochgetrieben.

Dann folgten Schlag auf Schlag die schwarz-gelben
preistreibenden Fehler: die uferlose Befreiung von
Produktionsbetrieben von der EEG-Umlage,


(Zurufe von der FDP: Oh, Oh!)


die Eigenstrombefreiung von Kohlekraftwerken und die
Einführung der Marktprämie.

Wir fordern Sie heute mit dem Antrag auf, genau
diese hausgemachten Fehler zu korrigieren. Wenn Sie es
ernst meinen mit der Begrenzung der Kosten der Ener-
giewende, dann müssen Sie unserem Antrag zustimmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Rolf Hempelmann [SPD]: Machen wir auch!)


Aber ich habe mir auch einmal Ihre konkreten
Vorschläge zur Preisdämpfung angeschaut. Im Verfah-
rensvorschlag zum EEG von Umweltminister Altmaier
finden wir keine Vorschläge zur Korrektur Ihrer hausge-
machten schwarz-gelben Fehler. Stattdessen hören wir
von der FDP und vom Umweltminister ausschließlich
Vorschläge zur Begrenzung des Ausbaus der erneuerba-
ren Energien. Erstmals in der Geschichte Deutschlands
haben wir einen Umweltminister, der die wichtigste Kli-
maschutztechnologie ausbremsen will. Was ist das denn
für ein Umweltminister?

Ja, die FDP verlässt sogar den Boden der freien
Marktwirtschaft.


(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)


Ihre Vorschläge zum Quotenmodell mit staatlich festge-
legten Ausbauzielen habe ich vor allem in den kommu-
nistischen Fünfjahresplänen Chinas gefunden.


(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Jetzt wissen wir, was du liest! – Horst Meierhofer [FDP]: Was tätest du ohne deine Vorurteile?)


Nur, selbst in China wurde inzwischen erkannt, dass
diese staatlich festgelegten Quoten nicht erfolgreich
sind, und dort wurde ein EEG eingeführt, das Sie genau
abschaffen wollen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Aber den Vogel schießt ausgerechnet Umweltminister
Altmaier ab.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt nicht! Das kann man nicht sagen!)


Er will den jährlichen Zubau von Windkraft, Biomasse
und Photovoltaik staatlich festgelegt kontrollieren und
mit einer marktwirtschaftswidrigen Obergrenze belegen.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Was? Unglaublich!)


Sein Argument, dass der angeblich unkontrollierte
Ausbau des Ökostromes mit dem Ausbau der Netze
nicht mithält, ist nicht tragfähig. Vergleichbar ist dies mit
dem Vorschlag, dass man wegen der vielen Staus auf den
deutschen Straßen und des fehlenden Straßenausbaus bei
den Bundesfernstraßen VW und Daimler staatlich zwin-
gen will, den Verkauf von Autos einzuschränken. Nichts
anderes ist dies. Eine absurde Vorstellung, die nichts mit
Marktwirtschaft zu tun hat, weil Sie nur eingreifen
wollen in den Ausbau der anderen.


(Horst Meierhofer [FDP]: Reden Sie jetzt über den Straßenneubau?)






Hans-Josef Fell


(A) (C)



(D)(B)


Ihre Politik von Schwarz-Gelb hat nichts mehr mit
Marktwirtschaft zu tun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ihre planwirtschaftlichen Vorschläge –


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719817900

Herr Kollege.


Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719818000

– zum Bestandsschutz der großen Energiekonzerne

werden aber nicht durchgehen; denn weite Teile der
Bevölkerung haben längst erkannt, dass sie mit genos-
senschaftlichen Modellen selbst den Strom erzeugen
können –


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719818100

Herr Kollege, Sie müssen zum Ende gekommen sein.


Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719818200

– ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin – und die

Wertschöpfung in die eigene Hand nehmen können.

Wir Grünen werden die Bevölkerung gegen Ihre
Preistreiberei und Ihre planwirtschaftlichen Vorschläge
zum Ausbremsen der erneuerbaren Energien unterstüt-
zen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719818300

Das Wort hat der Kollege Andreas Lämmel für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der SPD: Wo ist eigentlich das Umweltministerium?)



Andreas G. Lämmel (CDU):
Rede ID: ID1719818400

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Herr Fell, wissen Sie, da höre ich mir doch drei-
mal lieber die Frau Höhn an als noch einmal das, was Sie
hier zum Besten gegeben haben.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ein Lob will ich gar nicht haben!)


Es ist wirklich unglaublich, was Sie hier für einen
Unfug erzählt haben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Das Erneuerbare-Energien-Gesetz ist genau das Pro-
blem, weil es nämlich bei den Kosten nach oben völlig
unbegrenzt ist. Jedes Förderprogramm, das wir bisher
aufgelegt haben, ob das nun Marktanreizprogramme
oder andere waren, hat einen Deckel, aber das Erneuer-
bare-Energien-Gesetz ist praktisch unbegrenzt.


(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unbegrenztes Wachstum! Sie wollen doch immer unbegrenztes Wachstum!)


Die EEG-Umlage steigt natürlich genauso unbegrenzt
mit, wenn man den Ausbau in unserem Lande unbe-
grenzt forciert. Ganz besonders gilt dies im Bereich der
Photovoltaik. Sie, Herr Fell, wissen selbst: 57 Prozent
der Umlage entstehen durch die Kosten für die Photovol-
taik, die aber nur einen Anteil von 12 Prozent unseres
Stromes in Deutschland ausmacht.

Wo wäre denn die EEG-Umlage heute, wenn wir
nicht in den letzten Jahren gegen den erbitterten Wider-
stand von Ihnen, den Grünen, und von Ihnen, der SPD,


(Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Genau!)


und den Ländern, die alle mitgemischt haben, die Förde-
rung gekürzt hätten? Es klingelt doch in den Ohren,
wenn ein Ministerpräsident sagt, er würde eine Energie-
preisdeckelung einfordern. Ich frage mich da manchmal,
was im Bundesrat diskutiert wird.

Das Erneuerbare-Energien-Gesetz stößt eben, wirt-
schaftlich gesehen, marktwirtschaftlich gesehen und
auch technisch gesehen, an seine Grenzen. Darüber kann
man doch nicht diskutieren.


(Ulrich Kelber [SPD]: Ja, dass Sie nicht diskutieren können, wissen wir!)


Ich merke: Auch bei Ihnen zieht langsam die Erkenntnis
ein, dass wir Änderungen brauchen und dass wir diese
Änderungen schnell brauchen.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Dafür habe ich schon unter Schwarz-Rot vergeblich gekämpft! – Gegenruf des Abg. Horst Meierhofer [FDP]: Ach so! Aber der Kelber war wieder dagegen!)


Die erneuerbaren Energien sind doch mit einem An-
teil von über 20 Prozent am Strom kein Nischenprodukt
mehr. Damals, als das Stromeinspeisungsgesetz und spä-
ter das Erneuerbare-Energien-Gesetz in Kraft gesetzt
wurden, war es sinnvoll, neue Technologien zu fördern.
Das ist doch unbestritten.


(Ulrich Kelber [SPD]: Deswegen haben Sie persönlich dagegen gestimmt, obwohl es sinnvoll war!)


– Wir können darüber reden, warum ich dagegen ge-
stimmt habe.


(Ulrich Kelber [SPD]: Herr Lämmel, Sie haben dagegen gestimmt!)


Es war nämlich erkennbar, dass wir genau an den Punkt
kommen, an dem wir heute stehen. Das war damals
schon erkennbar.


(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum sagten Sie gerade, es sei sinnvoll gewesen? – Ulrich Kelber [SPD]: Deshalb haben Sie dagegen gestimmt? Herr Lämmel, merken Sie eigentlich nichts?)


Herr Fell, Sie können im Moment den Strompreis
nicht mehr dämpfen, weil die von Ihnen vorgeschlage-
nen Maßnahmen in Ihrem Antrag erst mittel- und lang-





Andreas G. Lämmel


(A) (C)



(D)(B)


fristig wirken. Kurzfristig kann man an diesem System
überhaupt nichts ändern.

Jetzt zu der größten Legende, die Sie verbreiten. In
Ihrem Antrag steht der Satz:

Die weit verbreitete Sorge, dass die Energiewende
gerade energieintensive Unternehmen hart treffen
werde, hat sich als unbegründet erwiesen.

Das ist der Hammer. Mein lieber Mann, da kann man se-
hen, dass die Grünen wirtschaftspolitisch völlig blind
sind und überhaupt nicht merken, was seit der Einfüh-
rung zusätzlicher Belastungen in Deutschland passiert
ist.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719818500

Herr Kollege, Herr Lenkert möchte Ihnen gern eine

Zwischenfrage stellen. Möchten Sie sie zulassen?


Andreas G. Lämmel (CDU):
Rede ID: ID1719818600

Nein, ich möchte im Moment keine Zwischenfragen

zulassen.


(Beifall des Abg. Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU])


Ich will Herrn Fell gerne die Zahlen liefern, damit er er-
kennen kann, wie blind die Grünen heute in der Wirt-
schaftspolitik agieren.


(Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Das interessiert ihn aber nicht!)


Ein Unternehmen aus der Stahlbranche zahlt bei der ak-
tuellen Umlage von 3,59 Cent pro Kilowattstunde ohne
Entlastung 280 Millionen Euro pro Jahr zusätzlich. Für
diese 280 Millionen Euro zusätzliche Kosten entsteht
nicht eine einzige Tonne Stahl mehr. Für diese 280 Mil-
lionen Euro zusätzliche Kosten entsteht auch kein einzi-
ger Arbeitsplatz mehr.


(Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Keine Tonne CO2 wird eingespart!)


Nach der Entlastung – Sie sprechen immer von Be-
freiung, aber es handelt sich hier ausschließlich um eine
Entlastung – zahlt das Unternehmen 88 Millionen Euro.
Wenn man jetzt diese neue Preissteigerung einrechnet,
also die 5,3 Cent pro Kilowattstunde, die jetzt für die
Zukunft ausgerechnet worden sind und dabei wieder die
Entlastung einrechnet, dann entstehen dem Unterneh-
men in einem Jahr 128 Millionen Euro zusätzliche
Kosten.


(Ulrich Kelber [SPD]: Interessant, dass Sie diese Zahlen aus einem Brief einfach ungeprüft vortragen!)


– Ich kann Sie Ihnen geben. – Man muss doch erkennen,
dass dieses Unternehmen natürlich nicht mehr in
Deutschland investieren wird, sondern es wird sich an-
dere Standorte in anderen Ländern suchen, wo einfach
diese zusätzlichen Belastungen nicht entstehen.

Die Stahlindustrie insgesamt hat ab 2013 jährliche
Mehrkosten ohne Entlastung in Höhe von 1,8 Milliarden
Euro, also 1 840 Millionen Euro.


(Ulrich Kelber [SPD]: Halten Sie mal das Blatt hoch, von dem Sie das vorlesen!)


Unter Berücksichtigung der Entlastung sind es immer
noch 609 Millionen Euro. Wenn Sie das auf die Arbeits-
plätze umrechnen, die in der Stahlindustrie existieren,
heißt das, dass das Mehrkosten in Höhe von 6 766 Euro
pro Arbeitsplatz sind. Meine Damen und Herren, man
könnte neue Arbeitsplätze schaffen, wenn man diesen
belastenden Betrag nicht einfach so ausgeben müsste.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719818700

Herr Kollege, möchten Sie denn eine Zwischenfrage

des Kollegen Krischer zulassen?


Andreas G. Lämmel (CDU):
Rede ID: ID1719818800

Nein, möchte ich nicht. – Herr Fell, bevor man Solar-

paneele aufs Dach schrauben kann, muss man Alumi-
nium, Silizium und Glas herstellen. Wenn Sie verhindern
wollen, dass diese Wertschöpfungskette in Deutschland
weiter existiert, müssen Sie so weitermachen wie bisher.
Dann können Sie das alles in China kaufen. Sie werden
aber hier am Pult stehen und über hohe Arbeitslosigkeit
klagen.

Meine Damen und Herren, ich fasse zusammen:
Minister Altmaier ist auf dem richtigen Weg. Eine
Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes muss drin-
gend auf den Weg gebracht werden. Angesichts dieser
Tatsache kann ich nur hoffen, dass auch die linke Seite
– ich meine die SPD und die Grünen – Vernunft an-
nimmt und hier an diesem Werk mitarbeitet.

Vielen Dank für ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719818900

Ich gebe jetzt nacheinander den Kollegen Lenkert und

Krischer das Wort zu einer Kurzintervention. Dann
könnte Herr Lämmel darauf antworten. Bitte schön.


Ralph Lenkert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719819000

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Kollege

Lämmel, im Jahr 2000 habe ich für eine Kilowattstunde
Strom 14 Cent bezahlt. Damals betrug die EEG-Umlage
0,2 Cent. Im Jahr 2012 bezahle ich für die Kilowatt-
stunde Strom 26 Cent. Die EEG-Umlage beträgt
3,5 Cent. Die Differenz beträgt 12 Cent. Davon sind
– selbst wenn ich den Mehrwertsteueranteil zurechne –
etwa 4 Cent EEG-Umlage. Das heißt, ein großer Teil des
Anstieges des Strompreises kommt nicht aus den erneu-
erbaren Energien.

Ich stelle Ihnen dazu Fragen. Was hat Benzin im Jahre
2000 gekostet? Was hat Heizöl im Jahr 2000 gekostet?
Was hat zum Beispiel Kohle für Heizzwecke im Jahr
2000 gekostet? Diese Preise haben sich bis heute mehr
als verdoppelt. Demzufolge scheint es so zu sein, dass
trotz EEG-Umlage durch den Wettbewerb im Strom-
bereich die Stromerzeugungskosten und die Strom-
nutzungskosten selbst – im Gegensatz zu dem, was Sie
hier verkünden – für uns relativ gesunken sind.





Ralph Lenkert


(A) (C)



(D)(B)


Ich komme zu einer Studie von Arepo-Consult im
Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Dabei geht es
um die Befreiung der energieintensiven Industrien und
der anderen Industrien. Wir haben letztens gelernt, dass
zu den energieintensiven Industrien Rolltreppenbetreiber
in einem Einkaufscenter gehören. Die Befreiungen für
diese Industrien und auch für Aluminiumwerke wie das
in Hamburg – es investiert jetzt auch in Deutschland,
weil die Energiekosten scheinbar so hoch sind – machen
fast 10 Milliarden Euro pro Jahr aus, wenn man alles zu-
sammenrechnet.

Wenn man die Industriestromkosten vom Jahr 2000
mit denen von heute vergleicht, stellt man fest, dass die
Unterschiede im Verhältnis zu unseren Wettbewerbern
sogar kleiner geworden sind. Wir haben zwar immer
noch die zweitteuersten; aber der Abstand ist von 2 Cent
für die Kilowattstunde auf 1 Cent für die Kilowattstunde
geschrumpft. Das heißt, die Wettbewerbsfähigkeit der
deutschen Industrie ist nicht gefährdet.

Ich frage Sie deshalb: Wieso lasten Sie die gesamten
Kosten permanent den Verbraucherinnen und Verbrau-
chern an? Wieso stellen Sie nicht sicher, dass hier
Wahrheit herrscht? Wenn wir nämlich die Preisanstiege
in allen Bereichen betrachten, werden wir feststellen,
dass gerade der Strombereich – so weh uns die Kosten
dort auch allen tun – den geringsten Preisanstieg hat.
Gerade die erneuerbaren Energien haben dafür gesorgt,
dass dies so ist.

Bitte, erklären Sie mir, warum die Stromrechnung so
gestiegen ist.


(Beifall bei der LINKEN – Iris Gleicke [SPD]: Da ist keiner auf der Regierungsbank! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Wie immer kopflos! Es ist keiner da! Das ist nichts Neues! – Manfred Grund [CDU/CSU]: Bei uns regiert das Parlament, nicht die Regierung!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719819100

Herr Krischer, bitte.


Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719819200

Aha, es regiert also das Parlament und nicht die Re-

gierung. – Herr Kollege Lämmel, Sie haben uns eben
vorgeworfen, hier gäbe es keinen wirtschaftspolitischen
Sachverstand. Den vermisse ich leider bei Ihnen. Ich
finde es schon erstaunlich, dass Sie hier in Ihrer Rede ei-
nen Lobbybrief der Stahlindustrie, der uns allen heute
oder gestern zugegangen ist, ungeprüft vorlesen. Das ist
schon ein unglaublicher Vorgang.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Sie sollten sich wenigstens die Mühe machen, die An-
gaben, die dort gemacht werden, zu überprüfen. Sie hal-
ten nämlich einer Überprüfung nicht stand. Einer Über-
prüfung stand hält allerdings das, was die Industrie
selber sagt. Ich möchte Ihnen dazu Beispiele nennen.

Das Unternehmen Norsk Hydro produziert weltweit
Aluminium und hat vor zwei Wochen angekündigt, seine
Produktion nach Deutschland, nämlich nach Neuss, zu
verlagern, weil in Deutschland die Strompreise günstiger
sind. Das Unternehmen hat ein Werk in Deutschland, das
es stillgelegt hat, wieder in Betrieb genommen und die
Produktion von Australien nach Deutschland verlagert,
mit der Begründung, die Industriestrompreise seien in
Deutschland billiger. Das ist die Realität in Deutschland.

Weiteres Beispiel: Trimet Aluminium. Trimet Alumi-
nium hat in der Tat im letzten Jahr Verluste gemacht.
Aber wissen Sie, warum sie Verluste gemacht haben?
Weil sie auf steigende Strompreise gewettet haben. Aber
die Strompreise sind für Trimet Aluminium gesunken.
Deshalb ist der Verlust entstanden. Das ist die Realität in
Deutschland – nicht das, was Sie uns erzählen wollen.

Ich möchte noch ein drittes Beispiel nennen, das mir
nach der Debatte, die wir in der letzten Sitzungswoche
zu dem Thema geführt haben, nochmals bestätigt wor-
den ist. Bayer MaterialScience sagt klipp und klar: Die
Industriestrompreise in Deutschland sind geringer als im
europäischen Durchschnitt. – Sie erzählen hier wider
besseres Wissen das Gegenteil. Sie sollten lernen. Infor-
mieren Sie sich besser, statt ungeprüft Lobbybriefe vor-
zulesen und damit auch noch wirtschaftliche Kompetenz
zu suggerieren, die Sie offensichtlich nicht haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719819300

Herr Lämmel, möchten Sie reagieren? – Bitte schön.


(Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vielleicht haben Sie noch einen zweiten Brief, den Sie vorlesen können! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind offensichtlich nicht vorbereitet! – Gegenruf des Abg. Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Ach, Herr Beck, wir sind doch nicht bei den Grünen!)



Andreas G. Lämmel (CDU):
Rede ID: ID1719819400

Das ist das Interessante bei den Grünen: Wenn Sie

Zahlen einer Branche verwenden, dann ist das die Wahr-
heit. Wenn die Solarbranche ihre Zahlen liefert, dann ist
das gedruckte Wahrheit.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bayer MaterialScience!)


Wenn man Zahlen verwendet, die zum Beispiel die Ge-
werkschaft oder eine andere Branche vorlegen, dann ist
das die Unwahrheit. So gehen Sie mit den Dingen um.
Deshalb habe ich gesagt: Sie sind auf dem wirtschafts-
politischen Auge blind. Denn wenn Sie die Industrie-
strompreise in Amerika, Asien und Europa vergleichen,
dann werden Sie feststellen, dass es nicht stimmt, was
Sie behaupten.





Andreas G. Lämmel


(A) (C)



(D)(B)


Die Industriestrompreise sind eben nicht mit den Prei-
sen vergleichbar, die an der Börse gebildet werden. Das
sollten Sie vielleicht im Lehrbuch nachlesen.

Zu dem Herrn von der linken Seite: Sie haben viel-
leicht noch den VEB Energiekombinat im Hinterkopf,


(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Sehr originell!)


der feste Preise hatte, und der Staat hat dann aus seiner
Kasse den Rest gezahlt. Wenn Sie sich die Belastungen
des Strompreises allein durch politische Elemente anse-
hen, dann zeigt sich, wo die großen Preissteigerungen
herkommen. Der größte Batzen war die Einführung der
Ökosteuer, die im Prinzip als Rentenauffüllsteuer einge-
führt worden ist.


(Ralph Lenkert [DIE LINKE]: Vor 2000!)


Das hatte mit Öko nichts zu tun. Außerdem gibt es die
Netzentgelte und all die anderen Bausteine, die politisch
motiviert auf den Strompreis aufgeschlagen werden. Das
sind die großen Strompreistreiber.

Derzeit ist das die EEG-Umlage. Man kann diskutie-
ren und reden, wie man will: Das sind jetzt 5,3 Cent pro
Kilowattstunde. Die muss jeder bezahlen, und zwar nicht
nur die Bürgerinnen und Bürger; die Wirtschaft zahlt das
genauso.


(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eben nicht! Das ist ja unglaublich!)


Wenn man jetzt nicht der Sache Einhalt gebietet und
die Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes angeht,
wird sich dieser Preisaufschwung in den nächsten Jahren
fortsetzen. Das ist ein einfaches mathematisches Modell.
Herr Fell, ich weiß nicht, ob Sie in der Schule das Rech-
nen vielleicht nicht richtig gelernt haben. Sonst könnten
Sie nämlich mit einem Dreisatz ausrechnen, wie sich die
Kosten entwickeln.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719819500

Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Rolf

Hempelmann jetzt das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Rolf Hempelmann (SPD):
Rede ID: ID1719819600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-

gen! Es ist doch erfrischend, dass wir für die Debatte
heute einen Antrag mit dem sachlichen Titel „Kosten
und Nutzen der Energiewende fair verteilen“ von den
Grünen vorgelegt bekommen haben.

In der gestrigen von Schwarz-Gelb aufgesetzten Ak-
tuellen Stunde wollten Sie uns in die Schuhe kippen,
dass wir eine EEG-Umlage von 5,3 Cent im Jahre 2012
haben. Sie haben sich damit absolut lächerlich gemacht.
Die Zahlen sind eben hier genannt worden: 0,67 Cent
war die EEG-Umlage im Jahre 2005 am Ende von Rot-
Grün, 1,13 Cent am Ende von Schwarz-Rot, und jetzt,
also in Ihrer Verantwortungszeit, liegt sie bei 5,27 Cent.

Gestehen Sie wenigstens ein, dass das Ihre Preiserhö-
hung ist und bitte schön nicht unsere! Wir nehmen sie
Ihnen nicht weg.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Der Titel des heute vorliegenden Antrags „Kosten und
Nutzen der Energiewende fair verteilen“ veranlasst mich,
zunächst einmal darüber zu reden, dass wir als Erstes ver-
suchen sollten, unnötige Kosten zu vermeiden. Wenn ich
sehe, was Sie da in den letzten Jahren gemacht haben,
dann denke ich daran, dass Sie genau an dieser Stelle ein
Scheitern par excellence zu verantworten haben. Sie
haben durch planloses Handeln zum Beispiel im Bereich
der Offshorewindenergie dafür gesorgt, dass zusätzliche
Kosten entstanden sind, die jetzt auf die Verbraucher
umgewälzt werden müssen. Sie haben einen Gesetzesvor-
schlag gemacht und gestehen ein, dass inzwischen Haf-
tungsentschädigungen von 1 Milliarde Euro fällig wer-
den, die auf die Verbraucher umzulegen sind. Dies macht
0,25 Cent pro Kilowattstunde für die nächsten drei bis
vier Jahre aus. Das war Ihr Werk. Das sind Kosten, die Sie
durch planloses und hektisches Handeln künstlich und
zusätzlich verursacht haben.

Das Zweite. Es droht durch die fehlende Koordination
der Energiewende, was Sie auch wiederum zu verantwor-
ten haben, dass wir in den nächsten Jahren weitere zu-
sätzliche und unnötige Kosten haben werden. Es gibt
nämlich keinen abgestimmten Plan zwischen Bund und
Ländern zur Entwicklung der Energieinfrastruktur. Im
Gegenteil, wir haben auf der einen Seite im Norden die
Bemühungen, die Steigerung von Offshore- und
Onshorewindenergie weit über den eigenen Bedarf hi-
naus zu bewerkstelligen – dagegen will ich gar nichts sa-
gen –; aber gleichzeitig sagen in anderen Bundesländern,
zum Beispiel im Süden der Republik, explizit Minister-
präsidenten, sie wollen von diesem Strom nicht abhängig
sein, sie wollen autark sein, sie wollen Energieerzeugung
im eigenen Land. Wenn Sie dies zulassen, wenn Sie das
nicht koordinieren, dann werden wir demnächst nicht nur
das eine oder andere notleidende konventionelle Kraft-
werk haben, sondern möglicherweise notleidende Infra-
strukturen an allen Ecken und Enden, nämlich dann,
wenn zum Beispiel Netze, die von Nord nach Süd gebaut
werden, aus diesem Grund nicht ausgelastet werden oder
wenn Stromerzeugungsanlagen, die im Norden stehen,
im Süden keine Abnehmer finden und deswegen Abfall
produzieren. Sie sollten sich darum kümmern, endlich
die Koordinierungsaufgabe in der Energiewende ernst zu
nehmen, um weitere Kostenexplosionen zu vermeiden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das Dritte. Seit über einem Jahr oder noch länger bas-
teln Sie an einer Alternative, die durchaus kostengünstig
sein würde – aber Sie haben bisher immer noch nicht ge-
liefert –: Ich rede vom Lastmanagement, also davon,
dass man zu- und abschaltbare industrielle Lasten nutzen
kann, um zu bestimmten Zeiten – zum Beispiel zu Spit-
zenlastzeiten, wenn aber beispielsweise der Wind nicht
weht – gegenüber der sehr teuren Regelenergie die Al-
ternative der Abschaltung zu haben. Liefern Sie endlich,





Rolf Hempelmann


(A) (C)



(D)(B)


und sorgen Sie dafür, dass wir hier eine Alternative be-
kommen, die uns vor allen Dingen in der zeitlichen Per-
spektive hilft, Kosten zu vermeiden!

Nun zu dem Thema der fairen Kostenverteilung. Ges-
tern haben wir diese unsägliche Debatte gehabt. Ich habe
gerade schon gesagt: Es sind Ihre 5,3 Cent, die Sie ges-
tern zum Thema gemacht haben. Die Öffentlichkeit,
denke ich, hat das auch gemerkt. Diese 5,3 Cent kom-
men zu 100 Prozent beim Kunden als Belastung an.
Aber was heute hier zu Recht gesagt worden ist: Wir ha-
ben durch die erneuerbaren Energien auch Kostensen-
kungen im System. Wir haben beispielsweise beim Bör-
senstrompreis den Effekt, dass die erneuerbaren
Energien in der Merit Order aufgrund ihrer geringen, ge-
gen null tendierenden variablen Kosten den Börsen-
strompreis senken.

Das hat aber den paradoxen Effekt, dass das als dop-
pelte Steigerung bei der EEG-Umlage ankommt. Also
sorgt der Kostenvorteil, generiert durch erneuerbare
Energien, für eine doppelte Steigerung der EEG-Um-
lage. Arbeiten Sie an diesem System! Denn daran ist et-
was falsch. Dann werden wir es auch schaffen, dass die
Kostenvorteile und nicht nur die Belastungen beim End-
kunden ankommen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie mussten ja auch gestern erfahren: Nicht die Aus-
nahmen für die wirklich stromintensiven, im internatio-
nalen Wettbewerb stehenden Unternehmen sind das Pro-
blem, sondern das Problem ist Ihre Ausweitung dieser
Ausnahmen auf zahlreiche Unternehmen, die zu diesem
Kreis überhaupt nicht gehören. Das hat dazu geführt,
dass zusätzliche Belastungen beim Endkunden entstan-
den sind, gerade auch bei den Haushalten, und dass Vor-
teile, die nicht sinnvoll sind, für Unternehmen, die diese
Ausnahmen nicht brauchen, entstanden sind. Das ist
keine faire Verteilung von Chancen und Lasten.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719819700

Möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen zulas-

sen?


Rolf Hempelmann (SPD):
Rede ID: ID1719819800

Ja, da kann ich mal einen Schluck Wasser trinken.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719819900

Bitte schön.


Dr. Joachim Pfeiffer (CDU):
Rede ID: ID1719820000

Lieber Kollege Hempelmann, Sie haben gerade ange-

sprochen, dass die im letzten Jahr eingeführte Stufe der
Entlastung für energieintensive Unternehmen diese Aus-
weitung bewirkt hat. Jetzt frage ich Sie: Ist Ihnen be-
kannt, dass diese Stufe in der Summe gerade einmal
10 Terawattstunden ausmacht und dass vorher bereits
150 Terawattstunden befreit waren? Sind Sie der Mei-
nung, dass diese 150 Terawattstunden, die die rot-grüne
Koalition bzw. wir in der Großen Koalition 2008 be-
schlossen haben, damit in Ordnung und gut sind?


Rolf Hempelmann (SPD):
Rede ID: ID1719820100

Erstens. Selbst wenn die Zahlen – ich kann sie jetzt

nicht prüfen – so stimmen: Es geht nicht allein um den
Umfang, sondern auch um die Symbolik.


(Zuruf von der CDU/CSU: Aha!)


Wenn Sie Unternehmen befreien, die nicht zu dem Kreis
der Privilegierten gehören sollten – dies aufgrund der
Tatsache, dass sie eben nicht ausreichend stromintensiv
sind, dass sie nicht im internationalen Wettbewerb ste-
hen, dass sie keine Produkte herstellen, in deren Preis
man zusätzliche Lasten hineinbringen kann, weil der
Preis an internationalen Handelsplätzen gebildet wird –,
dann ist jedes einzelne Unternehmen, das hier privile-
giert wird, fehl am Platze und dann stört das die Akzep-
tanz dieses Instruments.


(Beifall bei der SPD)


Das Zweite ist: Sie haben diese Ausweitung der Aus-
nahmetatbestände nicht nur im EEG vorgenommen. Sie
haben es zum Beispiel auch bei den Netztarifen ge-
macht. Da haben wir die schizophrene Situation, dass
Unternehmen dabei sind, die nun mit produzierendem
Gewerbe überhaupt nichts mehr zu tun haben. Wir haben
Ihnen gestern die Liste genannt. Ich glaube, man muss
das nicht wiederholen.

Meine Damen und Herren, ich will zur Differenzie-
rung darauf hinweisen, dass zwar auf der einen Seite in
der Tat die Großhandelspreise sinken, dass aber auf der
anderen Seite nicht jedes Industrieunternehmen, jeden-
falls auf Sicht, gleichermaßen davon profitiert. Das hat
etwas damit zu tun, dass sich viele Unternehmen an Ter-
minmärkten oder auch bei Over-the-Counter-Geschäften
vorsorglich mit Strom eindecken. Wir hatten die Situa-
tion, die Sie im letzten Jahr mit der hektischen Energie-
wende verursacht haben, dass die Preise deutlich gestie-
gen sind und Unternehmen sich am Terminmarkt oder
bilateral mit Strom für die nächsten Jahre versorgt ha-
ben. Sie profitieren derzeit überhaupt nicht von den ge-
sunkenen Großhandelspreisen, sondern erst dann, wenn
diese Verträge ausgelaufen sind. Deswegen sage ich: Im
Grundsatz stimmen die Behauptungen. Aber man muss
noch einmal sehr differenziert hinschauen.

Meine Damen und Herren, helfen Sie den Leuten,
Kosten zu sparen. Zur fairen Verteilung gehört, dass man
dafür sorgt, dass die Menschen, die es nicht von alleine
können, beim Energiesparen Unterstützung erhalten. Wir
haben dazu vielfältige Vorschläge gemacht. Jetzt werden
sie aufgegriffen, von Umweltminister Altmaier aller-
dings nur verbal; gehandelt hat er bisher nicht. Er will et-
was tun für die Energieberatung, er will auch im Bereich
Wärme sowie im Bereich Mobilität etwas tun. Er will
Effizienzmaßnahmen unterstützen. Kündigen Sie nicht
mehr nur an, sondern handeln Sie in diesen Bereichen!
Dann können Sie tatsächlich zeigen, dass Sie ein Herz
für diejenigen haben, die zurzeit von den Kosten er-
drückt werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(D)(B)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719820200

Herr Meierhofer für die FDP-Fraktion. Bitte.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)



Horst Meierhofer (FDP):
Rede ID: ID1719820300

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich bin wirklich

ziemlich überrascht, wie Sie hier mit Wahrheiten umge-
hen, wie Sie hier die Tatsachen verdrehen, nur weil es
Ihnen gerade in den Kram passt. Das ist wirklich unred-
lich von Anfang bis Ende.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Die Aussage, dass wir die Energiekosten durch die EEG-
Umlage auf 5,3 Cent pro Kilowattstunde hochgetrieben
hätten und es bei Ihnen nur so wenig, 0,6 Cent, gewesen
seien,


(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist richtig und korrekt!)


ist vollkommen richtig. Wissen Sie auch, warum? Weil
Rot-Grün im Jahr maximal 0,92 Gigawatt erneuerbare
Energie ausgebaut hat. Wir dagegen haben die beiden
letzten Jahre 7,5 Gigawatt ausgebaut.


(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist nicht der entscheidende Punkt! – Rolf Hempelmann [SPD]: Sie wollten es doch gar nicht!)


Wir haben die erneuerbaren Energien ausgebaut; im Ver-
gleich dazu ist bei Ihnen nichts passiert.


(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Natürlich habe ich keine EEG-Umlage, wenn ich die Er-
neuerbaren nicht ausbaue. Das ist genau der Punkt. Jetzt
haben wir die Dynamik, dass der Preis nach oben geht.
Deswegen kommen die Kosten.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das wäre unter 3 Cent!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719820400

Möchten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Kelber

zulassen?


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Bitte keine Zwischenfrage zulassen! Wir wollen abstimmen!)



Horst Meierhofer (FDP):
Rede ID: ID1719820500

Ja, gern; so viel Zeit muss sein.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719820600

Bitte schön.


Ulrich Kelber (SPD):
Rede ID: ID1719820700

Herzlichen Dank. – Man kann ja die vielen Zahlen,

die vorgetragen wurden, auf eine reduzieren: In den vier
Jahren schwarz-gelbe Koalition gab es in der Tat einen
massiven Ausbau der Erneuerbaren. Ihre Vergütung hat

sich, wenn man 2013 einkalkuliert, verdoppelt. Doch
warum hat sich die EEG-Umlage in dieser Zeit dann ver-
vierfacht?


Horst Meierhofer (FDP):
Rede ID: ID1719820800

Das kann ich Ihnen sagen: Weil fast 50 Prozent der

EEG-Umlage mit der Photovoltaik zusammenhängen,
für die Sie und der Kollege Fell von den Grünen lobby-
ieren.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aus diesem Grund sind die Kosten insgesamt extrem an-
gestiegen. Ich nenne die Zahlen bei der Photovoltaik:
0,92 Gigawatt, 7,5 Gigawatt, 7,3 Gigawatt, dieses Jahr
wieder über 7 Gigawatt. Die Vergütung für Photovoltaik
ist viel höher, sie liegt bei 20 bis 30 Cent pro Kilowatt-
stunde.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Ich habe gesagt: Vergütung verdoppelt, Umlage vervierfacht!)


So viel rechnen müssten Sie doch können, dass Sie se-
hen, dass es einen Unterschied macht, ob man für 6 oder
7 Cent pro Kilowattstunde die Windkraft ausbaut oder,
wie Sie früher, für 43 Cent oder, wie wir jetzt, für
19 Cent die Photovoltaik.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Natürlich ist es dadurch teurer geworden. Wir haben die
teuren erneuerbaren Energien ausgebaut.


(Ulrich Kelber [SPD]: Vergütung verdoppelt, Umlage vervierfacht!)


– Sie haben es immer noch nicht verstanden, oder? Sie
wollen es nicht verstehen. Es ist doch selbstverständlich,
dass diejenigen Energien am meisten ausgebaut wurden,
die die teuersten waren.


(Ulrich Kelber [SPD]: Vergütung verdoppelt, Umlage vervierfacht!)


Wissen Sie auch, warum? Weil die Rendite am höchsten
war.


(Ulrich Kelber [SPD]: Sie sammeln doppelt so viel Geld, um halb so viel auszugeben!)


Wissen Sie auch, warum die Rendite am höchsten war?
Weil Sie sich in allen Gremien, wo Sie die Möglichkeit
dazu hatten, dagegen gewehrt haben, die Vergütung ver-
nünftig zu kürzen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das ist die Wahrheit: Sie haben aus Lobbyinteressen he-
raus jedes Mal die Prozesse monatelang verzögert.


(Ulrich Kelber [SPD]: Vergütung verdoppelt, Umlage vervierfacht!)


Wir sind mittlerweile zwar bei 19 statt 42,7 Cent für eine
Kilowattstunde Photovoltaik. Die Kosten sind aber ge-





Horst Meierhofer


(A) (C)



(D)(B)


nau deswegen so langsam gesunken, weil Sie sich immer
quergestellt haben.


(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es! Bei jeder notwendigen Reduktion!)


Und jetzt sollen wir dafür verantwortlich sein, dass es so
teuer geworden ist? Das schlägt dem Fass den Boden
aus.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Vergütung verdoppelt, Umlage vervierfacht!)


Seien Sie doch wenigstens so ehrlich, zu sagen: Wir wol-
len diese hohe Vergütung; es ist uns egal, dass das zu so-
zialen Zerwürfnissen führt; es ist uns egal, dass von un-
ten nach oben umverteilt wird; wir sind der festen
Überzeugung, das ist richtig; der Strompreis kann gar
nicht hoch genug sein, weil Strom per se nicht ver-
braucht werden soll.


(Ulrich Kelber [SPD]: Sie sammeln viermal so viel Geld, um doppelt so viel auszugeben!)


– Sagen Sie das den Leuten ehrlich und offen; dann wer-
den Sie einmal ein realistisches Ergebnis bekommen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aber dazu sind Sie nicht bereit. Mit Krokodilstränen
reden Sie von Sozialtarifen. Dabei sind Sie diejenigen
gewesen, die die Großindustrie – Betriebe, die 10 Giga-
watt abnehmen – ausgenommen haben.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist doch in Ordnung!)


Natürlich wird diese besondere Berücksichtigung der
Großindustrie in Anspruch genommen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur die! Die und nicht alle!)


– Sie wollen uns vorwerfen, dass wir neben der Großin-
dustrie, von der Sie lobbyiert werden,


(Widerspruch bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie machen lauter Geschenke!)


auch die Mittelständler, die im internationalen Wettbe-
werb stehen, ausnehmen?


(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie schaden dem Mittelstand! Das ist der Punkt!)


Das kann doch nicht Ihr Ernst sein! Seit wann sind Sie
denn ausschließlich für die Großkonzerne?


(Widerspruch bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Seit wann haben Sie ein Problem damit, wenn Mittel-
ständler, die im internationalen Wettbewerb stehen, auch
entlastet werden? Ich halte das für eine Absurdität son-
dergleichen.


(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Jetzt, lieber Kollege Fell, würde ich gern mal darauf
hinweisen, was die tatsächlichen Kosten ausmacht.
Wenn Sie genau zuhören, werden Sie feststellen, dass
Ihre Aussage vollkommen verkehrt war. Gestern habe
ich leider gehört, dass es hier absolut nicht möglich ist,
von einer Lüge zu sprechen; dass das unparlamentarisch
ist. Mir fällt jetzt kein passendes Wort dafür ein, wie
man es nennen sollte.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Zurufe von der FDP und der CDU/CSU: Die Unwahrheit!)


Gerade einmal 0,1 bis 0,2 Cent pro Kilowattstunde
macht unsere Reform, dass wir die Mittelständler entlas-
ten, aus. Das sind 2 Prozent dessen, was Sie beschlossen
haben. Es ist vollkommen absurd, so zu tun, als würden
wir es teuer machen.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Kanzlerin hat unsere Zahlen verwendet! 0,5 Cent!)


Sie haben es teuer gemacht, weil Sie nicht bereit waren,
zu akzeptieren, dass sich internationale Investoren die
Taschen auf Kosten des kleinen Mieters vollgestopft ha-
ben. Das ist Ihr Verdienst. Das werden wir jetzt beenden.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Kanzlerin hat es verstanden, aber Sie nicht! – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Die Lobby von Herrn Fell!)


Jetzt kommt mein Lieblingspunkt. Wenn man sich mit
Leuten von energieintensiven Unternehmen unterhält,
dann bekommt man klare und eindeutige Aussagen. Es
wird gesagt: Das ist eine Existenzfrage. Die Energie-
und Stromkosten seien die zweithöchsten in ganz Eu-
ropa. Wir wären erledigt, wenn es keine Ausnahmen
gäbe. – Also: Sie haben es damals mit Ihren Ausnahmen
richtig gemacht, nur gehen sie nicht weit genug. Und
was sagen Sie? Sie sagen: Es gibt aber Firmen, die das
genau andersherum sehen. Der Kollege Krischer hat
darauf hingewiesen, und es steht auch in Ihrem wunder-
baren Antrag. Dem Unternehmen Norsk Hydro geht es
wunderbar und deshalb erhöhen sie die Produktion; das
hat Herr Krischer gesagt.

Die weit verbreitete Sorge, dass die Energiewende
gerade energieintensive Unternehmen hart treffen
werde, hat sich als unbegründet erwiesen.

Das schreiben die Grünen.

Im Gegenteil: Die günstige Strombeschaffung hat
kürzlich den Aluminiumhersteller Norsk Hydro zu
dem Plan bewogen, seine Produktion in Deutsch-
land deutlich zu erhöhen. Der Industriestandort
Deutschland profitiert also auch in stromintensiven
Branchen von der Umstellung auf erneuerbare
Energien.

Das steht in dem Antrag. Herr Krischer hat es bestätigt.

Die Zitate, die ich gerade genannt habe – nämlich
Existenzfrage; die Strompreise seien die zweithöchsten
in Europa; wir wären erledigt, wenn es keine Ausnah-





Horst Meierhofer


(A) (C)



(D)(B)


men gäbe – kommen zufälligerweise von Herrn Bell.
Oliver Bell heißt der Herr. Er ist Vorsitzender des Auf-
sichtsrates von Norsk Hydro. Man könnte jetzt vermu-
ten, der Mann weiß nicht, wovon er spricht, oder er hat
den Verstand verloren, weil es das Gegenteil von dem zu
sein scheint, was sie machen.


(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: An den Investitionsentscheidungen müssen Sie es messen!)


Darum haben wir uns in meinem Büro die Mühe ge-
macht und bei dem Unternehmen nachgefragt. Das Tele-
fonat hätten Sie hören sollen. Sie hätten hören sollen,
was sie dazu gesagt haben, dass Norsk Hydro für Ihren
dünnen, jämmerlichen Lobbyantrag missbraucht wird.
Und Sie hätten hören sollen, was sie dazu gesagt haben,
dass sie dafür in Haftung genommen werden, dass sie
wegen der günstigen Strompreise hier ausbauen. Wissen
Sie, was sie wirklich gemacht haben? Sie haben im Jahr
2005, also kurz nachdem Sie aus der Regierung ausge-
schieden sind, ihre Produktion in Deutschland auf
20 Prozent reduziert, also um 80 Prozent. Das lag an der
Unklarheit, wie es auf europäischer Ebene weitergeht.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil wir nicht mehr dabei waren, haben sie es runtergefahren – Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unklarheit wegen des Regierungswechsels!)


Sie haben nicht gewusst, wie es mit der Bundesregie-
rung weitergeht, ob wirtschaftsverträgliche Regelungen
angekündigt werden. Nachdem dies geschehen ist, haben
sie jetzt die Produktion auf 70 Prozent erhöht. Es ist so
was von schäbig, zu unterstellen, dass diejenigen, die
wegen Ihrer Politik einen Großteil der Produktion ins
Ausland verlagert haben,


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war nach unserer Politik!)


sich über Ihre Politik freuen. Ich sage Ihnen: Wenn Sie
so etwas noch einmal machen, dann erzählen Ihnen die
Firmen etwas. Uns haben sie es gesagt. Sie haben gesagt:
Die Grünen wissen genau, dass sie Quatsch erzählen. Sie
sagen es aber trotzdem, weil ihnen die Wahrheit an die-
ser Stelle vollkommen egal ist. Sie tun es nur für PR, um
die Leute zu überraschen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Da machen wir nicht mit. Wenn Ihre Fairness darin be-
steht, dass man im Bundesrat blockiert, wenn die Kosten
sinken, wenn es Ihre Fairness ist, dass man, wenn es um
die Gebäudesanierung geht, bei der man viel CO2 ein-
sparen könnte, sich dauernd daneben verhält, weil Sie
nicht bereit sind, sich an den Kosten, die alle, auch die
Länder, betreffen, zu beteiligen, dann gute Nacht,
Deutschland! Wir machen es so, dass es für alle verträg-
lich ist. Wir haben Ihnen Vorschläge vorgelegt.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719820900

Herr Kollege.


Horst Meierhofer (FDP):
Rede ID: ID1719821000

Sie machen hier nichts außer Propaganda.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719821100

Jetzt hat Eva Bulling-Schröter das Wort für die Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719821200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ökologischer Umbau und sozialer Ausgleich müssen
Hand in Hand gehen. Diesen Satz aus Ihrem Antrag un-
terstützen wir voll und ganz.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Wunderbar!)


Ich hoffe auch, Sie meinen es ernst;


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Nein!)


denn in der Regierungszeit von Rot-Grün wurden eine
Menge neuer Instrumente eingeführt, die auf den Strom-
preis wirken. Aber den richtigen sozialen Ausgleich da-
für gab es leider nicht. Auch der im Jahr 2005 einge-
führte Emissionshandel hat die Energieversorger reich
gemacht, aber bisher leider kaum zum Klimaschutz bei-
getragen. Gab es irgendwann Geld, um für Haushalte die
Strompreiseffekte des CO2-Handels abzufedern? Nein.
Es gab auch keine Mittel, um die miese Verteilungswir-
kung der Ökosteuer auszugleichen. Wir haben das ange-
mahnt. Kein Cent ging in Richtung Bedürftiger, auch
nicht unter Schwarz-Gelb, die es immer anmahnen. Sie
machen wirklich den Bock zum Gärtner.


(Beifall bei der LINKEN)


Klar ist: Der beste Schutz vor steigenden Preisen be-
steht darin, die Energieeffizienz, Energieeinsparungen
zu erhöhen sowie Kohle und Öl abzulösen; denn die
werden immer knapper und teurer. Gleichzeitig müssen
wir aber die Energiewende sozial absichern – darum
geht ja der Streit: Wer ist sozialer? –


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie sind sicher sozialistischer!)


und die Kosten fair verteilen, Kollege Meierhofer. Da-
rum hat die Linke ein Sieben-Punkte-Programm erarbei-
tet, das diese Aspekte enthält. Uns geht es darum, die
Privilegien der Industrie abzubauen, die unberechtigt
sind.


(Beifall bei der LINKEN)


Es kann nicht sein, dass große Stromverbraucher mit-
hilfe des EEG Geld verdienen, etwa weil sie von dem
sinkenden Börsenpreis durch die Vorrangregelungen des
EEG profitieren, selbst aber kaum EEG-Umlage zahlen,
Kollege Lämmel. Befassen Sie sich doch einmal mit die-
sen Themen; das Wirtschaftsministerium hat ja bestätigt,
dass es diese Probleme gibt.

Jetzt wende ich mich an die Grünen. Ich verstehe Fol-
gendes nicht: In Ihrem Antrag fordern Sie, dass die ener-





Eva Bulling-Schröter


(A) (C)



(D)(B)


gieintensiven Unternehmen lediglich 0,5 Cent Umlage
als Ausgleich für den preissenkenden Merit-Order-Ef-
fekt – ich habe ihn schon erklärt – zahlen sollen. Dieser
beträgt aber doch 0,9 Cent; das schreiben Sie selbst. Das
heißt also: Auch hier wird den Großverbrauchern noch
etwas gegeben. Wir haben einmal für einen Alubetrieb
berechnet, wie sich das auswirken würde, und kommen
auf einen Betrag von 20 Millionen Euro – und das ohne
Leistung. Das ist ein bisschen viel, oder?

Einige Ausnahmen halten auch wir für berechtigt. Die
Linke will nicht leichtfertig Arbeitsplätze aufs Spiel set-
zen. Das haben wir auch in unserem Antrag im
Frühsommer bereits x-mal gesagt. Weiterhin brauchen
wir eine effektive Stromaufsicht im Endkundenbereich.

Denn der Großhandelsmarkt und die Netze werden
natürlich überwacht; denn – kein Wunder – die Industrie
hat Interesse an niedrigen Strompreisen. Die Preisbil-
dung für Endverbraucher hingegen interessiert offen-
sichtlich niemanden. Das ist ebenfalls kein Wunder;
denn hier geht es ja nur um die privaten Haushalte und
nicht um die Konzerne. Der ganze Spuk kostet eine Fa-
milie rund 70 Euro im Jahr, und das betrifft nur diesen
Tatbestand; es kommt noch einiges andere hinzu.

Darüber hinaus müssen wir über die Stromsperren re-
den. Das ist wichtig. Stromsperren sind asozial, hierzu
habe ich gestern schon etwas gesagt.


(Beifall bei der LINKEN)


Reden müssen wir zudem über eine Abwrackprämie für
Stromfresser im Haushalt, damit die Leute Energie spa-
ren können. Man kann den Leuten doch nicht sagen, sie
sollen Energie sparen, weil die Preise steigen, und dabei
wissen sie überhaupt nicht, wie das funktioniert. Das
geht gar nicht.

Wir wollen ein Stromtarifmodell, in dem wir Effi-
zienz und soziale Gerechtigkeit miteinander verbinden.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir wollen mehr Geld in die energetische Gebäudesa-
nierung fließen lassen; das ist aus sozialen Gründen drin-
gend notwendig. Wir wissen, dass viele Menschen be-
reits aus ihren Wohnungen ausziehen mussten, weil sie
die Mieten nicht mehr bezahlen konnten.

Nicht zuletzt – da stimmen wir mit den Grünen nicht
überein – wollen wir die Stromsteuer senken. Ihre Len-
kungswirkung ist marginal.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Linke als Steuersenkungspartei!)


Wir setzen auf das Lenkungsinstrument EEG, Kollege
Meierhofer, und hier darf eben nicht gesenkt werden,
wie Sie es immer fordern. Wir wollen das EEG aus-
bauen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719821300

Frau Kollegin, Ihre Zeit ist abgelaufen.


Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719821400

Meine Zeit ist leider für heute abgelaufen.


(Horst Meierhofer [FDP]: Ich komme wieder, keine Frage!)


Der ökologische Umbau kann nur sozial gestaltet wer-
den, oder er wird auf Dauer nicht akzeptiert werden.
Deshalb brauchen wir soziale Strompreise.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719821500

Der Kollege Dr. Georg Nüßlein hat jetzt das Wort für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1719821600

Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Ich

hätte mir wenigstens einen Minimalkonsens gewünscht,
der gelautet hätte: Jawohl, dieser Energieumbau kostet
viel Geld. Wir müssen über die Frage diskutieren, wie
das Ganze verteilt werden soll und wie wir vorgehen
wollen.

Stattdessen erleben wir eine Feigenblattdiskussion
erster Güte, eine Haltet-den-Dieb-Debatte,


(Rolf Hempelmann [SPD]: Habt ihr gestern angefangen!)


bei der die eine Seite des Hauses versucht, der anderen
Seite den exorbitanten Anstieg der EEG-Umlage in die
Schuhe zu schieben. Das ist schon bemerkenswert.
Wenn gute Katholiken über Schuld und Unschuld spre-
chen, geht es mit der Erforschung des eigenen Gewis-
sens los. Hier haben Sie einiges auf dem Kerbholz.


(Florian Pronold [SPD]: Wer frei von Schuld ist, der werfe den ersten Stein!)


Ich möchte darauf hinweisen, dass die Freiflächenpho-
tovoltaik-Einspeisevergütung im Jahr 2003 45,7 Cent
und im Jahr 2005 noch 43,4 Cent betrug. Wenn man in
dem Tempo, das Sie da vorgegeben haben, weiterge-
macht hätte, wären wir heute noch bei einer Vergütung
in der Größenordnung von 30 Cent pro Kilowattstunde.
Es ist Legendenbildung, wenn hier manche behaupten,
sie hätten die notwendige Reduzierung der Einspeisever-
gütungen im Solarbereich mit großer Wonne unterstützt.
Das ist einfach falsch. Sie wissen ganz genau, dass die
Altlast, die das EEG mitschleppt, der Sprengsatz dieses
Gesetzes, die Tatsache ist, dass Sie mit der Photovoltaik
zu früh an den Markt gegangen sind, als es noch zu teuer
war. Das ist das Problem.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Es ist auf ganz besondere Art und Weise unredlich, uns
das jetzt in die Schuhe schieben zu wollen und zu sagen:
Schaut her! Die haben die böse Industrie von der Um-
lage befreit. Deshalb ist das so teuer.

Nun gestehe ich den Linken zu, dass sie das tun, was
sie an der Stelle immer tun, nämlich auf ihre Klientel
schielen und sagen: Wichtig ist, dass die Hartz-IV-Emp-
fänger befreit sind. Wir schenken ihnen auch noch einen
Kühlschrank. Dann ist die Welt wunderbar. –


(Zuruf von der LINKEN: Das ist ja peinlich!)






Dr. Georg Nüßlein


(A) (C)



(D)(B)


Das gestehe ich Ihnen zu; aber das interessiert hier wirk-
lich niemanden.

Wenigstens von der SPD, die in der Großen Koalition
bei dem Thema mit dabei war,


(Ulrich Kelber [SPD]: Wir waren nicht mit dabei! Ihr habt uns blockiert!)


hätte ich aber erwartet, dass sie sagt: Freunde, es ist voll-
kommen richtig, dass man die energieintensive Industrie
in Deutschland von der EEG-Umlage befreit; wir sind da
auf dem richtigen Weg. – Das hätte ich von Ihnen erwar-
tet.

Herr Krischer, Ihr komischer Vergleich mit dem
Durchschnitt ist im Übrigen Unfug. Denken Sie daran:
Deutschland ist die letzte Industrienation in Europa. Es
kommt nicht darauf an, ob wir knapp über oder knapp
unter dem Durchschnitt liegen, sondern darauf, dass wir
diesen Status halten; das ist entscheidend.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Das können wir nur tun, wenn wir dieses Thema auch im
internationalen Bereich sehr präzise angehen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719821700

Herr Nüßlein, der Kollege Lenkert möchte Ihnen eine

Zwischenfrage stellen. Möchten Sie sie zulassen?


Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1719821800

Ja, bitte schön, gerne.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719821900

Bitte.


Ralph Lenkert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719822000

Herr Kollege Nüßlein, ich stelle eine Frage zu den

Offshorewindparks, die von Ihrer Koalition bevorzugt
werden. Stimmen Sie mir zu, dass Sie den Betreibern der
Offshorewindparks mehrere Geschenke unterbreitet ha-
ben, indem Sie erstens eine Vergütung für die Off-
shorewindenergie in Höhe von 15,9 Cent pro Kilowatt-
stunde durchgesetzt haben – sie ist übrigens höher als die
Vergütung für Solarstrom –, zweitens den Netzkunden
die Kosten für den Anschluss der Offshorewindparks an
die Koppelpunkte an Land aufgedrückt haben und Sie
jetzt drittens als Krönung dafür gesorgt haben, dass die
Netzkunden, die nichts dafür können, die Versicherung
bezahlen müssen, die einspringt, wenn Windparks nicht
rechtzeitig angeschlossen werden bzw. es in Zukunft zu
Ausfällen kommt? Allein die Kosten der Versicherung
gegen das Risiko ausfallender Nutzungsstunden in den
Offshorewindparks betragen 1 Milliarde Euro; dieses
Geschenk haben Sie den Betreibern gemacht. Stimmen
Sie mir zu, dass dies Ihre Politik ist, die nicht über die
EEG-Umlage, aber über die Netznutzungsentgelte dazu
führt, dass die Kosten der Endverbraucher um 1 bis
2 Cent je Kilowattstunde steigen?


Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1719822100

Sie haben die Tragweite Ihrer Frage zum Schluss Gott

sei Dank selber relativiert; denn Sie haben immerhin
– das billige ich Ihnen zu – die Kosten richtig zugeord-
net. Sie stimmen mir doch hoffentlich zu, dass das, was
Sie gerade angeführt haben, nichts mit der Steigerung
der EEG-Umlage zum jetzigen Zeitpunkt zu tun haben
kann.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Das ist ja heute auch nicht das Thema! Da oben steht das Thema! Verteilung der Kosten der Energiewende ist das Thema!)


Das ist doch wohl Fakt. Deshalb ist Ihre Frage an dieser
Stelle komplett unsachgerecht.

Aber ich räume ein, dass es uns auch darum gehen
muss, das Thema Offshorewindenergie – da gab es bis
dato einen Konsens; Sie sind offenkundig bereit, ihn zu
kündigen – angesichts der größeren Zahl der Laststun-
den bei der Energiewende zu berücksichtigen. Da geht
es am Schluss natürlich auch um die Frage: Wer trägt
welche Risiken? Wie gestalten wir dies, dass am Schluss
noch investiert wird? Ich bitte Sie, zur Kenntnis zu neh-
men, dass wir redlich und ernsthaft darum ringen, diese
Risiken gerecht zu verteilen.

Sie sollten jetzt nicht noch eine Nebelkerze zünden;
aber das tun Sie, um die Verwirrung komplett zu ma-
chen. Es geht Ihnen nämlich bei diesen Debatten perma-
nent darum, die Verwirrung komplett zu machen, anstatt
zu sagen: Jawohl, diese Energiewende ist teurer. – Wir
müssen letztendlich über die Frage reden, wie wir damit
umgehen.


(Florian Pronold [SPD]: Keine Antwort auf die Frage!)


Ich sage Ihnen ganz offen: Es hat mich ernsthaft geär-
gert, dass Kollege Trittin und Ihr Parteivorsitzender,
Herr Özdemir, in letzter Zeit Unwahrheiten verbreitet
haben. Das ist schon ein dreistes Ding. Ich gehe gar
nicht auf die Zahlen ein; denn schon die Zahlen, die
Quantitäten waren falsch. Sie haben nämlich immer von
über 2 000 Unternehmen gesprochen, die von der Um-
lage befreit seien. Wenn man genau gelesen hätte, hätte
man gesehen, dass das die Unternehmen sind, die ent-
sprechende Anträge gestellt haben. Zum jetzigen Zeit-
punkt sind etwas über 700 Unternehmen befreit. Wenn
man weiter im Gesetz gelesen hätte, nicht Verwirrung
hätte stiften wollen und nicht bewusst die Unwahrheit
hätte sagen wollen, dann hätte man auch lesen können,
dass nur das produzierende Gewerbe und der Schienen-
verkehr befreit werden können. Ein Golfplatz ist selbst
bei der weitesten und naivsten Auslegung


(Zuruf von der CDU/CSU): Wider besseres

Wissen alles behaupten!)

kein produzierendes Gewerbe.

Wenn ich mir die Richtlinien der BAFA anschaue
– ich könnte sie Ihnen im Einzelnen vorlesen, aber dafür
reicht die Zeit leider nicht –, –






(A) (C)



(D)(B)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719822200

Aber vielleicht reicht die Zeit für eine Zwischenfrage.


Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1719822300

– dann finde ich auch dort keinen Golfplatz. Trotz-

dem tragen Sie diesen Golfplatz wegen des Verhetzungs-
potenzials monstranzartig vor sich her, damit Sie sagen
können: Das sind die anderen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Sie tun so, als ob das das Negativbeispiel wäre, anhand
dessen man zeigen könnte, welche bescheuerten Aus-
nahmen wir gemacht haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719822400

Herr Nüßlein, möchten Sie die Frage von Frau Höhn

zulassen?


Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1719822500

Ja.


Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719822600

Der arme Herr Nüßlein. – Herr Nüßlein, können Sie

bestätigen, dass zwei Golfplätze – einer liegt in Sontho-
fen – einen Antrag auf Befreiung von den Netzdurchlei-
tungsgebühren gestellt haben und dass Sie bei den Netz-
durchleitungsgebühren nicht den Faktor „Produktion“
berücksichtigt haben? Können Sie das bestätigen? Ja
oder nein?


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Nein! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Nein!)



Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1719822700

Frau Höhn, ich kann etwas dieser Art überhaupt nicht

bestätigen, weil ich nicht weiß, wer welchen Antrag
stellt. Das ist das Erste.

Im Unterschied zu Ihnen – das ist der zweite Punkt –
weiß ich auch nicht, wie dieser Antrag am Schluss be-
schieden wird; denn ich habe leider nicht so viel Augu-
renvermögen wie Sie.

Dritter Punkt – und das halte ich für ganz entschei-
dend –: Ich habe von der EEG-Umlage gesprochen, und
ich habe bis dato gedacht, dass auch Sie davon reden.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das tue ich ja!)


Jetzt reden Sie wieder von etwas anderem. Man muss
schon wissen, wovon man redet, wenn man nicht nur zur
Verwirrung beitragen will.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Sie wollen nur einseitig zur Verwirrung beitragen und
rufen: Die Kosten haben die anderen verursacht. Wir ha-
ben nur gute Dinge gemacht. – Das ist falsch und unred-
lich, und das kann man Ihnen an der Stelle nicht durch-
gehen lassen.

Reden Sie mit uns doch über vernünftige Dinge, bei-
spielsweise über die Frage, wie man die EEG-Umlage
berechnet. Das wäre eine spannende Debatte. Denn ich
sehe, dass die Berechnung einen Zirkelschluss enthält
und dass der Druck auf die Preise für Strom aus grenz-
kostenlosen erneuerbaren Energien dazu führt, dass die
EEG-Umlage steigt. Man kann darüber diskutieren, wie
man so etwas in Zukunft gestaltet. Das ist eine span-
nende Geschichte.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Dazu kommen doch keine Vorschläge von Ihnen!)


Auch über die Frage der Verteilung der Lasten durch
die EEG-Umlage kann man aus meiner Sicht diskutie-
ren. Vielleicht fällt uns etwas ein, wie wir die EEG-Um-
lage, die 20 Jahre läuft, so gestalten können, dass auch
die nachfolgende Generation – schließlich profitiert
diese davon, dass wir in die Erneuerbaren eingestiegen
sind und ohne variable Kosten Strom produzieren kön-
nen – einen Teil dieser Lasten übernimmt.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Die übernimmt schon ganz andere Lasten!)


Dazu gibt es intelligente Ideen. Dafür müssen Sie lesen,
was die CSU dazu publiziert. Das ist hochspannend,
nicht nur weil es von der CSU ist, sondern weil es – das
hängt natürlich damit zusammen – intelligent ist.


(Zuruf von der SPD: Da müssen Sie ja selber lachen!)


Ich lade Sie ein, solche Diskussionen mit uns zu füh-
ren, und möchte Sie bitten, hier nicht am laufenden Band
solche Verwirrungsaktionen zu starten. Schließlich ha-
ben wir morgen das Vergnügen, dasselbe Thema noch
einmal miteinander zu bereden.

Vielen herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Rolf Hempelmann [SPD]: Ihr hättet ja auf eure Debatte gestern verzichten können!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719822800

Ich schließe die Aussprache.

Es ist verabredet, die Vorlage auf Drucksache
17/11004 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse zu überweisen. Darüber gibt es Einvernehmen;
jedoch ist die Federführung strittig. Die Fraktionen von
CDU/CSU und FDP wünschen Federführung beim Aus-
schuss für Wirtschaft und Technologie, die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen hingegen beim Ausschuss für
Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.

Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag von
Bündnis 90/Die Grünen abstimmen. Wer stimmt für die-
sen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Damit ist dieser Überweisungsvor-
schlag abgelehnt. Zugestimmt haben die einbringende
Fraktion und die Linke. Die übrigen Fraktionen waren
dagegen.

Ich lasse jetzt über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen von CDU/CSU und FDP abstimmen. Wer ist





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Dieser
Überweisungsvorschlag ist bei Zustimmung durch die
Koalitionsfraktionen und die SPD angenommen. Dage-
gen waren die Linke und Bündnis 90/Die Grünen.

Jetzt rufe ich die Zusatzpunkte 6 a bis e auf:

ZP 6 a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Achten
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen
Wettbewerbsbeschränkungen (8. GWB-ÄndG)


– Drucksache 17/9852 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-

(9. Ausschuss)


– Drucksache 17/11053 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Ingo Egloff

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge-
ordneten Kerstin Andreae, Dr. Tobias Lindner,
Nicole Maisch, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Verbraucherschutz und Nachhaltigkeit im
Wettbewerbsrecht verankern

– Drucksachen 17/9956, 17/11053 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Ingo Egloff

c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Frak-
tionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Presse-Grosso gesetzlich verankern

– Drucksachen 17/8923, 17/9989 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Georg Nüßlein

d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Kultur und Medien

(22. Ausschuss) zu dem Antrag der Fraktionen

SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Instrumente zur Förderung der Medienvielfalt
auf solide Datenbasis stellen

– Drucksachen 17/9155, 17/11058 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Martin Dörmann
Burkhardt Müller-Sönksen
Kathrin Senger-Schäfer
Tabea Rößner

e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Kultur und Medien

(22. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-

ten Martin Dörmann, Siegmund Ehrmann, Petra

Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD

Freiheit und Unabhängigkeit der Medien si-
chern – Vielfalt der Medienlandschaft erhal-
ten und Qualität im Journalismus stärken

– Drucksachen 17/10787, 17/11045, 17/11082 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Reinhard Grindel
Martin Dörmann
Burkhardt Müller-Sönksen
Kathrin Senger-Schäfer
Tabea Rößner

Ich weise darauf hin, dass wir später über Art. 3 des
Gesetzentwurfs der Bundesregierung zur Änderung des
Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen nament-
lich abstimmen werden.

Zu dem genannten Gesetzentwurf liegt ein Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion der SPD vor.

Verabredet ist, eine halbe Stunde zu debattieren. –
Dazu sehe ich keinen Widerspruch.

Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Kollegen Dr. Martin Lindner für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Martin Lindner (FDP):
Rede ID: ID1719822900

Frau Präsidentin! Verehrte Damen! Meine Herren!

Ich freue mich, heute die Debatte über die achte GWB-
Novelle eröffnen zu dürfen. Der Bundeswirtschafts-
minister und diese Koalition stärken damit die wettbe-
werblichen Rahmenbedingungen in Deutschland. Diese
Reform ist ein klares ordnungspolitisches Signal, mit
dem Wachstumskräfte und der Wirtschaftsstandort
Deutschland nachhaltig gestärkt werden. Die Verbrau-
cher profitieren genauso davon.


(Beifall bei der FDP)


Ich glaube, es ist uns vor allem gut gelungen, auf der
einen Seite den Fokus klar auf kleine und mittlere Be-
triebe in Deutschland zu richten und auf der anderen
Seite nicht ohne Not starke und große Unternehmen zu
schwächen. Beispielsweise im Bereich des Presse- und
Medienwesens ist das hervorragend gelungen. Wir las-
sen zu, dass gerade in den Bereichen, in denen einzelne
Unternehmen bedroht sind, Fusionen zur Sanierung die-
ser Unternehmen stattfinden. Wir brauchen hier starke
Medienunternehmen. Das ist ein ganz klares Signal für
die Stärkung des Wettbewerbs im Medienbereich.

Oftmals ist groß auch klein. Markenunternehmen bei-
spielsweise haben große Marktanteile in ihren Branchen,
aber bezogen auf den Lebensmitteleinzelhandel insge-
samt haben sie nur einen kleinen Anteil am Marktsorti-
ment. Deswegen freue ich mich, dass wir beispielsweise
das Verbot des Verkaufs von Lebensmitteln unter Ein-
standspreisen um weitere fünf Jahre verlängern konnten.
Auch dies ist ein starkes Signal. Wir wollen gerade im
Handel in Deutschland Wettbewerb haben. Das tut den





Dr. Martin Lindner (Berlin)



(A) (C)



(D)(B)


Verbrauchern gut, das sorgt für günstigere Preise. Das
haben wir mit dieser Novelle richtig und gut gemacht.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich sage Ihnen: Es war richtig und wichtig, auch öf-
fentliche und gesetzliche Unternehmen in diese Novelle
einzubeziehen. In dieser Auffassung unterscheiden sich
die zwei Hälften dieses Hauses. Die linke Hälfte dieses
Hauses sagt: Was öffentlich-rechtlich ist, was hoheitlich
ist, was staatlich ist, ist gut und bedarf keiner Kontrolle.
Die vernünftige Hälfte des Hauses sagt:


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist was?)


Wer am Markt teilnimmt, muss sich auch der Aufsicht
stellen, unabhängig davon, ob es staatliche oder private
Anteilseigner gibt.


(Beifall bei der FDP)


Das gilt für den Bereich der Wasserversorgung und in
anderen Bereichen. In der Vergangenheit haben gerade
staatliche Monopolunternehmen für extrem hohe Preise
gesorgt. Deswegen ist es richtig und vernünftig, dass wir
ein Auge darauf haben und sich auch diese Unternehmen
in Deutschland dem Wettbewerb und der Aufsicht stel-
len müssen.

Ich komme zu den gesetzlichen Krankenkassen. Ich
sage Ihnen: Auch was einem sozialen Zweck dient, auch
was primär sozialgesetzlichen Regelungen unterstellt ist,
kann Preisabsprachen treffen, kann zum Nachteil des
Wettbewerbs verdrängen und fusionieren. Deswegen ist
es richtig, dass die gesetzlichen Krankenkassen ab sofort
der Fusionskontrolle in Deutschland unterliegen sollen.


(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Absurd!)


Nichts ist sozialer als ein gesunder, geregelter Wettbe-
werb in Deutschland. Nichts ist sozialer als dies. Nicht
die Schaffung und Förderung von privaten oder öffentli-
chen Monopolen ist die zentrale Aufgabe des Staates,
sondern die Herstellung und Stärkung von Wettbewerb.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das beinhaltet folgende Grundsätze:

Erstens. Der Markteintritt muss gesichert werden.

Zweitens. Es muss einen fairen Wettbewerb geben.
Dies beinhaltet übrigens auch den Austritt aus dem
Markt. Es beinhaltet auch, dass ein Unternehmenskon-
zept scheitern kann, wie das beispielsweise bei Quelle
oder Schlecker der Fall war. Dazu gehört auch, dass der
Staat nicht zulasten der Mitbewerber, die erfolgreiche
Unternehmenskonzepte haben, intervenieren kann.

Drittens: Wachstum und Größe ermöglichen – auch
das ist ein wichtiges Prinzip der Marktwirtschaft –, aber
gleichzeitig dafür sorgen, dass die Größe von Unterneh-
men nicht zu Verdrängungen auf dem Markt führt.

Ich glaube, diesen Grundsätzen wird diese Novelle in
hervorragender Weise gerecht. Diese Koalition und die-
ser Bundesminister werden weiterhin dafür sorgen, dass

wir Wettbewerb, Aufsicht und Fusionskontrolle zuguns-
ten der Marktwirtschaft und vor allen Dingen zugunsten
der Verbraucherinnen und Verbraucher in Deutschland
haben.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719823000

Herr Kollege!


Dr. Martin Lindner (FDP):
Rede ID: ID1719823100

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719823200

Der Kollege Ingo Egloff hat jetzt das Wort für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Ingo Egloff (SPD):
Rede ID: ID1719823300

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Die achte Novelle zur Änderung des GWB-
Gesetzes hat drei Jahre gebraucht, um es hier ins Plenum
zu schaffen, und in den letzten drei Wochen ist noch ein-
mal hektisch an dem Gesetzentwurf herumgeschraubt
worden, ohne dass man genau erkennen kann, warum.
Das Ergebnis ist anscheinend der kleinste gemeinsame
Nenner der Koalitionspartner. Jedenfalls sind Punkte, die
einst wortgewaltig von Herrn Brüderle angekündigt wor-
den sind, zum Beispiel Regelungen zur Entflechtung der
Unternehmen, dabei sang- und klanglos auf der Strecke
geblieben.


(Beifall bei der SPD)


Nicht ausreichend geregelt ist in dem Gesetzentwurf
die Frage der Abschöpfung unrechtmäßig erlangter
Kartellgewinne. Wer wie das Kaffeekartell unrecht-
mäßige Gewinne in Höhe von 860 Millionen Euro
macht, der lässt sich auch durch ein Bußgeld in Höhe
von 160 Millionen Euro nicht beeindrucken.


(Beifall bei der SPD)


Der wichtigste Kritikpunkt ist aus unserer Sicht aber
die Einbeziehung der gesetzlichen Krankenkassen in den
Bereich der Fusionskontrolle. Hier können wir wieder
einmal die neoliberale Resterampe der FDP besichtigen.


(Beifall bei der SPD – Zurufe von der FDP: Oh!)


Ich hatte in den letzten drei Wochen erwartet, dass die
Kollegen von der CDU/CSU – ich weiß von dem einen
oder anderen, dass er überhaupt nicht damit einverstan-
den ist, dass die Krankenkassen einbezogen werden –
diesen Punkt noch herausverhandeln. Aber anscheinend
haben sie sich nicht durchsetzen können und müssen den
Unsinn, den ihnen der liberale Koalitionspartner in die-
sen Gesetzentwurf geschrieben hat, hinnehmen.


(Beifall bei der SPD – Zuruf von der FDP: Warum ist das Unsinn?)


Diese Regelung hat in dem Gesetzentwurf nichts zu
suchen. Sowohl nach deutschem als auch nach europäi-





Ingo Egloff


(A) (C)



(D)(B)


schem Recht sind Krankenkassen keine Unternehmen im
kartellrechtlichen Sinne.


(Beifall bei der SPD)


Sie sind Teil der mittelbaren Landes- bzw. Bundesver-
waltung und laut Bundessozialgericht – hören Sie zu –
„organisatorisch verselbstständigte Teile der Staatsge-
walt“. Schreiben Sie sich das hinter die Ohren!


(Beifall bei der SPD)


Die Fusionskontrolle ist überflüssig, weil die freiwil-
lige Vereinigung von gesetzlichen Krankenkassen schon
dem sozialrechtlichen Genehmigungsvorbehalt durch
die Aufsichtsbehörde unterliegt.


(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: So ist es!)


Der Bundesrat hat völlig recht, wenn er feststellt,

dass das Verhalten der Krankenkassen weiterhin
nach sozialversicherungsrechtlichen Maßstäben
und allein durch die für die Rechtsaufsicht über die
jeweilige Krankenkasse zuständige Aufsichts-
behörde beurteilt wird.

Er stellt auch fest, dass einer Beteiligung des Bundes-
kartellamts verfassungsrechtliche Bedenken entgegen-
stehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Florian Toncar [FDP]: Warum die Länder das wohl wollen?)


Gesetzliche Krankenkassen als Körperschaften des
öffentlichen Rechts, die im Verhältnis untereinander und
zu ihren Mitgliedern vom Solidarprinzip geprägt sind,
sind nicht mit freien Unternehmen vergleichbar. Gesetz-
liche Krankenkassen sind Ausdruck des Sozialstaats-
prinzips – auch wenn Ihnen das nicht gefällt, Herr
Dr. Lindner – und deshalb zu Recht bisher von der Über-
prüfung durch die Kartellbehörden ausgenommen. Seien
Sie sicher: Wenn wir regieren, ändern wir das wieder.


(Beifall bei der SPD – Volker Kauder [CDU/ CSU]: Das wird lange nicht der Fall sein!)


Sie schaffen nicht nur überflüssige Doppelstrukturen
auf der Genehmigungsebene, sondern Sie gefährden auf
europäischer Ebene die Stellung der Krankenkassen. Wir
laufen Gefahr, dass die Anwendung des Kartellrechts zur
Folge hat, dass Krankenkassen nach europäischem
Recht als Unternehmen eingestuft werden, unter Aus-
blendung des sozialstaatlichen Auftrages.

Gesetzliche Krankenkassen sind zu einer kassenüber-
greifenden Solidargemeinschaft zusammengeschlossen,
innerhalb derer ein Kosten- und Risikoausgleich erfolgt.
Das Solidarprinzip lässt an dieser Stelle ein Gewinnstre-
ben nicht zu, und darüber hinaus besteht die Verpflich-
tung, jeden Versicherungspflichtigen aufzunehmen.

Sie gefährden aus ideologischen Gründen das System
der gesetzlichen Krankenkassen. Das Kartellrecht passt
hier nicht. Es ist systemwidrig, und deswegen lehnen wir
Ihren Gesetzentwurf ab.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719823400

Der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer spricht für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Joachim Pfeiffer (CDU):
Rede ID: ID1719823500

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Heute beschließen wir hier in zweiter und dritter Lesung
die achte Novelle zum Grundgesetz der sozialen Markt-
wirtschaft. Der Grundgedanke der sozialen Marktwirt-
schaft ist nämlich die Wettbewerbswirtschaft.


(Lachen bei Abgeordneten der LINKEN)


– Da sollten Sie auf der linken Seite nicht lachen, son-
dern gut zuhören, damit Sie vielleicht noch das eine oder
andere lernen.


(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Lassen Sie das „sozial“ mal weg!)


Gerade dieser Wettbewerb ist ursächlich dafür, dass
wir in diesem Land Fortschritt erzielen. Das GWB sorgt
nämlich durch den Rahmen, dieses Grundgesetz, das es
aufspannt, dafür, dass der Wettbewerb funktioniert und
möglichst ungehindert ein vielgestaltiger Wettbewerb
auf allen Märkten stattfindet, ganz im Sinne von Ludwig
Erhard. Anders als in der reinen Marktwirtschaft oder in
der menschenverachtenden Planwirtschaft nach Ihrem
Gusto besteht in der sozialen Marktwirtschaft das So-
ziale darin, dass die Effizienzgewinne, die über den
Wettbewerb im Markt gehoben werden, dem Verbrau-
cher in allen Sektoren zugutekommen. Es bedarf also
keiner sozialen Flankierung in dem Sinne, dass der Staat
eingreifen muss. Vielmehr hebt der Wettbewerb die Effi-
zienzpotenziale, die dem Verbraucher zugutekommen.
Das ist der Kerngedanke der sozialen Marktwirtschaft.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Super! Jetzt habe auch ich es verstanden! – Heiterkeit bei der CDU/CSU)


– Das freut mich, Volker.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Volker Kauder hat die soziale Marktwirtschaft verstanden! Sehr schön!)


Mit dieser Rolle kam das GWB bisher sehr gut zu-
recht. Daher beschränkt sich diese Novellierung auf Ver-
besserungen in Kernbereichen der Fusionskontrolle, der
Missbrauchsaufsicht und bei Verfahren wegen Kartell-
verstößen.

Was wird konkret geregelt? Hervorzuheben ist hier
die Verlängerung des Verbots der Preis-Kosten-Schere
um weitere fünf Jahre. Der Wettbewerb auf dem Kraft-
stoffsektor ist noch nicht so, wie wir uns das vorstellen.
Deshalb ist ein Gesetz in Vorbereitung – Stichwort
Markttransparenzstelle –, das insbesondere die kleinen
und mittleren Tankstellenbetreiber betrifft. Auch wird
die spezielle Preismissbrauchsaufsicht für marktbeherr-
schende Strom- und Gasanbieter um weitere fünf Jahre





Dr. Joachim Pfeiffer


(A) (C)



(D)(B)


verlängert. Dies ist notwendig, um in Bereichen, in de-
nen der Wettbewerb noch nicht vollendet funktioniert,
mit dem Hammer im Schrank dem Wettbewerb auf die
Beine zu helfen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zudem wird das wettbewerbliche Handeln der gesetz-
lichen Krankenkassen zukünftig dem Kartellrecht unter-
liegen. Darüber kann man in der Tat diskutieren. Aber
durch die Reformgesetze der vergangenen Jahre im
Krankenkassenbereich sind wesentliche wettbewerbli-
che Elemente in der Krankenversicherung gestärkt wor-
den. Beispielsweise wurden die Möglichkeiten der Kran-
kenkassen, Selektivverträge abzuschließen, erweitert.
Auch können sie in erweitertem Umfang Wahltarife und
Satzungsleistungen anbieten. Darüber hinaus haben wir
seit 2011 den für die Kassen individuell eingeführten
Zusatzbeitrag, der auch ein zentrales Unterscheidungs-
kriterium im Wettbewerb darstellt. Wenn Bereiche, die
bisher nicht im Wettbewerb standen, an den Wettbewerb
herangeführt werden oder in den Wettbewerb überführt
werden, ist es natürlich logisch, auch diese dem GWB zu
unterstellen und in das Grundgesetz der sozialen Markt-
wirtschaft einzubeziehen. Die effiziente Versorgung der
Patienten wird darunter nicht leiden.

Konflikte mit dem Sozialrecht, am Beispiel „Koope-
rationsgebot der Krankenkasse“, sind nicht zu erwarten.
Die Gefahr, dass die EU durch die Hintertür über den
Wettbewerb in den Gesundheitsbereich eingreift, was
wir uns nicht wünschen, sehe ich in Deutschland als
nicht gegeben an.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Auch gemeinsames Handeln der Krankenkassen ist
zukünftig weiterhin möglich, beispielsweise beim
Mammografie-Screening. Im vorliegenden Gesetzent-
wurf geht es um einen regelrechten Bauchladen von
Themen, weil er alle betroffenen Sektoren behandelt.
Der Handlungsspielraum kleinerer und mittlerer Presse-
unternehmen wird gestärkt. Die Aufgreifschwelle bei
Fusionen von Zeitungs- und Zeitschriftenverlagen wird
von 25 auf 52,5 Millionen Euro erhöht; dies stärkt die
kleinen Verlage, den Mittelstand und die Medienland-
schaft insgesamt. Auch sind Sanierungsfusionen zukünf-
tig leichter möglich, als es bisher der Fall ist. Uns ist
lieber, dass kleine Verlage übernommen werden, als dass
sie aus wirtschaftlichen Gründen ganz aus dem Markt
ausscheiden.


(Zuruf von der FDP: Sehr richtig!)


Last, but not least wird das Presse-Grosso-System
durch eine Betrauungslösung rechtlich abgesichert.
Auch dies stärkt die Pressevielfalt, insbesondere im
ländlichen Raum.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719823600

Herr Kollege!


Dr. Joachim Pfeiffer (CDU):
Rede ID: ID1719823700

Gibt es eine Zwischenfrage?


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719823800

Nein. Aber Sie sind schon seit 40 Sekunden über Ih-

rer Zeit.


Dr. Joachim Pfeiffer (CDU):
Rede ID: ID1719823900

Gemäß dem ehemaligen Vorsitzenden der Monopol-

kommission, Möschel, schließe ich, ganz wie es die Prä-
sidentin wünscht, –


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719824000

Wie es Ihre Zeit vorsieht.


Dr. Joachim Pfeiffer (CDU):
Rede ID: ID1719824100

– wie folgt:

Die Erfahrung zeigt, daß da, wo Märkte funktionie-
ren, jeder kriegt, was er will.

Wir wollen, dass jeder kriegt, was er will. Deshalb hof-
fen wir nicht nur heute im Bundestag, sondern auch im
Bundesrat auf Zustimmung zum vorliegenden Gesetz-
entwurf.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719824200

Kathrin Vogler hat jetzt das Wort für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Jetzt kommt das Gegenmodell: die Planwirtschaft!)



Kathrin Vogler (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719824300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir reden hier und heute über die immerhin achte No-
velle zum Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen.
Wenn es dabei darum ginge, die Verbraucherinnen und
Verbraucher und die kleinen und mittleren Unternehmen
vor der Marktmacht der Großkonzerne zu schützen,
dann würde die Linke ihr gerne zustimmen. Aber dazu
ist sie leider völlig unzureichend.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer? Die Linke oder die Novelle?)


Illegale Preisabsprachen schädigen die Verbrauche-
rinnen und Verbraucher in Millionen- oder sogar Milliar-
denhöhe. Beim sogenannten Badezimmerkartell zum
Beispiel schätzt man, dass es um einen Betrag von
7 Milliarden Euro ging. Die Linke fordert deshalb ers-
tens deutliche Verbesserungen für die Verbraucherinnen
und Verbraucher im Klageverfahren. Zweitens wollen
wir, dass die Geschädigten ihr zu viel gezahltes Geld un-
bürokratisch zurückbekommen, etwa durch einfachere
Sammelklagen. Und: Ein Fünftel der Bußgelder soll der
unabhängigen Verbraucherarbeit zufließen.


(Beifall bei der LINKEN)


Das leistet Ihr Gesetzentwurf leider nicht. Dabei
könnten Sie hier wirklich etwas Gutes für die Verbrau-
cherinnen und Verbraucher tun. Stattdessen verfolgt die
schwarz-gelbe Bundesregierung die absurde Idee, das
Kartellrecht jetzt noch mehr über die gesetzlichen Kran-





Kathrin Vogler


(A) (C)



(D)(B)


kenkassen zu stülpen. Das ist aber völlig neben der Spur.
Die gesetzlichen Krankenkassen sind keine Wirtschafts-
unternehmen. Sie haben einen gesetzlichen Auftrag, der
nahezu das gesamte Leistungsspektrum regelt. Ihre Ver-
sicherten sind keine Kunden, sondern Mitglieder; sie
zahlen keine Versicherungsprämien, sondern Beiträge,
und die Kassen dürfen keine Gewinne machen.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Linke sagt: So soll es bleiben. Wir wollen eine soli-
darische gesetzliche Krankenversicherung erhalten und
sie zu einer Bürgerinnen- und Bürgerversicherung wei-
terentwickeln.

Aber für die FDP und leider auch für große Teile der
Union ist dies ein kaum erträglicher Fremdkörper im
neoliberalen Weltbild.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Ei, ei, ei!)


Sie predigen Ihren Glaubenssatz vom Wettbewerb der
Kassen. Dazu gehört dann eben auch, dass Kassen nicht
mehr zusammenarbeiten dürfen, wenn sie dadurch eine
große Marktmacht erringen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Falsch! Das ist doch gar nicht wahr! – Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht!)


Dabei wäre genau diese Zusammenarbeit im Interesse
der Versicherten.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719824400

Frau Kollegin, es gibt den Wunsch nach einer Zwi-

schenfrage, und zwar von Frau Aschenberg-Dugnus.


Kathrin Vogler (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719824500

Sehr gerne.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719824600

Bitte schön.


Christine Aschenberg-Dugnus (FDP):
Rede ID: ID1719824700

Vielen Dank. – Liebe Frau Kollegin Vogler, ist Ihnen

eigentlich bewusst, dass wir mit der vorliegenden GWB-
Novelle eine entsprechende Anwendung des Wett-
bewerbs- und Kartellrechts anordnen, eben keine unmit-
telbare? Ist Ihnen bewusst, dass mit der juristischen For-
mulierung „entsprechend“ dem Umstand Rechnung
getragen wird, dass die Krankenkassen keine Unterneh-
men sind?

Ist Ihnen weiterhin bewusst, dass bereits seit 2007
Vorschriften des Kartellrechts im Hinblick auf das Ver-
hältnis zwischen Krankenkasse und Leistungserbringer
ebenfalls entsprechend angewendet werden und dass
niemand, auch nicht der EuGH, deswegen auf die Idee
kommt, daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, eine Ein-
ordnung der Krankenkassen als Unternehmen vorzuneh-
men?

Ist Ihnen weiterhin bekannt, dass im EU-Kartellrecht
ein funktionaler Unternehmensbegriff vorherrscht, das
heißt, dass die Einführung der wettbewerblichen Ele-

mente nicht dazu führt, dass die Krankenkassen künftig
als Unternehmen einzuordnen sind? Ich frage mich, was
zutrifft: Wissen Sie das, sagen aber etwas anderes, oder
wissen Sie das nicht? In diesem Fall sollten Sie viel-
leicht Ihre Rede umschreiben.


Kathrin Vogler (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719824800

Liebe Frau Kollegin, ich bedanke mich sehr für diese

Frage, weil mir das ermöglicht, noch ein bisschen mehr
auf Details einzugehen.

Tatsächlich haben Sie offensichtlich auch gemerkt,
welche Schwierigkeiten mit dieser GWB-Novelle ins
Haus stehen, wenn Sie nicht nachbessern. Deshalb haben
Sie uns gestern im Ausschuss ja auch noch einen Ände-
rungsantrag vorgelegt, der den Kassen zumindest teil-
weise weiter gemeinsames Handeln erlaubt. Liebe Kol-
legin Aschenberg-Dugnus, das macht den gesamten
Gesetzentwurf aber nicht besser, sondern allenfalls kom-
plizierter.

Meine Prognose ist, dass wir erleben werden, wie sich
Heerscharen hochdotierter Consulting-Unternehmer, Be-
rater, Juristen und Fachreferenten damit auseinanderset-
zen werden, wo jetzt die Grenze zwischen der von Ihnen
mit diesem Gesetzentwurf erlaubten und der unerlaub-
ten, weil kartellrechtlich zu kontrollierenden, Zusam-
menarbeit liegt. Das heißt, die Versicherten, die Patien-
tinnen und Patienten, haben davon gar nichts, aber es
gibt eine ganze Schar von Leuten, die dadurch wieder
sehr gutes Geld verdienen werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN – Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Vielen Dank für die Nichtbeantwortung der Frage!)


Im Übrigen gibt es keinen einzigen Hinweis darauf,
dass Ihre Art von Wettbewerb den Versicherten nutzt. Im
Gegenteil: Er führt zur Konkurrenz der Kassen um junge
und gesunde Mitglieder und zu Kostendrückerei zulasten
Kranker. Der Versicherte wird im Krankheitsfall zum
Kostenfaktor. Dieses Welt- und Menschenbild lehnt die
Linke ab. Gesundheit ist für uns keine Ware.


(Beifall bei der LINKEN)


Jetzt kurz noch einmal zur SPD. Herr Kollege Egloff,
Sie gebärden sich hier ja sehr schön populistisch als Ret-
ter der Krankenkassen vor dem Wettbewerbsrecht.


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Das mit dem Populismus ist Ihnen ja fremd!)


Erinnern Sie sich nicht mehr daran, dass Sie es waren,
die die Krankenkassen mit den Wahltarifen, den Selek-
tivverträgen, den Zusatzbeiträgen, den Prämien und an-
deren unternehmerischen Elementen in den ökonomi-
schen Wettbewerb geschickt haben? Jetzt stellen Sie
ganz überrascht fest, dass Sie mit dem Wettbewerb, den
Sie wollten und den Sie gesät haben, Wettbewerbsrecht
ernten.


(Ingo Egloff [SPD]: Das stimmt doch nicht!)






Kathrin Vogler


(A) (C)



(D)(B)


Die Linke sagt kategorisch: Im Gesundheitswesen
darf es Wettbewerb nur und ausschließlich um die beste
Versorgung von Patientinnen und Patienten geben.


(Beifall bei der LINKEN – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Dafür ist das Kartellrecht doch da! – Gabriele Molitor [FDP]: Wir machen das doch für die Patienten! – Gisela Piltz [FDP]: Wissen Sie eigentlich, wovon Sie sprechen?)


Darum müssen wir uns bei Ihrem Entschließungsantrag
leider auch enthalten.

Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD
und Grünen, die gesetzliche Krankenversicherung ernst-
haft als soziales Umlagesystem erhalten wollen und zu
einer solidarischen Bürgerinnen- und Bürgerversiche-
rung für alle ausbauen, dann schreiten wir gerne mit Ih-
nen Seit’ an Seit’.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1719824900

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Tobias Lindner.


Dr. Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719825000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Diese Debatte
zeigt: Wir sind uns in diesem Haus über zwei Dinge ei-
gentlich einig:

Erstens. Das Kartellrecht ist wichtig in unserer sozia-
len Marktwirtschaft. Wettbewerb ist kein Selbstzweck.
Wettbewerb ist nicht aus sich heraus gut, nein, Wettbe-
werb soll sicherstellen, dass die Konsumentinnen und
Konsumenten den Preis bezahlen, der einerseits für Pro-
duzenten kostendeckend ist, andererseits aber nicht
übertriebene Gewinne ermöglicht.


(Beifall des Abg. Daniel Bahr [Münster] [FDP])


Zweitens. Eine Reform des Kartellgesetzes ist drin-
gend notwendig; denn ein solches Gesetz muss immer
wieder an die Zeichen der Zeit angepasst werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es gibt aber eine Sache, über die wir uns gar nicht ei-
nig sind. Sie von der rechten Seite des Hauses haben hier
diese Novelle, die in den letzten Tagen – man kann
schon fast sagen: im Schweinsgalopp – durchgepeitscht
wurde, in den Himmel gelobt. Mein Kollege Dr. Martin
Lindner sprach eben von einem klaren Signal für das
Wettbewerbsrecht. Nein, Herr Dr. Lindner, das ist alles
andere als ein klares Signal. Was Sie hier vorlegen, ist
vielmehr eine Nebelkerze.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich habe Ihnen etwas mitgebracht. Sie können es von
dort aus vermutlich nicht erkennen. Es ist die Seite 18
Ihres Koalitionsvertrages. Dort schreiben Sie:

In das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen
wird als ultima ratio ein Entflechtungsinstrument
integriert.

Auch die Experten in der Anhörung und die Mono-
polkommission sind der Auffassung: Wir brauchen auch
im Kartellrecht ein missbrauchsunabhängiges Entflech-
tungsinstrument als Ultima Ratio.

Mit anderen Worten: Es ist in Oligopol und Monopol
alles andere als leicht, einen Missbrauch nachzuweisen.
Deshalb müsste diese Forderung in dieser Novelle des
Kartellgesetzes stehen, und das tut sie nicht.

Ich will auf einen anderen Punkt eingehen – ich habe
es anfangs erwähnt –: Das Kartellgesetz, der Wettbewerb
stehen im Dienst der Verbraucherinnen und Verbraucher.
Wer, wenn nicht die Verbraucherinnen und Verbraucher,
muss oftmals die durch Kartelle abgesprochenen über-
höhten Preise bezahlen? Wer, wenn nicht die Verbrau-
cherinnen und Verbraucher, kann dazu beitragen, dass
Marktmissbrauch aufgedeckt wird, und wer, wenn nicht
die Verbraucherinnen und Verbraucher, profitiert von
fairem Wettbewerb?

Meine Damen und Herren, meine Fraktion, wir for-
dern, dass die Belange des Verbraucherschutzes ins Kar-
tellgesetz aufgenommen werden und dass Verbraucher-
verbände auch entsprechend gestärkt werden. Das ist
dringend notwendig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch geschehen!)


Lassen Sie mich an dieser Stelle, gerade weil wir in
einer parlamentarischen Debatte sind, noch einen Punkt
erwähnen. Es geht mir um die Ministererlaubnis, darum,
dass wir uns da nicht falsch verstehen. Da wollen wir die
Bundesregierung nicht aus der Verantwortung lassen. Es
ist richtig, dass der Bundeswirtschaftsminister die Ver-
antwortung trägt, wenn eine seltene Ausnahme gemacht
wird. Aber genauso wichtig und richtig ist es in einer
parlamentarischen Demokratie, dass dann der Bundestag
bzw. der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie das
Recht zu einer Stellungnahme zu einer solchen Aus-
nahme hat und, wenn er anderer Auffassung ist, dann die
Bundesregierung nochmals entscheiden muss. Das wol-
len wir im Kartellgesetz ergänzt sehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte auf einen allerletzten Punkt eingehen. Das
Thema Krankenkassen ist vielfach angesprochen worden.
Es ist völlig unstrittig, dass natürlich auch gesetzliche
Krankenkassen beaufsichtigt werden müssen.


(Beifall der Abg. Daniel Bahr [Münster] [FDP] und Kathrin Vogler [DIE LINKE])


Das ist überhaupt nicht das Problem. Aber was das Pro-
blem ist – da blicke ich genau in Ihre Richtung, zu der
Partei, die sich immer des Bürokratieabbaus rühmt –:
Warum machen Sie das dann nicht über das Sozialge-
setzbuch? Warum machen Sie eine Art doppelte Prü-
fung?





Dr. Tobias Lindner


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall der Abg. Ingo Egloff [SPD] und Kathrin Vogler [DIE LINKE])


Das ist alles andere als effizient. Nein, das ist ein neues
Bürokratiemonster, das Sie hier aufbauen. Das wird
noch eine Menge Konflikte geben.

Ich komme zum Schluss. Die vorliegende Novelle des
Kartellrechts macht eines deutlich: Sie haben die Zei-
chen der Zeit nicht erkannt. Diese Novelle programmiert
die nächste Überarbeitung des Gesetzes gegen Wettbe-
werbsbeschränkungen schon vor. Deshalb werden wir es
heute in dieser Abstimmung ablehnen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1719825100

Für die Bundesregierung spricht jetzt der Parlamenta-

rische Staatssekretär Hans-Joachim Otto.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


H
Hans-Joachim Otto (FDP):
Rede ID: ID1719825200


Danke schön. – Herr Präsident! Meine lieben Kolle-
ginnen und Kollegen! Ich habe mich als Staatssekretär
des Bundeswirtschaftsministeriums gemeldet, aber ich
spreche hier natürlich auch als ein langjähriger Kultur-
und Medienpolitiker. Deswegen will ich Ihnen eingangs
ganz offen einräumen, dass manche der Änderungen im
Pressebereich dem Bundeswirtschaftsministerium und
mir persönlich gar nicht leichtgefallen sind. Wir haben
das alles nicht leichtfertig gemacht. Das gilt insbeson-
dere für die Bagatellanschlussklausel, die dazu führt,
dass alle Verlage mit weniger als 1,25 Millionen Euro
Umsatz pro Jahr ohne jede Überprüfung durch das Kar-
tellamt übernommen werden können.


(Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wollten Sie doch gar nicht!)


Das ist ein Zielkonflikt. Das will ich hier ganz offen
kennzeichnen. Wirtschaftliche Ordnungspolitik, für die
das Bundeswirtschaftsministerium ja steht, gebietet eine
starke Wettbewerbskontrolle durch das Kartellamt.

Weshalb also erleichtern wir im Pressebereich die Fu-
sionskontrolle? Wir tun das, meine Damen und Herren,
weil die Digitalisierung der Medien zu einer wirklich ra-
santen Marktveränderung geführt hat und in Zukunft
noch weiter führen wird. Die Umsätze verschieben sich
in immer größerem und immer schnellerem Umfang von
Printangeboten hin zu digitalen Angeboten. Wir müssen
deshalb insbesondere die kleinen und mittleren Verlage,
die vor großen Umstellungen, vor großen Investitionen
stehen, in die Lage versetzen, die Herausforderungen ge-
meinsam zu stemmen und sich leichter zusammenzu-
schließen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Deswegen haben wir die Aufgreifschwellen erhöht,
deshalb haben wir die Sanierungsfusionen erleichtert,
und deshalb haben wir auch die Bagatellanschlussklau-
sel vorgesehen.


(Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Fusionen waren schon möglich!)


Lassen Sie mich noch ein Wort zum Presse-Grosso
sagen. Ich hätte es wirklich sehr begrüßt, wenn die im
Gesetzentwurf vorgesehene europarechtliche Betrauung
und kartellrechtliche Befreiung der Printverlage und des
Grosso-Verbandes überflüssig geworden wären.

Deswegen habe ich im Vorfeld alle Beteiligten und
auch alle fünf Fraktionen zu mehreren Sitzungen eines
runden Tisches eingeladen. Wir mussten dort allerdings
feststellen, dass eine außergesetzliche Einigung leider
nicht möglich war und auf der anderen Seite eine anste-
hende Klage gegen das Grosso-System die Gefahr her-
aufbeschworen hat, dass hier Schaden entsteht.

Wir haben uns deshalb schweren Herzens – das will
ich ganz klar sagen – zu dieser Gesetzesänderung durch-
gerungen, mit der wir gesetzgeberisches Neuland betre-
ten. Wir hatten so etwas noch nicht. Es sind bereits – das
muss man offen sagen – Klagen gegen diese Neufassung
angekündigt.

Diese Regelung ist allerdings dennoch unumgänglich,
weil wir wissen, dass das bewährte Grosso-System ein
Garant für die weltweit einmalige Pressevielfalt in
Deutschland ist, für die Überallerhältlichkeit, für die
Diskriminierungsfreiheit aller Presseerzeugnisse. Wir
dürfen nicht zulassen, dass dieses bewährte Presse-
Grosso-System in seinem Kern gefährdet oder gar zer-
stört wird.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU sowie des Abg. Martin Dörmann [SPD])


Wir werden dadurch bestärkt, dass bis auf einen alle
deutschen Zeitungs- und Zeitschriftenverlage, der Grosso-
Verband und auch alle fünf Fraktionen des Deutschen
Bundestages hinter dieser Änderung stehen. Ich bin seit
rund 20 Jahren Mitglied dieses Hohen Hauses. Ich kann
mich nicht erinnern, dass es eine Änderung oder einen
Vorschlag gegeben hat, der in diesem Detail von allen
fünf Fraktionen dieses Hauses gemeinsam getragen
wurde.

Deswegen will ich hier abschließend feststellen: Alle
fünf Fraktionen des Bundestages bekennen sich zur
Pressevielfalt in Deutschland, bekennen sich zum
Presse-Grosso-System, das diese Pressevielfalt sichert.
Das ist immerhin eine gute Nachricht. Ich hoffe, dass es
uns gelingen wird, mit dieser Änderung dazu beizutra-
gen, dass wir diese einmalige Pressevielfalt auch in Zu-
kunft erhalten können.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1719825300

Jetzt hat das Wort der Kollege Martin Dörmann von

der SPD.


(Beifall bei der SPD)



Martin Dörmann (SPD):
Rede ID: ID1719825400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Mein Fraktionskollege Ingo Egloff hat bereits prägnant
dargelegt, warum wir heute die GWB-Novelle insgesamt
ablehnen werden. Ich möchte aber einige ergänzende
Anmerkungen zu den presserelevanten Bestimmungen
machen und dabei auch auf den von der SPD-Fraktion
vorgelegten Medienantrag eingehen, über den wir heute
auch beraten.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Nein!)


Für die SPD-Fraktion ist die Sicherung der Medien-
freiheit und der Medienvielfalt von zentraler Bedeutung.
Wir begrüßen es deshalb sehr – Herr Kollege Otto, Sie
wissen das –, dass die Koalition unsere Forderung nach
einer gesetzlichen Absicherung des Presse-Grosso-Ver-
triebssystems aufgegriffen hat und die bewährte Mög-
lichkeit von freiwilligen Branchenvereinbarungen erhält.

Das bisherige Presse-Grosso-System verhindert, dass
größere Verlage bessere Konditionen als kleine Verlage
erhalten, und trägt so entscheidend zu einer vielfältigen,
diskriminierungsfreien und flächendeckenden Medien-
landschaft bei. Die vorgesehenen Änderungen beim
Pressefusionsrecht sehen wir differenziert. Wegen der
besonderen Bedeutung der Presse für die Meinungsbil-
dung und damit für unsere Demokratie ist es wichtig,
dass hierfür auch weiterhin strengere Sonderregelungen
gelten als im übrigen Wettbewerbsrecht.

Richtig ist andererseits aber auch, dass wir in einer
veränderten Medienwelt leben und dass insbesondere die
Zeitungsverlage unter besonderen wirtschaftlichen Druck
geraten sind. Vor diesem Hintergrund können wir eine
vorsichtige Lockerung des Pressefusionsrechts mittra-
gen, soweit hierdurch in einer Gesamtbetrachtung die
Medienvielfalt eher gestärkt und eben nicht geschwächt
wird.

So halten wir eine Erleichterung bei der Sanierungs-
fusion in engen Grenzen durchaus für sinnvoll, um defi-
zitäre Zeitungstitel überhaupt noch zu erhalten. Wettbe-
werbsrechtlich gerade noch vertretbar erscheint uns auch
eine Erhöhung der Aufgreifschwellen für kartellrechtli-
che Verfahren. Ich will darauf hinweisen, dass das in der
Anhörung des Wirtschaftsausschusses sowohl die Mo-
nopolkommission als auch das Bundeskartellamt ent-
sprechend gesehen haben. Sie haben aber auch gleich-
zeitig betont, dass hierdurch eine rote Linie erreicht sei,
und Sie haben vor weiteren Änderungen insbesondere
bei der Bagatellanschlussklausel gewarnt. Herr Otto, ich
habe Ihr schlechtes Gewissen herausgehört. Wir glau-
ben, dass an dieser Stelle die Balance insgesamt doch
nicht mehr stimmt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Falsch!)


Wir kritisieren allerdings scharf, dass die Regierungs-
koalition einseitig nur auf wettbewerbsrechtliche Rege-
lungen fokussiert ist und weitergehende, aber notwen-
dige Maßnahmen zur Sicherung der Medienvielfalt und
von Qualität im Journalismus verweigert. Die SPD-
Fraktion hat hierzu einen umfassenden Antrag vorgelegt.
Darin schlagen wir ein Maßnahmenbündel vor, um die
Qualität, die Freiheit und die Unabhängigkeit der Me-
dien in einer sich verändernden Medienlandschaft zu
sichern. Dies reicht von neuen Modellen zur Finanzie-
rung von Journalismus bis hin zu Fragen der Medienord-
nung, die man natürlich gemeinsam mit den Ländern an-
gehen muss.

Im laufenden Haushaltsverfahren verweigert die
Koalition zudem die Finanzierung und ständige Aktuali-
sierung einer Medienstatistik. Genau die ist aber Vo-
raussetzung für belastbare Daten für zukünftige Ent-
scheidungen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Insgesamt springt die schwarz-gelbe Koalition auch me-
dienpolitisch deutlich zu kurz.

Ich komme zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kol-
legen. Wir laden alle Fraktionen ein, mit uns nicht nur
beim Presse-Grosso für gemeinsame medienpolitische
Lösungen einzutreten bzw. diese zu finden. Unsere Vor-
schläge jedenfalls liegen auf dem Tisch.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1719825500

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat

jetzt der Kollege Dr. Georg Nüßlein von der CDU/CSU-
Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1719825600

Herr Präsident! Meine Damen, meine Herren! Kritik

ist natürlich das Metier der Opposition. Ich hätte mich
trotzdem gefreut, wenn wir – so wie es der Kollege
Dörmann gerade exerziert hat – ein paar lobende Worte
mehr insbesondere zu dem gehört hätten, was man hier
beispielsweise im Bereich des Presse-Grossos imple-
mentiert hat.


(Ingo Egloff [SPD]: Habe ich doch gemacht!)


Nichtsdestotrotz gebe ich auch zu, dass ich den einen
oder anderen kritischen Einwurf zum Thema Kranken-
kassen nachvollziehen kann. Ich bin aber der Auffas-
sung, dass Sie sich damit auf den Regierungsentwurf be-
ziehen und nicht auf das, was nach Veränderungen durch
das Parlament hier heute zu beschließen ansteht.

Meine Damen und Herren, wir haben dafür gesorgt,
dass auf der einen Seite wichtige, gebotene und auch ge-
setzlich vorgegebene Möglichkeiten der Kooperation
zwischen Krankenkassen ermöglicht werden, dass man
auf der anderen Seite aber über die Fusionskontrolle





Dr. Georg Nüßlein


(A) (C)



(D)(B)


auch sicherstellen kann, dass noch eine Vielzahl von
Krankenkassen erhalten bleibt und dass auch da der
Wettbewerb eine Rolle spielt. Darauf kommt es uns ent-
scheidend an.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Bei der anderen Thematik, die hier kritisch erwähnt
wurde, handelt es sich um das Fehlen einer miss-
brauchsunabhängigen Entflechtungsbefugnis. Meine
Damen und Herren, als wir das Thema am Beginn der
Koalition diskutierten, taten wir uns alle miteinander
schwer, Anwendungsbeispiele – und zwar solche, die
rechtlich durchsetzbar sind – zu finden. Ich finde es hoch
spannend, dass die SPD plötzlich einen Antrag formu-
liert und alle problematischen Märkte in ganz Deutsch-
land aufführt, wo man dieses Instrument jetzt, weil es
nicht kommt, angeblich hätte anwenden können, um mit
diesem Allheilmittel alles zu klären und alles zu regeln.

Meine Damen und Herren, Sie wissen präzise: Dieses
missbrauchsunabhängige Entflechtungsinstrument wäre
ein stumpfes Schwert gewesen. Es wäre auf der einen
Seite verfassungsrechtlich höchst problematisch, auf der
anderen Seite wäre es, wenn man es wirklich hätte an-
wenden wollen, so an Vorprüfungen und rechtliche Ein-
schränkungen gebunden gewesen, dass es schier unmög-
lich gewesen wäre, damit etwas zu tun. Ein stumpfes
Schwert, meine Damen und Herren! Trotzdem sage ich
ganz offen: Auch mit einem stumpfen Schwert kann man
Schaden anrichten, wenn die Falschen damit herumfuch-
teln. Deshalb ist es ganz gut – es kann ja einmal sein,
dass jemand von Ihrer Seite damit fuchtelt –, dass wir
das an dieser Stelle unterlassen und eben nicht in diese
Novelle implementiert haben.

Zum Thema „schwierige Märkte“ habe ich schon ei-
niges erwähnt. Wir haben auch etwas zum Thema
„Presse und Medien“ – was sich da verändert hat – ge-
hört. Ich glaube, es ist ganz spannend, dass uns gerade
das Thema Pressefusionskontrolle sehr beschäftigt hat.
Wie stellt man sicher, dass auf einem Markt, auf dem
die Auflagen so dramatisch zurückgehen – und zwar
nicht deshalb, weil das von irgendeiner Politik beein-
flusst wird, sondern weil die Mediennutzung so ist, wie
sie ist –, die eine oder andere Tageszeitung letzten Endes
trotzdem weiter existieren kann? Eben im Wege der Fu-
sion. Ich halte es für wichtig, richtig, geboten und sinn-
voll, dass man das dann so macht und sagt: Dann muss
man ein bisschen großzügiger mit der Fusionskontrolle
umgehen.

In der Tat hat uns das Thema Presse-Grosso sehr in-
tensiv beschäftigt. Ich bin dem Kollegen Otto ausdrück-
lich dankbar für seine Versuche, zu klären, welche Mög-
lichkeiten zur Gestaltung es gibt. Denn der runde Tisch
war letztendlich auch das, nämlich ein Ansatz, zu klären,
was man tun kann, um ein jahrzehntelang geduldetes
Kartell so abzusichern, dass es gegen Europarecht beste-
hen kann. Denn wir alle wissen, meine Damen und Her-
ren, dass dieses Kartell, wenn es darum ging, Presseer-
zeugnisse flächendeckend auch im ländlichen Raum zu
verteilen, dazu beigetragen hat, dass die Medienland-
schaft in Deutschland anders aussieht als beispielsweise
in Frankreich.

Es ist auch ein spannendes Lehrstück, dass man er-
kennen muss, dass die Wettbewerbsbeschränkung an der
einen Stelle für mehr Wettbewerb an der anderen Stelle
sorgt. Wettbewerbsbeschränkung bei der Verteilung von
Medien sorgt nämlich dafür, dass wir dann zwischen den
Medien mehr Wettbewerb haben. Deshalb haben wir uns
am Schluss durchgerungen, diesen Schritt zu gehen und
beide, die Grossisten und die Verleger, mit einer Auf-
gabe zu betrauen, von der wir meinen, dass sie kulturell
und auch national von besonderer Bedeutung ist.

Die EU macht an dieser Stelle etwas Bemerkenswer-
tes: Sie öffnet das Tor im Wege der Betrauung, Ausnah-
men zu machen; dabei greift das europäische Kartell-
recht nicht. Es war gut, Herr Kollege Otto, dass wir
durch dieses Tor gegangen sind und die Gestaltungs-
möglichkeiten nutzen, die die EU eröffnet. Man sollte
nicht immer nur über die Kollegen in Brüssel schimpfen,
sondern auch das regeln und gestalten, was sie uns in
dieser Weise eröffnen. Das ist eine gute Sache. Ich hoffe,
dass dieses Vorhaben jetzt nicht beim Thema Kranken-
kassen am Bundesrat scheitert oder eingeschränkt wird.
Denn ich glaube, dass unser Presse-Grosso und unsere
Medienlandschaft so wichtig sind, dass wir sehen soll-
ten, dass diese Gesetzesnovelle zum Schluss auch durch-
kommt.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1719825700

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschrän-
kungen. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/11053, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 17/9852 in der Aus-
schussfassung anzunehmen.

Die Fraktion der SPD hat beantragt, über Art. 3 einer-
seits und über den Gesetzentwurf im Übrigen anderer-
seits getrennt abzustimmen.

Ich rufe zunächst Art. 3 in der Ausschussfassung auf.
Die Fraktion der SPD hat namentliche Abstimmung ver-
langt.

Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
Plätze einzunehmen. – Sind die Plätze besetzt? – Gut.
Dann eröffne ich die Abstimmung und bitte, die Stimm-
karten einzuwerfen.

Haben alle Kolleginnen und Kollegen Ihre Stimm-
karte eingeworfen? – Dann schließe ich diesen Abstim-
mungsgang. Ich bitte, mit der Auszählung zu beginnen.1)

Ich erteile jetzt das Wort zu einer persönlichen Erklä-
rung zur Abstimmung nach § 31 unserer Geschäftsord-
nung der Kollegin Elke Ferner. Bitte schön.

1) Ergebnis Seite 23936 D






(A) (C)



(D)(B)



Elke Ferner (SPD):
Rede ID: ID1719825800

Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kollegen und

Kolleginnen! Ich melde mich deshalb jetzt hier zu Wort,
weil es aus sozialpolitischer Sicht keine Kleinigkeit ist,
worüber wir abstimmen. Im Kern geht es darum, ob die
gesetzlichen Krankenversicherungen Sozialversicherun-
gen bleiben oder ob sie als Wirtschaftsunternehmen be-
trachtet werden. Weil dies eine weitreichende und unab-
sehbare Folge hat, stimmen wir – auch ich – heute gegen
die 8. GWB-Novelle. Wir stimmen gegen das Gesetz,
weil Sie, meine Damen und Herren von CDU/CSU und
FDP, das Kartellrecht auf die gesetzlichen Krankenkas-
sen anwenden.

Dies widerspricht aus meiner Sicht in elementarer
Weise dem Wortlaut und dem Geist des Sozialgesetz-
buches V.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dort ist an vielen Stellen die Rede vom einheitlichen und
gemeinsamen Handeln der Krankenkassen. Es gibt dort
ein Gebot zur Kooperation, und das passt eben nicht mit
der Anwendung des Kartellrechts zusammen, weil in
diesem Gesetz ein Verbot der Kooperationen normiert
ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir stimmen gegen das Gesetz, weil unterstellt wird,
dass die gesetzlichen Krankenkassen Wirtschaftsunter-
nehmen sind und es hier um einen Wettbewerb zwischen
Unternehmen geht, der durch das Kartellamt überwacht
werden muss. Die gesetzlichen Krankenkassen sind aber
keine Wirtschaftsunternehmen, sondern solidarische, im
Umlageverfahren finanzierte Pflichtsozialversicherun-
gen, die für über 70 Millionen Menschen in unserem
Land die notwendigen medizinischen Leistungen ohne
jegliches Gewinnstreben zu günstigen Kosten sicherstel-
len müssen.

Auch der EuGH hat in einem Urteil die Auffassung
vertreten, dass die deutschen Krankenkassen eben keine
Unternehmen sind. Nur deshalb gilt das europäische
Wettbewerbsrecht für die gesetzlichen Krankenkassen in
Deutschland nicht, Herr Minister. Wir stimmen gegen
dieses Gesetz, weil durch die Anwendung des Kartell-
rechts auf alle Sozialversicherungen im nationalen Recht
die Gefahr besteht, dass auch der EuGH unsere gesetz-
lichen Krankenkassen als Unternehmen betrachtet und
sie dann mit allen negativen Konsequenzen dem euro-
päischen Wettbewerbsrecht unterworfen wären. Dann
wären eben nationale Sonderregelungen nicht mehr
möglich, und am Ende müssten die Versicherten die Ze-
che bezahlen.

Wir stimmen gegen dieses Gesetz, weil mit den von
CDU/CSU und FDP getragenen Änderungen die gesetz-
liche Krankenversicherung ihren Charakter als Sozial-
versicherung verlieren wird. Die solidarische Finanzie-
rung, der Steuerzuschuss, die bewährte Selbstverwaltung
von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, aber auch
die der Leistungserbringer, das Gebot zur Kooperation
zwischen den Kassen, die Rechtsform der Körperschaf-
ten des öffentlichen Rechts bis hin zu den Gestaltungs-
möglichkeiten dieses Parlaments werden durch diesen
Gesetzentwurf ebenfalls zur Disposition gestellt.

Wir stimmen gegen dieses Gesetz, weil dies der Ein-
stieg in ein völlig anderes, in ein von privaten und priva-
tisierten Versicherungsunternehmen getragenes Gesund-
heitssystem wäre, und das wollen die Menschen in
Deutschland nicht, das wollen die Arbeitgeber nicht, das
wollen die Gewerkschaften nicht, nicht die Sozialver-
bände und nicht die Patientenorganisationen, und die
SPD will das auch nicht.

Wir stimmen gegen dieses Gesetz, weil wir wollen,
dass die Krankenversicherungen Sozialversicherungen
bleiben und nicht zu Wirtschaftsunternehmen mutieren;
denn Sie spielen mit einem der grundlegenden Eckpfei-
ler unserer Gesellschaft, auf dem auch ein großer Teil
des sozialen Friedens in unserem Land beruht. Wenn der
Wettbewerb zwischen den Krankenkassen überhaupt ei-
ner weiteren Regulierung bedarf, liebe Kolleginnen und
Kollegen, dann muss diese im Sozialrecht und nicht im
Kartellrecht erfolgen.

Wir werden anhand der eben erfolgten namentlichen
Abstimmung auch sehen, wer sich hier für Sozialversi-
cherungen und den Erhalt der gesetzlichen Krankenver-
sicherung als Sozialversicherung einsetzt und wer das
nicht tut. Vor allen Dingen hoffe ich, dass Sie alle hier
sich der Tragweite Ihrer Entscheidung bewusst sind. Ihre
Länder werden dazu wahrscheinlich im Bundesrat eine
für Sie vermutlich nicht sehr erfreuliche Position vor-
bringen.

Schönen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1719825900

Bis zum Vorliegen der Ergebnisse der namentlichen

Abstimmung unterbreche ich jetzt die Sitzung.


(Unterbrechung von 19.31 bis 19.34 Uhr)


Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.

Ich gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen und
Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen
Abstimmung bekannt: abgegebene Stimmen 543. Mit
Ja haben gestimmt 302, mit Nein haben gestimmt 241,
keine Enthaltungen.





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 543;
davon

ja: 302
nein: 241

Ja

CDU/CSU

Ilse Aigner
Peter Aumer
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Manfred Behrens (Börde)

Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Wolfgang Börnsen


(Bönstrup)

Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Hartwig Fischer (Göttingen)

Dirk Fischer (Hamburg)


(Karlsruhe Land)

Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich


(Hof)

Michael Frieser
Erich G. Fritz
Hans-Joachim Fuchtel
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting

Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung (Konstanz)

Dr. Egon Jüttner
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster

(Villingen Schwenningen)

Volker Kauder
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers


(Heidelberg)

Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz

Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer (Altötting)

Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann (Bremen)

Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht (Weiden)

Anita Schäfer (Saalstadt)

Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt (Fürth)

Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön (St. Wendel)

Dr. Kristina Schröder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer

(Weil am Rhein)

Detlef Seif
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten

Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl (Heilbronn)

Lena Strothmann
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel (Kleinsaara)

Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg (Hamburg)

Peter Weiß (Emmendingen)

Sabine Weiss (Wesel I)

Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-

Becker
Dagmar G. Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew

FDP

Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine Aschenberg-

Dugnus
Daniel Bahr (Münster)

Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Mechthild Dyckmans
Hans-Werner Ehrenberg
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Joachim Günther (Plauen)

Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth (Kyffhäuser)

Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner (Berlin)

Michael Link (Heilbronn)

Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller (Aachen)

Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann


(Lausitz)

Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto


(Frankfurt)

Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Christiane Ratjen-

Damerau
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Judith Skudelny
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Manfred Todtenhausen
Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel


(Lüdenscheid)

Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)


Nein

SPD

Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Uwe Beckmeyer
Gerd Bollmann

Klaus Brandner
Willi Brase
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Petra Crone
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf (Rosenheim)

Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Michael Groß
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann


(Wackernheim)

Hubertus Heil (Peine)

Wolfgang Hellmich
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz (Essen)

Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe (Leipzig)

Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)

Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel (Berlin)

Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich

Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth (Heringen)

Marlene Rupprecht


(Tuchenbach)

Annette Sawade
Anton Schaaf
Bernd Scheelen
Marianne Schieder


(Schwandorf)

Werner Schieder (Weiden)

Ulla Schmidt (Aachen)

Ottmar Schreiner
Swen Schulz (Spandau)

Ewald Schurer
Frank Schwabe
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Waltraud Wolff


(Wolmirstedt)

Manfred Zöllmer

DIE LINKE

Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi

Heike Hänsel
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Harald Koch
Jan Korte
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Petra Pau
Jens Petermann
Richard Pitterle
Paul Schäfer (Köln)

Michael Schlecht
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Halina Wawzyniak
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Kerstin Andreae
Marieluise Beck (Bremen)

Volker Beck (Köln)

Cornelia Behm
Agnes Brugger
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz (Herborn)

Dr. Anton Hofreiter
Ingrid Hönlinger
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Stephan Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth (Quedlinburg)


Monika Lazar
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller (Köln)

Beate Müller-Gemmeke
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann E. Ott

Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Ulrich Schneider
Dorothea Steiner

Dr. Wolfgang Strengmann-
Kuhn

Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Arfst Wagner (Schleswig)

Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms

Der Art. 3 des Gesetzentwurfs ist angenommen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich rufe nun die übrigen Teile des Gesetzentwurfs in
der Ausschussfassung auf. Ich bitte diejenigen, die zu-
stimmen wollen, um ihr Handzeichen. – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter
Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ge-
gen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenom-
men.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit gleichem Stimmergebnis angenommen.

Wir kommen zu dem Entschließungsantrag der Frak-
tion der SPD auf Drucksache 17/11065. Wer stimmt für
diesen Entschließungsantrag? – Gegenstimmen? – Ent-
haltungen? – Der Entschließungsantrag ist abgelehnt mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung
von Bündnis 90/Die Grünen und Zustimmung von SPD
und Linken.

Wir setzen die Abstimmungen zu den Beschlussemp-
fehlungen des Ausschusses für Wirtschaft und Technolo-
gie auf Drucksache 17/11053 fort. Der Ausschuss emp-
fiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die
Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/9956 mit dem Titel „Verbrau-
cherschutz und Nachhaltigkeit im Wettbewerbsrecht ver-
ankern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen gegen Bündnis 90/Die Grünen bei Ent-
haltung von SPD und Linken.

Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft
und Technologie zu dem Antrag der Fraktionen von SPD
und Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Presse-
Grosso gesetzlich verankern“. Der Ausschuss empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9989,
den Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/8923 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die

Stimmen von SPD und Grünen bei Enthaltung der Lin-
ken.

Beschlussempfehlung des Ausschusses für Kultur
und Medien zu dem Antrag der Fraktionen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Instrumente zur
Förderung der Medienvielfalt auf solide Datenbasis stel-
len“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/11058, den Antrag der Frak-
tionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/9155 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Die Koalitionsfraktionen. Ge-
genstimmen? – SPD und Grüne. Enthaltungen? – Die
Linken. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.

Beschlussempfehlung des Ausschusses für Kultur und
Medien zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Ti-
tel „Freiheit und Unabhängigkeit der Medien sichern –
Vielfalt der Medienlandschaft erhalten und Qualität im
Journalismus stärken“. Der Ausschuss empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11045 bzw.
in seinem Bericht auf Drucksache 17/11082, den Antrag
der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/10787 abzuleh-
nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Die
Koalitionsfraktionen und die Fraktion der Linken. Ge-
genstimmen? – SPD und Grüne. Die Beschlussempfeh-
lung ist angenommen.

Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b
auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Groß, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD 
sowie der Abgeordneten Daniela Wagner, Bettina
Herlitzius, Britta Haßelmann, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN

Programm „Soziale Stadt“ zukunftsfähig wei-
terentwickeln – Städtebauförderung sichern

– Drucksache 17/10999 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Innenausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung (15. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Sören
Bartol, Uwe Beckmeyer, Martin Burkert, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Bettina Herlitzius,
Daniela Wagner, Dr. Anton Hofreiter, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

40 Jahre Städtebauförderung – Erfolgsmo-
dell für die Zukunft der Städte und Regio-
nen erhalten und fortentwickeln

– zu dem Antrag der Abgeordneten Heidrun
Bluhm, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Städtebauförderung auf hohem Niveau ver-
stetigen, Forderungen der Bauministerkon-
ferenz umsetzen

– Drucksachen 17/6444, 17/6447, 17/8199 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Götz

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
derspruch dagegen? – Das ist offenkundig nicht der Fall.
Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Michael Groß von der SPD-Fraktion
das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Michael Groß (SPD):
Rede ID: ID1719826000

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir ha-
ben in den Städten zurzeit zwei große Herausforderun-
gen. Die erste betrifft die Frage: Wie können die Men-
schen demnächst noch ihre Miete bezahlen, wenn in
manchen Regionen 30 bis 50 Prozent des zur Verfügung
stehenden Einkommens für das Wohnen ausgegeben
werden müssen?

Die zweite Herausforderung betrifft die Fragen: Wie
wollen wir in den Städten leben? Was heißt gute Lebens-
qualität? Wie sieht die Zukunft der Menschen in den
Städten aus? Die zweite Herausforderung hat damit zu
tun, dass sich Menschen, insbesondere Familien, fragen:
Wachsen unsere Kinder gesund auf? Welche Unterstüt-
zung finde ich im Stadtteil für meine Kinder? Gibt es
Betreuungsangebote? Gibt es Spielplätze? Können sich
die Kinder ihr Wohnumfeld aneignen? Identifiziere ich
mich mit meinem Wohnumfeld? Der zweite Fragenkom-
plex lautet: Kann ich selbstbestimmt in meinem Stadtteil
leben? Finde ich Arbeit? Finde ich Freunde, die mir hel-
fen, wenn ich krank werde?

Der dritte Fragenkomplex betrifft das Altwerden im
Stadtteil in Würde: Finde ich Unterstützung, wenn ich

Hilfe brauche, wenn ich krank bin? Kann ich in meinen
eigenen vier Wänden alt werden?

Ich glaube, dass die Bundesregierung zurzeit auf
diese Fragen keine Antwort hat, weder auf die die stei-
genden Mieten betreffen noch auf die zur Lebensqualität
in unseren Städten.


(Beifall bei der SPD)


Das Programm „Soziale Stadt“ hat alle Antworten ge-
boten, die notwendig sind. Ich habe alle Akteure meines
Stadtteils beteiligen können, um die Frage zu beantwor-
ten: Wie gestalte ich den Stadtteil, die Quartiere? Ich
habe alle Themen abarbeiten können: Inklusion, Integra-
tion, gutes Leben, Altwerden im Stadtteil. Ich habe einen
großen Teil der Bürger mobilisieren können.

Sie haben das Programm seit 2009 systematisch zu-
rückgefahren, Sie haben die Mittel um 60 Prozent, zum
Teil um 70 Prozent gekürzt. Während im Jahr 2009 noch
48 Projekte neu aufgenommen werden konnten – da wa-
ren Sie noch nicht in der Verantwortung –, wurde im
letzten Jahr nur ein Projekt neu in das Programm „So-
ziale Stadt“ aufgenommen. Sie haben das Programm vor
die Wand gefahren, vor allen Dingen deshalb, weil sich
die Kommunen und die Länder nicht darauf verlassen
konnten, dass Planungssicherheit und eine verlässliche
Finanzierung vorhanden sind.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir leben in einer Zeit der riskanten Chancen. Diese
Aussage ist schon 30, 40 Jahre alt. Sie stammt von dem
Soziologen Beck aus München. Diese Aussage ist im-
mer noch ganz aktuell. Die Arbeiterwohlfahrt hat eine
Studie zu Lebenslagen von Kindern herausgebracht.
Man höre, wie der Titel heißt: „Von alleine wächst sich
nichts aus …“ Je länger ein junger Mensch in Armut
aufwächst, desto geringer wird die Chance für ein Wohl-
ergehen, für ein gutes Leben, desto größer sind die Risi-
ken.

Der von Ihnen und anderen studierte Armuts- und
Reichtumsbericht belegt eindeutig: Trotz wirtschaftli-
chen Wachstums haben wir ein zunehmendes Armutsri-
siko in Deutschland. 12,8 Millionen Menschen sind ge-
fährdet, insbesondere Kinder, Alleinerziehende, Frauen
und ältere Menschen. 6,5 Prozent eines Jahrgangs,
60 000 junge Menschen in Deutschland, haben keinen
Schulabschluss. 20 Prozent der Deutschen schaffen es
nicht, einen höheren Bildungsabschluss zu bekommen
als ihre Eltern. Nur 17 Prozent der Arbeiterkinder studie-
ren. Man kann das zusammenfassen: Die Bundesregie-
rung hat eine Studie in Auftrag gegeben zu „Trends und
Ausmaß der Polarisierung in deutschen Städten“, aus der
hervorgeht – ich zitiere –:

… dass Bewohnerinnen und Bewohner mit niedri-
gem sozialen Status, geringer Qualifikation und un-
terdurchschnittlichem Einkommen oft konzentriert
in Stadtteilen mit mangelhaftem Gebäudebestand
und unterdurchschnittlicher Infrastruktur leben.

Das ist der Befund, den Sie sich selber ausstellen. Dage-
gen wollen Sie nichts tun.





Michael Groß


(A) (C)



(D)(B)


Was trägt zur Stabilisierung in Stadtteilen bei? Es gibt
ein Dutzend Faktoren. Ich glaube, über das Thema Bil-
dung brauchen wir nicht zu reden. Außerschulische För-
derung ist ein wichtiges Thema. Bereits in der U-3-För-
derung im Kindergarten ist es notwendig, die Familien
zu unterstützen. Wir müssen Netzwerke aufbauen, so-
ziale Hilfen und vor allen Dingen vorbeugende Hilfen in
Stadtteilen organisieren, in denen sich die Menschen
nicht mehr selber helfen können. Wir müssen die Bürge-
rinnen und Bürger aktivieren. Das ist eigentlich das
wichtigste Pfund, mit dem wir wuchern können; denn sie
verfügen über Ressourcen und Kompetenzen. Diese dür-
fen wir nicht brachliegen lassen. Wir müssen daher in
den Stadtteilen für Aufbruchstimmung sorgen und dür-
fen nicht zulassen, dass sich die Menschen abgehängt
fühlen.


(Beifall bei der SPD)


Die „Soziale Stadt“ ist ein Erfolgsmodell. Wir haben
jahrelang erlebt, dass die Städte und Länder mithilfe des
Bundes erfolgreiche Arbeit geleistet haben. Ich möchte
einen in Berlin geborenen Diplom-Wirtschaftsingenieur
zitieren. Er sagt, durch die Zusammenarbeit mit dem
Programm „Soziale Stadt“ habe er zum ersten Mal in
seinem Leben das Gefühl gehabt, nicht mehr nur gedul-
deter Ausländer zu sein, sondern zu dieser Gesellschaft
zu gehören.

Wenn Sie Kinder befragen, sagen diese: Nachbar-
schaft ist wichtig. Die Menschen dort sind für uns
Freunde und Bekannte, die wir jeden Tag sehen. – Nach-
barn haben keine eigentlichen Aufgaben, ich halte es je-
doch für meine Aufgabe, meinem Nachbarn zu helfen,
wenn er Hilfe benötigt.


(Peter Götz [CDU/CSU]: Das ist ja alles richtig! – Gegenruf des Abg. Sören Bartol [SPD]: Warum kürzen Sie es denn? – Petra Müller [Aachen] [FDP]: Das wird nicht mit Städtebauförderung geregelt!)


Warum gerade Ältere von der Nachbarschaftshilfe
profitieren, sagen Ihnen Menschen aus dem Stadtteil, die
mit dem Programm „Soziale Stadt“ zu tun haben. Auf-
grund dieses Programms erfahren sie Nachbarschafts-
hilfe, sodass sie im Bedarfsfall nicht die Tagespflege
oder die Kurzzeitpflege in Anspruch nehmen müssen,
sondern zu Hause wohnen bleiben können. Deswegen
fordern wir Sie auf, Ihre Kürzungen in der Städtebauför-
derung endlich zurückzunehmen, die Mittel für die „So-
ziale Stadt“ auf 150 Millionen Euro aufzustocken


(Beifall des Abg. Sören Bartol [SPD])


und endlich Verlässlichkeit und Planbarkeit einzuführen.


(Beifall bei der SPD)


Wir schlagen Ihnen vor, das Programm „Soziale
Stadt“ zu einem Leitprogramm zu machen. Dies sollte
nicht nach defizitorientierten Maßstäben erfolgen; viel-
mehr sollte man ressourcenorientiert nach den Kompe-
tenzen der Menschen Ausschau halten. Vor allen Dingen
gilt es, übergreifend, koordinierend und kooperativ zu
planen und zu handeln und die Menschen im Stadtteil
zusammenzubringen, damit sie dort gut leben können.

Wir fordern Sie auch auf, dafür zu sorgen, dass insbe-
sondere die Kommunen diese Programme in Anspruch
nehmen können. Nach dem KfW-Panel sind 40 Prozent
der Kommunen dazu nicht in der Lage. Hier lassen Sie
die Städte allein. Sie könnten jedoch mit wenig Mittel-
einsatz viel erreichen.

Ich komme zum Schluss. Willy Brandt hat vor circa
50 Jahren im Ruhrgebiet gesagt: Der Himmel über dem
Ruhrgebiet soll wieder blau werden. – Das war nicht nur
eine umweltpolitische Aussage, sondern damit haben die
Menschen im Ruhrgebiet die Hoffnung verbunden, dass
es ihnen einmal besser geht und dass sie sich darauf ver-
lassen können, dass ihre Stadtteile ihnen ein besseres Le-
ben ermöglichen.

Herzlichen Dank und Glückauf!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1719826100

Das Wort hat jetzt der Kollege Peter Götz von der

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Peter Götz (CDU):
Rede ID: ID1719826200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Kollege
Groß von der Opposition, jetzt lassen Sie doch einfach
einmal die Kirche im Dorf und nehmen Sie die Realität
wahr. Es ist diese Bundesregierung, die die Kommunen
durch die Übernahme der Kosten der Grundsicherung im
Alter und bei Erwerbsminderung allein im Zeitraum von
2012 bis 2016 um über 20 Milliarden Euro entlastet. Das
ist die größte Kommunalentlastung in der Geschichte der
Bundesrepublik Deutschland


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Und dann kommen Sie heute her und beklagen, genau
wie vor einem Jahr, in einer rückwärtsgewandten De-
batte, dass der Bund nicht genug tut.


(Michael Groß [SPD]: Macht er auch nicht!)


Wenn Ihnen sonst nichts Besseres einfällt, begreifen Sie
wirklich nicht, wie wichtig die Gesundung der Kommu-
nalfinanzen eigentlich ist.


(Sören Bartol [SPD]: Doch! Das eine schließt das andere nicht aus!)


Chancen für die Übernahme eigener Verantwortung
in freier Entscheidung sind besser als goldene Züge
durch Bund und Länder mit immer stärker ausgestalteten
lenkenden und bevormundenden Förderprogrammen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Sören Bartol [SPD]: Da hast du aber mal anders drüber geredet!)


– Lieber Kollege Sören, für uns haben auch eine solide
Haushaltspolitik und das Einhalten der Schuldenbremse
einen hohen Stellenwert. – Die Kostenübernahme der
Altersgrundsicherung steht sinnbildlich für einen Para-
digmenwechsel in der Bundespolitik. Anstatt wie in der





Peter Götz


(A) (C)



(D)(B)


Vergangenheit die Kommunen immer wieder mit neuen
Aufgaben und Ausgaben zu belasten, stärken wir die
Städte, Gemeinden und Landkreise nachhaltig. Die
Früchte dieser Politik lassen sich auch an der Entwick-
lung der Gewerbesteuereinnahmen ablesen. Die meisten
Kommunen – sicherlich nicht alle – sind wieder in der
Lage, ihre eigenen gesetzlichen und freiwilligen Aufga-
ben selbst zu finanzieren.


(Bernd Scheelen [SPD]: Gut, dass Sie den Koalitionsvertrag nicht umsetzen konnten!)


Unabhängig von dieser positiven Entwicklung, Herr
Kollege Scheelen, werden wir die Städte und Gemein-
den auch zukünftig bei nötigen Investitionen im Bereich
der Städtebauförderung und der Stadtentwicklung unter-
stützen. Dies gilt gerade auch für wirtschaftlich und so-
zial benachteiligte Stadtteile. Dafür – das ist seit mehr
als 40 Jahren unstrittig – sind die Städtebauförderungs-
programme ausgezeichnet geeignet.

Für uns ist ein ressortübergreifender, stadtteilbezoge-
ner Ansatz ein zentraler Erfolgsfaktor in der Stadtent-
wicklung. Deshalb haben wir neue Schwerpunkte ge-
setzt und den Energie- und Klimafonds auch für die
Finanzierung von Maßnahmen der Stadtentwicklungs-
politik geöffnet. Die große Nachfrage nach den neuen
Programmen „Kleine Städte und Gemeinden“ und
„Energetische Stadtsanierung“ bestätigt eindrücklich die
Notwendigkeit, sich diesen Zukunftsthemen verstärkt
zuzuwenden. Wir leisten damit auch einen unverzichtba-
ren Beitrag zur Sicherung der öffentlichen Daseinsvor-
sorge in dünn besiedelten Räumen und erschließen neue
Potenziale bei der Vermeidung von CO2-Ausstoß in städ-
tischen Quartieren.

Nur zur Erinnerung: Das Programm „Die soziale
Stadt“ wurde in seiner Grundidee unter der Leitung der
damaligen Bundesbauminister Klaus Töpfer und Eduard
Oswald auf den Weg gebracht. Das war 1998, vor inzwi-
schen 14 Jahren.


(Zuruf von der SPD: Da hat übrigens Franz Müntefering angefangen!)


Es half, vor allem in den Jahren geringen wirtschaft-
lichen Wachstums und hoher Arbeitslosigkeit. Leider
haben einige wenige Kommunen die bei solchen Pro-
grammen stets notwendige kritische Reflexion aus den
Augen verloren. Dadurch ist der gute Ansatz des Pro-
gramms „Die soziale Stadt“ in Misskredit geraten.

Ziel dieses Programms ist nicht die dauerhafte Ali-
mentierung sämtlicher Maßnahmen – der Kollege Groß
hat es vorhin aufgezeigt –, sondern die Beseitigung der
Ursachen der Entwicklung eines Stadtquartiers zu einem
Problemquartier. Vor diesem Hintergrund hat sich die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion intensiv an der Weiter-
entwicklung und am Ausbau des Programms beteiligt.

Wir wollen eine passgenaue Verzahnung der verschie-
denen Programme und Maßnahmen sowohl auf Bundes-
ebene als auch vor Ort erreichen. Um benachteiligte
Quartiere zu stabilisieren, wurden die städtebaulichen
Investitionen des Programms „Die soziale Stadt“ pas-
send zu den gesetzlichen Vorgaben mit arbeitsmarktpoli-

tischen Instrumenten gekoppelt; so steht es auch im Ge-
setz. Wenn wir uns die verschiedensten nichtinvestiven
Bundesprogramme anschauen, wie zum Beispiel das
ESF-Aktionsprogramm „Mehrgenerationenhäuser“ und
die Bundesinitiativen „Offensive Frühe Chancen:
Schwerpunkt-Kitas Sprache & Integration“, „JUGEND
STÄRKEN“ oder „Lernen vor Ort“, dann erkennen wir:
Es gibt wahnsinnig viele Möglichkeiten, das Programm
„Die soziale Stadt“ sinnvoll zu ergänzen. Diese notwen-
dige Koordinierung ist von keinem der vielen SPD-Bun-
desbauminister gegenüber anderen Ressortchefs dauer-
haft durchgesetzt worden.

Es ist richtig, das Programm „Die soziale Stadt“ auf
die baulichen Investitionen zu konzentrieren und es so
mit anderen Programmen zu kombinieren, dass städte-
bauliche Missstände in den Kommunen behoben werden
und das Programm den Menschen zugutekommt. Jedes
Land, jede Kommune ist frei in ihrer Entscheidung, sich
zusätzlich mit eigenen Mitteln in die Programmfinanzie-
rung einzubringen.


(Daniela Wagner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die können schon den Eigenanteil nicht mehr leisten!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und
Herren, der Bundeshaushalt ist kein Wünsch-dir-was-
Katalog, und trotzdem ist es gelungen, die Mittel der
Städtebauförderung auf hohem Niveau zu verstetigen
und zusätzlich die Mittel für die energetische Stadtsanie-
rung auf über 100 Millionen Euro aufzustocken. Das
sollten Sie einfach zur Kenntnis nehmen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie bleiben nach wie vor unter den alten Ansätzen!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1719826300

Das Wort hat die Kollegin Heidrun Bluhm von der

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Heidrun Bluhm (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719826400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Unser Antrag mit dem Titel „Städtebauförderung auf
hohem Niveau verstetigen, Forderungen der Bauminis-
terkonferenz umsetzen“, der hier heute neben den beiden
Anträgen der SPD besprochen wird, bezieht sich auf den
seinerzeit einstimmig gefassten Beschluss der Bauminis-
terkonferenz vom 28. Juni 2011. Ich kann heute den Be-
schluss der Bauministerkonferenz vom 20./21. Septem-
ber 2012 in Saarbrücken danebenlegen und konstatieren,
dass unsere Forderungen von vor einem Jahr nicht nur
immer noch aktuell sind, sondern ihre Umsetzung sogar
noch notwendiger geworden ist. Herr Götz, wenn Sie
hier die SPD dafür kritisieren, dann muss ich Sie schon
fragen: Sind Sie als CDU klüger als 16 Bauminister, die
seit Jahren beklagen, dass Sie zwar im Koalitionsvertrag
versprochen haben, 535 Millionen Euro pro Jahr in den





Heidrun Bluhm


(A) (C)



(D)(B)


Haushalt einzustellen, nun aber die Mittel auf 455 Mil-
lionen Euro reduzieren?


(Beifall bei der LINKEN und der SPD)


Sie tragen es zwar nett vor, aber Sie tragen es nicht ehr-
lich vor.


(Peter Götz [CDU/CSU]: Nehmen Sie doch die 100 Millionen für die energetische Stadtsanierung dazu! Dann ist es ehrlich!)


Das ist auch nicht verwunderlich, weil unerledigte
Aufgaben durch Liegenlassen nicht kleiner werden, son-
dern wachsen. Qualitativ neue Aufgaben sind zwischen-
zeitlich aufgrund der Aktualität des Themas hinzuge-
kommen und wachsen jeden Tag rasant an. Die
Regierung macht aber nichts anderes, als die Mittel auf
immer geringerem Niveau zu verstetigen. Sie macht
nicht das, was sie im Koalitionsvertrag versprochen hat.
So wird der Berg unerledigter Aufgaben bei der Ent-
wicklung unserer Städte,


(Gisela Piltz [FDP]: Ist das mit den 100 Millionen nicht wieder dasselbe, Frau Kollegin?)


den die Bundesregierung vor sich herschiebt, immer grö-
ßer.

Städtebauförderung eignet sich auch nicht für Kampa-
gnen. Sie muss langfristig, dauerhaft und zuverlässig an-
gelegt sein, auch weil die Länder und Kommunen je-
weils mit mindestens 30 Prozent an den Kosten der
Städtebauförderung beteiligt sind und vor allem die Um-
setzung zu organisieren haben. Auch sie haben ihre
Haushaltspolitik zu machen und ihren Planungsvorlauf
zu realisieren, und dafür benötigen sie dauerhaft zuver-
lässige Aussagen der Bundesregierung.


(Beifall bei der LINKEN)


Deswegen ist es absolut unverständlich, dass die Kon-
tinuität der Städtebauförderung gerade in einer Zeit un-
terbrochen wird, in der die Erfordernisse der Stadtent-
wicklung objektiv eine völlig neue Dimension
annehmen. Die Ansprüche und Maßstäbe, die heute an
die Städtebauförderung gelegt werden müssen, haben
sich an sozialdemografischen, ökologischen, ökonomi-
schen und Entwicklungserfordernissen der Gesellschaft
zu orientieren. Herr Groß hat das hier sehr intensiv und
auch sehr umfassend dargestellt.

Die Städtebauförderung ist nicht nur eine nationale
Aufgabe, sondern auch eine globale Herausforderung.
Gerade der Kongress, den wir in der vergangenen Woche
gemeinsam bestritten haben, hat noch einmal deutlich
gemacht, dass unsere Städte auch international eine Ver-
antwortung tragen.

Ich bin weit davon entfernt, dem Koalitionsvertrag
von 2009 vorausschauende Weisheit zu unterstellen,
aber immerhin hat die Koalition damals versprochen,
535 Millionen Euro zu verstetigen. Daran sieht sie sich
seit 2011 nicht mehr gebunden. Wir erheben mit unse-
rem Antrag also gar keine neue Forderung, sondern for-
dern nur die Umsetzung des Koalitionsvertrages. Wenn
wir Ihnen zum wiederholten Mal vorrechnen, dass die
Städtebauförderung keine Subventionssünde, sondern

ein einzigartiges, sich selbst finanzierendes Konjunktur-
programm ist, dann wundert es uns schon, dass Sie ge-
rade in Zeiten, in denen die Wachstumsraten für
Deutschland wieder korrigiert werden und in denen die
Alarmglocken verschiedener Branchen läuten, weil es
bergab gehen wird, konjunkturell funktionierende Pro-
gramme abbauen und ihre Mittelausstattung auf einem
niedrigeren Niveau verstetigen. Das ist für uns völlig un-
verständlich.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wenn von heute 455 Millionen Euro Städtebauförde-
rung – und jetzt zitiere ich Herrn Ramsauer selbst –
städtebauliche Investitionen von insgesamt über 6 Mil-
liarden Euro angestoßen werden, frage ich mich, um wie
viel größer die ökologischen und volkswirtschaftlichen
Effekte von 535 Millionen Euro oder den eigentlich not-
wendigen 700 Millionen Euro wären.

Ein weiterer Grund für eine entschlossene Aufsto-
ckung der Städtebaufördermittel kommt hinzu: Die Kon-
junkturdaten, die ich eben genannt habe, erfordern In-
vestitionen des Bundes und der Länder, nicht aber den
Rückbau von Investitionen. Ich sage Ihnen: Die Städte-
bauförderung könnte neben den sowieso gewollten und
notwendigen Impulsen für den sozialökologischen Um-
bau unserer Städte und Regionen zu einem starken und
effizienten Motor der gesamtwirtschaftlichen Entwick-
lung werden. Sie könnte Arbeitsplätze sichern, die So-
zialsysteme stabilisieren und zusätzliche Steuereinnah-
men bei Bund und Ländern generieren. Dies nicht zu
begreifen, ist die große Schwäche unseres Bauministers.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1719826500

Für die FDP-Fraktion hat jetzt die Kollegin Petra

Müller das Wort.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Petra Müller (FDP):
Rede ID: ID1719826600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gu-

ten Abend, meine sehr geehrten Damen und Herren! Die
Städtebauförderung ist seit 40 Jahren ein Erfolgsmodell.
Darüber herrscht breite, große Einigkeit in diesem
Hohen Haus, in den Ländern und parteiübergreifend.


(Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum gibt es nicht denselben Ansatz wie früher?)


– Lass mich doch einmal weitersprechen, bitte.

Die Finanzhilfen des Bundes für 2013 bleiben bei
455 Millionen Euro; diese Summe ist seit drei Jahren
gleich. Hinzu kommen die Mittel für die energetische
Stadtentwicklung in Höhe von 100 Millionen Euro. Wer
rechnen kann, kommt dann auf 555 Millionen Euro, und
das ist ein bisschen mehr als 535 Millionen Euro.





Petra Müller (Aachen)



(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weniger als 600 Millionen!)


Diese Ergebnisse – das möchte ich hinzufügen – er-
reichen wir trotz Haushaltskonsolidierung und trotz
Euro-Krise. Das zeigt, wie hoch der Stellenwert der
Städtebauförderung in der christlich-liberalen Koalition
ist. Damit betreiben wir eine verlässliche und erfolgrei-
che Politik.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Daher lasse ich den Vorwurf vonseiten der SPD, dass wir
die Städtebauförderung vernachlässigen, nicht gelten.

Zu Ihren Anträgen fallen mir zwei Dinge ein:
Wunschkonzert und Gießkanne. Wunschkonzert, weil
Ihre Forderung zeigt, dass Sie keine Rücksicht auf den
Gesamtetat oder die Teilprogramme nehmen. Ihre An-
träge zeigen, dass Sie auch nicht zur Kenntnis nehmen,
dass mit dem Programm „Kleinere Städte und Gemein-
den“ 2010 ein neues Programm auf den Weg gebracht
wurde. Es war zunächst mit 18 Millionen Euro ausge-
stattet. Mittlerweile wurden 55 Millionen Euro abgeru-
fen. Das spricht für Kontinuität. Das ist ein Anwachsen
der Städtebauförderung in ganz bestimmten Bereichen,
nämlich den kleinen Städten und Gemeinden. Ich muss
Ihnen auch einmal sagen: Unter Rot-Grün haben Sie das
nicht zustande gebracht.


(Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war auch nicht notwendig!)


Das haben wir zustande gebracht.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ihre Anträge zeigen auch, dass Sie nicht zur Kenntnis
nehmen, dass die alten Ziele des Programms „Soziale
Stadt“ schon längst in anderen Programmen aufgenom-
men wurden und jetzt in diesem Rahmen angestrebt wer-
den, und zwar viel direkter und viel effizienter.

Wir, die christlich-liberale Koalition, werden die
Städtebauförderung in Deutschland kontinuierlich wei-
terentwickeln, zielgenau und treffsicher.


(Ulrike Gottschalck [SPD]: Das hört sich an wie eine Drohung!)


Bestes Beispiel ist der Stadtumbau West. Das Programm
berücksichtigt heute als breitaufgestelltes Programm den
Klimawandel gleichermaßen wie den demografischen
Wandel und die wirtschaftliche Entwicklung. Das ist
das, was Sie eben beklagt haben. Lesen Sie das einmal
nach. So stelle ich mir – das muss ich Ihnen ganz ehrlich
sagen – eine zukunftsweisende Stadtentwicklung vor.
Nur so können wir Städte, Gemeinden und Kommunen
fitmachen für die Zukunft. Das nenne ich eine erfolgrei-
che Politik der christlich-liberalen Koalition.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir haben die Energiewende beschlossen. Wir haben
uns vorgenommen, in nur wenigen Jahren die Energie-
versorgung unseres Landes auf eine neue, andere Basis

zu stellen. In unseren Gebäuden, egal ob in privater oder
öffentlicher Hand, werden 40 Prozent der Primärener-
gien verbraucht. Die Stadtentwicklung muss in Zukunft
zur Senkung des Primärenergieverbrauchs in den Gebäu-
den beitragen. Sie muss dabei einen entscheidenden
Beitrag leisten. Dieser Verantwortung haben wir uns ge-
stellt, und diese Chance haben wir mit dem Programm
„Energetische Stadtsanierung“ genutzt.

Es gibt weitere Bereiche, in denen wir uns neu aus-
richten müssen. Abgesehen von der Notwendigkeit eines
energetischen Umbaus und der Berücksichtigung des
demografischen Wandels müssen wir auch das
Ungleichgewicht zwischen Stadt und Land, zwischen
megaurbanem und ländlichem Raum ausgleichen. Das
müssen die Schwerpunkte der zukünftigen Städtebauför-
derungsprogramme sein. Ich glaube auch, dass eine
energetisch-dynamische Stadtentwicklung den Blick
weg vom Einzelgebäude hin zum Quartier richten muss.
Das ist ganz wichtig, wenn wir unsere Klimaschutzziele
erreichen wollen. An dieser Stelle macht der Einsatz
öffentlicher Mittel Sinn. Er ist effizient, er verringert den
bürokratischen Aufwand, und er schafft nachhaltige
Lösungen.

In Ihrem Antrag schreiben Sie, liebe Kolleginnen von
den Linken, dass gute Nachbarschaft, sozialer Zusam-
menhalt, reges Vereinsleben, kulturelle Vielfalt usw.
Ausdruck funktionierender Städte, Gemeinden und
Quartiere sind. Ich muss Ihnen einmal ganz ehrlich
sagen: Genau das setzen wir um. Das wird gefördert.

Dennoch sind die Prozesse dynamisch. In den vergan-
genen Tagen konnten Sie Bilder von Studenten sehen,
die eine Wohnung suchen, die keinen günstigen Wohn-
raum finden. Auch hier besteht Handlungsbedarf, und
zwar im Interesse aller Wohnungssuchenden. Die soziale
Wohnraumförderung ist Ländersache. Wir erwarten von
den Ländern, dass der Bundeszuschuss eins zu eins in
den sozialen Wohnraum fließt und nicht für andere haus-
halterische Maßnahmen in den Länderhaushalten ge-
nutzt wird. Das ist ein ganz wichtiger Punkt.


(Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wollen wir auch! – Gegenruf des Abg. Peter Götz [CDU/CSU]: Dann sorgt dafür! – Gegenruf der Abg. Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In NRW tun wir das!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, 630 Millionen Euro
für das Wohngeld – das sind 34 Millionen Euro mehr als
im letzten Jahr –; 455 Millionen Euro, seit drei Jahren
verstetigt, für Stadtentwicklungsmaßnahmen; 1,5 Mil-
liarden Euro für die CO2-Gebäudesanierung, verstetigt
bis 2014; 100 Millionen Euro für das Programm „Ener-
getische Stadtsanierung“. Ehrlich gesagt, das ist für mich
moderne Stadtentwicklungspolitik.


(Heidrun Bluhm [DIE LINKE]: Das sind nur Zahlen!)


Genau diese Politik werden wir in der Zukunft fortset-
zen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1719826700

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das

Wort die Kollegin Daniela Wagner.


Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719826800

Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Liebe

Kollegin Müller, die einzige Aussage in Ihrer Rede, der
man zustimmen kann, war, dass der Bund in der Tat
darauf achten muss, dass die Länder die Mittel für den
sozialen Wohnungsbau ausgeben. Darum haben wir ja
auch den Bauminister gebeten. Damals, im Jahr 1999,
haben wir mit dem neuen Bund-Länder-Programm „So-
ziale Stadt“ in vielen Stadtteilen in ganz Deutschland
drohende oder bereits in Gang gesetzte Abwärtsspiralen
stoppen können. Es gab sichtliche bauliche Verbesserun-
gen für die Menschen: neue Spielplätze, renovierte
Schulen, neue Gemeinwesenzentren, Stadtteilbibliothe-
ken.

Aber eine Stadt besteht eben nicht nur aus ihren
Gebäuden, aus ihren Wohnungen und aus dem Sand auf
ihren Spielplätzen, sondern sie besteht auch aus den
Menschen, die dort wohnen, arbeiten und leben, die
täglich das Leben dort gestalten. Deswegen haben wir
damals in dieses Programm die Möglichkeit aufgenom-
men, Handlungen in diesen Stadtteilen anzustoßen, die
Identifikation stiften. Das waren damals die nichtinvesti-
ven Maßnahmen. Soziale und professionelle Netzwerke
und bürgerliches Engagement zur Stärkung von Integra-
tion und einem fairen Zugang zu Bildung und Teilhabe
an Kultur konnten damit gefördert werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das alles haben Sie geschleift. Sie haben das Pro-
gramm nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ zu
seinem Nachteil verändert.


(Petra Müller [Aachen] [FDP]: Das ist nicht wahr!)


Erst der lagerübergreifende Protest aus allen Städten hat
Sie überhaupt dazu veranlasst, in den letzten beiden
Haushalten, dem Haushalt 2012 und dem Haushalt 2013,
noch ein bisschen nachzulegen.


(Petra Müller [Aachen] [FDP]: 10 Millionen sind kein bisschen!)


Ich hoffe, dass Sie an dieser Stelle bei Ihrer Linie blei-
ben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie müssen jetzt nur noch die gegenseitige Deckungsfä-
higkeit wiederherstellen und die Diskriminierung des
Bund-Länder-Programms „Soziale Stadt“ innerhalb der
Städtebauförderung beseitigen. Vor allen Dingen müssen
Sie sicherstellen, dass die Städte ihren Eigenanteil auf-
bringen können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Zuruf des Abg. Peter Götz [CDU/CSU])


Freiheit ist das, was im Moment herrscht, nicht, Herr
Kollege Götz. Es ist keine Freiheit, zum Beispiel die
nichtinvestiven Maßnahmen selber zu finanzieren. Viele
Städte können nicht einmal mehr den investiven Anteil
tragen.

Sie müssen die Einschnitte rückgängig machen. Denn
die soziale Spaltung in unseren Städten und Gemeinden
verschärft sich. Das hat eine Difu-Studie ganz klar
belegt. Die, die in diesen Stadtteilen übrig bleiben, die
nicht wegziehen können, sind genau diejenigen, die am
Ende des Tages dringend unsere Unterstützung brau-
chen. Wir dürfen diese Stadtteile nicht sich selbst über-
lassen. Diese Stadtteile sind überfordert. Wir müssen sie
dauerhaft und nachhaltig erhalten und ihnen helfen, und
zwar nicht mit einem Strohfeuer, nicht mit jährlichem
Investitionsrisiko, bei dem die Städte am Ende sagen:
Wir wissen überhaupt nicht, was auf uns zukommt, also
lassen wir besser die Finger davon.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das Bund-Länder-Programm „Soziale Stadt“ hat her-
vorragende Arbeit geleistet, auch und gerade mit den
nichtinvestiven Maßnahmen und mit der Förderung der
Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Diszipli-
nen der Stadtverwaltung: Sozialverwaltung, planende
Verwaltungsbereiche, Bildungsbereiche. Das ist wichtig,
und das muss fortgesetzt werden, sowohl bei den Län-
dern als auch beim Bund. Denn anders wird es nicht
gehen. Ohne den interdisziplinären Ansatz dieses
Programms wird die Förderung im Grunde als Stroh-
feuer verbrennen.

Deswegen wollen wir die Anhebung der Mittel für die
Städtebauförderung, für das Bund-Länder-Programm
„Soziale Stadt“ auf das Niveau von vor drei Jahren,
nämlich auf 105 Millionen Euro. Wir wollen die
Deckungsfähigkeit mit allen anderen Programmen der
Städtebauförderung wiederherstellen. Vor allen Dingen
müssen die nichtinvestiven Maßnahmen wieder zugelas-
sen werden.

Außerdem wollen wir ein Programm zur energeti-
schen Sanierung


(Petra Müller [Aachen] [FDP]: Das gibt es doch schon!)


von Quartieren mit einem hohen Anteil einkommens-
schwacher Haushalte anregen. Das betrifft viele Gebiete
des Programms „Soziale Stadt“. Hier muss das Ziel sein,
zu einer warmmietenneutralen energetischen Sanierung
zu kommen; denn diese Menschen können sich hervorra-
gend sanierte Wohnungen, bei denen die Sanierungskos-
ten mit 11 Prozent umgelegt wurden, nicht mehr leisten.
Sie werden sozusagen heraussaniert. Deswegen brau-
chen wir ein besonderes Programm für diese Stadtteile.
Anders werden wir die sozialen und ökologischen
Schieflagen in unseren Städten nicht in den Griff bekom-
men.

Wir, der Bund, haben eine klare Mitverantwortung für
die Entwicklung in unseren Städten und Wohnquartie-
ren. Da kann man nicht sagen: Das ist doch Ihre Sache.





Daniela Wagner


(A) (C)



(D)(B)


Machen Sie doch etwas. – Das ist auch unsere Sache.
Das ist auch Sache der Länder. Wir müssen das gemein-
sam anpacken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1719826900

Für die CDU/CSU hat jetzt das Wort der Kollege

Volkmar Vogel als letzter Redner zu diesem Tagesord-
nungspunkt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Volkmar Uwe Vogel (CDU):
Rede ID: ID1719827000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lassen Sie mich zum Abschluss dieser Debatte erst ein-
mal Folgendes feststellen: Wenn man von Sozialstaat
spricht, dann denken alle an Rentenversicherung, an Ar-
beitslosenversicherung, an Sozialhilfe. Aber keiner
denkt eigentlich an das berühmte Dach über dem Kopf.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Doch, wir, die SPD!)


Ich glaube, das Dach über dem Kopf und lebenswerte
Städte sind die größte soziale Errungenschaft, die wir in
unserem Lande haben. Es muss auch ein bisschen Zeit
sein, denen zu danken, die dafür gesorgt haben. Es ist
nicht die SPD an erster Stelle. An erster Stelle sind es
die, die vor Ort im Rahmen der Wohnungswirtschaft als
private Immobilienbewirtschafter, als Wohnungsunter-
nehmen, als kommunale Unternehmen dafür sorgen,
dass unsere Städte im Großen und Ganzen bei aller Kri-
tik und bei allen Problemen, die es gibt, in einem sehr
guten Zustand sind.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wenn man das weltweit, also auch mit anderen großen
Industrienationen, vergleicht, dann zeigt sich: Das kann
sich sehen lassen.

Natürlich haben ihren Beitrag geleistet die Kommu-
nen, die Länder, in deren Zuständigkeit einige dieser
Dinge liegen, und auch der Bund, der seit mittlerweile
40 Jahren die Städtebaufördermittel kontinuierlich zur
Ausreichung bringt.

Ja, „Soziale Stadt“ ist gut. Aber „Soziale Stadt“ ist
nur dann gut, wenn auch tatsächlich sozial wirkende
Investitionen im Vordergrund stehen –


(Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber genau das wollen Sie doch verhindern!)


Investitionen ins Wohnumfeld, in die soziale Infrastruk-
tur und auch in lebenswerte Wohnungen. Genau da
bauen wir nicht ab. Einen solchen Abbau zu verhindern,
ist die Aufgabe, die uns, dem Bauausschuss, zusteht. Die
Mittel, die auch in diesem Jahr für investive Zwecke zur
Verfügung stehen, haben mindestens die Höhe, die schon
in den vergangenen Jahren zur Verfügung gestanden hat.

Eines muss man an dieser Stelle auch sagen: Als 1998
die SPD gemeinsam mit den Grünen in die Verantwor-
tung kam, ist es ihr nicht gelungen, das Programm
„Soziale Stadt“ tatsächlich zu verzahnen. Peter Götz hat
es anschaulich dargestellt. Dem gibt es nichts hinzuzufü-
gen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen, wenn wir über Städtebauförderung
sprechen, dann müssen wir vor allen Dingen darüber
sprechen, welche Herausforderungen in der Zukunft vor
uns stehen werden. Das sind zwei wesentliche Dinge:
Das eine ist der demografische Wandel, und das andere
ist die Energiewende, die auch im Gebäudebereich eine
wichtige Rolle spielt. Es waren wir, die dafür gesorgt ha-
ben, dass der Stadtumbau Ost und der Stadtumbau West
mit einem hohen Anteil weitergeführt werden. Es waren
wir, die sich auch in der Fläche darum gekümmert
haben, dass für kleine Städte und Gemeinden die Mög-
lichkeit besteht, eine gemeinsame Infrastruktur zu entwi-
ckeln. Wir fördern das mit einem entsprechenden Pro-
gramm.

Gerade im Stadtumbau sind weitere Maßnahmen
notwendig. Wir haben die Zwischenberichte zum Stadt-
umbau Ost, und wir haben den Zwischenbericht zum
Stadtumbau West. Wir werden in den nächsten Jahren
große Anstrengungen unternehmen müssen, um hier
voranzukommen. Wir stellen uns dieser Aufgabe in viel-
fältiger Hinsicht.

Demografischer Wandel heißt, da, wo es notwendig
ist, Rückbau zu unterstützen. Demografischer Wandel
heißt aber auch Umbau, der den neuen Bedingungen der
Menschen entspricht. Außerdem heißt demografischer
Wandel Aufwertung, etwa was soziale Infrastruktur an-
geht. Auch hier sieht man die Verknüpfung mit anderen
Programmen, wie zum Beispiel mit dem Programm „So-
ziale Stadt“.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Volkmar, was ist mit den Altschulden?)


Die Energiewende wird im Gebäudebereich – das
wissen wir alle – eine sehr große Rolle spielen. Ich
möchte an dieser Stelle sagen: Wenn wir von insgesamt
555 Millionen für die Städtebauförderung sprechen,
dann müssen wir auch noch darüber sprechen, dass jedes
Jahr 1,5 Milliarden für das CO2-Gebäudesanierungspro-
gramm zur Verfügung stehen, ein großer Teil davon für
unsere Gebäude, für unsere Immobilien, die es energe-
tisch zu ertüchtigen gilt.

Nun spreche ich besonders die Opposition an: Wenn
es um die Energiewende und die Bereitstellung finan-
zieller Mittel geht, fordere ich Sie auf: Springen Sie end-
lich über Ihren Schatten und sprechen Sie mit den Ver-
antwortlichen in den Bundesländern, in denen Sie an der
Regierung beteiligt sind,


(Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben wir! Der Vorschlag liegt auf dem Tisch! Jetzt müssen Sie mitspringen!)






Volkmar Vogel (Kleinsaara)



(A) (C)



(D)(B)


um dafür zu sorgen, dass wir im Hinblick auf die energe-
tische Sanierung auch die Möglichkeit von Sonderab-
schreibungen auf den Weg bringen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Der Vorschlag von Ministerpräsident Kretschmann ist
zwar nicht ganz neu; er stellt aber zumindest eine gute
Basis für weitere Verhandlungen dar, wenngleich es aus
unserer Sicht notwendig ist, hier noch etwas zu tun, um
auch privates Kapital zu heben.


(Sören Bartol [SPD]: Ich denke, ihr lasst schon ein entsprechendes Programm vorbereiten!)


Lassen Sie mich zum Schluss sagen: 40 Jahre Städte-
bauförderung, das ist eine gute Sache.


(Hans-Joachim Hacker [SPD]: Altschulden!)


Sie gilt es fortzuführen, allerdings immer den jeweiligen
Bedingungen entsprechend. Ich rufe die Kollegen von
der Opposition auf: Unterstützen Sie uns, wenn es darum
geht, neue Programme zu entwickeln und alte Pro-
gramme weiterzuentwickeln, und zwar den Bedingun-
gen, die uns der Wohnungs- und der Immobilienmarkt
vorgeben, und den Bedürfnissen der Menschen entspre-
chend.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hans-Joachim Hacker [SPD]: Und die Altschulden? – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Die Altschulden hat er wieder vergessen!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1719827100

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/10999 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf
Drucksache 17/8199. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung
des Antrags der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 17/6444 mit dem Titel
„40 Jahre Städtebauförderung – Erfolgsmodell für die
Zukunft der Städte und Regionen erhalten und fortentwi-
ckeln“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
CDU/CSU und FDP. Wer stimmt dagegen? – Die Oppo-
sitionsfraktionen. Enthaltungen? – Keine Enthaltungen.
Die Beschlussempfehlung ist angenommen.

Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/6447 mit dem Ti-
tel „Städtebauförderung auf hohem Niveau verstetigen,
Forderungen der Bauministerkonferenz umsetzen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Die Koali-
tionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? – SPD und Linke.

Wer enthält sich? – Bündnis 90/Die Grünen. Die Be-
schlussempfehlung ist angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf:

Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Lebensmittelverluste reduzieren

– Drucksache 17/10987 –

Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Binder, Johanna Voß, Dr. Kirsten Tackmann, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Die Ursachen der Vernichtung und Ver-
schwendung von Lebensmitteln wirksam be-
kämpfen

– Drucksache 17/10989 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Peter
Bleser.

Pe
Peter Bleser (CDU):
Rede ID: ID1719827200


Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist mir
eine große Freude, hier und heute miterleben zu dürfen,
dass sich der Deutsche Bundestag mit dem Thema Le-
bensmittelverschwendung befasst und in einem frak-
tionsübergreifenden Antrag gleiche Ziele definiert. Ich
halte das für ein sehr wichtiges Signal, das die öffentli-
che Debatte beflügeln und dabei helfen wird, dieses
Thema mitten in die Gesellschaft zu tragen.

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, auf jeder
Stufe der Warenkette werden Lebensmittel weggewor-
fen. In Deutschland rechnen wir mit 11 Millionen Ton-
nen pro Jahr.


(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: 20!)


Dies ist mit dem Prinzip der Nachhaltigkeit nicht verein-
bar. Die Erzeugung, Verarbeitung und Verteilung von
Nahrungsmitteln beansprucht nämlich eine große Menge
natürlicher Ressourcen, die dadurch für andere Nutzun-
gen nicht zur Verfügung stehen. Sie verursachen natür-
lich auch Kosten für die Gesellschaft.


(Beifall des Abg. Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Es ist daher ein Gebot der Verantwortung gegenüber
der Weltbevölkerung und den kommenden Generatio-
nen, Lebensmittelverluste so weit wie möglich zu redu-
zieren.





Parl. Staatssekretär Peter Bleser


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das ist in einer Gesellschaft, die sich an Überfluss, an
eine breite Auswahl und an die ständige Verfügbarkeit
von Lebensmitteln gewöhnt hat, nicht einfach. Etwas,
was man immer hat, wird weniger geschätzt. Das gilt
auch für andere gesellschaftliche Bereiche.

Wir brauchen mehr Wertschätzung für die Mittel zum
Leben. Insofern bin ich froh, dass unsere Ministerin
Aigner schon vor einiger Zeit mit der Kampagne „Jedes
Mahl wertvoll“, mit der Initiative „IN FORM“ und auch
mit der Kampagne „Zu gut für die Tonne“ damit begon-
nen hat, entsprechende Hinweise zu geben und damit die
Gesellschaft auf dieses Problem hinzuweisen. Die Kam-
pagne „Zu gut für die Tonne“ bündelt zahlreiche Aktivi-
täten, die in diesem koalitionsübergreifenden Antrag
richtigerweise angesprochen werden.

Sowohl die Europäische Union als auch die Bundes-
ministerin haben sich verpflichtet, bis zum Jahre 2020
die vermeidbaren Lebensmittelabfälle um die Hälfte zu
reduzieren. Ich meine, dieses ambitionierte Ergebnis
lässt sich nur in einem gesellschaftlichen Bündnis aus
Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Verbänden und natür-
lich Verbrauchern erreichen.

Wichtig ist uns die Information der Verbraucherinnen
und Verbraucher a) über die Möglichkeit der Abfallver-
meidung und b) zur Sensibilisierung für die Wertschät-
zung von Lebensmitteln. Dazu gehören natürlich Wissen
und auch praktische Tipps, die unsere Eltern und Großel-
tern vielleicht noch eher kannten als viele Angehörige
jüngerer Generationen. Es geht um nützliches Wissen
und praktische Tipps für den Umgang mit Lebensmitteln
und um die Berücksichtigung dieses Wissens und dieser
Tipps schon beim Einkauf, bei der Lagerung und natür-
lich bei der Verarbeitung in der Küche, also bei der Nah-
rungsmittelzubereitung.

Wir haben die Internetseite www.zugutfuerdie-
tonne.de geschaltet, die sehr stark nachgefragt wird und
für die es auch eine App gibt. Hier werden Tipps von
Sterneköchen


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Die schmeißen am meisten weg!)


dafür preisgegeben, wie man aus vermeintlichen Abfäl-
len, also mit Lebensmittelresten, tolle Speisen zubereiten
kann. Ich kann mich jedenfalls daran erinnern, dass in
meiner Jugend gerade Speisen aus Resten am besten ge-
schmeckt haben. Bis heute liegt mir noch sehr viel an
Restesuppen, wie wir immer gesagt haben. Das waren
sehr schmackhafte Gerichte.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: War das eine Einladung zum Abendessen?)


– Liebe Frau Kollegin Drobinski-Weiß, ich glaube, wir
haben hier den gleichen Erfahrungsschatz.

Außerdem gilt es natürlich, gemeinsam mit den Ta-
feln und Slow Food durch öffentlichkeitswirksame Ver-
anstaltungen auf die Rettung von Lebensmitteln auf-

merksam zu machen. In Bremerhaven wird noch im
Herbst die erste Veranstaltung dazu stattfinden.

Aber auch bei unseren Kindern müssen wir ansetzen,
und wir müssen ihnen Wertschätzung vermitteln. Dazu
hat unsere Ministerin am 3. Oktober 2012 den Schüler-
wettbewerb „ECHT KUH-L“ gestartet, der in diesem
Schuljahr die Lebensmittelverschwendung thematisiert.

Ich hoffe auch, dass in so mancher Küche über unsere
alltägliche Verwendung und oft auch Verschwendung
von Lebensmitteln diskutiert wird. Ich glaube, nur so
werden wir ein Umdenken erreichen, das letztlich erst in
den Köpfen der Menschen herbeigeführt werden muss
und dann auch zu praktischem Handeln führen kann.


(Franz-Josef Holzenkamp [CDU/CSU]: Jawohl!)


Wir dürfen natürlich nicht nur auf die privaten Haus-
halte setzen. Deswegen hat das BMELV in den vergan-
genen Monaten erste Gespräche auch mit Herstellern,
dem Handel und Großverbrauchern geführt. Diese Ge-
spräche werden mit dem Ziel fortgesetzt, konkrete Bei-
träge aller Akteure zur Reduzierung von Lebensmittel-
verschwendung zu leisten.

Im Frühjahr nächsten Jahres soll dieser Prozess mit
einem runden Tisch abgeschlossen werden. Von allen
Beteiligten werden bis dahin konkrete, überprüfbare
Maßnahmen zur Reduzierung der Lebensmittelabfälle in
ihrem Verantwortungsbereich erwartet.

Es geht darum, Verantwortung zu übernehmen und
Ressourcen zu schonen. Das geht uns alle an. Dieses
Thema ist für jeden wichtig. Jeder ist gefragt, und jeder
ist gefordert. Am Schluss dieser Debatte sage ich noch
einmal: Ich freue mich, dass wir bei diesem Thema einen
so tollen Konsens in diesem Haus haben. Ich denke, es
ist auch eine Botschaft an die Bevölkerung, dass wir uns
hier nicht nur streiten, sondern bei Themen, bei denen
wir einen Konsens haben, auch gemeinsam handeln kön-
nen. Auch diese Kampagne ist von Erfolg gekrönt, weil
wir zusammenstehen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1719827300

Das Wort hat jetzt die Kollegin Elvira Drobinski-

Weiß von der SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Elvira Drobinski-Weiß (SPD):
Rede ID: ID1719827400

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, was lange
währt, wird endlich gut, nicht wahr, Herr Staatssekretär?


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Na ja, ein bisschen!)


Nun haben wir es doch geschafft, einen gemeinsamen
Antrag mit Maßnahmen gegen die Verschwendung von
Lebensmitteln auf den Weg zu bringen. Das ist ein gutes
Signal. Denn mit dem Wegwerfen genießbarer Lebens-





Elvira Drobinski-Weiß


(A) (C)



(D)(B)


mittel werden ungeheure Ressourcen verschwendet
– Arbeitskraft, Energie, Wasser, Rohstoffe, ländliche
Fläche –, die in armen Ländern dringend benötigt wür-
den, um den Hunger vor Ort zu bekämpfen. Damit hat
dieses Thema nachhaltige und ethische Dimensionen,
denen wir nur dann gerecht werden können, wenn wir
alle gemeinsam an einem Strang ziehen. Insofern war es
uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sehr
wichtig, dass wir hier einen gemeinsamen Antrag auf
den Weg bringen konnten.


(Hans-Georg von der Marwitz [CDU/CSU]: Uns auch!)


Auch wenn in einem gemeinsamen Antrag nicht alle
Vorschläge zu 100 Prozent untergebracht werden können
und Kompromisse gemacht werden müssen, ist das, was
wir heute hier vorlegen, so denke ich, eine gute Grund-
lage.

Bisher stand allerdings vor allem das Verhalten der
Verbraucher im Fokus der Maßnahmen gegen die Le-
bensmittelverschwendung. Das reicht nicht aus, Herr
Staatssekretär; denn beim verschwenderischen Umgang
mit Lebensmitteln handelt es sich um ein systemisches
Problem, dessen Ursache in einem nicht nachhaltigen
Umgang auf allen Produktionsstufen liegt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


– Vielen Dank.

Zwar müssen wir als Verbraucherinnen und Verbrau-
cher unser Konsumverhalten und unsere Ansprüche an
Vielfalt, frische Optik und ständige Verfügbarkeit von
Lebensmitteln hinterfragen. Dazu gehört aber auch, dass
Verbraucher besser darüber informiert werden, welche
sozialen und ökologischen Folgen die Erfüllung dieser
Ansprüche hat und welchen Wert Lebensmittel wirklich
haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die mangelnde Wertschätzung ist nicht nur bei Ver-
brauchern ein Problem. Wo Wegwerfen billiger und
leichter für alle Anbieter als die Weiterverwertung ist,
braucht man nach Wertschätzung nicht zu fragen.

Die Konzentration im Handel verschärft die Situa-
tion; denn im Kampf um Marktanteile sind Niedrigst-
preise für Lebensmittel die Waffe, mit der Konkurrenten
vom Markt gedrängt werden und unter der Zulieferer
und Erzeuger zu leiden haben. Auch die Ansprüche an
Optik und Verarbeitungsfähigkeit üben Druck auf die Er-
zeuger aus und führen zum Aussortieren und zu unnöti-
gen Abfällen bereits bei der Ernte. Dieser Umgang mit
Lebensmitteln ist ethisch, sozial und ökologisch nicht
vertretbar.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Unser Antrag ist auf die gesamte Wertschöpfungs-
kette ausgerichtet. Die Verschwendung von Lebensmit-
teln kann nur eingedämmt werden, wenn alle Beteiligten
– alle! – ihren Beitrag leisten. Auch die Landwirtschaft,
die Ernährungsindustrie und der Handel müssen stärker
Verantwortung übernehmen. Diese Einsicht scheint sich
jedoch noch nicht überall in der Branche durchgesetzt zu
haben.

So hatte zum Beispiel die vom Agrarministerium in
Auftrag gegebene Studie der Universität Stuttgart wegen
fehlender Auskunftsbereitschaft auf neue Zahlen aus
Handel und Industrie verzichten müssen. Hier, so mei-
nen wir, braucht es mehr Kooperationsbereitschaft und
mehr Transparenz, um nachvollziehen zu können, wo
wie viel Lebensmittelabfälle anfallen.

Uns allen ist bewusst, dass im Zeitalter der Globali-
sierung, in einer immer weiter vernetzten Welt, die Wert-
schöpfungsketten immer länger werden. Damit gibt es
zwischen Produzenten und Verbrauchern immer mehr
Zwischenhändler, Logistiker, Verpackungs- und Lage-
rungsspezialisten und immer mehr Wege, auf denen
brauchbare Ware, brauchbare Lebensmittel aussortiert
und weggeworfen werden.

Zudem gibt es immer alles und überall: Erdbeeren aus
China, Mangos aus Indien und Äpfel aus Amerika – und
das alles das ganze Jahr über. Die Lebensmittel müssen
teilweise weit reisen, um zu uns, zum Verbraucher, zu
gelangen. Kürzere Wertschöpfungsketten und der Ein-
kauf von regionalen und saisonalen Produkten sind des-
halb auch gute Maßnahmen gegen die Lebensmittelver-
schwendung. Dabei sind nicht nur die Verbraucher
gefragt, sondern auch die Gastronomie, Großküchen und
Kantinen.

20 Millionen Tonnen genießbarer Lebensmittel – Herr
Staatssekretär, ich habe bei dieser Zahl ein paar Tonnen
mehr, als Sie genannt haben – wandern in Deutschland
jährlich auf den Müll. Statistisch gesehen wirft jeder von
uns jedes Jahr 235 Euro in den Abfall. Jedes fünfte Brot
wird weggeworfen. Trotzdem haben wir über 300 ver-
schiedene Brotsorten in den Regalen der heimischen Bä-
ckereien und Läden. Und bis zum Ladenschluss wird das
komplette Sortiment vorgehalten, um dem Kunden auch
noch nach 20 Uhr die volle Auswahl bieten zu können.
Was übrig bleibt, wird weggeworfen.

Der Bischof von Caesarea, Basileus, hat einmal ge-
sagt: Das Brot, das ihr verderben lasst, das ist das Brot
der Hungernden. – Das ist ethisch, sozial und ökologisch
unverantwortlich. Deshalb bin ich froh, dass wir heute
hier gemeinsam einen Antrag auf den Weg bringen, erste
Schritte gehen, um diese Verschwendung einzudämmen
und zu einem achtsamen Umgang mit Lebensmitteln zu-
rückzufinden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1719827500

Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Michael

Goldmann von der FDP-Fraktion.


Hans-Michael Goldmann (FDP):
Rede ID: ID1719827600

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ein gemeinsamer Antrag macht es vielleicht
möglich, den persönlichen Zugang zu einem Thema in
einer Rede hier im Bundestag darzustellen.

Als ich die Aufgabe des Vorsitzenden in meinem
Lieblingsausschuss übernahm, habe ich mir überlegt:
Was willst du eigentlich als Akzent setzen in der Funk-
tion, in der Rolle, die du jetzt hast? Mir war es ganz be-
sonders wichtig, herauszustellen, dass wir heute enorm
global mit allem vernetzt sind – die Erdbeeren aus
China, die hier unglücklicherweise ankamen, sind dafür
ein besonderes Beispiel –, dass es aber auch darum geht,
dass man immer wieder die Vernetzung zwischen der
globalen Situation und dem ganz persönlichen Verhalten
deutlich macht.

Jeder, der sich damit ein bisschen beschäftigt, kommt
sehr schnell dahinter, dass es ein Thema gibt, das uns be-
wegen muss, das uns in die ethische Verantwortung
nimmt: Das ist das Thema der Lebensmittelverschwen-
dung. Das ist ein Synonym dafür, dass bei uns Lebens-
mittel viel zu billig sind und dass wir es eigentlich mit
einem Begriffsirrtum zu tun haben; denn sehr viele Men-
schen empfinden die Lebensmittel nicht als wesentliche
Mittel für ihr Leben.

Deswegen haben wir vom Ausschuss nach diesen Er-
kenntnissen, die wir gemeinsam hatten, wie der Antrag
belegt, als Erstes eine Reise nach Afrika gemacht, nicht
eine Vergnügungsreise, sondern eine Arbeitsreise. Wir
wollten dahin fahren, wo die größte Gruppe von Men-
schen Hunger leidet. Angesichts der Weltbevölkerung ist
das eine unvorstellbar große Zahl: Von 7 Milliarden
Menschen hungern 1 Milliarde Menschen.

Als die Kollegen aus Afrika wiederkamen, haben wir
gefragt: Was bringen Sie uns mit? Dabei stellten wir fest,
dass der Hunger auch etwas damit zu tun hat, dass in die-
sen Ländern die Lagerbedingungen schlecht sind, dass in
diesen Ländern die Transportbedingungen schlecht sind.
All das sind Gründe dafür, dass es nicht zu einer ver-
nünftigen Lebensmittelverwendung kommt.

Wir haben dann eine weitere Reise nach China ge-
macht. Die Chinesen waren enorm stolz darauf, dass sie
in der Lage waren, ihr 1,3-Milliarden-Volk zu ernähren,
weil sie sich darüber im Klaren waren, dass Hungerkon-
flikte sehr schnell zu kriegerischen Konflikten führen
können.

Dann gab es eine Veranstaltung von Greenpeace hier
in unmittelbarer Nachbarschaft. Bei dieser Veranstaltung
hat eine junge Frau aus Österreich erzählt, wie die Zah-
len in Österreich sind. Ich habe mich daraufhin gefragt:
Warum haben wir eigentlich keine Zahlen? Wir haben
uns dann gemeinsam auf den Weg gemacht, um diese
Zahlen zu beschaffen.

Eines Tages tauchte der Film „Taste the Waste“ auf.
In Papenburg, meiner Heimatstadt, habe ich einen Kino-

saal angemietet. 500 junge Menschen, 500 Schüler, sind
gekommen. Als der Film zu Ende war, ist etwas einge-
treten, was ich sehr selten erlebt habe. Tief bewegte
junge Menschen kamen auf mich zu und fragten mich:
Wie können Sie eigentlich als Politiker damit leben, dass
wir diese unendlich großen Mengen wegwerfen, wäh-
rend in der Welt Menschen verhungern?

Wir haben daraus den Schluss gezogen – gemeinsam
den Schluss gezogen –, den wir mit dem heute vorlie-
genden Antrag zum Ausdruck bringen. Er setzt darauf,
die gesamte Kette ins Auge zu fassen und daraus die
richtigen Schlüsse zu ziehen, wie wir an jeder einzelnen
Stelle – von Afrika bis in den Kühlschrank, bis auf den
Teller – die Dinge so entwickeln können, dass wir zu ei-
ner Minimierung des Wegwerfens kommen, dass wir zu
einer viel, viel besseren Situation kommen.

Kernvoraussetzung dafür ist Bildung, Information
und Wissen um die Dinge. Wir haben in Deutschland im
Moment eine riesige Chance, uns in besonderer Weise
mit dem Thema zu beschäftigen, weil sich die Familien-
struktur verändert. Heute gehen Kinder relativ früh in
außerhäusliche Bildungseinrichtungen, ob es Kindergär-
ten oder Schulen sind. Viele dieser Schulen machen sich
auf den Weg, Kantinen einzurichten. Diese Kantinen
sind häufig nicht unbedingt das, was man unter einem
klugen Bildungsangebot in den Schulen versteht. Sie
sind häufig nicht mit dem unterrichtlichen Tun vernetzt,
wo in Erfahrung gebracht wird: Wo kommt das Produkt
her? Wie muss es bearbeitet werden? In welcher Menge
muss es eingesetzt werden, damit es auch zu einer ver-
nünftigen Verwendung dieses Produktes kommt?

Wir wissen natürlich auch, dass die Dinge zum Teil
sehr kompliziert sind. Gerade das jüngste Beispiel mit
den Erdbeeren aus China hat gezeigt, welche Streuung
solche Themen heute erfahren. Da hatten auf einmal
Tausende von jungen Menschen Durchfall bzw. ein En-
teritisproblem. Das gab es aber keineswegs nur in Nord-
rhein-Westfalen. Nein, das gab es auch in Thüringen und
Sachsen-Anhalt. Im Grunde gab es das überall.

Wenn man nicht weiß, wo die Ursachen für solche
Probleme liegen, kann man die Dinge nicht korrigieren.
Deswegen bin ich sehr dafür, dass wir über die gesamte
Palette – über den Forschungsbedarf, das Mindesthalt-
barkeitsdatum, Aufklärungskampagnen, Vermarktungs-
strukturen in der EU und über Wertschätzung – nachden-
ken.

Am Anfang hatte ich gesagt, dass es eine globale Ver-
antwortung gibt. Es gibt aber auch die lokale. Vor einiger
Zeit habe ich auf Mallorca ein bisschen Urlaub gemacht.
Ich stellte, als ich relativ spät den Speisesaal verließ,
fest, dass die gesamte Palette auf dem Büfett noch vor-
handen war. Meine Tochter hat in einem Hotel gearbei-
tet. Zwei Minuten vor zehn hat sich ein Gast furchtbar
darüber beschwert, dass bestimmte Artikel des Pro-
gramms nicht mehr da waren.

Ich frage: Was machen wir selbst? Sagen wir dann
auch einmal: „So muss das nicht sein; ich bin im Grunde
genommen auch zufrieden, wenn ich, weil ich später ge-
kommen bin, nicht mehr alles geboten bekomme“? Ich





Hans-Michael Goldmann


(A) (C)



(D)(B)


habe es schon ein paarmal gesagt: Ich finde es tief bla-
mabel, dass, wenn bei den Veranstaltungen, die bei uns
in der Parlamentarischen Gesellschaft abends stattfin-
den, Anmeldungen für 40, 50 oder 60 Kollegen einge-
hen, aber nur 15 erscheinen, dann weggeworfen wird auf
Teufel komm raus. Ich finde, wir sollten da bei uns selbst
anfangen und das umsetzen, was in diesem Antrag steht.
Dann sind wir auf einem guten Weg.

Herzlichen Dank.


(Beifall im ganzen Hause)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1719827700

Das Wort hat jetzt die Kollegin Karin Binder von der

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Karin Binder (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719827800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Bleser, Sie
möchten gerne Lebensmittelverluste reduzieren, um
Himmels Willen aber nicht mit der Linken zusammen,
obwohl es ein gemeinsames Anliegen ist und wir auch
mitgearbeitet haben.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das ist ziemlich peinlich!)


Aber deshalb haben wir dann noch einen eigenen Antrag
auf den Weg gebracht, um zu Ihrem Antrag vielleicht
noch ein paar zusätzliche Ideen beizusteuern. Denn wir
gehen davon aus, dass die Ursachen der Lebensmittel-
vernichtung in Deutschland sehr vielfältig sind.


(Beifall bei der LINKEN)


In erster Linie sind sie ein Problem der Nahrungsmit-
telindustrie und des Handels. Echte Wertschätzung für
unsere Lebensmittel bleibt leider auf der Strecke, wenn
Dumpingpreise und Lockvogelangebote den Takt ange-
ben.


(Beifall bei der LINKEN)


Das regionale Lebensmittelhandwerk wie Bäcker
oder Metzger kann da auch nicht mehr mithalten.

In den ärmeren Ländern dieser Erde entstehen Ver-
luste aus der alltäglichen Not heraus. Erntemaschinen,
Lagerhaltung oder die Infrastruktur fehlen, um Produkte
zu ernten oder auf den Markt zu bringen. Ernten werden
vernichtet, nicht nur durch Klimakatastrophen. Jeder
Krieg verhindert oder zerstört Ernten.

Erschwerend kommt noch hinzu, dass multinationale
Lebensmittelkonzerne aus den Wohlstandsländern die
Märkte dieser armen Länder mit unseren Abfällen und
Billigprodukten überschwemmen und damit den heimi-
schen Anbau und die Produktion von Nahrungsmitteln
verdrängen oder langfristig sogar zerstören. Das ist für
die Linke nicht hinnehmbar.


(Beifall bei der LINKEN)


Dagegen ist hierzulande Lebensmittelvernichtung ein
Problem des Überflusses. Hersteller und Handel geben

den Takt an. Bauern bleiben auf ihren Erzeugnissen sit-
zen, da sie nicht den Normvorgaben der Industrie ent-
sprechen.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Unerhört!)


Wer nicht die passende Größe, Form oder Farbe liefern
kann, kann seine krummen Gurken oder zu kleinen oder
zu großen Kartoffeln wieder unterpflügen, da sie zur ma-
schinellen Weiterverarbeitung nicht taugen.

Die Produktion von Halbfertig- oder Fertigprodukten
läuft maschinell. Sie sollen billig und haltbar sein. Des-
halb sind auch viele Füll- und Zusatzstoffe drin.

Strategien zur Eindämmung der Lebensmittelver-
schwendung müssten auch dieses systembedingte Pro-
blem aufgreifen. Insofern ist der Antrag „Lebensmittel-
verluste reduzieren“ der vier anderen Fraktionen etwas
enttäuschend. Es handelt sich um wohlfeile Lippenbe-
kenntnisse nach dem Motto „Wasch mir den Pelz, aber
mach mich nicht nass“: Verbraucher müssten nur richtig
mit Lebensmitteln umgehen lernen, dann landete auch
nichts auf dem Müll. Da sollen ein offener Dialogpro-
zess eingeleitet und die Verbraucher verstärkt informiert
werden. Verantwortliche in Industrie und Handel sollen
aufgefordert werden; ein Innovationswettbewerb soll
eingeleitet werden, aber: keine Verbindlichkeit, keine
Verpflichtung, keine klaren Vorgaben. Frau Aigner
dürfte sehr zufrieden sein, denke ich. Damit fällt nämlich
in dieser Wahlperiode keine Arbeit mehr an.

Die Linke hingegen fordert wirksame Maßnahmen,
um der Vernichtung und Verschwendung von Lebens-
mitteln zu begegnen: Die Regierung muss die Halbie-
rung der Menge an vermeidbaren Lebensmittelabfällen
bis 2020 verbindlich vorgeben. Große Lebensmittelun-
ternehmen sollten verpflichtet werden, ihre Stoffbilanz
offenzulegen, um die Wirksamkeit ihrer Vermeidungs-
strategien überprüfbar zu machen.


(Beifall bei der LINKEN – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das sind doch die, die am wenigsten wegwerfen!)


Für Waren wie Obst, Gemüse, Brötchen und Eier
muss es neben den Mehrfachgebinden immer auch den
Stückverkauf geben. Güteklassen und industrielle Ver-
marktungsnormen für Waren wie Obst und Gemüse sind
aufzuheben.

Statt Exportförderung für die Industrie brauchen wir
eine konsequente Förderung des ökologischen Anbaus
und regionaler Erzeugung. Das haben wir auch in der
Haushaltsberatung deutlich gemacht.

Es gibt noch viele Forderungen, die Sie unserem An-
trag entnehmen können, aber auf eine möchte ich noch
ausdrücklich eingehen: Wir brauchen eine Umkehr der
Rechtslage. Das Containern, also das Fischen nach ess-
baren Lebensmitteln im Müll, darf nicht länger als Straf-
tat verfolgt werden.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Heinz Paula [SPD] – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das wird doch gar nicht verfolgt!)






Karin Binder


(A) (C)



(D)(B)


Stattdessen muss das verantwortungslose Wegwerfen bei
Herstellern und im Handel geahndet werden, meine Da-
men und Herren.

Jetzt danke ich Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und
wünsche einen schönen Abend.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1719827900

Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Wort die

Kollegin Nicole Maisch.


Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719828000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

führen heute auf Grundlage eines fast fraktionsübergrei-
fenden Antrags nichts weniger als eine Lebensstil- und
Wertedebatte. Ich finde es gut, dass Union und FDP, die
sich sonst solchen Lebensstildebatten ja nicht so gerne
nähern –


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Oh, oh, Sie sind eine so nette Kollegin!)


ich denke an die Frage des Fleischkonsums –, sich ge-
meinsam mit uns und anderen starken gesellschaftlichen
Akteuren wie den Tafeln, Slow Food, den Kirchen ganz
vorne dabei, auf den Weg gemacht haben, diese Diskus-
sion zu führen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir wissen nicht erst seit dem letzten Bericht unserer
Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebens-
qualität“: Unser Ressourcenverbrauch übersteigt das
Leistungsvermögen des Planeten, und durch reine Effi-
zienzsteigerung in der Produktion ist dies nicht aufzu-
fangen. Das macht sich exemplarisch an der Frage der
Nahrungsmittelproduktion fest. Wenn global ein Drittel
und in den reichen Ländern bis zur Hälfte der Lebens-
mittel im Müll landen, dann können wir uns natürlich
bemühen, im Agrarbusiness Innovationen einzuführen;
wir können effizienter werden. Aber wenn gleichzeitig
9 Milliarden Menschen satt werden wollen, wird es uns
nicht gelingen, diese Lücke zu schließen. Was wir an Ef-
fizienzsteigerung hereinholen, wird uns auf der anderen
Seite durch Verschwendung und durch den größeren Be-
darf wieder weggegessen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn wir also in Zukunft satt werden wollen, müssen
wir uns mit dem Thema Nahrungsmittelverschwendung
befassen. Wir wollen hier als Abgeordnete des Ernäh-
rungsausschusses keine Welle der Empörung reiten und
das Thema dann, wenn wir ein paar Schlagzeilen abge-
griffen haben, wieder zu den Akten legen, sondern wir
haben intensiv in Anhörungen, in langen Diskussionen
im Ausschuss ein politisches Programm erarbeitet. Es
geht uns um nichts weniger als um eine gesellschaftliche
Debatte darüber, wie viel wir als Individuen und wie viel
wir als Gesellschaft von den knappen Ressourcen, die
unser Planet bereithält, für uns in Anspruch nehmen
wollen.

Unser Antrag sagt es klar und deutlich: Angesichts
1 Milliarde hungernder Menschen, angesichts schon
existierender und in Zukunft drohender Knappheiten
sind die Verluste entlang der gesamten Produktions- und
Handelskette und die Verschwendung im Privathaushalt
aus ethischer und ökologischer Sicht nicht akzeptabel.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)


Wir haben als gemeinsames Ziel formuliert – der
Staatssekretär hat es ganz am Anfang gesagt –, bis 2020
die Zahl der vermeidbaren Lebensmittelverluste zu hal-
bieren. Das ist ein sehr ambitioniertes Ziel, und deshalb
ist es gut, dass sich der gesamte Bundestag – auch die
Linke hat sich ja zu diesem Ziel bekannt – hinter dieser
Zielmarke versammelt.

Es gibt noch einige Dinge, die im fraktionsübergrei-
fenden Antrag nicht zu unserer vollständigen Zufrieden-
heit niedergelegt sind, obwohl es ein sehr guter Antrag
ist. Deshalb möchte ich diese Punkte hier doch noch ein-
mal nennen, weil ich glaube, dass sie zu der Debatte über
Lebensmittelverluste dazugehören.

Erstens. Wir brauchen eine tiefer gehende Analyse des
Systems der Nahrungsmittelproduktion. Wir müssen uns
fragen: Wie ist es dazu gekommen, dass Nahrungsmittel
zu Wegwerfprodukten werden? Hat das vielleicht etwas
damit zu tun, dass wir Milch billiger als Mineralwasser
verramschen? Hat es etwas damit zu tun, dass man das
Kilo Schweinefleisch für 3 Euro bekommt und dass die
externen Kosten eben nicht auf dem Kassenzettel auftau-
chen, sondern die Umwelt- und sozialen Kosten auf an-
dere Menschen und die Natur abgewälzt werden?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb sagen wir: Die Neuordnung der Agrarsubven-
tionen auf europäischer Ebene ist eine gute Möglichkeit,
um sich für Klasse statt Masse einzusetzen. Wir setzen
nicht mehr auf billig, sondern wir setzen auf besser.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – HansMichael Goldmann [FDP]: Sehr gut!)


Zweitens. Es ist eine schwierige politische Aufgabe,
der wir uns aber stellen müssen, neue Formen des Tei-
lens und Tauschens zu ermöglichen. Wer von Ihnen in
kleinen Orten wohnt, der weiß: Wenn die Zucchini reif
sind, dann verschenkt man sie an die Nachbarn; wenn
die Pflaumen reif sind, gibt man den Korb an Freunde
und Verwandte weiter. In Großstädten ist das gar nicht so
einfach mit dem Teilen und Tauschen. Deshalb haben
sich Leute aufgemacht, im Internet Plattformen – die
nennt man heute Food-Sharing Platforms – zu organisie-
ren.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ja, bin ich drin!)


Hier stellt sich die Frage für uns in der Politik: Müssen
diese Plattformen reguliert werden?


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Nein!)






Nicole Maisch


(A) (C)



(D)(B)


Ich würde sagen, da begegnen sich Bürger wie früher am
Gartenzaun, die die Zucchini rübergeben und die Eier
entgegennehmen. Leider ist das Ministerium anderer
Meinung. Dort ist man der Meinung, dass solche Platt-
formen ähnlich wie Lebensmittelunternehmen reguliert
werden sollen. Wir sind der Meinung: Wenn sich Bürger
begegnen, um etwas zu tauschen, dann muss der Staat
nicht unbedingt übermäßig regulieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der dritte Punkt, der mir sehr wichtig ist, ist – das hat
der Ausschussvorsitzende angesprochen, was ich sehr
gut finde – das Thema Schulernährung. Wenn wir etwas
im Hinblick auf die Wertschätzung für unsere Lebens-
mittel ändern wollen, dann dürfen wir die Kinder nicht
abfüttern, sondern dann müssen sie gutes Essen kriegen.
Wenn große Caterer heute 50 Cent an Rohstoffkosten für
ein Schulmittagessen ausgeben, dann ist das Abfüttern;
dann ist das kein gutes Essen. Damit lernen Kinder nicht
Wertschätzung für Lebensmittel.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN sowie des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP])



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1719828100

Kommen Sie bitte zum Schluss.


Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719828200

Das mache ich; das ist mein letzter Satz.

Wir Abgeordnete haben den ersten Teil unserer Arbeit
geleistet: Wir haben nach langen Diskussionen im Aus-
schuss und einer Anhörung ein verbindliches Reduk-
tionsziel und ein umfassendes Maßnahmenpaket verab-
schiedet. Jetzt ist die Bundesregierung am Zug.


(Peter Bleser, Parl. Staatssekretär: Ich komme!)


– Herr Bleser, Sie haben uns an Ihrer Seite. Wenn es uns
zu langsam geht, haben Sie uns dann auch im Nacken.
Deshalb wünsche ich mir, dass Sie schnell Maßnahmen
auf den Weg bringen. Ich denke, inhaltlich sind wir uns
in weiten Teilen einig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1719828300

Das Wort hat jetzt als letzte Rednerin zu diesem Ta-

gesordnungspunkt die Kollegin Carola Stauche von der
CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Carola Stauche (CDU):
Rede ID: ID1719828400

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Wir diskutieren heute, wie schon ge-
sagt wurde, einen gemeinsamen Antrag von Grünen,
SPD und den Regierungsfraktionen. Eigentlich weist
schon das darauf hin, welche Bedeutung wir dem Thema
Lebensmittelverschwendung und den damit verbunde-

nen Lebensmittelverlusten beimessen. Uns allen ist es
wichtig, so wenig Lebensmittel wie nur irgend möglich
in der Versorgungskette zu verlieren. Das möchte ich
hier noch einmal ausdrücklich betonen. Hierfür gibt es
ökonomische, ökologische, aber vor allen Dingen ethi-
sche Gründe. Dies wurde auch schon gesagt.

Es darf nicht sein, dass nach Schätzung der Ernäh-
rungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO 1 Mil-
liarde Menschen auf der Welt hungern und gleichzeitig
in der EU 89 Millionen Tonnen Lebensmittelabfälle im
Jahr verursacht werden. Allein in Deutschland – es
wurde vorhin schon in Geld beziffert – sind es, um dies
einmal zu verdeutlichen, pro Bürger 81,6 Kilogramm
Lebensmittel, die wir als Müll verursachen. Es gilt also
nicht nur international zu fragen, ob wir es uns tatsäch-
lich leisten können, Lebensmittel zu verschwenden.

Ausdrücklich lobe ich hier im Plenarsaal des Deut-
schen Bundestages die Arbeit der vielen Ehrenamtlichen
bei den Tafeln.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das kann nicht oft genug geschehen. Sie fahren landauf,
landab Supermärkte ab und sammeln Lebensmittel für
Arme ein, die noch gut sind, aber nicht mehr verkauft
werden können. Sie haben seit vielen Jahren regen Zu-
lauf. Es gibt auch in Deutschland noch bedürftige Men-
schen, die sich ohne Hilfe nicht ausreichend oder ver-
nünftig ernähren können. Der sozialpolitische Aspekt
dessen gehört diskutiert, allerdings nicht heute in dieser
Debatte. Ohne die Einsatzbereitschaft der Tafeln und der
vielen Ehrenamtlichen würde noch viel mehr Essen im
Eimer landen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht nur die Tafeln
sind aktiv im Kampf gegen die Lebensmittelverschwen-
dung. Weltweit versuchen Menschen, diesen Wegwerf-
irrsinn zu stoppen. Die Bundeslandwirtschaftsministerin
Ilse Aigner hat nach dem Film „Taste the Waste“ quer
durch die Gesellschaft eine breite Debatte angestoßen
und die Menschen für das Thema Lebensmittelver-
schwendung sensibilisiert. Politiker aller Parteien sind
sich einig: Lebensmittelverschwendung ist ein Problem,
und es ist unsere gemeinsame Aufgabe, dieses Problem
zu lösen. Viele kleine Schritte können bewirken, dass
wir unser Ziel erreichen, Lebensmittelverschwendung
um die Hälfte zu reduzieren.

Doch welche Wege führen aus der Wegwerffalle?
Vieles zu den Ursachen und Lösungswegen wurde heute
bereits gesagt. Das ist auch gut; denn oberste Priorität
müssen Information und Aufklärung haben. Das muss
bei den Kleinsten anfangen und darf bei den Älteren
nicht aufhören. Der verantwortungsvolle Umgang mit
Lebensmitteln muss Tag für Tag neu gelernt werden. Nur
so gelingt es uns, das Bewusstsein für den Wert von Le-
bensmitteln wieder in die Köpfe der Menschen zu
bekommen. Nur so können wir in unserer Überflussge-
sellschaft abhandengekommenes Alltagswissen zum
Umgang mit Lebensmitteln langfristig und erfolgreich
zurückgewinnen. Diese Kompetenzen im Umgang mit





Carola Stauche


(A) (C)



(D)(B)


Lebensmitteln müssen von klein auf erlernt werden. Hier
müssen wir die Länder, die ja für die Bildung zuständig
sind, in die Pflicht nehmen.

Nachdem insgesamt 11 000 Kinder – vermutlich auf-
grund verkeimter Erdbeeren aus China – Magen-Darm-
Erkrankungen erlitten haben, fragen sich viele, warum
unsere Kita- und Schulkinder im Herbst Erdbeeren aus
China bekommen. Ich will dazu nur so viel sagen: Es
gibt hervorragende Kitas und Schulen, die die Verpfle-
gung der Kinder mit Ernährungsbildung verknüpfen.
Das ist der richtige Ansatz. Dann lernen die Kinder näm-
lich, dass im Herbst Äpfel, Birnen und Pflaumen auf den
Bäumen wachsen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wenn sie dann noch das Obst fürs Frühstück selbst ge-
schnippelt haben, werden sie eine ganz andere Einstel-
lung zum Essen bekommen.

Unsere Landfrauen leisten mit dem Ernährungsfüh-
rerschein sehr gute Arbeit. Sie haben das Wissen, und sie
haben den Willen, uns bei der Ernährungsbildung zu hel-
fen. Wir sollten dieses Wissen einbeziehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Einstellung zu Lebensmitteln muss sich ändern.
Der Verbraucher ist natürlich nur ein Glied in der Kette;
er ist nicht allein für dieses hohe Ausmaß der Lebensmit-
telverschwendung verantwortlich. Wir können ihn aber
auch nicht außen vor lassen; denn er ist besonders an-
spruchsvoll: In der Regel will er nämlich nur einwand-
freie Produkte kaufen, und das möglichst zu jeder Tages-
und Nachtzeit. Manche gehen mitten in der Nacht zur
Tankstelle und kaufen dort Brötchen oder Tiefkühlpizza;
das ist heute eine Selbstverständlichkeit.

Ich erlebe selbst jeden Tag, dass viele Mitbürger Le-
bensmittel nicht mehr wertschätzen; schließlich gibt es
ja genug davon, und sie wachsen ja nebenan in der Kauf-
halle und sind preiswert. Wir wissen nicht erst jetzt, dass
dem nicht so ist.

Ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung ist der
im Antrag geforderte offene Dialogprozess, der eingelei-
tet werden soll, um eine Strategie zur Reduzierung der
Lebensmittelverschwendung zu entwickeln. Über den
Weg des Dialogs muss es uns gelingen, die Wertschät-
zung für Lebensmittel zu erhöhen und dadurch die Le-
bensmittelverschwendung zu reduzieren. Ich möchte das
als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden wissen.

Wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion fordern den
mündigen Verbraucher, der gut informiert selbst ent-
scheidet, was er konsumieren möchte und, vor allem,
was nicht. Die Aufklärung, die ich beschrieben habe,
spielt bei dem Thema Lebensmittelverluste eine wesent-
liche Rolle.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1719828500

Kommen Sie bitte zum Schluss.


Carola Stauche (CDU):
Rede ID: ID1719828600

Ja. – Lebensmittelindustrie und -handel sind ebenso

in der Pflicht, Lebensmittelverluste zu minimieren. An-
gefangen beim Mindesthaltbarkeitsdatum über das Ver-
fütterungsverbot tierischer Proteine bis hin zu praktika-
bleren Verpackungsgrößen ist hier vieles aufgezählt. Die
Gastronomie könnte mit kleineren Schnitzeln einen Bei-
trag leisten. Deshalb fordern wir einen Ideenwettbewerb
zur Vermeidung von Lebensmittelabfällen.

Meine Damen und Herren, ich möchte es nicht ver-
säumen, mich bei Ministerin Aigner, dem Staatssekretär
und ihrem Hause für ihren Einsatz zu bedanken.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Dadurch hat das Thema Lebensmittelverschwendung in
der öffentlichen Wahrnehmung den Stellenwert bekom-
men, den es verdient.


(Gustav Herzog [SPD]: Ein gewaltiger Abschluss einer großartigen Rede!)


– Ich danke Ihnen. – Nur wer sich traut, kann gewinnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1719828700

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/10987 mit dem Titel „Le-
bensmittelverluste reduzieren“. Wer stimmt für diesen
Antrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Bei Ent-
haltung der Fraktion Die Linke und Zustimmung aller
anderen Fraktionen ist der Antrag angenommen.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/10989 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf:

a) – Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat ein-
gebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Ände-
rung des Strafgesetzbuchs – Aufnahme men-
schenverachtender Tatmotive als besondere
Umstände der Strafzumessung (… StRÄndG)


– Drucksache 17/9345 –

– Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion
der SPD eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes

(… Strafrechtsänderungsgesetz – … StRÄndG)


– Drucksache 17/8131 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)


– Drucksache 17/11061 –





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


Berichterstattung:
Abgeordnete Ansgar Heveling
Burkhard Lischka
Jörg van Essen
Halina Wawzyniak
Jerzy Montag

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Volker Beck

(Köln), Ingrid Hönlinger, Memet Kilic, weiterer

Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Vorurteilsmotivierte Straftaten wirksam ver-
folgen

– Drucksachen 17/8796, 17/11061 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Ansgar Heveling
Burkhard Lischka
Jörg van Essen
Halina Wawzyniak
Jerzy Montag

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die-
sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1) Sind
Sie damit einverstanden? – Das scheint der Fall zu sein.

Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf des Bundesrates zur Änderung des Strafgesetz-
buchs – „Aufnahme menschenverachtender Tatmotive
als besondere Umstände der Strafzumessung“. Der
Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/11061, den Ge-
setzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 17/9345
abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zwei-
ter Beratung abgelehnt mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen bei Zustimmung der SPD-Fraktion und
Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und den Linken.
Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die wei-
tere Beratung.

Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der
SPD zur Änderung des Strafgesetzbuchs. Der Rechtsaus-
schuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/11061, den Gesetzentwurf der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/8131 abzulehnen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Ent-
haltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei
Zustimmung der SPD-Fraktion und Enthaltung der Frak-
tionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Auch hier
entfällt die weitere Beratung.

Wir setzen die Abstimmung zu der Beschlussempfeh-
lung des Rechtsausschusses auf Drucksache 17/11061
fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/8796 mit

dem Titel „Vorurteilsmotivierte Straftaten wirksam ver-
folgen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen und Enthaltung von SPD und Linken.

Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b
auf:

a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Siebten
Gesetzes zur Änderung des Weingesetzes

– Drucksachen 17/10042, 17/10124 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz (10. Ausschuss)


– Drucksache 17/11019 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Alois Gerig
Gustav Herzog
Dr. Erik Schweickert
Alexander Süßmair
Markus Tressel

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Alexander Süßmair,
Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Rettung einheimischer Rebsorten durch Er-
haltungsanbau

– Drucksachen 17/7845, 17/8612 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Alois Gerig
Gustav Herzog
Dr. Erik Schweickert
Alexander Süßmair
Harald Ebner

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dage-
gen Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner das Wort dem Kollegen Alois Gerig von der CDU/
CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Alois Gerig (CDU):
Rede ID: ID1719828800

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine Damen und Herren! Deutschland ist
ein wirtschaftlich starkes Land. Dies liegt am Fleiß und
Grips unserer Mitbürger, an der Innovationskraft unserer
Unternehmen und natürlich auch an der richtigen politi-
schen Führung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP Alois Gerig Deutschland ist ein schönes Land. Dies liegt an der vielfältigen, bunten Kulturlandschaft und den Menschen, die diese bewirtschaften und pflegen. Damit dies auch in Zukunft so bleibt, verbessern wir zum Beispiel mit der Änderung des Weingesetzes die Rahmenbedingungen für die Winzer und die deutsche Weinwirtschaft. Derzeit ist die Weinlese in vollem Gange. Es wird von einer leicht unterdurchschnittlichen Erntemenge, dafür aber aufgrund des schönen Spätsommers von einem qualitativ sehr guten Jahrgang ausgegangen. Dies ist nach einem Jahr mit vielen Frostschäden eine sehr erfreuliche Situation für die Branche. Lassen Sie uns heute für eine weitere gute Nachricht sorgen, indem wir gemeinsam den Gesetzentwurf zur Änderung des Weingesetzes beschließen. Mit den Änderungen nutzen wir im Rahmen der europäischen Weinmarktordnung unsere nationalen Spielräume, um das Bezeichnungsrecht für Wein zu präzisieren. Durch die zusätzlichen Angaben auf dem Etikett können deutsche Weine im Wettbewerb mit inund ausländischen Produkten noch stärker an Profil gewinnen. Die Angaben zu Anbaugebiet und Lage haben beim Kauf von Wein schon immer eine gewichtige Rolle gespielt. Die neuen differenzierten Bezeichnungen helfen dem Käufer, das Produkt seiner Wahl noch besser zu finden. Viele Verbraucher greifen zunehmend sehr bewusst zu Nahrungsmitteln mit eindeutiger Herkunft, (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Schön wäre es!)





(A) (C)


(D)(B)


weil diese in der unübersichtlichen anonymen Waren-
welt vertrauenswürdiger sind. Mit dem Kauf von Pro-
dukten regionaler Herkunft können unsere Bürger einen
Beitrag zum Umwelt- und Klimaschutz leisten und ge-
zielt die heimische Erzeugung und somit auch den Erhalt
der liebgewonnenen Kulturlandschaft stärken. Dieser
Trend ist zu begrüßen und wird durch die vorliegende
Gesetzesänderung unterstützt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wichtig ist, dass wir nicht nur neue Bezeichnungen
schaffen, sondern auch die Qualität fördern. Die Länder
können für Weine, die aus kleineren geografischen Ein-
heiten oder einer Steil- oder Terrassenlage stammen,
strengere Qualitätsanforderungen festlegen, beispiels-
weise hinsichtlich der zugelassenen Rebsorten oder des
zulässigen Hektarertrags. Damit bieten wir die Möglich-
keit und Gewähr, die spezielle Wertigkeit dieser Weine
zu erhöhen. Die Käufer werden dadurch motiviert, die
notwendigen höheren Preise zu akzeptieren.


(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Schön wäre es!)


Derzeit bedeutet Steillagenweinbau für die Winzer
nämlich harte körperliche Arbeit und leider häufig auch
nicht kostendeckende Erträge. An Mosel sowie an Main,
Tauber und Neckar wird deutlich, dass der dortige Wein-
bau diesen Regionen eine besondere landschaftliche Prä-

gung verleiht und sie sehr attraktiv für den Tourismus
macht. Hier sehe ich noch deutliche Zukunftspotenziale.

Leider liegt der Erhalt des Steillagenweinbaus nicht
allein in unserer Hand. Wichtig ist, dass sich die Bundes-
länder weiterhin engagieren. Ebenso wichtig ist, dass in
der Europäischen Union der bestehende Anbaustopp für
Reben verlängert wird.

Der Anbaustopp hat für den Weinbau in Deutschland
eine große Bedeutung. Eine Aufhebung würde unwei-
gerlich zu einer Ausdehnung der Rebflächen in einfach
zu bewirtschaftenden Flachlagen und damit zu einer Pro-
duktionssteigerung führen. Die Folge: Die Preise und
damit die Einkommen der Winzer kämen vermutlich
massiv unter Druck, und unsere überwiegend kleinen
und mittelständischen Unternehmen wären schnell in ih-
rer Existenz bedroht.

Ich bitte deshalb die Bundesregierung, ihren richtigen
Kurs beizubehalten und sich in Brüssel weiterhin massiv
für die Verlängerung des Anbaustopps einzusetzen. Dies
liegt im Interesse der deutschen Weinbauern und unserer
Bevölkerung.

Eine weitere wichtige Zukunftsaufgabe – auch für
den deutschen Weinbau – ist es, einen besseren Schutz
gegen zunehmende Wetterextreme zu erreichen. Hagel,
Sturm, Spätfrost und Starkregen häufen sich infolge des
Klimawandels und können für existenzbedrohende Pro-
duktionsverluste sorgen. Bei der Absicherung gegen
diese Risiken dürfen deutsche Winzer nicht gegenüber
europäischen Wettbewerbern benachteiligt werden.

Aus diesem Grund bin ich dafür, die Mehrgefahren-
versicherungen steuerlich genauso zu behandeln wie die
Hagelversicherungen. Bei der Änderung des Versiche-
rungsteuergesetzes sollten wir die Steuersätze so festle-
gen, dass Winzer, Bauern und auch Gärtner ermuntert
werden, Eigenvorsorge zu betreiben, um sich selbst ge-
gen witterungsbedingte Risiken absichern zu können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, die deut-
sche Weinwirtschaft erzeugt qualitativ hochveredelte
Produkte, die für ein gutes Stück Lebensqualität stehen.
Darüber hinaus leisten die Winzer einen wertvollen Bei-
trag zum Erhalt der Kulturlandschaft und für den Touris-
mus in den Anbaugebieten.

Wohl wissend, dass auf europäischer Ebene weitere
wichtige Entscheidungen anstehen, sollten wir heute un-
seren Beitrag für positive Rahmenbedingungen in der
deutschen Weinwirtschaft leisten und den vorliegenden
Gesetzentwurf gemeinsam beschließen.

Ich bitte um Ihre Zustimmung, damit auch weiterhin
fröhliche Weinfeste gefeiert werden und wir weiterhin
hübsche Weinköniginnen krönen können.

Vielen Dank.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Das ist aber schon ein bisschen frauenfeindlich!)







(A) (C)



(D)(B)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719828900

Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Gustav

Herzog das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Gustav Herzog (SPD):
Rede ID: ID1719829000

Frau Präsidentin! Schönen guten Abend, liebe Kolle-

ginnen und Kollegen! Heute hat es im Plenum, hier an
diesem Rednerpult, eine ganze Reihe heftigster politi-
scher Auseinandersetzungen gegeben; über Fragen der
Europa-, Finanz-, Energie- und Rentenpolitik ist heftig
gestritten worden. Aber schon beim vorhergehenden Ta-
gesordnungspunkt – bei der Frage, wie wir mit Lebens-
mittelverlusten umgehen – haben wir bewiesen, dass es
möglich ist, hier im Deutschen Bundestag nicht nur ei-
nen Kompromiss zu finden, sondern auch einen Kon-
sens. So ist es gut, dass wir auch hier, beim Thema Wein,
einen Konsens gefunden haben.

Nun darf man daraus nicht den Schluss ziehen, dass
es beim Weinrecht immer so friedlich zugeht. Ich kann
mich daran erinnern, dass es in Zeiten, in denen wir die
Hektarhöchsterträge eingeführt haben, stundenlange De-
batten und heftige Auseinandersetzungen gab. Aber das
ist schon einige Jahre her. Ich glaube, wir haben damals
den Mut bewiesen, ein vernünftiges Regelwerk zu eta-
blieren, und leben heute von den Früchten, die wir da-
mals gesät haben.

Ich habe heute Abend gleich zu Beginn einige gute
Nachrichten. Zunächst zitiere ich aus der Zeitschrift
Pfälzer Bauer: „Jahrhundertweine sind beim 12er mög-
lich“.


(Dr. Erik Schweickert [FDP]: Nicht nur beim Pfälzer Bauern!)


– Aber daraus habe ich zitiert. Andere haben das, Kol-
lege Schweickert, sicherlich auch zutreffend beschrie-
ben. – Auch die Mengen sprechen dafür, dass sowohl die
Erzeuger als auch wir, die Kunden, über die Runden
kommen. Die Preise sind für die Erzeuger auskömmlich
und für die Kunden leistbar.

Ich sage das, weil wir beim Wein schon ganz andere
Zeiten erlebt haben, beispielsweise als die Mengen vaga-
bundiert und die Preise abgestürzt sind. Die Politik hat
dafür gesorgt, dass in diesem Bereich Ruhe eingekehrt
ist. Heute wollen wir die Rahmenbedingungen der Ver-
marktung weiter verbessern.

Die heutige zweite und dritte Lesung des Siebten Ge-
setzes zur Änderung des Weingesetzes bietet die Gele-
genheit, zwei, drei grundsätzliche Dinge zu sagen. Wir
haben mit der Überführung des eigenen Regelwerkes in
die gemeinsame Marktordnung vor einigen Jahren einen
großen Schritt getan, nicht immer mit Beifall aus diesem
Haus. Insgesamt hat sich gezeigt, dass die Politik euro-
päisches Recht vernünftig in nationales Regelwerk über-
setzt hat. Mein Vorredner hat schon die vielen Möglich-
keiten angeführt, die das Bezeichnungsrecht heute mit
sich bringt.

Wir waren hier im Deutschen Bundestag immer gut
beraten, die Länder intensiv in die Diskussion mit einzu-
beziehen; denn nicht nur die Länder, sondern auch die
Weinanbaugebiete weisen eine große Vielfalt auf, die
sich im Wein widerspiegelt und ein besonderes Quali-
tätsmerkmal des deutschen Weines ist.


(Beifall des Abg. Dr. Erik Schweickert [FDP])


Eine Ursache dieser Vielfalt liegt darin – auch da stimme
ich dem Kollegen Gerig zu –, dass wir, was die Pflanz-
rechte angeht, ein sehr strenges Regelwerk haben, wir es
also nicht zulassen wollen, dass die Weinrebe nur dort
angepflanzt wird, wo die Kapitalverwertung am besten
möglich ist, sondern dass sie Teil der Kulturlandschaft
bleibt.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, allein im
Entwurf eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Wein-
gesetzes wurden neunmal die Bezeichnungen „Prädi-
katswein“, „Qualitätslikörwein b. A.“ und „Qualitäts-
perlwein b. A.“ eingefügt. Ich sage das deshalb, weil
damit deutlich wird, wie hochkompliziert und wie ver-
rechtlicht dieser Bereich geworden ist. Es ist kein Ste-
ckenpferd der Politik – wir finden keine innere Freude
daran –, die Sachen besonders kompliziert zu machen.
Vielmehr haben wir in der Debatte zu dieser Weingesetz-
änderung viele Anregungen aus der Weinwirtschaft be-
kommen, von den Verbänden, den Genossenschaften,
den Kellereien; auch einzelne Winzer haben sich an
mich gewandt. Jeder hatte einen Wunsch oder die Emp-
fehlung, dies oder jenes in das Weingesetz aufzunehmen.
Ich glaube, wir waren gut beraten, dass wir als Bericht-
erstatter für das Weingesetz insgesamt gesagt haben:
Verständigt euch weitestmöglich in der Weinwirtschaft,
klärt das erst einmal unter euch, und dann sind wir gerne
bereit, diese Vorschläge auch in unsere Willensbildung
mit einzubeziehen.

Es hat sich in einer großen Anhörung, die wir zu dem
Weingesetz gemacht haben, gezeigt, dass auch die Wis-
senschaft, die Wirtschaft und die Verbände diesen Weg
und das Ergebnis für richtig halten.

Wir haben uns dann in einem Berichterstattergespräch
den Gesetzentwurf noch einmal sehr detailliert vorge-
nommen. Daher kann ich sagen: Weil das Struck’sche
Gesetz zur Anwendung kommt, werden wir auch hier
dem Änderungsgesetz zustimmen. Wir haben aus einem
brauchbaren Gesetzentwurf der Bundesregierung einen
guten Gesetzentwurf gemacht, dem es sich auch zuzu-
stimmen lohnt.


(Dr. Erik Schweickert [FDP]: Na, na, na! – Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)


Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719829100

Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Professor

Dr. Erik Schweickert das Wort.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. Erik Schweickert (FDP):
Rede ID: ID1719829200

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Über die gute
Ernte sind schon einige Worte verloren worden. Ich
möchte auch für die Zuhörer darstellen, dass es hier
nicht um eine kleine Nische geht. Über 50 000 Genos-
senschaftswinzer, über 20 000 Weingüter, über 200 Win-
zergenossenschaften in verschiedenen Arten und über
200 Wein- und Sektkellereien sind in Deutschland in
diesem Bereich tätig. Viele Familien sind also davon ab-
hängig, wie wir unsere Entscheidung heute treffen.

Ich möchte dem Kollegen Herzog, aber natürlich auch
dem Kollegen Gehrig zustimmen: Wir haben es über die
Fraktionen hinweg geschafft – so stellen es sich viele
Zuhörer auch vor –, darüber zu diskutieren und auch An-
regungen der Länder aufzunehmen, um hier gemeinsam
einen Gesetzentwurf vorzulegen.

Ich muss mit mir selber ein bisschen ins Gericht ge-
hen. Ich komme aus der Weinwirtschaft. Mein Opa hat
früher immer von Schrott gesprochen, wenn es um
Dinge ging, die die Politik beschlossen hat, und hat über
das Weingesetz geschimpft. Aber ich muss sagen: Wenn
es heute schiefgeht, dann ist daran definitiv nicht die
Politik schuld. Denn wir haben die Anregungen aus dem
Berufsstand aufgenommen und für die Betriebe zum
Beispiel die Berücksichtigung von Jungwein bei der
Umrechnung vereinfacht. Ich möchte Ihnen verdeut-
lichen, dass es bei „g.g.A.“ und „g.U.“ nicht um einen
Rap, der hier in Berlin produziert wurde, geht, sondern
um bezeichnungsrechtliche Eigenschaften.

Wir werden den Ländern nun bei kleineren herkunfts-
geschützten Angaben die Freiheit einräumen, ihre eigenen
Möglichkeiten im Bereich der Rebsorten, des Hektarertra-
ges, des Mindestalkoholgehaltes und des Restzuckerge-
haltes zu nutzen. Das heißt, wir kommen weg, wie es in
Deutschland bisher immer der Fall war, von der Qualität
im Glase und hin zur Ursprungsbezeichnung, wie es in
vielen anderen Ländern wie Frankreich, Italien und Spa-
nien schon lange Tradition ist.

Wenn man sich vor Augen hält, dass wir in Deutsch-
land ungefähr 35 Prozent eigenen Wein trinken – 65 Pro-
zent der Weine, die in Deutschland getrunken werden,
kommen aus dem Ausland –, dann wird klar, dass die
Winzer bei Aldi & Co. im Wettbewerb stehen. Denn
80 Prozent werden über den Lebensmitteleinzelhandel
und nur 20 Prozent ab Weingut vermarktet. Dann wird
uns bewusst, dass wir die Basis dafür schaffen müssen,
dass sich die Winzer in diesem Wettbewerb behaupten
können.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, vor dem Hintergrund, dass
bei einem Einkauf im Supermarkt im Prinzip in drei Se-
kunden die Entscheidung zwischen Rotwein, Weißwein
und Preis gefällt wird, müssen wir den Winzern Mög-
lichkeiten geben, hier aktiv zu werden. Das machen wir.
Denn die Länder wissen vor Ort besser, welche regionale
Besonderheit sie besonders schützen und im Marketing
besonders hervorheben können.

Ich möchte allerdings auch ganz klar sagen: Dieses
Gesetz birgt eine große Chance für die Weinwirtschaft.

Aber sie muss auch genutzt werden. Insofern appelliere
ich an die Länder, dieses Gesetz nicht nur limitativ zu
nutzen, also den Hektarertrag extrem einzugrenzen, son-
dern profilbildend zu wirken und Profile auf den Markt
zu bringen, unter denen sich der Verbraucher etwas vor-
stellen kann.

Allein die Region Rioja mit über 60 000 Hektar – in
Deutschland wird auf insgesamt 102 000 Hektar Wein
angebaut – oder die Region Chianti mit 24 000 Hektar
stehen jeweils für einen einzigen Weinstil, und trotzdem
kann jedes Weingut machen, was es will. Es hat sich al-
lerdings diesem Profil und dieser Stilistik zu unterwer-
fen, wenn es diesen Wein produziert. Das sind Chancen
auf dem Markt. Aber natürlich muss ich auch die Mög-
lichkeit haben, diese Weine zu erzeugen. Deswegen
mein Appell: Wir sollten in diesem Bereich nicht nur
limitative Möglichkeiten nutzen, sondern insbesondere
profilbildende.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir haben in der Anhörung zu diesem Gesetzentwurf
klargemacht, dass wir, wenn wir möchten, dass das Reb-
flächenmanagement erhalten bleibt – dazu stehen alle
Fraktionen im Deutschen Bundestag –, auch dafür sor-
gen müssen, dass das Rebflächenmanagement auf euro-
päischer Ebene erhalten bleibt. Dann dürfen keine natio-
nalen Freiräume genutzt werden; denn dafür ist die
Weinwirtschaft ein zu großes Haifischbecken. Wer
meint, als Winzer in einem Haifischbecken Goldfisch
spielen zu müssen, der darf sich nicht wundern, wenn er
gefressen wird. Deswegen müssen wir alle, die wir hier
sitzen, uns dafür einsetzen, dass das Rebflächenmanage-
ment auf europäischer Ebene erhalten bleibt. Wir wissen
alle, dass das nicht so einfach gehen wird wie in den Jah-
ren zuvor, dass die Regelung nicht einfach verlängert
werden wird. Wir müssen schauen: Wo gibt es Kompro-
missmöglichkeiten? An welcher Stelle kann man mit fle-
xibleren Regelungen entgegenkommen? Im Grundsatz
muss der Beschluss aber erhalten bleiben.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich sage auch: In diesem Bereich können wir als
Fraktionen einiges tun. Wir haben das Parlamentarische
Weinforum, in dem wir seit Jahren fraktionsübergreifend
gut zusammenarbeiten. Wenn ich aber sehe – das sage
ich auch an die Adresse des Präsidiums, nicht nur an die
Adresse der Fraktionen und der Regierung –, was für
Produkte bei Veranstaltungen der Bundesrepublik
Deutschland, der Fraktionen oder bei Parlamentarischen
Abenden manchmal ausgeschenkt werden,


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Richtig! Genau!)


dann muss ich sagen: Es liegt auch an uns. Wir entschei-
den nicht nur heute Abend über die Rahmenbedingungen
der Weinwirtschaft, sondern wir können auch mit ande-
ren Entscheidungen, die wir treffen, unsere Weinwirt-
schaft unterstützen und zeigen, dass wir zu ihr stehen.
Wir können sagen: Jawohl, wir haben in Deutschland
eine gut ausgebildete Weinwirtschaft. Wir haben beste





Dr. Erik Schweickert


(A) (C)



(D)(B)


Voraussetzungen: eine gute Wasserverfügbarkeit, tolle
Böden, eine hohe Tag-Nacht-Amplitude, die Aromen
bringt. Wir können auch durch solche Entscheidungen
zu den Produkten stehen, die die Weinwirtschaft nach
unseren Regeln erzeugt. In diesem Sinne können wir den
Winzern sagen: Zum Wohl!

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719829300

Kollege Schweickert, den Hinweis auf das Präsidium

habe ich nicht ganz verstanden. Hier oben – damit das
auch für die Zuhörer klar ist – wird weiter Wasser ge-
reicht. Das mit dem Wein verschieben wir auf einen spä-
teren Zeitpunkt.


(Markus Tressel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ab 20 Uhr könnten wir doch auch Wein ausschenken!)


Das Wort hat der Kollege Alexander Süßmair für die
Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Alexander Süßmair (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719829400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Ich muss Ihre Anre-

gung gleich aufnehmen. Mir kommt jetzt wohl die Rolle
zu, etwas Wasser in den Wein zu gießen.


(Zurufe von der CDU/CSU: Oh! – Dr. Erik Schweickert [FDP]: Schorle!)


– Ja, leider. Das kann ich Ihnen nicht ersparen.

Wir befassen uns heute mit dem Entwurf eines Geset-
zes der Bundesregierung zur Änderung des Weingeset-
zes und mit einem Antrag meiner Fraktion zum Erhalt
von einheimischen Rebsorten. Einige der Änderungen,
die die Regierung beim Weingesetz vornehmen will, fin-
den auch wir von der Linken sinnvoll, zum Beispiel die
Anpassung von Begrifflichkeiten und Formulierungen
an das EU-Recht. Allerdings steckt der Teufel, wie so
oft, im Detail.

Die Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und FDP ha-
ben einen Änderungsantrag zum Gesetzentwurf der Bun-
desregierung eingebracht. Darin sind zwei Punkte ent-
halten, die wir von der Linken kritisieren:

Erstens. Laut Ihrem Änderungsantrag wollen Sie es
den Bundesländern ausdrücklich untersagen – jetzt wird
es fachlich –, eigene strengere Festlegungen für die
Hangneigung in herkunftsgeschützten, kleineren geogra-
fischen Einheiten zu treffen. Das ist falsch; denn gerade
im Weinbau ist die sogenannte Steillage prägend. Sie
bewahrt die Kulturlandschaft.


(Beifall bei der LINKEN – Gustav Herzog [SPD]: Sie bringen die gesamte Förderkulisse durcheinander, Herr Kollege!)


Nicht zu vergessen ist der Wert für den Tourismus.
Weinbau in Steillagen ist aber kostenintensiver als der
Weinbau in Flachlagen. Gerade deshalb sollten Steil-
lagen besonders gefördert und geschützt werden können.

Wir sind der Meinung: Wenn Bundesländer mit einem
großen Anteil von Gebieten mit Steillagen, wie zum Bei-
spiel an der Unstrut, der Nahe oder dem Main, schärfere
Regelungen treffen wollen, dann sollen sie dies auch
dürfen. Deshalb lehnen wir diese Änderung ab.


(Beifall bei der LINKEN)

Zweitens. Sie beantragen eine Erhöhung der Anzahl

der Sitze des Aufsichtsrats des Deutschen Weinfonds
und eine Erhöhung der Anzahl der festen Mitglieder der
Winzereigenossenschaften von eins auf zwei. So weit, so
gut. Aber gleichzeitig machen Sie es durch eine Verän-
derung der Zusammensetzung des Aufsichtsrates so gut
wie unmöglich, dass Mitglieder der Verbraucherschutz-
organisationen im Aufsichtsrat vertreten sind.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719829500

Kollege Süßmair, gestatten Sie eine Frage des Kolle-

gen Schweickert?


Alexander Süßmair (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719829600

Er kann sich am Ende meiner Rede zu einer Kurzin-

tervention melden, aber jetzt nicht.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719829700

Also nicht.


Alexander Süßmair (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719829800

Eine der Hauptaufgaben des Deutschen Weinfonds ist

die Erschließung und Pflege des Weinmarktes. Es sind
doch die Verbraucherinnen und Verbraucher, für die der
Wein produziert wird. Deshalb haben wir im Ausschuss
beantragt, dass mindestens zwei Mitglieder des Auf-
sichtsrates Vertreter der Verbraucherschutzorganisatio-
nen sein müssen und dass auch die Anzahl der Verbrau-
cherschützer im Verwaltungsrat erhöht wird. Diesen
Antrag haben die Regierungsfraktionen abgelehnt. Das
zeigt einmal mehr, welchen Stellenwert Verbraucher-
schutz für Sie hat. Die Linke jedenfalls möchte die
Rechte der Verbraucherinnen und Verbraucher stärken.


(Beifall bei der LINKEN)


Abschließend möchte ich über den Antrag der Linken
zum Erhalt der einheimischen Rebsorten sprechen. Fast
zwei Drittel der Weinbaubetriebe in Deutschland verfü-
gen nur über maximal 1 Hektar Landfläche. Wenn diese
Winzerinnen und Winzer alte Rebsorten anbauen wollen,
die nicht registriert sind, müssen sie für die Zulassung
zum Teil mehrere Tausend Euro zahlen, und das, bevor
auch nur eine einzige Flasche verkauft ist. Nebener-
werbswinzer können sich diese Kosten kaum leisten.
Staatliche Institute haben zwar auch Weinstöcke seltener
oder alter Sorten, aber teilweise nur drei Stück. Wir fin-
den, das ist zu wenig.


(Beifall bei der LINKEN)


Alle reden über Biodiversität, also Artenvielfalt; aber
wenn es konkret wird, dann ist plötzlich Schluss mit der
Förderung von Vielfalt. Die Linke aber meint: Biodiver-
sität und Erhaltungsanbau brauchen Wertschätzung und
Unterstützung.


(Beifall bei der LINKEN)






Alexander Süßmair


(A) (C)



(D)(B)


Wir alle wissen: Auch Wein aus Deutschland hat einen
guten Ruf. Tun wir als Gesetzgeber alles, damit es auch
so bleibt!

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719829900

Zu einer Kurzintervention hat der Kollege

Schweickert das Wort.


Dr. Erik Schweickert (FDP):
Rede ID: ID1719830000

Sehr geehrter Herr Kollege Süßmair, man kann natür-

lich die Position vertreten, dass man es den Bundeslän-
dern offenlässt, strengere Festlegungen in Bezug auf die
Hangneigung zu treffen. Aber stimmen Sie mit mir darin
überein, dass allein der Hinweis auf den höheren Ar-
beitsaufwand in der Steillage nicht geeignet ist, den Ver-
braucher, den Sie gerade in den Mittelpunkt gestellt ha-
ben, zu überzeugen? Denn wenn der Verbraucher von
dieser Mehrarbeit keinen Mehrwert hat, dann wird er
nicht dafür zahlen.

Die Originalität der Steillage besteht darin, dass sie
eine bessere Wasserverfügbarkeit hat. Wir alle wissen,
dass es eher eine Wasserrennbahn ist, wenn die Steillage
zu steil ist. Dann rinnt das Wasser herunter, und es wird
weniger gespeichert. Bei den Graden, die jetzt im Gesetz
stehen, gibt es eine optimale Reflexion von Nachtwärme
und besserer Aromabildung. Ich möchte einfach bitten,
dass wir mehr über die Qualität, die uns die Steillage lie-
fert, und nicht über den Arbeitsaufwand, der dahinter-
steckt, sprechen. Er ist zwar vorhanden und muss ent-
lohnt werden, er wird aber nur dann entlohnt, wenn der
Verbraucher etwas davon hat. Das ist nur dann der Fall,
wenn genau diese Charakteristika, die man jetzt mit der
Eigenschaft g.U. erheben kann, vom Verbraucher wahr-
genommen werden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719830100

Zur Erwiderung hat der Kollege Süßmair das Wort.


Alexander Süßmair (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719830200

Sehr verehrter Kollege Schweickert, ich habe dazu

eine andere Position. Sie sagen, dass der Verbraucher be-
reit ist, mehr zu zahlen, wenn er Wein mit einer besseren
Qualität bekommt. Mit dem Fachlichen kennen Sie sich
wahrscheinlich besser aus als ich. Aber Sie müssen er-
klären, warum Sie meinen, dass unsere Vorstellung in
diesem Zusammenhang nicht gerechtfertigt ist. Sie wis-
sen auch, dass die Europäische Union es so definiert hat,
dass eine Förderung erst ab 30 Prozent möglich ist. Das
gilt natürlich für die gesamte EU.

Gerade wir in Deutschland haben sehr viele Regio-
nen, zum Beispiel bei mir im Bayerischen, im Fränki-
schen, in denen es zahlreiche Steillagen gibt. Wir sind
der Meinung, dass es nicht allein um die Bezahlung des
Aufwands der Menschen, die die Steillagen bewirtschaf-
ten, geht, sondern – das habe ich gesagt – dass es auch

um den Erhalt einer besonderen Form der Kulturland-
schaftspflege geht, also um den Aufwand, der betrieben
wird, um zum Beispiel einen Mehrwert für die Land-
schaft und den Tourismus zu erreichen.

Sie werden mir auch zustimmen, wenn ich sage: Wir
haben auf europäischer Ebene – Sie haben das angespro-
chen – Debatten über die Aufhebung der Pflanzrechte.
Andere Länder wollen in der Tiefe und in den Flachla-
gen in die größere Produktion gehen. Wenn wir weiter-
hin rechtfertigen wollen, dass die Steillage etwas Beson-
deres ist, und wenn wir sie fördern und erhalten
möchten, und zwar auch für die Kulturlandschaft und für
den Tourismus, dann finde ich es sehr wohl angebracht,
dass man dies dem Verbraucher klarmacht, wenn die ent-
sprechenden Bundesländer es wollen. Wenn die Men-
schen zum Beispiel einen Ausflug in ein schönes Tal, ob
an der Mosel oder sonst wo, machen und die Steilhänge
sehr schön finden, müssen sie wissen, dass wir dies lang-
fristig nur erhalten können, wenn wir genau diese Form
des Kulturanbaus schützen. Interessanterweise ist die
Bundesregierung in ihrer Gegenäußerung zu der Stel-
lungnahme des Bundesrats hierauf eingegangen. Sie hat
in Bezug auf § 24, der unter anderem die Beschränkung
der zugelassenen Rebsorten, den Alkoholgehalt und der-
gleichen beinhaltet, unter Punkt 1 die Hangneigung hi-
neingeschrieben. Sie bestätigt also die Position der Lin-
ken.


(Gustav Herzog [SPD]: Nein, das war ein Fehler der Bundesregierung! Deshalb haben wir einen brauchbaren, einen besseren Gesetzentwurf gemacht!)


Deshalb finde ich es durchaus korrekt, dass wir es den
Bundesländern überlassen wollen.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719830300

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der

Kollege Markus Tressel das Wort.


Markus Tressel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719830400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Jenseits der schönen Weinfeste und der noch schöneren
Weinköniginnen hat der Weinbau auch wichtige Funk-
tionen in anderen Bereichen. Er stärkt die regionale
Wertschöpfung, er schafft Arbeitsplätze auf dem Land,
und er fördert den Tourismus. Das ist hier schon mehr-
fach angesprochen worden. Unsere Aufgabe als Politik
ist es, die Rahmenbedingungen so zu setzen, dass dies
auch weiterhin gewährleistet wird. Die Winzerinnen und
Winzer in Deutschland haben unsere Unterstützung ver-
dient. Ich glaube, das wird auch deutlich, liebe Kollegin-
nen und Kollegen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich bin froh darüber, dass uns heute ein Gesetzent-
wurf vorliegt, der die Rahmenbedingungen für den
Weinbau verbessert. Der Gesetzentwurf lässt den Bun-
desländern die Freiheit, unterschiedliche Ansätze bei der
Profilierung kleinerer geografischer Einheiten und Steil-
oder Terrassenlagen zu wählen. Kleinere Weinlagen





Markus Tressel


(A) (C)



(D)(B)


können somit aufgewertet werden. Das ist ein Vorteil für
die Verbraucher; denn mit dem Grundsatz „Je genauer
die Herkunftsangabe, desto höher die Qualitätsanforde-
rungen“ bekommen sie eine bessere Orientierung.

Eine geregelte Aufwertung der Lagenweine trägt
auch dazu bei, das hohe Niveau der Weine, seine Vielfalt
und Einzigartigkeit zu erhalten. Wir wissen, es gibt über
2 500 Einzellagen in Deutschland. Hier können höhere
Preise erzielt und der Absatz der Winzer gesichert wer-
den.

Erfreulich ist in diesem Zusammenhang auch, liebe
Kolleginnen und Kollegen, dass in der EU seit Anfang
August dieses Jahres anstelle der Bezeichnung „Wein
aus Trauben aus ökologischem Anbau“ endlich die
Bezeichnung „Ökologischer Wein“ verwendet werden
kann. Verbraucherinnen und Verbraucher legen zuneh-
mend Wert auf ökologische Qualität und auf eine gerin-
gere Belastung der Umwelt mit Pflanzenschutzmitteln.
Deshalb ist auch das ein richtiger Schritt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Trotz der positiven Entwicklungen bei der Weinge-
setzgebung, gibt es eine Entwicklung – die Kollegen ha-
ben es angesprochen –, die die qualitätsorientierte Zu-
kunft des Weinbaus gefährdet. Das ist das für 2015
geplante Auslaufen der Rebpflanzrechte. Wenn das Ver-
bot, wie von der EU vorgesehen, ausläuft, droht eine Ab-
wanderung des Weinbaus in Ackerbauregionen. Damit
wäre einer industriellen Produktion von Billigweinen
Tür und Tor geöffnet, und es wäre für viele Winzer kaum
noch möglich, Weinbau in solch einzigartigen Kultur-
landschaften zu betreiben und diese so zu erhalten. Das
wäre katastrophal für unsere Weinbauregionen. Deshalb,
liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir das verhin-
dern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Auch da sehen Sie uns an Ihrer Seite. Ich freue mich,
dass wir da, glaube ich, partei- und auch fraktionsüber-
greifend Konsens haben.

Wir haben starke Unterstützer. Auf EU-Ebene unter-
stützen 16 EU-Mitgliedstaaten dieses Anliegen, und
auch eine von der EU-Kommission eingesetzte hochran-
gige Expertengruppe versucht, einen Kompromiss jen-
seits der völligen Liberalisierung zu finden. Ich glaube,
hier sollte die Bundesregierung in Zukunft deshalb noch
mehr Engagement zeigen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, uns liegt heute ein
Gesetzentwurf vor, den wir unterstützen können. Die
Kollegen haben das ebenfalls gesagt. Er leistet einen
Beitrag dazu, dass die Qualität des Weinbaus in Deutsch-
land erhalten bleibt, regionale Wertschöpfung gestärkt
und Arbeitsplätze gesichert werden. Deshalb stimmt
meine Fraktion dem Gesetzentwurf zu.

Ich hoffe, dass wir weiterhin gemeinsam und im Kon-
sens Initiativen für den deutschen Weinbau entwickeln
können. Ich glaube, nicht nur aus dem Parlamentari-

schen Weinforum heraus sind wir insoweit auf einem gu-
ten Weg.

Ich wünsche den Kolleginnen und Kollegen, den
Winzerinnen und Winzern in unserem Land auch weiter-
hin gutes Gelingen bei ihrer Arbeit.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719830500

Für die Unionsfraktion hat der Kollege Norbert

Schindler das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Norbert Schindler (CDU):
Rede ID: ID1719830600

Guten Abend, meine Damen und Herren! Ich möchte

nicht nur die Gäste auf den Tribünen, sondern vor allem
auch meine Freunde aus Neustadt an der Deutschen
Weinstraße herzlich begrüßen.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


– Ja, besser kann es nicht sein. – Sie warten schon die
ganze Zeit auf dieses Thema und natürlich auch auf mei-
nen Auftritt.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sag bloß, die sind extra wegen dir nach Berlin gekommen! Toll! – Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Entschuldigung, wir sind immer noch das deutsche Parlament!)


Natürlich könnte ich jetzt eine abendfüllende Rede
halten. Aber, lieber Herr Süßmair, Ihnen rufe ich nur zu:
Vielleicht haben Sie Ahnung von Bier, von Wein jeden-
falls haben Sie keine.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Lassen Sie sich doch einmal im Rahmen einer geschei-
ten Weinprobe von der Rebsortenergründung und den
Feinheiten und filigranen Wünschen der Winzerschaft
überzeugen. Wir laden Sie dazu gerne ein.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ei, ei, ei! Etwa in deinem Büro?)


Im Übrigen wäre es ja das erste Mal, dass die linke Frak-
tion einem Gesetzentwurf der Bundesregierung zustim-
men würde. Ihr habt ja immer und an allem etwas zu me-
ckern. Leider Gottes ist es so.


(Beifall des Abg. Dr. Erik Schweickert [FDP] – Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Ihr müsst nur etwas Gescheites vorlegen!)


Zur Sache. Es gibt zwei neue elementare Begriffe, mit
denen es die Länder im Rahmen der Ermächtigung zu
tun haben. Das hat es im deutschen Weinrecht bis jetzt
nicht gegeben, weder im Weinrecht von 1970 noch in
dem von 1971, noch in dem von 1986, noch in dem von
1997. Es geht um kleinere geografische Einheiten oder,
wie die deutschen Weinleute sagen, um die Qualitätspy-





Norbert Schindler


(A) (C)



(D)(B)


ramide: je kleiner die geernteten und vermarkteten Men-
gen, je höher die qualitativen und mengenmäßigen An-
strengungen.

Sowohl bei den zugelassenen Rebsorten – ihre Zahl
soll allerdings sehr eng begrenzt werden – als auch beim
zulässigen Gesamternteertrag als auch beim natürlichen
Mindestalkoholgehalt – bis hin zum Restzuckergehalt –
versetzen wir die Länder in die Lage – Baden-Württem-
berg, Bayern, Sachsen-Anhalt, natürlich auch Rhein-
land-Pfalz –, für Betriebe, die in der Vegetationszeit
durch Ausdünnung nur 6 000, 7 000 oder 8 000 Liter pro
Hektar produzieren – die Ausdünnung ist in der Wein-
wirtschaft heutzutage ja schon selbstverständlich – und
deren Weine aus kleineren geografischen Einheiten
stammen, besondere Bedingungen festzulegen.

In Baden-Württemberg denkt man im Hinblick auf
die Bereichslagen und in Rheinland-Pfalz im Hinblick
auf die Einzellagen darüber nach, einen Katasternamen
hinzuzufügen. Die kleinste geografische Einheit geht üb-
rigens auf das Weinrecht von vor 100, 120 Jahren zu-
rück. Damals war es selbstverständlich, eine Weinfla-
sche mit der Katasterlage als engster geografischer
Herkunft des Weins auszuzeichnen; mit den Weingeset-
zen, die in der nachfolgenden Zeit auf den Weg gebracht
wurden, wurde dieses Vorgehen etwas egalisiert. Mit der
Ermächtigung werden die Länder also in die Lage ver-
setzt, gemeinsam mit der Weinwirtschaft für Baden, für
Württemberg, für die Mosel und für die Pfalz individuell
besondere Qualitätskriterien festzulegen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Hier sind natürlich auch die Länder in der Verantwor-
tung. Ich richte sowohl an Rheinland-Pfalz als auch an
Baden-Württemberg den Appell, die Kriterien – ob im
Hinblick auf die Ursprungsbezeichnungen, die uns die
Europäische Union vorgegeben hat, oder im Hinblick
auf die neuen Lagenbezeichnungen engerer Herkunft –
landeseinheitlich zu formulieren, damit es beim Verbrau-
cher nicht erneut zu Verwirrung kommt.

Zu dem Begriff „Steillagen“, den wir bundeseinheit-
lich festlegen. Ja, es ist richtig, dass wir bundesweit eine
Hangneigung von 30 Prozent festlegen, damit der Ver-
braucher weiß: Die Steillage am Würzburger Juliusspital
ist genauso differenziert wie der Bernkasteler Doctor.
Damit hat man im Interesse der Verbraucher eine klare
Trennung vorgenommen. Warum 30 Prozent? Weil es
vonseiten der Europäischen Union bei Überschreiten
dieser 30 Prozent eine zusätzliche Fördermöglichkeit
gibt. In Zukunft werden hoffentlich alle Steillagen- und
Terrassenwinzer eine besondere Zuwendung aus der
zweiten Säule der Gemeinsamen Agrarpolitik der Euro-
päischen Union bekommen. Deswegen, Herr Kollege:
Setzen Sie sich mit diesem Thema auseinander, fordern
Sie aber keine Sonderrechte, die man vielleicht gerne als
i-Tüpfelchen hätte! Das führt bei den Verbrauchern nur
zu Verwirrung.

Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die Besetzung des
Aufsichtsrates. Ja, diese Debatte wurde vom Genossen-
schaftsverband zu Recht angestoßen. Über 30 Prozent

aller Weine, die in Deutschland abgefüllt werden, kom-
men nämlich aus dem genossenschaftlichen Bereich.

In den neun Aufsichtsräten war die genossenschaftli-
che Schiene schwächer vertreten, und wir waren uns ei-
gentlich über die Parteien hinweg einig: Diesem berech-
tigten Wunsch sollte man entgegenkommen.


(Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Ist ja in Ordnung! Dagegen haben wir nichts!)


– Warum kritisieren Sie es denn dann? Dann lassen Sie
es doch sein!


(Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Wir kritisieren das doch gar nicht! Sagen Sie einmal etwas zum Verbraucherschutz!)


– Stellen Sie eine Frage, dann kommen Sie dran.


(Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Sie haben nicht zugehört!)


Wir haben in Bezug auf den Begriff „Schaumwein“
eine Korrektur vorgenommen. Weil die Bezeichnung
„Tafelwein“ weggefallen ist, haben wir neu geregelt,
dass man an die Bezeichnung „Schaumwein“ den Be-
griff „Landwein“ anfügen kann.


(Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Nicht zuhören, aber weiterreden!)


– Geben Sie dem einmal einen gescheiten Schluck Wein
zu trinken, dann ist er vielleicht ein bisschen ruhiger. Er
hat immer was zu meckern. –


(Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Sie müssen nur besser zuhören, Herr Kollege!)


Damit ist auch wieder Rechtssicherheit geschaffen, was
gerade im Bereich der Schaumweine notwendig war.
Dies musste neu geordnet werden, damit bei den Quali-
tätssekten eine nähere geografische Herkunftsbezeich-
nung gegeben ist.

Meine letzte Anmerkung zu etwas, das auch Kollege
Gerig angesprochen hat. Es geht um die Elementarscha-
densversicherung. Für Frost- und Hagelschäden gibt es
sie. Es gilt hier auch ein besonderer Satz. Wir führen im
Finanzausschuss derzeit eine Debatte darüber. Helfen
Sie mir, meine Freunde, dass wir die Finanzleute in die-
ser Frage noch überzeugen. Das ist kein leichter Weg,
den wir hier gehen, aber es wäre eine gute Sache.

Entgegen den Rechnungen der Finanzbeamten wären
die Einnahmen, die der Staat aus der Versicherungsteuer
erzielen würde, höher, weil mit dem Angebot an alle,
eine Elementarversicherung abzuschließen, ein Anreiz
dafür gegeben wird, und zwar nicht nur für diejenigen,
die sich gegen Hagelschäden versichern wollen, sondern
auch für diejenigen, die sich gegen die Folgen von
Hochwasser und Frost versichern wollen, damit sie nicht
in elementare Not kommen und jedes Mal nach einem
Jahrhundertereignis nach der Hilfe der Staates rufen
müssen. Das könnte man wirklich sehr elegant lösen.

Ich sehe, ich habe meine Redezeit um eine Minute
überschritten. Danke, Frau Präsidentin, für die Großzü-
gigkeit.





Norbert Schindler


(A) (C)



(D)(B)


Wohl bekomm’s! Es ist ein guter Gesetzentwurf. Wie
gesagt: Sie, Herr Süßmair, lade ich einmal zu einer ge-
scheiten Weinprobe ein.


(Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Und ich Sie auf ein Bier!)


– Bringen Sie kein Bier mit, das haben wir selbst. – In
diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen schönen guten
Abend.

Irgendwann müssen wir zwar wieder eine Änderung
vornehmen, aber wir haben jetzt eine kundenorientierte
Zielrichtung gewählt.


(Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Vorhang! Ab nach links!)


Klarheit und Wahrheit! Die Winzer, die bestrebt sind,
Qualität anzubieten, werden mit dieser gesetzlichen Vor-
gabe belohnt.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719830700

Bevor es zum interfraktionellen Zusammentreffen bei

einem guten Wein oder auch Bier kommen kann, haben
wir noch ein wenig Arbeit vor uns.

Ich schließe die Aussprache.

Tagesordnungspunkt 12 a. Wir kommen zur Abstim-
mung über den von der Bundesregierung eingebrachten
Gesetzentwurf zur Änderung des Weingesetzes.

Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/11019, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf den Drucksachen 17/10042 und
17/10124 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschuss-
fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzent-
wurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und
Zustimmung der übrigen Fraktionen des Hauses ange-
nommen.

Tagesordnungspunkt 12 b. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Ver-
braucherschutz zu dem Antrag der Fraktion Die Linke
mit dem Titel „Rettung einheimischer Rebsorten durch
Erhaltungsanbau“.

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/8612, den Antrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 17/7845 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt

dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-
lung ist bei Zustimmung der Koalitionsfraktionen und
der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ange-
nommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Lukrezia
Jochimsen, Dr. Petra Sitte, Jan Korte, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Rechtliche und finanzielle Voraussetzungen
für die Zahlung einer Ausstellungsvergütung
für bildende Künstlerinnen und Künstler
schaffen

– Drucksache 17/8379 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)
Rechtsausschuss
Finanzausschuss

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1) –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8379 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Grundgesetzes (Artikel 91 b)


– Drucksache 17/10956 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)
Innenausschuss
Rechtsausschuss

Auch hier nehmen wir die Reden zu Protokoll.2)

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/10956 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Josef Philip
Winkler, Viola von Cramon-Taubadel, Volker
Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Für wirksamen Rechtsschutz im Asylverfah-
ren – Konsequenzen aus den Entscheidungen
des Gerichtshofs der Europäischen Union und
des Europäischen Gerichtshofs für Menschen-
rechte ziehen

1) Anlage 3
2) Anlage 2





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)


– Drucksachen 17/8460, 17/9008 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Rüdiger Veit
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
Ulla Jelpke
Josef Philip Winkler

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
Protokoll zu nehmen.1) – Sie sind damit einverstanden.

Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/9008, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/8460 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den
Änderungen vom 10. und 11. Juni 2010 des
Römischen Statuts des Internationalen Straf-
gerichtshofs vom 17. Juli 1998

– Drucksache 17/10975 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss

Auch hier nehmen wir die Reden zu Protokoll.2)

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/10975 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind
damit einverstanden. Dann ist so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Anpassung des Bauproduktengesetzes und
weiterer Rechtsvorschriften an die Verord-
nung (EU) Nr. 305/2011 zur Festlegung har-
monisierter Bedingungen für die Vermark-
tung von Bauprodukten

– Drucksache 17/10310 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

(15. Ausschuss)


– Drucksache 17/10874 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Daniela Wagner

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir
die Reden zu Protokoll.


Matthias Lietz (CDU):
Rede ID: ID1719830800

Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung

soll im Wesentlichen dazu dienen, das Bauprodukten-
gesetz und damit einhergehende Rechtsvorschriften an
die Bauproduktenverordnung der Europäischen Union
anzupassen. Diese Verordnung wird am 1. Juli 2013
die bisher geltende Rechtsvorschrift der Bauprodukten-
richtlinie 89/106/EWG aus dem Jahre 1988 ablösen. Die
neue Verordnung (EU) Nr. 305/2011 des Europäischen
Rates und des Europäischen Parlaments vom 9. März
2011 gibt harmonisierte Bedingungen für die Vermark-
tung von Bauprodukten vor. Inhaltlich handelt die Ver-
ordnung vor allem Maßnahmen zur Beseitigung von
Handelshemmnissen im Binnenmarkt ab.

Wie so oft nehmen wir mit dem Gesetzentwurf unsere
Aufgabe als Mitgliedstaat innerhalb der EU wahr und
passen unsere Gegebenheiten an die harmonisierten
Vorgaben der Europäischen Union an. Zwar müsste bei
der nun durch die EU gewählten Rechtsform einer Ver-
ordnung grundsätzlich keine Umsetzung in nationales
Recht erfolgen, da sie ohnehin direkt in jedem Mitglied-
staat gilt. Dennoch müssen wir einige nationale Anpas-
sungen der momentan geltenden Regelungen vorneh-
men. Damit der bald geltenden Verordnung nichts im
Wege steht, sieht der Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung vor, alte Vorschriften, die derzeit zur Umsetzung
der Bauproduktenrichtline gelten, aufzuheben. Auch
Folgeänderungen im übrigen Bundesrecht müssen zu-
sätzlich vorgenommen werden.

Grundsätzlich wird in der EU-Bauproduktenverord-
nung ein neuer Rechtsrahmen für die Vermarktung der
CE-Kennzeichnung von Bauprodukten geregelt. Das An-
passungsgesetz der Bundesregierung regelt zudem die
folgenden organisatorischen Punkte: Einsetzung des
Deutschen Instituts für Bautechnik, DIBt, als eine „tech-
nische Bewertungsstelle“ für Bauprodukte, die Einset-
zung des DIBt als Behörde für sogenannte unabhängige
Drittstellen, Ausführungsregelungen zur Marktüberwa-
chung sowie Bußgeld- und Straftatbeständen, Verpflich-
tung zur Akkreditierung von unabhängigen Drittstellen
bei der Deutschen Akkreditierungsstelle, DAkkS.

Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist notwen-
dig und richtig. Detailfragen zu fachlichen Themen sind
zuvor mit den Bundesländern und Verbänden einver-
nehmlich abgestimmt worden, und auch der Ausschuss
für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung des Deutschen
Bundestages hat sich in einer Beschlussempfehlung ein-
stimmig für die Annahme des Antrags in leicht geänder-
ter Fassung ausgesprochen. Nach Abänderung der an-
gesprochenen formalen Berichtigungen im Antrag bitte
ich, dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zuzustim-
men.


Michael Groß (SPD):
Rede ID: ID1719830900

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf sollen die Bedin-

gungen für die Vermarktung von Bauprodukten in der EU
harmonisiert werden, und es wird eine Anpassung an die
EU-Verordnung Nr. 305/2011 und damit die Aufhebung
der bisherigen Bauproduktenrichtlinie 89/106/EWG vor-
genommen. Vor dem Hintergrund, dass auf die europäi-
sche Bauwirtschaft 15 Prozent der industriellen Wert-

1) Anlage 5
2) Anlage 4





Matthias Lietz


(A) (C)



(D)(B)


schöpfung entfallen, jedoch ihr Anteil am europäischen
Handel nur 5 Prozent beträgt, hat die Europäische
Union das Recht der Bauprodukte europaweit angegli-
chen.

Der EU-weite Handel soll unter anderem durch fol-
gende Maßnahmen gestärkt und die Verwendung von
Bauprodukten vereinfacht werden: durch die Einführung
einer gemeinsamen Fachsprache für Bauprodukte auf
Grundlage der harmonisierten Normen, dem CE-
Kennzeichen kommt eine größere Bedeutung zu, Leis-
tungserklärungen sind den Produkten beizufügen. Die
Mitgliedstaaten richten sogenannte technische Bewer-
tungsstellen ein. Auch in der EU-Bauproduktenverord-
nung, die auf der früheren Bauproduktenrichtlinie be-
ruht und die jetzt mit diesem Gesetz umgesetzt wird, sind
die wesentlichen Leistungsmerkmale der Bauprodukte
nicht festgeschrieben, sondern werden aus den Grund-
anforderungen an Bauwerke abgeleitet. Für diese Merk-
male werden dann in harmonisierten Normen konkrete
Anforderungen formuliert. Diese bilden die Grundlage
für die Leistungserklärung des Herstellers und die Ver-
gabe der CE-Kennzeichnung. Mit der Leistungserklä-
rung übernimmt der Hersteller die Verantwortung für
sein Bauprodukt und dessen Leistung und kann in Män-
gelhaftung genommen werden. Straftat- und Bußgeld-
vorschriften ergeben sich ebenfalls aus dem vorliegen-
den Gesetz.

Das Deutsche Institut für Bautechnik, DIBt, wird die
Aufgabe der technischen Bewertungsstelle wahrneh-
men. Nach der EU-Bauproduktenverordnung können die
Mitgliedstaaten für die jeweiligen Produktbereiche ei-
nen oder mehrere technische Bewertungsstellen benen-
nen. Hier sollte zukünftig geprüft werden, ob aufgrund
der wirtschaftlichen Bedeutung, aber auch hinsichtlich
relevanter Bauprodukte wie Dämmstoffe zum Erreichen
der Klimaziele und der Energiewende zusätzliche Kapa-
zitäten benötigt werden und weitere Bewertungsstellen
hinzugezogen werden sollten.

Mit der Ablösung der EU-Bauproduktenrichtlinie
89/106/EWG durch die neue EU-Bauproduktenverord-
nung stand die Anpassung zahlreicher nationaler Vor-
schriften an den veränderten Rechtsrahmen bevor. Die
Umsetzung der alten EU-Bauproduktenrichtlinie ist seit
längerem Gegenstand mehrerer durch die Europäische
Kommission gegen die Bundesrepublik geführter Vertrags-
verletzungsverfahren, Nrn. 2004/5116 und 2005/4743. Ge-
genstand dieser Verfahren sind insbesondere die in der
Bauregelliste B vorgesehenen Zusatzanforderungen an
Produkte, die von harmonisierten europäischen Normen
erfasst sind und die CE-Kennzeichnung tragen. Die
Kommission rügt, dass die bestehenden Zusatzanforde-
rungen gegen die europäischen Vorgaben verstoßen.
Hier sollte im Sinne der europäischen Angleichung um
eine gemeinsame Lösung gerungen werden.

Eine Harmonisierung, mehr Transparenz und die Ge-
währleistung einer europarechtskonformen Umsetzung
des Bauproduktenrechts sind generell zu begrüßen.


Petra Müller (FDP):
Rede ID: ID1719831000

Die CE-Kennzeichnung ist seit ihrer Einführung in-

nerhalb der Europäischen Union 1993 eine Erfolgs-
geschichte. Mit ihr dokumentieren Hersteller, dass

Produkte den produktspezifisch geltenden europäischen
Richtlinien entsprechen und damit Sicherheits- und
Gesundheitsanforderungen erfüllen, die in den 30 Ver-
tragstaaten des Europäischen Wirtschaftsraums gelten.
Faktisch hat sich die CE-Bezeichnung im Baugewerbe
als Qualitätssiegel etabliert und ist ein für Produzenten,
Händler und Verbraucher gleichermaßen leicht an-
wendbares und gut erkennbares Instrument der Sicher-
heit und Verlässlichkeit. Die FDP unterstützt daher alle
im Zuge eines weiteren Harmonisierungsprozesses der
Länder der Europäischen Union notwendigen und dem
Charakter des bisherigen Konformitätsverfahrens ent-
sprechenden Schritte.

Über die Richtigkeit und den Bedarf dieser Harmo-
nisierung besteht im Hohen Hause kein Streit. Lassen
Sie mich zur Anpassung des Bauproduktengesetzes
trotzdem hier sagen: Es bleibt, erstens, wie bisher bei ei-
ner Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten für die
sich aus einem Bauwerk ergebenden Anforderungen an
Bauprodukte. Die EU – wie wir – regelt mit dieser Vor-
lage nur die Verfahren des Nachweises, dass ein Produkt
bestimmte Anforderungen auch erfüllt. Diese Verfahren
werden vereinheitlicht mittels harmonisierter techni-
scher Normen und durch einzelproduktbezogene techni-
sche Bewertungen, die ein Hersteller bei den von den
Mitgliedstaaten einzurichtenden Bewertungsstellen be-
antragen muss. Dann erst ist er befugt und verpflichtet,
die CE-Kennzeichnung anzubringen, und muss genau
angeben, welches Anforderungsniveau das jeweilige
Produkt in Bezug auf bestimmte Merkmale erreicht.

Das war bisher so, und das wird auch so bleiben. Neu
jedoch ist, dass die Kommission zukünftig europaweit
gültige und europaweit einheitliche Schwellenwerte fest-
setzen kann für einzelne Inhaltsstoffe oder Leistungs-
werte. Das ist ein großer und wichtiger Schritt hin zu
einer nachhaltigen und zukunftsorientierten Gesetz-
gebung im Bauproduktenrecht und wird von der FDP
ausdrücklich unterstützt.

Im Verfahren selbst sind, zweitens, Verfahrenserleich-
terungen vorgesehen. Insbesondere wird die technische
Bewertung zukünftig an Fristen gebunden und wird
damit rascher erfolgen können. Das ist insbesondere für
Marktteilnehmer ein nicht zu unterschätzender Wert,
denn in vielen Fällen dauern Prüfvorgänge zu lange und
verhindern den Marktzugang. Es war daher der FDP
wichtig, dass Hersteller sich auch weiterhin die Prüf-
stelle frei wählen können.

Drittens. Das Deutsche Institut für Bautechnik, DIBt,
soll weiterhin als in Deutschland zuständige Stelle für
die Erteilung europäischer technischer Zulassungen für
Bauprodukte fungieren. So werden wir sicherstellen,
dass trotz der Zweigleisigkeit im Zulassungswesen eine
organisatorische Einheitlichkeit für Hersteller und
Handel gewährleistet bleibt.

Eine vierte und damit letzte Bemerkung: Nicht nur ist
im Interesse der Marktüberwachung und im Interesse
des deutschen Baugewerbes vorgesehen, die deutsche
Sprache für die notwendigen Dokumente zu verwenden;
es soll auch die Bundesregierung, also das fachlich
zuständige BMVBS, dieselben Informationen erhalten,

Zu Protokoll gegebene Reden





Petra Müller (Aachen)



(A) (C)



(D)(B)


die die Europäische Kommission im Rahmen der Markt-
überwachung erhalten muss. So bleibt Deutschland
informativ uneingeschränkt handlungsfähig.

Die ursprüngliche Motivation, mit der CE-Kenn-
zeichnung als Produktreisepass Handelshemmnisse für
den europäischen Binnenmarkt zu beseitigen, ist ein
urliberaler Gedanke. Die FDP-Bundestagsfraktion wird
daher für diesen Gesetzentwurf stimmen.


Heidrun Bluhm (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719831100

Zu dem hier vorliegenden Antrag der Bundesregie-

rung kann ich die Zustimmung der Fraktion Die Linke
signalisieren. Wir verbinden damit allerdings die Er-
wartung, dass die mit dem Gesetz verfolgten Absichten
und Ziele in einer angemessenen Frist überprüft werden
und die Bundesregierung dem Bundestag spätestens ein
Jahr nach Inkrafttreten darüber berichtet.

Uns ist wichtig, dass mit dem Gesetz nicht nur rechts-
formale Vereinheitlichungen ohne jeden praktischen
Nutzen stattfinden, sondern dass die Anwendung des Ge-
setzes auch einen konkreten Beitrag zur ökologischen
und ökonomischen Effektivitätssteigerung der Bauwirt-
schaft leistet. Die Bauwirtschaft ist einer der Hauptak-
teure bei der Durchsetzung von Klimaschutzzielen und
der Energiewende. Deshalb muss sichergestellt sein,
dass erstens die Einführung des Gesetzes auch zur aus-
schließlichen Verwendung von CE-zertifizierten Bau-
produkten beiträgt und ein Ausweichen auf billigere,
aber nicht gekennzeichnete Bauprodukte ausgeschlos-
sen wird, zweitens die Verwendung ausschließlich zer-
tifizierter Bauprodukte europaweit zur Einhaltung ein-
heitlicher Schwellenwerte bezogen auf Inhaltsstoffe und
Leistungswerte der Bauprodukte führt und drittens die
Verwendung zertifizierter Bauprodukte nicht zur Be-
gründung höherer Baupreise missbraucht werden darf.

Wir fordern die Bundesregierung daher dazu auf, vor
Inkrafttreten der vorgelegten Regelungen am 1. Juli 2013
in Bezug auf die aufgeworfenen Fragestellungen Stel-
lungnahmen sowohl vom Deutschen Institut für Bau-
technik als auch von den Baufachverbänden einzuholen
und diese dem Deutschen Bundestag zur Kenntnis zu ge-
ben.


Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719831200

Das vorliegende Gesetz dient der Anpassung des

Bundesrechts an die neue Verordnung (EU) Nr. 305/2011
des Europäischen Parlaments und des Rates vom
9. März 2011 zur Festlegung harmonisierter Bedingun-
gen für die Vermarktung von Bauprodukten und zur Auf-
hebung der Richtlinie 89/106/EWG des Rates – EU-
Bauproduktenverordnung.

Die EU-Bauproduktenverordnung sieht einen neuen
Rechtsrahmen für die Vermarktung und CE-Kennzeich-
nung von Bauprodukten vor und löst zum 1. Juli 2013 die
bisher geltende Bauproduktenrichtlinie 89/106/EWG ab.

Der Gesetzentwurf ist sehr technisch, aber von hoher
politischen Relevanz für Bündnis 90/Die Grünen. Es
werden Anforderungen an die Vermarktung von Baupro-
dukten harmonisiert, und diese Anforderungen haben

insbesondere Auswirkungen auf die Art und Weise, wie
ökologisch vertretbare Baunormen gefördert werden
können. Die Verordnung legt wesentliche Merkmale für
verschiedene „Familien“ von Bauprodukten fest. Einige
dieser Kategorien von Produkten unterliegen harmoni-
sierten Normen, andere wiederum unterliegen den Euro-
pean Technical Assessments. Es ist daher unerlässlich,
die Bewertungsverfahren zu definieren.

Die Fraktion der Grünen im Europaparlament hatte
bereits festgestellt, dass im Ergebnis die Verhandlungen
zur Verordnung zur Festlegung harmonisierter Bedin-
gungen für die Vermarktung von Bauprodukten mit dem
Rat nicht ideal verlaufen sind. Es gab erheblichen Druck
von einigen Sektoren der Industrie, die von einigen Mit-
gliedstaaten unterstützt wurden, um klare Verpflichtun-
gen zu vermeiden. Aber der letztlich vereinbarte Text
enthält Elemente, die aus unserer Sicht wichtig sind.

Den Grünen ist es wichtig, dass die Verfahren trans-
parent sein sollten. Insbesondere die Normungsgremien
sollten nicht von den Vertretern der Großindustrie mo-
nopolisiert werden.

In dem vorliegenden Gesetz wird die renommierte Zu-
lassungsstelle im Bauwesen, das Deutsche Institut für
Bautechnik, als unabhängiges Normungsgremium be-
nannt, das 1993 aus dem Institut für Bautechnik hervor-
gegangen ist.

Unser Anliegen ist es, dass auch Positionen kleiner
und mittlerer Unternehmen oder anderer Beteiligter be-
rücksichtigt oder übernommen werden sollten.

Der Aufbau der Vorschriften und auch das Verfahren
sollten in der Lage sein, innovative und ökologische An-
sätze zu fördern.

Weiter ist zu vermeiden, dass spezielle Verfahren für
„Kleinstunternehmen“ von der Industrie als ein Mittel
genutzt werden könnten, um die Anforderungen und Ver-
fahren generell zu umgehen.

Lassen sie mich die Gelegenheit nutzen, etwas zu
Bauprodukten im Allgemeinen zu sagen. Deutschland
hat sich international verpflichtet, seinen Beitrag zu
leisten, um den Anstieg der globalen Temperatur um
mehr als 2 Grad Celsius zu verhindern. Dies bedeutet,
dass der Ausstoß von Klimagasen hierzulande um min-
destens 40 Prozent bis 2020 und um 95 Prozent bis 2050
gesenkt werden muss. Der Gebäudebereich spielt also
für das Erreichen der Klima- und Energieeinsparziele
eine zentrale Rolle; denn in den Bestandsgebäuden wer-
den 40 Prozent der Endenergie für Wärme und Kühlung
verbraucht und fast 20 Prozent der gesamten CO2-Emis-
sionen in Deutschland verursacht.

Mit den Klimazielen gehen Fragen der Versorgungs-
sicherheit einher. Das Gros der fossilen Energieroh-
stoffe wird aus außereuropäischen Ländern importiert,
und es wird immer teurer. Deutschland lag in 2008 mit
einem Erdölverbrauch von 118,1 Millionen Tonnen an
sechsten Stelle der zehn Länder mit dem weltweit größ-
ten Erdölverbrauch. Die deutsche Wirtschaft zahlte im
Jahr 2010 allein für ihre Ölimporte 41,6 Milliarden
Euro.

Zu Protokoll gegebene Reden





Daniela Wagner


(A) (C)



(D)(B)


Um die Klimaschutzziele zu erreichen, den Energie-
verbrauch sowie die CO2-Emissionen zu senken und die
Abhängigkeit von Erdölimporten zu reduzieren, ist also
die Steigerung der Ressourcen-, Energieeffizienz und
Nachhaltigkeit im Gebäudebestand ein wichtiger Bau-
stein.

In Bezug auf die Modernisierung der Wärmeversor-
gung von Gebäuden sind immerhin erste Schritte einge-
leitet. Alternative Baustoffe haben aber trotz des großen
Substitutionspotenzials nur wenig Eingang in die Ak-
tionsprogramme zur Gebäudesanierung gefunden, und
selbst im Neubau sind sie nur die Ausnahme.

Ein Großteil der in Deutschland benötigten energeti-
schen und nichtmetallischen mineralischen Rohstoffe
wird im Land gewonnen. Mengenmäßig sind Bausande
und -kiese mit etwa 239 Millionen Tonnen die wichtigs-
ten mineralischen Rohstoffe, auf die knapp ein Drittel
der heimischen Rohstoffproduktion entfällt. Ökologische
Herausforderungen ergeben sich aufgrund der negati-
ven Umweltwirkungen, durch Abbau und Verbrauch,
und ihrer Endlichkeit. Die Entnahme von Rohstoffen be-
einflusst die Umwelt negativ: unter anderem durch Ver-
änderungen der Landschaft, Abholzung der Vegetation
für Tagebaue, Absenken der Grundwasserspiegel, die
Belastung des Grundwassers mit Metallen oder durch
Versauerung sowie durch das Risiko von Bergschäden.

Die von Rot-Grün eingeführten Marktanreizpro-
gramme für ökologische Baustoffe wurden von den
nachfolgenden Bundesregierungen leider nicht weiter-
geführt. Die Absatzzahlen von Dämmstoffen auf Basis
von nachwachsenden Rohstoffen konnten durch die
Marktanreizprogramme kurzfristig gesteigert werden.
Die Laufzeit der Programme war zu kurz, um wesentli-
che dauerhafte Preissenkungen der Produkte zu errei-
chen. Diese konnten gegenüber den Produkten aus der
steuerbefreiten stofflichen Nutzung von Erdöl keine ge-
steigerte Konkurrenzfähigkeit entwickeln, obwohl die im
Neubau und der energetischen Gebäudesanierung übli-
cherweise verwendeten Baustoffe hinsichtlich Energie-
verbrauch, CO2-Emissionen, Haltbarkeit, Schadstoff-
freiheit und Recyclingfähigkeit vielfach mangelhaft sind.

Obwohl die konventionellen organisch-synthetischen
Dämmstoffe über die Steuerbefreiung für die stoffliche
Nutzung von Erdöl bereits einen Marktvorteil haben,
sind ökologisch nachhaltige Baustoffe in der Fördersys-
tematik der KfW mit Dämmstoffen auf petrochemischer
Basis gleichgestellt.

Unter anderem wegen dieses Marktvorteils und den
daraus resultierenden niedrigen Preisen der petroche-
mischen Materialien werden Dämmstoffe aus ökolo-
gisch nachhaltigen Materialien weniger verbaut.

Schaut man auf die Zahlen der CO2-Gebäudesanie-
rungsprogramme der KfW, so sieht man: Es wurden seit
2006 der Neubau und die energetische Sanierung von
2,4 Millionen Wohnungen finanziert. Über diese Förder-
mittel wurden Investitionen mit einem Volumen von
74 Milliarden Euro angestoßen, circa 4,6 Millionen Ton-
nen CO2 eingespart und 320 000 Arbeitsplätze geschaf-
fen oder gesichert. Für die Verwendung ökologischer

Baustoffe gäbe es bei Betrachtung dieser Zahlen somit
ein erhebliches Potenzial.

Die Bundesregierung sollte daher erwägen, die Sub-
ventionierung petrochemischer Kunststoffe und CO2-in-
tensiver Baustoffe abzubauen und die Steuerbefreiung
für die stoffliche Nutzung von Erdöl abschaffen. Die
Steuerbefreiung für die stoffliche Nutzung von Erdöl
stellt eine Marktverzerrung zugunsten umwelt- und kli-
maschädlicher sowie energieaufwendiger Produkte dar.
Die steuerliche Gleichstellung würde einen deutlichen
ökonomischen Anreiz zur Nutzung nachwachsender
Rohstoffe setzen.

Die Energie- und Stromsteuersubventionen sollten für
die energieintensive Herstellung von Baustoffen wie Ze-
ment und Keramik nur gewährt werden, wenn die Pro-
duktion sonst nachweislich von der Verlegung ins weni-
ger stark regulierte Ausland bedroht wäre und keine
gleichwertigen Alternativbaustoffe mit besserer Um-
weltbilanz bereitstehen.

Auch ist es überlegenswert, das Bergrecht grundle-
gend zu reformieren. In Deutschland kann nach dem gel-
tenden Bergrecht eine Förderabgabe von 10 Prozent
oder mehr des Rohstoffwertes auf sogenannte bergfreie
Bodenschätze von den Ländern erhoben werden. Aller-
dings ist die derzeitige Aufteilung in bergfreie und
grundeigene Bodenschätze und damit die Aufteilung, für
welche Bodenschätze Förderabgaben grundsätzlich zu
zahlen sind oder nicht, willkürlich. Darüber hinaus gibt
es zahlreiche Ausnahmeregelungen, sodass in der Regel
überhaupt keine Förderabgabe gezahlt wird.

Diese Regelung ist – wie auch weite Teile des übrigen
deutschen Bergrechts – nicht mehr zeitgemäß. Bis heute
stehen hier völlig einseitig die Interessen der Bergbau-
treibenden im Vordergrund, nicht die Schonung von Res-
sourcen. Wir wollen das Bergrecht umfassend reformie-
ren.

Die Zahlung einer Förderangabe muss der Regel-
und darf nicht der Ausnahmefall in Deutschland sein.
Wir wollen daher eine Förderabgabe in Höhe von min-
destens 10 Prozent konsequent auch auf nicht erneuer-
bare Baustoffe wie Kies und Sand erheben. Dies ist ge-
rechtfertigt, da beim Rohstoffabbau in der Regel in
erheblichem Umfang Gemeingüter in Anspruch genom-
men werden. Jedenfalls sind die bestehenden Förderab-
gaben nicht ausreichend, und die vielen Ausnahmen ma-
chen diese ineffizient. Die konsequente Erhebung einer
Förderabgabe schafft Anreize für Ressourceneffizienz,
gerade bei dem bisher nicht erfassten Abbau von Mas-
senrohstoffen der Bauindustrie wie Kies, Sand und Ge-
steinen. Die Verpflichtung zur Zahlung wollen wir auf
alle hierzulande geförderten Bodenschätze ausdehnen.
Sie sollte nur in begründeten Ausnahmefällen und zeit-
lich eng befristet erlassen werden und weiterhin den
Ländern zugutekommen.

Wir wollen Unternehmen, die nachweislich besonders
energieintensiv sind und in intensivem internationalen
Wettbewerb stehen, weiterhin Erleichterungen bei den
Energiesteuern oder bei den Umlagen für erneuerbare
Energien gewähren, um eine CO2-bedingte Verlagerung

Zu Protokoll gegebene Reden





Daniela Wagner


(A) (C)



(D)(B)


von Unternehmen zu vermeiden. Allerdings müssen diese
Subventionen zukünftig an den im Einzelfall nachgewie-
senen Härten bemessen und an konkrete Effizienzver-
pflichtungen geknüpft werden, damit nicht Verschwen-
dung und technologischer Stillstand subventioniert
werden.

Der Einsatz ökologischer Baustoffe sollte im Neubau
und bei energetische Sanierung stärker gefördert und
daher ein Modellprogramm für ökologische Baustoffe
initiiert werden.

Hinsichtlich der Standards für Baustoffe sollten diese
um den Energieverbrauchs ergänzt werden und den ge-
samten Lebenszyklus der Baustoffe, inklusive des Ener-
gieverbrauchs bei Herstellung, Betrieb und Entsorgung
berücksichtigen.

Die Energieausweise für Gebäude müssen dringend
um eine Nachhaltigkeitsbewertung mit Lebenszyklusbe-
trachtung der Gebäude erweitert werden.

Auch dürfen ökologische Baustoffe nicht länger in
den Bauordnungen des Bundes und der Länder diskrimi-
niert werden, wie etwa in den Brandschutzkategorien.

Sehr sinnvoll wäre es, die Programme der KfW für
Neubau und Sanierung stärker auf den Einsatz ökologi-
scher Baumaterialien auszurichten; denn viele der im
Neubau und der energetischen Gebäudesanierung her-
kömmlich verwendeten Baustoffe erfüllen nur mangel-
haft Anforderungen an das Nachhaltigkeitsprinzip hin-
sichtlich ihrer Haltbarkeit, Schadstofffreiheit und
Recyclingfähigkeit.

Die Grundlagenforschung in diesem Bereich der öko-
logischen Baustoffe und Bauweisen, beispielweise ein
Forschungsprogramm „Bauen mit Holz“, muss daher
dringend intensiviert werden.

Zum Instrumentarium einer nachhaltigen Ressour-
cenpolitik gehören auch Ressourcensteuerabgaben. Ne-
gative gesellschaftliche Umweltauswirkungen, die durch
den Abbau von Rohstoffen entstehen, können durch Steu-
ern und Abgaben internalisiert werden. Nötig ist des-
halb ein Forschungsprogramm, das konkrete Möglich-
keiten in den Einstieg der Rohstoffbesteuerung aufzeigt.
Die Diskriminierung ökologischer Baustoffe in Deutsch-
land muss endlich ein Ende haben.

E
Enak Ferlemann (CDU):
Rede ID: ID1719831300


Das Gesetz dient der Anpassung des Bundesrechts
an die Verordnung (EU) Nr. 305/2011 des Europäi-
schen Parlaments und des Rates vom 9. März 2011 zur
Festlegung harmonisierter Bedingungen für die Ver-
marktung von Bauprodukten und zur Aufhebung der
Richtlinie 89/106/EWG des Rates, ABl. L 88 vom
4. April 2011, S. 5 EU-Bauproduktenverordnung. Die
EU-Bauproduktenverordnung sieht einen neuen Rechts-
rahmen für die Vermarktung und CE-Kennzeichnung
von Bauprodukten vor und löst zum 1. Juli 2013 die bis-
her geltende Bauproduktenrichtlinie 89/106/EWG ab.
Zur Anpassung des Bundesrechts ist es erforderlich, Re-
gelungen zur Durchführung der EU-Bauproduktenver-

ordnung im Bauproduktengesetz zu treffen, die Vor-
schriften aufzuheben, die zurzeit der Umsetzung der
Bauproduktenrichtlinie dienen, sowie Folgeänderungen
im übrigen Bundesrecht vorzunehmen.

Das Gesetz zur Anpassung des Bauproduktengesetzes
und weiterer Rechtsvorschriften an die Verordnung (EU)

Nr. 305/2011 zur Festlegung harmonisierter Bedingun-
gen für die Vermarktung von Bauprodukten, BauPG-An-
passungsgesetz, regelt Folgendes: die Einsetzung des
Deutschen Instituts für Bautechnik, DIBt, als technische
Bewertungsstelle für Bauprodukte, analog den Zulas-
sungen nach Landesrecht; die Einsetzung des DIBt als
notifizierende Behörde für „unabhängige Drittstellen“
– diese erteilt etwa Prüflaboratorien die Befugnis, im
Rahmen der EU-Bauproduktenverordnung tätig zu wer-
den –; die Verpflichtung zur Akkreditierung für unab-
hängige Drittstellen bei der Deutschen Akkreditierungs-
stelle, DAkkS – diese bescheinigt die technische
Kompetenz der Drittstellen –; ergänzende Ausführungs-
regelungen zur Marktüberwachung sowie Bußgeld-/
Straftatbestände.

Der Gesetzentwurf ist zur Durchführung von EU-
Recht notwendig und ausreichend. Die Art. 1 und 2 des
Gesetzes enthalten die notwendigen Durchführungsre-
gelungen zur EU-Bauproduktenverordnung. Sie umfas-
sen im Wesentlichen Zuständigkeitsbestimmungen, er-
gänzende Verfahrensbestimmungen sowie Bußgeld- und
Straftatbestände.

Die weiteren Artikel enthalten Folgeänderungen des
Erlasses der EU-Bauproduktenverordnung im übrigen
Bundesrecht. Der gespaltenen Inkrafttretensregelung
des Art. 68 der EU-Bauproduktenverordnung folgend
tritt Art. 1 sofort in Kraft; die übrigen Artikel treten zum
1. Juli 2013 in Kraft.

Für Bund, Länder und Gemeinden ergeben sich keine
Haushaltsausgaben ohne Vollzugsaufwand. Das Gesetz
verursacht keinen Erfüllungsaufwand für Bürgerinnen
und Bürger. Das Gesetz verursacht keinen Erfüllungs-
aufwand für die Wirtschaft. Das Gesetz verursacht kei-
nen Erfüllungsaufwand für die Verwaltung.

Weitere Kosten entstehen nicht. Es sind keine Auswir-
kungen auf die Einzelpreise für Bauprodukte und andere
Waren und Dienstleistungen zu erwarten. Auswirkungen
auf das Preisniveau, insbesondere auf das Verbraucher-
preisniveau, sind auszuschließen.

Ich bitte Sie, dem Gesetzentwurf der Bundesregierung
zuzustimmen.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719831400

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für

Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10874, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
17/10310 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschuss-
fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzent-





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)


wurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenom-
men.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung.

Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim-
men wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig
angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele
Fograscher, Wolfgang Gunkel, Michael Hartmann

(Wackernheim), weiterer Abgeordneter und der

Fraktion der SPD

Evaluierung der Auswirkungen des neuen
Waffenrechts

– Drucksache 17/10114 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Rechtsausschuss

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.


Günter Lach (CDU):
Rede ID: ID1719831500

Der schreckliche Amoklauf vom 11. März 2009 in

Winnenden war Anlass dafür, eine Änderung des Waffen-
rechts vorzunehmen. Insbesondere die mangelhafte Si-
cherung bei der Aufbewahrung von Waffen und Muni-
tion hat dem Täter erst Zugang zu Waffen und Munition
ermöglicht. In seinen Beratungen hat sich der Deutsche
Bundestag besonders mit dieser Problematik auseinan-
dergesetzt. Dabei wurde deutlich, dass die Waffengesetz-
gebung an mehreren Stellen verändert werden muss, um
mehr Sicherheit zu erreichen. Ein Hauptaugenmerk lag
unter anderem darauf, dass gerade Jugendlichen der
Zugang zu Waffen und Munition erschwert wird.

Um die Wirksamkeit der Gesetzesänderungen zu
überprüfen, hat der Deutsche Bundestag in seiner
227. Sitzung am 18. Juni 2009 zudem eine Entschlie-
ßung angenommen, die die Bundesregierung auffordert,
die getroffenen Regelungen zu evaluieren. Diese Forde-
rung findet sich auch im Koalitionsvertrag der christ-
lich-liberalen Koalition. Dabei sollte ein besonderes
Augenmerk darauf gelegt werden, ob die Änderungen
für legale Waffenbesitzer eine zu hohe Belastung dar-
stellen. Um dies zu bewerten, ist eine aussagekräftige
Evaluierung wichtig.

Der vorliegende Antrag der SPD fordert die Bundes-
regierung nun auf, diesen Evaluierungsbericht, der bis
zum Ende 2011 vorliegen sollte, endlich vorzulegen. Des
Weiteren bittet die SPD die Ständige Konferenz der In-
nenminister und Senatoren der Länder, IMK, endlich um
Freigabe des Berichts der Expertengruppe Evaluierung
Waffenrecht. Bedauerlicherweise liegt uns dieser Be-
richt der Länder nicht vor. Die Länder haben mehrfach
einer Freigabe des Berichts widersprochen, zuletzt im
Rahmen einer Abfrage durch die Geschäftsstelle der
IMK im September 2012. Zwischenzeitlich hat die Bun-

desregierung dem Innenausschuss ihren Bericht zugelei-
tet. Grundsätzlich muss festgehalten werden, dass nach
Art. 83 Grundgesetz die Ausführung des Waffengesetzes
Angelegenheit der Länder ist. Der Bund war insofern
darauf angewiesen, Erfahrungswerte von den 577 Waf-
fenbehörden der Länder aufzugreifen und zu einem Be-
richt zusammenzufügen.

Vor dem Hintergrund, dass unsere derzeitige Struktur
sehr heterogen ist und auch die Zuständigkeitsbereiche
der Mitarbeiter unterschiedlich gestaltet sind, stützt sich
die Bundesregierung in ihrem Bericht auf die Ergebnisse
der Expertengruppe Waffenrecht der Länder. Die Län-
derexpertengruppe hat einen Fragenkatalog erarbeitet,
der von 15 Prozent der Waffenbehörden anonymisiert zu
beantworten war. Unter Einbeziehung der Erfahrungen
von Flächenländern ebenso wie Stadtstaaten sollte so
ein repräsentatives Bild gezeichnet werden. Insgesamt
wurden also 86 Behörden über ihre Erfahrungen mit den
waffenrechtlichen Änderungen von 2009 im Zeitraum
vom 1. Januar 2010 bis zum 31. Dezember 2010 befragt.
Aufgrund des Fragenkatalogs der Expertengruppe Waf-
fenrecht kommt die Bundesregierung zu der Bewertung,
dass die Waffenrechtänderungen von 2009 zur Verbesse-
rung der Sicherheit beitragen und sie damit das Ziel, Ju-
gendlichen und unberechtigten Personen den Zugang zu
Waffen und Munition zu erschweren, erreicht hat. Das
Datenmaterial, auf dem die Auswertung der waffen-
rechtlichen Änderungen im Einzelnen basiert, kann mei-
ner Ansicht nach nur Hinweise zur Wirksamkeit geben.
Dies ist unter anderem dem Umstand geschuldet, dass
die Waffenbehörden der Länder nicht verpflichtet sind,
Statistiken zu führen und somit keine einheitlich struktu-
rierten Daten zur Auswertung vorliegen. Abgesehen da-
von ist vonseiten der Bundesregierung aber auch keine
weitere umfassende Abfrage hinsichtlich der Wirksam-
keit der jüngsten Änderungen des Waffengesetzes er-
folgt. Dies wäre wünschenswert gewesen.

Im Hinblick auf einheitliche Struktur und Datenlage
wird die Einführung des Nationalen Waffenregisters, das
wir in diesem Jahr auf den Weg gebracht haben, eine
deutliche Verbesserung bringen. Die bisher in unter-
schiedlicher Form gesammelten Informationen über
Waffenbesitz der lokalen Waffenbehörden werden nun
aktualisiert und in ein computergestütztes System über-
führt. Darüber hinaus werden jetzt in ganz Deutschland
erstmals einheitliche Standards festgelegt, welche Infor-
mationen im Zusammenhang mit Waffenbesitz im Einzel-
nen festgehalten werden müssen. Eine aktuelle und
belastbare Datengrundlage ist nicht nur ein Sicherheits-
gewinn für Polizei und Strafverfolgungsbehörden. Sie
dient auch einer sachlichen Debatte um das Thema Waf-
fenrecht.

Ein wesentlicher Teil der Gesetzesänderungen von
2009 bezieht sich auf die Kontrolle der sicheren Aufbe-
wahrung von Waffen und Munition sowie die Überprü-
fung der waffenrechtlichen Bedürfnisse. Die Umsetzung
der verdachtsunabhängigen Kontrollen nach § 36 Abs. 5
WaffG hat im Vorfeld große Diskussionen unter den Waf-
fenbesitzern hervorgerufen. Die Ordnungsämter haben
nun die Möglichkeit, in Vor-Ort-Kontrollen die Einhal-
tung der Aufbewahrungsvorschriften bei Besitzern von





Günter Lach


(A) (C)



(D)(B)


Schusswaffen stichprobenartig ohne vorherige Ankündi-
gung zu überprüfen. Im Berichtszeitraum haben die Waf-
fenbehörden der Länder in 8 554 Fällen die Möglichkeit
der verdachtsunabhängigen Kontrolle genutzt.

Erfreulicherweise ist festzuhalten, dass die Beanstan-
dungsquote bei Jägern und Schützen nur bei 14 Prozent
lag. Dies zeigt deutlich, dass Vereine und Verbände eine
gute Aufklärungsarbeit leisten. Die Beanstandungsquote
bei Altbesitzern lag allerdings bei fast 100 Prozent. Ein
Großteil der Beanstandungen konnte kurzfristig behoben
werden, und nur 12 Prozent der Beanstandungen führten
zu 236 Widerrufsverfahren.

Mit § 36 Abs. 3 Satz 1 WaffG hat der Waffenbesitzer
nun eine „Bringschuld“ und muss gegenüber der Waf-
fenbehörde die sichere Aufbewahrung nachweisen. Aus
dem Bericht geht hervor, dass dieser Nachweis von Jä-
gern und Sportschützen durchweg erbracht wurde. Da-
gegen konnten Erben und Altbesitzer eine sichere Aufbe-
wahrung häufig nicht nachweisen und entschieden sich
dafür, entsprechende Waffen an die Behörden abzuge-
ben.

Nach der Regelung des § 52 a WaffG ist ein Verstoß
gegen die Aufbewahrungsvorschriften nun nicht mehr
wie bisher nur bußgeldbewehrt. Ein vorsätzlicher Ver-
stoß steht unter Strafe, wenn konkrete Gefahr des Ab-
handenkommens bzw. der Zugriff Dritter entsteht.
Hierzu ist der Bericht meiner Ansicht nach nicht aussa-
gekräftig genug, da kaum Erfahrungen mit dem Vollzug
gemacht wurden.

Grundsätzlich teile ich die Einschätzung, dass die
Beibehaltung eines Strafmaßes bei besonders schwer-
wiegenden Verstößen gegen die waffenrechtlichen Auf-
bewahrungsvorschriften sinnvoll ist. Eine genaue Über-
prüfung der Vorschrift ist aber erst möglich, wenn
konkretere Erfahrungswerte vorliegen.

Insgesamt sehe ich klare Hinweise darauf, dass mit
Nachweispflicht und verdachtsunabhängigen Kontrollen
das Ziel erreicht wurde, die Sicherheit bei Aufbewah-
rung von Waffen und Munition wesentlich zu verbessern.
Die Inhaber waffenrechtlicher Erlaubnisse haben jeder-
zeit für eine sichere Aufbewahrung von Waffen und Mu-
nition Sorge zu tragen.

In Bezug auf die 2009 in § 4 Abs. 4 Satz 3 WaffG ge-
troffene Möglichkeit, auch nach der bisher vorgeschrie-
benen einmaligen Regelüberprüfung das waffenrechtli-
che Bedürfnis fortlaufend überprüfen zu können, kommt
der Bericht zu einem positiven Ergebnis. Von den be-
fragten Waffenbehörden wurde diese Möglichkeit der er-
neuten Überprüfung befürwortet und auch durchge-
führt. In den meisten Fällen geschah dies anlassbezogen
zum Beispiel aufgrund von Information von Schießsport-
vereinen oder bei Zuzug. Außerdem erfolgte die Bedürf-
nisprüfung häufig im Zuge von Kontrollen der sicheren
Aufbewahrung von Waffen und Munition. Bei knapp
4 Prozent der Fälle wurde ein Widerrufsverfahren ge-
mäß § 45 Abs. 2 WaffG eingeleitet, und in Einzelfällen
haben Waffenbesitzer ihre Waffen freiwillig an Behörden
abgegeben.

Zu den waffenrechtlichen Änderungen von 2009 ge-
hört auch, dass der Waffenerwerb durch Sportschützen
über das sogenannte Grundkontingent hinaus stärker
von waffenrechtlichen und sportlichen Bedürfnissen ab-
hängig ist. Der Bericht sieht hierin eine Unterstützung
der Arbeit von Waffenbehörden und ehrenamtlich Ver-
antwortlichen in den Schießsportverbänden, da so nur
nachgewiesen aktive Sportschützen in der Ausübung ih-
res Sports gefördert werden.

Die Anhebung der Altersgrenze von 14 auf 18 Jahre
– § 27 Abs. 3 WaffG – für das Schießen mit sogenannten
großkalibrigen Waffen im Schießsportverein war eine
richtige Entscheidung. Nur zur Nachwuchsgewinnung
und Förderung des Leistungssports sind Ausnahmen zu-
gelassen.

Sehr positiv wird die Verpflichtung der Meldebehör-
den in § 44 Abs. 2 WaffG aufgenommen, auch den Zuzug
von Waffenbesitzern an die Waffenbehörden zu melden.
Diese Regelung verbessert die Informationslage der
Waffenbehörden wesentlich und gewährleistet eine
schnellere Bearbeitung und Aktualisierung der Waffen-
akten.

Aus dem Bericht der Bundesregierung geht außerdem
hervor, dass auch die Möglichkeit der Vernichtung ein-
gezogener Waffen mit Änderung des § 46 Abs. 5 Satz 1
WaffG positiv bewertet wird. Nach den vorliegenden An-
gaben machten 92 Prozent der Waffenbehörden von der
Möglichkeit Gebrauch, sichergestellte und eingezogene
Waffen zu vernichten. Damit können diese Waffen end-
gültig vom Markt genommen werden.

Nicht zuletzt durch den Erfolg der befristeten Amnes-
tieregelung kommt die Bundesregierung zu dem Schluss,
dass die in 2009 getroffenen Änderungen des Waffenge-
setzes die Erwartungen erfüllt haben. Insgesamt wurden
bis zum 31. Dezember 2009 circa 200 000 Waffen abge-
geben.

Als Gesetzgeber ist es das Bestreben des Deutschen
Bundestages in seiner Gesetzgebung zum Waffenrecht
einen Ausgleich zwischen dem berechtigten Sicherheits-
bedürfnis der Bevölkerung einerseits und den Interessen
von rechtmäßigen Waffenbesitzern wie Sportschützen,
Jägern und Sammlern andererseits zu schaffen. Insbe-
sondere vor dem Hintergrund der letzten waffenrechtli-
chen Änderungen von 2009 ist es daher von großem In-
teresse für den Deutschen Bundestag, die Auswirkungen
der Änderungen überprüfen zu können. Nur aufgrund ei-
ner fundierten Information und Datenlage können Aus-
sagen über die Wirksamkeit der Regelungen getroffen
werden.

Die Ergebnisse des vorgelegten Berichts der Bundes-
regierung sind leider nicht so aussagekräftig, wie ich es
mir als Innenpolitiker wünschen würde. Hier möchte ich
die Anregung an das Bundesministerium des Innern wei-
tergeben, eine weitere Ergänzung des Berichts vorzu-
nehmen.

Es bleibt außerdem festzuhalten, dass bestehende
Fragen und Unklarheiten zur Umsetzung einiger Rege-
lungen erst mit der am 23. März 2012 in Kraft getrete-
nen Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Waffenge-

Zu Protokoll gegebene Reden





Günter Lach


(A) (C)



(D)(B)


setz, WaffVwV, ausgeräumt wurden. Inwieweit das einen
Einfluss auf die Praxis der Waffenbehörden vor Ort
hatte, geht aus diesem Bericht leider nicht hervor.

Deutlich geworden ist, dass Sportschützen, Jäger und
Sammler überwiegend gut über die neuen Anforderun-
gen an die Sicherheit bei der Aufbewahrung von Waffen
und Munition informiert sind und sie weitestgehend
erfüllt haben. Dies bestätigt auch meine persönliche
Erfahrung in Gesprächen mit Waffenbesitzern.


Gabriele Fograscher (SPD):
Rede ID: ID1719831600

Am 18. Juni 2009 hat der Deutsche Bundestag um-

fangreiche Änderungen im Waffenrecht beschlossen. Ne-
ben anderen Neuregelungen wurde die Nachweispflicht
der sicheren Aufbewahrung für Waffenbesitzer ein-
geführt und für die Waffenbehörden die Möglichkeit ge-
schaffen, die sichere und ordnungsgemäße Aufbewah-
rung der Waffen verdachtsunabhängig zu kontrollieren.
Viele Waffenbesitzer haben diese Änderungen kritisiert,
weil sie angeblich die legalen Waffenbesitzer unter ei-
nen Generalverdacht stelle.

Deshalb hat der Deutsche Bundestag bei der Verab-
schiedung des Gesetzes eine Entschließung gefasst, ich
zitiere: „Der Deutsche Bundestag fordert die Bundes-
regierung auf, die Wirksamkeit der getroffenen Regelun-
gen zur sicheren Aufbewahrung und zum Schutz vor un-
berechtigtem Zugriff bis Ende 2011 zu evaluieren.“

Doch bis Ende 2011 lag nichts, aber auch gar nichts
aus dem Bundesinnenministerium vor, was den Auftrag
des Bundestages hätte erfüllen können.

Am 11. Oktober 2012, also mehr als 9 Monate nach
Ablauf des Frist, erhalten wir ein Schreiben aus dem
Bundesinnenministerium, das der geforderte Evaluie-
rungsbericht sein soll. Doch dieser angebliche Evaluie-
rungsbericht ist, gelinde gesagt, eine Unverschämtheit.

Schon alleine in der Vorbemerkung zeigt das Bundes-
innenministerium, was es von Aufträgen des Deutschen
Bundestages hält: „Der zwischen CDU, CSU und FDP
für die 17. Legislaturperiode vereinbarte Koalitionsver-
trag greift diesen Auftrag auf und regelt, dass insbeson-
dere darauf geachtet werden soll, ob es im praktischen
Vollzug der 2009 getroffenen Regelungen unzumutbare
Belastungen für die Waffenbesitzer gegeben hat.“

Es ist doch völlig unerheblich, was in dem Koalitions-
vertrag von CDU, CSU und FDP steht. Wichtig ist, was
der Deutsche Bundestag von der Bundesregierung
fordert. Das Parlament wollte eine Evaluierung der Auf-
bewahrungsvorschriften und der Regelungen zum
Schutz vor unberechtigtem Zugriff. Ob es unzumutbare
Belastungen für die Waffenbesitzer gibt, war und ist
nicht Auftrag des Bundestages gewesen. Wenn Sie als
Koalitionsfraktionen das gerne wissen wollen, dann fra-
gen Sie doch Ihren Minister.

Wer sich von dem angeblichen Evaluierungsbericht
neue Erkenntnisse über das neue Waffenrecht erhofft
hat, wurde abermals enttäuscht: In der Ausschussdruck-
sache heißt es dazu: „Da nicht zu erwarten war, dass
eine erneute eigenständige Abfrage des Bundes bei den

Ländern zu weitergehenden Ergebnissen bzw. Erkennt-
nissen geführt hätte, wurde nicht zuletzt auch im Hin-
blick auf die begrenzten personellen Ressourcen sowohl
beim Bund als auch bei den Ländern darauf verzichtet
und der von der IMK beschlossene Evaluierungsbericht
zur Erledigung des Auftrages des Deutschen Bundesta-
ges zugrunde gelegt.“

Das ist eine Frechheit und eine Missachtung des Par-
laments. Dieser angebliche Evaluierungsbericht ist also
eine Zusammenfassung des Berichts der IMK, der dem
Deutschen Bundestag nicht zugänglich gemacht wird.

Hinzu kommt, dass der IMK-Bericht auch die Ände-
rungen des Waffenrechts von 2008 untersuchen sollte.
Die Erkenntnisse wurden für den Zeitraum 1. Januar
2010 bis 31. Dezember 2010 erhoben, also für einen
Zeitraum, in dem das im Juli 2009 geänderte Waffen-
recht gerade erst in Kraft getreten war. Auch die All-
gemeine Verwaltungsvorschrift zum Waffengesetz war in
dem Zeitraum noch nicht in Kraft.

Erstaunlich ist auch, dass das Bundesinnenministe-
rium fast ein Jahr gebraucht hat, um den IMK-Bericht
zusammenzufassen und dem Bundestag vorzulegen.

Es gab keine eigenständige Abfrage der Wirkungen
der Neuregelungen bei den Waffenbehörden durch das
Bundesinnenministerium. Es gab keine Gespräche mit
Waffenbesitzern und deren Verbänden durch das Bun-
desinnenministerium. Es gab auch keine Erhebung des
Bundesinnenministerium, wie die verdachtsunabhängi-
gen Kontrollen in den einzelnen Ländern durchgeführt
werden, welche Gebühren für diese Kontrollen den
Waffenbesitzern angelastet werden. Nach meinen Infor-
mationen sind die Gebühren für die Kontrollen teilweise
erheblich, unterscheiden sich aber massiv von Bundes-
land zu Bundesland, ja sogar von Landkreis zu Land-
kreis.

Dabei steht in der Begründung zu den neuen waffen-
rechtlichen Regelungen: „Die verdachtsunabhängigen
Kontrollen liegen im öffentlichen Interesse und des-
wegen werden keine Gebühren erhoben.“ Wenn das
Bundesinnenministerium eigene Erhebungen durch-
geführt und den Auftrag des Bundestages ernst genom-
men hätte, dann hätte so etwas auch in dem Evaluie-
rungsbericht stehen müssen.

Wenn Sie uns schon eine Zusammenfassung des IMK-
Berichts als Ihren eigenen Evaluierungsbericht vorle-
gen, müssen Sie uns eine Reihe von Fragen beantwor-
ten: Wie ist der Bericht zustande gekommen? Welche
Methodik liegt ihm zugrunde? Führen die Länder Statis-
tiken über die Kontrollen? Wird unterschieden zwischen
angemeldeten und unangemeldeten Kontrollen? Wie
kann man einen Bericht zusammenfassen und die Ergeb-
nisse bewerten, wenn „keine einheitlich strukturierten
Daten für eine statistische Auswertung zur Verfügung

(Ausschussdrucksache 17 Für meine Fraktion stelle ich klar: Das Waffengesetz ist ein Bundesgesetz. Dass der Vollzug bei den Ländern liegt, enthebt die Bundesregierung nicht ihrer Pflicht, zu überprüfen, wie sich Gesetzesänderungen auswirken. Gabriele Fograscher Die Innenausschussdrucksache 17(4)582 erfüllt nicht den Auftrag des Deutschen Bundestages zur Evaluierung der Aufbewahrungsund Kontrollregelungen im neuen Waffenrecht. Wir fordern von der Bundesregierung, dass bis Ende 2012 ein ernstzunehmender und auf eigenen Erhebungen und Befragungen basierender Evaluierungsbericht dem Deutschen Bundestag zugeleitet wird. Wir fordern, dass die Bundesregierung sich dafür einsetzt, dass dem Deutschen Bundestag der IMK-Bericht zugeleitet wird. Das Waffenrecht ist ein Beitrag zur öffentlichen Sicherheit. Deshalb haben die Bürgerinnen und Bürger ein Recht, zu erfahren, wie sich Änderungen im Waffenrecht auswirken. Und wir, der Deutsche Bundestag, lassen uns nicht abspeisen mit der lapidaren Begründung des Personalmangels, der angeblich einer eigenständigen Evaluierung eines Bundesgesetzes entgegensteht. Nunmehr liegt also der lang erwartete Evaluierungs bericht zu den Verschärfungen des Waffenrechts auf dem Tisch – leider allerdings nur der Bericht der Bundesregierung. Die Länder haben Ihren Bericht nach meinem Kenntnisstand bis zum heutigen Tag nicht freigegeben. Dabei wäre es aus meiner Sicht durchaus hilfreich, den Bericht der Länder zu bekommen. Immerhin ist dieser Länderbericht die Grundlage des Evaluierungsberichts der Bundesregierung. Vielleicht können sich die Innenminister der Länder noch dazu durchringen, dem Bundestag als zuständigem Gesetzgeber im Bereich des Waffenrechts ihren Bericht vorzulegen. Dies wäre sehr hilfreich. Zum vorgelegten Evaluierungsbericht der Bundesregierung: Wie dem Bericht zu entnehmen ist, scheinen sich die Änderungen im Waffenrecht der letzten Jahre bewährt zu haben. Erlauben Sie mir dennoch ein paar kritische Anmerkungen. Zunächst zu den Altersgrenzen gemäß § 27 III Waffengesetz. Was die Altersgrenzen für junge Sportschützen angeht, so wurden diese mit den Verschärfungen des Waffenrechts erheblich angehoben. Sicher, es gibt die Möglichkeit für Ausnahmegenehmigungen für den Bereich des Leistungssports. Aber diese gelten für den Leistungssport, und niemand fängt in diesem Bereich an. Außerdem gibt es für Ausnahmegenehmigungen auch Einschränkungen, sofern mit bestimmten Kalibern geschossen werden soll. Ob sich diese Altersbeschränkungen mit der Möglichkeit der Ausnahme allerdings unter dem Gesichtspunkt Nachwuchsförderung bzw. Nachwuchsgewinnung und Olympische Spiele bewährt haben, ist aus meiner Sicht fraglich. Mir geht es nicht darum, dass Jugendliche ohne jegliche altersgerechte Betreuung den Umgang mit Waffen lernen. Mir geht es darum, dass Sportler ihre Karriere frühzeitig beginnen können, damit sie in der Weltklasse mithalten können. Mit den angesprochenen Einschränkungen sehe ich da große Probleme. Wir sollten uns dies im Innenausschuss aus meiner Sicht noch einmal genau ansehen. Zur Bedürfnisprüfung nach § 4 Waffengesetz: Zur Bedürfnisprüfung möchte ich anmerken, dass viele Sportschützen zwar regelmäßig schießen, oftmals aber Probleme haben, die für erforderlich gehaltene Anzahl von Schießen nachzuweisen. Dies wiederum hat dann Auswirkungen auf ihr Bedürfnis, entsprechende Waffen zu besitzen. Im Bericht heißt es dazu, dass in knapp 4 Prozent der Fälle, in denen eine Bedürfnisprüfung vorgenommen wurde, ein Widerrufsverfahren nach § 45 II Waffengesetz eingeleitet wurde. Mich würden in diesem Zusammenhang weitere Hintergründe zu diesen angeführten Fällen interessieren. Schließlich noch zur verdachtsunabhängigen Kontrolle nach § 36 III Waffengesetz: Es wird Sie sicherlich nicht überraschen, aber gerade aus liberaler Sicht sehe ich bei den Möglichkeiten der Nachschau in privaten Räumen das größte Problem der Änderungen im Waffenrecht. Hierbei wird aus meiner Sicht in das Recht der Unverletzlichkeit der Wohnung eingegriffen, wie sie das Grundgesetz in Art. 13 garantiert. Sicherlich ist eine Kontrolle zur Durchsetzung gesetzlicher Vorschriften erforderlich. Aber was ich im Zusammenhang mit den Nachschauen aus dem Kreis von Jägern und Schützen zu hören bekomme, macht mich fassungslos. Da wurde mir berichtet, dass zur Überprüfung gleich mehrere Behördenvertreter zusammen mit Polizisten angerückt seien. Es wurde mir auch berichtet, dass Behördenvertreter gar keine Ahnung von Waffen gehabt haben sollen. Wenn wir als Gesetzgeber diese ohnehin schon problematische Nachschau gesetzlich verankern, dann hat diese auch schonend und fachlich versiert zu erfolgen. Ich sehe hier noch erheblichen Klärungsbedarf. Sie sehen, es gibt noch viele Punkte, die in den weiteren Beratungen zu klären sind. Ich bin gespannt auf die weiteren Beratungen im Innenausschuss. Der vorliegende Antrag der SPD hat sich insofern er ledigt, als dass die Bundesregierung in plötzlicher Eile – mit Datum vom 8. Oktober 2012 – den geforderten Evaluationsbericht doch noch vorgelegt hat. Allerdings kann der Bericht nicht den Anspruch einlösen, eine Evaluation der waffenrechtlichen Änderungen seit 2009 oder gar eine Evaluation des bundesdeutschen Waffenrechtes vorzunehmen. Die Bundesregierung hat es sich so einfach wie möglich gemacht. Sie hat den Evaluationsbericht der Expertengruppe „Waffenrecht“ der Ständigen Konferenz der Innenminister von Dezember 2011 abgeschrieben. Die Datenlage dieses Berichtes ist allerdings mehr als dürftig. Von den 577 Behörden – Polizei und Kommunen – sind nur 86 Waffenbehörden für den Zeitraum Januar bis Dezember 2010 befragt worden. Da war das Waffenrecht gerade mal anderthalb Jahre in Kraft. Die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Waffengesetz wurde erst im März 2012, also nach der Datenerhebung, in Kraft gesetzt. Die Verwaltungspraxis zum Beispiel zur Bedürfnisprüfung war bis dahin in jedem Kreis eine andere. Angesicht dessen und der Tatsache, dass in den Ländern völlig unterschiedliche Statistiken geführt wer Zu Protokoll gegebene Reden Frank Tempel den, die erhobenen Daten also nur begrenzt vergleichbar sind, kann von einer repräsentativen Erhebung keine Rede sein. In der Anhörung zum Waffenrecht im Innenausschuss des Bundestages im Mai 2012 waren sich alle Fraktionen und Gutachter einig, dass eine Evaluierung des bundesdeutschen Waffenrechtes unabdingbar ist. Die Bundesregierung beschränkt sich auf die Änderungen seit 2009, und selbst das ist nur halbherzig umgesetzt. Die Linke hingegen fordert eine grundhafte Evaluation des bundesdeutschen Waffenrechtes und einen internationalen Vergleich der bundesdeutschen Regelungen mit Regelungen anderer vergleichbarer Länder. Überprüft werden sollte, inwieweit die Verfügbarkeit von Waffen in der Gesellschaft und restriktive bzw. liberale Regelungen Waffenmissbrauch verhindern oder begünstigen. Erst dann kann eingeschätzt werden, inwieweit das deutsche Waffenrecht die Sicherheitsinteressen der Bevölkerung und die Interessen von Sportschützen und Jägern im vernünftigen Maße austariert. Zum Evaluationsbericht. Nach dem Amoklauf von Winnenden wurde das Waffenrecht in mehreren Punkten geändert. Wesentlich sind die fortlaufende Bedürfnisund Eignungsprüfung, die Änderungen bei der Anzahl des erlaubten Waffenbesitzes, Änderungen bei den Altersgrenzen, die Nachweispflicht einer sicheren Aufbewahrung, die Einrichtung des nationalen Waffenregisters und insbesondere die verdachtsunabhängigen Kontrollmöglichkeiten zur vorschriftsmäßigen Lagerung von Waffen und Munition. In all diesen Punkten bescheinigt der Bericht der Bundesregierung eine Verbesserung der Sicherheit und die Praktikabilität der Gesetzesänderungen. Kein Wort wird hingegen verloren, dass die meisten Waffenbehörden mit den verdachtsabhängigen und verdachtsunabhängigen Kontrollen personell überfordert sind. Die Vor-Ort-Kontrollquote von 3,85 Prozent aller waffenrechtlichen Erlaubnisinhaber ist wohl eher ein erster Anfang als ein Ausweis für die Effektivität der Waffenbehörden. Die dabei festgestellte Beanstandungsquote von 23 Prozent ist zutiefst erschreckend und widerspricht den gebetsmühlenartig vorgetragenen Behauptungen von der überdurchschnittlichen Gesetzestreue der Waffenbesitzer. Es ist noch viel Arbeit zu leisten, um zu dem behaupteten Zustand zu gelangen. Auch der für Ende 2012 angekündigte Start des nationalen Waffenregisters ist nach Einschätzung zahlreicher Experten kaum zu halten. Es gibt erhebliche Schwierigkeiten bei der Zusammenführung Hunderter unterschiedlicher Datenbestände. Im Bericht liest sich das völlig anders. Probleme kommen nicht vor. Der illegale Waffenbesitz als gefährlichster Umstand bezüglich Waffen in der Bundesrepublik wird nur im Zusammenhang mit der abgelaufenen, befristeten Amnestie thematisiert. Die straflose Abgabemöglichkeit nicht zugelassener Waffen ist eine anerkannte Möglichkeit, illegale Waffen aus dem Schwarzmarkt zu nehmen. Im Bericht wird allerdings nur mitgeteilt, dass Amnestien nicht zu häufig stattfinden dürfen, da sonst illegaler Waffenbesitz dauerhaft legalisiert würde. Das offenbart eine gähnende Ideenlosigkeit der Bundesregierung. Es ist offensichtlich, dass die Regierungsparteien ein Jahr vor den Wahlen kein wirkliches Interesse an einer Evaluation des Waffenrechtes, geschweige denn an konstruktiven Änderungen haben und ihr bisheriges Handeln in belanglosen Berichten beschönigen wollen. Der Antrag, den wir hier vor uns haben, ist ein klas sisches Stück SPD-Politik zum Waffenrecht: erst die Reform selbst nicht hingekriegt, dann in anklagendem Ton die Bundesregierung angehen, dass sie doch endlich ihrer Informationspflicht nachkommen solle – die es so gar nicht gibt, weil die SPD sie nicht im Gesetz verankert hat –, und schließlich übersehen, dass andere diese Anforderung längst gestellt haben, und zwar da, wo es tatsächlich wirksam ist, nämlich im Innenausschuss. Von einer inhaltlichen Positionierung in Sachen Reform des Waffenrechts sieht die SPD übrigens ab. Der Reihe nach: Im Frühjahr 2009 hat die damalige Große Koalition eine verkorkste und unzureichende Reform des Waffenrechts beschlossen. Zwar wurden einige wichtige Punkte aufgenommen und die ohnehin zwingende Erfüllung EU-rechtlicher Vorgaben noch einmal als Fortschritt gefeiert. Aber es gibt darin keine Begrenzung des Waffenbesitzes, keine Regelungen gegen großkalibrige, halbautomatische Waffen, wie sie beim grässlichen Amoklauf in Winnenden benutzt wurden, keine Vorschrift, Waffen und Munition getrennt aufzubewahren. Auch eine Auswertung dieses Reförmchens sieht das Gesetz nicht vor. Die mitregierende SPD hat es damals nicht vermocht, ihre Zustimmung zum Gesetz davon abhängig zu machen – es gab lediglich einen Entschließungsantrag. Nicht einmal die wissenschaftliche Unabhängigkeit der Evaluierung wurde damals angemahnt. Die wäre zwar richtig, aber im Text steht eben auch sie nicht. Und mal ganz ehrlich: Ein Entschließungsantrag einer Regierungskoalition, in der die eigene Regierung zum Handeln aufgefordert wird, ist nun wirklich eine so schwache Willenserklärung, dass man von Entschluss eigentlich nicht mehr reden mag. Als Papiertiger gesprungen und als Bettvorleger gelandet! Inhaltlich teilen wir das Anliegen der SPD, weshalb ich namens meiner Fraktion bereits im letzten Dezember um Übersendung der entsprechenden Ergebnisse der Länder gebeten hatte. Und ich hatte die Bundesregierung um ihre Haltung zu diesen Erkenntnissen gebeten und auch darum, welche Folgerungen sie daraus zieht. Das Ergebnis war ernüchternd. Zunächst hieß es, es liege noch nichts vor, und wir wurden mit einer lapidaren Zusammenfassung des Gesetzes abgespeist. Da es ja bei Schwarz-Gelb bekanntlich oft länger dauert, bis die Erkenntnis einsetzt, und dann ja noch der unvermeidliche Koalitionsstreit zu regeln ist, habe ich dann erst im Juni wieder nachgefragt. Nun wurde ich darauf verwiesen, dass es sich um einen Bericht der Länder handle, der dem Bund nicht zugänglich sei. Dass diese Regierung bisweilen lange braucht, um anstehende Fragen zu verstehen, daran haben wir uns alle gewöhnt. Dass sie das Schreiben von Gesetzen auslagert, ist auch nicht neu, aber dass sie nun die Bewertung einer Studie der Zu Protokoll gegebene Reden Wolfgang Wieland Bundesländer nicht von der Studie selbst unterscheiden kann und im Übrigen eben diesen Ländern überlassen will, das ist dann doch ein neuer Grad an Begriffsstutzigkeit und Unselbstständigkeit. Mit Datum vom 8. Oktober wurde uns nun ein knapper Bericht vorgelegt. Darin werden vor allem die Änderungen des Waffengesetzes noch einmal dokumentiert, an Evaluierung gibt es nicht mehr als Sätze der Komplexitätsstufe „Die Regelung hat sich dem Grunde nach bewährt“. Man fühlt sich so stark an Radio Eriwan erinnert, dass man auf die Frage, ob diese Evaluierung etwas tauge, antworten möchte: Im Prinzip ja, aber sie müsste um Erkenntnisse ergänzt werden. Die Bundesregierung verzichtet vollkommen darauf, irgendwelche Schlussfolgerungen zu ziehen. Kein Wort dazu, wie festgestellte Defizite behoben werden sollen, kein Wort dazu, ob lang diskutierte Maßnahmen wie technische Sicherungssysteme erforderlich und umsetzbar sind, kein Wort zu neuen Fällen des Missbrauchs privater Waffen und dazu, warum sie durch die Gesetzesnovelle nicht verhindert wurden. Man kann hoffen, dass die Innenministerkonferenz sich doch noch erweichen lässt, und uns ihre – hoffentlich – umfangreichere und substanziellere Studie zukommen lässt, dann kann man vielleicht noch etwas lernen. Allerdings muss man befürchten, dass es dazu nicht kommt. Wenn hier die SPD beantragt, dass uns dieser Bericht vorgelegt werden möge, aber die sieben Landesinnenminister der SPD offenbar nicht für eine Übermittlung votiert haben und auch die Unionsinnenminister in den mit Großer Koalition regierten Ländern nicht von einer Veröffentlichung zu überzeugen waren, dann mache ich mir wenig Hoffnung. Fazit: ein schlechtes Gesetz vor drei Jahren, Geheimniskrämerei der eigenen Landesminister und ein Schaufensterantrag, der Jahre alte eigene Versäumnisse verdecken soll. Überzeugen kann das nicht – und gegen die verbliebenen Lücken im Waffenrecht kann man so schon gleich gar nichts tun. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent wurfs auf Drucksache 17/10114 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Verordnung der Bundesregierung Verordnung über die Höhe der Managementprämie für Strom aus Windenergie und solarer Strahlungsenergie (Managementprämienverordnung – MaPrV)





(A) (C)


(D)(B)

Serkan Tören (FDP):
Rede ID: ID1719831700
Frank Tempel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719831800




(A) (C)


(D)(B)

Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719831900




(A) (C)


(D)(B)

Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719832000

– Drucksachen 17/10571, 17/10707 Nr. 2.2,
17/10817 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Maria Flachsbarth
Dirk Becker
Michael Kauch
Ralph Lenkert
Hans-Josef Fell

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir
die Reden zu Protokoll.


Dr. Maria Flachsbarth (CDU):
Rede ID: ID1719832100

Am 30. Juni 2011, also gerade mal vor einem Jahr,

hat der Deutsche Bundestag die Novelle des Erneuer-
bare-Energien-Gesetzes beschlossen – das Herzstück
der Energiewende. Mit dem Ziel, den Anteil erneuerba-
rer Energieträger am Bruttostromverbrauch bis 2022
auf 80 Prozent gegenüber heute etwa zu verdreifachen,
müssen auch die Anforderungen an die Rahmenbedin-
gungen für diese Entwicklungen angepasst werden. Aus
diesem Grund war die schrittweise Integration regene-
rativer Erzeuger in den Energiemarkt – neben der kos-
teneffizienten Ausgestaltung der Förderung und der
Fortsetzung bewährter Grundprinzipien – schon vor ei-
nem Jahr ein zentraler Bestandteil der Novelle. Auch im
Energiekonzept der Bundesregierung vom September
2010 wird das Ziel „die Einspeisung effizienter gestal-
ten“ bereits deutlich herausgestellt. Ich zitiere: „... eine
schrittweise, aber zügige Heranführung an den Markt
und damit eine stärker bedarfsgerechte Erzeugung und
Nutzung der erneuerbaren Energien. Künftig soll das
EEG stärker am Markt orientiert werden und der wei-
tere Ausbau der erneuerbaren Energien in stärkerem
Maße marktgetrieben erfolgen.“

Dieses Kernelement – die Markt- und Systemintegra-
tion – hat die Weiterentwicklung des Gesetzes aus dem
vergangenen Jahr übrigens mit nahezu allen Vorschlä-
gen über die zukünftige Ausgestaltung des Strommarkts
gemein, die heute auf dem Tisch liegen.

Damit will ich sagen: Wir wissen alle, dass das EEG
durch den zunehmenden Anteil regenerativer Erzeuger
– die erneuerbaren Energien sind keine Nischenpro-
dukte mehr – an seine Grenzen stößt. Aus diesem Grund
beschäftigten sich die Bundesregierung, aber auch die
Unionsfraktion im Deutschen Bundestag seit Jahren mit
marktorientierten Förderwerkzeugen innerhalb des be-
stehenden Gesetzes.

Bereits heute liegt der Anteil der Erneuerbaren an der
Bruttostromerzeugung bei 25 Prozent, und bei diesem
Anteil gewinnt die Optimierung des Zusammenspiels al-
ler Marktakteure – der Erneuerbaren, der Konventionel-
len, aber auch von Speichern und Stromverbrauchern –
immer weiter an Bedeutung.

Ich möchte in diesem Zusammenhang noch mal aus-
drücklich darauf hinweisen, dass die CDU/CSU-Frak-
tion im Deutschen Bundestag nicht erst seit der Novelle
des EEG im Jahr 2009 auf die Bedeutung der Marktinte-
gration hinweist. So fand der Beginn der Marktintegra-
tion Erneuerbarer Anfang 2010 statt; seitdem wird
Strom, der in EEG-Anlagen erzeugt wird, durch die
Übertragungsnetzbetreiber am Day-ahead-Markt der





Dr. Maria Flachsbarth


(A) (C)



(D)(B)


Leipziger Strombörse transparent vermarktet. Strom aus
Erneuerbaren leistet erstmals einen aktiven Beitrag zur
Grundfunktion des Marktes, dem Prinzip von Angebot
und Nachfrage, und beeinflusst seitdem aktiv die Preis-
bildung.

Das zweite Instrument, die Einführung eines Prämien-
modells, um eine marktorientierte Produktion erneuer-
barer Energien anzureizen und diese schrittweise an den
Markt heranzuführen, war ursprünglich ebenfalls im
Rahmen der 2009er-Novelle angedacht. Gegen vehe-
mente Intervention des damaligen Koalitionspartners ist
das Instrument jedoch bedauerlicherweise im parlamen-
tarischen Beratungsverfahren gescheitert und erst vier
Jahre später, auf erneute Initiative der CDU/CSU-Bun-
destagsfraktion, zum 1. Januar 2012 in Kraft getreten.
Die Einführung der Marktprämie stellt bis heute einen
Paradigmenwechsel bei den erneuerbaren Energien dar.
Es war ein weiterer wichtiger Schritt in die richtige
Richtung und hat Anlagebetreibern zum ersten Mal die
Möglichkeit eröffnet, sich optional selbstständig im
Markt zu versuchen oder aber Dritte mit dieser Aufgabe
zu beauftragen.

Die Anzahl der EE-Anlagen, die in diesem Jahr in die
Direktvermarktung gewechselt sind, hat uns letztendlich
recht gegeben; unsere Erwartungen wurden bei weitem
übertroffen und somit im Oktober 2012 fast 27 Gigawatt
über das Marktprämienmodell vermarktet – das ent-
spricht der Hälfte der installierten Leistung erneuerba-
rer Energien in Deutschland. Und auch für die Zukunft
wird ein breiter Zulauf erwartet; die Übertragungsnetz-
betreiber haben in ihrer Annahme zur EEG-Umlage
2013 prognostiziert, dass der Anteil der Anlagen in der
Marktprämie auf bis zu 36 Gigawatt ansteigen könnte.

Bereits heute lassen sich die ersten positiven Effekte
dieser Marktorientierung feststellen: Dies betrifft in ers-
ter Linie die zunehmende Flexibilität des Gesamtsystems
und die damit zusammenhängenden sinkenden System-
kosten. Zum Beispiel konnte durch den Auf- und Ausbau
einer umfassenden Infrastruktur, von Kommunikations-
und Steuerungssystemen die Prognosegüte bei der
Stromerzeugung deutlich verbessert werden. Wie sich
ein zukünftiger Strommarkt immer auch gestalten wird –
hierbei handelt es sich um eine sinnvolle Investition in
die Zukunft.

Dieser Nutzen findet sich auch in der finanziellen Be-
trachtung wieder. Bereits im ersten Jahr hat die Einfüh-
rung der Marktprämie zu einer Reduzierung negativer
Strompreise am Spotmarkt geführt und die EEG-Umlage
dadurch signifikant entlastet. Diese Entlastung liegt da-
rin begründet, dass die Marktprämie – im Gegensatz zur
Einspeisevergütung – einen Anreiz schafft, Windenergie-
anlagen abzuregeln, wenn keine Nachfrage besteht.

Dieser unerwartete Erfolg hat unzweifelhaft auch
Auswirkungen auf die Kosten der Marktprämie. Die pro-
gnostizierten 200 Millionen Euro Mehrkosten, die für
das Einführungsjahr der Marktprämie – maßgeblich
durch die Vergütung der Kosten für den Ausgleich von
Prognoseabweichungen sowie die Kosten für den Han-
delszugang veranschlagt wurden, werden aufgrund der
regen Teilnahme bereits deutlich überschritten. Aller-

dings haben die Gutachter im vergangenen Jahr einen
Rückgang der Kosten für das Folgejahr prognostiziert –
dieser Beweis ist in den kommenden Jahren noch zu füh-
ren.

Obwohl oder gerade weil die Marktprämie solch ein
Erfolgsmodell ist, ist es notwendig, die Prämie nachhal-
tig an die Entwicklung des Marktes anzupassen: Die
Managementprämie für fluktuierende erneuerbare Er-
zeuger, und nur um diese geht es in dieser Verordnung,
wäre zum 1. Januar 2013 von heute 1,2 Cent pro Kilo-
wattstunde auf 1 Cent pro Kilowattstunde gesunken. Al-
lerdings war bereits im Laufe dieses Jahres absehbar,
dass sich die Grundlage für die Berechnung der Ma-
nagementprämie verändert. Es war von Beginn an da-
von auszugehen, dass die Einführung eines neuen unbe-
kannten Instruments anfangs höhere Kosten als im
derzeitigen System verursachen dürfte und schon kurz-
fristig mit einem deutlichen Lerneffekt zu rechnen ist.
Auch aus diesem Grund hat der Deutsche Bundestag im
vergangenen Sommer eine Verordnungsermächtigung
innerhalb des EEG beschlossen, um die Marktprämie
kurzfristig und kosteneffizient an die Marktentwicklun-
gen anzupassen.

Auf Basis neuer wissenschaftlicher Untersuchungen,
die gezeigt haben, dass sich die Höhe der Management-
prämie für volatile Erzeuger mittlerweile deutlich über
den wirtschaftlich abzudeckenden Kosten befindet, wird
die Höhe der Managementprämie im Rahmen der Ma-
nagementprämienverordnung über die im EEG festge-
legte Degression zum Ende des Jahres angepasst. Diese
Erkenntnisse wurden darüber hinaus durch die Erfah-
rungen der Übertragungsnetzbetreiber bestätigt, die
diese über Jahre bei der Vermarktung des EEG-Stroms
machen konnten. Das führt letztlich dazu, dass die Ma-
nagementprämie für das Jahr 2013 bei nicht fernsteuer-
baren Anlagen um 0,35 Cent pro Kilowattstunde abge-
senkt wird.

Eine weitere Anpassung, die im Rahmen der Manage-
mentprämienverordnung zu einer effizienteren Integra-
tion fluktuierender Erneuerbarer in den Markt führen
soll, ist die Kopplung einer erhöhten Managementprä-
mie an die Fernsteuerbarkeit der Anlagen. Die Manage-
mentprämie wird hierfür um 0,1 Cent pro Kilowatt-
stunde gegenüber nicht fernsteuerbaren Anlagen
erhöht; somit fällt die Degression der Managementprä-
mie bei fernsteuerbaren Anlagen mit 0,25 Cent pro Kilo-
wattstunde etwas niedriger aus. Diese Regelung soll
dazu führen, den – bisher schleppend vorangehenden –
Integrationsprozess fernsteuerbarer Wind- und Solaran-
lagen im folgenden Jahr signifikant zu beschleunigen
und einen Anreiz zu schaffen, um die Einrichtung von
Fernsteuerungstechnologien im Sinne der Systemsicher-
heit weiter zu etablieren und die bedarfsorientierte Be-
reitstellung von Strom zu verbessern.

Vor diesem Hintergrund wird die Absenkung der Ma-
nagementprämie eine geringere Gewinnmarge für die
Direktvermarktung von Strom aus Windenergie und so-
larer Strahlungsenergie zur Folge haben. Grundsätzlich
– und das ist auch die Rückmeldung aus der Branche –
bleibt jedoch der Anreiz zum Wechsel in die Direktver-

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Maria Flachsbarth


(A) (C)



(D)(B)


marktung erhalten und bietet bei entsprechendem Anla-
genbetrieb auch zukünftig die Aussicht auf angemessene
wirtschaftliche Mehrerlöse.

Dem ist noch hinzuzufügen, dass in der Verordnung
auch für die Zeit ab 2014 die Höhe der Managementprä-
mie für nicht fernsteuerbare Anlagen und eine stetige
Verstärkung der zusätzlichen Anreizwirkung für fern-
steuerbare Anlagen geregelt ist.

Das Ziel der Managementprämienverordnung ist es,
die Direktvermarktung der erneuerbaren Energien zu-
nehmend stärker an den Markt heranzuführen und die
Kosteneffizienz der Stromversorgung insgesamt zu ver-
bessern; die EEG-Umlage wird durch die Neuregelung
im Jahr 2013 um die Größenordnung von 200 Millionen
Euro entlastet und leistet infolgedessen einen Beitrag zu
den Bestrebungen der Bundesregierung, die Kosten der
Energiewende in einem angemessenen Rahmen zu hal-
ten.

Die Entwicklung der Direktvermarktung wird weiter-
hin regelmäßig evaluiert, und die Entwicklung der tat-
sächlichen Kosten als auch der unmittelbare Nutzen der
Direktvermarktung, insbesondere in Bezug auf die
Marktintegration, werden analysiert.

Ich bitte daher um Zustimmung zur vorliegenden Ver-
ordnung.


Josef Göppel (CSU):
Rede ID: ID1719832200

Ich halte die Degression der Managementprämie für

richtig. Sie allein reicht jedoch nicht aus, um die erneu-
erbaren Energien marktfähig zu machen.

Die Direktvermarktung von Eigenstrom ist ein wichti-
ger Schritt in Richtung Marktanpassung. Wichtig ist
hierzu, dass die Angebote der vielen Kleinerzeuger zu-
sammengeführt und daraus verlässliche Komplettpakete
geschnürt werden.

Die Bevölkerung in Deutschland greift die Chancen
der Energiewende aktiv auf: Seit 2005 haben sich über
80 000 Bürger in rund 600 Energiegenossenschaften zu-
sammengetan. Darüber hinaus gibt es weitere Formen
des genossenschaftlichen Engagements. Ihnen allen ist
gemein, dass sie die Energiewende dezentral gestalten
und die Wertschöpfung in der jeweiligen Region halten.
Das Einkommen aus der Energieproduktion fließt nicht
mehr in anonyme Aktienpakete oder ins Ausland, son-
dern kommt Landwirten, Hausbesitzern, Handwerkern
und vielen Privatleuten zugute, die sich an Windrädern
und Solaranlagen beteiligen oder diese vor Ort installie-
ren und warten. Das ermöglicht breite Eigentumsstreu-
ung im Energiebereich und stärkt so die Mittelschichten
der Gesellschaft.

Das aktuelle Zusammentreffen neuer Informations-
technologien mit erneuerbaren Energien führt zu einem
Entwicklungsschub, der die Grundlagen unseres Lebens
in Richtung Dezentralität und Kleinteiligkeit verändert.
Dies fördert langfristig ein verlässliches Stromangebot –
wir sind weder vom Funktionieren einer Handvoll Groß-
kraftwerke abhängig, noch sind wir steigenden Rohstoff-
kosten oder Unsicherheiten beim Import ausgeliefert.

Der Import macht derzeit noch 70 Prozent der Energie-
kosten aus. Mit erneuerbaren Energien können wir
flexibel und selbstbestimmt auf Angebot und Nachfrage
reagieren.

Dabei spielt auch Biomasse eine wichtige Rolle – sie
kann kurzfristig an den Verbrauch angepasst werden
und helfen, Lücken in der Stromproduktion durch Wind
und Sonne zu überbrücken. Eine Zusammenführung der
Kleinerzeuger mit bedarfsgerechten Komplettangeboten
stabilisiert den Markt und entlastet die EEG-Umlage.
Derzeit wird von den Möglichkeiten der Direktvermark-
tung noch nicht ausreichend Gebrauch gemacht. Die
Managementprämie ist strukturell zu sehr auf die alten
Stromversorger hin orientiert.

Gut ist an ihr, dass die Fernsteuerbarkeit von Anla-
gen verbessert wird. In einem virtuellen Kraftwerk, also
einem Verbund verschiedener Kleinerzeuger, trägt die
Fernsteuerbarkeit zur bedarfsgerechten Einspeisung
der erneuerbaren Energien und zur Entlastung der
EEG-Umlage bei. Unumstößlich für das Gelingen der
Energiewende ist und bleibt bei allen diesen Markt-
mechanismen der Einspeisevorrang der erneuerbaren
Energien.

Viele Ökostromhändler haben in eine langfristig an-
gelegte Direktvermarktung investiert und sind bereit,
sich weiterzuentwickeln. Jörg Müller, Vorstandschef
von ENERTRAG, erklärt: „Mit einem novellierten
Grünstromprivileg könnten wir die Stromkunden preis-
werter mit sauberer Energie beliefern.“ Diesem Zitat
schließe ich mich an.


Dr. Matthias Miersch (SPD):
Rede ID: ID1719832300

An diesem Montag konnte man schwarz auf weiß le-

sen, was zuvor viele befürchtet hatten: Die Übertra-
gungsnetzbetreiber gaben an, dass die sogenannte EEG-
Umlage im nächsten Jahr 5,277 Cent pro Kilowatt-
stunde betragen wird. Dies entspricht einer Erhöhung
um rund 50 Prozent, nachdem die EEG-Umlage in die-
sem Jahr noch 3,59 Cent pro Kilowattstunde betragen
hat. Verbraucherinnen und Verbraucher bezahlen diesen
Preis pro verbrauchter Kilowattstunde, um Deutsch-
lands Energieerzeugung fit für die Zukunft zu machen.

Kritiker und Gegner der Energiewende sind kräftig
am Werk, um Ängste seitens der Verbraucherinnen und
Verbraucher vor steigenden Strompreisen zu schüren.
Eines muss uns jedoch klar sein: Die Energiewende wird
es nicht zum Nulltarif geben. Der Umbau der Energiein-
frastruktur und des Marktsystems mit dem Ziel, eine
Vollversorgung mit erneuerbaren Energien bis 2050 zu
erreichen, wird zweifelsohne Geld kosten.

Andererseits muss man sich darüber im Klaren sein,
welche immens hohen Kosten auf uns zukommen wür-
den, wenn wir in der Energiefrage untätig blieben. Das
fossile Öl und Gas aus Saudi-Arabien und Russland ge-
hen zur Neige, die Brennstoffe müssen in den nächsten
40 Jahren ersetzt werden. Die zentrale Frage, die wir
uns stellen müssen, ist: Was hätte es gekostet, wenn die
Energiewende nicht in Gang gesetzt worden wäre und
alles beim Alten geblieben wäre? Eine Struktur des

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Matthias Miersch


(A) (C)



(D)(B)


Strommarkts mit wenigen, aber übermächtigen Strom-
konzernen, ins Unermessliche steigende Öl- und Gas-
preise, verpestete Luft und eine zerstörte Umwelt!

Eine überwältigende Mehrheit der deutschen Bevöl-
kerung will nach wie vor die Energiewende hin zu einem
dezentralen Strommarkt, bezahlbarem Strom und einer
Vollversorgung mit sauberen, erneuerbaren Energien.
Es gilt jetzt vor allem, die anfallenden Kosten so gerecht
zu verteilen, dass die Herkulesaufgabe Energiewende
nicht nur auf wenigen Schultern ruht, sondern alle glei-
chermaßen mit in die Finanzierung eingebunden und so-
ziale Härten abgefedert werden.

Die Höhe der EEG-Umlage taugt dabei ganz und gar
nicht als Indikator für die Kosten der Energiewende, ob-
wohl Kritiker uns dies weismachen wollen: Die Umla-
geerhöhung geht am wenigsten auf die ansteigende För-
derung für die erneuerbaren Energien zurück. Nur rund
ein Drittel des gesamten Anstiegs um rund 1,7 Cent be-
trifft die zusätzlichen Förderkosten von Erneuerbare-
Energien-Anlagen. Für den Rest sind vor allem die poli-
tischen Fehlentscheidungen der schwarz-gelben Bun-
desregierung im Zuge der Novelle des Erneuerbare-
Energien-Gesetzes im Sommer 2011 verantwortlich.
Bundeskanzlerin Angela Merkel und der damalige Um-
weltminister Röttgen haben im letzten Jahr die Anhe-
bung der EEG-Umlage aus politischen Gründen einfach
aufgeschoben. Nichts sollte die NRW-Wahl für Röttgen
belasten. Dieser Schuss ging Gott sei Dank nach hinten
los, die Rechnung dafür müssen die Verbraucherinnen
und Verbraucher aber nun im nächsten Jahr bezahlen.
Zudem hat Schwarz-Gelb die Umlageentlastung von In-
dustrieunternehmen enorm ausgeweitet. Ab 2013 profi-
tieren dann statt circa 750 Unternehmen wie in diesem
Jahr mindestens 2 000 industrielle Abnehmer von den
Privilegien. Die Umlage wird somit auf weniger Schul-
tern verteilt. Privathaushalte und kleine und mittelstän-
dische Unternehmen müssen die Zeche dafür zahlen.

Ein weiterer Punkt, der die EEG-Umlage unnötig be-
lastet, ist das sogenannte Marktprämienmodell, das die
Bundesregierung in der letzten EEG-Novelle gegen den
Willen der SPD-Bundestagsfraktion beschlossen hat.
Das Modell beinhaltet eine Marktprämie und eine Mana-
gementprämie, die Anlagenbetreibern ausgezahlt wird,
wenn sie ihren erzeugten Strom direkt – und nicht über
den EEG-Mechanismus – verkaufen.

Nun, noch nicht einmal ein Jahr nach der Einführung
dieses Mechanismus, bestätigt sich die Kritik der SPD-
Bundestagsfraktion am Marktprämienmodell voll und
ganz: Diese Form der Direktvermarktung fördert weder
die Markt- und Systemintegration erneuerbarer Energien,
noch setzt sie ausreichend Anreize für eine bedarfsge-
rechte Einspeisung und für Investitionen in Speicher-
technologien. Zudem wurde weder die Prognosegüte
verbessert, noch eröffneten sich neue Vermarktungs-
wege für den wertvollen Grünstrom. Es zeigt sich, dass
die Marktprämie zwar hohe Kosten verursacht, die ge-
wünschte Wirkung jedoch nicht erzielt hat. Zudem
machen Anlagenbetreiber, Direktvermarkter und die
konventionelle Energiewirtschaft durch hohe Mitnahme-
effekte Kasse. Konventionelle Energieerzeuger kaufen

beispielsweise den billigen Grünstrom ein, anstatt mit
höheren Kosten selbst Strom zu produzieren, und teilen
sich die Managementprämie mit den Anlagenbetreibern.
So profitieren sie sogar doppelt.

Kurzum: Die nun von der Bundesregierung vorgese-
hene Absenkung der Managementprämie ist ein Symp-
tom dafür, dass das Marktprämienmodell in seiner der-
zeitigen Form gescheitert ist. Die Absenkung kann man
zwar begrüßen, sie ändert aber nichts an der grundsätz-
lichen Fehleinschätzung auch in dieser energiepoliti-
schen Frage.

Die Kosten, die die Managementprämie verursacht,
sind Bestandteil der EEG-Umlage und werden von den
Stromendverbrauchern bezahlt. Angesichts der steigen-
den Belastungen für Stromkunden sehen wir es als rich-
tig an, die sinnlosen Überförderungen innerhalb der
Managementprämie zu beseitigen, und stimmen daher
der Verordnung zu ihrer Absenkung zu.

Gleichzeitig kritisieren wir, dass die Bundesregierung
im Zuge der letzten EEG-Novelle das bislang einzig ef-
fektive Instrument zur Marktintegration erneuerbarer
Energien, das sogenannte Grünstromprivileg, durch un-
gerechtfertigte Restriktionen faktisch beseitigt hat. An-
ders als die Marktprämie wäre ein weiterentwickeltes
Grünstromprivileg ein einfaches, unbürokratisches Sys-
tem, das Märkte für Grünstrom schafft und Anreize zum
betriebswirtschaftlichen Planen bietet. Die Bundesre-
gierung soll endlich die Marktprämie in der derzeitigen
Form als ineffizientes und überteuertes Direktvermark-
tungsmodell abschaffen und stattdessen ein Konzept für
eine Weiterentwicklung des Grünstromprivilegs vorle-
gen, das die System- und Marktintegration effektiv und
kosteneffizient vorantreibt, Anreize für eine bedarfsge-
rechte Stromeinspeisung erneuerbarer Energien und für
Investitionen in Speichertechnologien schafft. Ein Lern-
effekt stellt sich bei Schwarz-Gelb aber leider nur selten
ein.


Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1719832400

Der Vermittlungsausschuss hat sich im Rahmen des

Pakets zur Reform der Photovoltaikvergütung darauf
geeinigt, die Managementprämie ab dem Jahr 2013 ab-
zusenken, um Mitnahmeeffekte zu vermeiden und die
Belastung der Stromkunden zu verringern. Diese Absen-
kung stellt eine Justierung des im letzten Jahr eingeführ-
ten Instruments der Marktprämie dar. Deren Einführung
war richtig, da sie zur Direktvermarktung motiviert und
so die erneuerbaren Energien an den Markt heranführt.
Allerdings wurden von den zuständigen Ministerien im
Gesetzgebungsverfahren wesentlich niedrigere Kosten
prognostiziert. Das zeigt erneut die begrenzte Prognose-
fähigkeit der öffentlichen Institutionen in Bezug auf die
EEG-Instrumente.

Zudem ist dieses Instrument für die Markt- und Netz-
integration erneuerbarer Energien auf Dauer nicht ge-
eignet, weil es einen Mindestpreis setzt und die Börsen-
entwicklung nach unten abfedert. Die Marktakteure
können also nach oben profitieren und haben nach unten
kein Risiko. Deshalb plädiert die FDP-Bundestagsfrak-
tion dafür, die Marktprämie durch ein Marktzuschlags-

Zu Protokoll gegebene Reden





Michael Kauch


(A) (C)



(D)(B)


modell zu ersetzen, bei dem es einen festen Zuschlag auf
den Börsenpreis und nicht einen vollständigen Kosten-
airbag nach unten gibt, der letztendlich die in Rede ste-
henden Zusatzkosten mit verursacht.

Es ist die Mühe wert, gemeinsam zu schauen, wie man
die Direktvermarktung reformieren kann. Die Antwort
der Opposition, einfach das Grünstromprivileg auszu-
weiten, greift zu kurz. Denn das Grünstromprivileg ist
immer damit verbunden, dass die EEG-Umlage auf im-
mer weniger Schultern lastet. Deshalb müssen andere
Modelle entwickelt und dann auch beschlossen werden.
Unser Vorschlag liegt auf dem Tisch.


Dorothee Menzner (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719832500

Vergangenes Jahr haben wir in einem unfassbaren

Tempo 200 Seiten EEG-Novelle durch dieses Haus ge-
jagt. Es war aufgrund der Eile nicht einmal den Verbän-
den möglich, die Gesetzesnovelle in ihrer ganzen Breite
zu durchdringen, obwohl sie den Entwurf dafür Tage vor
den Abgeordneten zur Stellungnahme erhalten hatten.
Verschiedene peinliche Dinge, die sich in dem Entwurf
noch verborgen hatten, wurden inzwischen ausgeräumt.
Darüber hinaus gab es aber auch Politisches, aufgrund
dessen der Bundesrat diese Novelle so nicht passieren
lassen wollte. Die Verordnung zur Absenkung der Ma-
nagementprämie, die wir jetzt behandeln, ist Teil der
Kompromissmasse aus den Verhandlungen mit dem Bun-
desrat und wiederum eine Korrektur der völlig überhas-
teten und planlosen Änderungen am Erneuerbare-Ener-
gien-Gesetz des vergangenen Jahres.

Die Linke begrüßt diese Verordnung, da wir bereits
zur Einführung der Managementprämie davor gewarnt
haben, dass diese zu unnötigen Mehrkosten bei der Er-
neuerbare-Energien-Umlage führen würde. Auch der
Bundesverband Erneuerbare Energien hat seinerzeit ve-
hement darauf hingewiesen. Bereits nach wenigen Mo-
naten hat sich herausgestellt, dass die Prämie zu hoch
angesetzt war und kaum einen Nutzen gebracht hat. Sie
hatte keinen Nutzen für den Ausbau der erneuerbaren
Energien und ebenso wenig für deren Marktintegration.
All das war bereits im Juni 2011 absehbar, und davor
hatten wir gewarnt.

Bei einer zweiwöchigen Beratungszeit für einen über
200 Seiten umfassenden Gesetzentwurf, in dem noch we-
sentlich gravierendere Dinge fehlgesetzt worden waren,
ist es aber kein Wunder, dass solche mahnenden Stim-
men nicht wahrgenommen wurden. Obwohl wir die vor-
gesehene Kürzung der Managementprämie nun begrü-
ßen, können wir uns letztendlich zu dem Gesamtwerk
nur enthalten. Das eigentliche Problem dieser Verord-
nung ist nämlich das Ziel der Marktintegration von fluk-
tuierenden erneuerbaren Energien. Die Linke vertritt
hier deutlich den Standpunkt, dass nicht die erneuerba-
ren Energien sich dem Markt anpassen müssen, sondern
der Markt den fluktuierenden erneuerbaren Energien.
Wir alle kennen das Bild stillstehender Windräder, ob-
wohl sehr wohl Wind weht. Es kommt immer häufiger
vor, dass die Übertragungsnetzbetreiber erneuerbare
Energien vom Netz nehmen müssen, weil fossile Grund-
lastkraftwerke die Netze verstopfen. Aber trotz der zu-

nehmenden Abschaltung von Erneuerbare-Energien-An-
lagen hält die Bundesregierung weiter daran fest,
Sonnen- und Windstrom passend für den Markt machen
zu wollen, anstatt das Marktdesign, bei dem das eigent-
liche Problem liegt, grundlegend auf den Kopf zu stel-
len. Unser Ziel ist die Vollversorgung mit erneuerbaren
Energien. Wenn man das möchte, kann man die Regene-
rativen aber nicht in das Stromsystem hineinpressen,
sondern man muss den Markt entsprechend ausrichten.
Dass sich diese Erkenntnis noch immer nicht in den Re-
gierungs- und Koalitionskreisen durchgesetzt hat, zeigt
uns exemplarisch das weitere Festhalten an der Markt-
und Managementprämie, anstatt sie völlig abzuschaffen.
Deshalb können wir dieser Verordnung nicht zustimmen.


Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719832600

Seit letztem Montag wissen wir, um welchen Betrag

die EEG-Umlage im nächsten Jahr steigen wird. Es sind
knapp 1,7 Cent pro Kilowattstunde. Neben Wirtschafts-
minister Rösler schiebt auch der Kollege Vaatz die Erhö-
hung auf den Ausbau der erneuerbaren Energien. Herr
Vaatz will mit der Begründung steigender Strompreise
die gefährliche und teure Atomkraft wiederbeleben, wel-
che er für billig hält. Dabei ist die Atomenergie bisher
mit rund 180 Milliarden Euro subventioniert worden,
die nicht im Strompreis auftauchen. Eine billige Strom-
quelle, Herr Vaatz? Während bei der EEG-Umlage so
getan wird, als wären dies ausschließlich die Kosten für
den Ausbau der erneuerbaren Energien, wurden die
enormen Subventionen für Atom und die fossilen Ener-
gien über Jahrzehnte in unzähligen Haushaltsposten
versteckt. Leider ist die EEG-Umlage eben kein Indika-
tor für die Kosten des Ausbaus der Erneuerbaren, weil
sie inzwischen mit zahlreichen anderen Posten belastet
wird. Die Regierung und die Koalitionsfraktionen sind
leider an einer ehrlichen Analyse der einzelnen Posten
der EEG-Umlage und deren Steigerungen gar nicht inte-
ressiert. Da Sie zu dieser Analyse nicht bereit sind,
werde ich sie für Sie machen. Von den 1,7 Cent Erhö-
hung der Umlage sind gerade einmal 0,5 Cent auf den
Ausbau zurückzuführen. Etwa zwei Drittel aber gehen
auf Ihre Fehler zurück.

Da haben wir zunächst die Ausweitung der Privile-
gien für die Industrie. Es ist richtig, dass wir unter der
rot-grünen Regierung die Ausnahmen für die energiein-
tensive Industrie im EEG 2004 eingeführt haben. Wir
wollen nämlich auch nicht die energieintensive Industrie
aus Deutschland vertreiben. Doch wir führten damals
auch einen Passus ein, der die Ausnahmen auf 10 Pro-
zent des Gesamtvolumens der Umlage deckelten. Dieser
Passus wurde 2006 aus dem Gesetz gestrichen. In der
letzten EEG-Novelle senkten Sie dann die Schwelle für
energieintensive Unternehmen auf eine Gigawattstunde
Jahresverbrauch. Dadurch haben jetzt gut 2 000 Unter-
nehmen einen Antrag auf Befreiung von der EEG-Um-
lage gestellt. Erhält der große Teil dieser Unternehmen
die Befreiung, erhöht sich die Entlastung der Unterneh-
men auf etwa 4 Milliarden Euro. Die weitere Befreiung
vieler Industriezweige muss auf den Prüfstand, und wir

Zu Protokoll gegebene Reden





Hans-Josef Fell


(A) (C)



(D)(B)


freuen uns, dass dies inzwischen auch die Bundeskanz-
lerin so sieht.

Ein weiterer Punkt sind die geringeren Erlöse der er-
neuerbaren Energien an der Strombörse durch die Einfüh-
rung des neuen Wälzungsmechanismus im Jahr 2009.
Eigentlich freuen wir uns über den strompreissenkenden
Effekt der erneuerbaren Energien. Allerdings fehlt auf
der einen Seite eine Maßnahme der Bundesregierung,
diesen positiven Effekt für alle Stromkunden wirksam
werden zu lassen, und auf der anderen Seite steigt genau
durch diesen Effekt die EEG-Umlage um etwa 1 Cent
pro Kilowattstunde. Warum gibt es zur Weitergabe des
Merit-Order-Effekts an die Haushalte und zu einem ver-
besserten Wälzungsmechanismus eigentlich keinen Vor-
schlag von Umweltminister Altmaier?

Als nächsten Punkt haben wir die viel zu hohe Anset-
zung der Liquiditätsreserve. Wenn die Prognose für die
EEG-Umlage für das nächste Jahr dieses Mal seriös be-
rechnet wurde, dann brauchen wir keine Liquiditätsre-
serve von 10 Prozent, dann hätte die Bundesnetzagentur
die Reserve bei 3 Prozent belassen können. Auch hier
haben wir wieder Mehrkosten von etwa 1,2 Milliarden
Euro.

Auch die Marktprämie ist eine Fehlleistung dieser
Regierung. Dabei ist die Idee, die erneuerbaren Ener-
gien dort, wo es jetzt schon möglich ist, auch außerhalb
des EEG am Markt zu etablieren, richtig. Aber das In-
strument hat wenig für die Marktintegration der erneuer-
baren Energien bewirkt und stattdessen viele Mitnahme-
effekte produziert. Durch die Mitnahmeeffekte wurden
obendrein innovative andere Vermarktungswege uninte-
ressant und damit ausgebremst. Die Mehrkosten der
Managementprämie belaufen sich anstelle der von der
Regierung veranschlagten 200 Millionen Euro in diesem
Jahr auf rund 600 Millionen Euro.

Wir stehen hinter dem Ziel, die erneuerbaren Ener-
gien außerhalb des EEG stärker zu fördern. Wir wollen
dazu das Grünstromprivileg wieder in das Zentrum der
Direktvermarktung der erneuerbaren Energien rücken.
Obwohl wir eine Abschaffung der Managementprämie
fordern, stimmen wir dieser Beschlussempfehlung den-
noch zu, da wir damit zumindest einen ersten Schritt zur
Korrektur dieser Fehlentwicklung machen.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719832700

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für

Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10817,
der Verordnung der Bundesregierung auf Drucksa-
che 17/10571 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung
der Fraktion Die Linke und Zustimmung der übrigen
Fraktionen des Hauses angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(3. Ausschuss)


Dietmar Nietan, Uta Zapf, Josip Juratovic, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Für eine ehrliche und faire europäische Per-
spektive der Staaten des westlichen Balkans

– Drucksachen 17/9744, 17/11034 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Beyer
Dr. Rolf Mützenich
Marina Schuster
Wolfgang Gehrcke
Kerstin Müller (Köln)


Auch hier nehmen wir die Reden, wie in der Tages-
ordnung ausgewiesen, zu Protokoll.


Peter Beyer (CDU):
Rede ID: ID1719832800

Spricht man über Ehrlichkeit und Fairness für die

Menschen auf dem Westbalkan im Zusammenhang mit
einer europäischen Perspektive, sollten wir vor der
Wahrheit nicht die Augen verschließen. Die Wahrheit
lautet: Analysiert man den Zustand der Länder des
sogenannten Westbalkan anhand der Kopenhagener
Messlatte, werden zahlreiche Defizite offenkundig. Zur
Wahrheit gehört aber auch, dass bereits honorige An-
strengungen aktueller und potenzieller Beitrittskandida-
ten benannt werden können. Bereits in der Debatte vom
28. Juni 2012 habe ich in meinem Redebeitrag darauf
hingewiesen, dass – auch wenn wir vereinheitlichend
vom „Westbalkan“ sprechen – wir die Heterogenität
dieser Region nicht außer Acht lassen dürfen. So unter-
schiedlich die nationalen, historischen, ethnischen und
religiösen Identitäten auf dem Westbalkan sind, so un-
gleich sind auch ihre politischen und wirtschaftlichen
sowie sozialen Entwicklungsstadien.

In Bezug auf die geforderte Geschwindigkeit der eu-
ropäischen Integration im Antrag der SPD sollte darauf
hingewiesen werden, dass die Behebung der Defizite im
Sinne der Erfüllung der Kriterien für eine Vollmitglied-
schaft Zeit braucht. Deutlich wird dies am Beispiel
Kroatiens, das kurz vor der bevorstehenden Aufnahme
in die EU in der vergangenen Woche einen Blauen Brief
aus Brüssel erhielt. Gleich zehn Mängel stellte die EU-
Kommission fest, die das Land bis nächsten Juli beseiti-
gen muss. Es hat den Weg noch nicht erfolgreich
beschritten, wie auch ich im vergangenen Juni noch an-
nahm. Nach wie vor gilt uneingeschränkt: Wer beitritt,
muss beitragen. Und so muss Zagreb nun nachsitzen.

In diesem Zusammenhang macht es die EU-Erweite-
rungsmüdigkeit, wie sie in den Worten des Bundestags-
präsidenten Norbert Lammert mitschwang, Politikern
nicht leichter. Es geht längst nicht mehr allein um eine
ehrliche und faire Perspektive. Für die Menschen auf
dem Balkan geht es um konkrete Verhandlungen, nicht
um Versprechungen. Augenmaß und bindende Kriterien
sind das, was zählt, nicht das Termingeschäft. Nur das
schafft Vertrauen und Akzeptanz, besonders nach den
Erfahrungen mit Bulgarien und Rumänien, auch oder
gerade bei unseren Bürgern im eigenen Land.





Peter Beyer


(A) (C)



(D)(B)


Im Fall Kroatien ist noch eines zu erwähnen: An ei-
nem Beitritt ist festzuhalten, schon allein wegen der
Strahlkraft auf die Nachbarstaaten und dem eigenen
Interesse, um die in den 1990er-Jahren aus den Fugen
geratene Region für ein friedliches und sicheres Europa
weiter zu stabilisieren.

Für den Schlüsselstaat Serbien ist ebenfalls kein bal-
diges Termingeschäft zu empfehlen, wie es der Antrag
fordert. Die kürzlichen Äußerungen des serbischen Prä-
sidenten Nikolic über einen möglichen Verzicht Belgrads
auf die EU-Eingliederung, sollte Serbien vor die Wahl
zwischen EU und der Anerkennung des Kosovo gestellt
werden, sind dafür ein warnendes Indiz. Die neue Regie-
rung in Serbien muss durch Taten zeigen, dass sie
reformwillig ist. Verbalinjurien wie die des Premiermi-
nisters Dacic vor laufender Kamera: „Scheiß auf die
EU, wenn die Schwulenparade die Eintrittskarte ist“,
zeugen nicht vom Willen zu einem positiven Avis zur Auf-
nahme von Beitrittsverhandlungen, der im Frühjahr
2013 denkbar gewesen wäre. Die Zukunft Serbiens liegt
in Europa, die Geschwindigkeit der Annäherung hängt
aber zuallererst vom Land selbst ab.

Die Reihe setzt sich fort mit Bosnien-Herzegowina.
Nicht nur, dass Bosnien Ende August eine Frist für
Reformen auf seinem Weg nach Europa verstreichen
ließ. Die vom Europäischen Gerichtshof für Menschen-
rechte geforderte Anpassung des Wahlrechts wurde
ebenfalls nicht umgesetzt. Zusätzlich drohen antieuropä-
ische, nationalistische Tendenzen, die eine Spaltung des
Landes voranzutreiben geeignet sind. Mit der Ankündi-
gung eines Zahlungsstopps betreffend die bosnische
Armee erhöht der bosnische Serbenführer Dodik den
Druck, womit er das Land gefährlich nahe an die Situa-
tion der 1990er Jahre bewegt. Allzu ausgeprägte Klein-
staaterei ist in einem zusammenwachsenden Europa
nicht zu unterstützen und stellt einen Anachronismus
dar.

Verglichen mit der ungeklärten Kosovo-Frage und
der prekären Situation in Bosnien-Herzegowina er-
scheint die Auseinandersetzung zwischen Mazedonien
und Griechenland um die Namensfrage quasi als Rand-
notiz. Und doch hat die Region bei allen beschriebenen
Unterschieden in jedem Fall ein gemeinsames Problem:
den Exodus junger Menschen ins Ausland. Der Grund
für diese Tendenz ist nicht die hohe Arbeitslosigkeit. Es
ist das fehlende Vertrauen der jungen Menschen in die
Politik und vor allem das Gefühl wirtschaftlicher und
sozialer Stagnation, weshalb sie ihrer Heimat – zumin-
dest zeitweilig – den Rücken kehren. Dabei wäre es von
nicht zu unterschätzender Wichtigkeit, dass die junge
Generation nach Ausbildung und Studium im Ausland in
ihrer Heimatländer zurückkehren. Denn sie sind einer
der die Zukunft stützenden Pfeiler für Stabilität, Rechts-
staatlichkeit und Demokratie ihrer Länder.

Wir stehen zu unserem Wort und bieten mehr als eine
ehrliche und faire Perspektive. Uns geht es um eine rea-
listische Zukunft und die klare Benennung der tatsächli-
chen Möglichkeiten, die Kriterien zu erfüllen, die den
Schlüssel für jede Mitgliedschaft der Staaten des westli-

chen Balkan in der EU darstellen. Nicht allein die Zeit
muss reif sein, sondern vor allem der Kandidat.


Dr. Wolfgang Götzer (CSU):
Rede ID: ID1719832900

Die europäische Perspektive, die die EU den Ländern

des westlichen Balkan in der Erklärung des Europäi-
schen Rats von Thessaloniki 2003 mit den Worten „Die
Zukunft des westlichen Balkan liegt in Europa“ gab,
wird nächstes Jahr mit dem Beitritt Kroatiens eine neue
Form der Realität annehmen. Auch die anderen Staaten
des westlichen Balkan sind auf dem Weg nach Europa.
Wie die aktuellen Fortschrittsberichte der EU-Kommis-
sion vom 10. Oktober für die einzelnen Länder des west-
lichen Balkan zeigen, ist die europäische Perspektive
heute näher und konkreter denn je. Allerdings ist sie
nicht pauschal und ohne Bedingungen und Auflagen zu
haben. Daher lehnen wir den Antrag der SPD ab.

Die EU hat für alle Länder des westlichen Balkan ei-
nen Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess, SAP, ein-
geleitet, der sie nach und nach enger an die EU heran-
führen soll. In den letzten Jahren waren etliche
Fortschritte zu verzeichnen, wobei jeder Staat selbst
Tiefe und Geschwindigkeit dieses Prozesses bestimmt.
Hier ergibt sich noch ein sehr differenziertes Bild. Als
potenzielle Kandidaten gelten nach heutigem Stand
Albanien sowie Bosnien und Herzegowina und das
Kosovo. Was Albanien anbelangt, so hat die EU-Kom-
mission in ihrem jüngsten Fortschrittsbericht vom
10. Oktober eine Empfehlung für den Kandidatenstatus
ausgesprochen. Die EU hat Albanien in diesem Zusam-
menhang angehalten, seine Reformbemühungen ins-
besondere in den Bereichen Justiz und öffentliche Ver-
waltung sowie bezüglich der Verfahrensregelungen im
Parlament zu intensivieren. Der Kandidatenstatus ist so-
mit an weitere Fortschritte und die Umsetzung weiterer
Reformen gebunden. Wir unterstützen diese Haltung der
EU.

Bosnien und Herzegowina muss insbesondere seine
Verfassung in Einklang mit der Europäischen Men-
schenrechtskonvention bringen, damit endlich das Stabi-
lisierungs- und Assoziierungsabkommen, SAA, in Kraft
treten kann, und die Grundlagen für einen fundierten
Beitrittsantrag gelegt werden. Für uns sind darüber
hinaus substanzielle Fortschritte im Hinblick auf die
Verfassungsreform im Bereich Parlamentskammer und
Präsidentschaft unablässige Voraussetzungen für das
Inkrafttreten des SAA und einen möglichen EU-Beitritt.

Was das Kosovo anbelangt, gilt, dass wir uns weiter-
hin insbesondere in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit,
Bekämpfung organisierter Kriminalität und Korruption
engagieren müssen, um die entsprechenden Reformen im
Kosovo und die Arbeiten an einem Stabilisierungs- und
Assoziierungsabkommen zu unterstützen.

Was die Kandidatenländer Mazedonien, Montenegro
und Serbien betrifft, möchte ich hervorheben, dass dort
Fortschritte erzielt worden sind. Gleichwohl bestehen
weiterhin Defizite. Auch hier gilt – wie für alle Beitritts-
kandidaten: Selbst wenn diese Staaten auf ihrem Weg in
die EU weiter vorangeschritten sind, bestehen wir da-

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Wolfgang Götzer


(A) (C)



(D)(B)


rauf, dass alle Auflagen und Verpflichtungen der EU er-
füllt sind, ehe ein Beitritt erfolgt.

In Bezug auf Mazedonien unterstützen wir den hoch-
rangigen Dialog zur EU-Annäherung, der Reformen in
allen Bereichen begleitet, solange die Aufnahme von
Beitrittsverhandlungen aufgrund des Namensstreits
durch Griechenland blockiert wird.

Montenegro hat insbesondere in den Bereichen
Rechtsstaatlichkeit, Bekämpfung von Korruption und
organisierter Kriminalität noch etliche Reformen zu
meistern. Daher begrüßen wir den Ansatz der EU-Kom-
mission, die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit
den Kapiteln Justiz und Rechtstaatlichkeit zu beginnen.

Auch die Beitrittsverhandlungen mit Serbien müssen
unserer Meinung nach insbesondere an weitere Fort-
schritte im Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess
sowie einer weiteren Normalisierung der bilateralen Be-
ziehungen zum Kosovo gebunden sein. Wie dem Fort-
schrittsbericht der EU-Kommission zu Serbien vom
10. Oktober zu entnehmen ist, muss Serbien außerdem
Reformen im Bereich Justiz sowie der Bekämpfung von
Korruption und dem organisierten Verbrechen zügig auf
den Weg bringen. Vor diesem Hintergrund werden wir
den europapolitischen Kurs des serbischen Präsidenten
Nikolic genauestens verfolgen. Bleibt zu hoffen, dass er
den Reformkurs seines Vorgängers fortsetzt.

Auch beim Beitrittsland Kroatien legen wir Wert
darauf, dass die EU-Kommission ihre bisherige Über-
wachung des Beitrittsprozesses fortsetzt. Gerade in An-
betracht des jüngsten durchaus kritischen Fortschritts-
berichts der EU-Kommission sehen wir Kroatien auch in
der Pflicht, vereinbarte Fristen einzuhalten und ein an-
gemessenes Reformtempo aufrechtzuerhalten. Wir er-
warten ein eindeutigeres Bekenntnis Kroatiens zu seiner
europäischen Perspektive und greifbare Erfolge auf sei-
nem Weg nach Europa. Denn eine Ratifizierung der Bei-
trittsurkunde wird es mit uns erst geben, wenn alle Auf-
lagen erfüllt sind.


Dietmar Nietan (SPD):
Rede ID: ID1719833000

Aus Sicht der Geschichtsschreibung ist es erst einen

Augenblick her, dass auf dem Balkan blutige Konflikte
tobten. Nach dem Versagen der internationalen Gemein-
schaft während der Jugoslawienkriege haben die EU
und Deutschland große Verantwortung in der Region
übernommen, um Frieden zu sichern, Neues aufzu-
bauen, Versöhnung zu erreichen und schließlich auch
die einzelnen Länder sowie die Region als ganze auf
dem Weg hin zur europäischen Integration zu begleiten.

Die europäische Integration nach dem Ende des
Zweiten Weltkrieges ist eine große Erfolgsgeschichte des
Friedens und der Verständigung und Zusammenarbeit
unter den Völkern. Es erfüllt mich und – ich denke – alle
hier in diesem Hause mit Freude, Respekt und Stolz,
dass die Europäische Union den Friedensnobelpreis er-
halten wird – ausdrücklich auch für die Friedenswir-
kung ihrer Erweiterungen und ausdrücklich auch unter
Benennung ihrer Anstrengungen zur Integration von
Ländern des westlichen Balkan! Dies ist ganz klar auch

eine politische Botschaft und unterstreicht damit eine
Verantwortung, der sich niemand der politisch Verant-
wortlichen in unserem Land – etwa mit einem populisti-
schen Gerede über einen Stop der EU-Erweiterung –
entledigen kann.

Die jüngsten Fortschrittsberichte der EU-Kommis-
sion und die Erweiterungsstrategie für die Jahre 2012
bis 2013 zeigen in aller Deutlichkeit: Vieles haben Kroa-
tien, Serbien, Montenegro, die ehemalige jugoslawische
Republik Mazedonien, Bosnien und Herzegowina, Alba-
nien und das Kosovo schon erreicht auf dem Weg in
Richtung EU, viel muss noch getan werden. Gerade in
den zentralen Bereichen Rechtsstaatlichkeit, Grund-
rechte und Justiz gibt es vielfach noch Missstände,
ebenso bei der Reform staatlicher Verwaltung, der Be-
kämpfung von Korruption und Kriminalität, dem Schutz
von Minderheiten, der Medienfreiheit und -pluralität
und in weiteren Bereichen.

Als SPD-Bundestagsfraktion haben wir die zentrale
Bedeutung der Kopenhagener Kriterien stets betont. Wir
sind für strenge Beitrittskriterien und erwarten von den
Kandidatenländern und beitrittswilligen Staaten große
Reformanstrengungen. Weder die Erfolge noch die
Schwächen der Länder des westlichen Balkan dürfen
kleingeredet werden. Nur eine ehrliche Position der EU
und ehrliche Anstrengungen der Beitrittskandidaten und
beitrittswilligen Länder werden schließlich zum Erfolg
führen.

Nun entzünden sich kurz nach der Bekanntgabe der
Verleihung des Friedensnobelpreises an die EU Debat-
ten, welche Teilen der Begründung des Nobelpreiskomi-
tees zuwiderlaufen. Was wir hier von einigen Protago-
nisten aus der CDU/CSU innerhalb weniger Tage an
kurzsichtigen und schädlichen Signalen an die Länder
des westlichen Balkan vernehmen konnten, muss einen
schon sehr nachdenklich stimmen. Da erklären führende
Politiker der Union Kroatien neun Monate vor dem ge-
planten Termin für nicht beitrittsreif. Da rufen führende
Politiker der Union nach einem Erweiterungsstopp. Und
der Bundesinnenminister fordert die Aussetzung der
visafreien Einreise in die EU für Bürgerinnen und Bür-
ger Serbiens und der ehemaligen jugoslawischen Repu-
blik Mazedonien. Das alles sind Schläge in die Gesich-
ter der europafreundlichen Kräfte in den Ländern des
westlichen Balkan. Befeuert werden damit mitnichten
differenzierte Debatten, sondern ungute Stimmungen
und Ängste sowohl in der EU als auch in den betroffenen
Ländern, die uns keinen Schritt weiterbringen. Das Bild
Deutschlands und der EU als glaubwürdige und verläss-
liche Partner wird darunter leiden.

Ob Kroatien reif für den Beitritt am 1. Juli 2013 ist,
wird sich zeigen. Der Reformwille Kroatiens sollte nicht
abgeschrieben, sondern nach Kräften unterstützt wer-
den. Vor abschließenden Beurteilungen sind die Ent-
wicklungen in Kroatien während der kommenden
Monate und die Veröffentlichung des letzten Monito-
ringberichtes der EU-Kommission im Frühjahr 2013
abzuwarten. Es waren die Vertreter Kroatiens selbst, die
immer wieder betonten, dass sie die Kriterien erfüllen
werden und dabei auch keinen politischen Rabatt erhal-

Zu Protokoll gegebene Reden





Dietmar Nietan


(A) (C)



(D)(B)


ten wollen. In unserem heute hier zur Abstimmung vor-
liegenden Antrag machen wir als SPD-Bundestagsfrak-
tion ganz deutlich, dass wir für strenge Beitrittskriterien
und deren strikte Einhaltung sind. Wir haben zum jetzi-
gen Zeitpunkt keinen Grund, daran zu zweifeln, dass
Kroatien bis zum 1. Juli 2013 die Bedingungen der EU
erfüllen wird. Denn wenn es die Kriterien bis dahin nicht
erfüllt, wird es zu diesem Termin auch nicht beitreten
können. Das ist in Kroatien sowohl der Regierung als
auch der Bevölkerung klar. Wer dies aber bereits jetzt
herbeiredet, schadet mehr, als dass er nützt.

Die Forderung nach einem Erweiterungsstopp aus
den Reihen der Union ist nicht neu. Sie erhält aber eine
neue Brisanz, wenn der Bundestagspräsident sie auf-
greift.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Unions-
fraktion, sehr geehrter Herr Bundestagspräsident
Lammert, wenn Sie die Position eines Erweiterungs-
stopps tatsächlich vertreten, fordere ich Sie nun auch
dazu auf, in letzter Konsequenz ehrlich und aufrichtig zu
sein. Dann müssen Sie jetzt offen und ehrlich sagen, dass
sich die EU aus dem 2003 in Thessaloniki gegebenen
Versprechen verabschieden soll, demzufolge alle Staaten
des westlichen Balkan eine EU-Perspektive haben. Ver-
treten Sie Ihre Haltung offen gegenüber der EU-Kom-
mission, den Mitgliedstaaten und den Staaten, denen das
Versprechen gilt! Zu guter Letzt zeigen Sie dann bitte
auch den Weg auf, wie die EU den Spagat zwischen
einem Bruch ihrer Zusage und ihrer Glaubwürdigkeit
meistern soll; denn ich sehe diesen Weg nicht. Wenn sich
die EU von der gegebenen Zusage einer Beitrittsper-
spektive abwendet, wird die friedens- und stabilitätsstif-
tende Wirkung dieser Perspektive erlöschen, Reform-
kräfte werden geschwächt, und die betroffenen Länder
werden sich früher oder später anderen Partnern zu-
wenden. Dies liegt nicht in unserem Interesse. Und ge-
nau das wäre die Flucht aus unserer Verantwortung für
Frieden und Freiheit in ganz Europa! Wieder würde die
EU auf dem Balkan versagen, mit möglicherweise dra-
matischen Folgen für den Frieden in dieser Region.

Noch einige Worte zur Visafrage. Einem Missbrauch
von Asylleistungen muss selbstverständlich entgegen-
gewirkt werden. Die Lösung kann aber nicht sein, gan-
zen Bevölkerungen die visafreie Einreise zu verweigern
und nun alle Serben und Mazedonier – Bürgerinnen und
Bürger von EU-Beitrittskandidaten – unter Generalver-
dacht zu stellen. Die visafreie Einreise ist die für die
Menschen wohl stabilste, greifbarste Brücke nach Eu-
ropa. Geschäftsleute, Wissenschaftler, Studenten, Tou-
risten, Familienangehörige, Teilnehmer von Jugendaus-
tauschprogrammen – wollen wir für alle diese Menschen
das Überqueren der Brücke erschweren? In Verbindung
mit dem Ruf nach einem Erweiterungsstopp ist dies ein
überdeutliches Signal, das sagt: „Wir wollen euch
nicht.“ Ein falscheres Signal können wir nicht senden.

Auch lohnt sich ein zweiter Blick darauf, wer die
Menschen eigentlich sind, die da Asylanträge stellen. Es
gibt in Staaten des westlichen Balkan leider immer noch
große Probleme bei der Integration von Sinti und Roma.
Sie leiden unter Diskriminierung und Armut. Bei einer

ohnehin wirtschaftlich katastrophalen Lage – so lag bei-
spielsweise die Jugendarbeitslosigkeit in Serbien 2011
bei 46 Prozent, in der ehemaligen jugoslawischen Repu-
blik Mazedonien bei fast 54 Prozent – stehen sie am un-
teren Rand der Gesellschaft. Wir können diese Probleme
nicht anstelle Serbiens oder der ehemaligen jugos-
lawischen Republik Mazedonien lösen, wir können nicht
alle aufnehmen, die ihr Land der Armut wegen verlassen
wollen, aber wir können gemeinsam mit den Regierun-
gen nach Lösungen suchen. Armut und Massenarbeits-
losigkeit in Kandidatenländern der EU gehen uns sehr
wohl etwas an. Die Türe zuzuschlagen, kann nicht der
richtige Weg sein.

Die Bundesregierung sollte zeitnah schlüssige Kon-
zepte aufzeigen, wie sie die Länder des westlichen Bal-
kan auf dem nicht immer einfachen und keineswegs
schnellen Weg hin zu Stabilität, Rechtsstaatlichkeit und
wirtschaftlichem Aufschwung, letztlich auf dem Weg
Richtung EU, unterstützen will. Dazu gehört ganz klar
auch die Benennung von Schwachstellen. Ob jedoch Ini-
tiativen wie der jüngste Besuch des Kollegen
Schockenhoff in Belgrad dazu geeignet sind, den Re-
formwillen vor Ort zu unterstützen, darf bezweifelt wer-
den.

Besonders drängend stellt sich die Frage nach deut-
scher Unterstützung im Fall Bosnien und Herzegowinas.
Der vor wenigen Wochen vollzogene Abzug der letzten
deutschen Soldaten aus der EU-Mission EUFOR Althea
darf kein Rückzug aus dem deutschen Engagement in
und für Bosnien und Herzegowina sein. Das Land mag
friedlich sein, stabil ist es noch lange nicht. Nationale
Partikularinteressen in den verschiedenen Landesteilen
blockieren nötige Reformschritte zugunsten des Gesamt-
staates. Der Annäherungsprozess Bosnien und Herzego-
winas an die EU stockt. Auch wirtschaftlich steht das
Land schlecht da. Die Europäische Union und Deutsch-
land müssen vor allem den Aufbau demokratischer und
transparenter Strukturen als Grundlage eines funktio-
nierenden Staates fördern. Zivilgesellschaft und regio-
nale Kooperation müssen gestärkt werden. Unsere Ver-
antwortung für Bosnien und Herzegowina bleibt
bestehen. Dazu gehört auch die Unterstützung des
Engagements des Hohen Repräsentanten der Vereinten
Nationen für Bosnien und Herzegowina. Die SPD-Bun-
destagsfraktion fordert daher ausdrücklich, seine Ar-
beitsfähigkeit und sein Büro vor Ort bis zur Erfüllung
der vereinbarten 5+2-Kriterien zu erhalten. Die Bonn
Powers des Hohen Repräsentanten sind immer noch
eine tragende Säule der staatlichen Integrität Bosnien
und Herzegowinas und dürfen daher nicht ausgehölt
werden.

Weil uns die Integrations- und damit Zukunftsfähig-
keit der EU sehr am Herzen liegt, erwarten wir Sozial-
demokraten von Kroatien, Serbien, Montenegro, der
ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien, Bos-
nien und Herzegowina, Albanien und Kosovo große Re-
formanstrengungen und die Erfüllung aller nötigen Kri-
terien. Aber auf eines können sich die Menschen in
diesen Ländern verlassen: Von unserer Seite bleibt die
Hand dabei ausgestreckt, wir stehen zu dem, was wir als
EU den Menschen des Westbalkan versprochen haben.

Zu Protokoll gegebene Reden





Dietmar Nietan


(A) (C)



(D)(B)


Es wäre ein wichtiges Signal, wenn auch die CDU/CSU-
Fraktion in diesem Haus ein solches Signal der Verläss-
lichkeit und des Verantwortungsbewusstseins aussenden
würde.


Dr. Rainer Stinner (FDP):
Rede ID: ID1719833100

Eine Woche nach der Veröffentlichung der Fort-

schrittsberichte der Europäischen Union ist ein guter
Zeitpunkt für diese Debatte. Ich weiß, dass die Fort-
schrittsberichte, gerade wenn sie kritisch ausfallen, von
den Beitrittsländern leicht als zusätzliches Hindernis
angesehen werden. Von manchen innerhalb der EU wer-
den sie ebenfalls manchmal gerne als Vorwand genom-
men, den gesamten Prozess aufzuhalten oder zumindest
zu verzögern. Wir Liberale lehnen jegliche Versuche die-
ser Art mit Nachdruck ab. Die Fortschrittsberichte sind
eine Hilfestellung auf dem Weg zum Beitritt. Sie können
und dürfen für keine anderen Zwecke missbraucht wer-
den. Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten
fällen Entscheidungen dann, wenn sie anstehen. Bei-
trittskandidaten werden danach beurteilt, was sie zu die-
sem Zeitpunkt erreicht haben – und nicht ein halbes Jahr
vorher. Ich sage ausdrücklich, dass dies auch uneinge-
schränkt für Kroatien gilt. Wir sind optimistisch, dass
das Land die noch offenen Aufgaben bis 2013 abarbei-
ten kann. Wir ermutigen Kroatien, dies zu tun, und hal-
ten nichts von Vorverurteilungen.

Die diesjährigen Fortschrittsberichte zeigen – wie
immer – Licht und Schatten. Zwei besonders dunkle Ka-
pitel, wenn auch aus entgegengesetzten Gründen, bilden
Bosnien-Herzegowina und Makedonien. Die Kommis-
sion hat jetzt zum vierten Mal die Aufnahme von Bei-
trittsverhandlungen mit Makedonien empfohlen, was
von Griechenland weiter wegen der ungelösten Namens-
frage blockiert wird. Dieser Fall gefährdet die Glaub-
würdigkeit unseres gesamten konditionierten Ansatzes.
Wenn ein Land Fortschritte macht, aber trotzdem keinen
Schritt weiterkommt, dann ist das ein extrem schlechtes
Beispiel für alle anderen Beitrittsländer. Bei allem Ver-
ständnis für die aktuelle Lage in Griechenland, ich
glaube, wir müssen hier mehr Nachdruck entwickeln.

Das andere dunkle Kapitel ist Bosnien-Herzegowina:
Die Reform des Wahlrechts ist nicht vorangekommen. So
lange wird es auch keine weiteren Annäherungsschritte
an die EU geben können. Sie alle hier kennen meine
Meinung, dass die internationale Gemeinschaft hier
nicht eingreifen sollte, sondern im Gegenteil, die Institu-
tion des Internationalen Hohen Repräsentanten abge-
schafft werden sollte. Ich bin aber sehr froh, dass Valentin
Inzko sich in der aktuellen Lage völlig richtig verhält,
indem er auf die Eigenverantwortung der Politiker des
Landes pocht und nicht für einen vermeintlich leichten
Ausweg sorgt. Das Land muss diesen Schritt selber ge-
hen. Nur dann zeigt es seine Europatauglichkeit.

Zu Serbien: Die Kommission hat keine Aufnahme von
Beitrittsverhandlungen empfohlen. Ich halte das für
richtig. Mit der Verleihung des Kandidatenstatus im
März hat die EU meiner Ansicht bereits eine Vorleistung
erbracht. Serbien muss diesen Vertrauensvorschuss nun

mit Fortschritten bei den Verhandlungen mit Kosovo
erst einmal rechtfertigen.

Wir unterstützen den Vorschlag der Kommission, mit
Kosovo ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkom-
men auszuhandeln. Das hört sich heute nach einem tech-
nischen Schritt an, ich möchte aber daran erinnern, dass
diese Perspektive noch vor wenigen Jahren ganz, ganz
weit entfernt schien.

Ich habe bereits in der ersten Debatte zu diesem An-
trag deutlich gemacht, warum wir ihm wegen verschie-
dener Einzelpunkte nicht zustimmen können, obwohl wir
uns glücklicherweise in diesem Haus über die Grund-
linien sehr einig sind. Ich möchte aber noch eine Bemer-
kung zum Titel des Antrags machen: „ehrliche und faire
europäische Perspektive“. Denn wenn wir ehrlich sind,
dann müssen wir zugeben, dass wir im Grunde nicht
wirklich fair sind. Die jetzigen Beitrittsländer müssen
höhere Anforderungen erfüllen als frühere. Wir schauen
heute wesentlich genauer hin. Natürlich würden wir mit
dem ganzen Serbien/Kosovo-Problem anders umgehen,
wenn wir nicht unsere Erfahrungen mit Zypern gemacht
hätten. Wir würden auch bei Kroatien weniger genau
hinschauen, wenn wir nicht unsere Erfahrungen mit Ru-
mänien und Bulgarien gemacht hätten. Europa hat aus
seinen Fehlern gelernt, und das hat Konsequenzen für
die Kandidatenländer. Das sollten wir ehrlich zugeben.
Diese Strategie liegt aber auch im Interesse der Länder.
Diese wollen einer starken und handlungsfähigen Union
beitreten. Dazu müssen die Kandidatenländer besser
werden, aber auch wir müssen besser werden. Daran ar-
beiten wir.


Thomas Nord (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719833200

Für eine ehrliche und faire europäische Perspektive

der Staaten des westlichen Balkan, so heißt der Antrag
der SPD, den wir heute debattieren. Zur ehrlichen De-
batte gehört auch der Blick in die Vorbedingungen der
jetzigen Situation. Und da muss immer wieder darauf
hingewiesen werden, dass die schwarz-gelbe Regierung
1991 durch ihre vorzeitige Anerkennung von Slowenien
und Kroatien Mitverantwortung für die Eskalation der
nationalistischen Konflikte im ehemaligen Jugoslawien
hat. Zur ehrlichen Debatte gehört auch die Feststellung,
dass die rot-grüne Regierung die Verantwortung für den
völkerrechtswidrigen Angriff auf Rest-Jugoslawien im
Jahr 1999 trägt.

In dem heute zu debattierenden Antrag finden wir
dennoch viele richtige Ansätze. Die Linke begrüßt die
Aussage, den EU-Erweiterungsprozess nicht zu stoppen
und die Zusagen des Europäischen Rates von Thessalo-
niki nicht infrage zu stellen, obwohl die EU selbst im
Moment nicht mehr eine so attraktive Ausstrahlung hat
wie noch 2003. Die EU-Mitgliedschaft bietet für die
Staaten des Westbalkan dennoch eine große Chance auf
eine dauerhaft friedliche Perspektive. Angesichts der
aktuellen Fortschrittsberichte ist dies aber eine Jahr-
hundertaufgabe und keine schnell zu lösende Herausfor-
derung.

Auch wir stehen dazu, dass die Beilegung regionaler
Konflikte und die Anerkennung bestehender Grenzen

Zu Protokoll gegebene Reden





Thomas Nord


(A) (C)



(D)(B)


Bedingung für eine EU-Mitgliedschaft sind. In den sel-
tensten Fällen kann man die Grenzstreitigkeiten in der
Region als bilateral bezeichnen, wie dies im Antrag ge-
tan wird. Deshalb hat sich die Linke gegen die einseitige
Unabhängigkeitserklärung des Kosovo vom 17. Februar
2008 ausgesprochen.

Wir begrüßen, dass Serbien nun den Status eines Bei-
trittskandidaten hat. Allerdings muss hier zur Ehrlich-
keit hinzugefügt werden, dass die Vorbedingung der An-
erkennung eines unabhängigen Kosovo durch Serbien
sich noch als ein Pferdefuß für den gesamten Westbalkan
herausstellen kann. Denn die einseitige Unabhängig-
keitserklärung im Jahr 2008 wird mit dem Gutachten
des internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag zur
Blaupause für weitere territoriale Aufsplitterungen im
ehemaligen Jugoslawien.

Mit der Ankündigung eines Zahlungsstopps betref-
fend die bosnische Armee ist der Ministerpräsident der
Republik Srpska, Milorad Dodik, bereits einen weiteren
Schritt in Richtung seines politischen Vorhabens gegan-
gen, Bosnien-Herzegowina aufzulösen. Das Haltbarkeits-
datum Bosniens sei schon längst abgelaufen, so Dodik
Anfang Oktober. Er fordert ein Referendum zur Ablö-
sung von Srpska aus Bosnien ein. Niemand wird nach ei-
nem der Sezession zustimmenden Referendum glaub-
würdig begründen können, warum für Srpska nicht
gelten soll, was für Kosovo rechtens ist. Die aktuellen
Erwägungen, das Büro des Hohen Repräsentanten für
Bosnien und Herzegowina ins Ausland zu verlagern,
spielen dieser Entwicklung in die Hände. Deshalb ist
aus meiner Sicht nicht nachvollziehbar, warum die EU
in dieser problematischen Situation mit dem Kosovo
noch einen Schritt weitergeht. Trotz der Tatsache, dass
fünf Mitgliedstaaten – Spanien, Griechenland, Slowakei,
Rumänien und Zypern – das Kosovo nicht als eigenstän-
digen Staat anerkennen, will sie einen Stabilisierungs-
und Assoziierungsabkommen auf den Weg bringen. In
der mit den Fortschrittsberichten veröffentlichten Mach-
barkeitsstudie heißt es auf Seite 4: „Die Assoziierung
des Kosovo mit der Europäischen Union ist mit der Tat-
sache vereinbar, dass die Mitgliedstaaten der Union un-
terschiedliche Standpunkte in Bezug auf den völker-
rechtlichen Status des Kosovo haben.“ Es scheint, als
sollte hier das Krisenpotenzial des Westbalkan in die EU
selber hineingetragen werden.

Bosnien-Herzegowina ist derzeit das räumliche und
politische Krisenzentrum. In dem Fortschrittsbericht ist
die Rede davon, dass Korruption sowohl im öffentlichen
Sektor als auch im Privatsektor noch immer ein weitver-
breitetes und gravierendes Problem ist. Die Zersplitte-
rung der Polizeikräfte in Bosnien und Herzegowina
wirkt sich nach wie vor nachteilig auf die Effizienz, die
Zusammenarbeit und den Informationsaustausch aus.
Die Roma sehen sich nach wie vor mit sehr schwierigen
Lebensbedingungen und mit Diskriminierung konfron-
tiert. Positive Wandlungen können kaum festgestellt
werden.

Kroatien soll am 1. Juli 2013 der 28. Mitgliedstaat
der EU werden, aber der Fortschrittsbericht zählt zehn
Punkte auf, die der Aufnahme entgegenstehen. Im Hin-

blick auf den Grenzverlauf sind mit Serbien, Montenegro
und Bosnien-Herzegowina keine konkreten Fortschritte
erzielt worden. Die Romaminderheit lebt unter beson-
ders schwierigen Bedingungen. Bildung, Sozialschutz,
Gesundheitsversorgung, Beschäftigung und der Zugang
zu Personaldokumenten sind weiterhin problematisch.
Bundestagspräsident Lammert fordert angesichts der
Bewertung der Fortschritte in Kroatien einen Stopp der
EU-Erweiterung. Auch die negativen Erfahrungen der
Beitritte von Bulgarien und Rumänien könnten nicht
ignoriert werden. Die EU müsse sich erst selber stabili-
sieren, bevor sie sich erweitern könnte. Hier deutet sich
ein politischer Kurswechsel an, der die Lösung der
Krise eher in der Konzentration auf ein Kerneuropa bzw.
ein Europa der zwei Geschwindigkeiten sieht.

Innenminister Friedrich stößt in das gleiche Horn. Er
will die Visumspflicht für die Balkanstaaten Bosnien-
Herzegowina, Albanien, Mazedonien, Serbien und Mon-
tenegro wieder einführen. Er bekommt von der EU-In-
nenkommissarin Malmström hierin Unterstützung. Erst
im Juni hat die EU Beitrittsverhandlungen mit Monte-
negro beschlossen, obwohl das Land als eines der kor-
ruptesten Länder der Welt gilt. Gegen den gerade ge-
wählten Premierminister Milo Djukanovic laufen in
mehreren westeuropäischen Ländern Verfahren gegen
groß angelegten Zigarettenschmuggel. Seine Familie ist
in zahlreiche Affären verstrickt. Justiz und Medien ste-
hen unter dem Einfluss der Regierung.

Angesichts der realen Lage auf dem Westbalkan ist
schwer nachvollziehbar, warum in der jetzigen Situation
noch von Fortschrittsberichten gesprochen wird. Es sind
Stagnations- oder sogar Rückfallberichte, die wir hier
zur Kenntnis nehmen müssen. Große Teile des Balkan
innerhalb und außerhalb der EU sind heute wieder poli-
tische und ökonomische Zonen der Instabilität. Gerade
deswegen ist es wichtig, an der Idee von einem friedlich
geeinten Kontinent festzuhalten.

Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):

Der Westbalkan bleibt eine fragile und gefährliche
Krisenregion. Es bestehen Spannungen und ungelöste
Konflikte. Die Gefahr eines erneuten Gewaltausbruchs
ist leider immer noch nicht gebannt. Die Region benötigt
trotz Euro-Krise eine hohe Aufmerksamkeit der europäi-
schen Politik.

Die 2003 in Thessaloniki eröffnete Beitrittsperspek-
tive ist ein wichtiges Instrument für Stabilität und Frie-
den auf dem Westbalkan. Der voraussichtliche Beitritt
Kroatiens am 1. Juli 2013 und die Aufnahme von
Beitrittsverhandlungen mit Montenegro sind richtige
Signale. Sie zeigen, dass die Europäische Union weiter
zu der Thessaloniki-Agenda steht. Umso beunruhigen-
der sind aktuelle Äußerungen, die unnötigerweise den
Beitritt Kroatiens und die Visumfreiheit für Serbien und
Montenegro in frage stellen. Gerade die Reisefreiheit
lässt die Menschen auf dem Westbalkan die Vorzüge der
Annäherung an die Europäische Union konkret erleben.
Der Austausch fördert das Zusammenwachsen des
Kontinents und trägt die Erfahrung demokratischer

Zu Protokoll gegebene Reden





Marieluise Beck (Bremen)



(A) (C)



(D)(B)


Bürgergesellschaften in die Transformationsländer Süd-
osteuropas.

Der anstehende Beitritt Kroatiens ist ein Bespiel für
die Reformkraft, die der Beitrittsprozess auslösen kann.
Die EU-Kommission hat aus den vorangegangenen
Erweiterungen gelernt und auf strikte Konditionalität
geachtet. Diese Strategie hat in Kroatien Wirkung ge-
zeigt. Es ist klar, dass auch die anderen Staaten des
Westbalkans nur beitreten können, wenn sie die Bedin-
gungen vollständig erfüllen. Politische Rabatte kann es
nicht geben.

Eine rein technische Erweiterungslogik ist allerdings
nicht ausreichend. Einzelne Länder drohen dabei auf
der Strecke zu bleiben, weil bestehende Konflikte nur
schwer zu lösen sind und ein Fortkommen verhindern.
Deshalb muss die Europäische Union ihr Prinzip von
Anreiz und strikter Konditionalität durch eine aktive
Politik ergänzen, die die bestehenden Konflikte zu lösen
sucht. Nur so kann Chancengleichheit zwischen den
zukünftigen Beitrittsländern hergestellt werden. Und nur
so können die Länder möglichst zeitnah zueinander
beitreten. Sollten einzelne Staaten von der Annäherung
an die Europäische Union abgehängt werden, drohen
sich die bestehenden Spannungen zu verstärken – mit
nicht absehbaren Folgen.

Viele der bestehenden Konflikte auf dem Westbalkan
sind ohne eine Einigung der europäischen Politik nicht
zu lösen. Die Europäische Union muss sich deshalb auf
gemeinsame Grundsätze in der Westbalkanpolitik eini-
gen. Allem zugrunde muss ein klares Bekenntnis zur
Unverrückbarkeit der Grenzen liegen. Vereinzelte
Vorschläge, Länder entlang ethnischer Grenzen zu spal-
ten, bergen unabsehbare Risiken für mögliche Ketten-
reaktionen. Denn in der gesamten Region ist das Zusam-
menleben der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen
und Minderheiten fragil.

Auch gegenüber den einzelnen Ländern des Westbal-
kan muss die Europäische Union Einigkeit herstellen. So
kann der Aufbau des Rechtsstaats im Kosovo durch die
EU-Mission EULEX nur gelingen, wenn alle Mitglieder
der Europäischen Union das Land anerkennen und
EULEX nicht länger statusneutral agieren muss. Weil
eine Teilung des Kosovo aus den genannten Gründen
nicht hingenommen werden kann, ist von Serbien der
Abbau der Parallelstrukturen im Nordkosovo zu fordern.
Vorher kann es keine Beitrittsverhandlungen mit Serbien
geben. Auf lange Sicht ist für den Beitritt Serbiens eine
Anerkennung des Kosovo nötig. Denn gute Nachbar-
schaft ist ein Grundprinzip der Europäischen Union.
Andernfalls könnten die Länder gegenseitig den Beitritt
blockieren oder später durch Blockaden innerhalb der
Union deren Funktionsfähigkeit bedrohen.

Der Namensstreit zwischen Griechenland und Maze-
donien muss endlich beendet werden, damit Mazedonien
Beitrittsverhandlungen aufnehmen kann. In Montenegro
sollten wir in den Bereichen Korruption und organisier-
ter Kriminalität genauer hinsehen, wenn der Reform-
prozess durch die beginnenden Beitrittsverhandlungen
ein Erfolg werden soll. In Bosnien und Herzegowina be-
reiten zwei Jahre Dauerblockade und völliger Stillstand

große Sorge. Dieser Zustand zeigt, dass Anreizpolitik
und Ownership allein nicht ausreichen, um Reformen
anzustoßen. Die Europäische Union hat die weiterhin
bestehende Nachkriegsordnung 1995 in Dayton mit ver-
fasst. Sie hat deshalb nicht nur ein eigenes Interesse,
sondern auch eine Verantwortung, die diskriminierende
und undemokratische Dayton-Verfassung zu überwin-
den. Nur so kann das Land regierbar werden und sich
auf den Beitritt zur Europäischen Union vorbereiten.

Auch wenn die Kräfte der Europäischen Union durch
die Euro-Krise stark gebunden sind, ist eine aktive West-
balkan-Politik dringend nötig. Deutschland sollte mit
seinen zahlreichen Verbindungen in die Region und sei-
nem Gewicht innerhalb der Europäischen Union voran-
gehen und die Initiative auf dem Westbalkan ergreifen.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719833300

Wir kommen zur Abstimmung. Der Auswärtige Aus-

schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/11034, den Antrag der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/9744 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion und der
Fraktion Die Linke gegen die Stimmen der SPD-Frak-
tion bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes und
anderer umweltrechtlicher Vorschriften

– Drucksache 17/10957 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
Rechtsausschuss

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir
die Reden zu Protokoll.


Dr. Thomas Gebhart (CDU):
Rede ID: ID1719833400

Der vorliegende Gesetzentwurf zur Änderung des

Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes und anderer umwelt-
rechtlicher Vorschriften klingt zunächst technisch und
wenig spektakulär. Allerdings geht es darin um nicht we-
niger als um die künftige Infrastruktur in Deutschland,
um den Umbau unserer Energieversorgung, es geht um
die Beteiligung der Öffentlichkeit bei großen Bauvor-
haben wie etwa Industrieanlagen, und es geht vor allem
um die Stellung der Umweltverbände im deutschen
Rechtsgefüge.

Was ist der Hintergrund? Mit Urteil vom 12. Mai
2011 hat der Europäische Gerichtshof den deutschen
Umweltverbänden mehr Klagerechte zugebilligt.
Danach können diese grundsätzlich in einem gerichtli-
chen Verfahren auch die Verletzung der objektiven maß-
geblichen Umweltvorschriften des Unionsrechts geltend
machen. Den Umweltverbänden werden demnach we-
sentlich mehr Klagerechte eingeräumt, als das geltende
deutsche Recht derzeit vorsieht. Diese weitergehende





Dr. Thomas Gebhart


(A) (C)



(D)(B)


Regelung leitet der EuGH aus der Umweltverträglich-
keitsrichtlinie, Richtlinie 85/337/EWG des Rates über
die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öf-
fentlichen und privaten Projekten, ab, die seiner Ansicht
nach umfassendere Klagemöglichkeiten für die Umwelt-
verbände vorsieht. Nach geltendem deutschem Recht
sind Umweltverbände bislang weitestgehend klage-
befugten Personen gleichgestellt. Das deutsche Rechts-
schutzsystem geht im Ansatz – nicht nur in diesem
Bereich – vom Individuum und dessen subjektiven Rech-
ten aus. Den Umweltverbänden soll mit dem Urteil jetzt
die Möglichkeit gegeben werden, auch die Verletzung
objektiver Umweltrechtsvorschriften zu rügen. Die Öff-
nung der Verbandsklage im Verwaltungsverfahren und
der Verwaltungsgerichtsbarkeit bedeutet ein Novum, das
auch in der deutschen Rechtswissenschaft nicht unum-
stritten ist. Dadurch wird die Kontrollfunktion der
umweltrechtlichen Verbandsklage erweitert. Klage-
gegenstand kann nun beispielsweise auch die Wieder-
herstellung der Artenvielfalt sein. Bei dieser Herange-
hensweise sprechen viele von einer Zäsur im deutschen
Rechtsschutzsystem.

Die Bundesregierung hat sich deshalb sehr intensiv
mit der Thematik befasst. Der Gesetzentwurf setzt die
europäischen Vorgaben in nationales Recht um. Da
Deutschland auch nach der Aarhus-Konvention eine er-
weiterte Verbandsklage im Umweltrecht zulassen muss,
ergibt es sich, dass die erweiterte Verbandsklage nicht
nur im Bereich der unionsrechtlich basierten Umwelt-
vorschriften, sondern künftig auf den gesamten deut-
schen Bestand der Umweltrechtsvorschriften Anwendung
findet. Durch die Änderung des Umwelt-Rechtsbehelfs-
gesetzes wird sichergestellt, dass den Umweltverbänden
diese hinreichenden Klagebefugnisse eingeräumt wer-
den.

Alles in allem hat der Gesetzentwurf aber viel Kritik
erfahren. Auch ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich
betonen, dass Deutschland beschlossen hat, seine Ener-
gieversorgung umzubauen. Wir benötigen neue Netze.
Es werden neue Offshorewindenergieanlagen gebaut.
Wir benötigen zur Überbrückung lastschwacher Zeiten
hocheffiziente und flexible Gaskraftwerke. Bei diesen
Bau- und Großvorhaben sind in vielen Fällen Umwelt-
verträglichkeitsprüfungen oder Überprüfungen nach
dem Bundesimmissionsschutzgesetz notwendig. Glei-
ches gilt bei Verkehrsprojekten oder Deponien. Mit der
Neuregelung werden nun bei allen diesen Vorhaben
auch die weitergehenden Klagerechte für die Umwelt-
verbände greifen.

Bereits heute werden zahlreiche Großprojekte ge-
richtlich angefochten. Dies führt – in einigen Fällen
auch begründet – zu erheblichen Verzögerungen, die mit
hohen Kosten für die Unternehmen und schlussendlich
damit auch die Verbraucher verbunden sind. Die Indus-
trie fürchtet daher weitere Verfahrensverzögerungen bei
Großprojekten. Es geht deshalb auch darum, ökologi-
sche Gegebenheiten mit ökonomischen Erfordernissen
in Einklang zu bringen. Ich begrüße daher außerordent-
lich, dass mit dem Gesetzentwurf bewusst ein Ausgleich
geschaffen wird. Danach sieht der Gesetzentwurf in § 4 a
Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz vor, mit flankierenden

Maßnahmen diesen Ausgleich zu schaffen. Sofern die
Umweltverbände die Verletzung objektiven Umwelt-
rechts rügen, müssen sie bestimmte Fristen einhalten
und ihre Klagen ausreichend begründen. Dies ist im An-
gesicht der Herausforderungen, beispielsweise im Be-
reich der Energieversorgung, durchaus angemessen.

Durch die flankierenden Maßnahmen stellen wir
sicher, dass Umweltverbände sich weiterhin genau über-
legen, gegen welche Großvorhaben sie aufgrund ihrer
erweiterten Befugnisse künftig Klage erheben. Dadurch
wollen wir in der konkreten Ausgestaltung sicherstellen,
dass sich die Rahmenbedingungen bei Vorhaben wie
zum Beispiel Infrastrukturprojekten im Energie- oder im
Verkehrsbereich nicht so verändern, dass sich diese
kaum noch durchsetzen lassen. Geschaffen werden soll
ein konstruktives Miteinander. Wir wollen, dass die Um-
weltverbände gestärkt und die Umwelt geschützt wer-
den. Wir wollen aber auch, dass in Deutschland auch
künftig wichtige Infrastrukturprojekte entstehen. Wir
wollen, dass die Akzeptanz von Großprojekten steigt und
eine frühe Öffentlichkeitsbeteiligung geschaffen wird,
und wir wollen, dass Deutschland Industrieland bleibt
und Investitionen in Deutschland weiter stattfinden.
Dass der Bundesrat die komplette Abschaffung des § 4
Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz fordert, ist aus meiner
Sicht unverständlich. Auch den Ländern sollte daran ge-
legen sein, dass wichtige Großprojekte realisiert werden
können.

Darüber hinaus werden weitere europarechtliche Er-
fordernisse mit dem Gesetzentwurf in deutsches Recht
umgesetzt. Beispielsweise wird eine UVP-Pflicht für
Projekte zur Verwendung von Ödland oder naturnahen
Flächen zu intensiver Landwirtschaftsnutzung geschaf-
fen und künftig im Umwelt-Verträglichkeitsprüfungs-
gesetz des Bundes geregelt.

Der Gesetzentwurf wird nun in den Ausschuss über-
wiesen. Am kommenden Montag findet eine Anhörung
statt. Ich bin davon überzeugt, dass der eingeschlagene
Weg im Ergebnis von den Sachverständigen bestätigt
wird.


Josef Göppel (CSU):
Rede ID: ID1719833500

Ich begrüße den Entwurf zur Neugestaltung des Um-

welt-Rechtsbehelfsgesetzes. Durch das Trianel-Urteil
des Europäischen Gerichtshofs vom 12. Mai 2011 wurde
Deutschland veranlasst, das Verbandsklagerecht zu än-
dern. Das Gericht beanstandete die Beschränkungen auf
die Verletzung subjektiver Rechte. Es ist schade, dass
Deutschland erst nach mehrmaliger Aufforderung durch
den Gerichtshof in Luxemburg die Mitbestimmungs-
rechte seiner Bürger erweitert. Deutschland gehört zu
den Mitgliedsländern der Europäischen Union, die Kla-
gerechte noch immer einschränken. Deswegen hat die
Europäische Kommission Ende September ein Verfahren
wegen Vertragsverletzung eingeleitet.

Erst durch den neuen Gesetzentwurf werden Umwelt-
verbandsklagen den Individualklagen gleichgestellt.
Künftig können auch Verbände gegen Verletzungen aller
umweltrechtlichen Vorschriften Klage einreichen.





Josef Göppel


(A) (C)



(D)(B)


Dennoch beschreitet Deutschland noch immer einen
Sonderweg. Das Klagerecht bleibt eingegrenzt. Die
„flankierenden Regelungen“ eines neuen § 4 a UmwRG
schränken Klagerechte auf folgende Weise ein:

Erstens. Die Einführung einer Klagebegründungs-
frist. Zweitens. Das Gericht muss den Sachverhalt einer
behördlichen Entscheidung nur formal auf Vollständig-
keit hin überprüfen, nicht jedoch auf inhaltliche Fehler
oder Lücken. Drittens. Ein Gericht kann erhöhte Anfor-
derungen an die aufschiebende Wirkung von Rechtsbe-
helfen anordnen.

Auch der Bund der deutschen Verwaltungsrichter
sieht hier eine Gefahr. Er befürchtet, dass Deutschland
die Vorgaben aus Brüssel nicht weit genug umsetzt. Die
Verwaltungsrichter hegen weiter Bedenken gegen den
neuen § 4 a UmwRG. Dieser Position schließe ich mich
an. Der Bundesrat hat sich bereits im September für das
Streichen der „flankierenden Maßnahmen“ ausgespro-
chen.

Ich werde mich auch weiterhin dafür einsetzen, dass
Genehmigungen bei fehlerhaften Umweltverträglich-
keitsprüfungen aufgehoben werden müssen. Hier muss
rechtliche Klarheit geschaffen werden.

Anerkannte Umweltverbände werden in ihren Rech-
ten durch die Änderungen zwar gestärkt – das Klage-
recht ist ein wichtiger Schritt zur Mitgestaltung – den-
noch erfüllen die deutschen Vorschläge noch nicht alle
europäischen Anforderungen. Es muss mit weiteren Nie-
derlagen vor dem Europäischen Gerichtshof gerechnet
werden. In Deutschland machen Umweltverbandsklagen
im Übrigen nur 0,03 Prozent aller Verwaltungsgerichts-
verfahren aus. Die Angst vor einer Klageflut ist also
nicht begründet.

Andere europäische Länder haben es vorgemacht.
Auch wir sollten die Bürger stärker einbinden. Dafür
müssen neue Möglichkeiten der Partizipation geschaf-
fen werden.


Dr. Matthias Miersch (SPD):
Rede ID: ID1719833600

Es ist eine traurige Angelegenheit, die es heute zu be-

sprechen gilt. Und es hätte nicht so weit kommen müs-
sen, das steht fest. Die handwerklichen Fehler im Um-
welt-Rechtsbehelfsgesetz waren schon länger klar, der
Reformbedarf ist offensichtlich. Die notwendigen Klar-
stellungen und inhaltlichen Verbesserungen der in unse-
rer Zeit enorm wichtigen Beteiligungsrechte nun auf die
vom Minister Altmaier vorgelegte Art und Weise ange-
hen zu wollen, zeigt schlicht, dass es in dieser Sache
überhaupt kein Problembewusstsein gibt.

Diese mangelnde Ernsthaftigkeit wurde durch Herrn
Minister Altmaier auf einer Pressekonferenz vom
16. August 2012 erneut auch persönlich zur Schau ge-
stellt: Angesprochen auf das Umwelt-Rechtsbehelfsge-
setz, erklärte er, und ich zitiere: „Das hat uns der EuGH
eingebrockt“.

Das Rechtsverständnis des Juristen Altmaier ist be-
merkenswert: Nicht die handwerklichen Fehler des Ge-
setzes sind schuld an der Verurteilung der Bundesrepublik

Deutschland wegen nicht EU-rechtmäßiger Umsetzung
der Aarhus-Konvention und der Richtlinie zum Zugang
zu Gerichten, sondern der EuGH als Überbringer der
schlechten Nachrichten. Hört sich so ein Minister an,
der Einsicht zeigt und die aufgezeigten Rechtswidrigkei-
ten in der Gesetzgebung aktiv und zur allgemeinen Zu-
friedenheit lösen will? Ich denke kaum.

Dabei haben wir als Arbeitsgruppe Umwelt der SPD-
Bundestagsfraktion schon vor Jahren im Plenum mit ei-
ner Erklärung nach § 31 GO auf die Unionsrechtsmän-
gel im Rechtsbehelfsgesetz hingewiesen. Die Beschrän-
kung der Rügebefugnis von Umweltverbänden auf
drittschützende Normen ist offensichtlich eine politisch
motivierte Fehleinschätzung gewesen.

Nun scheint sich diese Erkenntnis bei Herrn Altmaier
auch durchgesetzt zu haben, der Richterspruch des
EuGH hat seinen Reflexionsprozess aber nicht ausrei-
chend angeregt. Betrachtet man den jetzt vorliegenden
Entwurf, so ist immerhin der eben angesprochene Fehler
geheilt. Allerdings hat der Gesetzentwurf im Beratungs-
verfahren vom ersten Entwurf bis zur heutigen Vorlage
an anderen Stellen Änderungen erfahren, die wieder mit
einiger Wahrscheinlichkeit EU-rechtswidrig sein wer-
den.

Die besagten Änderungen gehen auf Interventionen
und ein Positionspapier des Bundesverbandes der Deut-
schen Industrie, BDI, zurück, dessen Formulierungsvor-
schläge – flankiert durch das Bundeswirtschaftsministe-
rium – dann auch teilweise in die Vorlage des BMU
übernommen wurden. Man fragt sich doch manchmal,
wer im BMU eigentlich die Hosen anhat.

Der BDI und das BMWi sind beide nicht eben dafür
bekannt, eine breite Öffentlichkeitsbeteiligung bei Pla-
nungs- und Genehmigungsverfahren zu befürworten,
wie sie der heutigen Zeit und den komplexen Problem-
stellungen in diesen Verfahren angemessen wäre. Viel-
mehr argumentieren sie mit der Straffung der Verfahren,
indem Bürger- und Verbänderechte eingeschränkt wer-
den sollen und der Zugang zu Gerichten erschwert wer-
den soll. Dass auf europäischer Ebene und darüber hi-
naus durch die Aarhus-Konvention schon seit Jahren
genau das Gegenteil, nämlich eine Stärkung der Bürger-
und Verbänderechte, vorangetrieben wird, wird vom
BDI und BMWi, und nun anscheinend auch vom BMU,
leider ignoriert.

Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler hat diese
anachronistische Einstellung mit seiner Forderung un-
terstrichen, man müsse europäisches Naturschutzrecht
mal eben bei der Planung von Stromleitungen außer
Kraft setzen können. Im BDI-Positionspapier liest sich
das dann so: „Vor dem Hintergrund der aktuellen politi-
schen Bemühungen zur Beschleunigung von Planungs-
und Genehmigungsverfahren ist die Ausweitung der
Klagerechte kontraproduktiv“ und „Der Ausweitung der
Klagerechte für Verbände hinsichtlich des Gerichtszu-
gangs müssen interessengerechte Beschränkungen ge-
genüberstehen, um die Ausgewogenheit des deutschen
Rechtsschutzsystems zu gewährleisten“. Zu diesem
Zweck wurden daher im Gesetzentwurf die Präklusions-
regeln verschärft und formale Hürden in der Verwal-





Dr. Matthias Miersch


(A) (C)



(D)(B)


tungsgerichtsordnung geschaffen, die mit einem hohen
europarechtlichen Risiko verbunden sind. Ein Schelm,
wer bei dem aktuell vorliegenden Entwurf des BMU nun
Böses denkt.

Wir haben auf Basis dieser Überlegungen eine Sach-
verständigenanhörung im Umweltausschuss beantragt
und werden das weitere Gesetzgebungsverfahren kri-
tisch begleiten. Ziel des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes
muss nicht nur seine EU-Konformität sein, sondern auch
dem Geist des Gesetzes muss Rechnung getragen wer-
den: Vorausschauende, transparente und bürgernahe
Planungsverfahren mit breiten Beteiligungsmöglichkei-
ten für Betroffene und Verbände werden letztlich dazu
führen, Genehmigungsprozesse zu beschleunigen und
weniger kostenintensiv zu gestalten. Wer erst alles
durchwinkt und sich nachher auch noch über Ärger
wundert, der hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt.


Judith Skudelny (FDP):
Rede ID: ID1719833700

Derzeit bestimmt § 2 des Umwelt-Rechtsbehelfsgeset-

zes, UmwRG, dass den Umweltverbänden nur dann ein
eigenes Klagerecht zusteht, wenn sie Vorschriften rügen,
die dem Umweltschutz dienen, Rechte Einzelner begrün-
den und für die Entscheidung von Bedeutung sein kön-
nen.

Genau diese Beschränkung stellt heute das Problem
dar. Nach dem sogenannten Trianel-Urteil des Europäi-
schen Gerichtshofs (EuGH C-115/09) vom 12. Mai 2011
sind Vorschriften des deutschen Umwelt-Rechtsbehelfs-
gesetzes über den Gerichtszugang nicht mit Art. 10 a der
UVP-Richtlinie der EU – jetzt Art. 11 – vereinbar, soweit
anerkannte Umweltvereinigungen darin auf die Rüge
der Verletzung subjektiv-öffentlicher Rechte beschränkt
werden. Der nationale Gesetzgeber darf zwar den Ge-
richtszugang von Einzelpersonen entsprechend eingren-
zen, nicht jedoch den Gerichtszugang anerkannter Um-
weltvereinigungen.

Damit sind die Klagemöglichkeiten für Umweltver-
bände nach geltendem deutschem Recht auf drittschüt-
zende und auf dem Europarecht basierende Normen be-
schränkt. Dies ist nach dem oben genannten EuGH-
Urteil europarechtswidrig.

Der EuGH hat dies damit begründet, dass nach
Art. 10 a der UVP-Richtlinie, mit dem die Europäische
Union Vorschriften der UNECE-Aarhus-Konvention
über den Gerichtszugang in Umweltangelegenheiten
umgesetzt hat, Umweltverbände die Möglichkeit erhal-
ten müssen, die Verletzung aller für die Zulassung von
Vorhaben maßgeblichen Umweltvorschriften gerichtlich
geltend machen zu können, die auf dem Unionsrecht ba-
sieren. Anerkannten Umweltverbänden ist danach in
Umweltangelegenheiten ein weiterer Zugang zu den Ge-
richten zu gewähren. Es bedarf somit einer Anpassung
des deutschen Rechts an die europarechtlichen Vorga-
ben.

Seit dem 10. Oktober 2012 liegt daher ein Gesetzent-
wurf der Bundesregierung zur Änderung des Umwelt-
Rechtsbehelfsgesetzes und anderer umweltrechtlicher

Vorschriften vor, um insbesondere bei dieser Problema-
tik Abhilfe zu schaffen.

Umweltverbände sind damit nicht mehr auf die Gel-
tendmachung von Grundrechtsverstößen beschränkt, die
auch die betroffenen Bürgerinnen und Bürger zu einer
Klage berechtigen würden. Mit seinem Urteil hat der
EuGH die Rechte von anerkannten Umwelt- und Natur-
schutzverbänden in Deutschland damit gestärkt. Diese
können nun auch die Beachtung eines vorsorgenden
Umweltschutzes, beispielsweise im Bereich der Luftrein-
haltung und des Artenschutzes, einfordern. Dies geht
deutlich über die bisherigen Klagerechte hinaus.

Ziel des vorliegenden Gesetzentwurfs ist es, neben
der europarechtlich gebotenen Ausweitung des Ver-
bandsklagerechts auch einen Ausgleich zwischen Um-
weltschutz und der Verwirklichung von Großprojekten
zu schaffen, beispielsweise solchen, die zur Umsetzung
der Energiewende notwendig sind, aber auch Vorhaben
der Wirtschaft, um Arbeitsplätze in Deutschland zu hal-
ten. Es geht insgesamt nicht nur um Projekte wie den
Bau von Automobilfabriken, Stahl- oder Kohlekraftwer-
ken, sondern auch um den dringend notwendigen Aus-
bau der Stromnetze und Speicherkraftwerke. Wenn man,
wie die Grünen, mit Nachdruck den Ausstieg aus der
Atomkraft und die Energiewende gefordert hat, dann
muss man jetzt auch ehrlich zu den Bürgern und konse-
quent im Handeln sein.

Art. 1 des Gesetzentwurfs enthält die zur Umsetzung
des Trianel-Urteils notwendigen Änderungen des
UmwRG. Dazu ist vorgesehen, bei der Umweltverbands-
klage die bisherige Beschränkung der Rügebefugnis auf
individualrechtsschützende Umweltvorschriften ersatz-
los entfallen zu lassen.

Die Art. 2 bis 13 des Entwurfs enthalten weitere punk-
tuelle Anpassungen verschiedener Rechtsvorschriften.
Bei diesen Änderungen ergibt sich der Regelungsbedarf
nicht aus dem Trianel-Urteil. Vielmehr geht es um die
Umsetzung von Vorgaben, die sich aus anderen Urteilen
des EuGH und aus Forderungen der Europäischen
Kommission ergeben, ferner um inhaltliche Klarstellun-
gen sowie redaktionelle und rechtstechnische Korrektu-
ren.

Die Herausforderung bei der Novellierung des Um-
welt-Rechtsbehelfsgesetzes besteht darin, einen Aus-
gleich zwischen der europarechtlich gebotenen Auswei-
tung der Verbandsklage und der Umsetzung bzw.
Verfahrensbeschleunigung bei dringend notwendigen
Infrastrukturprojekten zu schaffen; denn es ist zu be-
fürchten, dass durch die Ausweitung der Verbandsklage
die Genehmigungsdauer für Projekte noch weiter zu-
nimmt und auch die Kosten für diese Projekte weiter
steigen. Hierdurch könnte für Deutschland ein erheb-
licher Wettbewerbsnachteil entstehen. Diese Interessen
will der vorliegende Gesetzentwurf berücksichtigen. Ziel
ist es, die möglichen kontraproduktiven Wirkungen von
Verbandsklagen abzufedern. Insbesondere soll verhin-
dert werden, dass das Instrument der Verbandsklage in
der Praxis zu sachlich ungerechtfertigten Verzögerun-
gen von Vorhaben instrumentalisiert wird.

Zu Protokoll gegebene Reden





Judith Skudelny


(A) (C)



(D)(B)


Dazu wird beispielsweise mit dem neuen § 4 a „Maß-
gaben zur Anwendung der Verwaltungsgerichtsord-
nung“ eine zwingende Klagebegründungsfrist von sechs
Wochen eingeführt. Die Klagebegründungsfrist be-
schneidet nicht die Möglichkeit des Gerichts, darauf
hinzuwirken, dass unerfahrene oder nicht fach- und
rechtskundige Individualkläger sachdienliche Tatsachen
und Beweismittel vortragen. Diese Klagebegründungs-
frist kann auf Antrag durch das Gericht nach seinem Er-
messen verlängert werden.

Die Verbandsklage bezieht sich auf nahezu alle indus-
trierelevanten Entscheidungen, wenn mit ihr behörd-
liche Entscheidungen bei UVP-pflichtigen Vorhaben,
Genehmigungen für Anlagen nach einem förmlichen
immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren,
wasserrechtliche Erlaubnisse und Planfeststellungsbe-
schlüsse für Deponien angegriffen werden können. Dies
zeigt die hohe praktische Relevanz und Bedeutung die-
ses Gesetzentwurfs, insbesondere vor dem Hintergrund
der Herausforderungen der Energiewende. Als liberale
Partei wollen wir in Deutschland Vorhaben verwirk-
lichen und nicht ausbremsen; denn bereits jetzt dauern
Genehmigungsverfahren in Deutschland zu lange.


(Drucksache 17/7888)

über die europarechtlichen Anforderungen hinausgehen,
würden die Klagemöglichkeiten erheblich ausgeweitet,
wodurch Deutschland ein wesentlicher Wettbewerbs-
nachteil entstehen würde. Wir wollen Arbeitsplätze in
Deutschland halten und neue schaffen. Dazu benötigen
wir Vorhabenträger, die weiterhin in den Standort
Deutschland investieren. Was wir nicht brauchen, sind
Forderungen wie die der Grünen, die den Wirtschafts-
standort Deutschland und damit Arbeitsplätze gefähr-
den.

Das bedeutet nicht, dass wir die demokratischen Mit-
wirkungsrechte der Bürger beschneiden wollen. Die He-
rausforderungen der Energiewende beispielsweise wol-
len wir nicht gegen die Bevölkerung durchsetzen,
sondern mit ihr umsetzen. Die bestehenden Klagemög-
lichkeiten haben sich dazu als ausreichend und ange-
messen erwiesen. Eine über die Vorgaben des EuGH
hinausgehende Erweiterung der Klagemöglichkeiten ist
nicht erforderlich.

Ziel muss es sein, ein ausgewogenes Maß an demo-
kratischen Mitwirkungsrechten der Bürger auf der einen
Seite und die Umsetzbarkeit von notwendigen Vorhaben
wie dem Netzausbau und dem Bau von Speicherkraft-
werken auf der anderen Seite zu gewährleisten.


Sabine Stüber (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719833800

Zu der heute vorliegenden Novelle der Bundesregie-

rung zum Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz fällt mir nur noch
die Filmkomödie „Und täglich grüßt das Murmeltier“
ein. Die Debatten um das Recht der Umweltverbände
und jeder Person, Genehmigungen von Großvorhaben
gerichtlich überprüfen zu lassen, finden in diesem
Hause seit Jahren mit schöner Regelmäßigkeit statt.

Worum geht es? Es geht um die Aarhus-Konvention,
eine Vereinbarung der europäischen Länder zu mehr
Bürgerrechten in Umweltfragen, die 2001 in Kraft trat.
In Europa hat seitdem jede Person das Recht auf Infor-
mationen über die Einhaltung von Umweltvorschriften
bis hin zur Klagemöglichkeit bei Beeinträchtigungen der
Umwelt durch Großvorhaben. Die Bundesregierung hat
dazu mit großer Verspätung, erst 2006, ein sehr halbher-
ziges Gesetz verabschiedet. Und auch das muss gesagt
werden, der damalige Bundesumweltminister der SPD,
Sigmar Gabriel, hat dabei keine besonders rühmliche
Rolle gespielt. Meine Fraktion hat damals darauf hinge-
wiesen, dass das Gesetz unzureichend ist und mit einem
Entschließungsantrag die Bundesregierung aufgefor-
dert, umgehend einen neuen Gesetzentwurf vorzulegen,
der den geforderten Rechtsschutz aller Umweltbelange
durchsetzt. Der Europäische Gerichtshof hat unsere Kri-
tik mit seiner Entscheidung im Mai 2011 bestätigt. Nur
wenige Monate später erinnerten die Grünen mit einem
Gesetzentwurf die Bundesregierung an ihre nicht erle-
digte Hausaufgabe.

Nach einem weiteren Jahr haben Sie nun, meine Da-
men und Herren auf der Regierungsbank, eine Gesetzes-
novelle vorgelegt. Aber Sie wollen damit das bisher
schon unzulängliche Klagerecht in unserem Land noch
weiter einschränken. Das ist das Gegenteil von dem,
was der Europäische Gerichtshof entschieden hat. Und
das ist das Gegenteil von Bürgerbeteiligung, Transpa-
renz und Akzeptanz, die Bundesminister Altmaier vor
wenigen Wochen als seine Arbeitsschwerpunkte postu-
liert hat. Hier wird geltendes Recht komplett auf den
Kopf gestellt. Selbst der Bundesrat versagt dafür die Ge-
folgschaft. Diese Gesetzesnovelle ist so nicht haltbar.
Das werden in der nächsten Woche auch die Sachver-
ständigen der öffentlichen Anhörung des Umweltaus-
schusses im Bundestag bestätigen.

So durchsichtig präsentiert uns die Bundesregierung
ihre Klientelpolitik auch nicht alle Tage. Und wenn die
möglichen Auswirkungen auf unsere Lebensumwelt
nicht so gravierend wären, hätte das Ganze sogar einen
gewissen Unterhaltungswert. Was steckt also dahinter,
wenn bei Verstößen gegen Umweltvorschriften das Kla-
gerecht weiter eingeschränkt werden soll? Zeit – es geht
um Zeitgewinn für weitere Genehmigungen von Groß-
projekten, die eben nicht die Umweltstandards einhal-
ten. Wahrscheinlich reicht das dem FDP-Wirtschaftmi-
nister Rösler schon. Aber das ist ganz schlechter Stil und
wird kaum zur Verbesserung des derzeit schlechten Ima-
ges der Politik beitragen.

Ich fordere die Bundesregierung heute erneut auf,
umgehend einen neuen Gesetzentwurf vorzulegen, der
den Rechtsschutz aller Umweltbelange durchsetzt und
damit das vom Europäischen Gerichtshof bestätigte un-
eingeschränkte Informations- und Klagerecht für alle
Personen und Umweltverbände gegen die Genehmigung
aller Großprojekte, die Umweltvorschriften nicht ein-
halten. Dabei empfehle ich, den Grünen-Gesetzentwurf
aus dem letzten Jahr und den Antrag der Linken aus dem
Jahr 2006 hinzuzuziehen. Darin findet sich alles, um
dieses Gesetz zu dem zu machen, was es sein soll und
was die Bürgerinnen und Bürger von ihm erwarten: die

Zu Protokoll gegebene Reden





Sabine Stüber


(A) (C)



(D)(B)


Umsetzung des Gedankens der Aarhus-Konvention, so
wie es erstmals im Völkerrecht verankert wurde, in deut-
sches Recht. Das heißt, ich sage es zum Schluss noch
einmal: Jede Person hat das Recht auf Information, Be-
teiligung und Klagemöglichkeit zum Schutz der Umwelt.


Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719833900

Das gute alte Sprichwort „Was lange währt, wird

gut“, stimmt in diesem Fall leider gar nicht. Nach einer
fast einjährigen Ressortabstimmung und anderthalb
Jahre nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs
legt die Bundesregierung nun endlich einen Gesetzent-
wurf zum Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz vor. Dieser aber
ist eine Enttäuschung auf ganzer Linie. Wir haben be-
reits Ende letzten Jahres einen fachlich fundierten Ge-
setzentwurf vorgelegt, den Sie postwendend abgelehnt
haben. Hätten Sie mal damals unserem Gesetzentwurf
zugestimmt, dann hätte wir heute ein modernes und eu-
roparechtskonformes Beteiligungsrecht im Umweltbe-
reich. Stattdessen haben wir hier nun einen Entwurf auf
dem Tisch, der leider nicht zustimmungsfähig ist, weil er
erneut zu erheblichen Rechtsunsicherheiten führen wird.

Lassen Sie mich daran erinnern, welches der eigent-
liche Grund für die Neuregelung ist. Mit dem sogenann-
ten Trianel-Urteil stellte der Europäische Gerichtshof
fest, dass das deutsche Verbandsklagerecht nicht euro-
parechtskonform ist. Die Klagemöglichkeiten der Bür-
gerinnen und Bürger werden bisher unverhältnismäßig
stark eingeschränkt. Dies wurde zwar auch bereits bei
der Verabschiedung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes
von der Opposition und dem Sachverständigenrat für
Umweltfragen kritisiert, aber sie brauchten ja erst ein
Gerichtsurteil, um dies zu glauben.

Und was passiert nun, nachdem sie über anderthalb
Jahre Zeit hatten, darüber nachzudenken, wie dieses
recht deutliche Urteil umgesetzt werden kann? Sie legen
einen Gesetzentwurf vor, der absolut unzureichend ist.
Ich habe größte Zweifel, ob die vorgeschlagene Neurege-
lung den europa- und völkerrechtlichen Vorgaben ent-
spricht. Insbesondere die Regelungen der Aarhus-Kon-
vention werden sträflich missachtet. Das novellierte
Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz wird daher erneut gericht-
lich zu überprüfen sein. Eine Mehrbelastung der Ge-
richte, die sich eigentlich niemand wünschen kann, und
eine Verzögerung einer eindeutigen Gesetzgebung sind
die Folgen.

Und wenn Sie mir nicht glauben wollen, dann warten
Sie die Anhörung am Montag ab. Da werden Ihnen die
Gutachterinnen und Gutachter mit Sicherheit die Schwä-
chen Ihres Gesetzentwurfs verdeutlichen. Verschließen Sie
sich nicht allen Argumenten, und ergreifen Sie die
Chance, im parlamentarischen Verfahren den Gesetz-
entwurf so zu korrigieren, dass die Rechtsunsicherheiten
auf ein Minimum reduziert werden.

Da Sie nur zähneknirschend akzeptieren wollen, dass
die Klagemöglichkeiten gegen Vorhaben mit Umwelt-
auswirkungen ausgeweitet werden müssen, versuchen

Sie nun auf leicht durchschaubare Weise, durch die Hin-
tertür, die Klagemöglichkeiten wieder zu beschränken.
Sachliche Gründe für Einschränkungen beispielsweise
bei der Begründungsfrist oder bei der Begrenzung des
Rechtsschutzes gibt es nicht. Und bitte kommen Sie mir
nicht wieder mit dem Argument, mehr Klagerechte wür-
den allein dazu missbraucht, wichtige Infrastrukturpro-
jekte zu verzögern. Dies ist, gelinde gesagt, eine Unter-
stellung der übelsten Art, werte Kollegen von CDU/CSU
und FDP. Umfassende Klagemöglichkeiten führen häu-
fig dazu, dass sorgsamer geplant wird, dass alle umwelt-
rechtlichen Vorschriften eingehalten werden, und sie
steigern die Akzeptanz. Nur schlecht geplante Projekte,
bei denen, absichtlich oder fahrlässig, bestehende
Rechtsvorschriften ignoriert werden, müssen erweiterte
Klagemöglichkeiten fürchten.

Die Verbandsklage ist das erfolgreichste Instrument
zum Abbau von Vollzugsdefiziten im Naturschutzrecht.
Wir Grüne wollen auch, dass die Vollzugsdefizite im
Umweltrecht abgebaut werden. Bei Ihnen, werte Kolle-
gen von CDU/CSU und FDP, gewinnt man aber eher
den Eindruck, dass es Ihnen ganz recht ist, wenn mög-
lichst viele Vollzugsdefizite beim Umweltrecht entstehen.
Sie wollen anscheinend nicht, dass die bestehende Ge-
setzgebung möglichst konsequent umgesetzt wird. Das
zeigt sich nicht nur hier, sondern auch darin, dass in den
Ländern, in denen Schwarz-Gelb regiert, die Umwelt-
verwaltungen systematisch kaputtgespart werden oder
wurden. Ohne Fachverwaltung lässt sich der Vollzug
nicht mehr kontrollieren und ohne umfassende Klage-
rechte kann auch niemand mehr einen ordnungsgemä-
ßen Vollzug einklagen.

Aber damit werden Sie nicht durchkommen; wir wer-
den auf Bundesebene dafür sorgen, dass es zukünftig
starke Klagerechte für Umweltverbände gibt. Und wir
werden auf Landesebene die von Ihnen kaputtgesparten
Umweltverwaltungen wieder stärken. Wir machen Um-
weltpolitik nicht allein für den Grünen Tisch, wir wollen
Umweltgesetze auch umsetzen.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719834000

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 17/10957 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales

(11. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja
Seifert, Dr. Martina Bunge, Matthias W.
Birkwald, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE

Behindern ist heilbar – Unser Weg in eine
inklusive Gesellschaft





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja
Seifert, Dr. Martina Bunge, Agnes Alpers,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Teilhabesicherungsgesetz vorlegen

– Drucksachen 17/7872, 17/7889, 17/10008 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Maria Michalk

Auch hier nehmen wir, wie in der Tagesordnung aus-
gewiesen, die Reden zu Protokoll.


Maria Michalk (CDU):
Rede ID: ID1719834100

Wohl niemand bestreitet in diesem Hohen Haus, dass

inklusive und integrative Ansätze seit langem sich wie
ein roter Faden durch unsere parlamentarische Arbeit
ziehen. Wir wollen die Rahmenbedingungen für die Teil-
habe von Menschen mit Behinderungen in allen Berei-
chen unserer Gesellschaft voranbringen. Inklusion ist
die konsequente Weiterentwicklung von dem, was wir
vor langer Zeit unter dem Begriff der „Integration“ be-
gonnen haben.

Unter Integration wird die Eingliederung von Außen-
stehenden in etwas Bestehendes verstanden.

Inklusion bedeutet aber Einbeziehung und Öffnung
des Bestehenden. Das bedeutet, selbst auf andere zuzu-
gehen, eigene Grenzen zu verschieben. Wenn wir Teil-
habe, Chancengleichheit und Vielfalt in unserer Gesell-
schaft verwirklichen wollen, müssen wir uns selbst
öffnen. Das bedeutet:Wir brauchen eine gesellschaftlich
tragfähige Kultur der Inklusion. Vorbehalte, Begeg-
nungsängste, Umgangsunsicherheiten und ähnliche Er-
scheinungsformen müssen überwunden werden, und
zwar von jedem einzelnen von uns. Am erfolgreichsten
wird dieser Prozess gelingen, je intensiver sich jede Bür-
gerin und jeder Bürger mit diesen Fragen beschäftigt,
unabhängig davon, ob eine persönliche Betroffenheit in
der Familie, im Freundes- oder Kollegenkreis vorliegt.

Mut machen dazu gelungene Beispiele aus dem wah-
ren Leben, so wie ungelöste Situationen natürlich Zwei-
fel an der Verwirklichung dieses Zieles schüren.

Ich möchte nicht nur zum Nachdenken anregen, son-
dern zum Handeln vor Ort. Das liegt ganz im Interesse
der Kampagne der Bundesregierung, die unter anderem
mit dem Motto „Behindern ist heilbar“ für Offenheit
und aktives Handeln wirbt. Insofern ist Mahnung aus
dem Antrag der Linken kein neuer Ansatz, und die auf-
geführten 10 Punkte sind keine neue Idee. Ich will daran
erinnern, dass wir den Nationalen Aktionsplan der Bun-
desregierung sowohl im Deutschen Bundestag debattiert
als auch Anhörungen zu ihm durchgeführt haben. Er ist
kein Gesetz, sondern ein Programm, das selbstverständ-
lich immer wieder mit neuen Umsetzungsideen angerei-
chert wird. Ich will auch daran erinnern, das in
Deutschland das Diskriminierungsverbot existiert. Im
Bundeshaushalt sind finanzielle Grundlagen aufgenom-
men, die in der mittelfristigen Finanzplanung fortge-
schrieben werden.

Das geforderte „Screening“ aller bestehenden Ge-
setze und Verordnungen auf behindertenrelevante The-
menstellungen ist ein ständiger Prozess und parlamenta-
rische Praxis. Auch die Forderung, den Kostenvorbehalt
in § 13 SGB XII aufzuheben, ist unrealistisch, weil damit
das Subsidiaritätsgebot aufgegeben wird. Und eine hö-
here Sensibilität bei den Ausschreibungen von öffentli-
chen Aufträgen, Projekten und Maßnahmen in diesem
Bereich unter Qualitätsgesichtspunkten zu erreichen –
auch dieser Punkt ist parlamentarisch bearbeitet und auf
den Weg gebracht. Im Übrigen ist darauf zu verweisen,
dass eine offizielle Übersetzung der BRK verwendet
wird, die keine Interpretationsspielräume zulässt. Wohl
niemand kann ernsthaft bestreiten, dass der Konsultati-
onsprozess und die Erarbeitung des NAP unter breiter
Einbeziehung der betroffenen Menschen und ihrer Inter-
essensvertretungen stattgefunden hat und in der Umset-
zung der permanente Dialog gepflegt ist, weil unstrittig
ist, dass nicht über Menschen mit Behinderungen ge-
sprochen wird, sondern mit ihnen. Sie sind Experten in
eigener Sache.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass alle 10 Punkte
aus dem Antrag bereits heute „unser täglich Brot“ sind.
Der Antrag hat sich erledigt bzw. wäre nicht notwendig.

Die weitere Aufforderung, ein Teilhabesicherungsge-
setz vorzulegen, ist parlamentarisch zwar legitim, aber
nicht verantwortungsvoll. Es liegt uns allen am Herzen,
die volle und wirksame Teilhabe für Menschen mit Be-
hinderungen durch flächendeckende, soziale, inklusiv
ausgestaltete Infrastrukturgegebenheiten zu sichern.
Und der Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile ist
unser gemeinsames Ziel. Das ist auch das Wesensmerk-
mal des SGB IX in seiner aktuellen Fassung. Nicht von
ungefähr ist der Beschluss der SMK zustande gekom-
men, stärker als bisher die individuelle Situation des je-
weils Betroffenen zu berücksichtigen.

Ich habe es bereits in meiner Rede zur 1. Lesung die-
ses Antrages gesagt: Der Paradigmenwechsel im SGB
IX, der vom Gesetzgeber beschlossen und mit der UN-
Behindertenrechtskonvention unterstrichen wurde, muss
vor Ort gelebt werden. Vor Ort ist das Mühen deutlich
erkennbar. Aber leider erreichen uns immer wieder Bei-
spiele, dass vom Gesetzgeber gegebene Entscheidungs-
spielräume zum Nachteil des Betroffenen nicht genutzt
werden. Das muss sich ändern.

Deshalb ist auch der Beschluss der Bund-Länder-Ar-
beitsgruppe zur Weiterentwicklung der Eingliederungs-
hilfe der ASMK so wichtig, wo vereinbart wurde, dass
ein Verfahren etabliert werden sollte, das den Menschen
mit Behinderungen in seiner Situation ganzheitlich er-
fasst, ihn aktiv einbezieht und sein Wunsch- und Wahl-
recht berücksichtigt. In Zukunft sollte also stärker als
bisher die Gesamtplanung der Unterstützungsnotwen-
digkeiten und -möglichkeiten erfolgen, und zwar träger-
übergreifend. Die trägerübergreifende Arbeit ist nach
der Gesetzeslage bereits heute möglich, wird aber in viel
zu geringem Umfang praktiziert. Da sind wir uns einig.
Hintergrund ist natürlich die Kostenbetrachtung. Uns ist
die Forderung, die Bund-Länder-Finanzbeziehungen in
diesem Bereich zu überprüfen und neu zu regeln, nicht





Maria Michalk


(A) (C)



(D)(B)


verborgen geblieben. Ich denke, wir müssen uns mit die-
ser Frage beschäftigen, aber nicht auf der Grundlage ei-
nes neuen Behindertenbegriffs, wie im Antrag beschrie-
ben. Was wir brauchen, ist ein nach festen Kriterien
agierendes, für alle Bundesländer verbindliches Verfah-
ren. Die Gesetzesgrundlage ist das eine, die Ausfüh-
rungsbestimmungen und die gängige Praxis in den Län-
dern das andere. Das beweist der sehr breite Korridor
der bewilligten Eingliederungshilfe je Person im jewei-
ligen Land.

Die Komplexität dieser Thematik verbietet Schnell-
schüsse. Ich wünsche mir auch, dass wir in der gemein-
samen Arbeit zwischen Bund und Ländern in diesem
Themenbereich zu einem tragfähigen Ergebnis kommen.
Aber wie Sie wissen, hält der seit Jahren geführte inten-
sive Diskussionsprozess an. Da alle hier im Deutschen
Bundestag vertretenen Fraktionen in unterschiedlicher
Konstellation Regierungsverantwortung in den Ländern
tragen, haben wir uns gegenseitig keinen Vorwurf zu
machen.


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1719834200

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken. Ich bin

Ihnen sehr dankbar, dass Sie mit Ihren beiden Anträge
„Behindern ist heilbar – unser Weg in eine inklusive Ge-
sellschaft“ und „Teilhabesicherungsgesetz vorlegen“,
die wir heute diskutieren, einen Beitrag dazu leisten, die
Diskussion über die Behindertenrechtskonvention auf-
rechtzuerhalten. Die Ermöglichung einer gleichberech-
tigten und selbstbestimmten Teilhabe für Menschen mit
Behinderungen ist mir eine Herzensangelegenheit und
sollte auch zu keinem Zeitpunkt aus dem Fokus unserer
politischen Arbeit geraten.

Mit dem Nationalen Aktionsplan der Bundesregie-
rung sorgt die unionsgeführte Bundesregierung für eine
umfassende Umsetzung der UN-Behindertenrechtskon-
vention und kommt einen großen Schritt voran auf dem
Weg in eine inklusive Gesellschaft. Der Nationale Ak-
tionsplan hat bereits und wird auch weiterhin das Leben
der rund 9,6 Millionen Menschen mit Behinderung in
Deutschland maßgeblich verbessern und beeinflussen.
Aber wir wollen nicht nur die physischen Barrieren be-
seitigen, sondern auch die psychischen, die eine Integra-
tion und Berührungen mit Menschen mit Behinderungen
erschweren. Mit den zahlreichen Einzelprojekten in un-
serem Aktionsplan beseitigen wir eben diese Barrieren.

Aufführen möchte ich hier zum Beispiel die Aufhe-
bung der 50-km-Regelung nach § 147 Abs. 1 SGB IX, die
das Bundesministerium für Arbeit und Soziales mit der
Deutschen Bahn ausgehandelt hat. Diese Regelung er-
möglicht den schwerbehinderten bzw. Schwerkriegsge-
schädigten Reisenden eine bundesweite, kostenfreie
Nutzung der Nahverkehrszügen der DB Regio AG.

Anführen möchte ich an dieser Stelle auch die
Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung – BITV –
2.0, welche sicherstellt, dass öffentlich zugängliche In-
ternetdienste und -angebote der Bundesverwaltung für
Menschen mit Behinderung uneingeschränkt genutzt
werden können.

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken: Wenn
Sie in Ihrem Antrag eine Einbeziehung der betroffenen
Menschen fordern, dann darf ich Sie darauf hinweisen,
dass die Entwicklung des Nationalen Aktionsplans ge-
rade gemeinsam mit Menschen mit Behinderung und ih-
ren Verbänden stattfand. Hierdurch wurden Qualität und
Wirkung der Maßnahmen gewährleistet.

Bemerkenswert finde ich auch, dass Sie sich sogar
den Titel der Kampagne des Bundesministeriums für Ar-
beit und Soziales „Behindern ist heilbar“, mit dem das
selbstverständliche Zusammenleben von Menschen mit
und ohne Behinderung in das Bewusstsein aller Men-
schen in Deutschland gebracht werden soll, zu eigen ge-
macht haben.

Ich freue mich, dass auch Sie die Kampagne für ge-
lungen erachten.

Aber zurück zu Ihrem Antrag: Mit der Forderung
nach zahlreichen neuen Leistungsansprüchen und der
Aufhebung der Anrechnung von Einkommen und Vermö-
gen in der Eingliederungshilfe unterlaufen Sie das Sys-
tem der beitragsfinanzierten Vorsorge und stellen auf
eine überwiegend steuerfinanzierte Leistung ab.

Mit der Einführung eines Teilhabesicherungsgesetzes
zulasten des Bundes mit generell bedürftigkeitsunabhän-
gigen Teilhabeleistungen – die im Übrigen deutlich über
den derzeitigen Aufwendungen für die Eingliederungs-
hilfe liegen würden und nicht gegenfinanziert sind – lö-
sen Sie die strukturellen Probleme der Eingliederungs-
hilfe für behinderte Menschen nicht.

Des Weiteren wäre eine zusätzliche Belastung für den
Bundeshaushalt in Milliardenhöhe vor dem Hintergrund
der in der letzten Sitzungswoche in erster Lesung debat-
tierten vollständigen Übernahme der Kosten der Grund-
sicherung im Alter und bei Erwerbsminderung durch
den Bund nicht vertretbar.

Meine sehr geehrten Damen und Herren der Fraktion
Die Linke, lassen Sie mich abschließend nochmals be-
tonen, dass ich Ihnen für Ihren Diskussionsbeitrag
dankbar bin – allerdings ist die Behindertenpolitik der
christlich-liberalen Koalition nicht von unerreichbaren
Versprechungen und einer fahrlässigen Auseinanderset-
zung mit den haushaltsrechtlichen Rahmenbedingungen
gekennzeichnet, sondern von realistischen Maßnahmen,
die Schritt für Schritt wirkungsvoll umgesetzt werden
und auf einer notwendigen, belastbaren Kostenfolgen-
abschätzung basieren. Wir sind mit unserem Aktionsplan
zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention
auf einem sehr guten Weg.

Daher müssen wir Ihre beiden Anträge leider ableh-
nen.


Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
Rede ID: ID1719834300

Wir befassen uns heute mit zwei Anträgen der Frak-

tion Die Linke. In dem einen Antrag wird ein Teilhabege-
setz gefordert; der andere Antrag trägt den Titel „Behin-
dern ist heilbar – Unser Weg in eine inklusive
Gesellschaft“. Dieser Weg ist lang. Auch wir müssen im
Bundestag noch so manche Barrieren beseitigen.

Zu Protokoll gegebene Reden





Gabriele Hiller-Ohm


(A) (C)



(D)(B)


Wir alle erinnern uns: Im letzten Jahr musste der Tag
der Menschen mit Behinderungen im Deutschen Bun-
destag ausfallen und alle Gäste wieder ausgeladen
werden. Das war eine peinliche Angelegenheit. Leider
war den Organisatoren zu spät aufgefallen, dass für die
vielen angemeldeten Rollstuhlfahrerinnen und Roll-
stuhlfahrer die Sicherheit hier im Gebäude nicht ge-
währleistet werden konnte.

Diesmal wird es klappen. Der Tag findet nun nächste
Woche statt. Etwa 300 Betroffene aus beinahe allen
Wahlkreisen werden nach Berlin kommen und mit uns
Politikerinnen und Politikern diskutieren.

Wir möchten von ihnen lernen: Wir möchten unseren
Blick auf Politik mit und für Menschen mit Behinderung
schärfen. Wir möchten Vorschläge von den Expertinnen
und Experten in eigener Sache bekommen. Und wir
möchten lernen, welche Barrieren es gibt und wie sie ab-
gebaut werden können.

Ich freue mich auf den Dialog.

Die Mehrzahl der Gäste könnte ohne Einladung des
Bundestages einschließlich Übernahme der Fahrtkosten
überhaupt nicht zu uns nach Berlin kommen, weil eine
solche Reise schlichtweg zu teuer wäre.

Traurige Wahrheit ist: Jemand, der einen verantwor-
tungsvollen Job hat und den ganzen Tag arbeitet, wird
auf Sozialhilfeniveau heruntergerechnet, nur weil er be-
hinderungsbedingte zusätzliche Ausgaben hat. Diese
Menschen müssen ihre gesamten Lebensverhältnisse
offenlegen – aufgrund ihrer Behinderung. Eltern, wenn
sie im gleichen Haushalt leben, und Ehepartner werden
mit belastet. Das entspricht nicht der UN-Behinderten-
rechtskonvention.

Es ist eine riesige Ungerechtigkeit, wenn ein Mensch
mit Behinderung von einem eigentlich ausreichenden
Gehalt nicht leben kann. Die Menschen sind arm, weil
ihr Verdienst auf die Eingliederungshilfe nach Sozialhil-
fekriterien angerechnet wird. In der Anhörung im ver-
gangenen Jahr wurde ein bedrückendes Beispiel eines
Diplominformatikers genannt, der sagte: „Ich verdiene
gut, aber für meine Lebensassistenz wird mir so viel
Geld abgenommen, dass … ich bei knapp über 900 Euro
pro Monat bin. Ganz davon abgesehen, dass ich meine
Lebenspartnerin nicht heiraten kann. Es ist eine Situa-
tion, die unglücklich ist und die behinderte Menschen
auch in der Lebensorientierung ständig mit der Frage,
Sozialhilfe ja oder nein, wie komme ich da heraus, be-
schäftigt.“

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie
haben recht mit Ihrer Forderung in Ihrem Antrag zum
Teilhabegesetz: Wir müssen dringend eine Einkommens-
und Vermögensunabhängigkeit prüfen. Wir müssen weg
vom Fürsorgegedanken, der hinter der Sozialhilfe steht,
und hin zum Inklusionsgedanken, der hinter einer Teil-
habeleistung stünde.

Das haben wir schon im letzten Jahr in unserem An-
trag „UN-Konvention jetzt umsetzen – Chancen für eine
inklusive Gesellschaft nutzen“ (Drucksache 17/7942)

gefordert. Wir wollen ein Leistungsrecht zur sozialen

Teilhabe im SGB IX schaffen. Anders als Sie können wir
uns dabei aber durchaus auch eine Grenze der Anrech-
nungsfreiheit bei sehr hohen Einkommen oder Vermö-
gen, insbesondere aus Schadensausgleichen, vorstellen.
Sonst gibt es wieder neue Ungerechtigkeiten. Im Unter-
schied zu Ihnen würden wir die Leistungsausführung
lieber bei den Kommunen sehen, die durch die Einglie-
derungshilfe viel Erfahrung damit haben. Deshalb wer-
den wir uns zu Ihrem Antrag zum Teilhabesicherungs-
gesetz enthalten, auch wenn wir uns einig sind: Wir
brauchen eine umfassende Überarbeitung des Sozial-
gesetzbuches IX, des Behinderungsbegriffs und der
Instrumente. Wir brauchen ein neues System, das
Menschenrechte, Selbstbestimmung und Inklusion kon-
kret verwirklicht.

Die aktuellen Bestrebungen zur Reform der Einglie-
derungshilfe und die Übernahme der Finanzverantwor-
tung durch den Bund bieten hier eine Chance, die nicht
ungenutzt bleiben sollte. Insbesondere sind wir als Bun-
despolitikerinnen und -politiker gefragt, die Position des
SGB IX zu stärken und nicht die Verantwortung für die
Teilhabe gänzlich an die Sozialhilfe abzugeben. Diese
Verantwortung gilt es wahrzunehmen, sehr verehrte Kol-
leginnen und Kollegen aus den Regierungsfraktionen.

So weit sind wir nicht und so weit kommen wir auch
nicht mit den Plänen der Bundesregierung. Bis auf einen
seitenschweren, aber weitestgehend inhaltsleeren
Aktionsplan zur Umsetzung der Konvention haben wir
von Union und FDP nichts Wegweisendes auf den Tisch
bekommen. Mir fällt nur ein Programm aus Mitteln des
Ausgleichsfonds ein. Diese Gelder standen jedoch schon
vorher für Menschen mit Behinderung zur Verfügung.

Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, mar-
schieren da schon eher in die richtige Richtung mit
Ihrem Antrag „Behindern ist heilbar – Unser Weg in
eine inklusive Gesellschaft“. Auch wir fordern ganz
Ähnliches in unserem Antrag, den wir übrigens gemein-
sam mit den Betroffenen und ihren Verbänden formuliert
haben. Dies war uns ganz wichtig, denn „Nichts über
uns ohne uns“ oder „Selbst Aktiv“ ist unsere Leitlinie.
Leider ist es nicht die der Bundesregierung und das kri-
tisieren Sie zu Recht.

Sie greifen die Probleme der Übersetzung und des
mangelnden Inhalts des Nationales Aktionsplans (NAP)

zur Umsetzung der UN-Behindertenkonvention auf.

Hier möchte ich insbesondere auf die Aufhebung des
Kostenvorbehalts in § 13 SGB XII hinweisen, die Sie und
auch wir fordern. Der Kostenvorbehalt bedeutet zum
Beispiel, dass ein junger Mensch, der nach einem Unfall
behindert ist, gegen seinen Willen in einem Pflegeheim
untergebracht werden kann, weil das billiger ist, als
wenn er weiterhin in seiner Wohnung lebt. In was für ei-
nem Staat leben wir denn, in dem erwachsene Menschen
in ein Heim gezwungen werden können? So etwas darf
nicht sein!

Aber auch in diesem Antrag der Linken gibt es einige
Punkte, denen wir uns so nicht anschließen können. Sie
wollen zum Beispiel neben dem Nationalen Aktionsplan
eine Liste mit zu ändernden Vorschriften. Wir wollen all

Zu Protokoll gegebene Reden





Gabriele Hiller-Ohm


(A) (C)



(D)(B)


das im Nationalen Aktionsplan haben und ihn stärken –
durch eine Beteiligung des Parlaments und der Betroffe-
nen. Auch hier muss ganz klar gelten: „Nichts über uns
ohne uns“. Deshalb werden wir uns, so richtig die Ziel-
setzung ist, auch bei diesem Antrag enthalten.

Ich freue mich auf eine anregende Diskussion im Aus-
schuss und mit unseren Gästen am Tag der Menschen
mit Behinderungen in der nächsten Woche hier bei uns
im Bundestag.


Gabriele Molitor (FDP):
Rede ID: ID1719834400

„Behindern ist heilbar“ – das ist der Slogan des

Nationalen Aktionsplans zur Umsetzung der UN-Behin-
dertenkonvention. „Behindern ist heilbar“ ist auch Titel
des Antrages der Fraktion Die Linke. Wir sind uns offen-
sichtlich alle einig, dass die Teilhabechancen von Men-
schen mit Behinderung verbessert werden können und
Barrieren, die Inklusion verhindern, abgebaut werden
müssen. Der Slogan drückt zudem eine Perspektive aus,
die sich auch in der UN-Behindertenrechtskonvention
widerspiegelt: Nicht die Menschen mit Behinderung
müssen sich an die Gesellschaft anpassen, sondern die
Gesellschaft muss Rahmenbedingungen schaffen, die
Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürger ermöglicht.

Ich freue mich, dass mit der Ratifikation der UN-
Behindertenrechtskonvention die Diskussionen um
Partizipationsmöglichkeiten von Menschen mit Behin-
derung zugenommen haben. Es vergeht nicht eine
Woche, in der Zeitungen nicht über das Thema Inklusion
und Behinderung berichten, vor allem im Zusammen-
hang mit dem Thema Bildung. Dort steht die Frage im
Mittelpunkt: Bekommen Kinder mit Behinderung durch
gemeinsames Lernen eine bessere Schulbildung?

Zunehmend wird auch in Spielfilmen das Thema
Behinderung aufgegriffen. Der Deutsche Bundestag
befasst sich mit den Bedürfnissen behinderter Men-
schen. Spätestens seit dem Inkrafttreten der UN-Behin-
dertenrechtskonvention sind Schlagworte wie Inklusion,
Teilhabe, Selbstbestimmung und Partizipation wegwei-
send für die Behindertenpolitik in Deutschland. Diese
Prinzipien sind Richtschnur der liberalen Politik. Unser
Ziel ist es, Menschen mit Behinderung echte Teilhabe zu
ermöglichen. Die UN-Konvention gilt dabei als Mess-
latte für politische Entscheidungen und das betrifft nicht
nur die Sozialpolitik! Es ist wichtig, dass wir Politik für
Menschen mit Behinderung als Inklusionspolitik begrei-
fen. Daher begrüße ich die Anträge der Linken als
Anstoß für weitere Diskussionen.

Inhaltlich muss ich jedoch klar widersprechen. Es
wird mit dem Antrag der Linken der Eindruck erweckt,
dass unsere Gesetze nicht im Einklang mit der UN-
Behindertenrechtskonvention seien und nur ein einkom-
mensunabhängiges Teilhabegeld der richtige Weg sei.
Die UN-Behindertenrechtskonvention lässt den einzel-
nen Vertragsstaaten jedoch Gestaltungsspielraum, wie
Leistungen für Menschen mit Behinderung erbracht
werden. Es kann der UN-Behindertenrechtskonvention
keinesfalls entnommen werden, dass Leistungen unab-
hängig von Einkommen und Vermögen erbracht werden
müssen. Dies ist angesichts der Haushaltslage auch

nicht finanzierbar. Denn würde die individuelle Bedürf-
tigkeitsprüfung wegfallen, würden auch Menschen mit
einem hohen Einkommen Anspruch auf steuerfinanzierte
Teilhabeleistungen haben. Der Personenkreis würde
sich erheblich erweitern. Der Vorschlag der Linken folgt
nicht dem Prinzip, nur denen zu helfen, die bedürftig
sind.

Erreichbare Ziele sollten angesteuert werden. Die ge-
samte Gesellschaft ist aufgerufen, Menschen mit Behin-
derung teilhaben zu lassen und nicht an den Rand zu
drängen. Daher sehe ich die UN-Behindertenrechtskon-
vention auch als gesellschaftspolitischen Impuls.

Doch Inklusion ist noch nicht jedermann ein Begriff.
Fragt man Menschen auf der Straße, so können viele
nichts mit diesem Wort anfangen. Der Begriff an sich ist
nicht barrierefrei, weil er erklärungsbedürftig ist. Be-
dauerlicherweise nimmt die Hälfte der Deutschen ihre
zehn Millionen Mitbürger mit Behinderung nicht wahr,
und jeder Dritte hat überhaupt keinen Kontakt zu
Menschen mit Behinderung. Das ergab eine Umfrage
der Aktion Mensch und zeigt uns, dass noch viel zu tun
ist.

Noch viel zu oft spielen und lernen Kinder mit Behin-
derung getrennt von ihren nichtbehinderten Alters-
genossen. Noch viel zu oft erleben Menschen mit Be-
hinderung Diskriminierung. Noch viel zu oft wird
Behinderung mit Leistungsminderung gleichgesetzt. Vor
allem im Arbeitsleben wird das Potenzial von Menschen
mit Behinderung zu wenig erkannt. Die Linken plädieren
in ihrem Antrag für eine Prüfung der derzeitigen Ge-
setze. Es ist in diesem Zusammenhang besonders wich-
tig, dass alle Regelungen und Gesetze, die Menschen mit
Behinderung eigentlich die Aufnahme von Arbeit und
das Berufsleben erleichtern sollen, vorurteilsfrei geprüft
werden, ob sie dieses Ziel auch erfüllen.

Die Teilhabe von Menschen mit Behinderung kann
nicht allein durch Gesetze gesichert werden. Entschei-
dend ist ein Wandel in der Gesellschaft. Rückblickend
haben sich in den letzten Jahrzehnten die Teilhabechan-
cen von Menschen mit Behinderung insgesamt erheblich
verbessert. Es ist erfreulich, dass mit der UN-Behinder-
tenrechtskonvention weitere Entwicklungen stattfinden.
Die Ambulantisierung schreitet voran. Mehr und mehr
Projekte machen es möglich, dass Menschen außerhalb
von großen Einrichtungen leben können, wie beispiels-
weise das Hamburger Projekt Alsterdorf, wo sich eine
große Einrichtung für Menschen mit Behinderungen in
einen Stadtteil für alle fortentwickelt hat. Noch nie spra-
chen so viele Menschen über inklusive Bildung. Neue in-
klusive Modelle entstehen. Insgesamt beschäftigen nicht
immer weniger, sondern immer mehr Unternehmen
Menschen mit Behinderung. Mit dem Nationalen
Aktionsplan und seinen Maßnahmen sind wir auf einem
guten Weg, die Teilhabechancen zu erhöhen. Inklusive
Prozesse wurden angestoßen, weitere werden folgen. Es
ist ganz natürlich, dass sich im Laufe dieser Entwick-
lung auch Konflikte ergeben. Diese sollten aber nicht
einfach beiseite geschoben werden, sondern zum Anlass
genommen werden, Veränderungen vorzunehmen. Be-
hindern ist dann heilbar, wenn Menschen die für sie not-

Zu Protokoll gegebene Reden





Gabriele Molitor


(A) (C)



(D)(B)


wendige Unterstützung und Assistenz bekommen und es
sich alle Menschen zur Aufgabe machen, Bedingungen
zu schaffen, die Menschen mit Behinderung ein gleich-
berechtigtes und selbstverständliches Miteinander er-
möglichen.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719834500

Am 1. Dezember 2011 hatten wir hier im Hohen

Hause eine behindertenpolitische Debatte im Bundes-
tag. Wir diskutierten unter anderem die Anträge der
Fraktion Die Linke „Behindern ist heilbar – Unser Weg
in eine inklusive Gesellschaft“ ,Drucksache 17/7872,
und „Teilhabesicherungsgesetz vorlegen“ ,Drucksache
17/7889. Thema war auch der für den 2. und 3. Dezem-
ber geplante Dialog der Politik mit Menschen mit Be-
hinderungen, welcher aus sicherheits- und brandschutz-
technischen Gründen abgesagt werden musste, weil sich
zu viele Rollstuhlfahrer unter den eingeladenen Teilneh-
mern befanden. Hier hatte das wirkliche Leben von
Menschen mit Behinderungen den Bundestag kalt er-
wischt.

Heute, fast ein Jahr später, entscheiden wir über die
beiden Anträge der Linken, und in ein paar Tagen, am
26. und 27. Oktober, kommen rund 300 Menschen mit
Behinderungen aus allen Bundesländern in den Bundes-
tag, um mit uns Abgeordneten über die Umsetzung der
UN-Behindertenrechtskonvention zu diskutieren. Ich freue
mich auf diese erstmalig stattfindende Veranstaltung,
auch wenn sie aufgrund der baulichen Gegebenheiten
mit Kompromissen und Einschränkungen beim Konzept
und der Zahl der Rollstuhlfahrer verbunden ist. Und ich
bin sicher: Auch wenn beide Anträge heute mit Ihrer
Mehrheit abgelehnt werden – sie bleiben aktuell, und sie
werden von der Behindertenbewegung und von den Lin-
ken bei dieser Veranstaltung und darüber hinaus wieder
auf die Tagesordnung gesetzt werden.

Was hat die Bundesregierung in den letzten dreiein-
halb Jahren, seitdem die UN-Behindertenrechtskonvention
innerstaatliches Recht ist, für deren Umsetzung getan?
Sie legte – sehr spät – einen Nationalen Aktionsplan vor,
der vor allem Prüfaufträge und Absichtserklärungen
enthält, die Vorschläge aus der Behindertenbewegung
aber weitgehend unberücksichtigt ließ. Gibt es inzwi-
schen eine Überprüfung aller Gesetze und Verordnun-
gen auf Änderungsbedarf, damit sie den Maßstäben der
UN-Behindertenrechtskonvention gerecht werden? Fehl-
anzeige! Und die Einbeziehung von Menschen mit Be-
hinderungen und deren Organisationen bei der Erarbei-
tung von Konzepten und Gesetzen, die sie direkt oder
indirekt betreffen? Überwiegend Fehlanzeige! Gibt es
ein Konjunkturprogramm zur systematischen und be-
schleunigten Beseitigung von baulichen Barrieren? Fehl-
anzeige! Gibt es Maßnahmen zur Verbesserung der – fi-
nanziellen – Lebenssituation zur Sicherung umfassender
Teilhabe am Leben in der Gesellschaft? Fehlanzeige!
Nein, zum Teil gibt es sogar Verschlechterungen! Gibt es
einkommens- und vermögensunabhängige Sicherung per-
sonaler Assistenz? Fehlanzeige!

Und wie sieht es aus mit Maßnahmen zur Bewusst-
seinsbildung? Da hat sich etwas, wenn auch viel zu we-

nig, getan. Es gibt eine teure Kampagne der Bundesre-
gierung unter der Überschrift „Behindern ist heilbar“.

Fazit: Behindertenpolitik ist weiterhin kein inklusiver
Bestandteil der Politik in allen Bundesbehörden, son-
dern eine Nische im Bundesministerium für Arbeit und
Soziales. Es wird viel geredet – das ist auch schon was
wert –, aber kaum was getan…

Im unlängst veröffentlichten 4. Armuts- und Reich-
tumsbericht gibt es kaum Angaben über die Lebenssitua-
tion von Menschen mit Behinderungen. Auch in der Stu-
die der Universität Heidelberg zur Lebenssituation von
contergangeschädigten Menschen spielte die finanzielle
Situation keine Rolle. Daten darüber waren vom Auf-
traggeber politisch nicht gewollt. Gleichzeitig erklärt
die Bundesregierung auf diesbezügliche Fragen der Lin-
ken seit vier Jahren, dass sie diesbezüglich keine Er-
kenntnisse hat. Wer aber mit Betroffenen redet, die gel-
tende Sozialgesetzgebung kennt und auch etwas genauer
in den Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregie-
rung schaut, wird feststellen: Behinderung ist ein Ar-
mutsrisiko, und zwar für die Betroffenen und ihre Ange-
hörigen. Behinderung führt sehr schnell zu Armut. Und
wer dort erst mal angekommen ist, bleibt in der Regel
auch lebenslänglich arm.

Eine wesentliche Ursache ist das Fehlen von persön-
licher bedarfsgerechter einkommens- und vermögensun-
abhängiger Assistenz und Pflege. Deswegen kämpft die
Behindertenbewegung seit vielen Jahren für ein entspre-
chendes Teilhabesicherungsgesetz. Deswegen brachte
die Linke, wie auch schon in der 14. und 16. Wahl-
periode, einen Antrag für ein solches Leistungsgesetz in
den Bundestag ein. Den Beratungsverlauf und das Ab-
stimmungsverhalten der Fraktionen zu beiden Anträgen
kann die interessierte Öffentlichkeit der vorliegenden
Beschlussempfehlung des federführenden Ausschusses
für Arbeit und Soziales, Drucksache 17/10008, entneh-
men. So heißt es in diesem Bericht: „Die Fraktion der
SPD forderte … das auch in der Konvention verankerte
Motto ,Nichts über uns ohne uns‘ müsse umgesetzt wer-
den. Das sei in den Anträgen der Fraktion Die Linke of-
fensichtlich geschehen.“ Stimmt. Deswegen finde ich es
unerklärlich, dass sich die Fraktion der SPD bei beiden
Anträgen nur zu einer Stimmenthaltung durchringt. Die
Fraktion der CDU/CSU betonte, dass sie grundsätzlich
die permanente Diskussion über die Behindertenrechts-
konvention begrüße. Sie lehne aber die Anträge ab, weil
der eine überflüssig sei, denn es gäbe einen tollen Ak-
tionsplan der Bundesregierung und eine erfolgreiche
Kampagne. Und der Antrag für ein Teilhabesicherungs-
gesetz sei nicht finanzierbar.

Liebe Kolleginnen und Kollegen aus den christlichen
Parteien, Sie forderten am 3. April 2001, Bundestags-
drucksache 14/5804, eine „umfassende Lösung mit Ver-
besserungen für behinderte Menschen“. „Diese kann“,
so steht es in Ihrem Antrag, „nur in einem eigenstän-
digen und einheitlichen Leistungsgesetz für Behinderte
erreicht werden, das vom Bund zu finanzieren ist. Dieses
Gesetz müsste vermögens- und einkommensunabhängig
ausgestaltet sein und die Leistungen, die derzeit in der
Eingliederungshilfe … enthalten sind, zusammenfas-

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Ilja Seifert


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(D)(B)


sen …“. Demnach müssen Menschen mit Beeinträch-
tigungen und ihre Angehörigen „vor wesentlichen Son-
derbelastungen und vor einer Stigmatisierung als Sozial-
hilfeempfänger geschützt werden“. War das alles Lüge,
weil Sie gerade in der Opposition waren, oder kann Ihre
Forderung aus dem Jahr 2001 in Folge ihrer Regie-
rungspolitik in den letzten sieben Jahren nicht mehr auf-
rechterhalten werden?

Auch die FDP will beide Anträge ablehnen. Das
überrascht mich nicht, auch wenn in dem Bericht steht:
„Die FDP lobte die Anträge als Diskussionsbeitrag.
Grundsätzlich stimme die Fraktion der FDP auch ein-
zelnen Vorschlägen zu …“. Welchen, bleibt ihr Geheim-
nis, denn es liegt von der FDP nichts zur Abstimmung
auf dem Tisch.

Bündnis90/Die Grünen will dem Antrag „Behindern
ist heilbar“ zustimmen, den Antrag für ein Teilhabesi-
cherungsgesetz dagegen ablehnen. Im Bericht heißt es:
„Den weitergehenden Vorschlägen zu einem Teilhabesi-
cherungsgesetz allerdings nicht. Dazu habe man andere
Vorstellungen.“ Das überrascht mich, schließlich hat
die Fraktion der Grünen im Wahlkampf 2009 die diesbe-
züglichen Forderungen aus den Behindertenverbänden
ausdrücklich unterstützt.

„Behindern ist heilbar“ – es wird aber noch ein lan-
ger Heilungsprozess, bis Menschen mit Behinderungen
selbstbestimmt und ohne Diskriminierungen am Leben
in der Gesellschaft teilnehmen können, bis alle Barrie-
ren beseitigt sind und Inklusion kein Fremdwort mehr
ist. Unbestritten: Es ist kein einfacher Weg in eine inklu-
sive Gesellschaft. Den müssen wir gemeinsam beschrei-
ten, parteiübergreifend, in Bund, Ländern und Kommu-
nen, in der Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und allen
anderen Bereichen der Gesellschaft. Die Vorschläge der
Linken für diesen Weg liegen auf dem Tisch. Ich meine,
sie sind gut, können aber – durch die Diskussion in und
mit der Gesellschaft – durchaus noch besser werden.
Lassen Sie uns daran arbeiten, nicht stur ablehnen!


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719834600

Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen

mit Behinderungen hat die Entwicklung sozialer Bürger-
rechte für behinderte Menschen einen entscheidenden
Schritt weitergebracht und eine qualitativ neue Dimen-
sion aufgemacht: In keiner internationalen Menschen-
rechtskonvention kommt der Empowerment-Ansatz so
prägnant zum Tragen wie hier. Die formulierten Befähi-
gungsansprüche auf Selbstbestimmung, Diskriminie-
rungsfreiheit und gleichberechtigte gesellschaftliche
Teilhabe für Menschen mit Behinderungen werden nicht
nur das deutsche Sozialrecht, sondern den gesamten
Menschenrechtsdiskurs verändern.

Zum ersten Mal werden Menschenrechte nicht aus-
schließlich als Abwehrrechte gegen den Staat begriffen.
Nach dieser Konvention, der ersten großen Menschen-
rechtskonvention des 21. Jahrhunderts, stehen staatliche
und gesellschaftliche Institutionen in der Pflicht, den
Möglichkeitsraum und Handlungsraum von Menschen
zu garantieren und durch aktives Handeln möglich zu
machen. Es gilt nach diesem Menschenrechtsdokument

nicht nur, die Menschenwürde durch das Unterlassen
von staatlichen Übergriffen zu garantieren, sondern ge-
rade durch staatliches Tätigwerden überhaupt erst zu
ermöglichen. Viele Beobachterinnen und Beobachter
gehen davon aus, dass die Anspruchsrechte auf Befähi-
gung Wirkung auf weitere Gruppen weit über den Kreis
der Menschen mit Behinderungen hinaus entfalten. Die
Konvention gibt damit wichtige Impulse für eine Weiter-
entwicklung des internationalen Menschenrechtsschut-
zes. Es eröffnet sich meines Erachtens auch eine Per-
spektive für eine neue Phase der Entwicklung sozialer
Menschenrechte.

Spätestens mit der UN-Behindertenrechtskonvention
sind Phänomene wie „gesellschaftliche Ausgrenzung“,
„Diskriminierung“, „rechtliche Entmündigung“ und
„medizinische Zwangsbehandlung“ nicht bloß gesell-
schaftliches Übel, sondern müssen richtigerweise als
Verletzung von Menschenrechten verstanden werden.
Die Entwicklung eines anderen Menschenbildes für alle
Menschen, die nicht den herrschenden Vorstellungen
von Normalität entsprechen, wie in der Konvention for-
muliert ist, liefert dafür die Grundlage: Unter Buch-
stabe e der Präambel der Konvention wird Behinderung
als ein sich verändernder Zustand – als Prozess – be-
schrieben, der aus der Interaktion zwischen Menschen
mit Beeinträchtigungen und Barrieren in der Einstel-
lung sowie der Umwelt entsteht und im Ergebnis die
gleichberechtigte, uneingeschränkte und wirksame Teil-
nahme an der Gesellschaft behindert.

Dieser Satz greift fundamental die Ursachen von
Ausgrenzung an: Behinderung – ja Benachteiligung
schlechthin – wird als soziale Konstruktion begriffen.
Wer konstruiert? Ein Netz definitionsmächtiger, ressour-
censtarker und durchsetzungsfähiger Akteure, die nicht
unbedingt bewusst organisiert sein müssen, die nicht
einmal die Bevölkerungsmehrheit darstellen oder reprä-
sentieren müssen! Im Ergebnis erzwingt dieses Netz eine
bestimmte Definition von Normalität. Über den gesell-
schaftlichen Diskurs, rechtliche Normen und Sanktions-
drohungen wird diese Definition von Normalität als gesell-
schaftliche Wirklichkeit rationalisiert und reproduziert.

Mit der Übernahme des sogenannten sozialen Mo-
dells von Behinderung stellt die UN-Konvention nichts
weniger dar als die Anerkennung von Behinderung als
Bestandteil menschlichen Lebens. Weiter gedacht: Die
Anerkennung von „Anderssein“ als Bestandteil mensch-
lichen Lebens wird schlechthin vorangetrieben. Setzte
sich diese Auffassung mehrheitlich in der Gesellschaft
durch, führte dies in der Konsequenz dazu, dass es kein
„Anderssein“ mehr gibt, sondern nur noch ein „So-
sein“. Damit verbunden dürfte eine Aufwertung all jener
Umgangsweisen und Praktiken verbunden sein, derer
sich die heute noch als „unvollkommen“ Stigmatisierten
bedienen.

Die mit der Konvention postulierte Akzeptanz des
„Soseins“ ist ein wichtiger Beitrag zur Humanisierung
der Gesellschaft. Sie hat das Potenzial, auch eine Ant-
wort auf die Gefahr neuer Ausgrenzungen darzustellen,
die zu beobachten sind: In dem Maße, in dem Beschäf-
tigte zusehends die Rolle eines Arbeitskraftunterneh-

Zu Protokoll gegebene Reden





Markus Kurth


(A) (C)



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mers einnehmen (müssen) und ihnen mithin die individu-
elle Verantwortung für das einwandfreie Funktionieren
zugewiesen wird, sind die neuen Dogmen der sozial kon-
struierten Normalität zunehmend geeignet, neue For-
men der Exklusion hervorzubringen. In der „Aktivge-
sellschaft“, Lessenich, ist jeder, der sich nicht fit hält,
sich nicht weiterbildet, raucht oder sich gar den Zumu-
tungen gewisser Arbeitsverhältnisse wie Niedriglohnbe-
schäftigung zu entziehen versucht, beinahe ein wandeln-
des Standortrisiko, mindestens aber ein potenzieller
fiskalpolitischer und volkswirtschaftlicher Schadensfall.
Ein solches Verständnis von Eigenverantwortung – so es
sich denn weiter verbreitet – ginge mit neuen Diskrimi-
nierungen gegenüber sich abweichend verhaltenden
Menschen einher. Die von der Großen Koalition be-
schlossenen Leistungsausschlüsse in der gesetzlichen
Krankenversicherung für Hauterkrankungen und Ent-
zündungen nach Tätowierungen bzw. Piercings zeigen
deutlich, dass diese neuen Diskriminierungen mehr als
eine vage Befürchtung darstellen.

Vor diesem Hintergrund ermöglicht die UN-Konven-
tion über die Menschenrechte von Menschen mit Be-
hinderungen, eine universelle Forderung an Staat und
Gesellschaft zu stellen: „Anderssein“ ist nicht zu diskri-
minieren, sondern „Sosein“ ist zu ermöglichen. Anders
ausgedrückt: Je größer die Diskriminierungsfreiheit und
Barrierefreiheit in einer Gesellschaft ist, je schneller die
Bedingung der Möglichkeit von Freiheit hergestellt
wird, desto kleiner wird die Zahl behinderter und ausge-
grenzter Menschen zukünftig sein und desto weniger
wird die Beeinträchtigung eines Menschen diesen daran
hindern, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Unter
dem Aspekt der Möglichkeit des „Soseins“ verwundert
es übrigens nicht, dass die Würde – sehr viel direkter als
in anderen Menschenrechtskonventionen – auch als Ge-
genstand notwendiger Bewusstseinsbildung angespro-
chen wird. Im Ergebnis kann dieses Menschenrechts-
dokument alle Mitglieder der Gesellschaft von dem
Zwang entlasten, sich den Norm- und Normalvorstellun-
gen der übermächtigen, definitionsmächtigen Kollektive
zu unterwerfen. Es stellt daher eine emanzipatorische
Errungenschaft ersten Ranges dar, die so noch längst
nicht erkannt worden ist. Den Staat stellt sie vor große
Herausforderungen.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719834700

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-

empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf
Drucksache 17/10008. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung
des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache
17/7872. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen gegen die Fraktion Die Linke und die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion
der SPD angenommen.

Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/7889. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die

Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthal-
tung der SPD-Fraktion angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durch-
führung der Verordnung (EU) Nr. 1177/2010
des Europäischen Parlaments und des Rates
vom 24. November 2010 über die Fahrgast-
rechte im See- und Binnenschiffsverkehr sowie
zur Änderung des Luftverkehrsgesetzes

– Drucksache 17/10958 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Tourismus

Auch hier nehmen wir die Reden, wie in der Tages-
ordnung ausgewiesen, zu Protokoll.


Hans-Werner Kammer (CDU):
Rede ID: ID1719834800

Diesen Sitzungstag hat unsere verehrte Bundeskanz-

lerin mit einer wegweisenden Regierungserklärung zu
Europa begonnen. Im Mittelpunkt der Ausführungen der
Kanzlerin standen die Vertrauenskrise des Euro, die
besorgniserregende finanzielle Situation einiger Mit-
gliedstaaten der Europäischen Union sowie die Reform-
bemühungen in diesen Ländern, die von interessierten
Kreisen immer weiter verzögert werden. Die Menschen
in Deutschland sind verunsichert. Denkt der Bürger an
Europa in der Nacht, so ist er um den Schlaf gebracht.
Glücklicherweise haben wir mit Angela Merkel und
Wolfgang Schäuble starke Führungspersönlichkeiten,
die uns und die Europäische Union mit sicherer Hand
durch diesen schweren Sturm lenken werden. Die Regie-
rungserklärung der Bundeskanzlerin hat in eindrucks-
voller Weise gezeigt, dass sie die richtigen Akzente zu
setzen weiß. Unser aller Unterstützung ist ihr sicher.

Voller Verständnislosigkeit kann ich – das können
aber sicher auch die meisten Deutschen – nur auf die
kruden Vorstellungen der Opposition blicken. Niemand
außer den SPD-Funktionären kann nachvollziehen, wa-
rum es für Deutschland so vorteilhaft sein soll, wenn die
Schulden vergemeinschaftet werden. Vielleicht sollten
die Damen und Herren der Opposition einmal die Schul-
den fremder Menschen, Menschen, die nicht unverschul-
det in die Schuldenfalle geraten sind, aus ihrem Privat-
vermögen bezahlen, damit sie sehen, wie toll ihre Ideen
sind. Doch Europa besteht nicht nur aus Krisen, Schul-
den und Bürokratie. Europa ist mehr. Europa ist der ge-
meinsame Weg aus den Ruinen des Zweiten Weltkriegs in
Gedenken an die gefallenen, toten und ermordeten Men-
schen als ewige Mahnung hin zu Frieden, Freiheit und
Wohlstand auf dem gesamten Kontinent. Diesen Zielen
fühlt sich die Union von Konrad Adenauer über Helmut
Kohl bis hin zu Angela Merkel verpflichtet. Auf diesem
Weg haben wir nicht nur die längste Friedensperiode in
Europa seit Menschengedenken erlebt, sondern auch
eine Entwicklung von Handel und Wandel, die niemand
vorhergesehen hat, ja auch so nie vorhersehen konnte.





Hans-Werner Kammer


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Nahezu jeden Tag gibt es dank der Europäischen Union
für die Bürger in der Bundesrepublik Deutschland Fort-
schritte, Fortschritte, die in vielen Fällen auch die Miss-
helligkeiten des täglichen Lebens wirksam bekämpfen.

Europa ist nicht in erster Linie das Europa der Tech-
nokraten und Konzernlenker, der Kapitalgesellschaften
und Konzerne. Europa ist in erster Linie das Europa der
Menschen, das Europa der Europäer.

Daher genießen der Schutz des Verbrauchers und die
verbesserte Teilhabe von Menschen, die Einschränkun-
gen ausgesetzt sind, am täglichen Leben, aber auch an
den kleinen Freuden des Daseins, die für uns, die wir
glücklicherweise gesund sind, selbstverständlich sind, in
Europa eine sehr hohe Priorität. Trotz des sperrigen Ti-
tels freue ich mich daher, heute zur Durchführung der
Verordnung (EU) Nr. 1177/2010 des Europäischen Par-
laments und des Rates sprechen zu dürfen. In dieser Ver-
ordnung werden nicht nur die Fahrgastrechte im See-
und Binnenschiffsverkehr gestärkt, sondern auch die Si-
tuation von Personen mit eingeschränkter Mobilität ver-
bessert.

Durch diese Verordnung wurden die Rechte der Ver-
braucher im See- und Binnenschiffsverkehr in zentralen
Punkten gestärkt. Ich möchte hier einige ansprechen:
Wir alle wissen, dass auch bei sorgfältigster Planung
und einer hervorragenden unternehmerischen Leistung
der Reiseveranstalter Verspätungen nicht immer vermie-
den werden können. Nichts aber ist ärgerlicher, als im
Ungewissen gelassen zu werden. Daher müssen die Pas-
sagiere im See- und Binnenschiffsverkehr so schnell wie
möglich, spätestens aber eine halbe Stunde nach der
planmäßigen Abfahrtszeit, über die Lage und, sobald
diese Informationen vorliegen, über die voraussichtliche
Abfahrtszeit und die voraussichtliche Ankunftszeit infor-
miert werden.

Wenn Fahrgäste aufgrund einer Annullierung oder
Verspätung einen Anschluss versäumen, so müssen sie
über alternative Anschlüsse unterrichtet werden.

In den Fällen, in denen die Abfahrt im See- und Bin-
nenschiffsverkehr ganz annulliert wird oder sich um
mehr als 90 Minuten über die planmäßige Abfahrtszeit
hinaus verzögert, müssen den Fahrgästen in den Hafen-
terminals kostenlos Imbisse, Mahlzeiten oder Erfri-
schungen in angemessenem Verhältnis zur Wartezeit an-
geboten werden. Wenn die Fahrt ganz annulliert wird
oder sich so verspätet, dass ein Aufenthalt von einer
oder mehreren Nächten erforderlich wird, haben die
Passagiere nicht nur das Recht auf die erwähnten Im-
bisse, Mahlzeiten oder Erfrischungen, sondern auch ei-
nen Anspruch auf eine kostenlose angemessene Unter-
bringung an Bord oder an Land sowie die Beförderung
zwischen dem Hafenterminal und der Unterkunft. Da-
rüber hinaus muss in diesen Fällen den Passagieren
eine anderweitige Beförderung zum frühestmöglichen
Zeitpunkt und ohne Aufpreis zum Reiseziel unter ver-
gleichbaren Bedingungen angeboten werden. Ersatz-
weise können die Fahrgäste sich für die Erstattung des
Fahrpreises und eine kostenlose Rückfahrt zum Abfahrts-
ort entscheiden.

Des Weiteren haben die Fahrgäste Anspruch auf eine
Entschädigung durch Fahrpreisnachlässe bei verspäte-
ter Ankunft. Das Prinzip, dass durch die Anwendung auf
den Luftverkehr bekannt geworden ist, gilt also auch für
den See- und Binnenschiffsverkehr.

Schließlich haben auch Menschen mit Behinderung
vielfältige Ansprüche auf Unterstützung und Hilfe. Den-
jenigen unter Ihnen, die aus einer falsch verstandenen
Marktradikalität Überregulierung und Bevormundung
der Unternehmen annehmen, möchte ich zurufen, dass
wir in einer sozialen Marktwirtschaft leben. Der sozia-
len Marktwirtschaft Ludwig Erhards, in der der Mensch
eine zentrale Rolle einnimmt. Wir von der Union haben
immer für diese soziale Marktwirtschaft gefochten und
werden dies auch weiter tun. Zur Beruhigung sei noch
angeführt, dass die Verordnung (EU) Nr. 1177/210 des
Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. No-
vember 2010 die Unternehmen nur zu dem verpflichtet,
was jeder anständige Mensch sowieso täte.

Als nationalem Gesetzgeber obliegt es uns, für die
Einhaltung und Durchsetzung der Verordnung in Bezug
auf den See- und Binnenschiffsverkehr die entsprechen-
den Stellen einzurichten. Außerdem mussten wir Sank-
tionen für Verstöße gegen die Verordnung festlegen. Die
zuständige Stelle für Beschwerden über einen mutmaßli-
chen Verstoß gegen die Verordnung ist in Zukunft das
Eisenbahn-Bundesamt, das zu diesem Zweck mit um-
fangreichen Befugnissen ausgestattet wurde, die zur Er-
reichung des Zieles der Verordnung erforderlich und nö-
tig sind.

Ferner haben wir die Voraussetzungen für die Ein-
richtung von Schlichtungsstellen zur Beilegung von
Streitigkeiten aus der Beförderung im See- und Binnen-
schiffsverkehr genannt, die von den Fahrgästen im Falle
von Problemen angerufen werden können, ohne dass das
Recht, die Gerichte anzurufen, verloren geht.

Wie jedes Gesetz, das kein zahnloser Tiger sein
möchte, weist auch dieses Sanktionsmöglichkeiten auf.
Verstöße gegen die Verordnung können mit einer Geld-
buße bis zu 30 000 Euro geahndet werden.

Ich denke, dass dieses Gesetz in hervorragender
Weise den Absichten der Verordnung (EU) Nr. 1177/
2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom
24. November 2010 über die Fahrgastrechte im See- und
Binnenschiffsverkehr entspricht. Dieses Beispiel zeigt,
dass Europa auch in der Krise für die Menschen da ist.


Ulrike Gottschalck (SPD):
Rede ID: ID1719834900

Mobilität wird immer wichtiger für jeden Einzelnen

von uns. Wir unternehmen Urlaubsreisen, besuchen
Freunde und Verwandte in aller Welt, und auch beruflich
ist heute eine immer größer werdende Mobilität und
Flexibilität gefragt. Passagierrechte bilden ein Kernele-
ment der verkehrspolitischen Vision Europas. Die EU-
Kommission hat es sich zum Ziel gemacht, das Reisen in
der EU einfacher und angenehmer zu gestalten, die
Qualität des Reisens zu verbessern, die Reisenden bes-
ser zu schützen und die europäische Verkehrsbranche at-
traktiver zu machen. Die EU-Passagierrechte ruhen auf

Zu Protokoll gegebene Reden





Ulrike Gottschalck


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drei Eckpfeilern: Diskriminierungsfreiheit, genaue, zeit-
gerechte und zugängliche Informationen, unverzügliche
und angemessene Hilfeleistungen.

Im Flugverkehr enthält vor allem die sogenannte
Fluggastrechteverordnung, Verordnung (EG) Nr. 261/
2004, die am 17. Februar 2005 in Kraft getreten ist, die
wichtigsten Regelungen zu Verspätungen, Annullierun-
gen und Überbuchungen. Daneben gibt es noch die
Verordnung (EG) Nr. 1107/2006 für die Rechte von be-
hinderten Flugreisenden und Flugreisenden mit einge-
schränkter Mobilität und die Verordnung (EG) Nr. 1008/
2008 für Bestimmungen zur Preisfestsetzung. Für Bahn-
reisende gilt in Deutschland seit dem 29. Juli 2009 das
Gesetz zur Anpassung eisenbahnrechtlicher Vorschrif-
ten an die Verordnung (EG) Nr. 1371/2007. Voraussicht-
lich 2013 werden Fahrgastrechte für Busreisende wirk-
sam. Im Dezember dieses Jahres tritt eine EU-
Verordnung für Fahrgastrechte von Schiffsreisenden in
Kraft, die Verordnung (EU) Nr. 1177/2010 des Europäi-
schen Parlaments und des Rates vom 24. November
2010. Diese Verordnung enthält im Wesentlichen für
Schiffsreisende bei Annullierung oder Verspätung der
Abfahrt um mehr als 90 Minuten den Anspruch auf
Erstattung des Fahrpreises oder eine anderweitige Be-
förderung und eine angemessene Unterstützung bezüg-
lich Verpflegung und Unterbringung für die Nacht,
Schutz von Menschen mit Behinderungen oder einge-
schränkter Mobilität, Mindestanforderungen an die In-
formation für alle Fahrgäste und ein vorgeschriebenes
Beschwerdemanagement. Erstmals sollen mit dieser
Verordnung nun auch für die Schifffahrt unabhängige
Durchsetzungsstellen auf nationaler Ebene geschaffen
werden, die unter anderem für ein Beschwerdemanage-
ment und die Erstellung von Statistiken über die Anzahl
und Art der Beschwerden eingeführt werden. Mir ist be-
sonders auch wichtig an dieser EU-Verordnung, dass die
qualifizierten Hilfeleistungen für Mobilitätsbehinderte
und ihre Berücksichtigung bei den Anmelde- und Orga-
nisationsprozessen von Schiffsfahrten und -reisen nun in
den Fokus rücken.

Mit dem vorliegenden EU-Fahrgastrechte-Schiff-
fahrt-Gesetz, FahrgRSchG, will die Bundesregierung die
Grundlage und Ermächtigung zum Erlass einer Rechts-
verordnung zur Durchsetzung und Einhaltung der EU-
Verordnung schaffen und die umsetzungsbedürftigen
Regelungen bezüglich der Durchsetzung durch natio-
nale Durchsetzungsstellen in nationales Recht umsetzen.
Gleichzeitig verlängert sie die Übergangsfrist des § 73
Abs. 4 LuftVG um zwei weitere Jahre und gewährleistet
so, dass die langjährig ausgeübten Tätigkeiten ausländi-
scher Flugsicherungsorganisationen gemäß § 31 b Abs.
6 LuftVG fortgesetzt werden können. Dieses Gesetz be-
darf nicht der Zustimmung des Bundesrates, gleichwohl
hat der Bundesrat seine Empfehlung gemäß Art. 76 Abs.
2 des Grundgesetzes abgegeben.

Als zuständige Behörde für die Durchsetzung der EU-
Verordnung hat die Bundesregierung das Eisenbahn-
Bundesamt eingesetzt. Die weitere Ausgestaltung der
Schlichtungsstelle für Schifffsreisende wurde im vorlie-
genden Gesetzentwurf offengelassen. Der Bundesrat
weist daher völlig zu Recht darauf hin, dass die Rege-

lungen zur Schlichtung im See- und Binnenschiffs-
verkehr insbesondere mit den Schlichtungsregeln im
Energiewirtschaftsgesetz, in der Eisenbahn-Verkehrs-
ordnung sowie im Entwurf eines Gesetzes zur Schlich-
tung im Luftverkehr harmonisiert werden müssen.

In der Stellungnahme des Gesetzentwurfs zählt der
Bundesrat auf, wie die Situation der Schlichtungsstellen
für Fahrgäste in Deutschland ist. Bahnkunden können
sich an die vereinsgetragene Schlichtungsstelle für den
öffentlichen Personenverkehr e. V., söp, wenden, für
Flugpassagiere sollen laut einem aktuellen Gesetzent-
wurf der Bundesregierung eine privatrechtliche Schlich-
tungsstelle auf freiwilliger Basis und eine behördliche
Schlichtungsstelle bei einer Bundesbehörde eingerichtet
werden. Damit wird völlig unnötig die Gründung von
drei Schlichtungsstellen für die Fahrgäste in Deutsch-
land vorbereitet. Dies ist in der heutigen Zeit, in der
Passagiere und Fahrgastunternehmen verstärkt nach
der Intermodulität, also einer stärkeren Verzahnung der
verschiedenen Verkehrsträger verlangen, kontraproduk-
tiv.

Das Verhalten der Bundesregierung auf die Vor-
schläge des Bundesrates ist wieder einmal bezeichnend.
Einerseits begrüßt sie die Vorschläge des Bundesrates
nach einer harmonisierten Schlichtungsstelle, trifft an-
dererseits aber keine konkreten Vorkehrungen in ihrem
Gesetz, damit eine wirklich verkehrsträgerübergreifende
Schlichtungsstelle Realität wird. Wir halten die
verkehrsträgerübergreifende Schlichtungsstelle für den
öffentlichen Personenverkehr e. V., söp, die gerade im
Bahnbereich hervorragende Arbeit geleistet hat, für
sehr geeignet. Genau wie bei der Bahn könnte sie auch
bei Schiffs- und Luftverkehr zur Wiederherstellung eines
vertrauensvollen Miteinanders von Fahrgästen und Un-
ternehmen beitragen.

Der Bundesrat plädiert in seiner Stellungnahme au-
ßerdem für eine Pflicht der Unternehmen zur Beteili-
gung an einer Schlichtung für alle Beförderer, Reisever-
anstalter und Reisevermittler. Dies halte ich ebenfalls
für einen guten Vorschlag, der die Verbraucherrechte
weiter stärkt. Leider lehnt die Bundesregierung diesen
Vorstoß ab und bleibt damit hinter den Richtlinien der
EU zurück.

Abschließend möchte ich eine Empfehlung der EU-
Verordnung über die Fahrgastrechte im See- und
Binnenschiffsverkehr erwähnen, die mir besonders am
Herzen liegt. In der Einleitung wird empfohlen, dass bei
der Gestaltung neuer Häfen, bei Abfertigungsgebäuden
und Renovierungsarbeiten auf Barrierefreiheit geachtet
werden muss. Besondere Beachtung soll eine Konzep-
tion für alle Verwendungsarten – Design for all – finden.
Die SPD-Fraktion hat gerade eine Kleine Anfrage zum
universellen Design an die Bundesregierung verfasst.
Aus unserer Sicht ist es wichtig, den Ansatz des univer-
sellen Designs nicht nur im Baubereich, sondern auch
für alle Verkehrsträger voranzutreiben.


Torsten Staffeldt (FDP):
Rede ID: ID1719835000

Wenn wir über Fahrgastrechte im Allgemeinen reden,

denken wir zuallererst an den Flugverkehr. Verschiebun-

Zu Protokoll gegebene Reden





Torsten Staffeldt


(A) (C)



(D)(B)


gen und Ausfälle dominieren nicht nur unsere Gedan-
ken, sondern sind auch Gegenstand zahlreicher Bericht-
erstattungen verschiedener Medien. In den meisten
Fällen aber landen wir problemlos und pünktlich am
Zielflughafen. Dann erwischt uns die Sorge, dass unser
Gepäck beschädigt ist oder vielleicht gar nicht seinen
Zielort erreicht haben könnte. Vielen Mitbürgern fällt
aber auch als Gegenstand von Beschwerden die Bahn
ein, die deutlich pünktlicher ist als ihr Ruf. Das wird
sich aber ein Bahnreisender sicherlich nicht vor Augen
führen, wenn er bei minus 20 Grad am Berliner Haupt-
bahnhof auf seinen 15 Minuten verspäteten Zug wartet.

Für beides gibt es bewährte Entschädigungssysteme,
sodass die Kunden zu ihrem guten Recht kommen. Die
Bahn ist beispielsweise verpflichtet, ab einer Verspätung
von 60 Minuten ihren Kunden einen 25-prozentigen Ra-
batt einzuräumen, und die Fluggastrechteverordnung
EG Nr. 261/2004 sorgt für einen gerechten Entschädi-
gungsanspruch von Passagiere gegenüber ihren Flugge-
sellschaften. Auch wenn die Erfahrung zeigt, dass sich
die Airlines in den meisten Fällen sehr kulant zeigen, so
wird diese christlich-liberale Koalition die Verbraucher-
rechte durch die Einrichtung einer eigenen Schlich-
tungsstelle für den Flugverkehr noch weiter stärken.

Woran die wenigsten aber denken, ist, dass es auch
Passagiere im Schiffsverkehr gibt. Um auch deren Rechte
zu stärken, hat die Europäische Union vor zwei Jahren
die Verordnung Nr. 1177/2010 erlassen, die Ende dieses
Jahres in Kraft tritt. Diese regelt die Fahrgastrechte im
Binnen- und Seeschiffsverkehr, wenn der Einschiffungs-
hafen oder Ausschiffungshafen in der Europäischen
Union liegt. Neben Regelungen zu Verspätungen und
Annullierungen beinhaltet sie auch das Verbot der Dis-
kriminierung und das Gebot der Unterstützung gegen-
über Menschen mit Behinderungen und Mobilitätsein-
schränkungen. Das hier vorgelegte Gesetz soll nun die
Verordnung in deutsches Recht transferieren.

Ich finde es gut, dass die Bundesregierung dabei von
der Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, dass sich der
Beschwerdeführer zuerst an das betroffene Unterneh-
men wenden muss, bevor die Schlichtungsstelle einbezo-
gen wird. Ich bin nämlich der Überzeugung, dass ähn-
lich wie im Flugverkehr oder bei der Bahn sich auch
hier die allermeisten Probleme bereits ohne Schlichtung
lösen lassen. Daneben ist es gelungen, die Schlichtung
möglichst unbürokratisch zu gestalten, indem es eine
zentrale Anlaufstelle geben soll, ohne in jedem Bundes-
land noch eine zusätzliche Beschwerdestelle einzurich-
ten.

Ich glaube, dass der Bundesregierung mit dem hier
vorgelegten Gesetz zur Durchführung der EU-Verord-
nung ein guter Aufschlag zur Stärkung der Verbraucher-
rechte gelungen ist, und freue mich auf die weiteren Be-
ratungen.


Thomas Lutze (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719835100

Mit der Europäischen Verordnung Nr. 1177/2010 er-

reichen Fahrgäste im See- und Binnenschifffahrtsver-
kehr einige wesentliche Verbesserungen. Die wesentli-
chen Regelungen der Verordnung treten in den

Mitgliedsländern unmittelbar in Kraft. Damit erhalten
Schiffsreisende ähnliche Rechte wie Bahn- und Flugrei-
sende. Diese Gleichstellung begrüßt die Linke. Jedoch
krankt die Verordnung an den ebenso gleichen Stellen
wie im Bereich der Fluggastrechte. Zwar sollen auch die
Betreiber von Fahrgastschiffen einen Teil des Reiseprei-
ses bei verspäteter Ankunft am Zielhafen erstatten. Wie
im Luftverkehr beinhaltet die Regelung jedoch scheu-
nentorgroße Schlupflöcher, bei denen sich Reiseveran-
stalter durch Hinweise auf schlechtes Wetter oder au-
ßergewöhnliche Umstände aus der Pflicht stehlen
können.

Insgesamt jedoch dürfen die Fahrgäste dankbar sein,
dass hier die Europäische Union zum größten Teil selbst
unmittelbares Recht setzt und so der Bundesregierung
kein großer Spielraum bleibt, die Stärkung von Fahr-
gastrechten zu torpedieren. Obwohl die neuen Regelun-
gen gerade für Menschen mit eingeschränkter Mobilität
entscheidende Verbesserungen enthalten, erklärte Ver-
kehrsminister Ramsauer zum Beschluss der Verordnung
durch das Europäische Parlament: „Bei der Verordnung
fehlen das Augenmaß und die nötige Balance zwischen
Kosten für die Verkehrsunternehmen und dem effektiven
Nutzen für die Fahrgäste.“ Und: „Die Bundesregierung
hat sich in Brüssel gegen die Verordnung in der vorlie-
genden Form ausgesprochen.“

Die Umsetzung des kleineren Teils der Verordnung,
der erst noch in nationales Recht umgesetzt werden
muss, trägt dann auch die entsprechende Handschrift
der Bundesregierung. Obwohl an dieser Stelle Rege-
lungskompetenz besteht, unterlässt es die Bundesregie-
rung, den Unternehmen gegenüber den Reisenden aus-
reichend deutlich ausformulierte Informationspflichten
über die Schlichtungsstelle aufzutragen.

Weiter versäumt es die Bundesregierung, die Sanktio-
nen bei Verstoß gegen die Fahrgastrechte gerade im
Sinne von Menschen mit Behinderung ausreichend zu
konkretisieren. So spart die Verordnung zum Gesetzent-
wurf die Sanktionierung zahlreicher behindertenspezifi-
sche Verstöße gegen die EU-Verordnung aus.

Die Linke wird sich im Gesetzgebungsprozess dafür
einsetzen, dass der Bundestag seinen verbliebenen
Spielraum bei den Fahrgastrechten im Schiffsverkehr im
Sinne der Fahrgäste und nicht im Sinne der beteiligten
Unternehmen nutzt.


Markus Tressel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719835200

Zwei Dinge stehen hier heute zur Debatte: zum einen

Fahrgastrechte im See- und Binnenschiffsverkehr, zum
anderen die Änderung des Luftverkehrsgesetzes. Bei bei-
den Themen hatten wir ausführliche Stellungnahmen der
Bundesländer, die an Kritik nichts offen ließen. Und was
hat die Bundesregierung dazu zu sagen? Man muss hier
auf Seite 48 von einem 50-seitigen Dokument schauen,
um sich dann mit zweieinhalb Seiten Gegenäußerung zu-
frieden zu geben. Den absolut berechtigten Einwendun-
gen zur Schlichtung im Luftverkehr werden gar nur
zwölf Zeilen gewidmet. Ist das Ihr Ernst, meine liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Koalition? Halten Sie

Zu Protokoll gegebene Reden





Markus Tressel


(A) (C)



(D)(B)


es für angemessen, angesichts der Kritik des Bundesra-
tes, wo nahezu alle Länder Änderungsbedarf sahen?

Einen besonderen Gruß sende ich an dieser Stelle mal
nach Bayern. Sie haben im Bundesrat wirklich sehr gute
Arbeit geliefert. Aber das, was CSU und FDP hier ablie-
fern, ist unterirdisch. Ramsauer und Aigner führen mit
dem Verkehrs- und dem Verbraucherministerium auf
Bundesebene zwei Ministerien, denen man nun wirklich
nicht unterstellen kann, dass sie in diesem Bereich nicht
betroffen seien. Das BMVBS war auch stets in die Ver-
handlungen des BMJ unter Führung der FDP eingebun-
den. Das, was Sie hier abliefern, ist Ausdruck des blan-
ken Versagens. Und ich sage Ihnen auch eines: Wenn es
Ihnen wirklich ernsthaft um verkehrsträgerübergrei-
fende und neutrale Schlichtung gegangen wäre, würden
Sie das hier nicht durchgehen lassen. Bei Ihrer Reise
durch das Verbraucherrecht haben Sie wirklich noch
einmal eindrucksvoll unter Beweise gestellt, dass Sie
nichts anderes als blinde Passagiere sind.

Lassen Sie mich eines kurz zitieren. Schauen Sie mal
auf Seite 50: „Die Bundesregierung weist für den Be-
reich des Luftverkehrs darauf hin, dass sich inzwischen
zahlreiche Luftfahrtunternehmen zu einer freiwilligen
Schlichtung bereit erklärt haben.“ Ich frage Sie: Wer ist
denn schon Mitglied bei einer anerkannten Schlich-
tungsstelle? Die Verordnung gibt es schließlich schon
seit siebeneinhalb Jahren. Seit 2005 bestand dazu die
Möglichkeit. Erst bei der Schlichtungsstelle Mobilität,
jetzt bei der SÖP. Wo ist denn die Schlichtungsstelle für
Flugreisende? Was passiert denn derzeit mit den ganzen
Beschwerden, die Fluggäste an die Airlines richten und
die dort nur unzureichend bearbeitet werden? Sie haben
es wirklich nicht begriffen. Weder erkennen Sie die man-
gelhafte Rechtsdurchsetzung der Fluggastreche noch
welches Potenzial eine unabhängige Schlichtungsstelle
für die Reisenden bringt, wohl gemerkt im Zusammen-
hang mit anderen zu nutzenden Instrumenten, wie bei-
spielsweise einer konsequenten Sanktionierung.

Und damit möchte ich auch noch kurz etwas zu den
anderen Bereichen des Reiserechts betonen: Auch hier
– liebe Kollegen von der CSU – bauen Sie nicht Büro-
kratie ab, sondern auf. Was ist denn mit Herrn Stoiber?
Wo ist denn seine Aufgabe? Ist das Reiserecht davon
ausgenommen? Wir brauchen endlich einen Rechtsakt
für alle Reisenden. Was soll denn dieser Käse mit den
ganzen sektorspezifischen Regelungen? Natürlich brau-
chen wir auch Fahrgastrechte für See- und Binnen-
schiffsverkehr. Natürlich brauchen wir Fahrgastrechte
im Bus- und Bahnverkehr. Und selbstverständlich brau-
chen wir dringend ein ordentliches Maß an Verbrau-
cherschutz für Fluggastrechte. Aber: Wir brauchen ein
Reiserecht, dass auch den intermodalen Verkehrskon-
zepten gerecht wird. Wir brauchen ein Recht, das Quali-
tät sichert. Wir brauchen ein Recht, das den Reisenden,
auch ohne dafür ein Jurastaatsexamen gemacht zu ha-
ben, klar und einfach darstellt, welches Recht sie haben –
ganz im Sinne der Reisenden. Denn die sind es, um die es
primär geht, und nicht allein die Wahrung der Interessen
der Wirtschaft.

E
Enak Ferlemann (CDU):
Rede ID: ID1719835300


Mit dem von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurf eines Gesetzes zur Durchführung der Verord-
nung (EU) Nr. 1177/2010 des Europäischen Parlaments
und des Rates vom 24. November 2010 über die Fahr-
gastrechte im See- und Binnenschiffsverkehr sowie zur
Änderung des Luftverkehrsgesetzes werden zum einen
die gesetzlichen Grundlagen im nationalen Recht für die
Einhaltung und Durchsetzung der durch die Verordnung

(EU) Nr. 1177/2010 des Europäischen Parlaments und

des Rates über die Fahrgastrechte im See- und Binnen-
schiffsverkehr und zur Änderung der Verordnung (EG)

Nr. 2006/2004 unmittelbar geltenden Fahrgastrechte im
See- und Binnenschiffsverkehr durch die Einrichtung
entsprechender Stellen sowie der Festlegung eines Sank-
tionsregimes bei vermeintlichen Verstößen geschaffen.

Mit dem Gesetzentwurf setzt die Bundesregierung da-
mit das verbraucherpolitische Ziel der Stärkung und
weiteren Verbesserung der Rechte von Verbrauchern im
See- und Binnenschiffsverkehr in Bezug auf Personen-
verkehrsdienste und Kreuzfahrten unter besonderer
Berücksichtigung von Belangen behinderter und mobili-
tätseingeschränkter Menschen in Deutschland um.
Diese Passagiere erhalten nach Inkrafttreten des vorge-
legten Gesetzentwurfs das gleiche europaweite Schutz-
niveau, wie es schon im Luft- und Eisenbahnverkehr
besteht und künftig auch auf den Buslinienverkehr aus-
geweitet wird.

Der Entwurf des eingebrachten EU-Fahrgastrechte-
Schifffahrt-Gesetzes bestimmt im Wesentlichen die Auf-
gaben und die Zuständigkeit des Bundes für den Bereich
des Verkehrsträgers Schiff zur Durchsetzung der Fahr-
gastrechte. Ferner werden die für die Durchführung der
Verordnung (EU) Nr. 1177/2010 notwendigen Befug-
nisse sowie Mitwirkungspflichten abschließend nor-
miert. Zudem enthält der Gesetzentwurf Regelungen zur
individuellen Streitbeilegung sowie zur Möglichkeit der
Anrufung einer verkehrsträgerübergreifenden Schlich-
tungsstelle.

Neben den Fahrgastrechten im Schiffsverkehr wird
mit dem Gesetzentwurf die Luftsicherheit durch auslän-
dische Flugsicherungsorganisationen in grenznahen
Bereichen und an Flugplätzen durch die Verlängerung
der bestehenden Übergangsfrist für deren Aufgaben-
wahrnehmung aufgrund einer Änderung von § 73 Abs. 4
Luftverkehrsgesetz weiterhin dauerhaft gewährleistet.

Mit der durch den Gesetzentwurf erfolgten Änderung
von § 73 Abs. 4 des Luftverkehrsgesetzes wird die dort
geregelte und am 31. Dezember 2012 endende Über-
gangsfrist für ausländische Flugsicherungsorganisatio-
nen nach dem LuftVG um zwei Jahre bis zum 31. Dezem-
ber 2014 verlängert. Damit wird gewährleistet, dass die
mit ausländischen Staaten ausgehandelten völkerrecht-
lichen Übereinkünfte zur Durchführung der Flugsiche-
rung in Deutschland fristgerecht in Kraft gesetzt werden
können. Andernfalls würden die bisherigen und teilweise
seit Jahrzehnten im deutschen Luftraum in grenznahen
Bereichen ausgeübten Tätigkeiten ausländischer Flug-

Zu Protokoll gegebene Reden





Parl. Staatssekretär Enak Ferlemann


(A) (C)



(D)(B)


sicherungsorganisationen mit Ablauf der bislang gelten-
den Frist als nicht mehr gestattet gelten.

Ich glaube, wir haben heute einen guten Entwurf vor-
gelegt, und freue mich auf zügige parlamentarische Be-
ratungen.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719835400

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 17/10958 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind
damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Bettina
Herlitzius, Hans-Josef Fell, Oliver Krischer, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Beitrag der Raumordnung zu Klimaschutz
und Energiewende

– Drucksache 17/9583 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir
die Reden zu Protokoll.


Ulrich Lange (CSU):
Rede ID: ID1719835500

Die Energiewende ist für die Bundesrepublik

Deutschland neben der Euro-Krise die größte wirt-
schaftspolitische Herausforderung seit dem Wiederauf-
bau und die größte umweltpolitische Herausforderung
überhaupt. Gerade weil unsere umwelt- und energie-
politischen Ziele zu Recht ehrgeizig und anspruchsvoll
sind, bedürfen sie auch einer besonders sorgfältigen
Prüfung im Hinblick auf ihre möglichen Auswirkungen
auf Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitsplätze, aber auch
auf die Kompetenzaufteilung zwischen Bund, Ländern
und Kommunen. Alle Möglichkeiten, die zu einem er-
folgreichen Abschluss dieses Mammutprojektes führen
können, müssen berücksichtigt und integriert werden.
Deshalb müssen auch die positiven Auswirkungen der
Raumordnung betrachtet werden.

Die von den Grünen geforderten Änderungen und
Vorschläge sind jedoch in keiner Weise zielführend, da
es im Wesentlichen um Ziele geht, die auch ohne die be-
antragten Gesetzesänderungen und Raumordnungs-
pläne des Bundes erreicht werden können, sodass die
vorgeschlagenen Maßnahmen lediglich deklaratori-
schen Charakter besitzen.

Zudem werden die erfolgreichen föderalen Strukturen
infrage gestellt. Der Bund ist für die Planung eines aus-
reichenden Hochspannungsnetzes zuständig, welches
gewährleistet, dass der produzierte Strom vom Ort der
Entstehung dahin transportiert wird, wo der Strom ge-
braucht wird. Die Ausweisung raumordnerischer
Gebiete für erneuerbare Energien ist aber originärer
Kompetenzbereich der Landesplanungen. An dieser Auf-

teilung, die sich über Jahrzehnte bewährt hat, werden
wir nichts ändern. Die planerische Konkretisierung des
Ausbaus erneuerbarer Energien auf Grundlage des § 17
Abs. 1 ROG ist nicht notwendig. Es ist nicht sinnvoll,
dass der Bund den Gemeinden vorschreibt, ob und in
welchem Umfang entsprechende Flächen für erneuer-
bare Energien festgeschrieben werden.

Die bisherigen Erfahrungen beim Ausbau der erneu-
erbaren Energien zeigen, dass die Erstellung eines ge-
samtdeutschen Raumordnungsplanes mit verbindlichen
Flächenvorgaben für erneuerbare Energien für die ein-
zelnen Bundesländer nicht notwendig ist. Die Energie-
konzepte der Länder werden nach derzeitigem Stand
dazu führen, dass die von der Bundesregierung anvisier-
ten Ziele für erneuerbare Energie nicht nur erreicht,
sondern übertroffen werden.

Eine verbindliche Vorgabe durch den Bund ist in der
Praxis schon deshalb nicht sachgerecht, weil für ein
effizientes Raummanagement die örtlichen Gegebenhei-
ten der einzelnen Regionen in Ansatz gebracht werden
müssen, so dass eine Steuerung nur auf Ebene der über
die entsprechende Ortskenntnis verfügenden Landes-
und Regionalplanungen möglich ist. Im Übrigen wäre
ein entsprechender gesamtdeutscher Plan nicht zielfüh-
rend, weil er keine positive Wirkung in der Praxis garan-
tieren könnte.

An dieser Stelle möchte ich auf den Flächenver-
brauch eingehen, der zunehmend zu einem Problem
wird. Es ist in unserem Sinn, eine möglichst geringe In-
anspruchnahme land- und forstwirtschaftlicher Flächen
zu erreichen. Ich möchte auf die Doppelbelastung der
Land- und Forstwirtschaft durch Inanspruchnahme
landwirtschaftlicher Flächen zunächst für den Eingriff
selbst und dann für Kompensationsmaßnahmen im Rah-
men des Naturschutzausgleichs hinweisen. Deshalb soll-
ten bei der Umweltprüfung neben Schutz und Schonung
von Naturräumen auch der Schutz von land- und forst-
wirtschaftlichen Flächen, agrarstrukturelle Belange so-
wie für die Landwirtschaft besonders geeignete Böden
sowie der Bodenschutz Berücksichtigung finden.

Wichtig ist auch, dass wir hier die Bevölkerung, ins-
besondere unsere Landwirte, mitnehmen. Bei Kompen-
sationsmaßnahmen müssen Inhalt, Art und Umfang von
Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen zur Entsiegelung,
Wiedervernetzung von Lebensräumen, Bewirtschaftung
und Pflege sowie zum Ersatzgeld und zur Definition
„agrarstrukturelle Belange“ und „besonders geeignete
Böden“ berücksichtigt werden. Eine Erhöhung der ein-
maligen Dienstbarkeitsentschädigung auf 20 Prozent
des Grundstückswertes bei Freileitungen und mindes-
tens 50 Prozent des Grundstückswertes für 380-kV-
Erdverkabelungen sowie die Ergänzung der einmaligen
Dienstbarkeitsentschädigung um eine jährlich wieder-
kehrende und unbefristete Nutzungsvergütung sollten
diskutiert werden.

Der Ausbau der erneuerbaren Energien ist auch für
Deutschland ein Kraftakt. Die von der Bundesregierung
anvisierten klimapolitischen Ziele sind mehr als erfüllt.
Wir sind auf dem Weg zur Energie von morgen: sauber,
bezahlbar, verlässlich.






(A) (C)



(D)(B)



Thomas Bareiß (CDU):
Rede ID: ID1719835600

Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zeigt wieder

einmal deutlich, dass Sie verzweifelt versuchen, unsere
Erfolge in der Energiepolitik schlechtzureden. Statt
unsere energiepolitischen Vorhaben konstruktiv zu be-
gleiten, haben Sie sich auf Blockade und Lamentieren
spezialisiert. Doch die Fakten zeigen deutlich, dass un-
sere Gesetzgebung zum Erreichen der energiepoliti-
schen Ziele erfolgreich ist. Wir erreichen nicht nur un-
sere Ausbauziele bei den erneuerbaren Energien,
sondern übertreffen auch bei Weitem alle Ausbauziele,
die sich Grün oder Rot in ihrer Regierungszeit gesetzt
haben.

Allein im vergangenen Jahr ist der Anteil der erneu-
erbaren Energien am Strommix um 3 Prozent auf über
20 Prozent gestiegen, seit unsere schwarz-gelbe Koali-
tion regiert, ist der Anteil der erneuerbaren Energien um
fast 10 Prozent gestiegen. So schnell wie bei keiner an-
deren Regierung zuvor. Damit gehören wir in Europa zu
den Spitzenreitern beim Ausbau der erneuerbaren Ener-
gien. Auch die Bundesländer überbieten sich in ihren
Energiekonzepten. Insgesamt wollen 14 Bundesländer
energieautark und zehn von ihnen zum Stromexporteur
werden. Alle Ausbauziele zusammen liegen 60 Prozent
über denen der Bundesregierung. Allein im ersten Halb-
jahr dieses Jahres sind laut Branche 26 Prozent mehr
Windenergieanlagen aufgestellt worden als im Vorjah-
reszeitraum, insgesamt 414 Windenergieanlagen mit ei-
ner Leistung von zusammen 1 004 Megawatt. Diese Zah-
len zeigen deutlich, dass der Zubau vor Ort floriert und
keineswegs am jetzigen Raumordnungsgesetz scheitert.

Das aktuelle Raumordnungsgesetz ist eben kein „Er-
neuerbaren-Ausbau-Verhinderungs-Gesetz“, wie es der
vorliegende Antrag suggeriert. Im Gegenteil: Es be-
inhaltet ausreichende Regelungen für Klimaschutz und
den Ausbau der erneuerbaren Energien. So wird schon
zu Beginn des Gesetzes in § 2 Abs. 2 Nr 6 Raumord-
nungsgesetz geregelt: „Den räumlichen Erfordernissen
des Klimaschutzes ist Rechnung zu tragen sowohl durch
Maßnahmen, die dem Klimawandel entgegenwirken als
auch durch solche, die der Anpassung an den Klima-
wandel dienen. Dabei sind die räumlichen Vorausset-
zungen für den Ausbau der erneuerbaren Energien … zu
schaffen.“

Auch der Flächensicherung für erneuerbare Ener-
gien und Klimaschutz wird im Raumordnungsgesetz
Rechnung getragen. Raumbedeutsame Nutzungen und
Funktionen des Raumes sowie alle denkbaren raumord-
nerischen Steuerungsfunktionen sind dort ausreichend
abgedeckt. Die von Ihnen geforderte Ergänzung im § 8
Abs. 5 ROG ist also nicht sinnvoll, da sie eine rein dekla-
ratorische Normierung ohne eigenen Regelungsgehalt
darstellen würde.

Wenn die Grünen an der einen Stelle mehr Bürgerbe-
teiligung beim Ausbau der Netze oder Umbau von Bahn-
höfen fordern, dann sollten sie auch beim Ausbau der er-
neuerbaren Energien konsequent bleiben und nicht
einen Bundesausbauplan für erneuerbare Energien for-
dern. Denn auch aus Gründen der Akzeptanz ist es rich-
tig, dass auf Landesebene und kommunaler Ebene vor

Ort entschieden wird, wo die erneuerbaren Erzeugungs-
anlagen gebaut werden. Vorgaben für den Ausbau der er-
neuerbaren Energien durch das Raumordnungsgesetz
würden die Akzeptanz der erneuerbaren Energien nur
unnötig gefährden. Denn die Leute vor Ort wollen mit
eingebunden werden, wenn vor ihren Häusern Wind-
mühlen oder Biogasanlagen gebaut werden. Geeignete
Gebiete für erneuerbare Energien festzulegen, kann also
besser durch die Länder als durch den Bund geschehen.
Denn die Länder verfügen zusammen mit den Kommu-
nen eindeutig über die bessere Ortskenntnis in den
Regionen. Dass dies funktioniert, beweisen sowohl alle
Energiekonzepte der Länder mit ihren teils überborden-
den Ausbauzielen als auch die laufende Umsetzung
durch die Landes- und Regionalplanung der Bundeslän-
der.

Dieser Antrag zeigt wieder einmal den Realitätssinn
der Grünen. Sie verkennen die Lage und die eigentlichen
Herausforderungen der Energiewende. Unser Haupt-
problem ist nicht, dass wir den Zubau durch EEG-
Novellen durch das Raumordnungsgesetz verhindern.
Vielmehr stellt uns der äußerst schnelle Ausbau der er-
neuerbaren Energien vor massive, andere Herausforde-
rungen. So ist es nun an der Zeit, dass die erneuerbaren
Energien schneller zu Markt- und Wettbewerbsfähigkeit
geführt werden. Deshalb haben wir mit der Marktprä-
mie erstmals ein Instrument für mehr Systemintegration
der erneuerbaren Energien geschaffen. Damit wird an-
gereizt, dass die erneuerbaren Energien nicht einfach
blind einspeisen, sondern sich besser in das System inte-
grieren. Weitere Schritte werden und müssen folgen.
Zum einen müssen die erneuerbaren Energien für den
Verbraucher bezahlbar bleiben. Deshalb fühlen wir uns
in der Pflicht, die Förderung der Erneuerbaren so effi-
zient wie möglich zu gestalten. Dies haben wir in ver-
gangenen EEG-Novellen versucht, doch auch hier wur-
den wir zu oft von Ihnen im Bundesrat gehindert. Zum
anderen muss der Ausbau der erneuerbaren Energien
mit dem Ausbau der Netze in Einklang gebracht werden.

Diesen und weiteren Herausforderungen stellen wir
uns. Wo Sie schon mit Wahlkampfgetöse starten, leiten
wir zusammen mit Bundesumweltminister Peter
Altmaier einen Verfahrensprozess ein und packen diese
Herausforderungen ganz konkret an. Das Parlament,
die Länder und auch die Bürger bekommen die Möglich-
keit, sich an diesem Verfahren zu beteiligen. Das ist auch
Ihre Chance, zu zeigen, dass Sie es ernst meinen mit der
Energiewende.


Michael Groß (SPD):
Rede ID: ID1719835700

Das Raumordnungsgesetz beinhaltet die Leitvorstel-

lung einer nachhaltigen Raumordnung, die die sozialen
und wirtschaftlichen Anforderungen an den Raum in der
Bundesrepublik mit den ökologischen in Einklang bringt
und ausgewogen gestaltet. Mit der letzten Novelle 2008
wurden nicht nur Anpassungen hinsichtlich der Födera-
lismusreform vorgenommen, sondern wurde das Raum-
ordnungsgesetz, ROG, auch an die aktuellen „Leitbilder
und Handlungsstrategien für die Raumentwicklung in
Deutschland“ angepasst. Diese Neufassung hatte unter
anderem die Verringerung der Flächeninanspruch-

Zu Protokoll gegebene Reden





Michael Groß


(A) (C)



(D)(B)


nahme, den Klimaschutz, die Stärkung des ländlichen
Raumes und das Hervorheben der interkommunalen und
europäischen Zusammenarbeit zum Ziel. Insgesamt
wurde die Raumordnungsgesetzgebung derart gestaltet,
dass sie künftig von vornherein flexibel auf besondere
Entwicklungen reagieren kann. Auch die EU-Richtlinie
zur strategischen Umweltprüfung wurde im damaligen
Gesetz vollständig umgesetzt. Ziel war es zu diesem Zeit-
punkt bereits, die Raumordnung umfassend auf klima-
bedingte Veränderungen vorzubereiten und deren Aus-
wirkungen einzubeziehen.

Wegen der unmittelbaren Auswirkungen der Raum-
ordnung auf die Bauleitplanung sind detaillierte Vorga-
ben in der Raumordnung eher zurückhaltend zu bewer-
ten. Als NRW-Bundestagsabgeordneter kann ich
darüber informieren, dass der weit überwiegende Teil
der kommunalen Flächennutzungspläne in NRW bereits
Darstellungen zu Konzentrationszonen mit Windenergie
enthält.

Mit Klimaveränderungen wird zunehmend die Frage
der Ernährung und als wichtigstes Produktionsmittel
der Boden – also die Fläche – eine gewichtige Rolle
spielen. Bereits jetzt ist die Konkurrenz um die Fläche
sehr hoch. Auch der Präsident des Deutschen Bauern-
verbandes lenkte das Augenmerk um die Flächenkon-
kurrenz von Nahrung und Energie mit einer öffentlichen
Petition auf die schwindende landwirtschaftliche Flä-
che. Mit dem ZDF-Thementag gegen Hunger – als im-
mer noch größtes Gesundheitsrisiko in der Welt – wird
der Ernst der Lage sehr deutlich. Hier liegt aus Sicht der
SPD die Aufgabe der Raumordnung klar in der Identifi-
zierung und Abwägung spezifischer Nutzungskonkurren-
zen.

Es ist ohne Zweifel eine politische Aufgabe, den Aus-
bau erneuerbarer Energien zu beschleunigen. Auch die
Ministerkonferenz für Raumordnung bekräftigte, dass
„die verstärkte Nutzung regenerativer Energien und der
hierzu erforderliche Netz- und Speicherausbau der
überörtlichen, planerischen Konzeption sowie der
Flächen-, Standort- und Trassenvorsorge durch die
Landes- und Regionalplanung bedarf“. Gerade regene-
rative Energien bieten die Chance dezentraler Struktu-
ren und können nur vor Ort und in Kooperation von
Bund, Land und Kommunen entwickelt werden. Dazu
sind die ordnungspolitischen Voraussetzungen zu schaf-
fen.

Das Netzausbaubeschleunigungsgesetz, NABeG, hat
eine Reihe von Verbesserungen bei der Öffentlichkeits-
beteiligung im Rahmen der Bundesnetz- und Bedarfs-
planung geschaffen, so zum Beispiel die Verpflichtung
der Betreiber von Übertragungsnetzen, den Entwurf des
Netzentwicklungsplans vor Vorlage bei der Regulie-
rungsbehörde im Internet zu veröffentlichen, sowie die
verpflichtende Öffentlichkeitsbeteiligung im Zuge der
strategischen Umweltprüfung. Darüber hinausgehend
halten wir weitere Verbesserungen der Bürgerbeteili-
gung für geboten.

Für den ambitionierten Ausbau der regenerativen
Energien in Deutschland müssen wir die Menschen mit-
nehmen, aber insbesondere gewinnen und regionale

Belange berücksichtigen. Ich verweise an dieser Stelle
erneut auf unseren Antrag und das SPD-Konzept im
Rahmen des Infrastrukturkonsenses zu umfassender
Bürgerbeteiligung. Bei der Raumordnung muss jedoch
mit Augenmaß gehandelt werden und ein Abwägungs-
prozess gestaltet werden. Dies geht nur über regionale
Planung, horizontal und vertikal abgestimmte regionale
Konzepte – gerade für die Gestaltung der Energie-
wende. Eine einseitige Auslegung der Raumordnungs-
gesetze wäre hier sicher nicht zielführend.

Wichtig ist also eine enge inhaltliche und politische
Abstimmung mit den Ländern, ob überhaupt und in wel-
cher Form eine Änderung der Raumordnung verfolgt
werden sollte.


Petra Müller (FDP):
Rede ID: ID1719835800

Die christlich-liberale Regierungskoalition hat sich der

unumkehrbaren und umfassenden Energiewende ver-
schrieben. Ob im Bundesministerium für Wirtschaft un-
ter Führung des FDP-Vorsitzenden Dr. Philipp Rösler,
im Umweltministerium unter dem Christdemokraten
Peter Altmaier oder im BMVBS unter dem CSU-Minis-
ter Dr. Peter Ramsauer – alle Parteien der Koalition ar-
beiten intensiv und nachdrücklich an der Umsetzung der
Beschlüsse zur Energiewende. Das beinhaltet selbstver-
ständlich auch, die klimagerechte Entwicklung in den
Städten und Gemeinden zu fördern, den CO2-Ausstoß zu
verringern, die erneuerbaren Energien auszubauen.
Überall dort, wo Bau-, Stadtplanungsvorschriften sowie
Raumordnung dazu einen Beitrag leisten können, wer-
den wir das tun. Denn Raumordnung und Stadtentwick-
lung, Klimaschutz und Energiewende sind für die FDP
kein Widerspruch, sondern bilden eine Einheit, die es
politisch weitblickend, sozialverträglich, ökologisch sinn-
voll und ökonomisch vertretbar zu gestalten gilt.

Mit den Änderungen des Baugesetzbuches tun wir ge-
nau das. Wir gestalten und begleiten unter anderem
auch die Energiewende und leisten den fachlichen Bei-
trag zum Klima- und Naturschutz, der in Verantwortung
für lebende wie zukünftige Generationen notwendig ist.
Kursorisch lassen Sie mich einige Themen aufgreifen.
Bereits in § 1 des novellierten Baugesetzbuches werden
die Bedeutung der Fläche und die Schonung der Natur
in besonderer Weise hervorgehoben und gestärkt. Die
Notwendigkeit der Umwandlung landwirtschaftlich oder
als Wald genutzter Flächen soll zukünftig begründet
werden. Der Innenentwicklung von Städten und Gemein-
den wird daher eine wichtige Rolle zugewiesen. Brach-
flächen, Baulücken, Gebäudeleerstand und Möglichkeiten
der Nachverdichtung werden ausdrücklich hervorgeho-
ben. Das wird den Flächenverbrauch in der Zukunft
bremsen und damit das natürliche und klimafreundliche
Regenerationspotenzial stärken. Gleiches gilt für § 17,
wo der Spielraum der Gemeinden im Interesse der In-
nenentwicklung erhöht wird, wenn es darum geht, von
Obergrenzen für die Festsetzung des Maßes für bauliche
Nutzungen abzuweichen.

Die FDP hält am Ziel des Nullneuflächenverbrauchs
fest und sieht vor dem Hintergrund der demografischen
Entwicklung einen politisch begleiteten negativen

Zu Protokoll gegebene Reden





Petra Müller (Aachen)



(A) (C)



(D)(B)


Flächenverbrauch für angezeigt. Und lassen Sie mich
einfügen: Die Innenentwicklung werden wir nicht nur im
Baugesetzbuch fördern. Mit den für den Bundeshaushalt
2013 erhöhten Mitteln für die Städtebauförderpro-
gramme „Aktive Stadt- und Ortsteilzentren“ um 4 Mil-
lionen auf 97 Millionen Euro, „Kleine Städte und Ge-
meinden“ um 10 Millionen auf 55 Millionen Euro,
„Stadtumbau Ost und West“ zusammen 116 Millionen
Euro werden wir passgenau unter anderem das tun, was
Sie fordern: den Flächenverbrauch senken, die Innen-
städte fördern, den natürlichen Lebensraum erhalten,
die Klimabilanz verbessern. Das ist Politik der FDP und
das ist Politik der christlich-liberalen Union.

Doch zurück zur Baugesetzbuchnovelle. Mit § 136
werden wir die Belange des Klimaschutzes und der
Klimaanpassung ausdrücklich in die Beurteilung städte-
baulicher Missstände einbeziehen. Damit wird deutlich,
dass beide Aspekte – Klimaschutz und Klimaanpas-
sung – auch im Rahmen der städtebaulichen Sanierung
und als Bestandteil städtebaulicher Gesamtmaßnahmen
zukünftig berücksichtigt werden. Die bereits vielerorts
praktizierten Aktivitäten zur klimagerechten Stadterneue-
rung finden damit auch im Gesetzestext eine Stütze. Die
Städte und Gemeinden können davon Gebrauch ma-
chen; es liegt in ihrem planerischen Ermessen. Die FDP
und die Bundesgesetzgebung fordern sie dazu ausdrück-
lich auf und schaffen dafür den rechtlichen Rahmen.

Gleichzeitig sollen in § 136 die energetische Beschaf-
fenheit und die Gesamtenergieeffizienz als Kriterien be-
nannt werden für die Sanierungsbedürftigkeit. Damit
sollen städtebauliche Sanierungsmaßnahmen zukünftig
einen stärkeren Beitrag dazu leisten, dem Klimawandel
entgegenzuwirken. Dafür wird es notwendig sein, die
Ausstattung baulicher Anlagen mit nachhaltigen Versor-
gungseinrichtungen, mit Erneuerbare-Energien-Anlagen,
mit Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen und einer verbes-
serten Wärmedämmung zu versehen. Was die Nutzung von
Solarthermie- und Photovoltaikanlagen betrifft, werden
wir die Baunutzungsverordnung – §§ 14 und 17 – ent-
sprechend anpassen.

Die Möglichkeiten, den Klimaschutz politisch und ge-
setzgeberisch zu fördern und die Energiewende in unse-
rem Land voranzutreiben sind vielfältig. Die christlich-
liberale Koalition beweist unter anderem mit der No-
velle des Baugesetzbuches oder mit der Fortentwicklung
der Städtebauförderprogramme, dass sie auch weiterhin
handwerklich solide und ökologisch nachhaltig und
politisch erfolgreich daran arbeitet.


Heidrun Bluhm (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719835900

Dem hier vorliegenden Antrag der Fraktion Bünd-

nis 90/Die Grünen stimmen wir insgesamt zu, auch
wenn wir nicht jede einzelne Forderung eins zu eins
übernehmen würden. Wenn die Umsetzung dieses An-
trags aber einen Beitrag leisten kann zur Beschleuni-
gung der Energiewende, hat er unsere Unterstützung. Es
ist absolut richtig, dass die Raumordnung einen gewichti-
gen Beitrag zum Gelingen der Energiewende leisten
kann. Voraussetzung ist aber, dass der Bund mit seiner
Gesetzgebung die Landesbehörden unterstützt und deren

Kompetenz, aber auch deren Motivation stärkt. Ob dazu
ein Bundesraumordnungsplan, wie in Punkt 3 des An-
trags gefordert wird, das richtige Instrument ist, lasse
ich erst einmal dahingestellt. Richtig ist jedenfalls das
Anliegen, das ich dahinter vermute.

Die Energiewende ist eine Aufgabe von geradezu his-
torischer Bedeutung. Als politische Aufgabenstellung ist
sie aber noch relativ jung und die verfügbaren Planungs-
instrumente, die Planungsgremien und der gegebene
Rechtsrahmen haben darauf noch nicht in der notwen-
digen Konsequenz reagiert. Anstelle eines Bundesraum-
ordnungsplanes – der könnte vielleicht der zweite
Schritt sein –, würde ich eine generelle Revision sämt-
licher Planungs- und Rechtsvoraussetzungen anregen.
Das gesamte System von Planungshoheit, Ämterbefug-
nis und die in den letzten Jahrzehnten geübte Planungs-
praxis gehören auf den Prüfstand, und zwar unter der
Prämisse, ob sie den objektiven Erfordernissen des Kli-
maschutzes und der Energiewende noch gerecht werden.

Klimaschutz ist eine internationale Aufgabe, die aber
in Regionen und Gemeinden verwirklicht werden muss.

Die Frage ist: Ist die Raumordnungsplanung in ihrer
jetzigen traditionellen Verfasstheit in der Lage und ist
sie motiviert, dazu einen entscheidenden Beitrag zu leis-
ten? Ich meine, es gibt da bedeutende Reserven und Po-
tenziale zu heben, für die aber bundespolitische Priori-
tätensetzungen einschließlich des dafür erforderlichen
Rechtsrahmens notwendig sind.

Insofern ist mir auch die Forderung im Punkt 4 des
Antrags zu zögerlich, wonach die Bundesregierung an-
gehalten ist, zu „prüfen, ob der Klimaschutz und der
Ausbau erneuerbarer Energien gestärkt werden können,
indem im Raumordnungsgesetz die Möglichkeit geschaf-
fen wird, Flächenvorgaben verbindlich auf die Länder-
ebenen zu konkretisieren“. Der Bund muss, ausgehend
von Klimaschutzerfordernissen, einen Prioritätenkatalog
festlegen, den die Landesplanung in ihre Prämissen zur
Fortschreibung von Raumordnungskonzepten und -pla-
nungen übernimmt. Er muss auch mit den Ländern ge-
meinsam eine Hirarchie der Entscheidungsebenen ab-
stimmen, mit der Planungszeiträume verkürzt und
unmissverständliche Rechtssicherheit in den einzelnen
Planungsschritten erreicht werden können. Weder der
Klimaschutz noch die Energiewende dürfen durch Lan-
desgrenzen aufgehalten werden.

Wenn es Landesinteressen oder regionale Interessen
gibt, die zu Verhinderungsplanungen verleiten, müssen
diese Interessen mit den Bundesinteressen verglichen
und Interessenkonflikte durch Vereinbarungen ausge-
glichen werden. Die Frage ist, ob in der Bürgerbeteili-
gungspraxis eine ausreichende Berücksichtigung aller
Interessen stattfindet oder ob Planungsvorgaben dazu
führen können, dass berechtigte Bürgerinteressen zu
früh und ohne Nachteilsausgleich weggewogen werden.
Zur Bürgerbeteiligung wäre es sinnvoll, ein Instrument
der Bestandsaufnahme der Interessen aller von der
Raumordnungsplanung Betroffenen am Beginn einer
Planfortschreibung oder einer Planänderung zu finden,
und zwar mit dem Ziel, Einvernehmen herzustellen und
auf eine vertragliche Grundlage zu heben. Geschieht

Zu Protokoll gegebene Reden





Heidrun Bluhm


(A) (C)



(D)(B)


das nicht, entscheiden womöglich am Ende einer jahre-
langen Planungsphase Oberverwaltungsgerichte da-
rüber – und zwar aus rein rechtsformalen Gründen –, ob
die Energiewende gelingt oder ob die Akteure, die die-
sen Prozess voranbringen wollen, irgendwann entnervt
oder pleite aufgeben.

Akzeptanz im Kleinen ist notwendig, damit die Ener-
giewende im Großen gelingen kann.


Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719836000

Die Raumordnung wird von dieser Regierung ver-

nachlässigt. Denn schon im Jahr 2010 sollte der neue
Raumordnungsbericht vorliegen. Doch es hat bis An-
fang dieses Jahres gedauert, also zwei Jahre länger als
geplant. Jetzt liegt der Bericht zwar vor, aber Sie wei-
gern sich, den Bericht im Parlament zu debattieren.

Die Gründe dafür sind offensichtlich. Sie wollen den
Bericht dem Bundestag nicht vorlegen, weil er aufzeigt,
welche Steuerungspotenziale in der Raumordnung lie-
gen. Er zeigt sehr deutlich auf, wo sie tatenlos sind und
wie sie es versäumen, die Energiewende ernsthaft zu be-
treiben. Herr Minister Raumsauer, lassen Sie die Poten-
ziale der Raumordnung nicht ungenutzt. Gerade im Be-
reich der Energiewende gibt es über die Raumordnung
Gestaltungsmöglichen. Laut Raumordnungsbericht 2012
sollten im besonderen Maße der Ausbau erneuerbarer
Energien und Leitungsnetze, Risikomanagement und
Schutz kritischer Infrastrukturen als Aufgabe der Bun-
desraumordnung gesehen werden. Und auch die wich-
tigen Themen wie Begrenzung des Flächenverbrauchs
und der Aufbau eines nationalen Biotopverbundsystems
wären hier gut aufgehoben. Doch in keinem dieser Be-
reiche werden Sie – als Regierung – aktiv.

Der aktuell wichtigste Handlungsansatz ist jedoch
der Ausbau der erneuerbaren Energien und der Lei-
tungsnetze. Dazu kann die Raumordnung einen wesent-
lichen Beitrag leisten, wie wir in unserem Antrag aufzei-
gen. Das hat mittlerweile sogar Bundesumweltminister
Peter Altmeier erkannt. Vor kurzem sagte er: „Die wich-
tigste Aufgabe ist, ein Gesamtkonzept auszuarbeiten, in
dem der Ausbau der erneuerbaren Energien und der
Stromnetze besser miteinander verzahnt werden.“ Wir
sind gespannt auf Ihre Vorschläge! Denn das Ministe-
rium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ignoriert
weiterhin kosequent die Potenziale der Raumordnung
für die Energiewende und den Klimaschutz. Dabei ist
dafür nicht einmal eine Gesetzesänderung notwendig.
Denn schon mit einem Bundesraumordnungsplan, der
übrigens eh im Raumordnungsgesetz vorgesehen ist,
lässt sich hier schon viel erreichen.

Ein Bundesraumordnungsplan für erneuerbare Ener-
gien schafft Transparenz, bietet den nachfolgenden Ebe-
nen Orientierung und schafft so einen Beitrag zur sach-
gerechten Verteilung erneuerbarer Energien im Raum.
Dabei geht es selbstverständlich nicht darum, ein plan-
wirtschaftliches Instrument zu schaffen, das den Län-
dern keinen Handlungsspielraum mehr lässt, sondern
vielmehr darum, eine Grundlage für einen koordinierten
Ausbau zu schaffen. Das wäre ein echter Beitrag zur
Energiewende, im Gegensatz zu dem Ausbaustopp für
Windkraft, den Minister Altmeier fordert.

Die Verhinderung von Windkraftanlagen ist kein neues
Thema. So kam es in der Vergangenheit vor, dass Gemein-
den die Möglichkeit zur Festlegung von Windkrafteig-
nungsgebieten genutzt haben, um Windkraftanlagen zu
verhindern. Damit werden gesetzliche Möglichkeiten, die
eigentlich den Ausbau erneuerbarer Energien befördern
sollen, ad absurdum geführt. Denn solche Eignungsge-
biete sind mit einer Sperrwirkung ausgestattet. Das heißt,
werden Flächen als Eignungsflächen für Windkraft vorge-
sehen, ist diese Nutzung auf umliegenden Flächen nicht
möglich. Hier muss das Raumordnungsgesetz angepasst
werden, um diese missbräuchliche Verhinderungsplanung
zu erschweren. Eignungsgebiete für Windkraft sollten nur
noch in Ausnahmefällen möglich sein.

Auch zum Thema Repowering von Windkraftanlagen
muss das Raumordnungsgesetz überarbeitet werden.
Denn der Austausch alter Windkraftanlagen durch mo-
derne und effizientere Anlagen wurde mit der letzten
BauGB-Novelle schon in das Baugesetzbuch aufgenom-
men. Dieser Ansatz muss auch in das Raumordnungsge-
setz übertragen werden. Dazu haben Sie vor elf Monaten
in Ihrer Antwort auf unsere Kleine Anfrage angemerkt,
dass Sie noch nicht abschließend entschieden haben, ob
eine solche Änderung sinnvoll ist. Geschwindigkeit ist
bei der Energiewende nicht Ihre Sache, das ist klar. Viel-
leicht haben Sie hier mittlerweile doch eine Entschei-
dung getroffen und die Notwendigkeit dieser Regelung
erkannt. Dann freuen wir uns über Ihre Unterstützung
für unseren Antrag.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719836100

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/9583 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a und 25 b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-

gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-
zung des Seearbeitsübereinkommens 2006 der
Internationalen Arbeitsorganisation
– Drucksache 17/10959 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales

(11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-

ten Herbert Behrens, Dr. Kirsten Tackmann,
Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
Unverzügliche Ratifizierung des Seearbeits-
übereinkommens der Internationalen Arbeits-
organisation
– Drucksachen 17/9066, 17/9614 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Johann Wadephul

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir
die Reden zu Protokoll.






(A) (C)



(D)(B)



Dr. Johann Wadephul (CDU):
Rede ID: ID1719836200

Wir diskutieren heute ein sehr wichtiges Regelwerk –

den Entwurf für das neue Seearbeitsgesetz. Dabei geht
es um die Arbeits- und Lebensbedingungen der Seeleute
an Bord von Kauffahrteischiffen unter deutscher Flagge.
Wir setzen damit das Seearbeitsübereinkommen der In-
ternationalen Arbeitsorganisation – kurz ILO – aus dem
Jahr 2006 in deutsches Recht um. Gleichzeitig wird die
Ratifizierung des ILO-Abkommens vorbereitet. Deutsch-
land trägt mit diesen Vorhaben seinen Teil dazu bei, dass
das ILO-Übereinkommen weltweite Gültigkeit erlangen
kann. Wenn dieses Ziel erreicht ist, herrschen überall
auf See dieselben Bedingungen für Seeleute. Vor dem
Hintergrund des zunehmenden globalen Wettbewerbs ist
dies auch wichtig; denn nur mit weltweit einheitlichen
Mindeststandards kann der Wettbewerb nicht auf Kosten
der Beschäftigten stattfinden. Zusammen mit den neu
aufgenommenen Elementen der Flaggenstaatkontrolle
und der Hafenstaatkontrolle, auf die ich gleich noch näher
eingehen werde, bilden diese Mindeststandards das Kern-
stück des ILO-Übereinkommens aus dem Jahr 2006.

Nach der Flaggenstaatkontrolle muss jeder Staat die
Einhaltung der Bestimmungen des Seearbeitsüberein-
kommens auf Schiffen unter seiner Flagge überwachen.
Die Hafenstaatkontrolle sieht vor, dass jeder Staat, in
dessen Häfen Schiffe unter fremder Flagge einlaufen,
die Einhaltung der ILO-Anforderungen zu überprüfen
hat. Somit ist gewährleistet, dass auf allen Schiffen welt-
weit dieselben Bedingungen herrschen müssen, auch auf
Schiffen unter der Flagge solcher Staaten, die das ILO-
Abkommen nicht ratifiziert haben. Zahlenmäßig sprechen
wir von circa 65 000 Handelsschiffen oder etwa 1,2 Mil-
lionen Seeleuten, die von diesen Vorhaben betroffen
sind. Sie erkennen hiermit die enorme Tragweite unserer
nationalen Bemühungen.

Bevor ich näher auf die markantesten Neuerungen
unseres vorliegenden Gesetzentwurfs eingehe, möchte
ich gerne noch ein paar Bemerkungen zu dem Antrag
der Linksfraktion machen. Sie haben, meine Damen und
Herren von den Linken, in Ihrem Antrag die Bundesre-
gierung aufgefordert, das Seearbeitsübereinkommen der
Internationalen Arbeitsorganisation unverzüglich zu ra-
tifizieren. Wie ich schon in meiner letzten Rede zu die-
sem Thema dargelegt habe, ist uns in der Union der Ar-
beitsschutz und die Gesundheit der auf See tätigen
Menschen ein wichtiges Anliegen. Dafür muss es die
eingangs erwähnten Mindestbedingungen geben. So
weit sind wir uns einig.

Aber was den richtigen Zeitpunkt für die Ratifizie-
rung angeht, überlassen Sie doch besser uns die Ent-
scheidung. Es macht nämlich wenig Sinn, den zweiten
Schritt vor dem ersten zu gehen. Wenn wir das ILO-
Übereinkommen ratifizieren, ohne zuvor die internatio-
nalen Bestimmungen in nationales Recht umgesetzt zu
haben, fehlt uns ein wichtiger Baustein. Für alle Schiffe,
die unter der deutschen Bundesflagge in See stechen, be-
nötigen wir ein Regelwerk, das international Bestand
hat. Das ist zudem eine wesentliche rechtliche Voraus-
setzung, um überhaupt das ILO-Abkommen ratifizieren
zu können. Das deutsche Seemannsgesetz, das bis zum
Inkrafttreten des neuen Seearbeitsgesetzes gültig ist, er-

füllt dies nicht vollständig. Sonst brauchten wir ja auch
das aktuelle Gesetzgebungsverfahren nicht. Die mo-
derne, global ausgerichtete Handelsschifffahrt erfordert
gerade im Bereich des Arbeits- und Sozialrechts eine
neue Rechtsgrundlage. Meine Fraktion hat deswegen
auch Ihren Antrag ablehnen müssen.

Wie Sie wissen, wird das neue Seearbeitsgesetz der-
zeit erarbeitet. Es noch in diesem Jahr verabschiedet
werden, sodass es im ersten Quartal 2013 in Kraft treten
kann. Die Ratifizierung selbst ist dann nur noch reine
Formsache.

Bis das neue Gesetz in Kraft tritt, stehen die Seeleute
unter deutscher Flagge aber keinesfalls schutzlos da.
Das aktuelle Seemannsgesetz setzt bereits einen hohen
Standard für den Schutz der Lebens- und Arbeitsbedin-
gungen an Bord. Das beginnt bei den Regelungen über
das Heuerverhältnis, Arbeitsschutz, Verpflegung, Unter-
bringung und geht hin bis zu Vorschriften über die medi-
zinische Versorgung, Urlaub und Landgang.

Der Entwurf für das neue Seearbeitsrecht setzt jedoch
weitere, ganz neue Maßstäbe.

So berücksichtigt es neue Entwicklungen im Bereich
der Schifffahrt, sei es im Bereich des Handels oder etwa
der Offshoreindustrie.

Der persönliche Geltungsbereich des Gesetzentwurfs
ist weiter gefasst als der bisherige im Seemannsgesetz.
So gilt das Gesetz zum Beispiel auch für selbstständig an
Bord Tätige oder für abhängig Beschäftigte, die bei ei-
nem anderen Arbeitgeber als dem Reeder des Schiffs be-
schäftigt sind.

Eine Neuerung ist auch die Definition des Reeders im
Bereich des Seearbeitsrechts und seine Verantwortung
für die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Seeleute an
Bord seines Schiffs. Dies gilt unabhängig davon, ob er
selbst ihr Arbeitgeber ist oder ein Dritter. Damit werden
die Seeleute davor geschützt, dass ein Reeder versuchen
könnte, seine Pflichten gegenüber den Seeleuten auf an-
dere abzuwälzen.

Um die bereits angesprochenen umfangreichen Kon-
trollen künftig effizienter zu gestalten, sieht das neue
Gesetz ein transparentes Verfahren vor, mit dem die See-
diensttauglichkeit der Besatzungsmitglieder eines Schiffes
festgestellt werden kann. An dessen Ende erhalten die
Seeleute dann ein Seetauglichkeitszeugnis.

Eine bessere Übersicht und klarere Abgrenzungen
finden sich auch bei den neu geregelten Arbeits- und
Ruhezeiten. Erforderliche Abweichungen von Höchst-
arbeitszeiten oder Mindestruhezeiten sind für bestimmte
Schiffskategorien oder bestimmte Arbeitseinsätze vorge-
sehen. Um die Besatzungsmitglieder nicht zu überfor-
dern, werden daneben auch Ausgleichsruhezeiten vorge-
schrieben.

Als letztes positives Beispiel aus diesem Regelwerk
möchte ich den Bereich der Berufsausbildung an Bord
erwähnen. Dieser wird erstmals gesetzlich normiert.
Das Berufsbildungsgesetz, das die Ausbildung an Land
regelt, wird den besonderen Anforderungen auf See nur
in Teilen gerecht. Die neuen Vorschriften im Seearbeits-

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Johann Wadephul


(A) (C)



(D)(B)


gesetz orientieren sich hieran so weit wie möglich. Al-
lerdings berücksichtigen sie eben auch die besonderen
Gegebenheiten einer Berufsausbildung an Bord.

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf leistet die Bun-
desregierung also ihren Beitrag zur weltweiten Anwen-
dung des Seearbeitsübereinkommens. Sie trägt mit
Sorge dafür, dass auf See angemessene Bedingungen für
die Beschäftigten gelten. Durch ihre Gesetzesvorhaben
sichert sie gleichzeitig, dass der Wettbewerb auf Kauf-
fahrteischiffen nicht über die Besatzungsmitglieder aus-
getragen wird.


Josip Juratovic (SPD):
Rede ID: ID1719836300

Ich hatte gehofft, dass ich mich hier schon viel

schneller wieder zum Seearbeitsübereinkommen äußern
kann. Denn es war eine ganz schöne Hängepartie der
Bundesregierung, bis der Gesetzentwurf zur Umsetzung
des Seearbeitsübereinkommens fertig war. Das Seearbeits-
übereinkommen war 2006 von der Internationalen Ar-
beitsorganisation, ILO, beschlossen worden. In der Gro-
ßen Koalition hatten wir noch intensiv an der
Umsetzung gearbeitet, doch seit 2009 wurde das alles
schleifen gelassen. In Antworten auf schriftliche Fragen
der SPD-Fraktion und im Ausschuss wurden von der
Bundesregierung immer wieder verschiedene Daten ge-
nannt, zu denen ein Gesetzentwurf vorgelegt werden
sollte. Und jedes Mal verstrichen diese Daten, ohne dass
etwas geschah. Deswegen möchte ich zunächst der Bun-
desregierung gratulieren, dass es nach viel zu langer
Zeit nun endlich geglückt ist, einen Gesetzentwurf vor-
zulegen, und es damit endlich einen Schritt vorwärtsgeht
auf dem Weg zu guten und fairen Arbeitsbedingungen
auf See.

Leider stimmt aber der Spruch „Was lange währt,
wird endlich gut“ nicht immer. So ist das auch hier, und
der Teufel steckt im Detail. Der Bundesrat hat bereits ei-
nige wichtige Anmerkungen vorgebracht, so beispiels-
weise bei der Anerkennung von Ausbildungsberufen in
der Seeschifffahrt. Hier war es bisher so, dass die Län-
der einbezogen werden – und dabei muss es auch blei-
ben, auch wenn der Gesetzentwurf der Bundesregierung
zunächst anderes vorsah. Wir haben an der Küste viele
gute Ausbildungsstandorte für Seeleute. Diese gute Aus-
bildung müssen wir auch in Zukunft gewährleisten.

Die Verfassung der ILO besagt, dass es durch die
Umsetzung von Übereinkommen nicht zu einer Schlech-
terstellung im Vergleich zu den davor geltenden Rege-
lungen kommen darf. Wir dürfen also keine der Regelun-
gen, die bisher bestehen, verwässern. Doch auch hier
sehe ich im Gesetzentwurf der Bundesregierung Pro-
bleme.

Zum einen, und auch dies kritisiert der Bundesrat,
werden die hafenärztlichen Dienste abgeschafft. Wir
dürfen aber die Gesundheitsämter bei der Kontrolle der
Arbeits- und Gesundheitsbedingungen nicht außen vor
lassen, denn hier wird gute Arbeit geleistet. Hier hat
sich ein Modell bewährt, das wir nicht abändern sollten.
Auch in Zukunft sollen die Gesundheitsämter hier über-
wachen. Alles andere wäre eine Schlechterstellung der
Seeleute.

Die Gefahr einer Schlechterstellung sehe ich zum an-
deren in der Formulierung zu Höchstarbeitszeiten und
Mindestruhezeiten. Wir haben derzeit eine Regelung im
Seemannsgesetz, die im Großen und Ganzen gut funk-
tioniert. Nach Art. 19 der Verfassung der Internationa-
len Arbeitsorganisation, dem Schlechterstellungsverbot,
müssen wir uns auch hier daran orientieren, was bisher
in Deutschland gilt. Die nun vom BMAS vorgesehenen
Regelungen sind jedoch eine Schlechterstellung im Ver-
gleich zu den bisher geltenden Höchstarbeitszeiten. Mir
ist absolut bewusst, dass es in der Schifffahrt immer wie-
der Extremsituationen geben kann, in denen eine lange
Arbeitszeit der Besatzungsmitglieder notwendig ist. Wir
brauchen aber klare Regeln, die besagen, dass über-
lange Arbeitszeiten nicht die Regel sind. Bislang haben
die Tarifvertragspartner hierzu Regelungen mit Augen-
maß getroffen – Regelungen, die für Seeleute und Reeder
gleichermaßen praktikabel waren. Hier dürfen wir ers-
tens nicht die Seeleute schlechterstellen, wenn die Bun-
desregierung einfach die Höchstarbeitszeit im Vergleich
zum bisherigen Seemannsgesetz verlängert. Und zweitens
dürfen wir nicht zulassen, dass ein funktionierendes Sys-
tem der Tarifvertragspartner zerstört wird, indem die
Bundesregierung hier ohne Not gesetzlich regulieren will.

Die Anerkennung der Ausbildungen, die Rolle der
Gesundheitsämter und die Regelung von Höchstarbeits-
zeiten sind nur drei Beispiele, anhand derer ich hier zei-
gen will, dass der Entwurf zum Seearbeitsgesetz noch
nicht der Weisheit letzter Schluss ist. Wir müssen im Ge-
setzgebungsprozess noch an entscheidenden Stellen
nachbessern, und hier möchte ich meine Kolleginnen
und Kollegen von Union und FDP auffordern, sich den
Sachargumenten nicht zu verschließen und noch mal ge-
nau nachzuprüfen, damit das Schlechterstellungsverbot
aus der ILO-Verfassung respektiert wird. Lassen Sie uns
bei den Beratungen im Ausschuss gemeinsam handeln,
um faire Arbeitsbedingungen auf See zu schaffen.

Bei aller Kritik an der deutschen Umsetzung des See-
arbeitsübereinkommens – zu spät und kritisch an den
angesprochenen Punkten – möchte ich betonen, dass das
Seearbeitsübereinkommen ein großartiges Beispiel da-
für ist, wie die internationale Arbeitsmarkt- und Sozial-
politik funktionieren kann – und funktionieren muss.
Beim Seearbeitsübereinkommen werden weltweit gültige
Standards gesetzt, die viel Missbrauch, der insbesondere
auf ausgeflaggten Schiffen stattfindet, verhindern wer-
den. Das ILO-Übereinkommen steht für weltweit gute
Arbeitsbedingungen, die auch weltweit kontrolliert wer-
den. Denn auf See kann kein Staat alleine garantieren,
dass faire Arbeitsbedingungen gewährleistet sind. Hier
brauchen wir die internationale Kooperation.

Das Seearbeitsübereinkommen ist nicht das einzige
ILO-Übereinkommen, das in Deutschland so lange liegt,
bevor etwas geschieht. Ich habe Sorge, dass die
schwarz-gelbe Bundesregierung auch beim im letzten
Jahr geschlossenen Übereinkommen 189 zu den Rechten
von Hausangestellten die Umsetzung auf die lange Bank
schiebt. Es ist niemandem damit geholfen, wenn auf in-
ternationaler Ebene gute und wegweisende Überein-
kommen geschlossen und diese von allen gelobt wer-
den – beim Übereinkommen zu Hausangestellten nicht

Zu Protokoll gegebene Reden





Josip Juratovic


(A) (C)



(D)(B)


zuletzt von der Kanzlerin, als sie im vergangenen Jahr
bei der ILO-Arbeitskonferenz sprach. Was zählt, sind
aber nicht die Worte, sondern die Taten. Deswegen for-
dere ich, dass das ILO-Übereinkommen zu Hausange-
stellten nicht erst mal in die Schublade gelegt wird, son-
dern dass hier schnell ein klarer Plan zur Ratifizierung
vorgelegt wird.

Die Arbeit der ILO kann nur funktionieren, wenn die
Mitgliedstaaten nach dem Beschluss der Übereinkom-
men zu Hause ihre Hausaufgaben erledigen. Die Ratifi-
zierungen und die Umsetzung der Übereinkommen sind
die Hausaufgaben, die Deutschland von den jährlichen
Internationalen Arbeitskonferenzen bekommt. Wir müs-
sen in der Umsetzung der Hausaufgaben besser und
schneller werden und mit gutem Beispiel international
vorangehen. Denn nur so können weltweit gute Arbeits-
bedingungen auch tatsächlich umgesetzt werden und
bleiben nicht nur der Papiertiger ILO-Konferenzen in
Genf.


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1719836400

Die christlich-liberale Bundesregierung schafft mit

dem vorliegenden Gesetzentwurf die Voraussetzungen
dafür, dass die Bundesrepublik Deutschland das See-
arbeitsübereinkommen, Maritime Labour Convention,
MLC, der Internationalen Arbeitsorganisation, ILO, von
2006 ratifizieren kann.

Das Seearbeitsübereinkommen ist die erste Kodifizie-
rung des Seearbeitsrechts, in der mehr als 60 beste-
hende Übereinkommen und Empfehlungen der ILO in
einem Regelwerk zusammengefasst werden. Das Seear-
beitsübereinkommen wird zukünftig verbindlich welt-
weite Mindeststandards für die Arbeit und das Leben der
mehr als 1,2 Millionen Seeleute an Bord von Kauffahr-
teischiffen setzen. Damit ist es eine Art Bill of Rights der
Seeschifffahrt. Konkret geht es um Beschäftigungsbedin-
gungen, Unterkunft und Verpflegung, Gesundheitsschutz
und soziale Sicherung. Wegen der Vorgaben des Art. 59
Grundgesetz wird Deutschland zunächst das nationale
Recht ändern und erst dann das Seearbeitsübereinkom-
men ratifizieren.

Für die Umsetzung des Seearbeitsübereinkommens
muss eine Vielzahl von Gesetzen und Verordnungen an-
gepasst und aktualisiert werden. Kern der Umsetzungs-
gesetzgebung ist ein neues Seearbeitsgesetz, mit dem
das alte, aus dem Jahr 1957 stammende Seemannsgesetz
ersetzt wird. Der Entwurf passt das Recht im Bereich der
Arbeits- und Lebensbedingungen der Seeleute an die
Entwicklungen der heutigen, zunehmend global aus-
gerichteten modernen Seeschifffahrt an. Überkommene
Regelungen, insbesondere im Bereich des Urlaubs-,
Kündigungs-, und Heimschaffungsrechts, werden im
Seearbeitsgesetz modernisiert.

Künftig wird das Seearbeitsrecht für alle Personen
gelten, die an Bord eines Schiffes unter deutscher
Flagge tätig sind. Daneben werden das Verfahren zur
Feststellung der Seediensttauglichkeit, die Berufsausbil-
dung an Bord und die medizinische Ausstattung auf eine
einheitliche rechtliche Grundlage gestellt. Neu geregelt
werden die Vorgaben des Seearbeitsübereinkommens

über die Arbeitsvermittlung, die Arbeitsinspektion und
die soziale Betreuung der Seeleute.

Eine weitere wichtige Neuerung ist die Regelung der
flaggen- und hafenstaatlichen Kontrollen zur Durchset-
zung der Anforderungen des Seearbeitsübereinkommens
– Arbeitsinspektion. Das bestehende System der flag-
gen- und hafenstaatlichen Kontrollen – Schiffssicher-
heit, Umweltschutz – wird auf die Überprüfung der
Arbeits- und Lebensbedingungen der Besatzungsmit-
glieder erstreckt. Dabei werden Schiffe unter deutscher
Flagge, ebenso Schiffe unter fremder Flagge, die deut-
sche Häfen anlaufen, überprüft. Auch Schiffe aus Nicht-
vertragsstaaten, die das Seearbeitsübereinkommen nicht
ratifiziert haben, müssen dessen Mindeststandards be-
achten; sogenannte Nichtbegünstigungsklausel. Sie
werden künftig in den Häfen ratifizierender Staaten kon-
trolliert werden können – auch wenn sie unter der
Flagge eines Landes fahren, das das Übereinkommen
nicht ratifiziert hat. Bei Hafenstaatkontrollen werden sie
keine günstigere Behandlung erfahren als Schiffe aus
Vertragsstaaten. Damit stärken wir die Wettbewerbsfä-
higkeit der Reeder, die Schiffe unter deutscher Flagge
betreiben.

Die Novellierung des Seearbeitsrechts nutzt die
christlich-liberale Bundesregierung auch dazu, über-
holte Regelungen zu streichen. So wird es das im bishe-
rigen Seearbeitsrecht vorgesehene Musterungsverfah-
ren künftig nicht mehr geben. Das baut Bürokratie ab
und entlastet alle Beteiligten finanziell um bis zu 2 Mil-
lionen Euro.

Für die Arbeits- und Lebensbedingungen der See-
leute ist die Ratifikation des Seearbeitsübereinkommens
von entscheidender Bedeutung. Die Verbesserungen
können dazu beitragen, die Attraktivität seemännischer
Berufe zu steigern. Für die deutschen Reeder ist die
Ratifikation von erheblicher wirtschaftlicher Bedeu-
tung. Sie schafft die Garantie, dass im Bereich der
Arbeits- und Lebensbedingungen an Bord von Kauffahr-
teischiffen ein weltweit fairer Wettbewerb besteht. Die
Reeder aus anderen Staaten müssen die gleichen Anfor-
derungen des Seearbeitsübereinkommens erfüllen. Da-
raus folgen faire, einheitliche Wettbewerbsbedingungen
für alle Reeder.

Im Rahmen der Umsetzungsgesetzgebung muss – wie
bereits erwähnt – eine Vielzahl von Gesetzen und Ver-
ordnungen angepasst und aktualisiert werden. In diesem
Zusammenhang mussten viele Detailfragen geklärt wer-
den. Dazu sind auch die Sozialpartner in der Seeschiff-
fahrt in die Diskussion eingebunden worden. Dass wir
heute mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung das
Verfahren zur Ratifikation des Seearbeitsübereinkom-
mens einleiten, halte ich in Anbetracht des umfassenden
Regelungsgegenstandes und der Reichweite des Abkom-
mens für einen beachtlichen Erfolg. Das ist auch ein
Erfolg des guten sozialen Dialogs in der Branche.

Deutschland stärkt mit der Umsetzung des See-
arbeitsübereinkommens die Arbeits- und Sozialrechte
der Seeleute und schafft die Voraussetzungen für einen
fairen Welthandel. Ich gehe insgesamt davon aus, dass

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Heinrich L. Kolb


(A) (C)



(D)(B)


wir hier eine hohe Akzeptanz im Interesse der betroffe-
nen Seeleute und Reeder erreichen werden.


Herbert Behrens (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719836500

1,2 Millionen Seeleute stehen weltweit unter dem

Druck globalisierter Transportbedingungen und arbei-
ten unter zum Teil katastrophalen Arbeitsbedingungen,
mangelnder sozialer Absicherung und Niedriglöhnen.
Viele Reeder fahren unter Billigflagge und halten sich
nicht an den Tarifvertrag der Internationalen Transport-
arbeiter-Föderation ITF. Sie zahlen ihnen mitunter
kaum mehr als 500 US-Dollar pro Monat.

Nach jahrelangen Verhandlungen war es der Inter-
nationalen Arbeitsorganisation, ILO, gelungen, im Fe-
bruar 2006 einstimmig ein weltweit gültiges einheit-
liches Seearbeitsübereinkommen zu verabschieden. Doch
leider konnte dieses Abkommen bis heute nicht in Kraft
treten. Deutschland und andere Länder haben die Rati-
fizierung verschleppt.

Steckt Vorsatz dahinter? Deutsche Reeder verfügen
über eine der größten Handelsflotten der Welt. Aber nur
auf jedem zehnten Schiff gelten auch die deutschen
Rechtsvorschriften, denn nur 366 Handelsschiffe fahren
unter deutscher Flagge. Die meisten Reeder umgehen
die Vorschriften, indem sie unter einer Billigflagge fah-
ren. Nach eigenen Angaben sparen sie pro Schiff zwi-
schen einer Viertelmillion und einer halben Million
Euro.

Doch diese Blockadehaltung war nicht mehr auf-
rechtzuerhalten. Am 20. August diesen Jahres hatten
33 Schifffahrtsnationen das Abkommen ratifiziert, die
zusammen über fast 60 Prozent der Tonnage der Welt-
handelsflotte verfügen. Damit kann das Abkommen nun
auch ohne Zustimmung Deutschlands im nächsten Jahr
in Kraft treten und würde auch gegen den erklärten Wil-
len der Regierung bei uns gelten.

Nachdem nun selbst die Reeder vor den negativen
Auswirkungen warnten, da deutsche Schiffe zukünftig
wesentlich intensiver in den Häfen kontrolliert würden
als Schiffe von Staaten, die das Abkommen freiwillig um-
gesetzt haben, blieb der Koalition nichts anderes übrig,
als ein eigenes Seearbeitsübereinkommen vorzulegen.

Doch leider planen Sie, wichtige Details immer noch
sehr zulasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
umzusetzen, und fallen dabei zum Teil sogar hinter den
Stand bereits existierender Regelungen zurück. Insbe-
sondere ergibt sich eine Schlechterstellung bezüglich
der §§ 3, 4 und 48 in Art. 1 des Gesetzentwurfs zur Um-
setzung des Seearbeitsübereinkommens 2006 der ILO.
Wir erwarten, dass dies unverzüglich geändert wird.

Wichtig ist, dass der Reeder auch weiterhin als Bürge
für die Seeleute bestehen bleibt und die Einhaltung der
Gesetze gewährleisten muss, selbst wenn er Teile seiner
Aufgaben auf Dritte überträgt. Dies ist deshalb so in
dem internationalen Abkommen vereinbart worden, weil
es in der Schifffahrt immer wieder vorkommt, dass bei-
spielsweise Seeleute von Bemannungsagenturen, BA, im
Auftrag des Reeders an Bord geschickt werden, das
Schiff von A nach B bringen und anschließend von denen

kein Geld bekommen. In solch einem Fall haben die See-
leute dann das Recht, sich wegen der Heuerzahlung di-
rekt an den Reeder zu wenden. Es gibt in der Schifffahrt
eben auch Reeder, die sich um die Heuerzahlung an die
Besatzung drücken. In einem solchen Fall haben die
Seeleute international das Recht, in einem ausländischen
Hafen sogenannte Schiffsgläubigerrechte geltend zu ma-
chen und notfalls das Schiff an die Kette legen zu lassen,
bis die Heuerforderung erfüllt ist.

Auch die Höchstarbeitszeiten und Mindestruhezeiten
wurden gegenüber dem internationalen Abkommen ver-
schlechtert. Da auf See ein normaler Achtstundentag
nicht immer möglich ist, wurde eine maximale Höchst-
arbeitszeit an zwei aufeinanderfolgenden Tagen von
täglich 14 Stunden vereinbart. Wenn selbst dies in einer
Extremsituation nicht ausreicht, können die Tarifver-
tragsparteien nach der Norm A 2.3 Abs. 13 unter Ein-
haltung der Vorgaben einen Tarifvertrag zur Verlänge-
rung der maximalen Höchstarbeitszeiten vereinbaren.
Hier wurde das Abkommen jedoch so übersetzt, dass bei
uns jetzt das Bundesministerium für Arbeit und Soziales
ohne Information der Sozialpartner die Höchstarbeits-
zeit nach dem Seemannsgesetz in § 48 in Art. 1 des Ge-
setzentwurfs pauschal für alle Schiffe verlängern
könnte. Der neue Text in Abs. 2 bedeutet für Seeleute
beispielsweise auf einem großen Feederschiff eine Verlän-
gerung der täglichen Höchstarbeitszeit von 10,3 Stun-
den auf 13 Stunden bzw. eine Verlängerung der wöchent-
lichen maximalen Arbeitszeit von 72 auf 91 Stunden. Da
viele Rechte von Seeleuten im Rahmen des Seearbeits-
übereinkommens nicht direkt im Gesetz, sondern per
Verordnungen geregelt werden können, fordern wir,
diese in die parlamentarische Beratung einzubeziehen.
Dies gilt insbesondere für die Schiffsbesetzungsverord-
nung.

Die Linke fordert, dass die Regelungen zu Höchst-
arbeitszeiten und Mindestruhezeiten umgehend korri-
giert werden und die zulasten der Seeleute eingefügten
gravierenden Abweichungen vom Abkommen behoben
werden.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das Seearbeitsübereinkommen der Internationalen
Arbeitsorganisation, ILO, wurde mittlerweile von über
30 Staaten ratifiziert, die zusammen mehr als 33 Prozent
der Welthandelstonnage pro Jahr transportieren. Damit
sind die Mindestvoraussetzungen erfüllt und das Über-
einkommen kann im Sommer 2013 in Kraft treten.

Es wird also Zeit, dass die Bundesregierung mit dem
Gesetzentwurf auch in Deutschland die Bedingungen
zur Ratifizierung des Seearbeitsübereinkommens
schafft. Es geht schließlich darum, dass die circa
1,2 Millionen Seeleute weltweit bessere Arbeits- und
Lebensbedingungen erhalten. Die Seeleute, die Tag für
Tag den Welthandel und die stark ausdifferenzierte
Arbeitsteilung aufrechterhalten, bekommen endlich die
Wertschätzung, die sie verdienen.

Der Gesetzentwurf geht in die richtige Richtung.
Aber eine Passage ist höchst problematisch. Die Bun-

Zu Protokoll gegebene Reden





Beate Müller-Gemmeke


(A) (C)



(D)(B)


desregierung hat ihre Hausaufgaben nur zum Teil ge-
macht. Gegenüber dem Referentenentwurf wurden ei-
nige Verbesserungen vorgenommen. Sie muss dennoch
nacharbeiten und zumindest den zentralen Kritikpunkt
bis zur zweiten Lesung beseitigen.

Wir kritisieren insbesondere eine gravierende Ver-
schlechterung zulasten der Seeleute, die die Bundes-
regierung gegenüber dem ILO-Entwurf zum Seearbeits-
übereinkommen vorgenommen hat. Dabei geht es um die
Haftungsfrage des Reeders, falls dieser Personal über
eine Bemannungsagentur einstellt und diese Seeleute
nicht oder nicht wie vereinbart bezahlt. Nach dem ILO-
Entwurf ist der Reeder für alle Forderungen der See-
leute uneingeschränkt haftbar. Die Bundesregierung hat
die Haftungsfrage in dem Gesetzentwurf aber erheblich
verkompliziert und zulasten der Seeleute abgeschwächt.
Laut dem Gesetzentwurf tritt der Reeder nur noch als
Bürge auf, wenn er Personal über eine Bemannungs-
agentur anstellt. Für deutsche Seeleute wird es schwer
und für ausländische Seeleute dürfte es nahezu unmög-
lich sein, ihre Ansprüche gegenüber dem Reeder geltend
zu machen. Daher fordern wir die Bundesregierung auf,
die Haftung entsprechend dem ILO-Entwurf zu regeln
und § 4 Abs. 2 des Seearbeitsgesetzes ersatzlos zu strei-
chen. Die Seeleute haben ein Recht auf ein einfaches
und faires Verfahren, in dem der Reeder, wie es die ILO
verlangt, der Durchgriffshaftung unterliegt.

Über den Gesetzentwurf hinaus erwarten wir von der
Bundesregierung, dass sie die Ausflaggung erschwert
und dafür sorgt, dass wieder mehr Schiffe eingeflaggt
werden. Derzeit hat Deutschland mit circa 3 000 Schif-
fen die weltweit größte Handelsflotte. Davon fahren
aber nur 300 Schiffe unter deutscher Flagge. Die Ein-
flaggung würde auch dazu beitragen, dass die Arbeits-
bedingungen besser kontrolliert und damit verbessert
werden können.

Es ist dringend erforderlich, dass die Lebens- und
Arbeitsbedingungen auf den Schiffen verbessert werden,
denn die Schiffe sind aus Kostengründen die meiste Zeit
auf See. Die Seeleute sind auf angemessene Unterkünfte,
Freizeiteinrichtungen und medizinische Betreuung an-
gewiesen. Aufgrund der erheblichen Missstände und der
Verschiedenheit der Arbeitsbedingungen ist es an der
Zeit, dass weltweit geltende Arbeitsnormen, Beschäfti-
gungsbedingungen und Mindestanforderungen an die
Infrastruktur an Bord geschaffen und wirkungsvoll
durchgesetzt werden. Deshalb sollte die Bundesregie-
rung mit dem Gesetzentwurf nicht die Reeder schonen,
sondern die Belange der Beschäftigten in den Mittel-
punkt stellen.

D
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU):
Rede ID: ID1719836600


Ich freue mich, dass hier heute die erste Lesung des
neuen Seearbeitsgesetzes und begleitender Gesetzesän-
derungen ansteht. Bereits der Titel des Gesamtvorha-
bens macht deutlich, dass unser Gesetzentwurf Teil eines
umfassenden Prozesses ist. Umgesetzt werden soll das
Seearbeitsübereinkommen 2006 der Internationalen
Arbeitsorganisation, ILO. Das Seearbeitsübereinkom-

men ist im Februar 2006 von den Vertretern der in der
Internationalen Arbeitsorganisation versammelten Staa-
ten ohne Gegenstimme verabschiedet worden. Nachdem
die dafür erforderlichen Ratifikationen jetzt vorliegen,
wird das Seearbeitsübereinkommen am 20. August 2013
in Kraft treten.

Das Übereinkommen konsolidiert und aktualisiert
das internationale Seearbeitsrecht. Regelungen aus
35 Übereinkommen und 30 Empfehlungen der ILO wer-
den in eine einheitliche Urkunde überführt. Umfassend
werden alle Aspekte der Arbeit und des Lebens an Bord
von Handelsschiffen geregelt. Die Anforderungen bezie-
hen sich auf die Begründung der Beschäftigungsverhält-
nisse, ein Mindestmaß an arbeitsrechtlichem und sozia-
lem Schutz und auf die Durchsetzung dieser Standards.
Abgebildet ist die ganze Breite des Arbeitens an Bord
von Seeschiffen. Vorsorge wird getroffen hinsichtlich der
Arbeitssicherheit, für eine ausreichende und angemes-
sene Unterkunft und Verpflegung, aber auch für eine
gute medizinische Versorgung und soziale Absicherung.

Ich will einzelne Punkte hervorheben. Eine Neuerung
ist der verpflichtend vorgegebene Abschluss eines aus-
führlichen schriftlichen Heuervertrags. Die detaillierten
Anforderungen an den Vertragsinhalt stellen sicher, dass
das Besatzungsmitglied jederzeit seine wesentlichen
Rechte und Pflichten nachlesen kann. Ein Vertragsent-
wurf muss dem Besatzungsmitglied rechtzeitig vor
Vertragsschluss übermittelt werden. So werden für das
Besatzungsmitglied verbesserte Prüf- und Beratungs-
möglichkeiten sichergestellt.

Ein weiterer Schwerpunkt von Übereinkommen und
Gesetzentwurf sind die Regelungen zur Erfüllung und
Durchsetzung der Mindestanforderungen zum Schutz
der Seeleute. Hier sind zwei Stichworte wichtig: Flag-
genstaatkontrolle und Hafenstaatkontrolle. Sie wissen,
Handelsschiffe führen die Flagge eines bestimmten
Staates. Dieser Staat ist völkerrechtlich für schiffsrecht-
liche Regelungen einschließlich arbeitsrechtlicher
Regelungen verantwortlich. Das Seearbeitsübereinkom-
men gestaltet diese Regelungspflicht inhaltlich aus. Zu-
gleich verpflichtet es den Flaggenstaat dazu, die
Regelung effektiv auf den Schiffen unter seiner Flagge
durchzusetzen. Hierzu wird der moderne Weg einer Zer-
tifizierung beschritten. Ergebnis der Flaggenstaatkon-
trolle ist, dass für das Schiff ein Seearbeitszeugnis
einschließlich einer Seearbeitskonformitätserklärung
ausgestellt wird. Diese Dokumente sind eine Aufstellung
der nach dem jeweils einschlägigen nationalen Recht an
die Lebens- und Arbeitsbedingungen auf dem Schiff zu
stellenden Anforderungen und der vom Reeder zu ihrer
Erfüllung getroffenen Maßnahmen. Bestätigt wird, dass
das Schiff den arbeitsrechtlichen Anforderungen genügt.
Die Dokumente werden aktuell gehalten, indem in
bestimmten Intervallen Überprüfungen und nach fünf
Jahren eine Neuausstellung vorgegeben werden. Der
Gesetzentwurf überträgt diese Aufgaben für Schiffe un-
ter deutscher Flagge der Berufsgenossenschaft für
Transport und Verkehrswirtschaft, die bereits eine
Dienststelle Schiffssicherheit unterhält.

Zu Protokoll gegebene Reden





Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe


(A) (C)



(D)(B)


Seearbeitszeugnis und Seearbeitskonformitätserklä-
rung spielen eine wichtige Rolle für den zweiten Pfeiler
der Durchsetzung des Seearbeitsübereinkommens, die
Hafenstaatkontrolle. Das Seearbeitsübereinkommen
verpflichtet die Vertragsstaaten dazu, ausländische
Schiffe in ihren Häfen auf die Einhaltung der Mindest-
standards aus dem Übereinkommen zu überprüfen.
Dabei gilt die Kontrollpflicht gleichermaßen gegenüber
Schiffen von Staaten, die dem Seearbeitsübereinkommen
beigetreten sind, wie gegenüber Schiffen von Staaten, die
dies nicht getan haben. Bei den Kontrollen in ausländi-
schen Häfen können Schiffe auf die von ihren nationalen
Behörden ausgestellten Seearbeitspapiere verweisen.
Die Dokumente erbringen dort einen Anscheinsbeweis
dafür, dass die Anforderungen aus dem Seearbeitsüber-
einkommen erfüllt sind. Hier wird deutlich, welche Be-
deutung die mit dem vorliegenden Gesetzentwurf für
Schiffe unter deutscher Flagge eingeführte Möglichkeit
hat, das Seearbeitszeugnis ausgestellt zu erhalten.
Schiffe unter deutscher Flagge werden dadurch gut und
sicher durch Kontrollen in ausländischen Häfen kom-
men. Kostspielige Verzögerungen bei der Kontrolle, Ver-
längerungen der Hafenliegezeit oder sogar eine Fest-
haltung seitens des Hafenstaates werden vermieden.

Meine Ausführungen habe ich bisher auf die das See-
arbeitsübereinkommen der Internationalen Arbeitsorga-
nisation bedingten Neuerungen konzentriert. Darüber
will ich einen zweiten Schwerpunkt des Gesetzes nicht
unerwähnt lassen. Dieses Gesetz modernisiert grundle-
gend das deutsche Seearbeitsrecht und bereitet es auf
die Anforderungen der kommenden Jahrzehnte vor. Bis-
her ist die Materie im Wesentlichen durch das See-
mannsgesetz aus dem Jahr 1957 geregelt. Seitdem ha-
ben sich aber die Verhältnisse verändert. Die
Handelsschifffahrt ist sehr viel internationaler gewor-
den. Der Anteil an ausländischen Seeleuten aus Unions-
ländern, aber auch aus Drittstaaten, ist stark angestie-
gen. Es ist deshalb nicht mehr zeitgemäß und entspricht
nicht den Bestimmungen des Übereinkommens, wenn
etwa bei der Erkrankung eines Besatzungsmitglieds die
Zahlung des sogenannten Reederkrankengeldes nur
dann vorgeschrieben ist, wenn das Besatzungsmitglied
in Deutschland seinen Wohnsitz hat. Der zunehmend
internationalen Zusammensetzung der Besatzung wider-
spricht es auch, wenn bei der Gewährung von „Heimat-
urlaub“ als Urlaubsort ausschließlich auf den Gel-
tungsbereich des Grundgesetzes abgestellt wird.

Bedeutende Modernisierungen sollen auch in ande-
ren Bereichen geschaffen werden. So fehlt es bisher bei
der Berufsausbildung an Bord von Seeschiffen an einer
klaren, einheitlichen und den praktischen Erfordernis-
sen entsprechenden gesetzlichen Grundlage. Die Praxis
behilft sich hier mit einer Teilregelung in der Schiffs-
mechaniker-Ausbildungsverordnung und einer analogen
Anwendung von Vorschriften des Berufsbildungsgeset-
zes. Mit dem Gesetz wird nun erstmals die Berufsausbil-
dung für einen Beruf an Bord von Seeschiffen auf eine
umfassende und angepasste gesetzliche Grundlage ge-
stellt.

Schließlich trägt das Gesetz zur Entbürokratisierung
bei. Beispielsweise wird das Musterungsverfahren auf-

gegeben, das bisher vor der Einstellung von Besatzungs-
mitgliedern die Beteiligung der Seemannsämter er-
fordert. Auch Seefahrtsbücher, wie sie bisher den
Besatzungsmitgliedern von den Seemannsämtern ausge-
stellt werden, müssen nicht mehr geführt werden. Wirt-
schaftlich ist dies keine Kleinigkeit. Wir erwarten hier
Entlastungen für die Betroffenen von circa 800 000 Euro
allein an zu entrichtenden Gebühren.

Ein letzter Aspekt. Mit der Energiewende einher geht
der Ausbau von Windenergieanlagen auf See. In den
deutschen Küstengewässern und der deutschen Außen-
wirtschaftszone sind viele solcher Anlagen in Bau oder
in Planung. Dies wird zu stark ansteigenden Beschäftig-
tenzahlen in den genannten Seegebieten führen. Der Ih-
nen vorliegende Gesetzentwurf leistet einen Beitrag zur
rechtlichen Bewältigung dieser Entwicklung. Es wird
klargestellt, dass das Arbeitszeitgesetz auch in der deut-
schen Außenwirtschaftszone gilt. Rechtsverordnungen
werden vorbereitet, durch die an die besonderen
Verhältnisse der Offshoreindustrie angepasste Höchst-
arbeitszeiten geregelt werden sollen.

Ich hoffe, ich habe Interesse und Verständnis für die-
sen wichtigen Gesetzentwurf fördern können. Schließen
will ich mit einem Ausblick auf zukünftige Entwicklun-
gen. Die Bundesregierung strebt die Ratifizierung des
Seearbeitsübereinkommens an. Die Vorbereitung des
hierzu noch erforderlichen förmlichen Ratifikationsge-
setzes steht vor dem Abschluss. Bitte wundern Sie sich
also nicht, wenn Sie bald erneut mit dem Seearbeits-
übereinkommen befasst werden, dann unter dem
Gesichtspunkt der Ratifikation. Heute geht es um die
Umsetzung der Anforderungen aus dem Seearbeitsüber-
einkommen. Hier möchte ich Sie um zügige und ziel-
gerichtete Beratung bitten, damit wir den dargestellten
Beitrag zu besseren Arbeits- und Lebensbedingungen an
Bord von Seeschiffen leisten können.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719836700

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 17/10959 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Ich sehe
keine anderweitigen Vorschläge. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 25 b. Wir kommen zur Abstim-
mung. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/9614, den Antrag der Frak-
tion Die Linke auf Drucksache 17/9066 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(3. Ausschuss)


Die Umsetzung der UN-Resolution 1325 mit ei-
nem Rechenschaftsmechanismus fördern

– Drucksachen 17/8777, 17/10904 –





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)


Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Egon Jüttner
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Rainer Stinner
Stefan Liebich
Kerstin Müller (Köln)


Auch hier nehmen wir, wie in der Tagesordnung aus-
gewiesen, die Reden zu Protokoll.


Dr. Egon Jüttner (CDU):
Rede ID: ID1719836800

Die UN-Resolution 1325 wurde am 31. Oktober 2000

vom UN-Sicherheitsrat einstimmig verabschiedet. Die
CDU/CSU-Fraktion steht genauso wie die Bundesregie-
rung voll hinter dieser Resolution. In ihr wird die gleich-
berechtigte Einbindung von Frauen in politische Pro-
zesse und Institutionen, bei der Planung, bei der
personellen Ausgestaltung von Friedensmissionen und
bei der Verhandlung von Friedensabkommen gefordert.
Es war Zeit, diese Resolution zu verabschieden und der
Rolle von Frauen in Konfliktsituationen Rechnung zu
tragen. Denn Zivilpersonen, und hier insbesondere
Frauen und Kinder, stellen die weitaus größte Mehrheit
der von bewaffneten Konflikten betroffenen Personen
dar. Die dramatischen Bilder aus Syrien zeigen dies ge-
rade auch in jüngster Zeit wieder deutlich: Frauen und
Kinder machen nicht nur den Hauptanteil an Flüchtlin-
gen und Binnenvertriebenen aus, sie werden auch in zu-
nehmendem Maße von Kriegsparteien oder terroristi-
schen Akteuren gezielt angegriffen. So galten bis 2010
circa 27,5 Millionen Menschen als binnenvertrieben.
Als Opfer von Verfolgung und Krieg haben sie meist we-
der rechtlichen noch physischen Schutz. Der für sie zu-
ständige Staat gewährleistet ihnen oft keinen Schutz. Sie
müssen ihre Häuser verlassen und sind häufig Men-
schenrechtsverletzungen ausgesetzt, bevor sie ihren
Wohnort verlassen oder verlassen müssen. Und als
Flüchtlinge haben viele aus Furcht vor Verfolgung im ei-
genen Land ihre Heimat verlassen, weil sie einer be-
stimmten Ethnie angehören, eine andere Religion als die
Mehrheit ausüben oder eine andere politische Überzeu-
gung vertreten. Teilweise werden sie verfolgt, misshan-
delt oder gefoltert. Und gerade Frauen und Mädchen
sind verstärkt Opfer von Vergewaltigung. Den Schutz ih-
res Landes können sie nicht in Anspruch nehmen und
verlassen es deshalb.

Während auf der einen Seite Frauen von Kriegen,
Bürgerkriegen und sonstigen bewaffneten Auseinander-
setzungen überdurchschnittlich stark betroffen sind,
wird ihre Rolle bei der Verhütung und Beilegung von
Konflikten und bei der Friedenskonsolidierung nicht
ausreichend gewürdigt. Es ist auch nicht sichergestellt,
dass Frauen an allen Anstrengungen zur Wahrung und
Förderung von Frieden und Sicherheit gleichberechtigt
und in vollem Umfang teilhaben. Die Resolution 1325
vom Oktober 2000 führt nun aber dazu, dass die Rolle
von Frauen an den Entscheidungen im Hinblick auf die
Verhütung und Beilegung von Konflikten ausgebaut
wird. Sie garantiert, dass in allen Bereichen von Frie-
denssicherungseinsätzen eine Geschlechterperspektive
integriert wird. Die Resolution regt an, die Zahl der
Frauen in Entscheidungsfunktionen, bei Feldmissionen

der Vereinten Nationen, bei den Militärbeobachtern, der
Zivilpolizei sowie beim Menschenrechtspersonal und
beim humanitären Personal auszuweiten. Sie empfiehlt,
das gesamte Friedenssicherungspersonal im Hinblick
auf den Schutz, die besonderen Bedürfnisse und die
Menschenrechte von Frauen und Kindern in Konflikt-
situationen speziell auszubilden und das Datenmaterial
zu den Auswirkungen bewaffneter Konflikte auf Frauen
und Mädchen zu konsolidieren. Dies sind wichtige und
richtige Schritte, die die volle Unterstützung der Bun-
desregierung und der CDU/CSU-Fraktion haben.

Wir begrüßen es ausdrücklich, dass die Resolution
nicht Halt macht bei der Rolle von Frauen und Mädchen
im Konfliktfall, sondern auch dazu auffordert, deren be-
sonderen Bedürfnisse bei der Normalisierung, der Wie-
dereingliederung und beim Wiederaufbau nach Konflik-
ten Rechnung zu tragen. Hervorzuheben ist in diesem
Zusammenhang insbesondere die Aufforderung, mehr
Frauen zu Sonderbeauftragten und Sonderbotschafte-
rinnen des Generalsekretärs der Vereinten Nationen zu
benennen. Wir hoffen, dass in dieser Hinsicht möglichst
viele Mitgliedstaaten dieser Aufforderung nachkommen
und dem Generalsekretär geeignete Kandidatinnen vor-
schlagen. Wir halten dies für einen äußerst wichtigen
und wirksamen und vor allem symbolträchtigen Schritt.
Ich weise in diesem Zusammenhang auf so herausra-
gende Persönlichkeiten hin wie Hina Jilani, die UN-
Sonderbeauftragte für Menschenrechtsverteidiger, oder
die UN-Sonderbotschafterin gegen Beschneidung, Waris
Dirie, die zudem seit Juli 2010 auch noch Friedensbot-
schafterin der Afrikanischen Union ist.

Hina Jilani, eine 1953 in Pakistan geborene Anwältin
und Menschenrechtsaktivistin, gründete 1980 gemein-
sam mit ihrer Schwester Asma Pakistans erste Anwalts-
kanzlei für Frauenrechte und ist Mitbegründerin der
Kommission für Menschenrechte in Pakistan. Kofi
Annan berief sie einst zur Sonderbeauftragten des Gene-
ralsekretärs der Vereinten Nationen für die Lage von
Menschenrechten. Waris Dirie, ein 1965 geborenes ös-
terreichisches Model somalischer Herkunft, Bestseller-
autorin und Menschenrechtsaktivistin, machte sich im
Kampf gegen die Beschneidung von Frauen und Mäd-
chen einen Namen. Sie entstammt einer Nomadenfami-
lie. Als sie im Alter von 13 Jahren an einen alten Mann
verheiratet werden sollte, floh sie durch die Wüste nach
Mogadischu. In ihrem Buch „Wüstenblume“ berichtete
sie über ihre Beschneidung und löste damit ein weltwei-
tes Medienecho aus.

Wir unterstützen die in der Resolution 1325 gemachte
Anregung, in den Mitgliedstaaten der Vereinten Natio-
nen Leitlinien für die Aus- und Fortbildung sowie Mate-
rial über den Schutz, die Rechte und die besonderen Be-
dürfnisse von Frauen sowie über die Wichtigkeit der
Beteiligung von Frauen an allen Friedenssicherungs-
und Friedenskonsolidierungsmaßnahmen zur Verfügung
zu stellen. Dies ist eine wichtige präventive Maßnahme,
die hoffentlich dazu führt, die Sensibilität für die Situa-
tion von Frauen in Konfliktsituationen, für ihre spezifi-
schen Probleme und Herausforderungen zu schärfen.
Man kann nur hoffen, dass sich daraus ein positiver Ne-
beneffekt ergibt und die angedachten Maßnahmen eine





Dr. Egon Jüttner


(A) (C)



(D)(B)


Strahlkraft auf die gesamte Gesellschaft haben und sich
durch sie positive Auswirkungen auf den gesamtgesell-
schaftlichen Umgang mit Frauen und ihre gesellschaftli-
che Rolle ergeben. Die Resolution bringt mit der Forde-
rung, Maßnahmen zur Gewährleistung des Schutzes und
der Achtung der Menschenrechte von Frauen und Mäd-
chen, insbesondere im Zusammenhang mit der Verfas-
sung, dem Wahlsystem, der Polizei und der rechtspre-
chenden Gewalt des jeweils betroffenen Landes zu
ergreifen, eine Kernforderung deutscher Außen- und
Menschenrechtspolitik zum Ausdruck, die ausdrücklich
die Unterstützung der CDU/CSU-Fraktion findet.

Ich kann mir gut vorstellen, dass viele Menschen, die
sich mit dem Thema Frauen in Konfliktsituationen be-
schäftigen, die Wirksamkeit der in der Resolution 1325
angeregten Maßnahmen möglicherweise mit einer gewis-
sen Skepsis betrachten und bezweifeln, dass in den Kon-
fliktherden dieser Welt auf die Stimme von Frauen gehört
und auf ihre Rechte eingegangen wird. Vor dieser Einstel-
lung kann ich nur warnen. Ich teile sie nicht, denn sie ent-
spricht meines Erachtens nicht den Realitäten. In einer
Reihe von Ländern, in denen es große soziale Spannun-
gen, ethnische Konflikte oder kriegerische Auseinander-
setzungen gegeben hat oder noch gibt, konnten Frauen
beachtlichen Einfluss erlangen und haben es sogar an die
Spitze von Staat und Regierung geschafft. Ich denke hier
an Indira Gandhi in Indien, an die Friedensnobelpreis-
trägerin Ellen Johnson-Sirleaf in Liberia, an Benazir
Bhutto in Pakistan oder an Chandrika Kumaratunga in
Sri Lanka, um nur einige Beispiele zu nennen. Indira
Gandhi ist ein Beweis für die Fähigkeit von Frauen zur
politischen Gestaltung. Ellen Johnson-Sirleaf, die erste
weibliche Präsidentin Afrikas, regiert das vom Bürger-
krieg ruinierte Liberia. Sie erhielt den Friedensnobel-
preis. Mit Benazir Buttho stand zum ersten Mal eine
Frau an der Spitze eines modernen islamischen Staates.
Chandrika Kumaratunga, von 1994 bis 2005 Präsiden-
tin Sri Lankas, schlug während ihrer Regierungszeit
einen verbindlichen Kurs ein gegenüber den Separatis-
ten, um den Bürgerkrieg im Land zu beenden.

Sicherlich teilt nicht jeder die Positionen dieser oder
anderer Frauen an der Spitze von Staat, Regierung oder
internationaler Organisation, aber allein die Tatsache,
dass eine Frau in diesen häufig männlich geprägten Ge-
sellschaften mit am Verhandlungstisch sitzt, ist ein Fort-
schritt und sollte anderen Frauen Mut machen, sich zu
engagieren und einzumischen.

Deutschland hat von Beginn an zu den Unterstützern
der Resolution 1325 gehört. Ausdruck unseres Bekennt-
nisses zu deren Inhalten ist Deutschlands Teilnahme an
der auf VN-Ebene von Kanada im Jahre 2001 initiierten
„Freundesgruppe der Resolution 1325“. Die nationale
Umsetzung erfolgt durch die jeweils beteiligten Res-
sorts, in deren Zusammenhang die Ressortarbeitsgruppe
„1325“ eingerichtet wurde. Seit 2004 berichtet die Bun-
desregierung dem Bundestag über die Umsetzung der
Resolution 1325. Die Europäische Union wendet die Re-
solution im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik an.

Die Frage ist nun, ob es darüber hinaus noch eines
weiteren nationalen Aktionsplans bedarf, der die Umset-
zung der Resolution garantiert. In ihrem Antrag fordert
die SPD einen Evaluations- und Rechenschaftsmecha-
nismus, wie es ihn in der Resolution 1612 zu Kindern in
bewaffneten Konflikten gibt. Bei der Rekrutierung von
Kindersoldaten, deren gezielter Tötung, Verstümmelung,
Vergewaltigung, Entführung und der Verneinung huma-
nitären Zugangs sowie bei Angriffen auf Schulen und
Krankenhäuser handelt es sich um die Verletzung von
humanitärem Völkerrecht. Entsprechend kann dies auch
mit Sanktionen belegt werden. Die Resolution 1325 be-
handelt aber, grob dargestellt, vier Aspekte: Prävention
von Gewalt, angemessene Reaktion auf Gewalt, Ent-
schädigung und Partizipation von Frauen in allen Pha-
sen von Friedensprozessen.

Geahndet werden kann jedoch nur die Partizipation
von Frauen in allen Phasen von Friedensprozessen. Ein
nationaler Aktionsplan ist nach unserer Auffassung je-
doch nicht erforderlich. Für Frauen nämlich gibt es
schon einen der Resolution 1612 vergleichbaren Mecha-
nismus, und zwar in Form der im Jahre 2000 verab-
schiedeten Resolution 1960 bei sexueller Gewalt gegen
Frauen. Ein nationaler Aktionsplan würde somit gegen-
über dem bestehenden deutschen Engagement für die
Umsetzung der Resolution 1325 keinen entscheidenden
Mehrwert bedeuten.

Aus diesem Grund stimmen wir dem Antrag nicht zu.


Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD):
Rede ID: ID1719836900

Mit der Verabschiedung der Resolution 1325

„Frauen, Frieden und Sicherheit“ und der Folgeresolu-
tionen 1820, 1888 und 1889 trägt der Sicherheitsrat dem
Tatbestand Rechnung, dass Frauen und Kinder in krie-
gerischen Konflikten systematisch Opfer von Gewalt
werden, Frauen aber auch eine besondere Rolle als Ak-
teurinnen in der Friedenspolitik einnehmen. In der Re-
solution wird dazu aufgefordert, dass Kriegsparteien die
Rechte von Frauen schützen, Frauen bei der Verwirkli-
chung von Frieden und Sicherheit auf allen Ebenen ver-
stärkt einbezogen und eine Gender-Perspektive veran-
kert wird.

Mehr als zehn Jahre nach Verabschiedung der Reso-
lution 1325 sind die Fakten immer noch ernüchternd:
30 Prozent des internationalen Personals in Peace-
keeping-Missionen sind weiblich, davon aber nur
1,9 Prozent des militärischen Personals und 7,3 Prozent
der Polizeikräfte. Blickt man auf die Führungsebene,
finden sich noch weniger Frauen und auch ihre welt-
weite Beteiligung an Friedensverhandlungen ist mit
4 Prozent vernichtend gering. Daher greifen wir als
SPD-Bundestagsfraktion mit dem vorliegenden Antrag
den Vorschlag von UN-Generalsekretär Ban Ki-moon
aus dem Jahre 2009 auf, einen Evaluations- und Re-
chenschaftsmechanismus für die Resolution 1325 einzu-
richten. Die Motivation für einen solchen Mechanismus
resultiert aus den Erfahrungen mit der Resolution 1612
zu Kindern in bewaffneten Konflikten. Mittels eines
„Monitoring and Reporting“-Mechanismus werden sys-
tematisch verlässliche Informationen zu Kindern in be-

Zu Protokoll gegebene Reden





Heidemarie Wieczorek-Zeul


(A) (C)



(D)(B)


waffneten Konflikten gesammelt. Verletzungshandlun-
gen wie die Rekrutierung und der Einsatz von Kindern
als Soldaten werden dabei besonders berücksichtigt.
Durch das systematische Sammeln, Vergleichen und Pu-
blikmachen von Informationen kann Transparenz herge-
stellt und der Druck auf Nationalstaaten erhöht werden,
die Resolution des Sicherheitsrats entsprechend umzu-
setzen. Besonders wirksam hat sich dabei das Instru-
ment des „Naming and Shaming“ in den Berichten des
Generalsekretärs erwiesen: Es werden jene Staaten in
den Berichten aufgelistet, die die Resolution 1612 nicht
adäquat umsetzen. Im Jahr 2010 befanden sich 57 Grup-
pierungen in 22 Ländern auf einer solchen Liste der
Schande. In letzter Konsequenz kann der Sicherheitsrat
Sanktionen gegen einen Staat beschließen.

Wir sind überzeugt, dass die Einführung eines Eva-
luations- und Rechenschaftsmechanismus vergleichbar
dem der Resolution 1612 zu Kindern in bewaffneten
Konflikten, der Resolution 1325 zu Frauen, Frieden und
Sicherheit ein besseres Umsetzungsergebnis verschaffen
würde. Ban Ki-moon hatte bereits 2005 gefordert, dass
Staaten nationale Aktionspläne zur Umsetzung der Re-
solution 1325 vorlegen sollen. Jedoch sind bislang von
den 25 Ländern, die die Resolution ratifiziert haben, nur
15 dieser Aufforderung nachgekommen. Auch die Bun-
desregierung hat bislang nichts unternommen, einen
solchen Aktionsplan vorzulegen. Das ist besonders bit-
ter, wenn man bedenkt, dass sie seit Anfang 2011 als
nichtständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat vertreten
ist und so ihren Einfluss geltend machen könnte. Sie darf
sich da auch nicht hinter der EU verstecken, indem sie
sich darauf beruft, dass dort die Defizite bei der Umset-
zung der Resolution ursächlich zu suchen sind. Viel-
leicht ist es Ihnen entfallen, aber auch die EU hatte die
Mitgliedstaaten dazu aufgefordert, Aktionspläne vorzu-
legen.

Nach der ersten Beratung unseres Antrages im Deut-
schen Bundestag hatten wir uns darum bemüht, mit den
Parteien der Regierungskoalition einen gemeinsamen
Antrag zu formulieren. Danach entstand auch der Ein-
druck, dass es keine generellen Vorbehalte gegen einen
solchen Mechanismus gibt. Wie wir feststellen mussten,
scheut sich die Regierungskoalition jedoch, mehr Ver-
bindlichkeit und Nachprüfbarkeit in der Frage Förde-
rung und Gleichberechtigung von Frauen bei Friedens-
sicherung und Wiederaufbau einzugehen. Das spiegelt
in etwa auch das Regierungsgebaren im eigenen Land
wider. Der Widerstand gegen eine gesetzliche Quote für
Frauen in Aufsichtsräten ist ein Hemmschuh auf dem
Weg zu mehr Geschlechtergerechtigkeit.

Einer der Haupteinwände der CDU/CSU- und FDP-
Vertreter gegen unseren Antrag ist, in Deutschland gebe
es keinen Handlungsbedarf in unserem Sinne. Unser
Einwand dagegen ist: Ein solcher Evaluierungsmecha-
nismus wäre gerade unschätzbar für die Menschen in
den Ländern, in denen Frauen besonders häufig Opfer
von Gewalt werden und in denen sie durch einen Be-
richtsmechanismus gegenüber dem UN-Sicherheitsrat
solidarischen Schutz erhalten würden. Es ist zutiefst be-
dauerlich, dass die Parteien CDU/CSU und FDP diesen
solidarischen Schutz verweigern.

Trotz allem: Der Handlungsbedarf, die Vorgaben der
Resolution 1325 umzusetzen, besteht unverändert fort.
Wir sollten alle gemeinsam dazu beitragen, dass die Si-
tuation von Frauen in bewaffneten Konflikten, bei der
Herstellung und Sicherung von Frieden und beim Wie-
deraufbau verbessert wird. Besonders möchte ich daher
den Nichtregierungsorganisationen danken. Sie setzen
sich unermüdlich für eine bessere Berücksichtigung der
Resolution 1325 und einen nationalen Aktionsplan ein.
Ihnen gebührt unser ganz besonderer Dank. Gemeinsam
mit ihnen werde ich mich mit der SPD-Bundestagsfrak-
tion auch weiterhin im Sinne der Resolution 1325 und
der Folgeresolutionen engagieren.


Bijan Djir-Sarai (FDP):
Rede ID: ID1719837000

„Wenn wir über die Schaffung von Frieden sprechen

– was nach wie vor eine der wichtigsten Aufgaben für
uns im Bereich der internationalen Sicherheit ist –, wis-
sen wir, dass etwas fehlt. Und das sind Frauen.“ Diese
wahren Worte stammen von Hillary Clinton. Sie hat
recht: Der internationalen Sicherheit kann man gar
keine größere Bedeutung zusprechen. Die Zahl der
Frauen aber, die in Friedens- oder Verhandlungs-
prozesse eingebunden sind und dort eine führende Rolle
übernehmen, liegt leider nicht in einem zufriedenstellen-
den Bereich, noch nicht. Bei der Analyse aller Handlun-
gen, die in Deutschland für die Gleichberechtigung be-
reits veranlasst wurden, stellt sich dem Betrachter nicht
mehr die Frage, ob Frauen in Deutschland unterstützt
werden. Die Frage, die sich stellt, ist, ob Deutschland
zusätzlich einen nationalen Aktionsplan benötigt. Einen
solchen nationalen Aktionsplan erarbeitet die Bundesre-
gierung bereits. Dies ist nicht zuletzt auf die stetig
zunehmende Zahl von Staaten mit einem solchen Plan
zurückzuführen. Die Erwartungen seitens einiger unse-
rer Partner werden immer nachdrücklicher. So zum Bei-
spiel in der Ratsarbeitsgruppe Vereinte Nationen. Aber
auch die NATO und einige NATO-Partner haben eine
entsprechende Erwartung zuletzt deutlich vorgetragen.

Wir beobachten zufrieden, dass sich der Umgang der
Staaten mit der Resolution 1325 allmählich von allge-
mein-politischer Unterstützung zu operativer Umset-
zung wandelt. Selbst die USA, die wir als Skeptiker der
Vereinten Nationen kennen, erstellen nun einen nationa-
len Aktionsplan. Diese Entscheidung ist daher für uns
ein Ereignis mit Referenzwert. Deutschland steht den
Vereinten Nationen sehr aufgeschlossen gegenüber.
Daher hat die Bundesregierung nicht gezögert, nun
ebenfalls mit einem nationalen Aktionsplan zu beginnen.
Somit ist die Kernforderung Nr. 2 des hier diskutierten
Antrags bereits erfüllt und wird dementsprechend unnö-
tig. Ich persönlich bin der Meinung, dieser deutsche
Aktionsplan muss jetzt richtig gut werden, um zu zeigen,
dass Deutschland ihn braucht. Denn in Deutschland gibt
es bereits zwei Aktionspläne. Deren Wirkungen sollten
nicht unterschätzt werden. Noch 2007 nannte die dama-
lige rot-grüne Regierung den Aktionsplan „Zivile
Krisenprävention“ mit integriertem Genderansatz als
bestes Beispiel für Deutschlands Vorreiterrolle in der
zivilen Konfliktprävention. Dass dieser Aktionsplan

Zu Protokoll gegebene Reden





Bijan Djir-Sarai


(A) (C)



(D)(B)


nicht mehr reicht, seitdem Sie in der Opposition sind,
empfinde ich als scheinheilig.

Das Feministische Institut der Heinrich-Böll-Stif-
tung, lässt mit der Kritik, die vom Auswärtigen Amt
benannten Pläne und Projekte hätten gar nichts mit der
UN-Resolution 1325 zu tun, erkennen, worum es in
dieser Debatte tatsächlich geht. Es geht nicht darum,
besonders aktiv und effektiv für die Förderung der
Frauen einzutreten und diese in jeglichen Friedenspro-
zessen zahlreicher in Erscheinung treten zu lassen. Es
geht einzig und allein um das Verfassen eines Plans.

Wie würde ein solcher Plan überhaupt aussehen?
Nach Berechnung durch die Vereinigung „Bündnis
1325“ wird ein Etat von 200 Millionen Euro benötigt.
Bei einer so schwerwiegenden finanziellen Belastung ist
es meiner Meinung nach notwendig, sich vorher zu
fragen, wie effektiv ein solcher Plan ist und wie gut die-
ses Geld Frauen hilft. Schauen wir uns die schon beste-
henden Aktionspläne an, den bosnischen Plan beispiels-
weise, der vom Frauensicherheitsrat für seine Gender-
Equality-Gesetze gelobt wird. Liest der Betrachter ein
bisschen weiter, findet er die Aufforderung des Frauen-
sicherheitsrats, diese tollen Gesetze doch auch bitte um-
zusetzen, was tatsächlich immer noch nicht der Fall ist.

Oder ist der Aktionsplan Großbritanniens effektiver?
Er besticht, so das Heinrich-Böll-Institut, durch
„schwammige Formulierungen“. Weiter erklärt das
Institut: „An einigen Stellen bleibt der Sinn der stich-
wortartigen Aneinanderreihungen von Punkten verbor-
gen.“ Noch viel fragwürdiger wird der Aktionsplan
dadurch, dass er gar keine Mechanismen zur Evaluation
vorsieht. Einen solchen Aktionsplan wollen sie also er-
stellen? Für 200 Millionen Euro? Oder habe ich mir
vielleicht einfach die falschen Aktionspläne ange-
schaut? Einige Kolleginnen und Kollegen aus der Links-
partei erklärten in der letzten Wahlperiode noch, man
sollte einen Aktionsplan wie in den skandinavischen
Ländern verfassen. Das ist insofern sehr interessant, da
auch der dänische Aktionsplan bereits gründlich durch-
leuchtet wurde. Nach Untersuchungen besteht der Plan
größtenteils aus Ankündigungen. Bereits bestehende
Projekte sollen weiter verfolgt werden. Kompetenzen
werden nicht verteilt, sodass gar nicht klar ist, wer den
Plan wie umsetzen soll. Der schwedische Aktionsplan
steht dem dänischen in keiner Weise nach. Zudem ist er
zeitlich begrenzt. Auch der Punkt der Finanzierung
bleibt gänzlich unerwähnt.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Der hier gestell-
ten Forderung nach einem Aktionsplan geht das
Auswärtige Amt bereits nach. Ich möchte mich aber in
aller Entschiedenheit dafür aussprechen, dass ein sol-
cher Plan nicht – wie von der Opposition gewünscht –
nur nach der Öffentlichkeitswirksamkeit gestaltet wird.
Die Effektivität des Plans muss im Mittelpunkt stehen.
Ich habe hier grundsätzlich das Gefühl, dass der An-
tragsteller die Aktionen und Vorgehensweisen der Bun-
desregierung nicht ausreichend verfolgt. Ansonsten
wäre Folgendes aufgefallen: Die erste Forderung nach
verstärkter Wahrnehmung der Schlüsselrolle von
Frauen in Konflikten und nach Unterstützung der

Vereinten Nationen bei der Umsetzung der Resolution
1325 ist hinfällig. Ihr wird schon seit vielen Jahren
nachgegangen. Die Bundesregierung berücksichtigt die
besondere Rolle von Frauen in Fragen der Sicherheits-
politik bereits. Genauso verhält es sich mit einem natio-
nalen Aktionsplan.

Bezüglich der Forderung nach der Einbringung eines
Resolutionsentwurfs im UN-Sicherheitsrat, der einen
Rechenschaftsmechanismus fordern soll, erwarte ich ein
bisschen mehr außenpolitisches Feingefühl. So etwas
würden wir zunächst mit unseren internationalen Part-
nern abstimmen. Daher lehnt die FDP den hier vorlie-
genden Antrag ab.


Stefan Liebich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719837100

Es ist erfreulich, dass die Bundesregierung nächste

Woche endlich den von den Oppositionsfraktionen in
insgesamt fünf Anträgen in dieser Legislatur geforder-
ten nationalen Aktionsplan zur UN-Resolution 1325,
präsentieren wird. Wir freuen uns, weil dieser Nationale
Aktionsplan längst überfällig gewesen ist. Vor zwölf
Jahren wurde die UN-Resolution 1325 vom Sicherheits-
rat der Vereinten Nationen verabschiedet. Seitdem hat
sich die Bundesregierung im Gegensatz zu vielen ande-
ren europäischen und außereuropäischen Staaten vor al-
lem dagegen gewehrt, den in der Resolution geforderten
Aktionsplan zu verabschieden. Diesen braucht es aber,
wenn man bei den zahlreichen außen- und entwicklungs-
politischen Aktivitäten Deutschlands endlich für mehr
Geschlechtergerechtigkeit sorgen möchte. Als ich im
Sommer dieses Jahres in Washington mit der Direktorin
der Organisation Women In International Security,
Jolynn Shoemaker, darüber sprach, war die Enttäu-
schung über die deutsche Zögerlichkeit sehr groß. Aber
besser spät als nie: Die Regierung folgt nun endlich den
Vorschlägen der Opposition. Aber wir sind auch befrem-
det, weil nun doch ganz plötzlich ein Aktionsplan aus
der Taufe gehoben wird, aber so ganz anders, als sich
das die zahlreichen Institutionen der Zivilgesellschaft,
die sich seit Jahren für die Umsetzung von 1325 einset-
zen, fordern. Denn er wird heimlich erstellt, ohne ihre
Einbeziehung, ohne ihre Expertise und Erfahrung. Und
wir sind befremdet, weil wir seit Wochen im Parlament
den Haushalt diskutieren und in keinem der Einzelpläne
ein noch so kleines Budget für 1325 zu finden ist. Wie
soll etwas stattfinden, wenn es nicht auch auf finanzielle
Füße gestellt wird?

Und wir, insbesondere als Linke, sind besorgt, be-
sorgt, weil wir fürchten, dass der Inhalt dieses Aktions-
plans wohl eher nicht dem entspricht, was wir uns im
Umgang mit der Resolution 1325 wünschen. Wir möch-
ten, dass die UN-Resolution als ein völkerrechtlich legi-
timiertes Instrument genutzt wird, um Frieden zu schaf-
fen, um Konflikte zu vermeiden und Frauen und
Mädchen zu schützen. Dieses Schützen, so glauben wir,
kann und darf nicht militärisch passieren.

Die Resolution 1325 bietet leider das Potenzial miss-
braucht zu werden für etwas, das unserem Ziel von einer
friedlicheren Welt, in der Konflikte nicht mehr durch
Kriege gelöst werden, entgegensteht, indem die

Zu Protokoll gegebene Reden





Stefan Liebich


(A) (C)



(D)(B)


schlechte Situation von Frauen genutzt wird, um Kriege
zu legitimieren. Das haben wir jetzt schon mehrmals ge-
habt, mit schrecklichem Ausgang: In wohl kaum einer
Region der Welt geht es Frauen so schlecht wie in
Afghanistan, dem Land, in das die meisten Hilfsleistun-
gen weltweit fließen und wo die Bundeswehr seit fast
zwölf Jahren Krieg führt. Afghanistan hat gezeigt, dass
das Projekt zivil-militärischer Zusammenarbeit geschei-
tert ist. Aber auch die Folgen der Austeritätsprogramme
treffen Frauen besonders. Es gibt Berichte aus Grie-
chenland, dass Frauen Krankenhäuser mit 1 000 Euro
bestechen müssen, um dort ihr Kind zur Welt bringen zu
dürfen. Umso wichtiger ist es, dass wir uns auch mit den
wichtigen Frauenorganisationen, die zu 1325 arbeiten,
zusammensetzen und sehen, wie ein nationaler Aktions-
plan aussehen kann. Wie echtes Engagement für ein
Ziel, das wir, glaube ich, hier im Kern ja alle teilen,
mehr Geschlechtergerechtigkeit hier, in Europa, in der
ganzen Welt, gestaltet werden muss.

Der hier vorliegende Antrag der SPD leistet zu dieser
Diskussion durchaus einen Beitrag. Klar ist ein Rechen-
schaftsmechanismus wichtig. Wir werden uns bei der
Abstimmung aber enthalten, weil wir doch finden, dass
man in einem Parlamentsantrag weitergehen muss und
dass wir mit unserem gemeinsamen rot-rot-grünen
Antrag zur Forderung eines nationalen Aktionsplans zu
1325 auch schon mal weiter waren.

Und es kann auch nicht verschwiegen werden, dass
wir Oppositionsfraktionen unterschiedliche Vorstellun-
gen von dem haben, wie 1325 umgesetzt werden soll.
Für uns ist die Resolution kein Instrument, dafür zu sor-
gen, dass mehr Frauen als Soldatinnen in Kriege ziehen.
Wir wollen es stattdessen als ein Instrument, das mit den
drei P – Partizipation, Prävention und Protektion –
Frieden möglich macht. Dennoch sind wir uns über die
Notwendigkeit eines nationalen Aktionsplans in der
Opposition einig. Und nun endlich folgt die Regierung
dem auch.

Wichtiger jedoch als jeder Aktionsplan dieser Welt ist
politischer Wille. Wir erwarten von der Bundesregie-
rung, dass sie jetzt endlich Frauen mit an die Tische bei
Friedensverhandlungen holt und Sicherheit für Men-
schen beiden Geschlechts in all den vielen Kriegs- und
Krisenregionen dieser Welt schafft. Soziale Sicherheit
und Sicherheit vor Krieg und Zerstörung, nur dann kann
auch ein Aktionsplan für die 1325 etwas nutzen.


Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719837200

Malala Yousufzai hat einen hohen Preis für ihren Mut

gezahlt – religiöse Fanatiker in Pakistan schossen An-
fang Oktober auf die 14-Jährige auf ihrem Weg zur
Schule. Offen und mutig war sie seit Jahren im konflikt-
trächtigen Swat-Tal für das Recht von Mädchen auf
Schulbildung eingetreten; jetzt liegt sie schwerverletzt
im Krankenhaus. Erneut wurde ihr durch die Taliban der
Tod angedroht. Ich schicke ihr von hier aus unsere Soli-
darität und die besten Genesungswünsche.

Malalas Schicksal ist ein Beispiel von vielen dafür,
welchen Gefahren Mädchen und Frauen in Kriegs- und
Konfliktgebieten ausgesetzt sind.

Diese Einsicht führte im Jahr 2000 mit dazu, dass die
UN-Resolution 1325 unterzeichnet wurde, um die
Schlüsselrolle von Frauen bei gewalttätigen Konflikten
und beim Friedensaufbau zu unterstützen. Das war
wichtig. Aber hat sich danach viel bewegt? Die Mit-
gliedstaaten waren aufgefordert, einen Aktionsplan vor-
zulegen – Rot-Rot-Grün legten 2011 einen Antrag dazu
vor, der abgelehnt wurde. Dem SPD-Antrag mit dem
Versuch, einen Rechenschaftsmechanismus zu imple-
mentieren, droht jetzt ein ähnliches Schicksal durch die
Koalition von CDU/CSU und FDP.

Was meinte unser Kollege Jürgen Klimke bei der ers-
ten Beratung am 10. Mai so schön? Dass doch die Kol-
legen von SPD und Grünen – Zitat – „aus lauter Profi-
lierungssucht in UN-Fragen wieder einmal über das
Ziel hinausgeschossen“ seien! Weder sei eine Rechen-
schaftspflicht durch die Staaten notwendig noch ein Ak-
tionsplan, weil diese – Zitat – „bis auf das politische
Zeichen keinen entscheidenden Mehrwert erzeugen“
würden.

Mit Verlaub, lieber Jürgen Klimke, da haben Sie sich
ganz schön vergaloppiert! Denn wenn ich mich nicht
täusche, dann arbeitet man jetzt gerade daran, einen
solchen Aktionsplan auf den Weg zu bringen. Wenn das
stimmt, dann müsste die schwarz-gelbe Koalition hier
und heute ihre Zustimmung zu diesem Antrag geben und
vor allem sich bei der Opposition dafür bedanken, dass
diese so hartnäckig das Thema Aktionsplan und Rechen-
schaftsmechanismus für die Resolution 1325 vo-
rantreibt.

Wir Grünen finden es ausgesprochen wichtig, dass
auf der UN-Ebene mehr für Frauen getan wird. Auch
deshalb hatten wir diese Woche im Entwicklungsaus-
schuss bei den Haushaltsberatungen für UN-Women
14 Millionen Euro mehr gefordert, was CDU und FDP
abgelehnt haben.

Die Gründe unseres Engagements für einen Aktions-
plan führe ich Ihnen gerne noch mal auf – denn die un-
geheuerliche Gewalt, die vor allem Frauen und Mäd-
chen in Konflikten erleben, muss viel intensiver als
bisher bekämpft werden. Frauen sind konfrontiert mit
Ausbeutung, Unterdrückung, sexueller Kriegsgewalt bis
hin zu Massen- und Mehrfachvergewaltigungen, sexuel-
ler Sklaverei und Zwangsprostitution.

Vor diesem Hintergrund ist es unfassbar, dass Frauen
in Friedensverhandlungen kaum gehört und nicht einge-
bunden werden. Für Frauen gehen die Probleme im
Post-Konflikt-Kontext weiter: Gewalt und Traumatisie-
rungen, vermehrte häusliche und öffentliche Gewalt
sind an der Tagesordnung. Schon daran merkt man, dass
der Weg zum Frieden nur über die Unterstützung der
Frauen und die Befriedung ihrer Situation führen kann.
Sonst bleibt es bei den Ursachen, die leicht zu erneutem
Ausbruch von gewalttätigen Konflikten führen können.

Mit der Resolution 1325 wurden zentrale Forderun-
gen der Geschlechtergerechtigkeit völkerrechtlich ver-
bindlich verankert. Die drei Schlagworte dafür heißen:
Prävention, Partizipation, Protektion. Dies war der Auf-
takt für die Verankerung von Gender-Aspekten in Frie-
densprozessen. Auf der Resolution 1325 aufbauend sind
weitere Resolutionen verabschiedet worden, zum Bei-

Zu Protokoll gegebene Reden





Ute Koczy


(A) (C)



(D)(B)


spiel 2008 die UN-Resolution 1820 – sexuelle Gewalt
als Kriegsverbrechen und Gefahr für Frieden und
Sicherheit – oder 2009 die UN-Resolution 1888 – Präzi-
sierung bisheriger Forderungen, Sonderberichterstatter
und Sanktionsmöglichkeiten – sowie die UN-Resolution
1889: Rolle von Frauen in friedensstabilisierenden
Maßnahmen in Post-Konflikt-Situationen aus dem Jahre
2009.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der schwarz-
gelben Koalition, wollen Sie weiterhin dafür sorgen,
dass diese wichtige Rolle der Resolution 1325 durch
deutsche Drückebergerei vor einem Aktionsplan abge-
schwächt wird?

Besser wäre es, Sie stimmten heute zu und unterstütz-
ten das Anliegen; denn wenn der Aktionsplan jetzt doch
käme, dann hätten Sie sich eine Verteidigung Ihrer lah-
men Argumentation sparen können.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719837300

Wir kommen zur Abstimmung. Der Auswärtige Aus-

schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/10904, den Antrag der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/8777 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion ge-
gen die Stimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss)


– zu der Verordnung der Bundesregierung

Verordnung zur Umsetzung der Richtlinie
über Industrieemissionen, zur Änderung der
Verordnung zur Begrenzung der Emissionen
flüchtiger organischer Verbindungen beim
Umfüllen oder Lagern von Ottokraftstoffen,
Kraftstoffgemischen oder Rohbenzin sowie
zur Änderung der Verordnung zur Begren-
zung der Kohlenwasserstoffemissionen bei der
Betankung von Kraftfahrzeugen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Dirk Becker,
Gerd Bollmann, Marco Bülow, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der SPD

Schadstoffbelastung durch Abfallmitverbren-
nung senken – Gleiche Bedingungen für Müll-
verbrennung und Abfallmitverbrennung

– Drucksachen 17/10605, 17/10707 Nr. 2.3,
17/9555, 17/11060 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Paul
Ute Vogt
Dr. Lutz Knopek
Ralph Lenkert
Dorothea Steiner

Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
sicherheit hat in seiner Beschlussempfehlung den Antrag
der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/9555 mit dem
Titel „Schadstoffbelastung durch Abfallmitverbrennung
senken – Gleiche Bedingungen für Müllverbrennung
und Abfallmitverbrennung“ mit einbezogen. Über diese
Vorlage soll jetzt abschließend beraten werden. Ich sehe,
Sie sind damit einverstanden. Dann ist das so beschlos-
sen.

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.


Dr. Michael Paul (CDU):
Rede ID: ID1719837400

Die Umsetzung der Richtlinie für Industrieemissio-


(IE-RL oder auch IED, Industrial Emissions Directive)

Gesetzgebungsvorhaben im Umweltrecht in dieser
Legislaturperiode. Die Richtlinie 2010/75/EU stellt das
zentrale europäische Regelwerk für die Zulassung und
den Betrieb von Industrieanlagen und damit für die Luft-
reinhaltung dar. Der Wirtschaftsstandort Deutschland
ist davon in besonderer Weise betroffen, schließlich
stehen von den europaweit durch die Richtlinie erfassten
circa 52 000 Anlagen rund 9 000 Anlagen in Deutsch-
land. Es handelt sich zum Beispiel um Anlagen zur Ener-
gieerzeugung, Stahlwerke, Anlagen zum Gießen und
Walzen von Metallen, die Automobilindustrie, indus-
trielle Chemieanlagen, Mineralölraffinerien und andere
mehr.

Im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte haben wir in
Deutschland ein im internationalen Vergleich sehr
hohes Umweltschutzniveau erreicht. Um dieses hohe
Umweltschutzniveau sicherzustellen, haben wir ein um-
fangreiches Regelungswerk, das der Zulassung und dem
Betrieb genehmigungsbedürftiger Anlagen zugrunde zu

(BImSchG)

diesen Regelwerken sind zum Beispiel die technischen
Anforderungen an eine Anlage definiert und spezifische
Emissionsgrenzwerte vorgeschrieben. Auch wird die
Durchführung von Emissionsmessungen verlangt und
werden entsprechende Abnahmen und regelmäßige
Überprüfungen auferlegt.

Die europäische Industrieemissionsrichtlinie fußt
– wie auch bereits die Vorgängerrichtlinie über die inte-
grierte Vermeidung und Verminderung der Umwelt-
verschmutzung, IVU-Richtlinie – auf einem Konzept,
welches die Verminderung und Vermeidung von Ver-
schmutzung der Luft, des Wassers und des Bodens sowie
die Erreichung einer hohen Energieeffizienz integriert
betrachtet. Die IED legt dabei neue, engere Ziele zur
Verbesserung der Luftqualität und der Emissionsstan-
dards auf EU-Ebene fest. Diese äußern sich insbeson-
dere in strengeren Genehmigungs- und Grenzwertanfor-
derungen, der Aufwertung der Merkblätter zur
bestverfügbaren Technologie, BVT, sowie in erweiterten
Berichts- und Überwachungspflichten für Betreiber und
Behörden. Die Umsetzung der IED in nationales Recht
muss bis 7. Januar 2013 erfolgen.





Dr. Michael Paul


(A) (C)



(D)(B)


Sowohl aus Umweltsicht als auch aus Sicht des Wirt-
schaftsstandorts Deutschland ist es positiv zu bewerten,
dass die Verbindlichkeit der besten verfügbaren Technik,
BVT, mittels der BVT-Merkblätter in Europa zunehmend
vereinheitlicht wird. Dass dadurch europaweit ein insge-
samt höherer Umweltschutzniveau gewährleistet wird,
kann aus Sicht der Umwelt nur begrüßt werden. Einheit-
liche Rahmenbedingungen innerhalb der EU stärken
aber auch die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen In-
dustrie, da dann gleiche „Spielregeln“ für alle europäi-
schen Anlagen gelten.

Die Umsetzung eines Teils der IED beraten wir heute:
die Zweite Verordnung zur Umsetzung der Richtlinie
über Industrieemissionen, die sich insbesondere mit den
Großfeuerungsanlagen (13. BImSchV) und mit der
Abfallverbrennung und -mitverbrennung (17. BImSchV)

befasst. Ein anderer Teil der Umsetzung wird uns in we-
nigen Tagen hier beschäftigen, dabei geht es insbeson-
dere um Änderungen des BImSchG. Ein dritter Teil
schließlich liegt zur Beratung und Beschlussfassung
dem Bundesrat vor. Es handelt sich also um ein Rege-
lungspaket, das vielfältige Auswirkungen auf diese
Industrien hat.

Dabei ist die Änderung der Großfeuerungsanlagen-
verordnung im Kontext der Energiewende zu sehen.
Auch wenn wir im Jahr 2020 unsere Stromversorgung zu
40 Prozent aus erneuerbaren Energien decken, heißt das
im Umkehrschluss, dass 60 Prozent der Stromerzeugung
dann noch immer aus konventionellen Kraftwerken
stammen. Bestehende Anlagen werden weiterbetrieben
werden. Für diese bestehenden Anlagen wie auch für
neue Anlagen gilt es, einen gesetzlichen Rahmen zu
schaffen, der auf der einen Seite das hohe, nationale
Umweltschutzniveau erhält, auf der anderen Seite die
Möglichkeiten zur Erzeugung von Strom aus fossilen
Energien nicht erdrosselt.

Dies ist auch die Grundlage, auf der wir die IED ins
deutsche Recht umsetzen: Die Grenzwerte und Vorgaben
aus der IED werden überall dort, wo sie strengere Maß-
nahmen verlangen, eins zu eins in das nationale Recht
übernommen. War der erreichte Umweltstandard in
Deutschland bereits höher, so wurde von diesem höheren
Standard nicht abgewichen. Es gibt also keine Reduzie-
rung der nationalen Umweltstandards.

Allerdings gab es auch einige Punkte, an denen wei-
tergehende Maßnahmen über die IED hinaus und auch
über den bisherigen nationalen Standard hinaus disku-
tiert wurden. Hier sind insbesondere die Grenzwerte für
Staub und Sickstoffoxide zu nennen. Gerade bei Staub
und Stickoxiden können mancherorts in Deutschland die
Umweltqualitätsnormen nicht eingehalten werden. Mit
Blick auf Staub gibt es in manchen Umweltzonen zu viele
Tage, an denen die Grenzwerte überschritten werden,
und bei den Stickoxiden können zum Teil die Immissions-
jahresgrenzwerte nicht eingehalten werden. Ursache für
diese Grenzwertüberschreitungen sind in nahezu
gleichen Anteilen der Verkehr, die Heizungsanlagen der
privaten Haushalte sowie die Industrie. Bei den indus-
triellen Anlagen haben die Großfeuerungsanlagen und
die Müllverbrennungs- und -mitverbrennungsanlagen

einen erheblichen Anteil. Deshalb wurde im Rahmen der
Umsetzung der IED in der 13. und 17. BImSchV für
diese Anlagen nationale Verschärfungen in Bezug auf
Staub- und Stickoxide aufgenommen, die sich an der
Leistungsfähigkeit der Anlagen orientieren.

Auch im Hinblick auf Quecksilber haben wir einen
neuen Emissionsgrenzwert eingeführt, der so nicht in
der IED vorgesehen ist. Aufgrund der toxischen Eigen-
schaften dieses Schwermetalls halten wir Maßnahmen
zur gezielten Emissionsminderung bei den Verbren-
nungsanlagen für geboten. Der neue im Jahresmittel-
wert einzuhaltende Emissionswert für Quecksilber ist
anspruchsvoll. Bei den Anlagen werden hierfür Nach-
rüstungen und zum Teil erhebliche Anpassungsmaßnah-
men erforderlich. Es stellt sich die Frage, ob wir an-
spruchsvoll genug sind. Die jetzt eingeführte Regelung
ist als wichtiger Zwischenschritt zu sehen im Rahmen ei-
ner umfassenden Quecksilberminderungsstrategie.

Zusammenfassend möchte ich folgendes Fazit ziehen:
Die Vorgaben der Richtlinie über Industrieemissionen
heben die Anforderungen an den Betrieb von Großfeue-
rungsanlagen und Abfallverbrennungsanlagen europa-
weit auf ein hohes Niveau. Um die vorgeschriebenen
Grenzwerte einhalten zu können, müssen die betroffenen
Unternehmen meist erhebliche Maßnahmen ergreifen.
An einigen wichtigen Stellen legen wir die Messlatte
noch höher als in der europäischen Gesamtschau. Doch
dies halte ich vor dem Hintergrund der Vorsorge für not-
wendig und gegenüber der Wirtschaft für vertretbar.


Franz Obermeier (CSU):
Rede ID: ID1719837500

Diese EU-Richtlinie ist wie eine Medaille. Sie ist von

zwei Seiten zu betrachten: Die eine ist die Umweltpoli-
tik, die andere die Industriepolitik. Unsere Aufgabe ist
es, hier einen ausgewogenen Ausgleich zu erzielen.

Gerade wenn wir die Energiewende vernünftig ge-
stalten wollen – und das heißt, die Kontinuität bei der
Stromerzeugung zu bezahlbaren Preisen zu sichern –,
müssen wir auch die Nutzung bestehender Anlagen und
den notwendigen Neubau von modernen Kraftwerken im
Auge behalten. Bestandskraftwerke stehen für einen ent-
scheidenden Teil der Energiesicherheit gerade. Sie sind
zur Netzstabilisierung und Grundlastversorgung neben
den erneuerbaren Energien noch immer unverzichtbar.

Wie oft bei der Umsetzung von EU-Richtlinien in na-
tionales Recht gibt es Stimmen, die für uns in Deutsch-
land gleich „noch eins draufsetzen möchten“ und wei-
tere Verschärfungen – schärfere Grenzwerte – fordern.
Hiervor kann ich nur warnen. Deutsche Alleingänge
sind umweltpolitisch nur ein Tropfen auf den heißen
Stein, für die Wirtschaft und Verbraucher aber verhee-
rend.

Bei der IED-Richtlinie – lndustrieemissionsrichtlinie –
gibt es vor allem zwei Punkte, bei denen ich Nachbesse-
rungsbedarf sehe:

Zum Ersten geht es um die Grenzwerte für Gaskraft-
werke. Gerade wegen der zunehmenden fluktuierenden
Einspeisung erneuerbarer Energien müssen die Kraft-
werke in Zukunft flexibler gefahren werden. An- und

Zu Protokoll gegebene Reden





Franz Obermeier


(A) (C)



(D)(B)


Abfahrvorgänge werden zunehmen, und dies ist ja auch
gewollt. Deshalb halte ich es für falsch, wenn bei den
Messungen – wie jetzt geplant – auch die An- und Ab-
fahrvorgänge mit berücksichtigt werden sollen. Dies ist
eine Verschärfung, die über die IED-RL hinausgeht.
Also, das An- und Abfahren der Kraftwerke sollte he-
rausgenommen werden, dieser Passus ersatzlos entfal-
len.

Zum Zweiten geht es um die Staubemissionswerte für
Altanlagen: Ab 2019 soll auch für Bestands- und Altan-
lagen nach § 11 Abs. 1 ein Staubjahresmittelgrenzwert
von 10 Milligramm pro Normkubikmeter gelten. Diese
Regel würde dazu führen, dass eine Reihe von alten
Kraftwerken vom Netz genommen werden müssten. Das
würde genau in die Zeit fallen, wo die letzten Kernkraft-
werke vom Netz gehen. Mit Blick auf die Netzstabilität
könnte dies negative Folgen haben. Die Einhaltung von
schärferen Jahresmittelwerten für bestehende Anlagen
würde zu entsprechenden Nachrüstungen und Kosten
führen und am Ende weiter die Verbraucher zusätzlich
belasten. Ich plädiere dafür, hier eine Verschiebung des
Datums zu prüfen.

Insgesamt rege ich an, diese beiden Punkte nochmals
aufzugreifen und entsprechende Anpassungsmöglichkei-
ten zu prüfen.

Zum Schluss: Ich sage: Wir müssen die Energiewende
sorgfältig, Schritt für Schritt und mit Augenmaß vorneh-
men. Resultat einer nationalen Verschärfung der Emis-
sionsgrenzwerte bei den Kraftwerken nur bei uns in
Deutschland wären geringere Versorgungssicherheit
und mehr Stromimporte aus ausländischen Anlagen. Da
ausländische Anlagen lediglich die niedrigeren Vor-
schriften der EU-Richtlinie erfüllen müssen, hätte dies
unmittelbare Wettbewerbsnachteile für deutsche Kraft-
werksbetreiber. Zudem würden Finanzmittel für aufwen-
dige Nachrüstmaßnahmen nicht für Investitionen in die
Energiewende zur Verfügung stehen – man kann jeden
Euro nur einmal ausgeben.

Die Energiewirtschaft wird durch die laufende Kraft-
werkserneuerung zukünftig ohnehin weniger Luftschad-
stoffe emittieren. Zusätzlich wird die wachsende Nut-
zung von erneuerbaren Energien dazu führen, dass
sämtliche Emissionen aus fossilen Kraftwerken zurück-
gehen werden, weil sie schlicht weniger eingesetzt wer-
den.

Gerade in den nächsten Jahren sollte darauf verzich-
tet werden, zusätzliche Kraftwerkskapazitäten „aus dem
Markt zu regulieren". Dies unterstreicht auch der
Bericht der Bundesnetzagentur vom Mai 2012, in dem
explizit empfohlen wird, keine weiteren Kraftwerke still-
zulegen.

Richtig ist, europäische Gemeinsamkeit zu praktizie-
ren und mit allen politischen Möglichkeiten auch welt-
weit Verbesserungen einzufordern. Nur so können Wett-
bewerbsverzerrungen zum Nachteil Deutschlands
vermieden werden.

Soll die Stromversorgung sicher und vor allem noch
bezahlbar bleiben, müssen wir auch an den erforderli-
chen Neubau modernster Kraftwerke denken. Unsere

Wirtschaft, unser Wohlstand und unser Sozialstaat hän-
gen vom Strom ab. Wir brauchen realistische Rahmenbe-
dingungen. Sonst wird es keine Investoren geben.

Unsere gemeinsame Aufgabe ist es, für eine verlässli-
che und umweltverträgliche Stromversorgung zu sorgen,
die uns aber nicht die Basis unseres Sozialstaates
– Wirtschaft und Arbeitsplätze – unter unseren Füßen
wegzieht.


Ute Vogt (SPD):
Rede ID: ID1719837600

Ich will mal mit dem Erfreulichen beginnen: Die Bun-

desregierung scheint es mit dieser Vorlage zur Richtlinie
über Industrieemissionen, der sogenannten IED-Richt-
linie, immerhin einmal zu schaffen, die EU-Vorgaben in-
nerhalb der vorgegebenen Frist zum 6. Januar 2013
in nationales Recht umzusetzen. Die IED ist eine der
wichtigsten Richtlinien zur immissionsschutzrechtlichen
Regelung der Genehmigung und Überwachung von In-
dustrieanlagen und der Sachverständigenrat der Bun-
desregierung in Umweltfragen nennt sie zu Recht das
„Grundgesetz des Anlagenlagenrechts“. Sie regelt die
integrierte Vermeidung und Verminderung der Umwelt-
verschmutzung von Luft, Wasser und Boden durch indus-
trielle Anlagen und bildet damit tatsächlich eine umfas-
sende Grundlage, um die Industrie europaweit weiter an
umweltverträgliches Wirtschaften heranzuführen bzw.
dafür zu verpflichten.

Bereits die Vorgängerrichtlinie, Richtlinie zur in-
tegrierten Vermeidung und Verminderung der Um-
weltverschmutzung, IVU, hatte die Harmonisierung des
Umweltschutzniveaus und die Vermeidung von Wettbe-
werbsverzerrungen in der EU zum Ziel. In der Praxis
wurde dieses Ziel bisher jedoch nicht erreicht. Geschei-
tert ist es bislang vor allem an der mangelnden Verbind-
lichkeit der dort festgelegten Vorgaben.

Die IED sorgt nun für eine solche Verbindlichkeit –
und dies in allen Ländern der EU. Genehmigungsfähig
ist demnach nur noch die Technologie, die dem der
Stand der Technik entspricht, eine Praxis, die wir aus
Deutschland bereits über die BVT-Merkblätter kennen,
BVT heißt „beste verfügbare Technik“.

Durch einzelne Rechtsetzungen wie zum Beispiel die
Vorgaben aus dem Bundes-Immissionsschutzgesetz, dem
Wasserhaushaltsgesetz oder auch der TA Luft sind in
Deutschland in vielen Bereichen bereits Grenzwerte
umgesetzt, die ein hohes Umwelt- und Gesundheits-
schutzniveau schaffen. Dies hat auch bewirkt, dass der
deutsche Anlagenbau eine gute Positionierung bei der
Produktion umweltverträglicher Industrieanlagen erreicht
hat und sich gegenüber europäischen Mitbewerbern ei-
nen Wettbewerbsvorsprung verschaffen konnte. Wenn
nun der Betrieb von Anlagen europaweit unter gleiche
Standards gestellt wird, ist dies zum einen eine Anglei-
chung der Wettbewerbsbedingungen, birgt zum anderen
aber auch die Chance von neuen Absatzmärkten für um-
weltverträgliche Technologien. Deshalb begrüßen wir
die grundsätzliche Konzeption zur Umsetzung der IED.

Allerdings bleibt die Bundesregierung mit ihrem Ver-
ordnungsentwurf hinter den notwendigen Regelungen

Zu Protokoll gegebene Reden





Ute Vogt


(A) (C)



(D)(B)


zurück. Denn so erfreulich die europaweiten Verbesse-
rungen zu bewerten sind, in Deutschland selbst wird
sich an der faktischen Lage leider rein gar nichts verän-
dern. Nun kann man sich zurücklehnen und sagen, dies
liegt daran, dass Deutschland bisher bereits strenge
Grenzwerte festgelegt hatte, und die anderen ziehen
eben nun nach. Aber das ist doch eine mehr als defensive
Haltung.

Auch unsere Anhörung vergangenen Montag hat be-
stätigt, dass die Vorgaben für die deutsche Industrie al-
les andere als hart sind. Die Bundesregierung sollte die
Chance ergreifen, unsere Vorreiterrolle zu sichern und
auszubauen. Denn auch künftig überleben am Markt die
Unternehmen, die am effizientesten und fortschrittlichs-
ten sind. Deshalb brauchen wir – wie bisher – ambitio-
niertere Ziele, zumindest zur Reduzierung der Quecksil-
berbelastung und auch bei den Feinstaubwerten. Denn
machen wir uns nichts vor: Freiwilligkeit führt leider in
den seltensten Fällen zu Verbesserungen. Besonders
schwer wiegt ihre Unterlassung in Sachen Quecksilber-
verschmutzung. Selbst in den USA, die bisher nicht da-
für bekannt sind, die schärfsten Umweltgesetze zu ha-
ben, ist man uns weit voraus. Ab dem Jahr 2016 darf
dort kein bestehendes Kraftwerk im Monatsdurchschnitt
mehr als 1,5 Mikrogramm pro Kubikmeter Quecksilber
emittieren. Für Neuanlagen ist sogar ein noch weit
schärferer Wert, 0,35 Mikrogramm pro Kubikmeter bei
5 Volumenprozent O2, vorgeschlagen. Man muss sich
das auf der Zunge zergehen lassen: Wir haben in
Deutschland bisher nach bester verfügbarer Technik
keine Anlage, die über 20 Mikrogramm pro Kubikmeter
Quecksilber emittiert, nach Umsetzung der IED sollen
nun jedoch 30 Mikrogramm pro Kubikmeter erlaubt
sein. Und in den USA ist gleichzeitig die Reduzierung
auf ein Zehntel vorgesehen. Dies folgt keiner Logik und
schon gar nicht der Vorgabe, die beste verfügbare Tech-
nik einzusetzen. Da überzeugt auch der Bezug auf die
Eins-zu-eins-Umsetzung der europäischen Vorgaben
nicht. Es verbietet uns schließlich niemand, mindestens
unsere bisherigen Standards zu halten. Im Gegenteil:
Die Richtlinie lässt dies sogar ausdrücklich zu. Und bei
uns in Deutschland existiert die dafür notwendige Tech-
nik bereits und wird genutzt, um die Emissionen von
Quecksilber auf sogar unter 1 Mikrogramm pro Kubik-
meter zu senken. Das Umweltbundesamt, UBA, schlägt
deshalb vor, den deutschen Grenzwert auf zunächst
3 Mikrogramm zu senken. Und sie sollten dieser Emp-
fehlung im Interesse der Gesundheit, der Umwelt, aber
auch der Standortsicherung folgen.

Ebenso wenig ambitioniert ist der Umgang mit dem
Thema Feinstaub. Wir sind bereits heute technisch in
der Lage, weit niedrigere Grenzwerte für Feinstaub ein-
zuhalten. Und wir sind es den Menschen in Deutschland
auch schuldig – denn Feinstaub ist der Hauptverur-
sacher von Luftverschmutzung. Die gesundheitlichen
Folgen sind immens – und auch die damit verbundenen
Kosten für unser Gesundheitssystem. Vor allem Kinder
leiden an den Auswirkungen und gesundheitlichen Fol-
geschäden. Die Verordnung hätte auch hier genutzt
werden müssen, eine Verbesserung herbeizuführen. Das
haben Sie bisher nicht getan. Nutzen Sie die verblei-

bende Zeit, unsere Änderungsvorschläge zu prüfen und
in das Gesetz einfließen zu lassen.


Dr. Lutz Knopek (FDP):
Rede ID: ID1719837700

Mit dem vorliegenden Verordnungsentwurf der Bun-

desregierung wird ein wichtiger Teil der europäischen In-
dustrieemissionsrichtlinie in deutsches Recht umgesetzt.
Durch die Richtlinie über Industrieemissionen – kurz:
IED – wird die bisherige Richtlinie über die integrierte
Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmut-
zung von 1996 überarbeitet und mit sechs sektoralen
Richtlinien, die Anforderungen für bestimmte Anlagen-
arten enthalten, zusammengefasst. Insbesondere werden
in den Anhängen V und VI die Richtlinien für Großfeue-
rungsanlagen und zur Abfallverbrennung und zur Ab-
fallmitverbrennung in die IED integriert. Diese beiden
Anhänge werden heute mit einer Novellierung der
13. und der 17. Bundesimmissionsschutzverordnung in
deutsches Recht umgesetzt. Die Richtlinie stellt zukünf-
tig das zentrale europäische Regelwerk für die Zulas-
sung und den Betrieb von Industrieanlagen dar. Sie er-
fasst europaweit circa 52 000 Anlagen, in Deutschland
circa 9 000 Anlagen.

Zwei Prinzipien haben uns bei der Überarbeitung der
beiden Bundesimmissionsschutzverordnungen geleitet.
Zum einen haben CDU/CSU und FDP im Koalitionsver-
trag vereinbart, EU-Vorgaben möglichst ein zu eins in
deutsches Recht zu übernehmen. Diesen Willen haben
die Koalitionspartner im Entschließungsantrag „Markt-
wirtschaftliche Industriepolitik für Deutschland – Inte-
graler Bestandteil der Sozialen Marktwirtschaft“ noch
einmal bekräftigt und beschlossen, „bei der Umsetzung
der europäischen Industrieemissionsrichtline auf unbü-
rokratische und praxisnahe Regelungen zu setzen, keine
national einseitigen Verschärfungen vorzunehmen und
die europäischen Vorgaben im Verhältnis ein zu eins in
nationales Recht zu übernehmen“. Jede Abweichung
von dieser Vorgehensweise bedarf daher einer überzeu-
genden Begründung. Zum anderen hat uns das unge-
schriebene parlamentarische Gesetz, dass die Integra-
tion von EU-Vorgaben nicht mit einer Aufweichung
nationaler Umweltstandards einhergehen darf, geleitet.

Der Verordnungsentwurf der Bundesregierung wird
diesen Anforderungen weitestgehend gerecht. In zwei
wesentlichen Punkten, namentlich der Einführung eines
neuen Jahresmittelwertes für die Emissionen von Staub
und Quecksilber, geht der Regierungsentwurf über die
Vorgaben der IED hinaus. Diese Abweichung ist jedoch
zur Erfüllung der Ziele der Luftqualitätsrichtlinie und
zur Verringerung hochtoxischer Quecksilberimmissio-
nen gut begründet und für die deutsche Industrie mit nur
geringem Aufwand erfüllbar.

Meine Fraktion hätte sich gewünscht, dass die zu-
künftig im Rahmen der Energiewende vermehrt notwen-
digen schnellen An- und Abfahrvorgänge insbesondere
für Gaskraftwerke zur Stabilisierung der fluktuierenden
Einspeisung erneuerbarer Energien eine stärkere Be-
rücksichtigung in der Verordnung gefunden hätten. Auf-
grund des engen Zeitrahmens zur Umsetzung der IED
war eine entsprechende Einigung mit dem Koalitions-

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Lutz Knopek


(A) (C)



(D)(B)


partner jedoch nicht möglich. Da es die begründete An-
nahme gibt, dass der Bundestag sich erneut mit dieser
Verordnung nach der Befassung des Bundesrates be-
schäftigen wird, werden wir dem Verordnungsentwurf
heute zunächst zustimmen.


Ralph Lenkert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719837800

Schwarz qualmende Schornsteine wecken Ängste vor

Gefahren, und wir alle werden vorsichtig – was wir
nicht sehen und riechen können, dem können wir nicht
ausweichen. Gerade die Abgase der Industrieproduktion
enthalten oft schädliche Bestandteile. Die anstehende
Verordnungsänderung bot die Chance, bewährte Um-
welttechniken konsequent einzusetzen und zukünftig
mehr Schwermetalle, Stickoxide und Benzole aus der
Luft zu entfernen. Weniger Allergien, weniger Infek-
tionskrankheiten, weil die Immunabwehr nicht durch
Quecksilber geschwächt wird – das wäre doch ein loh-
nendes Ziel und würde die gesamte Volkswirtschaft von
Gesundheitskosten entlasten.

Leider beschränkt sich diese Koalition auch bei die-
sem Thema auf Kostensenkung für ihre Klientel, die
Energie-, Chemie-, Zement- und Stahlindustrie. Die
verhältnismäßig hohen Schadstoffgrenzwerte bringen
diesen Industriebereichen Kosteneinsparungen zulasten
unser aller Gesundheit. Dabei opfern sie langfristig ihre
Wettbewerbsfähigkeit kurzfristigen Renditezielen, weil
international der Trend zu schadstoffarmer Produktion
zunimmt. Selbst China verweigert inzwischen oft die un-
gebremste Schadstoffemission.

Zu den Einzelheiten: Während Unternehmen in den
USA jetzt im Monatsmittel maximal 3 Mikrogramm
Quecksilber pro Kubikmeter Abluft ausstoßen dürfen,
soll das deutsche Jahresmittel bei maximal 10 Mikro-
gramm liegen. Dass jetzt sogar die USA mehr Wert auf
Umweltschutz legen, macht nachdenklich.

Auch am Beispiel Stickoxide wird deutlich, dass die
Bundesregierung je nach Betroffenem Unterschiede in
den Umweltstandards macht. Während im Verkehrsbe-
reich der Ausstoß an Stickoxiden trotz steigenden Ver-
kehrs sinkt, wächst er in der Industrie seit zwölf Jahren
an. Deshalb verfehlt Deutschland die Erfüllung seiner
Verpflichtung zur Senkung des Stickoxidausstoßes um
25 Prozent. Trotzdem legt diese Verordnung für die In-
dustrie Grenzwerte fest, die mehr als das Doppelte über
dem technisch leicht Erreichbaren liegen.

Aus den Zementöfen emittieren durch Brennstoffe aus
Abfall Stäube mit gefährlichen Anhaftungen von Fura-
nen und Dioxinen, die in einer Abfallverbrennunganlage
nicht in die Luft gelangen würden. Bereits 60 Prozent
der Energie für einen Zementofen wird aus sogenannten
Ersatzbrennstoffen gewonnen. Dies wird dann auch
noch als stoffliches Recycling verkauft. Weil man aber
die Abgase bei Zementöfen nicht so genau prüfen muss
wie in der Müllverbrennungsanlage, merkt keiner, wel-
che Schadstoffe aus dem Schornstein quellen. Statt die-
sen bekannten Missstand zu beseitigen, steckt diese Re-
gierung den Kopf in den Sand.

Die Linke fordert die Anwendung der Grenzwerte von
Abfallverbrennungsanlagen für die Mitverbrennung von
Abfall, egal ob in Zement- oder Stahlwerken. Wenn diese
Grenzwerte nicht eingehalten werden, muss die Mitver-
brennung verboten werden. Wir unterstützen die SPD
bei ihrem entsprechenden Vorschlag.

Wir fordern für Deutschland Grenzwerte für Queck-
silber wie in den Vereinigten Staaten. Dass ich das ein-
mal im Umweltbereich sagen muss, ist traurig.

Die Linke fordert, dass die Stickoxidgrenzwerte hal-
biert werden.

Wir stimmen für die Gesundheit der Bevölkerung, und
deshalb stimmt die Linke der Umsetzung der Richtlinie
über Industrieemissionen nicht zu.


Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719837900

Mit der vorliegenden Verordnung hat die Bundesre-

gierung leider die Chance vertan, eine maßgebliche Ver-
besserung der Umweltsituation in Deutschland herbei-
zuführen und schädliche Emissionen langfristig zu
reduzieren. Die europäische Richtlinie hätte die Mög-
lichkeit eröffnet, bei wichtigen Schadstoffen die Grenz-
werte zu verschärfen und damit sowohl messbare Ver-
besserungen für die Luftqualität zu erreichen als auch
Anreize zur Weiterentwicklung neuer Technologien zu
setzen. Stattdessen machen Sie nur kleine Schritte bei
der Absenkung der Grenzwerte. Sie führen neue Rege-
lungen ein, die weitgehend wirkungslos bleiben werden.
Die formulierten Anforderungen an die Vermeidung und
Verminderung von Industrieemissionen gehen nicht über
den bereits erreichten Stand der Technik hinaus. Verra-
ten Sie mir bitte, wie dadurch Anreize zu neuen Innova-
tionen gesetzt werden sollen? Wie soll denn so die Belas-
tung mit Industrieemissionen maßgeblich verringert
werden, werte Kolleginnen und Kollegen von der Regie-
rungskoalition?

Und Sie vergeben auch die deutsche Vorreiterrolle im
Umweltschutz. Es ist ja nahezu peinlich, dass selbst die
USA, ja die USA, bisher nicht gerade bekannt für pro-
gressive Umweltpolitik, zukünftig strengere Grenzwerte
für Quecksilber in Großfeuerungskraftwerken haben
werden als die Bundesrepublik. Im Rahmen dieser Ver-
ordnung hätte man die Grenzwerte deutlich senken müs-
sen, technisch ist das schon lange kein Problem mehr.
Und selbst der Referentenentwurf des Umweltministe-
riums sah strengere Grenzwerte vor. Sie aber sind leider
mal wieder eingeknickt und lassen zu, dass alte Kohle-
kraftwerke nicht mal den Stand der Technik erfüllen
müssen. Sie sind eingeknickt vor der Industrielobby, die
ihre alten Kohlekraftwerke, die Dreckschleudern, nicht
kostenpflichtig modernisieren will. Dabei haben die ge-
nug Rendite, um das zu finanzieren. Die bekannten Ge-
fahren für die Gesundheit durch Quecksilber, insbeson-
dere für Kinder, ignorieren Sie dabei gekonnt. Hier geht
Rücksicht auf die Großindustrie vor verbesserten Ge-
sundheitsschutz von Bürgerinnen und Bürgern.

Auch in puncto Feinstaub hätte man deutliche Fort-
schritte erzielen können, wenn man nur gewollt hätte.
Die Feinstaubbelastung in unseren Städten ist bei un-

Zu Protokoll gegebene Reden





Dorothea Steiner


(A) (C)



(D)(B)


günstiger Witterungslage extrem hoch. Allein mit Maß-
nahmen im Verkehrssektor, die wir dringend brauchen,
werden wir das Feinstaubproblem aber nicht ausrei-
chend in den Griff kriegen. Wir müssen auch die perma-
nente Belastung durch Industrieemissionen verringern.
Auch hier vergibt die Bundesregierung die Chance, die
Schadstoffbelastung der Luft maßgeblich zu reduzieren,
mit allen daraus folgenden Risiken für die Gesundheit
vieler Menschen.

Genau das Gleiche bei den Stickoxiden. Auch hier sind
die vorgeschlagenen Grenzwerte noch immer deutlich zu
hoch. Sie wollen weiterhin die Braunkohle bevorzugen,
obwohl es keinen Anlass dazu gibt. Die verschiedenen
Brennstoffe müssen bezüglich der Stickoxidemissionen
endlich gleichgestellt werden. Wir brauchen sowohl für
die Kohlekraftwerke als auch für die Abfallmitverbren-
nung strengere Grenzwerte für Stickoxide, die eine sub-
stanzielle Verbesserung der Luftqualität zur Folge ha-
ben.

In Sachen Luftreinhaltung versagt Ihr Verordnungs-
entwurf auf ganzer Linie. Aber auch beim zweiten Teil
der Umsetzung der IED-Richtlinie, den wir hier in der
nächsten Woche diskutieren werden, sieht es nicht bes-
ser aus. Ich will den Details nicht vorgreifen, aber las-
sen Sie mich eins doch sagen: Sie, Herr Altmaier, haben
sich auf die Energiewende verpflichtet, es ist Ihr großes
Projekt. Wir alle wollen, dass die Energiewende klappt,
und wir alle wissen, das der Schlüssel dazu Energieeffi-
zienz ist. Die Umsetzung der IED-Richtlinie hätte die
Möglichkeit eröffnet, hier einen großen Schritt voranzu-
kommen. Die IED-Richtlinie erlaubt es den Mitglied-
staaten, Energieeffizienz als Grundpflicht der Betreiber
von Industrieanlagen festzulegen. Warum haben Sie die
Chance vergeben, hier klare Mindestwirkungsgrade für
die Energienutzung bei Industrieanlagen festzulegen?
Das hätte einen wirklichen Fortschritt bei der Energie-
effizienz im industriellen Bereich gebracht. Warum, frage
ich Sie, vergeben Sie auch diese Möglichkeit, einen maß-
geblichen Beitrag zur Energiewende zu leisten?

Mein Fazit kann nur heißen: Diese Verordnung ist
kein Beitrag zu angemessenen Umweltstandards und
kein Beitrag zum verbesserten Umweltschutz. Noch
haben Sie die Chance, beim Gesetzentwurf in Sachen
Energieeffizienz nachzubessern. Bitte tun Sie dies, damit
die Umsetzung der IED-Richtlinie nicht auch noch zu ei-
nem Reinfall für die Energiewende wird.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719838000

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für

Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt
unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/11060, der Verordnung der Bundesregie-
rung auf Drucksache 17/10605 zuzustimmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der
FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Ent-
haltung der SPD-Fraktion angenommen.

Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion der SPD auf Drucksache 17/9555. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Oppositionsfraktionen angenommen.

Ich rufe die Zusatzpunkte 7 a und 7 b auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Gottschalck, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Neue Impulse für die Förderung des Radver-
kehrs setzen – Den Nationalen Radverkehrs-
plan 2020 überarbeiten

– Drucksache 17/11000 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Innenausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung

Nationaler Radverkehrsplan 2020 – Den Rad-
verkehr gemeinsam weiterentwickeln

– Drucksache 17/10681 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus

Auch hier wird vorgeschlagen, die Reden zu Proto-
koll zu geben.1) – Sie sind damit einverstanden.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/11000 und 17/10681 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
– Sie sind damit einverstanden. Dann sind die Überwei-
sungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einfüh-
rung eines Zulassungsverfahrens für Bewa-
chungsunternehmen auf Seeschiffen

– Drucksache 17/10960 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir
die Reden zu Protokoll.

1) Anlage 7






(A) (C)



(D)(B)



Eckhardt Rehberg (CDU):
Rede ID: ID1719838100

Lassen Sie mich zu Beginn auf die positive Entwick-

lung der rückläufigen Piratenangriffe zu sprechen kom-
men. Schon im Jahr 2011 ist die Zahl der Geiselnahmen
im Zusammenhang mit Angriffen durch Piraten weltweit
von 1181 im Jahr 2010 auf 802 zurückgegangen. Das In-
ternational Maritime Bureau, IMB, verzeichnete bis
Ende Mai 2012 rund um das Horn von Afrika 60 Pira-
tenangriffe. Im Vergleich zum Vorjahr ist hier erneut ein
signifikanter Rückgang zu registrieren. Die Fachpresse
und Experten begründen diese guten Nachrichten unter
anderem mit dem verbesserten Selbstschutz, wie etwa
der Einhaltung der Best-Management-Practices-Verhal-
tensregeln der International Maritime Organization,
IMO, aber auch mit der effektiven Arbeit der internatio-
nalen Seestreitkräfte.

Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion,
es sei an dieser Stelle erinnert, dass Sie vor einigen Mo-
naten in diesem Hohen Hause der deutschen Beteiligung
am Atalanta-Einsatz ihre Zustimmung versagt haben.
Für Ihr wahlkampfgeleitetes Taktieren setzen Sie die Si-
cherheit der Besatzungen auf deutschen und allen ande-
ren Handelsschiffen aufs Spiel. Sie haben sich offenkun-
dig nicht nur von der Reformpolitik der Agenda 2010
des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder ver-
abschiedet, sondern auch von Zeiten, als sich die SPD
noch um die maritime Wirtschaft bemühte. Ihr nicht
nachzuvollziehendes Abstimmungsverhalten offenbart
Ihr Desinteresse an der maritimen Branche. Der Gipfel
dieser beschämenden Gleichgültigkeit ist die Charte-
rung des unter portugiesischer Flagge fahrenden Kreuz-
fahrtschiffes MS Princess Daphne durch eine Beteili-
gungsgesellschaft der SPD. Zulasten der deutschen
Flagge will sich Ihre Parteiführung im Willy-Brandt-
Haus die Wahlkampfkasse aufbessern, weil im Madeira-
Register die arbeits- und sozialrechtlichen Standards
weitaus geringer sind als in Deutschland. Ihr Antrag
„Maritimes Bündnis fortentwickeln – Schifffahrtsstand-
ort“, dessen Forderungen nach einer Stärkung des ma-
ritimen Standortes Deutschland und der Verbesserung
der Situation von nautischem und technischem Perso-
nals wir hier schon diskutieren durften, ist in diesem Zu-
sammenhang nicht nur fragwürdig, sondern beschä-
mend. Bevor Sie die Bundesregierung mit Forderungen
konfrontieren, sollten Sie in Ihren Reihen zunächst ein-
mal wieder ein Bewusstsein für maritime Fragen entwi-
ckeln.

Abgesehen davon, dass Sie mit Ihren aktuellen Forde-
rungen nach Transparenz in Fragen von Nebeneinkünf-
ten der Bundestagsabgeordneten und der Parteienfinan-
zierung an dieser Stelle hier Ihr wahres Gesicht
offenbaren, verprellen Sie die Besatzungen auf den
Schiffen unter deutscher Flagge. Glaubwürdigkeit in
wichtigen Fragen der maritimen Politik sieht anders
aus.

Die Union hat in dieser Bundesregierung, aber auch
unter der großen Koalition bereits seit 2008 unter-
schiedliche Maßnahmen ergriffen, etwa durch die Betei-
ligung der Bundeswehr im Zuge internationaler Ein-
sätze, um die humanitären Hilfslieferungen für das
afrikanische Krisengebiet zu sichern und um natürlich

dem auftretenden Phänomen der Schiffs- und Besat-
zungsentführungen sowie der Lösegelderpressung wirk-
sam entgegenzutreten. Der Aufbau staatlicher Strukturen
als Voraussetzung zum wirtschaftlichen Wiederaufbau in
Somalia und der damit verbundenen Eindämmung von
Hunger und Armut ist ebenfalls eine wesentliche Maß-
nahme, der sich Deutschland verpflichtet fühlt. Die Bun-
desrepublik leistet hier einen wichtigen Beitrag: Deut-
sche Soldaten, die Sie durch Ihre Verweigerung bei
Atalanta offenbar nicht weiter beteiligen wollen, partizi-
pieren beispielsweise auch an der EU-geführten Ausbil-
dungsmission Eutm Somalia. Bislang konnten dadurch
1 800 Soldaten der somalischen Übergangsregierung in
Uganda ausgebildet werden. Bis Dezember dieses Jah-
res sollen es dann 3 000 somalische Soldaten sein.

Im Februar 2010 wurde als Reaktion auf die weltweit
steigenden Piraterievorfälle das Piraterie-Präventions-
zentrum bei der Bundespolizei See in Neustadt in Hol-
stein geschaffen. Diese Einrichtung bietet den deutschen
Reedern unterschiedliche Dienstleistungen zur Vorbeu-
gung möglicher Attacken durch Piraten an. Mit Risiko-
analysen, der Darstellung technischer Präventionsmaß-
nahmen, wie etwa der aktiven Abwehr durch nautische
Manöver, und der Vermittlung von Verhaltensgrundsät-
zen ist eine wichtige Anlaufstelle eingerichtet worden.
Die deutschen Reeder sind gesetzlich dazu angehalten,
die Eigensicherung ihrer Schiffe zu unterstützen und die
Umsetzung der Best Management Practices zu gewähr-
leisten. Sie sehen, die unionsgeführten Bundesregierun-
gen haben in vielfältiger Weise zu Verbesserungen der
Gefahrenabwehr auf Handelsschiffen beigetragen.

Doch lassen Sie mich zum vorliegenden Gesetzent-
wurf der Regierungskoalition kommen, die im Gegen-
satz zu Ihnen, geschätzte Mitglieder der Opposition, mit
sachlicher Arbeit und im Dialog mit den Betroffenen Lö-
sungsvorschläge zur Abwehr von Piraterie vorlegt. Ich
möchte die Gelegenheit daher nutzen, mich bei den be-
teiligten Ressorts, dem Bundeswirtschaftsministerium
und dem Bundesministerium des Innern, zu bedanken,
dass es ihnen gelungen ist, trotz der schwierigen recht-
lichen und inhaltlich komplexen Problematik bei der Zu-
lassung von privaten Sicherheitsunternehmen einen un-
bürokratischen und für alle akzeptablen Gesetzentwurf
vorzulegen. Da uns bewusst war, dass die Anwesenheit
von privaten Sicherheitsunternehmen an Bord von Schif-
fen bereits Realität ist und auch ein hohes Maß an Si-
cherheit gewährleistet, bestand die Herausforderung
nun darin, allen Beteiligten Rechtssicherheit zu ver-
schaffen.

Um es noch einmal festzuhalten: Bisher ist der Ein-
satz privater Sicherheitsunternehmen nicht verboten,
sondern bislang nur nicht geregelt, da wir es hier mit ei-
ner Sondersituation zu tun haben, deren Ausmaß und
Konsequenzen erst in den letzten Jahren deutlich wur-
den. Der Einsatz von Bewachungsunternehmen auf ho-
her See stellt aus sicherheitstechnischer Perspektive
eine Sondersituation dar, zumal, anders als auf dem
Festland, keine hoheitlichen Kräfte angefordert werden
können. Insofern müssen die privaten Sicherheitsunter-
nehmen höchsten Anforderungen entsprechen. Das Er-
fordernis von Bewachungsunternehmen wird schnell

Zu Protokoll gegebene Reden





Eckhardt Rehberg


(A) (C)



(D)(B)


sichtbar, denn der Erfolg gibt ihnen Recht: Sofern Bewa-
chungsunternehmen an Bord von Handelsschiffen wa-
ren, ließen die Piraten von ihrem geplanten Angriff ab
oder die Angriffe konnten erfolgreich abgewehrt wer-
den. Die Bundesregierung hat in den letzten Monaten in
enger Abstimmung mit Verbänden und Koalitionsabge-
ordneten nun ein Ergebnis präsentiert, das dem An-
spruch Rechnung trägt, diese Maßnahmen auf ein
rechtssicheres Fundament zu stellen.

Der Gesetzentwurf wurde mit den Betroffenen disku-
tiert und stellt in dem Bündel an Aktivitäten zur Pirate-
riebekämpfung eine weitere wichtige Ergänzung dar.
Damit wird den Forderungen und Bedürfnissen der
Branche entsprochen. Diese Arbeit erfährt im Übrigen
auch die Würdigung der deutschen Reeder, die neben
anderen Interessenvertretungen und den Bundesländern
im Diskussionsprozess eingebunden waren und auch
weiterhin sind.

Bei der inhaltlichen Ausgestaltung gilt es, die He-
rausforderung zu meistern, der Besatzung den nötigen
Schutz vor etwaigen Angriffen zu ermöglichen und dabei
aber die Gefahr zu minimieren, dass Menschen zu Scha-
den kommen. Diese anspruchsvolle Aufgabe kann nicht
ausschließlich durch die EU-geführte Atalanta-Mission
erfüllt werden. In einem Seegebiet, das 18-mal größer ist
als Deutschland, ist die Bedrohung für die Schiffsbesat-
zung und den freien Warenverkehr nach wie vor hoch. Es
sei an dieser Stelle erwähnt, dass 95 Prozent des inter-
nationalen Warenverkehrs und 90 Prozent der europäi-
schen Güterexporte an Drittstaaten über den Seeweg er-
folgen. Nach den Krisenjahren 2008 und 2009 hat sich
der Welthandel und damit auch die maritime Wirtschaft
erholen können. Das führt nun erfreulicherweise dazu,
dass der internationale Seeverkehr seinen Wachstums-
prozess fortsetzt. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit ei-
nes Piratenüberfalls unter 1 Prozent liegt und wir 2011
einen Rückgang von Angriffen durch Piraten verzeich-
nen dürfen, ist der Anlass zur Sorge nach wie vor gege-
ben. Ein wachsender Schiffsverkehr bedeutet einerseits
wirtschaftlich positive Effekte, allerdings auch zusätz-
liche Angriffsmöglichkeiten für die Piraten. Insbeson-
dere vor den Küsten Somalias, an denen 236 der 439 Atta-
cken im Jahr 2011 erfasst wurden, muss also weiter aktiv
die Pirateriebekämpfung verfolgt werden. Auch wenn
die Erfolgsquote der Piraten in den letzten zwei Jahren,
insgesamt betrachtet, erheblich gesunken ist, besteht
also kein Grund zum Aufatmen.

Die bisher getroffenen Maßnahmen haben bereits zu
einer Reduzierung der Attacken durch Piraten geführt.
Dennoch bleibt der Handlungsbedarf, wie eingangs be-
reits erwähnt, gegeben. Immer mehr Reeder setzen inter-
national agierende Bewachungsunternehmen ein, um in
risikobehafteten Gebieten besseren Schutz in Anspruch
zu nehmen. Umso bedeutsamer ist es, dass Bewachungs-
unternehmen eingesetzt werden, die über die nötige
Professionalität, Zuverlässigkeit und ausreichend Er-
fahrung verfügen. An erster Stelle muss hier Rechts-
sicherheit geboten werden. Dieser Forderung der Ree-
der wird die Bundesregierung nachkommen, indem von
den Bewachungsunternehmen und ihren Mitarbeitern
eindeutige Anforderungsprofile gesetzlich eingefordert

werden. Dabei geht es vor allem um die fachliche, der
besonderen Situation auf den Schiffen angepasste Quali-
fikation und Eignung derjenigen, die für zusätzliche Si-
cherheit an Bord sorgen sollen. Das Personal muss ne-
ben den sicherheitstechnischen Anforderungen auch
über maritime Kenntnisse verfügen, denn die Leistungen
werden auf hoher See erbracht und bedürfen einer ge-
wissen Vertrautheit mit den Vorgängen an Bord eines
Schiffes. Allein hieran wird der Regelungsbedarf deut-
lich, dem die Bundesregierung nachkommt und sich da-
bei an den noch vorläufigen Leitlinien der IMO orien-
tiert. Die Bundesregierung richtet sich dabei auch nach
europäischen Nachbarn, die ebenso Bewachungsunter-
nehmen zertifizieren. Mit der Orientierung an europäi-
schen Standards bilden wir vergleichbare und rechtlich
verbindliche Normen für internationale Bewachungs-
unternehmen, die zügig zugelassen werden können. Für
unsere Seeleute und die deutschen Reeder wird eine not-
wendige Rahmenbedingung für zusätzliche Sicherheit an
Bord geschaffen. Die Zulassung der Bewachungsunterneh-
men über das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhr-
kontrolle mit Unterstützung der Bundespolizei erfolgen
zu lassen, ist aus Sicht der CDU/CSU-Bundestagsfrak-
tion richtig.

Die ebenfalls notwendig gewordene Änderung des
Waffenrechts sowie deren über die Bundesländer zu
erfolgende Bearbeitung ist mit dem vorliegenden Ge-
setzentwurf ebenfalls unbürokratisch gelöst: Dank der
erfolgreichen Abstimmung zwischen Bund und betroffe-
nen Ländern ist es gelungen, die Erlaubniserteilung
hinsichtlich des Waffenrechts über die Freie und Hanse-
stadt Hamburg abzuwickeln. Den Bewachungsunter-
nehmen wird damit ein föderales und behördliches
Durcheinander erspart.

Abschließend möchte ich auf die Notwendigkeit hin-
weisen, dass die hierzu parallel ebenfalls erforderliche
Rechtsverordnung sobald wie möglich beschlossen wird.
Diese soll die verschiedenen Verpflichtungen für die Be-
wachungsunternehmen enthalten, etwa das Führen eines
Prozesshandbuches, das Verfahrensabläufe zur Planung
und Durchführung von Einsätzen auf See beschreibt und
dokumentiert.

Die Koalition unterstreicht erneut, dass sie verläss-
licher Partner der maritimen Wirtschaft ist und es auch
bleiben wird. Die Opposition kann im Gesetzgebungs-
verfahren beweisen, ob sie der Branche mit über
400 000 Mitarbeitern in Deutschland ähnlich treu zur
Seite steht.


Ingo Egloff (SPD):
Rede ID: ID1719838200

Der Gesetzentwurf nimmt die Forderungen aus unse-

rem Antrag vom April im Wesentlichen auf und geht ins-
gesamt in die richtige Richtung. Unsere Forderung, die
Befugnisse privater Sicherheitsdienste beim Einsatz ge-
gen Piratenangriffe an Bord von Handelsschiffen unter
deutscher Flagge gesetzlich zu regeln und die Bestim-
mungen der Gewerbeordnung in Bezug auf einen inter-
nationalen Einsatz privater Sicherheitsdienste anzupas-
sen, ist ebenso berücksichtigt wie die grundsätzliche
Vorgabe, dass die Zertifizierung nach den vorläufigen

Zu Protokoll gegebene Reden





Ingo Egloff


(A) (C)



(D)(B)


Leitlinien für Schiffseigner, Schiffsbetreiber und Schiffs-
führer der International Maritime Organization, IMO,
erfolgen soll, damit nur zuverlässige und ausreichend
geschulte Sicherheitskräfte zum Einsatz kommen dürfen.
Mit der Zuständigkeit des Bundesamtes für Wirtschaft
und Ausfuhrkontrolle, BAFA, und der Unterstützung
durch die Bundespolizei wird die Zulassung auf eine so-
lide Basis gestellt.

Der Einsatz hoheitlicher Sicherheitskräfte auf und
zum Schutz von Handelsschiffen soll auch in Zukunft
nicht der Regelfall werden. Wir fordern aber, dass eine
unmittelbare Zuständigkeit des Bundeskriminalamts und
die Einführung einer Sonderstaatsanwaltschaft zur opti-
malen Durchführung von Ermittlungsverfahren geprüft
werden.

Zu klären bleibt die Ausgestaltung des Zulassungs-
verfahrens, zu der die konkrete Formulierung der
Rechtsverordnung von der Bundesregierung noch vorge-
legt werden muss. Dies muss rasch geschehen: Zwar
orientieren sich heute bereits die meisten Sicherheits-
dienste und Reeder an den Leitlinien der IMO, aber bis
für Handelsschiffe unter deutscher Flagge nach diesem
Gesetzentwurf verbindliche Regeln vorliegen und der
Einsatz von Bewachungsunternehmen beginnt, die eine
Zertifizierung durch die BAFA vorweisen können, wird
wohl mindestens ein weiteres Jahr verstreichen.

Im vorliegenden Gesetzentwurf fehlt die von uns be-
reits im April geforderte Festschreibung, dass die Kom-
mandokette an Bord beim Einsatz privater Sicherheits-
kräfte auf der Grundlage der im Seemannsgesetz
geregelten Stellung des Kapitäns, der Rechtsverhält-
nisse der Besatzung und der sonstigen im Rahmen des
Schiffsbetriebs an Bord tätigen Personen vertraglich
klar definiert und sichergestellt wird. Mit anderen Wor-
ten: Es muss klar sein, dass Sicherheitskräfte erst auf
Anweisung des Kapitäns tätig werden dürfen. Bei den
Verhaltensregeln für das Sicherheitspersonal muss
dabei insbesondere berücksichtigt werden, dass Schiffs-
führung und Sicherheitskräfte durchaus unterschiedli-
che Ansichten haben können, ob Maßnahmen notwendig
sind oder nicht.

Wir begrüßen, dass durch die Einführung des Zulas-
sungserfordernisses den Reedern vorgeschrieben wird,
nur durch die BAFA zertifizierte Bewachungsunterneh-
men einzusetzen. Im Zuge der für diese Vorschrift benö-
tigten Änderung der See-Eigensicherungsverordnung
muss darüber hinaus aber auch sichergestellt werden,
dass die umfassenden Informationsrechte der zuständi-
gen Bundesbehörden und beauftragten Stellen auch
beim Einsatz privater Sicherheitskräfte gewahrt bleiben
und sie von diesen auf Verlangen alle notwendigen Aus-
künfte und erforderlichen Unterlagen erhalten.

Über die jetzt vorgelegten gesetzlichen Regelungen
hinaus bleibt die Bundesregierung aufgefordert, ge-
meinsam mit den Partnern des Maritimen Bündnisses
gegenüber den deutschen Reedereien für eine Rückflag-
gung des Schiffsbestandes unter deutsche Flagge einzu-
treten. Dies ist nicht nur Bestandteil der Vereinbarungen
im Rahmen der Nationalen Maritimen Konferenzen. Der
Gesetzgeber kann nach dem Prinzip der Flaggenhoheit

nur Regelungen treffen, die sich auf Schiffe unter deut-
scher Flagge beziehen. Es wird im Interesse auch der
Reeder sein, durch ein gesetzlich und durch Rechtsver-
ordnung eindeutig geregeltes Zulassungsverfahren nicht
nur Sicherheit an Bord, sondern auch Rechtssicherheit
zu gewinnen.


Manfred Todtenhausen (FDP):
Rede ID: ID1719838300

Über 90 Prozent des Welthandels und fast 95 Prozent

des Außenhandels der Europäischen Union werden über
den Seeweg abgewickelt. Die Bundesrepublik Deutsch-
land, als weltweit zweitgrößte Handelsnation, nutzt für
nahezu 70 Prozent des Im- und Exports maritime Trans-
portwege. Rund 45 000 Handelsschiffe sind derzeit auf
internationalen Gewässern unterwegs und transportie-
ren mehr als 7 Milliarden Tonnen Güter pro Jahr – mit
steigender Tendenz. Die Ozeane sind die mit Abstand
wichtigsten Verbindungswege unserer zunehmend glo-
balisierten Welt.

Doch nicht nur die Industrienationen rund um den
Globus haben die Bedeutung maritimer Handelswege
erkannt, sondern auch Piraten. Wie schon in der Antike
wissen diese auch heute um den Gegenwert der wertvol-
len Fracht und die hohe Bedeutung eines möglichst un-
gehinderten Welthandels. Piraterie ist selbstverständ-
lich kein neues Phänomen; sie hat aber in Bezug auf ihr
Ausmaß eine neue Dimension erreicht. Allein im Jahr
2011 ereigneten sich weltweit 439 derartige Attacken,
mehr als die Hälfte davon am Horn von Afrika. Insbe-
sondere aufstrebenden und entwickelten Volkswirtschaf-
ten entstehen durch die weltweit stark gestiegene Zahl
von Übergriffen erhebliche wirtschaftliche Schäden.
Aber auch die erhebliche Bedrohung für Leib und Leben
der Seeleute zeigt deutlich, dass die Bekämpfung der Pi-
raterie eine wichtige Aufgabe ist. Dafür müssen zweck-
mäßige und effiziente Maßnahmen ergriffen werden.

Erfreulicherweise ging die Anzahl der Überfälle in
diesem Jahr bisher um rund ein Drittel zurück. Die Ur-
sache ist aber nicht etwa das nachlassende Interesse am
Kapern von Schiffen. Vielmehr zeigen die bisher ergrif-
fenen Maßnahmen erste Wirkungen. Neben der starken
internationalen Militärpräsenz in den besonders betrof-
fenen Seegebieten – die Deutsche Marine ist bekannter-
maßen auch erfolgreich in die EU-geführte Operation
Atalanta eingebunden – heuern Reeder zunehmend be-
waffnetes Sicherheitspersonal für ihre Schiffe an. Ge-
rade diese Maßnahme hat sich offenbar als besonders
wirksam erwiesen. Allein die abschreckende Wirkung
bewaffneter Sicherheitskräfte und der einsetzende Wi-
derstand haben dazu geführt, dass bisher keines der so
gesicherten Schiffe entführt wurde.

Diese Form der Selbsthilfe der Reeder zeigt aber
auch den Handlungsbedarf des Gesetzgebers. Den Be-
fürchtungen der Branche, durch unangemessenes Han-
deln des angeworbenen Personals eine unkalkulierbare
Eskalation in Konfliktsituationen hervorzurufen, ist ent-
sprechend zu begegnen. Reedereien brauchen in dieser
Frage Rechtssicherheit und müssen auf die Entschei-
dungen und Fähigkeiten des von ihnen beauftragten Si-
cherheitspersonals vertrauen können.

Zu Protokoll gegebene Reden





Manfred Todtenhausen


(A) (C)



(D)(B)


Die Bundesregierung hat daher einen Gesetzentwurf
vorgelegt, der erstmals ein transparentes und für die
Wirtschaft möglichst unbürokratisches Zulassungsver-
fahren für private bewaffnete Sicherheitsdienste auf
deutschen Schiffen etabliert. Das Verfahren orientiert
sich eng an den Leitlinien der Internationalen Schiff-
fahrtsorganisation, IMO. Ziel ist es, dass nur zuverläs-
sige, besonnene und fachkundige Sicherheitskräfte auf
deutschen Handelsschiffen zum Einsatz kommen. Zu-
sätzlich sollen aber auch die Bewachungsunternehmen
hohen Qualitätsstandards und Überwachungsmechanis-
men unterliegen. Zukünftig wird das Bundesamt für
Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, BAFA, als zuständige
Behörde zentral für die Zulassung und Überwachung
von Sicherheitsunternehmen und deren Personal zustän-
dig sein. Es wird diese Aufgabe in enger Kooperation
mit der Bundespolizei erfüllen. Ergänzend wird das
Land Hamburg als zentrale Waffenbehörde einheitlich
und transparent die Erteilung und Verwaltung der erfor-
derlichen Waffenberechtigungen vornehmen. Damit
bleibt das hohe Schutzniveau des Waffenrechts auch bei
diesem speziellen Anwendungsfall erhalten.

Auf Schiffen unter deutscher Flagge ist immer auch
deutsches Recht anzuwenden. Die vorgesehenen Regeln
gelten deshalb selbstverständlich auch für im Ausland
niedergelassene Bewachungsunternehmen, sobald sie
entsprechende Aufträge auf deutschen Schiffen überneh-
men. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf gehen wir in
Deutschland und auch im internationalen Vergleich
neue Wege. Unsere einheitlichen und qualitätsorientier-
ten Sicherheitsstandards könnten zu einem neuen Güte-
siegel werden, das letztlich auch die deutsche Flagge in
der internationalen Handelsschifffahrt stärkt.

An dieser Stelle möchte ich nicht versäumen, dem
Bundeswirtschaftsministerium und insbesondere dem
Parlamentarischen Staatssekretär und maritimen Koor-
dinator, Hans-Joachim Otto, zu danken, der mit persön-
lichem Einsatz und dem notwendigen Fingerspitzenge-
fühl bei sensiblen Fragen Geschick und Kompetenz
bewiesen hat.

Ich bitte Sie daher, den vorliegenden Gesetzentwurf
zu unterstützen. Lassen Sie uns gemeinsam die Voraus-
setzungen dafür schaffen, dass unsere Schiffe die Welt-
meere ein Stück sicherer passieren können.

„Über den Wind können wir nicht bestimmen, aber
wir können die Segel richten.“


Frank Tempel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719838400

Die Tatsache, dass noch niemals Schiffe unter deut-

scher Flagge gekapert worden sind, auf denen sich be-
waffnetes Sicherheitspersonal befand, führt nicht
zwangsläufig zu dem Ergebnis, die Sicherheit der
Seeschiffe privaten Bewachungsunternehmen anzuver-
trauen. Der Schutz vor Kriminalität – also auch vor Pi-
raterie – ist eine hoheitliche Aufgabe des Staates. Ge-
rade wenn es sich um schwerste Straftaten wie
Entführung und Erpressung handelt, ist die Abgabe des
hoheitlichen Handelns an private Sicherheitsdienste äu-
ßerst bedenklich und wird von der Linken strikt abge-
lehnt. Die Sicherheitsfirmen sollen militärisch ausgerüs-

tet und für die Abwehr schwerster Verbrechen zuständig
sein. Andererseits dürfen sie nur im Rahmen der Jeder-
mannsrechte wie Notwehr, Notstand und Selbsthilfe han-
deln. Es ist äußerst fraglich, inwieweit Privatfirmen ein
angemessenes Handeln gewährleisten können und wie
Vorfällen mit Schusswaffeneinsatz rechtlich aufzuarbei-
ten sein sollen. Was passiert mit Gefangenen? Haben
Mitarbeiter von Sicherheitsfirmen die entsprechende
Ausbildung und rechtliche Befähigung? Mit dem im Ge-
setz vorgeschriebenen Zulassungsprozedere für geeig-
nete Mitarbeiter und der Berichtspflicht bei Einsätzen
ist eine Angemessenheit im Handeln wohl kaum abzusi-
chern.

Die Bundesregierung gibt an, dass weltweit 160 bis
180 Unternehmen diese spezielle Art maritimer Sicher-
heitsdienstleistungen anbieten, zehn von ihnen kommen
aus Deutschland. Einige internationale Sicherheits-
firmen waren in den letzten Jahren in den Schlagzeilen,
weil sie in Gebieten mit kriegerischen Auseinanderset-
zungen wie im Irak völlig unverhältnismäßige Gewalt-
anwendungen zu verantworten hatten. Will die Bundes-
regierung sehenden Auges solche Situationen
heraufbeschwören? In der Antwort auf die Kleine An-
frage der Grünen zum Zulassungsverfahren für Bewa-
chungsunternehmen auf Seeschiffen muss die Bundesre-
gierung selbst eingestehen, dass eine Vor-Ort-Kontrolle
von ausländischen Bewachungsunternehmen nicht mög-
lich ist. BAFA und Bundespolizei könnten nur die Plau-
sibilität der zur Zertifizierung eingereichten Dokumente
überprüfen. Mit solcherlei Zulassungsverfahren will
man also Unternehmen legitimieren, Aufgaben aus dem
engsten Kreis hoheitlichen Handelns zu übernehmen?
Ein unglaublicher Vorgang!

Interessant ist auch der Zeitpunkt, zu dem das Gesetzt
verabschiedet werden soll. Laut dem letzten „Piraterie-
bericht der Bundespolizei See“ sind die Piraterieaktivi-
täten am Horn von Afrika um 67 Prozent und weltweit
um 33 Prozent zurückgegangen. Dies ist auf ein Bündel
von Maßnahmen zurückzuführen, insbesondere auf die
militärisch geschützten Konvoifahrten, die Sicher-
heitsteams auf Schiffen, die Verfolgung der Geldwäsche
von Lösegeldern und auf die Stärkung der somalischen
Zentralgewalt. Man könnte meinen, der Gesetzentwurf
aus dem Hause von Minister Rösler soll in letzter
Sekunde der Sicherheitsbranche Zugänge zu neuen
Märkten eröffnen, genau in dem Moment, wo das Pro-
blem seine hohe politische Relevanz verliert.

Es liegen sinnvolle Vorschläge auf dem Tisch, wie die
zivile Seefahrt geschützt werden könnte. Der Verband
Deutscher Reeder fordert hoheitliche Kräfte, konkret die
Bundespolizei, und kann sich sogar eine Seesicherheits-
gebühr vorstellen, um die Reedereien an den Kosten zu
beteiligen. Der Vorsitzende der Gewerkschaft der Poli-
zei schlägt die Umschulung von Bundeswehrsoldaten
vor, die durch die Bundeswehrreform freigesetzt werden.
Über die Eingliederung in eine zu schaffende Struktur
der Bundespolizei und nach gründlicher rechtlicher und
fachlicher Ausbildung könnte dann ein Einsatz auf See-
schiffen erfolgen.

Zu Protokoll gegebene Reden






(A) (C)



(D)(B)



Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719838500

Die Bundesregierung hat zu Recht erkannt, dass zur

Regulierung des Tätigkeitsfeldes privater bewaffneter
Sicherheitsunternehmen die geltenden Anforderungen
der Gewerbeordnung nicht mehr ausreichen.

Lassen Sie mich noch einmal aus führen, welche An-
forderungen dies zur Zeit sind: Wer ein Sicherheits-
gewerbe eröffnen will, muss nachweisen, dass er zuver-
lässig ist und über die notwendigen Mittel verfügt.
Zusätzlich muss er sich von einer Industrie- und Han-
delskammer 80 Stunden unterrichten lassen, welche
rechtlichen und betriebswirtschaftlichen Vorschriften
für ein solches Gewerbe zu beachten sind. Ob er das al-
les versteht, ist dabei unerheblich. Eine Prüfung ist nicht
vorgesehen. Bei seinen Angestellten ist dann diese Un-
terrichtung auf 40 Stunden verkürzt. Auch bei ihnen ist
keine Prüfung vorgesehen. Dies sind äußerst niedrige
Schwellen.

Seit Ende des Ost-West-Konflikts hat es im Sicher-
heitsbereich eine ungeahnte Privatisierungswelle gege-
ben. Die Anzahl von privaten Sicherheitsunternehmen
hat sich seit 1994 in Deutschland mehr als verdoppelt.
In demselben Maße ist der Umsatz der Branche gewach-
sen.

Wir Bündnisgrüne setzen uns seit Jahren dafür ein,
dass diese Schwellen erhöht werden, um gerade bei den
Sicherheitsunternehmen, deren Angestellte auch Waffen
tragen, stärker als bisher Zuverlässigkeit und Geeignet-
heit sowohl der Unternehmensführung als auch der An-
gestellten sicherzustellen. Hier gibt es schon gute Vor-
schläge der Länder. Das ist ein Ziel, das sowohl im
Interesse der Öffentlichkeit als auch im Interesse der
Auftraggeber und der Branche selbst liegt. Und die Län-
der haben in ihrer Stellungnahme zu dem Gesetzentwurf
zu Recht darauf hingewiesen, dass aus ihrer Sicht auch
klarere gesetzliche Regelungen für deutsches Sicher-
heitspersonal auf ausländisch geflaggten Schiffen not-
wendig sind.

Ich finde es daher befremdlich, dass Sie sich gewei-
gert haben, heute auch über den Antrag meiner Fraktion
zum selben Thema zu debattieren. Ich weiß ja, dass der
Antrag gut ist – dass er aber so gut ist, dass es Ihnen of-
fensichtlich peinlich ist, ihn neben Ihrem Gesetzentwurf
aufzusetzen, überrascht mich dann doch.

Sie begnügen sich in Ihrem Gesetzentwurf damit, ei-
nen kleinen Tätigkeitsbereich privater Sicherheitsunter-
nehmen strenger zu regulieren. Hier sind wir ja im
Grundsatz bei Ihnen, auch wenn der von Ihnen verwen-
dete Begriff der Bewachungsunternehmen gegenüber
dem, was diese bewaffneten Sicherheitsteams bei Pira-
tenangriffen an Bord leisten müssen, äußerst vernied-
lichend ist. Auch wird erst die Rechtsverordnung zum
Gesetz zeigen, wie ernst Sie es mit der Regulierung tat-
sächlich meinen. Und da ist es für uns sehr unverständ-
lich, dass Sie sich bisher weigern, uns Einzelheiten über
die von Ihnen geplanten Zulassungserfordernisse mitzu-
teilen. Die Antworten auf unsere Kleine Anfrage zum
Thema grenzen schon hart an eine Missachtung des par-
lamentarischen Fragerechts.

So antworten Sie auf die Frage, ob für eine Zulassung
Kenntnisse des Sicherheitspersonals zu Menschenrech-
ten nachzuweisen sind, dass das Sicherheitspersonal die
Menschenrechte einhalten müsse.

Sie lassen uns im Unklaren, wie Sie bei Ihrem unter-
nehmensbezogenen Ansatz sicherstellen wollen, dass
das von den Unternehmen eingesetzte Bewachungsper-
sonal über die erforderlichen Fähigkeiten und Kennt-
nisse verfügt. Die Kriterien der International Maritime
Organization, IMO, sind zwar eine gute Grundlage.
Aber durch welche konkreten Unterlagen sollen sie be-
legt werden? Die Frage stellt sich vor allem bei auslän-
dischen Unternehmen und vor allem vor dem Hinter-
grund, dass Sie nicht beabsichtigen, Vor-Ort-Kontrollen
durchführen zu lassen. So laufen Sie Gefahr, dass Ihr Zu-
lassungsverfahren zu einem zahnlosen Papiertiger wird.
Sie wissen ja, Papier ist geduldig. Oder wollen Sie nur
die deutschen Sicherheitsunternehmen kontrollieren?
Als Ergebnis würde dieses Arbeitsfeld wohl auslän-
dischen Sicherheitsunternehmen überlassen bleiben, die
sich effektiver Kontrolle entziehen.

Mir ist daher nicht klar, warum Sie sich bei all unse-
ren Nachfragen immer wieder weigern, klare Zulas-
sungskriterien auf europäischer Ebene zu entwickeln.
Dann hätten wir wenigstens auf dem europäischen
Markt klare Regelungen. Ich möchte an dieser Stelle
auch auf den International Code of Conduct for Private
Security Service Providers, ICoC, hinweisen. Auch wenn
sich bei dieser Selbstverpflichtung die Frage stellt, wie
ihre Einhaltung überprüft werden kann; sie zeigt jedoch,
dass sich die dazugehörigen Unternehmen zumindest
mit wichtigen menschen- und völkerrechtlichen Aspek-
ten ihrer Arbeit auseinandergesetzt haben.

Wir hoffen, dass Sie uns in den anstehenden Aus-
schussberatungen mehr Details zum geplanten Zulas-
sungsverfahren geben werden.

Aber nun zu dem, was man Ihrem Gesetzentwurf be-
reits entnehmen kann. Es beruhigt mich, dass Sie immer
wieder klarstellen, dass es keine Aufweichung des Waf-
fenrechts geben wird. Weiterhin begrüßen wir, dass Sie
in dem Gesetzentwurf deutlich machen, dass die
Bordrechte des Kapitäns unangetastet bleiben. Eine
wichtige Klarstellung ist auch, dass die bewaffneten Si-
cherheitskräfte an Bord bei der Abwehr von Piraten auf
die Jedermannsrechte wie Notwehr, Notstand und
Selbsthilfe beschränkt sind. Ich wüsste allerdings gern,
wie Sie sicherstellen wollen, dass ausländische Sicher-
heitskräfte darüber informiert sind, was in Deutschland
unter „Jedermannsrechte“ fällt.

Etliche Fragen bleiben auch weiter noch offen: Wie
werden die Waffen des Sicherheitspersonals an Bord
verwahrt? Wie wird verhindert, dass sich das Sicher-
heitspersonal schwere Waffen aus schwimmenden Waf-
fendepots besorgt?

Wichtig ist uns auch, dass die Dokumentationspflich-
ten ausreichend ausgestaltet werden. Es muss möglich
sein, Zwischenfälle hinreichend nachzuverfolgen. Hier
sollte uns der Fall der in Indien verhafteten italieni-
schen Soldaten zu denken geben, die beim Schutz eines

Zu Protokoll gegebene Reden





Katja Keul


(A) (C)



(D)(B)


italienischen Frachters indische Fischer, die sie für Pi-
raten hielten, erschossen. Ein Austausch dieser Doku-
mentationen könnte zudem im Rahmen der International
Maritime Organization wichtige Erkenntnisse im Kampf
gegen die Piraterie liefern.

Wir unterstützen jeden Schritt, der dazu führt, dass
klarere Regeln für die deutsche Sicherheitswirtschaft,
ihrem sensiblen Tätigkeitsfeld entsprechend aufgestellt
werden. Wir hoffen, dass die anstehende Rechtsverord-
nung, die die Zulassungskriterien für Bewachungsunter-
nehmen auf Seeschiffen regeln soll, in diese Richtung
weist. Wir appellieren aber an Sie, liebe Kolleginnen
und Kollegen der Koalition: Bleiben Sie nicht dabei ste-
hen! Nehmen Sie unsere Vorschläge auf! Sorgen Sie für
mehr Qualität im Sicherheitsgewerbe, indem Sie in der
Gewerbeordnung sicherstellen, dass es nicht dem Zufall
überlassen bleibt, ob im Sicherheitsgewerbe Zuverläs-
sigkeit und Geeignetheit die grundlegenden Maßstäbe
darstellen! Die Vorlage dieses Gesetzentwurfs ist das
Eingeständnis einer Regelungslücke, die lange geleug-
net wurde. Zur Schließung dieser Regelungslücke bedarf
es allerdings erheblich mehr, als der heute vorliegende
Entwurf leistet.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719838600

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 17/10960 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 31 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingrid
Remmers, Kersten Steinke, Dr. Kirsten
Tackmann, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE

Bürgerbeteiligung stärken – Petitionsrecht
ausbauen

– Drucksache 17/10682 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung (f)
Rechtsausschuss
Petitionsausschuss
Innenausschuss

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir
die Reden zu Protokoll.


Günter Baumann (CDU):
Rede ID: ID1719838700

Das Petitionsrecht hat sich in unserem Land bewährt

und hilft, Politikverdrossenheit abzubauen. Wir verste-
hen uns als Anlaufpunkt für viele Bürgerinnen und Bür-
ger, die Sorgen und Nöte haben und für die Lösung ihres
Problems Hilfe benötigen.

Die Arbeit des Petitionsausschusses ist gerade im
Hinblick auf die Fortentwicklung im Bereich der öffent-
lichen Petitionen seit dem Jahr 2005 eine Erfolgs-
geschichte. Inzwischen werden monatlich zwischen
30 und 80 neue Petitionen im Internetportal eingestellt.
Durch die Veröffentlichung im Internet werden einer

breiten Öffentlichkeit Themen von allgemeinem Inte-
resse vorgestellt.

Vor einigen Wochen haben wir an gleicher Stelle den
Jahresbericht 2011 des Petitionsausschusses des Deut-
schen Bundestages debattiert. Die Diskussionen der
Abgeordneten belegten eindrucksvoll: Die Bürgerinnen
und Bürger haben Vertrauen in unsere Arbeit, und
obwohl es eine Vielzahl von Beauftragten in den ver-
schiedensten Ministerien, Behörden oder Institutionen
gibt, ist die Zahl der Petitionen mit 15 000 bis 18 000 in
den letzten Jahren nahezu gleich geblieben. Im vergan-
genen Jahr haben den Deutschen Bundestag 15 191 Ein-
gaben und Petitionen erreicht, das heißt täglich etwa
60 Petitionen als Neueingang. Nimmt man die Massen-
petitionen aus dem im Internetportal veröffentlichten
Petitionen hinzu, so haben sich etwa 500 000 Bürgerin-
nen und Bürger am Petitionswesen im Jahr 2011 betei-
ligt. Die Zahlen belegen eindrucksvoll, dass sich das
Petitionsverfahren bewährt hat. Dort, wo die Abgeord-
neten Handlungsbedarf sahen, wurde eine Neufassung
unserer Verfahrensgrundsätze vorgenommen und von ei-
ner breiten Mehrheit im Ausschuss geteilt.

Die These der Fraktion Die Linke, dass die Petitionen
nicht immer die Fachpolitiker und Fachpolitikerinnen
erreichen, teilen wir nicht. Die Massenpetitionen, die
von allgemeinem öffentlichen Interesse sind und im
Internetportal des Deutschen Bundestages eine breite
Unterstützung erfahren, werden in aller Regel auch in
den Fachausschüssen diskutiert und durch Anträge
begleitet. Die Möglichkeit zur Überweisung in den je-
weiligen Fachausschuss gibt uns § 109 der Geschäfts-
ordnung des Deutschen Bundestages. Danach holt der
Petitionsausschuss eine Stellungnahme der Fachaus-
schüsse ein, wenn die Petitionen einen Gegenstand der
Beratung in diesen Fachausschüssen betreffen. Die
Empfehlungen der Fachausschüsse fließen dann in die
Bearbeitung der Petitionen mit ein und helfen uns bei
den entsprechenden Votierungen.

Das Argument der Fraktion Die Linke in ihrem An-
trag, der Grad des öffentlichen Interesses an einem
Thema kann leicht über die Zahl der Mitzeichnenden ge-
messen werden, lehnen wir ab. Bei der hier geführten
Diskussion darf der Einzelfall des „kleinen“ Bürgers
ohne Unterstützung aus dem Internet nicht ins Hinter-
treffen geraten. Die Mehrzahl der Petitionen eignen sich
eben nicht für eine breite öffentliche Diskussion im
Internet. Das Grundgesetz mit seinem Grundrecht in
Art. 17 verpflichtet uns Mitglieder des Petitionsaus-
schusses, das Anliegen des Einzelnen besonders im Auge
zu behalten. Schon jetzt beobachten wir eine zuneh-
mende Instrumentalisierung der öffentlichen Petitionen
durch Verbände und Lobbyisten. Schon jetzt bietet das
Instrument der öffentlichen Petitionen hier den Verbän-
den ein Podium, der Diskussion politischen Nachdruck
zu verleihen. Dem Ansinnen der Fraktion Die Linke,
diese Entwicklung noch auszubauen, würde dem Anlie-
gen des einzelnen Petenten und seinem Grundrecht in
Art. 17 GG widersprechen. Die Behandlung einer Peti-
tion im nichtöffentlichen Petitionsverfahren ist keine
zweitrangige Bearbeitung. Für mich ist jede Petition,
jedes Anliegen gleichwertig, und ich möchte bei meiner





Günter Baumann


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Petitionsbearbeitung keinerlei Unterscheidung zwi-
schen öffentlicher und nichtöffentlicher Petition ma-
chen. Auch würde eine noch stärkere Bedeutung von
Quoren aus meiner Sicht das Individualgrundrecht aus
dem Grundgesetz noch weiter in den Hintergrund drän-
gen. Wir als Abgeordnete der CDU/CSU-Fraktion mes-
sen auch den Wert einer Petition nicht nach der Anzahl
der Unterstützer.

Zusammenfassend möchte ich klarstellen: Der Peti-
tionsausschuss hat die ureigene Aufgabe, sich mit den
Sorgen und Nöten der Menschen in konkreten Einzelfäl-
len zu beschäftigen und leistet hier eine hervorragende
Arbeit. Für diese Arbeit haben wir gute Instrumente mit
dem Grundgesetz und unseren Verfahrensregeln. Unser
System der Bürgerbeteiligung wird in vielen Ländern
anerkannt, und bei Auslandsreisen hören wir immer wie-
der hohe Wertschätzung über unser Petitionswesen. Ich
erkenne keinen Grund, unser bewährtes System zu ver-
ändern oder ein Petitionsgesetz neu zu schaffen. Des-
halb lehnen wir den Antrag der Linksfraktion ab.


Gero Storjohann (CDU):
Rede ID: ID1719838800

Die Bundesrepublik Deutschland verfügt über ein

sehr gutes und bürgernahes Petitionsrecht, das sich in
den letzten Jahrzehnten bewährt hat, weshalb der hier
vorliegende Antrag der Fraktion Die Linke abzulehnen
ist.

Der sukzessive Ausbau des Petitionswesens in
Deutschland ist eine Erfolgsgeschichte, die weltweit
Beachtung findet und auf reges Interesse stößt. Mit der
Einführung der sogenannten Onlinepetitionen im Sep-
tember 2005 haben wir die direkte Bürgerbeteiligung als
Teil des Petitionsrechtes weiter gestärkt. Seitdem kön-
nen die Bürgerinnen und Bürger schnell und unkompli-
ziert über das Internet Petitionen einreichen oder mit-
zeichnen, aber auch im Internet veröffentlichte
Petitionen diskutieren. Mehr als 5 000 Petitionen, das
sind rund ein Drittel aller eingereichten Petitionen, wur-
den im Jahr 2011 über das Webformular auf der Inter-
netseite des Deutschen Bundestages eingereicht. Auch
die rege Beteiligung der Nutzer der Internetplattform
des Deutschen Bundestages in der Diskussion und Mit-
zeichnung veröffentlichter Petitionen zeigt, dass wir
über ein leicht zugängliches und unkompliziertes Peti-
tionsrecht verfügen, dass einer aktiven Bürgerbeteili-
gung in keiner Weise entgegenwirkt.

Das System der E-Petitionen wurde daher auch im
Jahr 2010 durch die Aktion Mensch und die Stiftung Di-
gitale Chancen mit dem Preis „BIENE“ ausgezeichnet.
Ich begrüße es sehr, dass nun auch der Thüringer Land-
tag das System der elektronischen Petitionen einführt.
Der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages ist
Vorbild auf nationaler, europäischer und internationaler
Ebene. In der vergangenen Sitzungswoche trafen sich
Mitglieder des Petitionsausschusses gleich mit zwei De-
legationen aus Südafrika und Tadschikistan, die zu Gast
im Deutschen Bundestag waren, um mehr über die
Arbeit des Petitionsausschusses zu erfahren und unsere
Erfahrungen beim Auf- und Ausbau der eigenen Peti-
tionssysteme zu berücksichtigen.

Gerade kehren wir von einer Delegationsreise des
Petitionsausschusses aus der Türkei zurück. Auch dort
zeigte man ein großes Interesse am deutschen Petitions-
system. Ich bin mir sicher, dass auch unsere türkischen
Kollegen zahlreiche Anregungen aus unserem Erfah-
rungsaustausch annehmen und das türkische Petitions-
recht weiter verbessern werden.

Beim Austausch mit unseren internationalen Kolle-
gen, sei es nun im Rahmen der europäischen oder welt-
weiten Ombudsmannkonferenzen, stelle ich immer wie-
der fest, dass unser deutsches Petitionssystem für viele
Parlamente dieser Welt Vorbildcharakter besitzt. Das
bestehende Petitionsrecht hat sich in Deutschland be-
währt.

Dies hat sich auch bei der Neufassung der Verfah-
rensgrundsätze des Petitionsausschusses im vergange-
nen November gezeigt, die von einer breiten Mehrheit
getragen worden ist.

Die Darstellung unseres Petitionssystems im Antrag
der Linken ist realitätsfern. So heißt es in der Begrün-
dung des Antrages, die Petitionsanliegen erreichten
nicht die zuständigen Fachpolitikerinnen und Fachpoli-
tiker. Dies ist schlichtweg falsch. Für die öffentlichen
Anhörungen des Petitionsausschusses werden häufig die
zuständigen Fachpolitiker als stellvertretende Mitglie-
der des Petitionsausschusses für ihre Fraktionen be-
nannt, um an der Beratung der Petitionen teilzunehmen.
Nicht selten werden Petitionsanliegen aufgrund des
§ 109 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundesta-
ges an die zuständigen Fachausschüsse überwiesen, um
in einem laufenden Gesetzgebungsverfahren Berück-
sichtigung finden zu können. Auch ohne die zwingende
Notwendigkeit einer Überweisung nach §109 der Ge-
schäftsordnung überweist der Petitionsausschuss eine
Vielzahl der eingereichten Petitionen zur Mitberatung
und Abgabe einer Stellungnahme an die zuständigen
Fachausschüsse.

Nicht umsonst setzt sich der Petitionsausschuss des
Deutschen Bundestages aus einer bunten Mischung von
Fachpolitikern aus jedem Bereich zusammen. Als Be-
richterstatter setze ich mich beispielsweise überwiegend
mit Petitionen auseinander, die aus meinem Fachgebiet
Verkehr, Bau und Stadtentwicklung stammen. Die Kolle-
gen aus dem Bereich Arbeit und Soziales kümmern sich
überwiegend um Petitionen, die das SGB betreffen –
usw. Bei der Bearbeitung von Petitionen bringt also je-
der von uns seine eigene Fachexpertise ein.

Oft genug tragen wir als Mitglieder des Petitionsaus-
schusses schnell und unbürokratisch Themen in unsere
Arbeitsgruppen und Fachausschüsse oder suchen das
persönliche Gespräch mit den zuständigen Kollegen.
Diese Praxis hat sich grundsätzlich bewährt, um vielen
Bürgerinnen und Bürgern rasch und kompetent zu hel-
fen.

Unser Petitionsrecht muss sich auch weiterhin auf die
Einzelanliegen der Bürgerinnen und Bürger fokussieren.
Es handelt sich hierbei um das Kerngeschäft des Peti-
tionsausschusses. In vielen Fällen kann der Petitions-
ausschuss schon durch das Einholen einer Stellung-

Zu Protokoll gegebene Reden





Gero Storjohann


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(D)(B)


nahme bei den zuständigen Behörden Abhilfe schaffen,
da die Behörden vor Ort noch einmal genau prüfen, ob
sie ihren Ermessensspielraum angemessen ausgeschöpft
haben. Der Argumentation des Antrages, der Grad des
öffentlichen Interesses an einem Thema könne leicht
über die Zahl der Mitzeichnenden gemessen werden,
kann nicht gefolgt werden. Dies war sicherlich auch
nicht die Intention der Mütter und Väter des Grundge-
setzes, als sie in Art. 17 des Grundgesetzes das Peti-
tionsrecht für jedermann verankerten. Denn grundsätz-
lich kann sich jeder in Deutschland mit jedem Thema an
den Petitionsausschuss des Bundestages wenden, unab-
hängig von seinem Alter, seiner Staatsangehörigkeit und
seinem Wohnort. Das Petitionsrecht gilt also für Kinder
und für Erwachsene, für Ausländer und für Deutsche.
Das Anliegen einer Einzelperson kann von einem sehr
viel größeren öffentlichen Interesse sein als ein Anlie-
gen, das eine Vielzahl von Mitzeichnern besitzt.

Einer zunehmenden Instrumentalisierung des Peti-
tionswesens durch große Verbände sollten wir daher im
Sinne der Bürgerinnen und Bürger, die sich mit ihren
zum Teil sehr persönlichen Anliegen an den Petitions-
ausschuss des Deutschen Bundestages wenden, durch
eine Behandlung von sogenannten Massenpetitionen im
Plenum des Deutschen Bundestages nicht weiter Vor-
schub leisten, zumal durch unsere öffentlichen Aus-
schusssitzungen Petitionen von öffentlichem Interesse
bereits eine geeignete Plattform, um den Gegenstand ei-
ner Petition darzustellen und zu diskutieren, besitzen.

Der Wert einer Petition darf sich nicht allein durch
die Zahl der Unterstützer bemessen. Verbandsarbeit
muss Verbandsarbeit bleiben und darf nicht das bürger-
nahe Petitionswesen unterwandern.

Zusammenfassend betrachtet möchte ich noch einmal
betonen, dass wir in der Bundesrepublik Deutschland
über ein sehr gutes Petitionswesen verfügen, das seiner
Aufgabe, sich den einzelnen Bitten und Beschwerden der
Menschen anzunehmen, mehr als gerecht wird. Daher
ist der Antrag der Fraktion Die Linke abzulehnen.


Sonja Steffen (SPD):
Rede ID: ID1719838900

Das Petitionswesen ist ein ganz besonders wichtiger

Teil unseres demokratischen Systems. Wir sollten immer
wieder darüber nachdenken, wie wir das Petitionswesen
und damit die direkten Einflussmöglichkeiten der Men-
schen auf unser Parlament und seine Entscheidungen
stärken können. Leider eignet sich jedoch der von der
Fraktion Die Linke vorgelegte Antrag hierzu nicht. Sie
fordert die Bundesregierung dazu auf, ein Petitions-
gesetz vorzulegen, welches die Behandlung von Massen-
und Sammelpetitionen im Plenum und in den zuständi-
gen Fachausschüssen vorsieht.

Das Recht, Bitten und Beschwerden an den Bundes-
tag zu richten, ist im Grundgesetz verankert. Für die
Frage, wie der Bundestag bestimmte Anliegen und Vor-
haben bearbeitet und wie er seine Arbeitsabläufe intern
organisiert, gibt er sich selbst am Anfang jeder Legisla-
turperiode eine Geschäftsordnung. In Abschnitt IX der
GO-BT „Behandlung von Petitionen“ werden die Zu-
ständigkeit des Petitionsausschusses, die Überweisung

von Petitionen, die Rechte des Petitionsausschusses, die
Übertragung von Befugnissen auf einzelne Petitionsaus-
schussmitglieder sowie das Abfassen von Beschlussemp-
fehlung und Bericht des Petitionsausschusses geregelt.

Die Befugnisse des Petitionsausschusses, Akten ein-
zusehen, Auskünfte einzufordern und Amtshilfe zu ver-
langen, sind im Gesetz nach Art. 45 c GG, dem soge-
nannten Befugnisgesetz, festgelegt.

Das eigentliche Petitionsverfahren regelt der Aus-
schuss selbst, indem er nach § 110 Abs. 1 GO-BT Grund-
sätze über die Behandlung von Bitten und Beschwerden
aufstellt.

Vor diesem Hintergrund finde ich als Sprecherin für
Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung der
SPD-Bundestagsfraktion die Aufforderung der Fraktion
Die Linke an die Bundesregierung, ein Petitionsgesetz
vorzulegen, äußerst bedenklich. Die Abgeordneten soll-
ten die Abläufe des Parlaments auch zukünftig unbe-
dingt selbst bestimmen – dazu bieten Geschäftsordnung
und Verfahrensgrundsätze des Petitionsausschusses ge-
nügend Möglichkeiten.

Ich begrüße es aber, dass Sie mit Ihrem Antrag dieses
Thema auf die Tagesordnung gebracht haben. Es gibt
viele Stellen, an denen wir das Petitionswesen und den
Ablauf des Verfahrens noch verbessern könnten. Ein
wichtiger Punkt ist nach wie vor die lange Bearbei-
tungszeit. Meine Fraktion hat sich bereits für die Einfüh-
rung der gleichzeitigen Berichterstattung eingesetzt.
Wir werden sehen, welche Verbesserungen durch dieses
Instrument in Zukunft erzielt werden. Teilweise werden
die Berichterstattungen absichtlich verzögert, was je-
doch vertretbar ist, wenn dies im Interesse der Petenten
geschieht. Nicht vertretbar ist es, wenn die Verzögerun-
gen auf Unstimmigkeiten innerhalb einer Fraktion oder
Koalition bzw. auf die Untätigkeit der Bundesregierung
zurückzuführen ist.

In dieser Woche haben wir in einer öffentlichen Sit-
zung endlich das Thema Vorratsdatenspeicherung bera-
ten. Bereits letztes Jahr um diese Zeit hatte die dazuge-
hörige öffentliche Petition 64 704 Mitzeichnungen
erreicht. Dreimal haben die Oppositionsparteien im Pe-
titionsausschuss versucht, das Thema auf die Tagesord-
nung zu setzen. Sie wurden jedesmal von CDU/CSU und
FDP blockiert. Die Regierungskoalition wollte eine öf-
fentliche Debatte so lange wie möglich vermeiden, da
sie nach wie vor keine gemeinsame Position zu dem
Thema vorweisen kann. Hier brauchen wir Mechanis-
men, die sicherstellen, dass eine Beratung zeitnah
durchgeführt wird und Themen nicht ausgesessen wer-
den können.

Unsere Demokratie braucht kritische und strittige öf-
fentliche Debatten. Das Einreichen von Onlinepetitio-
nen und deren öffentliche Beratung im Parlament ist
hierfür ein ausgezeichnetes Instrument, das wir weiter
ausbauen und verbessern sollten.


Stephan Thomae (FDP):
Rede ID: ID1719839000

Die FDP-Bundestagsfraktion setzt sich bereits seit

Jahren für die Einführung direktdemokratischer Ele-

Zu Protokoll gegebene Reden





Stephan Thomae


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mente auf Bundesebene ein. Auf Länder- und Kommu-
nalebene sehen die Verfassungen der Bundesländer Bür-
gerentscheide, Bürgerbegehren und Bürgerbefragungen
vor. In der Europäischen Union ist die Einführung der
Europäischen Bürgerinitiative in Vorbereitung. Auf Bun-
desebene fehlt ein vergleichbares plebiszitäres Element.
Deshalb finde ich jeden Antrag positiv, der mehr Bür-
gerbeteiligung fordert. Aber gut gemeint ist nicht immer
auch gut gemacht. Und das erkennt man bei diesem An-
trag der Fraktion Die Linke „Bürgerbeteiligung stärken
– Petitionsrecht ausbauen“, Drucksache 17/10682.

Der Petitionsausschuss wirkt überwiegend im Ver-
borgenen. Er ermöglicht es den Bürgerinnen und Bür-
gern, sich mit ihren Bitten und Beschwerden unmittelbar
und direkt an die Volksvertretung zu wenden. Jedermann
kann seine Anliegen schriftlich an den Petitionsaus-
schuss richten. Das Petitionsverfahren ist in den
§§ 108 ff. der Geschäftsordnung des Deutschen Bundes-
tages, GO-BT, in den Grundsätzen des Petitionsaus-
schusses über die Behandlung von Bitten und Beschwer-
den, Verfahrensgrundsätze, und in der Anlage zu
Ziffer 7.1 (4) Verfahrensgrundsätze, Richtlinie für die
Behandlung von öffentlichen Petitionen, öP, geregelt.

In dem Antrag der Linken soll ein Entwurf für ein Pe-
titionsgesetz durch die Bundesregierung vorgelegt wer-
den, der unter anderem die Behandlung von Massen-
und Sammelpetitionen im Plenum und in den zustän-
digen Fachausschüssen vorsieht. Das Parlament soll
das Petitionsrecht also aus seinen Händen in die Hände
der Regierung geben. Das unterstützen wir Liberale
nicht. Das Petitionswesen ist einer der parlamentari-
schen Grundpfeiler des Parlaments. Als Seismograph
der Gesellschaft können Massenpetitionen Fehlentwick-
lungen anzeigen und politische und mediale Prozesse in
Gang setzen. Der Petitionsausschuss kann dann auf die
Begehren der Petenten und Petentinnen schnell reagie-
ren. Das geht aber nur, wenn das Petitionsrecht in der
Hand des Parlamentes bleibt. Denn nur so kann garan-
tiert werden, dass das Verfahren reibungslos verläuft
und sich selbstständig an neue Gegebenheiten anpasst.

Aber in Ihrem Antrag der Fraktion Die Linke steckt
auch eine gute Idee. Ich stimme mit Ihnen überein, dass
die gegenwärtigen Regelungen zum Petitionsrecht nicht
ausreichen. Weil die Demokratie ein ständiges „Stirb
und werde“ ist, ist der Ruf nach mehr Bürgerbeteiligung
in aller Munde. Aufgrund der neuen Medien wird es
auch immer einfacher und wünschenswerter, die Bürger
durch innovative Art und Weise am Staat teilhaben zu
lassen. Der Bildungsstand der Menschen, ihre Informa-
tions- und Kommunikationsmöglichkeiten, nicht zuletzt
unter Nutzung moderner Medien, erlauben ein vielfa-
ches Mehr an Zusammenwirken. 79 Prozent der Deut-
schen sind einer aktuellen Umfrage zufolge für mehr
Mitbestimmung.

Daher wollen wir Liberalen nicht nur die repräsenta-
tive parlamentarische Demokratie weiterentwickeln,
sondern auch die direkte Demokratie. Wir wollen nicht
einfach nur entweder parlamentarische oder direkte De-
mokratie, sondern eine Verknüpfung der beiden, wir
wollen ein Ineinandergreifen, eine Verzahnung.

In der 16. Legislaturperiode trat der Petitionsaus-
schuss mit der Einrichtung öffentlicher Petitionen etwas
stärker ins Rampenlicht. Seither können Petitionen auf
einer eigenen Homepage des Petitionsausschusses un-
terstützt werden, in Diskussionsforen können die Bürger
an der Meinungsbildung mitwirken. Die Petitionsseiten
des Bundestages erzielen die höchsten Zugriffszahlen
aller Webseiten des Parlaments. Sechs Petitionen fanden
über 100 000 Unterstützer, zahlreiche weitere immerhin
noch über 50 000 Mitzeichner. Findet eine öffentliche
Petition bei Einreichung oder innerhalb von drei Wo-
chen nach der Einreichung mindestens 50 000 Un-
terstützer, kann eine öffentliche Anhörung des Hauptpe-
tenten im Petitionsausschuss stattfinden, wenn der
Ausschuss nicht mit Zweidrittelmehrheit etwas anders
beschließt.

Die FDP will nun einen weiteren Schritt tun. Nach
dem Willen der FDP sollen Petitionen im Rahmen des
Bürgerplenarverfahrens, die bei ihrer Einreichung oder
innerhalb von zwei Monaten seit Einreichung von min-
destens 100 000 Menschen unterstützt werden, öffentlich
in einer Bürgerstunde im Plenum debattiert und zur
anschließenden Beratung in die zuständigen Fachaus-
schüsse überwiesen werden. Erst nach dieser „Ehren-
runde“ sollen diese Petitionen in die öffentliche Anhö-
rung des Hauptpetenten im Petitionsausschuss münden.
Abschließend werden die Petitionen vom Fachausschuss
zusammen mit einer inhaltlich begründeten Stellung-
nahme zurück an den Petitionsausschuss überwiesen,
wo die Petition gemäß Art. 45 c Grundgesetz abschlie-
ßend beraten und behandelt wird.

In Zeiten, in denen es Mode geworden ist, sich von
den Parteien, der Politik und sogar der Demokratie
selbst abzuwenden, will sich das Parlament mit dieser
Geste den Menschen stärker zuwenden. Die Erweite-
rung des Petitionsverfahrens durch die Einführung des
Bürgerplenarverfahrens ermöglicht es Bürgerinnen und
Bürgern, Themen von öffentlichem Interesse direkt auf
der Tagesordnung des Plenums zu platzieren. Die Bür-
ger sollen stärker in die parlamentarischen Vorgänge
eingebunden, ihre Themen unmittelbar den Weg ins Ple-
num des Deutschen Bundestages, die Kronkammer unse-
rer parlamentarischen Demokratie, finden können. Es
macht in der öffentlichen Wahrnehmung einen Unter-
schied, ob eine Bundestagsfraktion oder ob 100 000
Bürger eine Debatte auf die Tagesordnung einer Sit-
zungswoche bringen. Die Anliegen der Bürger werden
nicht im Schatten dunkler Ausschusssitzungssäle bera-
ten, sondern unter dem Sonnenlicht der Reichstagskup-
pel. Diese Änderungen bewirken ein Stück unmittelbarer
Demokratie. Der Deutsche Bundestag ist schon heute ei-
nes der transparentesten und durchsichtigsten Parla-
mente der Welt – in seiner Architektur und in seinen Ver-
fahrensweisen. Er wird jetzt auch permeabler und
durchlässiger für die Bitten und Beschwerden der Men-
schen. Und dabei ist, wie gezeigt, die Idee so neu nicht:
Der Bundestag kehrt mit diesen Änderungen zu seinen
Wurzeln zurück.

Bei unserer Initiative bleibt das ureigene Recht der
Petitionen das Recht des Parlamentes. Der vorgeschla-
gene Weg erscheint als geeignete Möglichkeit, die

Zu Protokoll gegebene Reden





Stephan Thomae


(A) (C)



(D)(B)


Vorzüge der parlamentarischen Demokratie mit den
Vorzügen der direkten Demokratie zu paaren. Das Bür-
gerplenarverfahren setzt den im Jahr 2005 mit der Ein-
führung der öffentlichen Petition beschrittenen Weg
konsequent fort und trägt bereits Züge eines Volksinitia-
tivrechtes. Die Anregung wird aus der Mitte der Gesell-
schaft geboren, die Befassung und Beschlussfassung fin-
det aber auf der parlamentarischen Ebene statt und
garantiert jenes Maß an Transparenz und Beteiligung
der betroffenen Kreise, die sich in der über 60-jährigen
Verfassungswirklichkeit unseres Landes herausgebildet
haben. Dabei wird die parlamentarische Behandlung al-
ler anderen Petitionen wie bisher dadurch nicht ver-
schlechtert.

Der vorliegende Antrag „Bürgerbeteiligung stär-
ken – Petitionsrecht ausbauen“ kann dieses nicht si-
chern. Aus diesem Grund lehnen wir den Antrag der
Fraktion Die Linke ab.


Ingrid Remmers (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719839100

Es ist keine große Neuigkeit, dass Koalitionsverträge

mitunter nicht eingehalten werden. Schließlich verän-
dern sich ja manchmal auch die äußeren Umstände, so-
dass die Politik schnell reagieren muss. Deswegen be-
grüße ich zum Beispiel auch den Ausstieg aus der
Kernenergie. Im Koalitionsvertrag war ja noch die Ver-
längerung der Laufzeiten für Atomkraftwerke vorgese-
hen. Ich frage mich allerdings, warum in der schwarz-
gelben Koalition die Angst vor der eigenen Bevölkerung
so schnell zugenommen hat, dass nicht mal die guten
Absichten zur besseren Bürgerbeteiligung und der Aus-
weitung des Petitionsrechts umgesetzt werden. Leider
lesen nicht alle Journalisten und interessierten Bürger
am Ende einer Legislaturperiode dieses 133 Seiten
starke Märchenbuch, um mal zu schauen, wie viele Vor-
haben denn still und heimlich begraben worden sind.
Deswegen gibt es auch heute unseren Antrag.

Sie haben versprochen, das Petitionsrecht zu erwei-
tern. Massenpetitionen mit mehreren Tausend Mitzeich-
nenden sollen auch im Plenum debattiert und in den
Fachausschüssen beraten werden, ein guter Plan.
Manchmal ist die Schwarmintelligenz der Bürgerinnen
und Bürger dem Gespür von uns Politikerinnen und
Politikern nämlich doch überlegen. Oder welche Frak-
tion hat das Thema Hebammenvergütung vor dem Ein-
gang der fast 200 000 Unterschriften in einen der Aus-
schüsse gebracht? Warum diskutieren wir hier nicht mal
fraktionsübergreifend die Ideen für ein Grundeinkom-
men? Warum kann sich die Regierung um eine klare
Position zur GEMA herumdrücken? Weil es dazu keine
ordentliche Aussprache gibt, wo die Parteien und die
Regierung Farbe bekennen müssen und die vielen Tau-
send Petentinnen und Petenten die Debatte mitverfolgen
können.

Verstehen Sie mich nicht falsch, ich finde die öffentli-
chen Sitzungen des Petitionsausschusses zu den Massen-
petitionen natürlich richtig. Wir können die Regierung
zu ihren Positionen befragen, aber es wird viel zu oft ab-
gewiegelt, verschoben, verschleppt, und am Ende fühlt
sich kein Bürger ernst genommen, der sich für ein

Thema interessiert und engagiert. Schließlich dauert es
meistens mehrere Monate bis Jahre, bis der Ausschuss
nach einer Anhörung die Petition abstimmt und eine
Antwort der Regierung dazu vorliegt.

Stellen Sie sich vor, es gäbe zumindest eine halbe
Stunde Aussprache im Plenum zur Kernzeit, in der das
Anliegen von mehr als 50 000 Unterzeichnenden debat-
tiert wird. Wäre das nicht ein hervorragender Bestand-
teil für mehr direkte Demokratie? Selbst wenn keine der
Fraktionen das Petitionsanliegen unterstützen würde,
dann kann das zumindest in den Reden dazu schlüssig
begründet werden. Was glauben Sie, wie intensiv die
Menschen die Anträge der Fraktionen in einem Fach-
ausschuss lesen würden, die sich inhaltlich auf eine
Massenpetition beziehen? Deswegen ärgert es mich so,
dass die guten Absichten bei der Änderung der Verfah-
rensgrundsätze einfach unter den Tisch gefallen sind.
Der Kollege Thomae hatte per Pressemitteilung noch im
Juni 2011 angekündigt, dass die FDP-Fraktion für die
Behandlung von Massenpetitionen im Plenum und den
Fachausschüssen stimmen wird. In den Obleuteberatun-
gen war dann plötzlich keine Rede mehr davon. Hat da
vielleicht der größere Koalitionspartner kalte Füße be-
kommen? Das ist mehr als traurig. Ich schlage den bei-
den Regierungsparteien folgenden Tausch vor: Die FDP
gibt ihren Widerstand gegen die Finanztransaktion-
steuer auf und bekommt dafür die Erweiterung des Peti-
tionsrechts. Glauben Sie mir, das würden die Wählerin-
nen und Wähler sicher eher honorieren als den
umgekehrten Deal! Und wenn Sie jetzt argumentieren,
dass die Regierung der falsche Adressat für solch einen
Antrag ist, weil er die Parlamentsrechte berührt, dann
kann ich nur antworten: Einem ausformulierten Antrag
der Koalitionsfraktionen zur Änderung der Geschäfts-
ordnung mit den genannten Inhalten würden wir ganz si-
cher zustimmen. Leider habe ich wenig Hoffnung, dass
das in dieser Legislaturperiode noch passiert. Wenn sie
nicht mehr Bürgerbeteiligung wollen, dann frage ich
mich nur, warum Sie es vorher in den Koalitionsvertrag
schreiben. Ich nenne das die reine Wählertäuschung.


Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719839200

Petitionen sind heute zu einem unverzichtbaren und

selbstverständlichen Bestandteil zivilgesellschaftlichen
Engagements der Bürgerinnen und Bürger geworden.

Rot-Grün hatte zu Beginn seiner Regierungszeit ver-
sprochen, das Petitionsrecht zu einem echten Instrument
politischer Mitbeteiligung für die Bürgerinnen und Bür-
ger auszubauen. Und Rot-Grün hat dieses Versprechen
selbstverständlich gehalten. Insbesondere die von Rot-
Grün gegen heftigen Widerspruch von CDU/CSU und
FDP eingeführten Instrumente der elektronischen und
öffentlichen Petitionen haben zu einer eindrucksvollen
Erweiterung der Beteiligungsmöglichkeiten der Bürge-
rinnen und Bürger im Petitionsrecht beigetragen.

Ganz anders die jetzige CDU/CSU-FDP-Koalition.
Ginge es nach CDU/CSU und FDP, wäre der Petitions-
ausschuss auch heute noch immer ein wenig beachteter
Kummerkasten. Es ist peinlich, dass CDU/CSU und
FDP an ihr bisher nicht eingelöstes Versprechen erin-

Zu Protokoll gegebene Reden





Memet Kilic


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(D)(B)


nert werden müssen, bei Massenpetitionen eine Behand-
lung des Anliegens im Plenum des Deutschen Bundes-
tages unter Beteiligung der zuständigen Ausschüsse zu
ermöglichen. Dabei würde dieser Vorschlag auch unsere
Zustimmung finden. Aber offenbar ist die Regierungsko-
alition selbst zu kleinsten Reformschritten im Petitions-
recht nicht fähig. Denn die stärkere Beachtung von Mas-
senpetitionen kann nur ein Baustein der Reform des
Petitionsrechts hin zu mehr Offenheit und Bürgerbeteili-
gung sein.

Grundsätzlich sollten alle Petitionen öffentlich bera-
ten werden. Dass Petitionen von einer öffentlichen Be-
ratung ausgenommen sind, in denen der Petent keine
öffentliche Beratung wünscht, private oder datenschutz-
rechtliche Belange dem entgegenstehen, ist selbstver-
ständlich. Heute ist es aber Praxis, dass selbst öffent-
liche Petitionen nichtöffentlich beraten und beschieden
werden. Dies ist absurd und nicht mehr vermittelbar.

Bündnis90/Die Grünen sehen die technischen und
grundsätzlichen Möglichkeiten des Petitionsrechts bei
weitem nicht ausgeschöpft. So ist die Frist von vier Wo-
chen zur Mitzeichnung zu kurz, ist das Quorum von
50 000 Mitzeichnern zu hoch.

Bündnis 90/Die Grünen streben darüber hinaus einen
weiteren grundlegenden Ausbau der Mitwirkungsmög-
lichkeiten und eine umfassende Transparenz des Verfah-
rens für die Bürgerinnen und Bürger im Petitionsrecht
an. Wir sind der Überzeugung, dass eine Stärkung des
Petitionsrechts ein richtiger Weg ist, repräsentative und
teilnehmende Demokratie auf neuartige Weise miteinan-
der zu kombinieren.

Wir wollen darum das Instrument der öffentlichen Pe-
tition zu einer wirklich „Offenen Petition“ für die Bür-
gerinnen und Bürger machen. Petitionen sollten nicht
nur wie bisher gemeinsam im Onlineangebot des Peti-
tionsausschusses diskutiert werden, sondern auch ge-
meinsam erarbeitet und eingereicht werden können.
Diese Bitten zur Gesetzgebung sollten dann auch eine
angemessene Bearbeitung in den Fachausschüssen und
im Plenum finden.

Die Linke fordert die Bundesregierung auf, ein Peti-
tionsgesetz vorzulegen. Dies lehnen wir ab. Das Peti-
tionsbehandlungsrecht ist ein Parlamentsrecht. Adressat
einer Petition ist die Volksvertretung, mit Rechten und
Pflichten des Parlamentes. Diese sind im Grundgesetz,
im Befugnisgesetz, in der Geschäftsordnung des Bundes-
tages und in den Verfahrensgrundsätzen niedergelegt
und konkretisiert. Dieses Regelwerk eröffnet dem Parla-
ment und dem Petitionsausschuss genau jene Spiel-
räume und Möglichkeiten, die für flexibles Handeln und
Agieren und letztlich für eine erfolgreiche Arbeit auch
im Härte- und Ermessensfall günstig sind. Notwendige
Änderungen können und sollten in diesem Handlungs-
rahmen vorgenommen werden. Ein Petitionsgesetz, das
diese Handlungsspielräume einengt und dem Ermessen
Fesseln anlegt, brauchen wir nicht.

Geradezu absurd ist es, die Formulierung eines sol-
chen Gesetzes und der Regularien der Petitionsbearbei-
tung in die Hände der Regierung zu legen. Das Peti-

tionsrecht ist Instrument zur Kontrolle und Korrektur
der Exekutive durch das Parlament. Das Parlament darf
sich nicht von der Regierung vorschreiben lassen, wie es
zu handeln hat. Das Petitionsrecht gehört in die Hand
der Volksvertretung und nicht in die Finger der Regie-
rung.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719839300

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/10682 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federfüh-
rung beim Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung liegen soll. Sind Sie damit einverstan-
den? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 32 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette
Groth, Katrin Werner, Wolfgang Gehrcke, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Freiheit für Mumia Abu-Jamal

– Drucksache 17/8916 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.


Dr. Egon Jüttner (CDU):
Rede ID: ID1719839400

Dem Antrag der Fraktion Die Linke „Freiheit für

Mumia Abu-Jamal“ kann die CDU/CSU-Bundestags-
fraktion nicht zustimmen. Wir möchten juristische Fälle
nicht politisch instrumentalisieren. Dies lehnen wir so-
wohl im konkreten Fall als auch ganz generell ab. Die
Unabhängigkeit der Justiz ist ein hohes Gut, das es per-
manent zu verteidigen gilt. Urteile dürfen nicht politisch
sein, und genauso wenig dürfen sie von der Politik für
politische Zwecke missbraucht werden. Alle politisch
Handelnden sollten die Unabhängigkeit der Justiz als
Teil der Gewaltenteilung anerkennen und respektieren.
Dies gilt nicht nur für unser eigenes Land, sondern auch
für andere Länder und selbstverständlich auch für die
Vereinigten Staaten.

Der Respekt vor der Unabhängigkeit der Justiz eines
jeden Landes ist nicht gleichbedeutend damit, dass wir
das Strafverständnis einer jeden Rechtsordnung teilen
oder jeden Urteilsspruch für angemessen halten. Die
CDU/CSU lehnt genauso wie jede andere Fraktion des
Hohen Hauses die Todesstrafe ab. Wir sind froh, dass
hierüber in Deutschland ein breiter politischer und ge-
sellschaftlicher Konsens besteht. Wir werden auch nicht
müde, diese Rechtsauffassung gegenüber anderen Län-
dern kundzutun. Dies zeigt auch unser Verhalten in der
Entwicklungspolitik, wo wir Entwicklungshilfe mitunter
von der Abschaffung bzw. der Nichtanwendung der Todes-
strafe abhängig machen. Ein weiteres Beispiel sind un-
sere regelmäßigen Proteste gegenüber der Vollstreckung
von Todesurteilen in China oder dem Iran oder unsere
konsequente Positionierung in dieser Frage gegenüber





Dr. Egon Jüttner


(A) (C)



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den USA und anderen Verbündeten. Wir stehen auch voll
und ganz hinter dem Grundsatz, dass Mitgliedstaat der
EU nur sein kann, wer die Todesstrafe abgeschafft hat.

Diese eindeutige Positionierung gegen die Todes-
strafe ist aber etwas völlig anderes, als einzelne Richter-
sprüche zu beurteilen und per Ferndiagnose Freisprü-
che zu fordern. Der Deutsche Bundestag kann – und
sollte auch nicht – über Schuld und Unschuld von Mumia
Abu-Jamal entscheiden. Es verwundert mich deshalb,
wie man sich anmaßen kann, in diesem juristisch offen-
sichtlich höchst komplexen Fall über die Ablehnung der
Todesstrafe hinaus Position zu beziehen. Es ist nicht be-
wiesen, ob es sich im Fall Mumia Abu-Jamal um ein ras-
sistisch motiviertes Urteil handelt. Jahrzehntelanges
Schweigen des Angeklagten wurde von widersprüchli-
chen Stellungnahmen abgelöst, unterschiedliche Zeu-
genaussagen wurden gemacht und später widerrufen.
Andere Personen behaupteten, die Mumia Abu-Jamal
zur Last gelegte Tat begangen zu haben. Dies alles
scheint mir doch ein recht verwirrender juristischer
Sachverhalt zu sein. Ich kann deshalb den Deutschen
Bundestag nur warnen, sich entsprechend zu positionie-
ren. Wir sind kein Gericht, uns stehen nicht die Mittel ei-
nes Gerichtes zur Erforschung des Tathergangs zur Ver-
fügung und daher sollten wir uns auch kein Urteil
anmaßen. Seit nunmehr 30 Jahren beschäftigt dieser
Fall die Gerichte in den Vereinigten Staaten, aber die
Fraktion Die Linke meint, wir könnten ihn per Antrag
hier und heute entscheiden. Mit der CDU/CSU-Fraktion
ist so etwas nicht zu machen.

Wir sollten uns vielmehr darauf beschränken, die
Aussetzung der Todesstrafe durch die Staatsanwalt-
schaft Philadelphia zu begrüßen. Dies ist meines Erach-
tens genauso weit wie ein Parlament gehen darf, ohne
die Unabhängigkeit der Justiz anzutasten. Die Frage
„Todesstrafe – Ja oder nein?“ hat nichts mit Schuld
oder Unschuld zu tun. Sie ist keine Frage der angemes-
senen, gebotenen und verhältnismäßigen Anwendung
des Strafmaßes. Es geht bei ihren Befürwortern und
Gegnern nie nur um einen konkreten Fall. Diese Frage
darf von der Bank des Richters und von der des Staats-
anwaltes heruntergeholt werden hinein in die Gesell-
schaft und damit auch hinein in dieses Haus. Es ist eine
Wertefrage und eine Frage von verfassungsrechtlichem
Ausmaß sowie eine Frage der Menschenrechte und der
Menschenwürde. Zum Glück ist es auch eine Frage, die
in unserer deutschen Werte- und Rechtsordnung schon
seit 1949 entschieden ist. Die Antragsteller darf ich da-
ran erinnern, dass die DDR erst 38 Jahre später, näm-
lich am 17. Juli 1987, so weit war.

Die CDU/CSU-Fraktion tritt weltweit für die Ab-
schaffung der Todesstrafe ein, und die Bundesregierung
wird nicht müde, dies gegenüber allen Nationen, seien
wir eng mit ihnen verbündet oder nicht, zu betonen.
30 Jahre beschäftigen sich die Gerichte bereits mit dem
Fall Mumia Abu-Jamal. Der zuständige Bezirksstaats-
anwalt wird, nachdem er die Todesstrafe ausgesetzt
hatte, mit folgenden Worten zitiert: „Es gab für mich nie
einen Zweifel, dass Mumia Abu-Jamal den Polizisten
Faulkner erschossen und getötet hat.“ Der Verurteilte
bleibe für den Rest seines Lebens hinter Schloss und Rie-

gel, „und da gehört er auch hin“, so der Bezirksstaats-
anwalt weiter. Bei der von mir und meiner Fraktion ge-
forderten Anerkennung der Unabhängigkeit der Justiz
nehme ich diese Wertung zur Kenntnis. Eine Beurteilung
kann ich mir nicht erlauben. Eine Beurteilung sollte sich
keiner von uns erlauben, der nicht mit juristischem
Sachverstand die Akten sorgfältig geprüft und alle Be-
teiligten gehört hat.

Worüber ich mir aber sehr wohl ein Urteil erlauben
kann, ist die Frage, ob wir eine Person, die von einem
zuständigen Staatsanwalt mit diesen Worten einge-
schätzt worden ist, in einer deutschen Gebietskörper-
schaft zum Ehrenbürger ernennen sollen. Daran ändert
auch nichts die Tatsache, dass die Stadt Paris diesen
Schritt unternommen hat. Die Frage, ob wir den USA
anbieten sollen, Mumia Abu-Jamal in Deutschland Auf-
nahme zu gewähren, stellt sich für uns nicht. Mit Ehren-
bürgerschaften sollten wir vorsichtig umgehen. Mumia
Abu-Jamal gehört sicherlich nicht zu den Personen und
Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, deren Taten so
unumstritten waren und sind, dass sie die Verleihung ei-
ner Ehrenbürgerschaft rechtfertigen. Die Stadt Paris ist
in ihrer Entscheidung frei, wen sie zum Ehrenbürger
macht und wen nicht. Wir respektieren zwar diese Ent-
scheidung, nachvollziehen aber können wir sie nicht.

Es besteht nach unserer Auffassung überhaupt kein
Grund, den Vereinigten Staaten von Amerika die Auf-
nahme von Mumia Abu-Jamal anzubieten. Die Todes-
strafe gegen den Verurteilten ist ausgesetzt. Damit ist
unsere Hauptforderung erfüllt. Weder Mumia Abu-
Jamal noch sein Opfer noch die Tat als solche oder einer
der Zeugen stehen in irgendeinem Bezug zu Deutsch-
land. Weshalb wir Mumia Abu-Jamal bei uns aufnehmen
sollen, ist für uns als CDU/CSU nicht nachvollziehbar.
Eine fundierte Begründung hierfür bleiben Sie in Ihrem
Antrag schuldig.

Mit Ihrer Forderung nach Freilassung Mumia Abu-
Jamals und Aufnahme in Deutschland zeigen Sie Ihre
wahren Absichten. Es geht Ihnen in erster Linie nicht um
Gerechtigkeit bzw. ein gerechtes Urteil im konkreten
Fall. Ihnen geht es vor allem um die Diskreditierung des
Rechtssystems der Vereinigten Staaten, und es geht Ih-
nen um die Freiheit für eine Ikone der internationalen
Linken, losgelöst von der Frage „Schuldig oder un-
schuldig?“. Wir halten das US-amerikanische Rechts-
system gerade wegen der Todesstrafe durchaus für nicht
perfekt. Aber ein Rechtssystem ändert oder reformiert
man nicht, indem man sich Verurteilte herauspickt, mit
denen man politisch auf einer Wellenlänge liegt und sie,
losgelöst von der Frage, ob schuldig oder nicht schul-
dig, freispricht. Mit einem juristischen Freispruch hat so
eine Entscheidung nichts mehr zu tun. Das ist einzig und
allein ein politischer Freispruch. Deshalb lehnt die
Fraktion der CDU/CSU den Antrag der Linken ab.


Angelika Graf (SPD):
Rede ID: ID1719839500

„Wie kann ein Staat, der die gesamte Gesellschaft re-

präsentiert und die Aufgabe hat, die Gesellschaft zu
schützen, sich selbst auf die gleiche Stufe stellen wie ein
Mörder?“ Diese Frage stellte der damalige UN-Gene-

Zu Protokoll gegebene Reden





Angelika Graf (Rosenheim)



(A) (C)



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ralsekretär Kofi Annan vor zwölf Jahren in New York.
Damals wurde ihm bzw. der UN eine weltweite Petition
mit 3,2 Millionen Unterschriften gegen die Todesstrafe
überreicht.

Ich kann seinen Worten nur zustimmen: Ein Staat hat
zuvörderst die Pflicht, seine Bürgerinnen und Bürger zu
schützen, ihr höchstes Gut, das Recht auf Leben, zu wah-
ren und die Menschenwürde aller Bürger – dies gilt auch
für Verbrecher – zu verteidigen. Dies ist in zahlreichen
internationalen Übereinkommen festgelegt und bei der
Mehrheit der Staaten Konsens. Und dafür kämpft die
SPD seit langem und wird dies auch weiterhin mit aller
Kraft tun – zuletzt in unserem gemeinsamen Antrag mit
den Grünen „Todesstrafe weltweit abschaffen“ aus dem
Jahr 2010. Ich kann übrigens immer noch nicht verste-
hen, warum sich die Regierungskoalition damals einem
gemeinsamen Antrag verweigerte. In früheren Legisla-
turperioden scheiterten solche Initiativen nicht an der
beschämenden Kleinlichkeit einzelner Unionsabgeord-
neter.

58 Staaten bestrafen derzeit Verbrechen wie Mord,
Vergewaltigung oder Wirtschaftsdelikte mit dem Tod.
25 von ihnen haben bis ins letzte Jahr die Todesstrafe
auch noch vollstreckt. Im Iran steht die Todesstrafe so-
gar auf das „Verbrechen“ der politischen Meinungs-
äußerung. Dort wurden im vergangenen Jahr übrigens
auch drei Personen hingerichtet, die ihre Straftraten be-
gingen, als sie noch minderjährig waren. Mancherorts
gilt die Todesstrafe auch für Drogendelikte, und nicht
vergessen sollten wir die Vielzahl von Todesurteilen
nach dem Scharia-Recht: wegen Homosexualität, Ehe-
bruchs oder Apostasie, also dem Abfall vom angeblich
„wahren“ Glauben.

Im März dieses Jahres hat Amnesty International sei-
nen Bericht „Todesstrafen und Hinrichtungen 2011“
veröffentlicht. China belegt den grausamen ersten Platz.
Wie viele Menschen jährlich exekutiert werden, ist nicht
ganz klar. Amnesty schätzt ihre Zahl auf mehrere Tau-
send. Der Iran mit 360 Hinrichtungen, Saudi-Arabien
mit 82 und der Irak mit 68 Hinrichtungen – allein im
vergangenen Jahr – folgen auf den Plätzen danach.

Als einziges westliches Land halten die USA, bzw. 34
ihrer 50 Bundesstaaten, an der Todesstrafe fest. Positiv
anzuerkennen ist aber, dass Illinois im vergangenen
Jahr die Todesstrafe abschaffte und der Gouverneur von
Oregon, John Kitzhaber, verkündete, dass er während
seiner Amtszeit in seinem Bundesstaat keine weitere
Hinrichtung zulassen werde.

Dennoch belegten die USA mit 43 Hinrichtungen im
letzten Jahr den fünften Platz der Liste. Nach den Anga-
ben des Death Penalty Information Center saßen im Ap-
ril 2011 3 222 Personen im Todestrakt. Und dazu kom-
men 78 weitere, denn die US-amerikanischen Richter
verhängten in 78 Fällen erneut die Todesstrafe. Viele der
Verurteilten sitzen mehrere Jahre, manche jahrzehnte-
lang, im Todestrakt. Die Justiz hält es dabei nicht für nö-
tig, ihnen mitzuteilen, wann die Strafe vollstreckt werden
wird. Das ist eine unmenschliche Behandlung und mei-
ner Meinung nach psychische Folter.

Besonders bedrückt mich die Tatsache, dass die USA
einerseits in der Spitzengruppe der Todesurteile sind
und andererseits als Vertreter der sogenannten aufge-
klärten westlichen Welt global für die Entwicklung von
Menschenrechten und Demokratie eintreten wollen. Das
macht es auch für uns schwerer, weiterhin glaubwürdig
für die Abschaffung und Ächtung der Todesstrafe einzu-
treten.

Zuletzt sorgten die Fälle der zwei in den USA inhaf-
tierten Afroamerikaner Troy Davis und Mumia Abu-
Jamal für mediale Aufmerksamkeit und Empörung. In
beiden Fällen bestehen erhebliche Zweifel an ihrer
Schuld.

Der hier diskutierte Antrag der Linken widmet sich
Mumia Abu-Jamal und fordert die Freilassung des Ver-
urteilten. 30 Jahre zieht sich nun bereits der Prozess um
den afroamerikanischen Journalisten hin. 1982 wurde
er wegen des Mordes an dem Polizisten Daniel Faulkner
zum Tode verurteilt. Seit letztem Jahr steht nun fest:
Mumia Abu-Jamal wird nicht hingerichtet. Das Todes-
urteil wurde in eine lebenslange Haftstrafe umgewan-
delt. Das macht deutlich, wie wichtig internationaler
Druck in diesen Fragen ist.

Die Schuldfrage ist aber immer noch nicht eindeutig
geklärt. Immer wieder wurden neue Zeugen angehört,
alte Zeugen revidierten ihre Aussagen oder behaupteten
im Nachhinein, von der Polizei erpresst worden zu sein.
Er selber hatte seine Unschuld immer wieder beteuert,
sich jedoch erst einige Jahre nach dem Vorfall über-
haupt dazu geäußert. Unsere Forderung kann nur sein,
endlich Licht in dieses Dunkel zu bringen.

Sicher ist nämlich: Die internationalen Standards für
ein faires Gerichtsverfahren wurden nicht eingehalten.
Um die mageren Fakten herum entbrannte in den letzten
30 Jahren ein hochpolitisierter Glaubenskampf entlang
ideologischer Fronten. Es wurde von Justizwillkür und
Rassismus gesprochen. Dabei mag es ja durchaus sein,
dass dies die treibenden Gründe im Prozess und für die
Verurteilung gewesen sind. Das Problem allerdings ist:
Es kann bislang anscheinend nicht wirklich nachgewie-
sen werden. Und deshalb kann ich Sie, verehrte Kolle-
ginnen und Kollegen der Linken, in Ihrer Forderung, die
Verantwortlichen für rassistisch motivierte Urteile zur
Rechenschaft zu ziehen, nur ausdrücklich unterstützen.
Allerdings wird das ohne einen entsprechenden Nach-
weis nicht gelingen.

Die Umwandlung der Todesstrafe von Mumia Abu-
Jamal in eine lebenslange Haft ist zu begrüßen – so bit-
ter allerdings eine solche Strafe für einen ist, der seine
Schuld bestreitet. Dies eröffnet aber die Chance für die
USA, den Fall ehrlich aufzuarbeiten, daraus zu lernen
und Konsequenzen zu ziehen.

Etwas unlogisch erscheint mir Ihr Antrag bezüglich
der Forderungen zwei und drei. Hier fordern Sie zum ei-
nen die Freilassung von Mumia Abu-Jamal – Sie gehen
also von seiner Unschuld aus. Zum anderen bieten Sie
im nächsten Punkt an, Mumia Abu-Jamal in Deutsch-
land aufzunehmen – als Verurteilten; hier gehen Sie also
von seiner Schuld aus. Diesen Widerspruch sollten Sie

Zu Protokoll gegebene Reden





Angelika Graf (Rosenheim)



(A) (C)



(D)(B)


vielleicht bis zur nächsten Lesung noch einmal intern
diskutieren.

Die Aufhebung des Todesurteils gegen Mumia Abu-
Jamal macht mir aber Mut. Genauso wie die weltweiten
Stimmen, die seit einigen Jahren verstärkt gegen die To-
desstrafe laut werden. Vielleicht gibt es ja Hoffnung auf
eine aufgeklärte Debatte über diese steinzeitliche Be-
strafungsmethode. Wir können erfreut feststellen, dass
sich weltweit immer mehr Politiker, Präsidenten, Minis-
ter und Richter gegen diese grausame Form der Bestra-
fung aussprechen und dass die Anzahl der Länder, die
die Todesstrafe verhängen und vollstrecken, laut Am-
nesty-Bericht zurückgeht.

Allerdings – und das ist das Wasser im Wein der
Freude – nehmen die nackten quantitativen Zahlen eine
gegenläufige Entwicklung. Insgesamt ist die Anzahl der
offiziell registrierten Vollstreckungen angestiegen von
527 in 2010 auf 676 in 2011. Dies ist vor allem auf den
deutlichen Anstieg von Hinrichtungen im Mittleren Os-
ten, im Irak, im Iran und in Saudi-Arabien zurückzufüh-
ren. Die Zahlen aus China – geschätzte mehrere Tausend
im Jahr – sind da allerdings nicht dabei.

Ich möchte noch einmal mein Eingangszitat von Kofi
Annan in Erinnerung rufen: Ein Staat, der die Todes-
strafe durchführt, stellt sich auf die gleiche Stufe wie
ein Mörder. – Daher appelliere ich an die Bundesregie-
rung, sich in kommenden Gesprächen mit der US-Re-
gierung – wie immer sie nach dem 6. November ausse-
hen mag – dafür einzusetzen, dass die Todesstrafe in
allen US-amerikanischen Bundesstaaten abgeschafft
wird, und darauf zu drängen, das alle zum Tode Verur-
teilten begnadigt werden. Außerdem fordere ich die Bun-
desregierung dazu auf, in bilateralen Gesprächen mit
allen Ländern, die den Internationalen Pakt über bür-
gerliche und politische Rechte noch nicht ratifiziert ha-
ben, für eine schnelle Ratifizierung zu werben. Ein wei-
terer wichtiger Schritt wäre wegen der Vorbildfunktion
Europas allerdings auch, wenn auch Polen als letztes
Mitglied der EU das Protokoll Nr. 13 zur Europäischen
Menschenrechtskonvention endlich verabschieden
würde.


Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1719839600

Wir befassen uns heute in erster Beratung mit einem

Antrag der Linken zum Fall von Mumia Abu-Jamal. Zu-
nächst möchte ich betonen, dass die FDP die Todes-
strafe unter allen Umständen ablehnt, und zwar völlig
unabhängig von der Frage der Schuld oder Unschuld
der dazu Verurteilten. Ich denke, alle Fraktionen dieses
Hauses sind sich in diesem Punkt einig. Die Todesstrafe
ist mit der Würde des Menschen unvereinbar, sie verletzt
das unveräußerliche Grundrecht auf Leben. Sie ist durch
nichts zu rechtfertigen. Weder hat sie eine abschre-
ckende Wirkung bei der Verbrechensbekämpfung, noch
kann sie aus dem Motiv der Sühne oder der Gerechtig-
keit heraus begründet werden. Darum ist die weltweite
Ächtung und Abschaffung der Todesstrafe ein erklärtes
Ziel liberaler Menschenrechtspolitik und ein Arbeits-
schwerpunkt dieser Bundesregierung. Schon unser
Koalitionsvertrag hält dieses Ziel auf Seite 126 schrift-

lich fest, und wir verfolgen diesbezüglich eine aktive
Politik. Damit wollen wir grundsätzlich auf diese Praxis
in einzelnen Ländern Einfluss nehmen, um auf Ausset-
zung und Abschaffung der Todesstrafe hinzuwirken. Zu
diesen Ländern gehören leider auch die USA, mit denen
wir jedoch grundsätzlich sehr eng und freundschaftlich
verbunden sind. Die FDP-Bundestagsfraktion erhebt
daher die Stimme gegenüber sämtlichen Staaten, welche
die Todesstrafe vollstrecken, seien es nun demokratische
Staaten wie die USA oder autoritäre Staaten wie China,
Iran oder Belarus.

Selbst wenn sie wie im vorliegenden Fall von Mumia
Abu-Jamal letztendlich nicht vollstreckt wird, so ist
bereits die Verhängung der Todesstrafe unmenschlich,
wenn wir uns vergegenwärtigen, was schon allein die
Verurteilung zum Tode bei den betroffenen Menschen an
Leid und Existenzangst verursacht. So auch im Fall von
Mumia Abu-Jamal, der wegen Polizistenmord 1982 zum
Tode verurteilt wurde. Fast 30 Jahre beschäftigte der
Fall die Justiz, bis die Staatsanwaltschaft die Forderung
nach der Todesstrafe im Dezember 2011 endlich fallen
ließ. Dies war ein überfälliger Schritt, der weltweit be-
grüßt wurde.

Ihr nun vorliegender Antrag, liebe Kolleginnen und
Kollegen der Linken, geht jedoch einen Schritt weiter
und damit zu weit. Nicht nur fordern Sie darin die Bun-
desregierung unnötigerweise auf, etwas zu tun, was sie
bereits umsetzt, nämlich die weltweite Ächtung und
Abschaffung der Todesstrafe einzufordern und aktiv da-
für einzutreten. Unter Punkt 2 fordern Sie außerdem die
Bundesregierung auf, sich gegenüber der US-Regierung
für die Freilassung von Mumia Abu-Jamal einzusetzen.
Die FDP-Bundestagsfraktion teilt die Einschätzung,
dass die Verurteilung von Mumia Abu-Jamal den rechts-
staatlichen Erwartungen, die wir an die USA stellen,
nicht voll entsprochen hat. Namhafte und unabhängige
Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights
Watch und Amnesty International hatten wiederholt
darauf hingewiesen, dass juristische Standards in Bezug
auf faire Verfahren während seines Prozesses nicht ein-
gehalten wurden. Natürlich ist das Justizsystem der USA
in der Pflicht, dafür zu sorgen, dass alle Angeklagten
nach rechtsstaatlichen Grundsätzen und frei von jegli-
cher Diskriminierung behandelt werden. Als Freund der
USA ist es auch unsere Pflicht, unsere amerikanischen
Partner bei gegebenem Anlass darauf hinzuweisen.

Als Bundestagsabgeordnete ist es von hier aus jedoch
nicht möglich, eine Entscheidung anstelle des Justiz-
systems der USA über die Schuld oder Unschuld von
Mumia Abu-Jamal zu treffen. Ich möchte die zustän-
digen Behörden der USA jedoch auffordern, die seitens
vieler Nichtregierungsorganisationen bestehenden
Zweifel am rechtsstaatlichen Verfahren ernst zu nehmen
und auszuräumen.

Ich möchte die Gelegenheit auch nutzen, darauf
hinzuweisen, dass dank breiten zivilgesellschaftlichen
Engagements die Todesstrafe in den USA auf dem
Rückzug ist. In den vergangenen fünf Jahren haben vier
US-Bundesstaaten die Todesstrafe abgeschafft, zuletzt
Connecticut Ende April dieses Jahres; dem waren Ore-

Zu Protokoll gegebene Reden





Pascal Kober


(A) (C)



(D)(B)


gon und Illinois vorausgegangen. Im November werden
die Bürger Kaliforniens in einer Volksabstimmung ent-
scheiden, ob die Todesstrafe auch in dem bevölkerungs-
reichsten US-Bundesstaat abgeschafft werden soll. Ich
hoffe inständig, dass sie dem Beispiel der genannten
Staaten folgen, und werde die Abschaffung der Todes-
strafe im Gespräch mit unseren amerikanischen Part-
nern weiter mit Nachdruck thematisieren.


Annette Groth (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719839700

Seit fast 30 Jahren setzen sich weltweit viele Zehntau-

sende Menschen für das Leben von Mumia Abu-Jamal
ein. Immer wieder war sein Hinrichtungstermin geplant,
konnte aber durch die bewundernswerte weltweite Soli-
darität verhindert werden. Der Einsatz für Mumia Abu-
Jamal in der weltweiten Solidaritätsbewegung ist immer
auch ein Kampf für Gerechtigkeit und gegen die Todes-
strafe. Tausende von Institutionen, Organisationen und
Einzelpersonen haben sich für das Leben von Mumia
Abu-Jamal und gegen die Todesstrafe eingesetzt. Ihnen
allen gilt unser Respekt und Dank.

2003 wurde Mumia Abu-Jamal in Paris zum Ehren-
bürger ernannt. Angela Davis, selbst eine prominente
ehemalige politische Gefangene in den USA, hatte stell-
vertretend für Mumia Abu-Jamal die Auszeichnung in
Paris entgegengenommen. Erst vor wenigen Tagen hat
die französische Stadt Bobigny eine Straße nach Mumia
Abu-Jamal benannt. Dies sind Beispiele, wie auch Kom-
munen und Parlamente ihre Solidarität zeigen können.
Ich hoffe, dass auch in Deutschland viele Städte und
Kommunen diesem Beispiel folgen.

Ein wichtiger Schritt in Deutschland waren der Be-
schluss der Bremischen Bürgerschaft „Einsatz für die
Abschaffung der Todesstrafe und ihrer Vollstreckung“
und ihre Solidarität mit der bundesweiten Kampagne zur
Abwendung der Vollstreckung des Todesurteils an
Mumia Abu-Jamal. Einen solchen Beschluss hätten wir
uns auch hier im Deutschen Bundestag gewünscht. Es
war jedoch auch in der Zeit von Rot-Grün nicht möglich,
einen solchen Beschluss zu fassen, da sich auch die rot-
grüne Bundesregierung einem solchen Signal verwei-
gert hat.

Jetzt ist Mumia Abu-Jamal nach 30 Jahren endlich
aus der Todeszelle in den „normalen Vollzug“ verlegt
worden. Mit seiner Verlegung hat Mumia Abu-Jamal
endlich die Möglichkeit, seine Unschuld zu beweisen,
ohne mit einer Hinrichtung rechnen zu müssen. Dies ist
ein wichtiger Schritt. Trotzdem bleiben wir bei unsere
Forderung: „Lasst Mumia Abu-Jamal endlich frei!“

Wir bitten alle Fraktionen im Deutschen Bundestag,
unseren Antrag zu unterstützen, damit diese Forderung
endlich auch von der Bundesregierung gegenüber den
USA vorgetragen wird.

Durch seine aufrechte Haltung und seinen immer-
währenden Einsatz gegen die Todesstrafe ist Mumia
Abu-Jamal zum Sinnbild für den Kampf gegen die
Todesstrafe geworden. Für viele Menschen wurde er
Vorbild und Hoffnung zugleich. Auch die Fraktion Die
Linke hat seinen Kampf gegen die Todesstrafe seit mehr

als 20 Jahren aktiv unterstützt und sich in vielen Anträ-
gen hier im Deutschen Bundestag für seine Freilassung
eingesetzt.

Die Todesstrafe ist eine barbarische Strafe, die mit
humanitären und aufklärerischen Grundüberzeugungen
in keiner Weise vereinbar ist. Staaten nehmen sich das
Recht, Menschen legal zu töten, und negieren damit das
individuelle Menschenrecht auf Leben. Staaten, die die
Todesstrafe noch immer praktizieren, können nicht als
moderne Rechtsstaaten angesehen werden. Die Todes-
strafe ist eine Siegerjustiz, die auf Rache aufbaut. Rache
als Grundmotiv von juristischen Entscheidungen ist je-
doch mit einem modernen Rechtsstaat nicht vereinbar.

Die Fraktion Die Linke wird ihren Einsatz gegen die
Todesstrafe so lange fortsetzen, bis diese weltweit ge-
ächtet und verboten ist. Als Fraktion haben wir immer
die Anträge gegen die Todesstrafe in China, im Iran
oder in anderen Staaten begrüßt und unterstützt, selbst
wenn wir bei interfraktionellen Anträgen ausgegrenzt
wurden. Umso unverständlicher ist die Tatsache, dass
die Regierungsfraktionen, aber auch die SPD gegen die
Anträge der Fraktion Die Linke, die gegen die Todes-
strafe in den USA gerichtet waren, gestimmt haben. Es
macht die menschenrechtspolitische Arbeit der anderen
Fraktionen nicht glaubwürdig, wenn sie bei ihrem „Ver-
bündeten“ USA keine klaren Worte gegen die Todes-
strafe finden, aber bei Staaten wie Iran oder China
schon. Die Fraktion Die Linke lehnt die Todesstrafe ab,
gleich in welchem Land sie verhängt wird. Die gleiche
Klarheit wünschen wir uns auch von den anderen Frak-
tionen.

In den Todestrakten der USA sitzen in der Regel keine
Reichen, sondern die Armen, Ausgegrenzten und Opfer
des ungerechten rassistisch geprägten Justizsystems der
USA. Fast die Hälfte sind Afroamerikaner. Dazu kom-
men überdurchschnittlich viele Angehörige anderer eth-
nischer Minderheiten. Weiße US-Amerikaner werden in
den USA viel seltener zum Tode verurteilt. Das liegt
nicht zuletzt daran, dass sie aufgrund der Geschichte
von Sklaverei und Kolonialismus in der Mehrheit über
mehr materiellen Wohlstand verfügen und daher häufig
in der Lage sind, eine angemessene Verteidigung vor
Gericht zu organisieren. Aber auch in den USA wird der
Widerstand gegen die Todesstrafe immer stärker. Viele
Menschen verstehen die Zusammenhänge zwischen Ras-
sismus und dieser Form der Klassenjustiz.

Mumia Abu-Jamal hat diese Tatsachen als Journalist
immer klar benannt. Daher wird er von vielen auch als
„Stimme der Unterdrückten“ bezeichnet. Er spricht
nicht nur für Gefangene oder für die Marginalisierten in
den USA, sondern für uns alle, die gegen die Todesstrafe
kämpfen. Die Forderungen von Mumia Abu-Jamal
werden von vielen verstanden und weitergetragen. Sie
motivieren Menschen in vielen Ländern der Welt, die be-
stehenden Verhältnisse zu hinterfragen und kämpferisch
dazu beizutragen, diese Verhältnisse zu ändern. Mumia
Abu-Jamal ist ein Symbol für den Kampf um Gerechtig-
keit und gegen eine rassistisch motivierte Politik gegen
Minderheiten.

Zu Protokoll gegebene Reden





Annette Groth


(A) (C)



(D)(B)


In unserem Antrag fordern wir die weltweite Ächtung
und Abschaffung der Todesstrafe. Wir fordern die
Bundesregierung auf, sich nachdrücklich gegenüber der
Regierung der USA für die Freilassung von Mumia Abu-
Jamal einzusetzen. Dies wollen wir mit einem Angebot
an die USA verbinden, Mumia Abu-Jamal in Deutsch-
land Aufnahme zu gewähren. Mumia Abu-Jamal sitzt
seit 30 Jahren unschuldig im Gefängnis. Jetzt ist es an
der Zeit, dass er endlich in Freiheit leben kann. Bitte
unterstützen Sie dieses Anliegen.


Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1719839800

Seitdem ich das letzte Mal im Bundestag eine Rede

zum Thema Todesstrafe gehalten habe, sind eineinhalb
Jahre vergangen. Heute stelle ich mit Bedauern fest,
dass sich die Notwendigkeit, sich mit diesem Thema zu
befassen, seitdem keineswegs verringert hat. Nach wie
vor gilt es für Deutschland, sich auf bilateraler Ebene,
auf der Ebene der Europäischen Union und auf der
Ebene der Vereinten Nationen mit größten Anstrengun-
gen für die weltweite Abschaffung der Todesstrafe einzu-
setzen. In diesem Sinne stimmt meine Fraktion dem An-
trag der Linken zu.

Vor ein paar Tagen konnte man in der Presse einen
von Guido Westerwelle und anderen europäischen Au-
ßenministern verfassten Artikel lesen, der sich ebenfalls
mit dem Thema befasst. Darin ist von ermutigenden
Zahlen die Rede: In den vergangenen 20 Jahren hätten
über 50 Staaten der Todesstrafe „den Rücken gekehrt“.
Ich freue mich über jeden Staat mehr, der dies tut; je-
doch gibt es auch andere Zahlen: Im Jahr 2011 wurden
mindestens 680 Personen hingerichtet, während es im
Jahr 2010 noch 527 waren; des Weiteren wurden annä-
hernd 2 000 Todesurteile ausgesprochen, und mehr als
18 000 Menschen warteten auf die Vollstreckung ihres
Todesurteils. Diese Zahlen sind eher ernüchternd als
ermutigend. Unterm Strich zeigen sie nämlich zwei
Tendenzen. Die positive Tendenz wird in Herrn
Westerwelles Artikel hervorgehoben: Immer mehr Staa-
ten schaffen die Todesstrafe ab. Die negative ist die, die
meiner Meinung weitaus mehr ins Gewicht fällt: Die
Zahl der Hingerichteten nimmt zu.

Jede Person, die durch die Todesstrafe ihr Leben ver-
liert, erinnert uns daran, dass es der Menschheit seit
Hunderten von Jahren nicht gelungen ist, diesen men-
schenverachtenden Akt des Strafvollzugs abzuschaffen.
Die Todesstrafe gehört zu den ältesten Strafmaßnahmen
der Menschheit und scheint leider jede Gesellschafts-
form, auch wenn sie sich für noch so aufgeklärt hält, zu
überleben. Wie das Beispiel einiger Bundesstaaten in
den USA zeigt, gilt das auch für die Demokratie. Und ein
Blick auf China, das weltweit die meisten Todesurteile
vollstreckt, reicht, um zu erkennen, dass es sich mit dem
Kommunismus genauso verhält.

Aber ganz gleich, von welchem Land oder welcher
Staatsform gesprochen wird – was ihnen allen gemein-
sam ist, ist, dass die Verantwortlichen meinen, dass sie
andere Menschen aufgrund eines begangenen Verbre-
chens mit dem Tod bestrafen müssten, dass Personen,
die gegen Gesetze und Sittlichkeit verstoßen haben, das

Recht verlieren, weiterzuleben. Nein! Kein Staat hat das
Recht, über Leben oder Tod seiner Bürger zu entschei-
den. Das Recht auf Leben erwirbt jeder Mensch mit der
Geburt. Niemand darf es ihm nehmen, egal was er oder
sie getan hat.

Diese Universalität des Rechts auf Leben gebietet es
jedem politischen Akteur, jeder Regierung, auch der
Bundesregierung, sich gegenüber allen Staaten, in de-
nen die Todesstrafe praktiziert wird, mit der gleichen
Intensität für deren Abschaffung einzusetzen. Wirt-
schaftliche oder machtpolitische Interessen sollten dem
Engagement für Menschenrechte und Menschenwürde
nicht im Wege stehen. Länder wie Deutschland verlieren
ihr Gesicht, wenn ihre Regierungen bei Gesprächen mit
den USA oder China nicht immer wieder und bei jeder
Gelegenheit ihren Standpunkt und ihre menschenrechtli-
chen Errungenschaften betonen, nämlich den unbeding-
ten Schutz der menschlichen Würde und des Lebens. Ge-
rade stolze Nationen wie die USA und China, die auf
Gesichtswahrung großen Wert legen, sollten für dieses
Interesse Verständnis haben.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719839900

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/8916 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 33 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Katrin Werner, Annette Groth,
Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE

Menschenrechte und Demokratie in den Staa-
ten des Südkaukasus fördern

– Drucksachen 17/7645, 17/8681 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Steinbach
Ullrich Meßmer
Marina Schuster
Katrin Werner
Volker Beck (Köln)


Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.


Erika Steinbach-Hermann (Plos):
Rede ID: ID1719840000

„Menschenrechte und Demokratie in den Staaten des

Südkaukasus fördern“, so lautet der Titel des Antrags,
den wir heute abschließend beraten. Wie unterschiedlich
das Verständnis dessen ist, was unter einer solchen
Überschrift gefasst werden kann, wird klar, wenn man
diesen Antrag liest. Den Verfassern rate ich, die ideolo-
gische Brille einmal beiseite zu legen, das klärt den
Blick.

So wird behauptet, es erfolgte mithilfe der EU-
Aktionspläne der Europäischen Nachbarschaftpolitik





Erika Steinbach


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(D)(B)


eine Unterordnung der Menschenrechte unter einen neo-
liberalen Wirtschaftsumbau mit der Folge der Zementie-
rung von Massenarmut. Mit einer solchen Aussage leiten
die Verfasser ihren Antrag ein.

Das Gegenteil ist der Fall. Mit dem Projekt der Östli-
chen Partnerschaft wird das Hauptziel verfolgt, die EU
und die Partnerländer unter dem Dach der Europäischen
Nachbarschaftspolitik politisch und wirtschaftlich einan-
der anzunähern. Beziehungen sollen in den Bereichen
Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur intensiviert
werden. Es geht auch darum, Kontakte zwischen den
Menschen in der EU und den Partnerländern zu fördern.

Das ist für die Länder, denen keine Beitrittsperspek-
tive in die EU eröffnet wird, ein wichtiges Projekt. Denn
hier entsteht durch Austausch eine Annäherung an euro-
päische Werte. Dabei spielen die Menschenrechte eine
wesentliche Rolle. Der Anstoß politischer Reformen in
diesen Ländern, die dringend notwendig sind, rangiert
weit vor wirtschaftlicher Zusammenarbeit zum Beispiel
im Bereich der Energiewirtschaft. Die EU ist der wich-
tigste Handelspartner für die drei Südkaukasus-Staaten.
Das steht dem Engagement der EU im Bereich der Men-
schenrechte in der Region nicht entgegen, sondern beför-
dert es.

Dieser Tage wurde der Europäischen Union der Frie-
densnobelpreis für das Jahr 2012 verliehen. Das Nobel-
preiskomitee begründete seine Entscheidung mit dem
Beitrag der Europäischen Union zu Frieden, Verständi-
gung, Demokratie und Menschenrechten in den vergan-
genen 60 Jahren. Dieser Beitrag ist nicht hoch genug zu
schätzen.

So enthält auch der Aktionsplan, der im Rahmen der
Europäischen Nachbarschaftspolitik mit Aserbaidschan
im Jahr 2006 vereinbart wurde, wichtige Reformforde-
rungen in den Bereichen Justiz und Verwaltung, Bürger-
rechte und demokratische Standards.

Seit dem Ende der Sowjetunion und den nachfolgen-
den staatlichen Unabhängigkeiten vor 20 Jahren haben
Armenien, Aserbaidschan und Georgien Entwicklungen
durchlaufen, die von innenpolitischen, sozialen und wirt-
schaftlichen Umbrüchen gekennzeichnet waren. Kriege
und Vertreibungen großer Bevölkerungsgruppen zählten
dazu. Es ist dringend notwendig, die Menschenrechts-
lage in den drei Südkaukasus-Staaten zu verbessern. Ge-
rade weil die menschenrechtsverachtende Zeit vor der
Unabhängigkeit immer noch nachwirkt, ist das so
schwer. Im vorliegenden Antrag werden jedoch Ursache
und Wirkung verwechselt.

Sie erheben gern und immer wieder die Forderung,
die Bundesregierung müsse die wirtschaftlichen, sozia-
len und kulturellen Menschenrechte den bürgerlichen
und politischen Menschenrechten gleichstellen. Die
Wiener Weltkonferenz für Menschenrechte bekräftigte
1993, dass die WSK-Rechte untrennbarer und gleichran-
giger Teil der allgemeinen Menschenrechte sind und in
einem unauflöslichen Zusammenhang mit den bürgerli-
chen und politischen Rechten stehen. Die Bundesregie-
rung bekennt sich zur Gleichrangigkeit sowie zur Inter-
dependenz aller Menschenrechte. Deshalb ist die

Menschenrechtspolitik Deutschlands in seiner Außen-
und Entwicklungspolitik darauf ausgerichtet, auch den
WSK-Rechten zur Umsetzung zu verhelfen. Tenor des An-
trags ist jedoch, die WSK-Rechte den bürgerlichen und
politischen Rechten voranzustellen. Diesem Ansinnen
widerspreche ich vehement.

Die Europäische Union nutzt das Instrument des Men-
schenrechtsdialogs mit ihren Partnerländern Armenien
und Georgien. Die Bundesregierung thematisiert die
Menschenrechtslage in bilateralen Gesprächen mit allen
drei Südkaukasus-Staaten regelmäßig und mahnt die Ein-
haltung der entsprechenden internationalen Verpflich-
tungen an. Flankiert wird dies durch die Unterstützung im
Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit im Schwer-
punktprogramm „Demokratie, Kommunalentwicklung
und Rechtsstaat“ durch die Rechts- und Justizberatung in
den drei Südkaukasus-Staaten.

Menschenrechte und Demokratie in den Staaten des
Südkaukasus fördern Deutschland und die Europäische
Union bereits vielfältig. Den vorliegenden Antrag lehnen
wir ab, da er in bekannter Tradition der Verfasser ein un-
realistisches Bild zeichnet und unterstellt, dass dem nicht
so sei.


Ullrich Meßmer (SPD):
Rede ID: ID1719840100

Die Staaten des Südkaukasus, Georgien, Armenien

und Aserbaidschan, haben seit ihrer Unabhängigkeit
1991 schwierige Prozesse im Zuge der Konsolidierung
ihrer Staatlichkeit durchlaufen. Zwischenstaatliche Aus-
einandersetzungen und Nationalitätenkonflikte spielten
hierbei ebenso eine Rolle wie wirtschaftliche Not,
Flüchtlingselend und innenpolitische Instabilität. Und
auch wenn alle drei Länder mittlerweile ihre Staatlich-
keit konsolidiert haben und Mitglied im Europarat und
Partnerländer der Europäischen Nachbarschaftsinitia-
tive geworden sind, ist es richtig, sich auch weiterhin in-
tensiv mit diesen Länder zu beschäftigen und Hilfe bei
der Weiterentwicklung von Demokratie und Menschen-
rechten anzubieten. Denn nach wie vor ist die Men-
schenrechtslage in allen drei Ländern problematisch.
Insofern ist der Antrag zu begrüßen.

Lassen Sie uns die einzelnen Länder ein wenig ge-
nauer betrachten. In Armenien harrt die gewaltsame
Niederschlagung der Massenproteste gegen die umstrit-
tene Präsidentenwahl 2008 weiterhin der Aufklärung.
Der regierungskritische Sender „Gala TV“ hat unlängst
seine Sendelizenz verloren. Auch wird das Recht auf
Kriegsdienstverweigerung nicht eingehalten, obwohl es
in der Verfassung verankert ist. Besonders die Situation
der WSK-Rechte hat sich in Armenien verschärft. 34
Prozent der armenischen Bevölkerung leben in Armut,
weitere 20 Prozent gelten als unmittelbar armutsgefähr-
det. Ein weiteres gravierendes Problem stellt die ge-
schlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen dar. Häusli-
che Gewalt gegen Frauen ist nach wie vor stark
verbreitet, wobei es für betroffene Frauen kaum Schutz-
räume gibt.

In Georgien hat sich die Menschenrechtslage nach
dem Kaukasuskrieg 2008 weiter verschlechtert. Auch
hier gibt es bislang keine Aufklärung zu der Gewaltan-

Zu Protokoll gegebene Reden





Ullrich Meßmer


(A) (C)



(D)(B)


wendung durch Sicherheitskräfte während der Proteste
gegen Präsident Saakaschwili. Auch die Aufklärung
möglicher Verstöße gegen das Kriegsvölkerrecht wäh-
rend des Kaukasuskrieges ist bislang unterblieben.
Umso mehr erfreut es, dass in Georgien mit den Präsi-
dentschaftswahlen 2012 ein demokratischer Wechsel an
der Spitze geglückt scheint: Der Herausforderer
Saakaschwilis, der Milliardär Iwanischwili, hat die Prä-
sidentschaftswahlen vom Oktober 2012 nicht nur klar
für sich entschieden, sondern er wurde auch durch den
unterlegenen amtierenden Präsidenten anerkannt, der
damit gleichzeitig seine Niederlage einräumte. Der neue
Präsident sieht sich allerdings großen Erwartungen und
Herausforderungen gegenüber. Das Land benötigt drin-
gend Sozialprogramme, besonders die medizinische Ver-
sorgung muss verbessert werden. Auch die Versorgung
der Bevölkerung, von der 40 Prozent in Armut lebt, gilt
als große und entscheidende Herausforderung für den
neuen Präsidenten. Dabei gilt es auch die besonders
schlechte Situation der Binnenflüchtlinge im Auge zu be-
halten. Des Weiteren müssen der Minderheitenschutz
verbessert und die Korruptionsbekämpfung vorange-
bracht werden. Auch die Medienfreiheit muss weiter ver-
bessert werden, damit regierungskritische Journalisten
nicht weiter Repressalien oder wirtschaftlichen Schika-
nen ausgesetzt werden.

In Aserbaidschan bleibt vor allem die Lage bei den
bürgerlichen und politischen Menschenrechten weiter
angespannt. Noch immer werden Demonstrationen der
Opposition in der Hauptstadt Baku verboten, werden re-
gierungskritische Medien stark eingeschränkt und regie-
rungskritische Journalisten und Blogger verfolgt und
mit Haftstrafen bedroht. Daneben ist die Korruption
weit verbreitet. Von den 200 000 Kriegsflüchtlingen aus
Armenien und den 800 000 Binnenvertriebenen als
Folge des armenisch-aserbaidschanischen Konflikts um
Berg-Karabach leben noch etwa 20 Prozent in unzurei-
chenden Wohnverhältnissen und es gibt insgesamt Pro-
bleme mit ihrer Integration. Positiv lässt sich die Tole-
ranz gegenüber Minderheiten und die religiöse Toleranz
hervorheben. Anders als in Armenien und Georgien sind
Erfolge bei der Armutsbekämpfung in Aserbaidschan er-
kennbar: Der Armutsanteil konnte von knapp 50 Prozent
2001 auf nunmehr 9 Prozent gesenkt werden. Die wirt-
schaftliche Dynamik des Landes, die vor allem von der
Erdöl- und Gasindustrie getragen wird, machte Sozial-
programme möglich, die zusammen mit staatlicher Um-
verteilungspolitik den Armutsanteil senken konnten.
Dies ist – auch im Sinne der WSK-Rechte – zu begrüßen.
Es darf jedoch nicht zu dem Schluss führen, dass die
Menschenrechtslage allein dadurch in Aserbaidschan
um ein Vielfaches besser sei als in den anderen Ländern
des Südkaukasus. Gerade mit Blick auf die bürgerlichen
und politischen Rechte ist die Lage in Aserbaidschan si-
cherlich schlechter als in Georgien, wo zum ersten Mal
Wahlen nach demokratischen Standards stattgefunden
und damit zu einem demokratisch legitimierten Wechsel
an der Staatsspitze geführt haben. Auch wäre der
Schluss falsch, die WSK-Rechte höher als die bürgerli-
chen und politischen Rechte anzusetzen. Ebenso ist es
falsch, die bürgerlichen und politischen den WSK-Rech-
ten vorzuziehen. Menschenrechte können immer nur in

ihrer Gesamtheit verwirklicht werden, da sie einander
unmittelbar bedingen und unmittelbar voneinander ab-
hängen.

Die Darstellung der Situation in Aserbaidschan ist
daher im Antrag eindeutig zu positiv und teilweise
falsch, auch wenn – und das möchte ich hier ausdrück-
lich betonen – eine Verminderung von Armut natürlich
immer zu begrüßen ist. Ein ausschließliches Fokussieren
auf staatliche Umverteilung und Sozialprogramme und
die generelle Absage an Privatisierungen helfen nicht in
allen Situationen weiter. Häufig benötigen Länder zur
Verbesserung der Durchsetzung der WSK-Rechte ein
Bündel von Maßnahmen, und hierbei können Privat-
investitionen und private Initiativen durchaus ihren Bei-
trag leisten. In diesem Sinne ist der Antrag, der teilweise
richtige Analysen und Forderungen enthält, nicht mitzu-
tragen. Die Unterstützung der einzelnen Länder selber
ist aber gleichwohl selbstverständlich wie auch politisch
geboten.


Marina Schuster (FDP):
Rede ID: ID1719840200

Es ist unbestreitbar, dass wir uns für eine Förderung

der Menschenrechte und der Demokratie in den Staaten
des Südkaukasus einsetzen müssen. Insofern kann ich
dem Titel – allerdings nur dem Titel – des vorliegenden
Antrags der Linken zustimmen. Inhaltlich zeigt sich je-
doch eine Perspektive von Menschenrechten, die nicht
falscher sein könnte. Sie ist schlicht selektiv.

Die Linke hat bereits an anderer Stelle – ich erinnere
an die Debatten zu Kuba – ihre Auffassung gezeigt, die
wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschen-
rechte gegen bürgerliche und politische Rechte auszu-
spielen. Dieser Ansatz ist falsch. Wir unterscheiden eben
nicht nach Wertigkeit unterschiedlicher Menschenrechts-
formen. Schutz und Wahrung aller Menschenrechte sind
und bleiben Priorität der Bundesregierung. Dabei sind
die WSK-Rechte untrennbarer und gleichrangiger Teil
der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und
stehen in einem unauflöslichen Zusammenhang mit den
bürgerlichen und politischen Menschenrechten.

Der Antrag führt an, dass sich die Situation der WSK-
Rechte im Südkaukasus aufgrund von Privatisierungs-
politik verschlechtert habe. Diese Annahme stellt Ursache
und Wirkung in einen völlig falschen Zusammenhang.

Weiterhin fordert die Linke die Bundesregierung auf,
einer weiteren Privatisierung in den Ländern des Süd-
kaukasus vorzubeugen, weil die Linken ihr Mantra wie-
derholen, jede Privatisierung sei des Teufels. Das ist
falsch, und es widerspricht nicht nur dem liberalen Geist
der Freiheit, für den wir als FDP-Fraktion engagiert
eintreten, sondern auch den Grundsätzen von wirt-
schaftlichem Freihandel, auf die sich zum Beispiel die
Europäische Union gründet.

In dem Antrag wird außerdem übersehen, dass eine
positive wirtschaftliche Entwicklung und eine positive
Menschenrechtsentwicklung, gerade der WSK-Rechte,
häufig einhergehen. Außerdem fehlt die historische Ein-
bettung komplett: Der schlechte Zustand der WSK-
Rechte im Südkaukasus ist natürlich auch auf den zum

Zu Protokoll gegebene Reden





Marina Schuster


(A) (C)



(D)(B)


Teil desolaten Zustand der Wirtschaft zurückzuführen.
Dieser ergibt sich aber auch aus den postsowjetischen
Rahmenbedingungen und den Strukturen, die damals
aufgebaut wurden.

Für besonders gefährlich halte ich den selektiven
Blick des Antrags auf Aserbaidschan. Liebe Kollegen
und Kolleginnen von der Linken, bis heute ist mir nicht
klar, warum Sie die interfraktionelle Erklärung des
Menschenrechtsauschusses zu Aserbaidschan nicht mit-
getragen haben. Schlimmer, in Ihrem Antrag loben Sie
die Innenpolitik des Landes. In keinem Wort wird er-
wähnt, dass Aserbaidschan bis heute seinen Verpflich-
tungen aus der Europäischen Menschrechtskonvention
nicht voll nachkommt. Das Auftreten Aserbaidschans in
Straßburg hat eindrücklich bewiesen, dass wir auch in
Zukunft nicht auf große Veränderungen und demokrati-
sche Fortschritte hoffen dürfen.

Voraussetzung für den Beitritt Aserbaidschans war
unter anderem die Freilassung von politischen Gefange-
nen. Diese Verpflichtung hat das Land bisher nicht er-
füllt. Trotz mehrmaliger Aufforderungen hat sich Aser-
baidschan geweigert, dem Sonderberichterstatter bei
der Parlamentarischen Versammlung des Europarates,
Christoph Strässer, ein Visum zur Einreise nach Aser-
baidschan auszustellen. Nachdem vor wenigen Wochen
entsprechend einem aus Baku geäußerten Wunsch die
Beschränkung des Mandates allein auf politische Gefan-
gene in Aserbaidschan fallen gelassen wurde, hat Aser-
baidschan dem Sonderberichterstatter für politische Ge-
fangene dennoch kein Visum ausgestellt, sodass eine
Reise abermals abgesagt werden musste. Das Verhalten
Aserbaidschans ist nicht akzeptabel.

Lassen Sie mich noch auf einen letzten Punkt einge-
hen: Der Antrag versäumt eine grundsätzliche politische
und sicherheitspolitische Einbettung. Nach wie vor gibt
es schwelende Konflikte zwischen den Staaten des Süd-
kaukasus. Auch das erlebe ich immer wieder in der Par-
lamentarischen Versammlung des Europarates. Natür-
lich spielt der Berg-Karabach-Konflikt hier eine große
Rolle. Sicherheitspolitische Aspekte gehören aber zur
Diskussion der Entwicklung der betreffenden Länder
dazu. Und eine wichtige Prämisse der EU-Nachbar-
schaftspolitik ist ja gerade die Konfliktprävention. Auch
hierauf geht der vorliegende Antrag nicht ein.

Selbstverständlich wird sich die Bundesregierung
auch weiterhin energisch für eine Förderung der Men-
schenrechte in Armenien, Aserbaidschan und Georgien
einsetzen. Der Antrag der Linken ist hierzu jedoch nicht
der richtige Ansatz und ist deshalb schlichtweg abzuleh-
nen.


Katrin Werner (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719840300

Der jüngste Folterskandal in georgischen Gefängnis-

sen unterstreicht die Aktualität unseres Antrags. Der
Menschenrechtslage in den Staaten des Südkaukasus
muss dringend größere Aufmerksamkeit geschenkt wer-
den. Die Bilder und Videos der misshandelten, gefolter-
ten, vergewaltigten und gedemütigten Häftlinge haben
mich tief erschüttert. Der Folterskandal zeigt exempla-
risch, dass die jahrelangen Vorschusslorbeeren des

Westens für die vermeintlichen Demokratiefortschritte
in Georgien offenbar verfrüht und politisch unzutreffend
gewesen sind. Vor allem die deutsche Bundesregierung
hat die Menschenrechtsbilanz und den neoautoritären
Politikstil unter Präsident Saakaschwili stets beschö-
nigt, da Georgien der engste Partner der USA, NATO
und EU in der Region ist. Das kennen wir schon zur
Genüge mit Blick auf die Menschenrechtsdefizite im ei-
genen Land und in anderen Ländern mit prowestlich
orientierten, autoritären Regimen. Wer sich gegenüber
dem Westen kooperativ verhält, wird hofiert, und wer
sich dazu eine in Widerspruch stehende, eigenständige
Politik leistet, wird häufig sanktioniert. Die Linke wird
nicht müde werden, die Bundesregierung aufzufordern:
Beenden Sie endlich ihre Politik der Doppelstandards
bei Menschenrechten!

Immerhin – und dies stimmt mich vorsichtig optimis-
tisch – ist die Aufarbeitung des Folterskandals in Geor-
gien selbst in vollem Gang. Mehrere Minister mussten
bereits ihren Hut nehmen und ein Großteil der Gefäng-
nisleitungen und des Wachpersonals soll ausgetauscht
werden. Zumindest scheinen die Zeiten, in denen ein
solcher Skandal ohne nennenswerte Folgen blieb, end-
gültig vorüber zu sein. Hierzu gehört auch der von den
georgischen Wählerinnen und Wählern herbeigeführte
politische Wechsel bei den Parlamentswahlen am 1. Ok-
tober 2012. Sofern der friedliche Machtwechsel gelingt,
kann dies als starkes Signal für die Demokratie mit
überregionaler Bedeutung verstanden werden. Auch
wenn zuletzt der Folterskandal viel Wasser auf die Müh-
len des siegreichen Oppositionsbündnisses „Georgi-
scher Traum“ gelenkt hat, bleibt die soziale Frage das
größte innenpolitische Problem Georgiens. Über die
Hälfte der georgischen Bevölkerung lebt seit der Un-
abhängigkeit vor über zwanzig Jahren in Armut.

Das bringt mich zu einem wichtigen Punkt in unserem
Antrag. Wie in der Beschlussempfehlung des federfüh-
renden Ausschusses steht, meinten einige Kolleginnen
und Kollegen aus anderen Fraktionen, wir würden in
unserem Antrag die WSK-Rechte einseitig in den Vor-
dergrund stellen. Dazu kann ich nur sagen: Entweder
haben Sie unseren Antrag nicht richtig gelesen oder
nicht richtig verstanden. Die Linke fordert in dem
Antrag die Bundesregierung wörtlich auf, „in der Men-
schenrechts-, Entwicklungs- und Außenpolitik Deutsch-
lands grundsätzlich den wirtschaftlichen, sozialen und
kulturellen Menschenrechten den GLEICHEN Stellen-
wert einzuräumen wie den bürgerlichen und politischen
Menschenrechten“. Von einer Besserstellung der WSK-
Rechte gegenüber den bürgerlichen und politischen
Rechten kann folglich keine Rede sein. Die jeweiligen
Rechte ergänzen sich vielmehr gegenseitig und hängen
voneinander ab. Gerade deshalb müssen aber die
Aktionspläne der EU-Nachbarschaftspolitik mit den
Südkaukasus-Staaten dringend ergänzt werden, weil sie
bislang die wirtschaftlichen und sozialen Rechte stark
vernachlässigen und sich vornehmlich auf gute Regie-
rungsführung, Korruptionsbekämpfung und neolibera-
len Wirtschaftsumbau konzentrieren. Es ist jedoch in
diesen Ländern, vor allem in Georgien und Armenien,
eine stärkere staatliche Sozialpolitik erforderlich, um

Zu Protokoll gegebene Reden





Katrin Werner


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(D)(B)


die wirtschaftliche und soziale Situation der Bevölke-
rungsmehrheit zu stabilisieren und zu verbessern. Wenn
Sie dies ablehnen, dokumentieren sie damit nur, dass Sie
an der Ideologie des ungehemmten Marktradikalismus
festhalten wollen und dass Ihnen die Lebensbedingun-
gen der Bevölkerung egal sind. Das sollten Sie dann an
dieser Stelle auch ehrlicherweise zugeben.

Ähnlich absurd ist die Behauptung, wir würden die
Situation bei den bürgerlichen und politischen Men-
schenrechten in Aserbaidschan schönreden. In unserem
Antrag steht unmissverständlich, dass in allen drei Süd-
kaukasus-Republiken jegliche Formen repressiver
Gewaltausübung durch die dortigen Regierungen unter-
bleiben sollen, freie und faire Wahlen durchgeführt und
die Versammlungs-, Meinungs-, Medien- und Pressefrei-
heit uneingeschränkt garantiert werden müssen. Ge-
nauso müssen selbstverständlich in allen drei Ländern
umgehend alle gewaltlosen politischen Gefangenen frei-
gelassen werden. Aserbaidschan bildet dabei keine Aus-
nahme.

Die Angaben darüber, wie viele politische Gefangene
es gibt und nach welchen Kriterien jemand als ein poli-
tischer Gefangener gilt, müssen aber stimmen. Ich
bedauere es sehr, dass der Europarat in dieser Frage
zutiefst gespalten ist. Dass es bei der Zahl von politi-
schen Gefangenen erhebliche Unterschiede zwischen
den drei Ländern gibt, ist eine Tatsache, die von interna-
tionalen Menschenrechtsorganisationen bestätigt wird.
Menschenrechtsverletzungen und politische Strafjustiz
gibt es auch in christlichen Ländern.

Ein wichtiger Grund für ausbleibende Fortschritte
bei Menschenrechten und Demokratie sind die schwe-
lenden Konflikte in der Südkaukasus-Region. Sie dienen
den dortigen Regierungen häufig als Rechtfertigung
dafür, dass die Verteidigungs- und Abwehrbereitschaft
gegen äußere Gegner zunächst wichtiger sei als die
Demokratieentwicklung in den Staaten selbst. Das
Gegenteil dessen wäre aber richtig: Fortschritte bei
Demokratie und Menschenrechten würden die Vertrau-
ensbildung zwischen den verfeindeten Konfliktparteien
fördern und die Erfolgsaussichten für friedliche Lösun-
gen der ethnoterritorialen Konflikte erhöhen. Die inner-
staatlichen Konflikte in Georgien um die abtrünnigen
Provinzen Abchasien und Südossetien sowie der zwi-
schenstaatliche Konflikt Armeniens und Aserbaidschans
um Berg-Karabach können nur nach den völkerrechtli-
chen Prinzipien der Gewaltfreiheit, der territorialen In-
tegrität, der Staatensouveränität und dem inneren
Selbstbestimmungsrecht von Minderheiten beigelegt
werden. Das Selbstbestimmungsrecht ist nicht gleichbe-
deutend mit einem Anspruch auf einen eigenen Staat.
Von den Konfliktparteien ist zu verlangen, dass sie alles
unterlassen, was diesbezügliche Spannungen unter ih-
nen anheizt und Vertrauen zerstört. Die Glorifizierung
von Mördern als Nationalhelden und die Tötung von
Zivilisten durch Heckenschützen, darunter selbst min-
derjährige Kinder, sind klarer Ausdruck von fortbeste-
hendem Feinddenken, das Versöhnungsfortschritte und
Friedenslösungen massiv erschwert.

Die Linke fordert die Bundesregierung auf, sich für
eine Wiederbelebung des Friedensprozesses im Südkau-
kasus einzusetzen und hierfür in den verantwortlichen
Gremien wie der Minsker Gruppe der OSZE deutlich
aktiver mitzuarbeiten und zu diesem Zweck auch enger
mit Russland zu kooperieren. Zivile Konfliktlösungen
wären für die Situation der Menschen und die Demokra-
tieentwicklung im Südkaukasus weitaus wichtiger als
neue Freihandelsabkommen mit der EU, von denen nur
europäische Großkonzerne und die politischen Eliten
profitieren. Aus diesem Grund werben wir um Zustim-
mung zu unserem Antrag und lehnen die Beschlussemp-
fehlung des federführenden Ausschusses ab.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Am 15. Dezember des letzten Jahres hielt ich die erste
Rede zum vorliegenden Antrag der Fraktion Die Linke.
Meine Kritik an Ihrem Antrag zielte vor allem auf die ne-
gative Einschätzung der Europäischen Nachbarschafts-
politik in Bezug auf die südkaukasischen Staaten ab, wo-
gegen die Lage in Aserbaidschan deutlich zu unkritisch
dargestellt wurde. Deshalb werden und können wir dem
Antrag nicht zustimmen.

Heute möchte ich vor dem Hintergrund der aktuellen
Entwicklungen meine Thesen aus dem Vorjahr überprü-
fen. Ich beginne mit Georgien. Meine Fraktion hat in ei-
nem eigenen Antrag, Bundestagsdrucksache 17/8778,
im Februar 2012 für eine engere Kooperation mit Geor-
gien plädiert. Zugleich haben wir aber auch auf die de-
mokratischen und menschenrechtlichen Defizite im
Land hingewiesen, darunter unter anderem die prekäre
Lage in den georgischen Gefängnissen. Genau diese
Missstände, dazu noch die dort stattfindende Folter, wa-
ren ein entscheidender Grund für die Abwahl der Regie-
rungspartei von Präsident Saakaschwili. Deshalb tut die
neue Regierung gut daran, nun – wie angekündigt –
glaubwürdige Reformen im Strafvollzug anzugehen. Die
Wahlen in Georgien haben zu einem Regierungswechsel
geführt. Am Mittwoch konstituiert sich das neue Parla-
ment, danach wird der Ministerpräsident gewählt. Erst-
mals seit der Unabhängigkeit steht Georgien vor der
Herausforderung, eine Kohabitation zu gestalten, das
heißt, Präsident und Ministerpräsident gehören unter-
schiedlichen Parteien an. Mit der ersten Benennung von
Kabinettsposten setzte der künftige Ministerpräsident
Iwanischwili positive Signale. Er macht keine Zuge-
ständnisse an die nationalkonservativen Kräfte, denen
er im Wahlkampf an einigen Stellen auf seiner Liste be-
dauerlicherweise Unterschlupf geboten hatte. Ebenso
positiv hervorzuheben ist, dass sich die zukünftige Re-
gierung im Parlament auf eine Dreifraktionenkoalition
stützen wird.

Der Wahlgewinner hat mehrfach betont, am Ziel der
euroatlantischen Integration Georgiens festzuhalten.
Daran muss man ihn messen. Seine erste Auslandsreise
ist nach Washington geplant. Interessant erscheint mir
ferner, wie genau eine pragmatische Neugestaltung der
georgisch-russischen Beziehungen aussehen wird. Auf
jeden Fall sollte Deutschland diesen Annäherungspro-
zess an Russland aktiv unterstützen. Erst nach einer Neu-

Zu Protokoll gegebene Reden





Viola von Cramon-Taubadel


(A) (C)



(D)(B)


gestaltung der Russland-Politik wird auch wieder Bewe-
gung in die festgefahrenen Konflikte um Abchasien und
Südossetien kommen. Einen konstruktiven Beitrag kann
hier sicherlich der neue Minister Paata Zakareischwili
von der Republikanischen Partei leisten. Wie kaum ein
anderer hat er sich seit dem Ausbruch der Konflikte zu
Beginn der 1990er-Jahre immer wieder für eine Aussöh-
nung eingesetzt und genießt auf beiden Seiten Vertrauen.
Deutschland und die EU müssen Georgien mit glaub-
würdigen Ansätzen für eine Einbindung der Sezessions-
gebiete in die Östliche Partnerschaft zur Seite stehen.

Berichte über das tatsächliche Ausmaß der Wahlfäl-
schung zugunsten der bisherigen Regierungspartei lie-
gen vor. Noch ist allerdings unsicher, wie mit diesen
Auswertungen umgegangen wird. Zusammenfassend
muss man konstatieren, dass der Machtwechsel bislang
vergleichsweise friedlich verlaufen ist, unter anderem
auch weil Saakaschwili bereits vor der Bekanntgabe der
Endergebnisse die Niederlage seiner Partei eingeräumt
hat. Das hat auf jeden Fall Respekt verdient, unabhän-
gig davon, welche Motive ausschlaggebend für seine
Entscheidung gewesen sein mögen.

Kommen wir zu Aserbaidschan. Dieses Land bleibt
für Deutschland ein schwieriger Partner. Wir beschäfti-
gen uns seit geraumer Zeit sehr intensiv mit den Verhält-
nissen in Baku, und das nicht nur, weil Aserbaidschan
als Gewinner im Eurovision Songcontest den Wettbe-
werb im eigenen Land austragen durfte. Aufgrund des
Songcontests stand Aserbaidschan mehrere Monate lang
im Licht der Weltöffentlichkeit. Kurzfristig hat das eini-
gen Menschen im Land sicherlich geholfen, die mittel-
und langfristigen Folgen dürften kaum zu einer verbes-
serten Menschenrechtssituation in dem ölreichen Süd-
kaukasus-Staat führen. Im Gegenteil. Nach Abreise der
internationalen Journalisten geht das Regime des Präsi-
denten Alijew härter denn je gegen Oppositionelle vor.
Im Zuge der Vorbereitung für den Wettbewerb ging die
Regierung unter anderem auch resolut gegen Haus-
eigentümer vor, Zwangsenteignungen wurden vorge-
nommen und Menschen aus ihren Häusern getrieben.
Immer härtere Bandagen werden gegenüber der opposi-
tionellen Presse angelegt. Die bekannte kritische Jour-
nalistin Khadija Ismailowa sah sich sogar einer
Schmierkampagne ausgesetzt, weil sie wiederholt über
Korruption in großem Stil in Aserbaidschan geschrieben
hat. In jedem der größeren Korruptionsfälle war eine
Beteiligung des Präsidenten Alijew und seiner Familie
auszumachen. Investigativer Journalismus kann in Aser-
baidschan tödlich oder im Gefängnis enden. Auf der
Rangliste der Pressefreiheit 2011 liegt das Land derzeit
auf Platz 162 von insgesamt 178 betrachteten Ländern.
Von einer Verbesserung im Jahr 2012 ist kaum auszuge-
hen. Aus unserer Sicht ist es wichtig, die wenigen un-
abhängigen Nichtregierungsorganisationen zu unter-
stützen. In diesem Zusammenhang sollte auch darüber
nachgedacht werden, den aus politischen Gründen
zwangsweise exmatrikulierten Studentinnen und Studen-
ten schnell und unbürokratisch einen Studienplatz in
Deutschland oder in der Europäischen Union anzubie-
ten. Ein ähnliches Verfahren ist bislang schon mit
Zwangsexmatrikulierten aus Belarus üblich. Schutz für

politische Oppositionelle sollte ebenso einen Vorrang in
der Zusammenarbeit mit Aserbaidschan haben. Bei mei-
nem letzten Besuch hörte ich von Oppositionspolitikern,
wie insbesondere der Druck auf die eigene Familie
wächst. Viele sind diesem nicht gewachsen und haben
häufig den Wunsch, für eine bestimmte Zeit das Land zu
verlassen.

Ein besonders unschönes Beispiel für die Abschaf-
fung der Pressefreiheit ist der staatlich gesteuerte Bank-
rott der beiden Oppositionszeitungen „Azadliq“ und
„Müsavat“. Mit einem sogenannten Stadtverschöne-
rungsprogramm in Baku sorgt die Stadtverwaltung da-
für, dass die alten bisherigen Zeitungskioske abgerissen
werden und an gleicher Stelle neue Verkaufsstände ent-
stehen. Die Krux besteht jedoch nun darin, dass der
Eigentümer der neuen Kioske – ein enger Freund des
Präsidenten – den Pächtern „empfohlen“ hat, die bei-
den einzigen Oppositionszeitungen nicht mehr in das
Programm aufzunehmen. Damit bricht diesen faktisch
ihre gesamte wirtschaftliche Grundlage weg. Sie können
bereits jetzt ihre ausstehenden Schulden nicht beglei-
chen und müssen Redakteure entlassen. An Werbung und
Anzeigen von Unternehmen ist nicht zu denken, denn seit
langem werden aus Angst vor staatlichem Druck keine
kommerziellen Anzeigen mehr in Oppositionszeitungen
geschaltet. Wenn der Straßenverkauf tatsächlich weg-
bricht, ist auch die letzte wirtschaftliche Grundlage ver-
loren. Mit diesem Politikstil belastet Aserbaidschan die
bilateralen Beziehungen, die auch besonders zur Lösung
des sich verschärfenden Konflikts um Berg-Karabach
von Bedeutung sind.

Ich möchte hier nicht lange auf den in Ungarn verur-
teilten Mörder eingehen, der überstellt nach Aserbai-
dschan trotz eines völkerrechtlichen Vertrags nicht wei-
ter inhaftiert, sondern als Held gefeiert und befördert
wurde. Ein solches Verhalten Aserbaidschans ist aus un-
serer Sicht vollkommen inakzeptabel.

In diesem Zusammenhang hat sicherlich auch die ar-
menische Seite reagiert, indem sie aus innenpolitischen
Erwägungen umgehend die diplomatischen Beziehun-
gen zu Ungarn abbrach und Teilnehmer aus internatio-
nalen Schulungen abberief. Die Bundesregierung sollte
auch auf die armenische Seite einwirken, ihre ver-
schärfte Kriegsrhetorik zu beenden, die gerade den Ein-
druck erweckt, als habe sie nur darauf gewartet, die Es-
kalation voranzutreiben. Armenien steht nach wie vor in
der Pflicht, seine Truppen aus den besetzten Gebieten
rund um Berg-Karabach abzuziehen. Ein erster Schritt
in diese Richtung könnte einen Großteil des Konflikt-
staus lösen. Stattdessen wird aber der Nationalismus
auch von den moderaten Politikern in Armenien weiter
befeuert. Deshalb muss diesem auf beiden Seiten unbe-
dingt Einhalt geboten werden. Wenn es zu einer Lösung
im Karabach-Konflikt kommen soll, dann sind vor allem
Kompromissfähigkeit und Vertragstreue gefragt.

Die Madrider Prinzipien stellten an dieser Stelle eine
wichtige Etappe dar. Nun muss die OSZE-Minsk-Gruppe
aufpassen, dass die Verhandlungsbereitschaft der betei-
ligten Staaten nicht gänzlich versiegt. Derzeit laufen alle

Zu Protokoll gegebene Reden





Viola von Cramon-Taubadel


(A) (C)



(D)(B)


internationalen Bemühungen ins Leere, weil die Kon-
fliktparteien kein echtes Interesse an einer Kooperation
haben, sie gefangen sind in ihrer jahrelangen Kriegsrhe-
torik und jegliche Kompromisse als innenpolitische
Schwäche ausgelegt werden. Das einzige Mittel, das
langfristig helfen wird, sind die Step-step-Maßnahmen
der zivilen Konfliktlösung. Wir fordern daher die Bun-
desregierung auf, diese Maßnahmen im Südkaukasus si-
gnifikant zu erhöhen.

Auch im Bundestag können wir mit unserem IPS-Pro-
gramm einen kleinen Beitrag zur Weiterentwicklung ei-
ner demokratischen Kultur leisten. Ich habe im Oktober
jeweils fünf hochqualifizierte und motivierte junge Men-
schen aus Georgien und Aserbaidschan für das Prakti-
kum im Bundestag ausgewählt. Herr Börnsen wählte
drei Stipendiaten aus Armenien aus. Lassen wir diese
jungen Menschen im nächsten Jahr teilhaben an unseren
Entscheidungsprozessen, die sie zu Multiplikatoren für
Offenheit und Kompromissfähigkeit in beiden Staaten
werden lassen können.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1719840400

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für

Menschenrechte und Humanitäre Hilfe empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8681, den
Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/7645
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen, der SPD-Fraktion und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke angenommen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss der heutigen Tagesordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 19. Oktober 2012,
9 Uhr, ein.

Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen noch
einen schönen Abend.