Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichbegrüße Sie alle herzlich.Vor Eintritt in die Tagesordnung müssen wir nocheine Wahl zum Stiftungsrat der Stiftung Flucht, Ver-treibung, Versöhnung durchführen. Der Beauftragteder Bundesregierung für Kultur und Medien hat mitge-teilt, dass das vom Auswärtigen Amt benannte stellver-tretende Mitglied Jutta Frasch ausgeschieden ist undHerr Andreas Meitzner als Nachfolger vorgeschlagenwird. Nach § 19 des entsprechenden Gesetzes müssenauch die von anderen Stellen vorgeschlagenen Mitglie-der des Stiftungsrates vom Deutschen Bundestag bestä-tigt werden. Deshalb frage ich Sie, ob Sie mit diesemVorschlag einverstanden sind. – Das ist offensichtlichder Fall. Dann ist Herr Meitzner damit als stellvertreten-des Mitglied gewählt.Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die ver-bundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktlisteaufgeführten Punkte zu erweitern:ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionender CDU/CSU und FDP:Finanzielle Belastungen der Geringverdiener-haushalte durch die von der rot-grünen Bun-desregierung beschlossenen Ökostromsubven-tionen
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten UweSchummer, Albert Rupprecht , MichaelKretschmer, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Heiner Kamp,Dr. Martin Neumann , Sylvia Canel,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDPDas deutsche Berufsbildungssytem – Versiche-rung gegen Jugendarbeitslosigkeit und Fach-kräftemangel– Drucksache 17/10986 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union HaushaltsausschussZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-fahrenErgänzung zu TOP 40a) Beratung des Antrags der Abgeordneten ClaudiaRoth , Tom Koenigs, Hans-ChristianStröbele, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENNS-Vergangenheit von Bundesministerien undBehörden systematisch aufarbeiten – Be-standsaufnahme zur Forschung erstellen – Er-innerungsarbeit koordinieren– Drucksache 17/10068 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss Ausschuss für Kultur und Medien Rechtsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfeb) Beratung des Antrags der Abgeordneten MarkusKurth, Beate Müller-Gemmeke, Britta Haßelmann,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENFür eine angemessene Praxis bei Anträgen aufKindergeldabzweigung durch die Sozialhilfe-träger– Drucksache 17/10863 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugendc) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Günter Krings, Michael Kretschmer,Dr. Hans-Peter Uhl, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. h. c. Wolfgang Thierse,Siegmund Ehrmann, Angelika Krüger-Leißner, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
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sowie der Abgeordneten Dr. Stefan Ruppert,Patrick Kurth , Gisela Piltz, weitererAbgeordneter und der Fraktion der FDPWissenschafts- und Forschungsfreiheit stär-ken, Rahmenbedingungen verbessern – DieAufarbeitung der Geschichte der wichtigstenstaatlichen Institutionen in Bezug auf die NS-Vergangenheit durch besseren Aktenzugangunterstützen und Bestandsaufnahmen zurAufarbeitung der frühen Geschichte der Bun-desministerien und -behörden sowie der ver-gleichbaren DDR-Institutionen beauftragen– Drucksache 17/11001 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für Kultur und Mediend) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Marlies Volkmer, Dr. Karl Lauterbach, ElkeFerner, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder SPDPatientenrechte wirksam verbessern– Drucksache 17/11008 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutze) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Kerstin Andreae,Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENBeitragssätze nachhaltig stabilisieren, Er-werbsminderungsrente verbessern, Reha-Bud-get angemessen ausgestalten– Drucksache 17/11010 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend HaushaltsausschussZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus-spracheErgänzung zu TOP 41a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszu dem Abkommen vom 29. Juni 2012 zwi-schen der Bundesrepublik Deutschland unddem Globalen Treuhandfonds für Nutzpflan-zenvielfalt über den Sitz des Globalen Treu-handfonds für Nutzpflanzenvielfalt– Drucksache 17/10756 –Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärti-gen Ausschusses
– Drucksache 17/11035 –Berichterstattung:Abgeordnete Peter BeyerDr. Rolf MützenichMarina SchusterWolfgang GehrckeKerstin Müller
b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPDund BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENPortugal unterstützen und Parlamentsrechtewahrenhier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta-ges nach Artikel 23 des Grundgesetzes i. V. m.§ 9 des Gesetzes über die Zusammenarbeit vonBundesregierung und Deutschem Bundestagin Angelegenheiten der Europäischen Union– Drucksache 17/11009 –ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:Integrität parlamentarischer Entscheidungendurch mehr Transparenz und klare Regeln ge-währleisten – Nebentätigkeiten, Karenzzeit fürRegierungsmitglieder, Abgeordnetenbestechungund ParteiengesetzZP 6 a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines AchtenGesetzes zur Änderung des Gesetzes gegenWettbewerbsbeschränkungen
– Drucksache 17/9852 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
– Drucksache 17/11053 –Berichterstattung:Abgeordneter Ingo Egloffb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-nologie zu dem Antrag der Abge-ordneten Kerstin Andreae, Dr. Tobias Lindner,Nicole Maisch, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENVerbraucherschutz und Nachhaltigkeit imWettbewerbsrecht verankern– Drucksachen 17/9956, 17/11053 –Berichterstattung:Abgeordneter Ingo Egloffc) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-nologie zu dem Antrag der Fraktio-nen der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENPresse-Grosso gesetzlich verankern– Drucksachen 17/8923, 17/9989 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Georg Nüßlein
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d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Kultur und Medien
zu dem Antrag der Fraktionen
der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENInstrumente zur Förderung der Medienvielfaltauf solide Datenbasis stellen– Drucksachen 17/9155, 17/11058 –Berichterstattung:Abgeordnete Reinhard GrindelMartin DörmannBurkhardt Müller-SönksenKathrin Senger-SchäferTabea Rößnere) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Kultur und Medien
zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Martin Dörmann, Siegmund Ehrmann, PetraErnstberger, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der SPDFreiheit und Unabhängigkeit der Mediensichern – Vielfalt der Medienlandschaft erhal-ten und Qualität im Journalismus stärken– Drucksachen 17/10787, 17/11045, 17/11082 –Berichterstattung:Abgeordnete Reinhard GrindelMartin DörmannBurkhardt Müller-SönksenKathrin Senger-SchäferTabea RößnerZP 7 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten UlrikeGottschalck, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der SPDNeue Impulse für die Förderung des Radver-kehrs setzen – Den Nationalen Radverkehrs-plan 2020 überarbeiten– Drucksache 17/11000 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Innenausschuss Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschussb) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierungNationaler Radverkehrsplan 2020 – Den Rad-verkehr gemeinsam weiterentwickeln– Drucksache 17/10681 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für TourismusZP 8 Beratung des Antrags der Fraktion der SPDGemeinsam die Modernisierung Russlandsvoranbringen – Rückschläge überwinden –Neue Impulse für die Partnerschaft setzen– Drucksache 17/11005 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieVerteidigungsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionAußerdem werden die Tagesordnungspunkte 37 und41 d abgesetzt. Von der Frist für den Beginn der Bera-tungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.Darüber hinaus kommt es zu den in der Zusatzpunktlistedargestellten Änderungen im Ablauf unserer Tagesord-nung.Schließlich mache ich noch auf mehrere nachträgli-che Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatz-punktliste aufmerksam:Der am 28. Juni 2012 überwiesenenachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Aus-schuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-schätzung zur Mitberatung überwie-sen werden:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Jahressteuergesetzes2013– Drucksache 17/10000 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GODer am 27. September 2012 überwie-sene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich demAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-cherschutz zur Mitberatung überwie-sen werden:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Novel-lierung patentrechtlicher Vorschriften undanderer Gesetze des gewerblichen Rechts-schutzes– Drucksache 17/10308 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzDer am 28. September 2012 überwie-sene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem
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Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzung zur Mitberatung überwie-sen werden:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zurÄnderung des Tierschutzgesetzes– Drucksache 17/10572 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz Rechtsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungDer am 27. September 2012 überwie-sene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich demAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-cherschutz zur Mitberatung überwie-sen werden:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zurNeuregelung energiewirtschaftsrechtlicher Vor-schriften– Drucksache 17/10754 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitDer am 27. September 2012 überwie-sene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich demInnenausschuss zur Mitberatung über-wiesen werden:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Vor-schlag für eine Verordnung des Rates über dieErweiterung des Geltungsbereichs der Verord-nung Nummer 1214/2011 des Europäi-schen Parlaments und des Rates über dengewerbsmäßigen grenzüberschreitenden Stra-ßentransport von Euro-Bargeld zwischen Mit-gliedstaaten des Euro-Raums– Drucksache 17/10759 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungDer am 27. September 2012 überwie-sene nachfolgende Gesetzentwurf soll dem Haushalts-ausschuss zusätzlich gemäß § 96 derGeschäftsordnung überwiesen werden:Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-setzes zu Änderungen im Bereich der gering-fügigen Beschäftigung– Drucksache 17/10773 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GODer am 27. September 2012 überwie-sene nachfolgende Gesetzentwurf soll dem Haushaltsaus-schuss nun nicht mehr zur Mitberatung,jedoch zusätzlich gemäß § 96 der Geschäftsordnungüberwiesen werden:Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Änderung und Vereinfachungder Unternehmensbesteuerung und des steuer-lichen Reisekostenrechts– Drucksache 17/10774 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieHaushaltsausschuss gemäß § 96 GOEinwände höre ich nicht. Dann ist das so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:Abgabe einer Regierungserklärung durch dieBundeskanzlerinzum Europäischen Rat am 18./19. Oktober2012 in BrüsselHierzu liegt ein Entschließungsantrag der SPD-Frak-tion vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-rung Eindreiviertelstunden vorgesehen. – Auch dazudarf ich Ihr Einvernehmen feststellen. Dann ist das sobeschlossen.Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hatdie Bundeskanzlerin Frau Dr. Angela Merkel.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Inmitten der schwerstenKrise seit Verabschiedung der Römischen Verträge vor55 Jahren, inmitten der größten Bewährungsprobe, diewir Europäer seither zu bestehen hatten, genau in dieserZeit wird am letzten Freitag in der Hauptstadt eineseuropäischen Landes, das selbst kein Mitglied der Euro-päischen Union ist, einer der bedeutendsten Preise derWelt an die Europäische Union vergeben.Wenig, wie ich finde, macht die Dramatik der gegen-wärtigen Lage Europas mit einem Schlag so deutlich wiedie Verleihung des Friedensnobelpreises 2012 an dieEuropäische Union.
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Wenig zwingt uns so sehr, uns die Größe der Aufgabeunserer politischen Generation bewusst zu machen, wiediese Entscheidung in Oslo am letzten Freitag. Ich finde,dies ist eine wunderbare Entscheidung,
und zwar deshalb, weil das Nobelpreiskomitee den Frie-densnobelpreis gerade nicht in den Jahren europäischerTriumphe und Glücksmomente – zum Beispiel 1990nach dem Fall des Eisernen Vorhangs oder 2004 nachder Osterweiterung der Europäischen Union –, sondernjetzt verliehen hat.In der Zeit der Krise ist diese Entscheidung weit mehrals nur eine Würdigung. Sie ist weit mehr als eine Erin-nerung an den Ausgangspunkt der europäischen Eini-gungsidee nach Jahrhunderten des Mordens undSterbens auf europäischen Schlachtfeldern. Diese Ent-scheidung ist so bedeutend, weil sie genau jetzt kommt.Denn damit ist sie als Mahnung zu verstehen. Mehrnoch, sie ist Ansporn und Verpflichtung, und zwar füruns alle in Europa, das Wichtige vom Unwichtigen zutrennen und den Kern der Bewährungsprobe, in der wiruns ja nun sichtbarerweise befinden, immer wieder zusehen.Dieser Kern unserer Bewährungsprobe kann in einemeinfachen Satz ausgedrückt werden: Der Euro, um des-sen Stärke wir mit vielen Instrumenten und Maßnahmengerade ringen, ist weit mehr als eine Währung,
der Euro steht symbolhaft für die wirtschaftliche, sozialeund politische Einigung Europas – mit großer Wirkungweit über Europa hinaus.Das ist der Grund, warum die Überwindung der Kriseim Euro-Raum seit nunmehr bald drei Jahren die Agendaaller G-8-Treffen, aller G-20-Treffen und fast aller Euro-päischen Räte der Staats- und Regierungschefs be-stimmt. Wir haben seit Anfang 2010 allein zehn Räte ge-habt. Auch heute und morgen, beim elften EuropäischenRat der Staats- und Regierungschefs, wird das nicht an-ders sein.Es kann gar nicht oft genug gesagt werden: Die Pro-bleme, mit denen wir uns beschäftigen, die Probleme,mit denen wir zu kämpfen haben, sind nicht über Nachtentstanden. Deshalb können sie auch nicht über Nachtgelöst werden. Sie sind auf eine mangelnde Wettbe-werbsfähigkeit, sie sind auf die Überschuldung einzelnerMitgliedstaaten
sowie auch auf Gründungsfehler des Euro zurückzufüh-ren.Wir begeben uns bei der Lösung dieser Probleme aufNeuland. Es gab und es gibt nicht die Lösung, den einenBefreiungsschlag, womit die Krise auf einen Schlag ausder Welt geschafft worden wäre. Auch der Gipfel heuteund morgen wird nicht der letzte sein, der sich mit derÜberwindung der Krise im Euro-Raum befasst. Es wer-den weitere folgen; denn die Stärkung des Euro ist einProzess aufeinanderfolgender Schritte und Maßnahmen.Manches ist bereits geschafft. In diesen drei Jahren derKrise haben wir im Übrigen weit mehr geschafft als invielen Jahren vorher in Europa.Wir können die Konturen einer Stabilitätsunion be-reits deutlich erkennen.
Viele Mitgliedstaaten unterziehen sich harten Reformenund Anpassungsprogrammen, um ihre spezifischen Pro-bleme – das sind Staats- und Auslandsverschuldung,Bankenkrisen, Verlust an Wettbewerbsfähigkeit – in denGriff zu bekommen.Dies gilt auch für Griechenland. Davon konnte ichmich bei meinem Besuch in Athen in der letzten Wochepersönlich überzeugen. Der griechische Ministerpräsi-dent Samaras wird uns auf dem Rat einen Zwischenbe-richt über den Stand seiner Verhandlungen mit derTroika geben.Es besteht überhaupt kein Zweifel: Die Lage in Grie-chenland ist alles andere als einfach. Vieles geht zu lang-sam. Maßnahmen, die längst hätten umgesetzt werdenmüssen, sind immer noch in Arbeit. Die Rezession istweit stärker als erwartet. Strukturelle Veränderungenwerden oftmals nur im Schneckentempo durchgeführt.Die Verwaltung arbeitet an vielen Stellen unzureichend,und Betrug und Korruption sind immer noch nicht voll-ständig eingedämmt.
Ich kann gut verstehen, warum die große Mehrheitder griechischen Bürger wütend darauf reagiert, dasswohlhabende Griechen ihren Beitrag zur Lösung derProbleme ihres Landes nicht leisten wollen. Angesichtsdessen ist es menschlich absolut nachvollziehbar, warumsich so viele Griechen schwer damit tun, einzusehen,dass die größte Zahl der Probleme zu Hause entstandenist und deshalb auch nur zu Hause gelöst werden kann.
Doch, liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist nur dieeine Seite der Medaille. Ich habe bei meinem Besuchauch die andere Seite der Medaille gesehen. In Athen, inder griechischen Regierung, bei vielen in Wirtschaft undGesellschaft erlebe ich einen ernsten Willen zur Verän-derung, den Willen, die eigenen Hausaufgaben zu ma-chen, um so das Land in eine bessere Zukunft zu führenund Mitglied des Euro-Raums bleiben zu können.Ich möchte exemplarisch unseren Kollegen Hans-Joachim Fuchtel nennen, der als deutscher Verantwortli-cher für die Deutsch-Griechische Versammlung zusam-men mit vielen Griechen und vielen Deutschen einen un-ermüdlichen Beitrag leistet,
um das Gemeinwesen auch von unten wieder aufzu-bauen. Das ist der Weg, den wir natürlich parallel gehenmüssen. Ich möchte deshalb Danke sagen. Er heißt inGriechenland – das hat er mir gesagt – „Fuchtelos“.
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Ich finde, das ist ein schöner Name für seine Arbeit.
Meine Damen und Herren, weil es so ist – wir kennendie eine Seite der Medaille, und wir kennen die andereSeite der Medaille –, kann und werde ich dem Berichtder Troika hier und heute nicht vorgreifen. Aber ich wie-derhole, was ich bereits an anderer Stelle, beim Besuchdes griechischen Ministerpräsidenten genauso wie beimeinem Besuch in Athen, gesagt habe: Ich wünsche mir,dass Griechenland im Euro-Raum bleibt. Ich wünschemir das nicht nur, weil Griechenland unser Freund undPartner in der Europäischen Union wie auch in derNATO ist, sondern auch, weil dies immer noch, trotz al-ler Schwierigkeiten, im Interesse Griechenlands selbstwie auch der Euro-Zone und der Europäischen Union alsGanzes ist. Das ist die Haltung, mit der ich, mit der dieBundesregierung, mit der wir den Bericht der Troika ab-warten sollten; wir sollten nicht vorher richten, sondernuns die Ergebnisse anschauen.
Griechenland muss die verabredeten Maßnahmen, zudenen das Land sich verpflichtet hat, einhalten. In mei-nen Gesprächen mit Ministerpräsident Samaras in Athenund erneut gestern am Rande des EVP-Gipfels in Buka-rest habe ich den ernsthaften Willen gespürt, das zuschaffen und damit den Verpflichtungen nachzukom-men. Sobald der Troika-Bericht vorliegt, werden dieEntscheidungen über eine Auszahlung der nächstenTranche hier im Deutschen Bundestag zu treffen sein,nirgendwo anders, und das werden wir gemeinsam dis-kutieren.Auf dem Rat wird uns auch der spanische Minister-präsident Rajoy über die Situation in seinem Land unter-richten. Der Bericht über die Rekapitalisierung der Ban-ken – das haben wir verfolgt – liegt inzwischen vor. Obund inwieweit Spanien darüber hinaus Hilfe aus demESM benötigt, ist allein – ich habe das in allen Gesprä-chen mit dem spanischen Ministerpräsidenten immerwieder deutlich gemacht – die Entscheidung Spaniens.Die Bedingungen für Hilfsanträge sind durch die Richtli-nien des ESM völlig klar vorgegeben; sie sind inzwi-schen auch vom Deutschen Bundestag verabschiedetworden.Meine Damen und Herren, wir wissen, dass den Men-schen in Spanien, in Griechenland und in den anderenbetroffenen Mitgliedstaaten außerordentlich viel abver-langt wird. Die sehr harten Reformmaßnahmen bedeutennatürlich viele Einschnitte für viele Bürgerinnen undBürger in diesen Ländern. Aber wir sehen auch, dass esErgebnisse gibt: In Irland, in Portugal, in Spanien, abereben auch in Griechenland sind die Lohnstückkostendeutlich gesunken. Dies ist ein wichtiger Faktor für dieVerbesserung der Wettbewerbsfähigkeit. Wir sehen dasim Übrigen auch bei allen Ländern an der Industriepro-duktion, die zum Teil wieder zu wachsen beginnt. Defi-zite in den Leistungsbilanzen gehen zurück, auch Defi-zite im Haushalt. Man kann sagen, dass sich dieseLänder in vielen Faktoren in die richtige Richtung bewe-gen. Aber dieser Reformweg ist natürlich noch langenicht beendet, und er muss weiter gegangen werden. Dasheißt, wir können sagen: Es ist ein Anfang gemacht. Wirdürfen nicht auf halbem Wege stehen bleiben. Weilnachhaltige Konsolidierung und Wachstum einander be-dingen, deshalb muss beides gleichermaßen verfolgtwerden.An dieser Stelle möchte ich noch einmal sagen: Na-türlich wissen wir, dass wieder Wachstum entstehen soll.Natürlich wissen wir, dass Wachstum kein Selbstzweckist, sondern dass es um Beschäftigung in diesen Länderngeht.
Natürlich wissen wir, dass rund 50 Prozent der jungenMenschen in Spanien, in Griechenland und auch in an-deren Ländern – das ist ein sehr hoher Prozentsatz –heute arbeitslos sind. Aber wir wissen doch aus eigenerErfahrung, dass nur durch Reformen am Arbeitsmarkt,durch Strukturreformen und solide Haushalte überhauptwieder Beschäftigung entstehen kann. Das ist doch keinMysterium. Wachstum entsteht aus unternehmerischerTätigkeit, unternehmerische Tätigkeit entsteht aus dernotwendigen Flexibilität, und das müssen wir in Europawieder schaffen, meine Damen und Herren. Da liegt derSchlüssel.
Deshalb haben wir ja auch, parallel zu all den Pro-grammen, die für die Länder ausgearbeitet wurden, undzu all den Vorschlägen, die die Europäische Kommissiongemacht hat, den Pakt für Wachstum und Beschäftigungin der Europäischen Union erarbeitet. Deshalb haben wiruns ja auch in diesem Hause nach langer Diskussion ge-meinsam darauf geeinigt, dass dieser Pakt für Wachstumund Beschäftigung neben dem Fiskalpakt ein wichtigerSchritt ist, um die Probleme der Europäischen Union zulösen.Ich sage auch: Trotz aller Gegensätze, die wir hier indiesem Hause haben: An den entscheidenden Stellen ha-ben wir uns immer wieder zusammengerauft. Ich möchteDanke dafür sagen, dass das möglich ist,
und das nicht, weil die Gegensätze dabei vertuscht wer-den sollen – das ist doch gar nicht der Gegenstand –,sondern weil die große Mehrheit dieses Hauses glückli-cherweise solche Gegensätze für die Sache Europas zu-rückstellt und sagt: Was für Europa gut ist, das machenwir gemeinsam.
Meine Damen und Herren, die Konturen einer Stabili-tätsunion zeichnen sich aber auch deshalb ab, weil wirinzwischen dauerhafte Instrumente der Krisenbewälti-
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gung haben. Schon vor gut zwei Jahren hat sich diechristlich-liberale Koalition dafür eingesetzt,
einen permanenten Krisenbewältigungsmechanismus zuschaffen. Wir haben gewusst, dass 2013 die EFSF aus-läuft, und wir haben uns deshalb rechtzeitig – denn wirwussten, dass dabei schwierige rechtliche Fragen zu klä-ren sind – für einen solchen dauerhaften Rettungsschirmeingesetzt.
Jetzt kann ich sagen: Wir haben ihn heute. Er ist ver-abschiedet. Er ist ein dauerhaftes Instrument zur Bewäl-tigung der Krise. Ich möchte einmal zwei Jahre zurück-denken. Wenn wir damals gefragt hätten: „Wer inEuropa ist denn jetzt dafür?“, dann hätte man gesagt:Das ist nie zu schaffen.Nur weil Deutschland an vielen Stellen vorangegan-gen ist,
sind wir heute in Europa dort, wo wir sind, nämlich dasswir zum Beispiel ein dauerhaftes Krisenbewältigungsin-strument haben.
Wir haben noch etwas von Anfang an gesagt – unddas ist der Maßstab unseres Handelns –: Solidarität aufder einen Seite im Rahmen des ESM geht Hand in Handmit Bedingungen und Auflagen für die jeweiligen Mit-gliedstaaten. Unter dieser Voraussetzung haben wir stetssolidarisch gehandelt und werden das auch in Zukunfttun.Von besonderer Bedeutung für eine zukünftige Stabi-litätsunion ist jedoch ohne Zweifel die Stärkung des Sta-bilitäts- und Wachstumspaktes. Wir haben ihn im ver-gangenen Jahr so ausgestattet, dass Fehlentwicklungenin einzelnen Mitgliedstaaten in Zukunft nicht mehr dieStabilität des Euro als Ganzes gefährden werden. Siekennen das – in Anführungsstrichen, sehr volksnah aus-gedrückt – als „Six-Pack“.Aber das reicht natürlich noch nicht, um die notwen-dige Verbindlichkeit und damit auch neue Glaubwürdig-keit zu schaffen. Meine Damen und Herren, es geht ja imKern immer wieder um Verbindlichkeit und Glaubwür-digkeit. Denn im Kern ist die europäische Staatsschul-denkrise eine Vertrauenskrise, eine Vertrauenskrise desEuro.Deshalb haben wir neben dem ESM auch den Fiskal-vertrag beschlossen. Er verlangt von jedem Mitgliedstaat,eine Schuldenbremse einzuführen, und die Einführungdieser Schuldenbremse kann dann vom Europäischen Ge-richtshof überprüft werden. Zehn Mitgliedstaaten habendiesen Fiskalvertrag bereits ratifiziert – vor wenigen Ta-gen auch Frankreich –, und ich bin deshalb sehr zuver-sichtlich, dass Anfang 2013 dieser Fiskalvertrag in Krafttreten kann. Im Übrigen wird es dann so sein, dass nurderjenige, der diesen Fiskalvertrag ratifiziert hat, auchHilfen aus dem ESM bekommen kann. Da zeigt sich dieVerbindung dieser beiden Maßnahmen.
Wir haben also Instrumente zur Krisenbewältigung.Wir haben Reformen in den einzelnen Mitgliedstaaten.Wir haben den Stabilitäts- und Wachstumspakt gestärkt.Aber, meine Damen und Herren, damit sind die Konstruk-tionsfehler der Wirtschafts- und Währungsunion insge-samt noch längst nicht beseitigt. Wir brauchen mehr. Des-halb haben uns auf dem letzten Rat im Juni diePräsidenten des Europäischen Rates, der EuropäischenKommission, der Euro-Gruppe und der EuropäischenZentralbank Vorschläge für die Fortentwicklung derWirtschafts-und Währungsunion vorgelegt, und inzwi-schen haben genau dazu mit den Mitgliedstaaten Konsul-tationen stattgefunden.Uns leitet dabei ein ehrgeiziges Ziel: Wir wollen be-schließen – und das im Dezember –, wie wir die Wäh-rungsunion weiterentwickeln wollen. Ich sage: DieseWeiterentwicklung ist unverzichtbar, und sie ist Voraus-setzung dafür, Vertrauen und Glaubwürdigkeit im Zu-sammenhang mit der Währungsunion zurückzugewin-nen. Ich sage: Nur so können wir die Vertrauenskriseüberwinden.Heute und morgen, beim Europäischen Rat, wird esnicht darum gehen, konkrete Entscheidungen zu treffen,sondern es muss darum gehen, die Weichen für Dezem-ber zu stellen, Grundlagen für die Entscheidungen zuschaffen, die richtigen Fragen zu stellen und Arbeitsauf-träge zu verteilen, wie wir diese Fragen bis zum Dezem-ber lösen können.Dabei ist für mich klar: Die erneuerte Wirtschafts- undWährungsunion soll von vier starken Säulen getragenwerden: erstens von mehr gemeinsamer Finanzmarkt-politik, zweitens von mehr gemeinsamer Fiskalpolitik,drittens von mehr gemeinsamer Wirtschaftspolitik undviertens von einer gestärkten demokratischen Legitima-tion und Kontrolle.Zum ersten Punkt: mehr gemeinsame Finanzmarkt-politik. Die weltweite Finanzkrise hat uns dramatischvor Augen geführt, dass ein unzureichend regulierterBankenmarkt ganze Staaten an den Rand des Abgrundsführen kann. Um so etwas für die Zukunft zu verhindern,ist eine starke Finanzmarktregulierung sowohl bei uns zuHause als auch in Europa als auch weltweit notwendig.
Wir sind in Europa hier schon Schritt für Schritt voran-gekommen, um die notwendigen Regelungen zu finden.Dies ist für mich heute nicht der Ort, um darüber zusprechen. Aber außerordentlich erfreulich ist – das istein Fortschritt gegenüber Juni –, dass sich endlich elfStaaten bereit erklärt haben, die Finanzmarkttransaktion-steuer einzuführen,
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und das ist eine gute Nachricht, meine Damen und Her-ren; denn viele hier in diesem Hause haben ja dafür ge-kämpft.
Für mehr gemeinsame Finanzmarktpolitik brauchenwir allerdings auch eine gemeinsame Bankenaufsicht,die effizient und unabhängiger von den nationalen Ein-flüssen ist. Dabei soll die Europäische Zentralbank einezentrale Rolle spielen. Die Europäische Kommission hatuns zu dieser Bankenaufsicht im September einen Vor-schlag vorgelegt. Er wird nun beraten. Wir setzen unsdafür ein, die Arbeiten auf dieser Grundlage zügig vo-ranzutreiben. Das ist vor allen Dingen auch eine Auf-gabe der Finanzminister. Allerdings sage ich an dieserStelle: Qualität muss vor Schnelligkeit gehen; dennwenn wir zum Schluss etwas haben, das wieder nichtbesser ist als alle schon bestehenden Aufsichtsgremien,dann können wir uns die Arbeit sparen. Darauf werdenwir in den Beratungen dringen.
Wir haben vereinbart, dass die Vorschläge der Kom-mission bis Ende des Jahres geprüft werden sollen. DieFinanzminister arbeiten, wie ich schon sagte, mit Hoch-druck. Dann muss sich das Europäische Parlament mitdem Entwurf befassen. Der Präsident des EuropäischenParlaments hat selbst gesagt: Das Europäische Parlamentwird es in diesem Jahr nicht mehr schaffen, dazu ab-schließende Beschlüsse zu fassen.Ich sage Ihnen nur: Es gibt eine Vielzahl komplizier-ter rechtlicher Fragen. Damit mache ich das Thema nichtschwieriger, als es ist. Fragen Sie einmal Länder, dienicht zur Euro-Zone gehören, die aber gemeinsam mitLändern, die zur Euro-Zone gehören, Banken haben, wiebei einer Verantwortlichkeit der EZB die Bankenaufsichtgeregelt werden soll. Fragen Sie bitte, wie man die geld-politische Verantwortung der EZB genau trennt von derAufsichtsverantwortung. Diese Fragen müssen gut ge-löst werden. Deutschland wird sich dort mit allem Elaneinbringen; das ist nicht unser Problem. Aber das Ergeb-nis muss so sein, dass die Glaubwürdigkeit dadurch ver-bessert wird und wir hinterher nicht noch schlechter da-stehen als heute.
Die Einrichtung eines wirksamen Aufsichtsmechanis-mus ist dann die Voraussetzung für eine spätere Ent-scheidung über eine direkte Bankenrekapitalisierungdurch den ESM. Ich will es hier ganz deutlich sagen: Derbloße Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens für eineBankenaufsicht reicht nicht aus, sondern diese Banken-aufsicht muss arbeitsfähig sein, sie muss effektiv han-deln können. Denn hier reden wir darüber, dass der ESMeines Tages Banken rekapitalisiert in Ländern, in die wirdann eingreifen müssen
und wozu wir Beschlüsse fassen müssen. Das ist derPunkt. Deshalb ist das eine komplizierte, aber leistbareAufgabe, der wir uns mit ganzem Elan verschreiben.Meine Damen und Herren, damit kommen wir zurzweiten Säule einer erneuerten Wirtschafts- und Wäh-rungsunion: Das ist mehr gemeinsame Fiskalpolitik. Beider Stärkung der Haushaltsdisziplin sind wir zuletzt mitdem Fiskalvertrag durchaus ein gutes Stück vorange-kommen. Aber wir sind der Meinung – das sage ich fürdie ganze Bundesregierung –: Wir könnten hier sehr gutein Stück weiter gehen, indem wir der europäischenEbene echte Durchgriffsrechte gegenüber den nationalenHaushalten gewähren, dort, wo die vereinbarten Grenz-werte des Stabilitäts- und Wachstumspaktes nicht einge-halten werden. Ich weiß: Die Bereitschaft hierzu zeigenviele Mitgliedstaaten noch nicht. Aber ich sage auch: lei-der.Das ändert jedoch nichts daran, dass wir uns weiterdafür starkmachen werden. Genau in dem Moment, indem wir einen solchen Mechanismus hätten, dass einHaushalt für ungültig erklärt werden könnte und diesauch vom Europäischen Gerichtshof überprüft werdenkönnte, wären wir an dem Punkt, dass wir natürlich inder Kommission jemanden brauchen, der dazu die Auto-rität hat und dies tun kann. Das wäre in diesem Fall derWährungskommissar. Ich bin schon verwundert: Kaumhat jemand einen fortschrittlichen Vorschlag gemacht,eine Idee gegeben, wie wir mehr Verbindlichkeit, mehrGlaubwürdigkeit bekommen können, kommt sofort dasGeschrei: Das geht nicht, Deutschland ist isoliert, wirwerden das nie schaffen. So bauen wir kein glaubwürdi-ges Europa. Wir sollten nicht alle Vorschläge sofort vomTisch wischen.
Statt dass wir uns überlegen, wie wir mehr Verbind-lichkeit und mehr Glaubwürdigkeit bekommen können,erleben wir eine permanente Diskussion, wie wir mehrgemeinsame Haftung für Staatsschulden bekommenkönnen. Auch der Zwischenbericht der vier Präsidentenenthält diese Elemente wieder. Ich sage: Ich halte das füreinen ökonomischen Irrweg.
Denn wir setzen so nicht die richtigen Anreize, um unsin die richtige Richtung zu entwickeln.Jetzt überlegen wir einfach einmal: Wo läge eigent-lich die demokratische Legitimation, wenn wir uns füreine gemeinsame Haftung in Europa entscheiden wür-den? Der wesentliche Kern der Haushaltsverantwortung– das wird auf lange Zeit so bleiben – sind die Budgetsder nationalen Staaten.
Solange das so ist, müsste beispielsweise die französi-sche Nationalversammlung über die deutsche Staatsver-schuldung mitbestimmen, ebenso wie der Bundestagüber die französische, die italienische oder die spani-sche.
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Schon dieses Beispiel zeigt doch, dass es faktisch un-möglich ist, in diesem Bereich als Erstes die Haftung zuvergemeinschaften und weiter nationale Budgets zu ha-ben. Das wird nicht funktionieren. Das ist nicht die Sta-tik, die wir brauchen. Deshalb lehnen wir das ab.
Wir brauchen aber – das ist die dritte Säule – mehr ge-meinsame Wirtschaftspolitik. Der frühere Kommissions-präsident Jacques Delors hat bereits 1989, als es um dieEinführung der Wirtschafts- und Währungsunion ging,einen Bericht vorgelegt. Darin heißt es sehr weitsichtig– ich zitiere –:Eine gemeinsame Währung erfordert ein hohesMaß an Übereinstimmung in den Wirtschaftspoliti-ken sowie einer Reihe anderer Politikfelder, vor al-lem in der Fiskalpolitik.Die europäische Staatsschuldenkrise um den Euro zeigt,wie scharfsichtig und richtig die Analyse Jacques Delors’war.Die Krise zeigt uns, dass Fehlentwicklungen in ein-zelnen Mitgliedstaaten tatsächlich den gesamten Euro inBedrängnis bringen können. Deshalb müssen wir unsganz im Sinne von Jacques Delors jetzt um die Politik-felder kümmern, in denen wir ein hohes Maß an Über-einstimmung brauchen. Diese Felder sollten wir bis zumDezember identifizieren, um dann zu sagen: Wenn wirhier nicht mehr Übereinstimmung bekommen, dann wer-den wir auch in Zukunft ein Problem haben.Wo wird denn eine stärkere wirtschaftspolitische Ko-ordinierung notwendig sein? Sie wird ganz wesentlichdort notwendig sein, wo Kernbereiche nationaler Souve-ränität berührt sind: in der Arbeitsmarktpolitik, in derSteuerpolitik, also in vielen Fragen, die in der nationalenDiskussion hochsensibel sind. Zu glauben, die einzigeAntwort darauf sei, alle diese Politikfelder jetzt verge-meinschaften zu müssen – das wäre die klassische euro-päische Integrationslogik –, das, glaube ich, führt uns indie Irre.
Natürlich können wir über Mindeststandards bei Steu-ern reden; wir reden darüber seit 10, 15 Jahren. Dazukann ich nur sagen: Wenn wir so vorgehen, dann werdenwir nicht den Euro retten, dann werden wir nicht die Sta-bilität unserer gesamten Kooperation verbessern, son-dern dann werden wir mit einigen Ländern noch in Jah-ren und Jahrzehnten darüber reden, wie wir es denn nunhalten.Deshalb schlagen wir einen anderen Weg vor. Wirbrauchen Lösungen, die einen sinnvollen Ausgleich her-stellen zwischen notwendigen Eingriffsrechten der euro-päischen Ebene, um Fehlverhalten und Regelverstößeimmer wieder zu korrigieren, und dem Selbstbestim-mungsrecht und Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaa-ten und ihrer Parlamente. Wir brauchen auch Lösungen,die zu verbindlichen und durchsetzbaren Reformver-pflichtungen der Mitgliedstaaten führen, ohne dass na-tionale Kompetenzen, das Subsidiaritätsprinzip oder de-mokratische Verfahren untergraben werden.Deshalb stellen wir uns vor, dass die Mitgliedstaatenzu diesem Zweck verbindliche Reformvereinbarungenmit der europäischen Ebene schließen, denen dann diejeweiligen nationalen Parlamente zustimmen. Dann istsozusagen die demokratische Legitimierung gegeben,dass ein Nationalstaat sich verpflichtet, bestimmte Dingeumzusetzen. Um dann allen Mitgliedstaaten auch dieMöglichkeit zu geben, zur Verbesserung ihrer Wettbe-werbsfähigkeit wirklich in der Lage zu sein, diese Ver-pflichtungen umzusetzen, schlage ich vor, dass wir einneues Element der Solidarität einführen, einen Fonds,aus dem zeitlich befristet projektbezogen, also nicht un-bestimmt, sondern ganz projektbezogen Gelder in An-spruch genommen werden können.
Denn nicht alle Länder werden gleichzeitig ihre Haus-haltskonsolidierung und die notwendigen Investitionenin Zukunftsaufgaben schaffen.
Ich sage: Ja, wir brauchen Solidarität. Aber wir brau-chen eine Form der Solidarität, die uns auch wirklich zudem führt, was wir brauchen, nämlich mehr Wettbe-werbsfähigkeit, mehr Angleichung der Wettbewerbsfä-higkeit der Mitgliedstaaten.
Meine Damen und Herren, wir haben doch gesehen,dass nicht konditionierte Finanzzahlungen, wie sie beiden Strukturfonds, wie sie bei den Kohäsionsfonds vielzu sehr vorgekommen sind, nicht nur nicht geholfen ha-ben, sondern in den Ländern zum Teil Fehlentwicklun-gen weiter unterstützt haben. Daraus müssen wir dierichtigen Lehren ziehen.
Deshalb ist gemeinsame Haftung die falsche Antwort.Wir brauchen vielmehr eine dezidierte Solidarität.
Ich will ganz deutlich sagen, dass ein solcher Fondszum Beispiel gespeist werden könnte von den Einnah-men aus der Finanztransaktionsteuer.
– Natürlich! – Das würde vielleicht sogar dazu führen,dass noch mehr Euro-Mitgliedstaaten eine Finanztrans-aktionsteuer einführen.
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Meine Damen und Herren, darüber, wie die Gelderausgegeben werden, wird natürlich auf der Grundlageder mit den Mitgliedstaaten vereinbarten Verträge dieKommission zusammen mit dem Rat und dem Europäi-schen Parlament – das ist doch ganz klar – wachen, wiedas auch bei anderen Zahlungen im europäischen Rah-men der Fall ist.Dies soll kein Closed Shop sein – das haben wirschon nicht beim Fiskalvertrag gemacht –, sondern wirsagen ausdrücklich: Alle Länder, die vielleicht morgenoder übermorgen im Euro sein wollen, können sich andiesem Fonds beteiligen, wenn sie gleichzeitig bereitsind, mit der Kommission bindende Vereinbarungen ab-zuschließen über die Verbesserung ihrer Wettbewerbsfä-higkeit.Des Weiteren geht es viertens um die Frage der demo-kratischen Legitimation, die von allergrößer Bedeutungist. Ich habe mehrmals gesagt, dass wir zur Bewältigungdieser Krise mehr Zusammenarbeit in Europa brauchen,also mehr statt weniger Europa. Aus meiner Sicht führtder Weg zu einer erneuerten Wirtschafts- und Währungs-union, einer Stabilitätsunion, die diesen Namen auchverdient, in einigen Bereichen ganz eindeutig zu einerStärkung der Rolle der Kommission, des Rates und desEuropäischen Parlaments und auch des EuropäischenGerichtshofs.Dies ist im Übrigen auch sehr wichtig für den Zusam-menhalt der Europäischen Union; denn von den 27 Mit-gliedstaaten sind 17 im Euro. Immer wieder kommt dieFrage: Wollt ihr einen Teil ausschließen? Wollt ihr eineZweiklassengesellschaft? Ich sage: Nein, das wollen wirnicht. Aber wenn ein Teil in der verstärkten Zusammen-arbeit – und so etwas ist ja der Euro – spezielle Problemehat, dann können wir doch nicht sagen: Diese Problemelösen wir nicht, weil noch nicht alle dabei sind. – Ausdiesem Grund muss es also mehr demokratische Legiti-mation und Kontrolle geben, und dieses muss Hand inHand mit mehr Integration gehen.Jede Entscheidung – das ist das Prinzip – muss aufder Ebene legitimiert und kontrolliert werden, auf der siegetroffen wird. Das heißt, dort, wo die europäischeEbene gestärkt wird, muss auch das Europäische Parla-ment gestärkt werden. Wo im Kern nationale Kompeten-zen betroffen werden, kann die demokratische Legitima-tion nur über die Parlamente der nationalen Staatengehen, das heißt, dann müssen wir dort entscheiden.Jetzt noch ein Wort zu der Frage: Wie ist das denn,wenn Entscheidungen auf europäischer Ebene zu treffensind, die nur den Euro-Raum betreffen? Da habe ich invielen Gesprächen mit Parlamentariern des Europaparla-ments nicht gehört: Man darf nicht darüber nachdenken,ob dann vielleicht nur die Parlamentarier aus den Euro-Ländern abstimmen. – Es gibt eine ganze Menge von in-teressanten Ideen, wie man Ausschüsse gründen oder be-stimmte Sitzungen durchführen kann, um zu gewährleis-ten, dass nicht diejenigen, die gar nicht Mitglieder desEuro-Raums sind, über Dinge entscheiden, die nur denEuro-Raum betreffen. Darüber müssen wir diskutieren.Da kann man doch nicht immer von Anfang an sagen:Das geht nicht. Das wäre eine Zweiklassengesellschaft.– So kommt Europa nicht weiter. Wir werden uns dieserDiskussion stellen, meine Damen und Herren.
Ziel des heute beginnenden Europäischen Rates ist esalso, den weiteren Prozess so zu strukturieren, dass wirim Dezember dieses Jahres ein Gesamtpaket zur Weiter-entwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion be-schließen können, inklusive eines klaren Zeitplans. Dasgilt für die Euro-Zone; aber selbstverständlich sind, wiebeim Fiskalvertrag, alle eingeladen. Beim Fiskalvertragmachen 25 Mitgliedstaaten mit, obwohl nur 17 im Eurosind.Die nachhaltige Stabilisierung und Fortentwicklungder Wirtschafts- und Währungsunion ist die zentralepolitische Herausforderung unserer Zeit, und sie ist ent-scheidend für die Zukunft der Europäischen Union ins-gesamt. Deshalb möchte ich allen, die mit dazu beitragenund Vorschläge machen, die uns voranbringen, ganzherzlich danken: neben Wolfgang Schäuble ganz beson-ders Guido Westerwelle,
der sich mit einer Reihe von Außenministern über genaudiese Fragen Gedanken gemacht hat.
– Sie murren, weil Ihnen das alles nicht passt. Ich sageIhnen nur: Mit dem Hinweis darauf, was alles nicht geht,und mit den falschen Methoden der Vergangenheit wer-den wir Europa nicht voranbringen. Wir bringen Europanur voran, indem wir aus den Fehlern, die wir in der Ver-gangenheit gemacht haben, lernen. Nur so bringen wirEuropa nach vorne.
Ohne Zweifel: Die Schritte, die wir jetzt gehen müs-sen, um dieses Ziel zu erreichen, werden zu einer neuenQualität in der wirtschaftspolitischen Zusammenarbeit inder Euro-Zone und darüber hinaus führen. Diese neueQualität ist nach unserer Auffassung zwingend notwen-dig. Allerdings – auch das will ich hier ganz offen an-sprechen – wäre es ganz fatal – das spüre ich an einigenStellen schon –, wenn die von mir grundsätzlich be-grüßte Ankündigung der Europäischen Zentralbank, beiklaren Konditionen unbegrenzt am Sekundärmarkt zu in-tervenieren, jetzt dazu führen würde, dass die politischenAnstrengungen in Richtung einer stärkeren Wirtschafts-und Währungsunion aus genau diesen Gründen nachlas-sen. Das wäre genau die falsche Antwort.
Es darf bei allen Instrumenten, die wir zur Eindäm-mung der Krise brauchen und die uns zur Verfügung ste-
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hen, niemals übersehen werden, dass am Ende nicht dieKrisenmaßnahmen die Lösung bringen, sondern nur eineverbindliche politische Architektur. Nur so werden wireinen dauerhaft stabilen Euro bekommen. Dies mussüber den Weg der Erneuerung der Wirtschafts- und Wäh-rungsunion erzielt werden. Nur dann kann das gelingen,was seit Beginn der Krise unser Ziel ist:
Dann kann Europa stärker aus der Krise hervorgehen, alses in die Krise hineingegangen ist, und dann wird Eu-ropa auch in Zukunft im internationalen Wettbewerb be-stehen können.Worum geht es bei dieser europäischen Vertrau-enskrise denn eigentlich? Es geht darum, eine stabile,zukunftsfähige Architektur zu bauen. Aber eigentlichgeht es um die Frage, ob sich Europa mit seinen Wertenund Interessen im globalen Wettbewerb des 21. Jahrhun-derts behaupten kann; das heißt auch, ob Europa seinenWohlstand, seinen Lebensstandard und seine Art, zu le-ben, erhalten kann.
Meine Damen und Herren, dies führt mich zum Aus-gangspunkt meiner Überlegungen zurück: zu der überra-genden Bedeutung, die die Verleihung des Friedensno-belpreises an die Europäische Union für uns in Europahat. Ja, es geht immer auch darum, niemals zu vergessen,dass die Idee der europäischen Einigung eine Friedens-idee war, die Idee, dass die Völker Europas nie wiederKrieg gegeneinander führen, was sie über Jahrhundertegetan haben, mit unglaublichem Blutvergießen und demOpfer vieler Menschenleben. Aber für die heute Jungen,die Europa nur als Hort des Friedens kennen und glückli-cherweise noch nie einen Krieg erlebt haben, geht es da-rum, ob wir in der Lage sind, den Nachweis zu erbrin-gen, dass wir aufbauend auf dem, was wir geerbt haben,eine gute Zukunft gestalten können. Die gute Zukunft istdoch ganz konkret: Können wir für die jungen Menschenin Europa wieder Arbeitsplätze schaffen? Können wir si-cherstellen, dass der Wohlstand auch für die Zukunft ge-sichert ist? Können wir sicherstellen, dass Menschen aufein gutes Gesundheitssystem und auf eine gute Alterssi-cherung vertrauen können? Das alles sind doch dieDinge, die Europa auszeichnen.In diesem Jahr jährt sich die Unterzeichnung der Rö-mischen Verträge – ich habe es am Anfang schon gesagt –zum 55. Mal. Als wir den 50. Jahrestag der Unterzeich-nung der Römischen Verträge hier in Berlin gefeierthaben, haben wir an diese Anfangszeiten zurückgedacht.Das war das Jahr, in dem Deutschland die europäischePräsidentschaft innehatte.Zu Beginn dieser Präsidentschaft 2007 habe ich imEuropäischen Parlament in Straßburg gesprochen. Da-mals habe ich in meiner Rede im Europäischen Parla-ment in Straßburg schon einmal die Frage gestellt: Wiewerden denn eigentlich Regionen weltweit erfolgreich?Ich habe mich damals auf den amerikanischen Wissen-schaftler Richard Florida bezogen, der sagt: Am erfolg-reichsten entwickeln sich Regionen dann, wenn dreiFaktoren zusammenkommen: Technologie, Talente undToleranz. – Ich glaube, genau diese drei Dinge machendie europäische Stärke aus: Talente, Technologie undToleranz. Denn es sind natürlich immer die Menschen,die wissenschaftlich-technischen Fortschritt möglichmachen.
Es ist die Innovation, von der Europa lebt. Anderswerden wir unseren Wohlstand nicht halten können. Essind der wirtschaftliche und soziale Fortschritt und dersoziale Ausgleich, für den Europa wie keine andere Re-gion auf dieser Erde steht. Das ist das, was wir das Prin-zip der sozialen Marktwirtschaft nennen. Es sind dieKraft der Toleranz, die Kraft der Rechtsstaatlichkeit, dieFähigkeit, unterschiedliche Meinungen zu ertragen undWidersprüche auszugleichen, und der Wille, Pressefrei-heit und Religionsfreiheit zu ermöglichen, in einemWort: „Demokratie, Freiheit und Menschenrechte“, dieEuropa seit mehr als sechs Jahrzehnten tragen.Die Toleranz – davon bin ich ganz überzeugt – befä-higt uns, aus Europas unveränderter Vielfalt von Spra-chen und Kulturen, aber mit heute ganz gemeinsamenWerten, das Beste zu machen. Diesen Werten und Zielenzu dienen und sie im Alltag zu leben, uns also in diesemSinne des Preises von Alfred Nobel würdig zu erweisen,ist jede Mühe und Anstrengung wert.
Das wird auch der Geist sein, in dem wir heute undmorgen in Brüssel beraten werden, wo doch jeder vorhersagt: Die Vielfalt ist so groß, Europa ist zerstritten, diewerden keinen Millimeter vorankommen. Ich sage Ih-nen: Wir werden vorankommen, und zwar genau in demvon mir beschriebenen Sinn, weil die Werte, die uns ei-nen, Werte und Ziele sind, mit denen Europa auch imweltweiten Wettbewerb des 21. Jahrhunderts bestehenkann, weil wir uns alle, alle Staats- und Regierungschefsder Europäischen Union, aller 27 Mitgliedstaaten, demGeist verpflichtet fühlen und weil wir die gemeinsamenWerte auch wirklich teilen.Wir wissen, dass wir in Europa in Freiheit leben. Wirwissen, dass wir in Europa Demokratie haben. Wir wis-sen, dass man in Europa auch demonstrieren kann, wenneiner den anderen besucht. Wir wissen aber auch: Dafürgeht keiner ins Gefängnis, wenn er nicht gerade gewalt-tätig geworden ist. Das eint uns; dafür werden wir arbei-ten. Menschlich und erfolgreich wollen wir sein, in Frie-den und Freiheit.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner dem Kollegen Peer Steinbrück für die SPD-Fraktiondas Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!Ebenso wie Sie, Frau Bundeskanzlerin, freuen wir So-zialdemokraten uns über die Verleihung des Friedens-nobelpreises an die Europäische Union. In einer Zeit, inder viele Europäer in der Tat an Europa zweifeln, ineiner Zeit, in der viele den Wert Europas nur noch an denZinssätzen an den internationalen Finanzmärkten bemes-sen, erinnert uns das Nobelpreiskomitee in Oslo daran,dass Europa weit mehr ist als ein Wechselbalg derRatingagenturen.
Wir müssen dem Nobelpreiskomitee, wie ich glaube,dankbar sein, dass es uns und auch der Welt einen Fin-gerzeig darauf gegeben hat, warum Europa nach demdreißigjährigen Krieg von 1914 bis 1945 Erbfeindschaf-ten und einen mörderischen Nationalismus überwand,aber auch, wofür es in Zukunft immer gebraucht wird.Im Rückblick auf über 60 Jahre Frieden und wirt-schaftlichen Fortschritt haben wir Deutsche übrigenseinen besonderen Grund zur Dankbarkeit und eineaußerordentliche Mitverantwortung für das WohlergehenEuropas.
Denn es waren unsere westlichen Nachbarn und sehrweitsichtige Staatsmänner, die uns schon wenige Jahrenach dem Krieg trotz schrecklicher Erfahrungen, trotzunsäglicher Verbrechen einluden, an dieser europäischenEinigung teilzuhaben. Es waren übrigens auch unsereeuropäischen Nachbarn, die sich über die deutsche Wie-dervereinigung freuten, obwohl sie mit einem starkenDeutschland in der zentraleuropäischen Geografie überJahrhunderte sehr schlechte Erfahrungen gemacht hat-ten. Sie hatten uns von den Montan-Verträgen zu Beginnder 50er-Jahre über die EWG, Römische Verträge 1957,die EG bis zur Europäischen Union inzwischen als gute,verlässliche und vor allen Dingen hilfsbereite Europäerkennengelernt. Und dabei sollte es bleiben.
Neben allem, worüber wir heute diskutieren undsicherlich auch streiten werden, dürfen wir nicht verges-sen, worum es in Wahrheit bei diesem einmaligen Pro-jekt Europa geht: um dauerhaften Frieden, um dauer-hafte Freiheit, um dauerhafte Demokratie für alleMenschen auf unserem Kontinent. Gerade weil – wie derfranzösische Philosoph André Glucksmann sagt – De-mokratien dazu neigen, die tragische Dimension ihrerGeschichte gelegentlich zu ignorieren oder zu vergessen,und gerade weil sich die Bürger in der anhaltenden Kri-sendebatte mit all ihren Fachbegriffen, in all ihrer Kom-plexität zunehmend orientierungslos und überfordertfühlen, dürfen wir Politiker den Fehler nicht fortsetzen,dieses Europa nur auf eine Währungsunion, nur auf einZentralbanksystem, nur auf einen gemeinsamen Markt,nur auf eine intergouvernementale Veranstaltung von25 Männern und zwei Frauen zu reduzieren.
Es geht in der Tat um die Behauptung des Zivilisa-tionsprojektes „Europa“. Der Historiker Heinrich AugustWinkler redet über das normative Projekt des Westensunter Einschluss Nordamerikas in einer Welt dynami-scher Veränderungen mit neu aufstrebenden Ländern undKontinenten. Verliert Europa aber seine Wirkungsmachtdurch Uneinigkeit und Renationalisierung – und sei esauch noch so fahrlässig –, werden wir auch die Attrakti-vität dieses Zivilisationsprojektes nicht behaupten kön-nen.Ja, Frau Bundeskanzlerin, was Europa zu bieten hat,ist einmalig in der Welt: Gewaltenteilung, Achtung derMenschenrechte, Minderheitenschutz, Sozialstaatlich-keit, unabhängige Gerichte, Meinungsfreiheit, Presse-freiheit, Demonstrationsfreiheit, die Trennung von Staatund Kirche – das Erbe der Aufklärung. Aber diese Redeund diese Beschreibung Europas, die hätten Sie schonvor zwei Jahren geben müssen.
Diese Beschreibung Europas und damit die Abwehreiner Verkürzung Europas auf das bloß Ökonomischewurden bereits vor zwei Jahren in einer Reihe von Bei-trägen meiner Fraktion von diesem Pult aus formuliert.Kein Rettungsschirm und keine gemeinschaftliche An-strengung sind deshalb zu groß, um dieses Europa für500 Millionen Menschen, ihre Kinder und ihre Kindes-kinder zu bewahren. Kleinmut würde dem nicht gerecht.
Deutschlands Zukunft ist Europa. In diese Zukunftwerden wir investieren müssen, genauso wie wir in diedeutsche Wiedervereinigung investiert haben. Das end-lich den Bürgern unseres Landes zu sagen, Frau Bundes-kanzlerin, und zu erklären, das ist Ihre Pflicht.
Deutschland wird mit Blick auf Griechenland im Kon-zert weiterer europäischer Länder weitere Verpflichtun-gen übernehmen müssen. Sagen Sie das endlich denMenschen!
In der Welt des 21. Jahrhunderts braucht Europa einegemeinsame Stimme; denn es wird so sein, dass wederder chinesische noch der indische Staatspräsident undnicht einmal der US-amerikanische Präsident 27 euro-päische Staats- und Regierungschefs anrufen wird, umsich bei Ihnen nach der europäischen Auffassung in zen-tralen Fragen wie Krieg und Frieden, Finanzarchitektur,Weltklima, Menschenrechte zu erkundigen. Will sagen:Entweder wir haben eine Stimme, oder wir haben keineStimme.
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Peer Steinbrück
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Genau diese Gemeinsamkeit steht aber auf dem Spiel;denn es ist offensichtlich, dass Europa an einer Weg-gabelung steht. Für die Europäische Währungsuniondrückt sich das in einem nach wie vor pendelnden Kon-flikt zwischen einer gemeinsamen Währung einerseitsund nationalen souveränen Rechten und Parlamentarisie-rung auf der anderen Seite aus. Diesen Konflikt habenwir bisher nicht aufgelöst. Entweder wir gehen den Wegzurück in einen losen Staatenverbund mit einem gemein-samen Markt, in dem jeder für sich selbst verantwortlichist, gegebenenfalls auch abstürzt, oder wir gehen denWeg einer weiteren europäischen Einigung und der Par-lamentarisierung. Das ist exakt die Grundsatzfrage, diewir zu erörtern haben.
So schwer es auch sein wird: Wir dürfen nicht zulas-sen, dass aus diesem in 60 Jahren gebauten europäischenHaus einzelne Steine wieder herausgebrochen werden.Dies gilt auch dann, wenn einzelne Staaten Fehler undVersäumnisse zu verantworten haben wie Griechenlandund wenn sie mit die Ursache für eine Krise ihrer eige-nen Volkswirtschaft sind. Ist erst einmal der erste Steinaus diesem Gebäude herausgebrochen, dann werdenweitere folgen. Deshalb, Frau Bundeskanzlerin, war esein so schwerer Fehler, dass Sie es zugelassen haben,dass im Sommer dieses Jahres Ihre Koalition monate-lang ein Mobbing gegen die Mitgliedschaft von Grie-chenland in der Europäischen Währungsunion betriebenhat.
Sie haben nicht eingegriffen. Sie haben sich nicht be-kannt. Sie haben laviert. Sie haben Herrn Dobrindt ge-währen lassen, der gesagt hat: „Ich sehe Griechenland2013 außerhalb der Euro-Zone.“ Sie haben Herrn Södergewähren lassen, der an Griechenland sogar ein Exem-pel statuieren wollte. Sie haben Herrn Rösler gewährenlassen, der darauf hinwies, dass für ihn ein Austritt Grie-chenlands längst seinen Schrecken verloren habe. Siehaben Herrn Brüderle gewähren lassen, der einer Zei-tung wörtlich gesagt hat, dass der Bitte Griechenlands,noch einmal zwei Jahre Zeit zu erhalten, nachdem esseine Verträge nicht erfüllt hat, nicht stattgegeben wer-den sollte. Sie haben auch dem FDP-GeneralsekretärDöring nicht widersprochen, der die Folgen einer mögli-chen griechischen Staatspleite für beherrschbar hielt.Frau Bundeskanzlerin, Sie haben vor zwei Wochenden früheren CDU-Vorsitzenden und ehemaligen Bun-deskanzler Helmut Kohl geehrt. Ehre, wem Ehre ge-bührt. Ich sage Ihnen: Weder Helmut Kohl noch einerIhrer Vorgänger hätte zugelassen, einen europäischenNachbarn derart für innenpolitische Händel zu missbrau-chen.
Dieses Doppelspiel haben Sie uns und der deutschenÖffentlichkeit sehr lange vorgespielt. Sie wollen dieEuro-Skeptiker in Ihrer eigenen Koalition und in Ihrempolitischen Anhang nicht verprellen. Sie wollen einer-seits auf einer Stimmungswoge surfen, die sich maßgeb-lich aus dem Ressentiment gegen eine deutsche Zahl-meisterrolle speist. Aber Sie wollen andererseitsnatürlich niemals in diese Woge eintauchen, weil Siedarüber Ihre Stimme und Ihre Reputation in Brüssel ein-büßen würden.
Sie sind inzwischen eine Getriebene, die zu vielem solange Nein sagt, bis der Druck im Kessel der Realitätenso stark wird, dass Sie schließlich Ja sagen müssen. Dasgalt für den Kauf von Staatsanleihen durch die EZB imMai 2010. Das galt für den permanenten RettungsschirmESM, den es nach einer Wette von Herrn Schäubleeigentlich nie hätte geben sollen. Das galt für dasDraghi-Konzept des notfalls ungebremsten Aufkaufsvon Staatsanleihen. Das gilt für die Direktkapitalisierungvon Banken durch den ESM unter der Voraussetzungeiner Bankenunion, mit der Sie entgegen einem Be-schluss des deutschen Haushaltsausschusses einen mas-siven Systemwechsel vornehmen. Das gilt demnächstwahrscheinlich auch für eine Fristverlängerung zur Er-füllung der Sparauflagen für Griechenland, die ChristineLagarde, Managing Director des IMF, gefordert hat.Dies würde aber konsequenterweise zu einem drittenHilfspaket für Griechenland oder einer Aufstockung deszweiten Hilfspaketes führen – und damit zu einer Befas-sung des Deutschen Bundestages.
Aber nun auf einmal – sehr genau registriert in derletzten Woche; o Wunder! – gibt es eine 180-Grad-Wen-dung: Kein Wort mehr von dem Rauswurf Griechen-lands aus der Euro-Zone. Stattdessen erklärt Bundes-finanzminister Schäuble in Singapur zur Frage einesmöglichen Austritts aus der Euro-Zone: „There will beno Staatsbankrott“.
Selbst Herr Brüderle säuselt, dass er eine zeitliche Ent-koppelung für Athen zur Erfüllung der Reformauflagennicht mehr ausschließt. In einem luziden Anfall räumt erein, dass ein Aufschub auch Geld kostet.
Alle Achtung! Ja, aber um Himmels Willen, Frau Bun-deskanzlerin, warum haben Sie denn ein solches Be-kenntnis zum Verbleib von Griechenland nicht imSommer 2010 abgegeben?
Wo war Ihr zweites Fukushima, das Sie zu einer solchen180-Grad-Wende in Europa und unter den Baum derErkenntnis von Herrn Schäuble gebracht hat?
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Peer Steinbrück
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Das Phänomen der Verspätung ist auch in Ihrem heu-tigen Beitrag deutlich geworden. Sie reden hier plötzlichvon einem zweiten Jacques-Delors-Plan – so als ob dasbesonders originell ist. Sie sind nicht originell, Sie hin-ken hinterher. Meine Fraktion hat von einem solchenPlan schon vor zwei Jahren von diesem Pult aus gespro-chen.
Das Porzellan, meine Damen und Herren, das inzwi-schen zerschlagen wurde, bleibt zerschlagen, und dieseszerbrochene Porzellan in Europa ist gestörtes Vertrauen.Sie haben übrigens auch zu häufig mit der ökonomi-schen Macht Deutschlands gedroht oder zumindest dro-hen lassen.
In Frankreich fallen deshalb Worte vom industriellenImperialismus der Deutschen. Manche Stimme erhebtsich, die fragt, ob wir wieder einen neuen Sonderweg ge-hen. Selten war Deutschland in Europa so isoliert wieheute.
– Dann hören Sie sich genau um in den HauptstädtenEuropas. Wir werden jedenfalls noch lange nach IhrerAmtszeit spüren, Frau Bundeskanzlerin, welches Porzel-lan dort zerschlagen worden ist.
– Werden Sie nicht nervös. Das war auch von Ihnen eineganz luzide Einlassung, ein Hinweis auf meine Honorar-verträge. Damit habe ich gar nicht gerechnet.
Und was höre ich aus den Beratungen heute beim Präsi-denten mit Blick auf Ihr Zustimmungsverhalten zu einerVerschärfung der Transparenzrichtlinie?
Vor allem, meine Damen und Herren, sind die Ergeb-nisse Ihrer Politik völlig anders als von der Bundesregie-rung vorhergesagt. Sie sagen tagaus, tagein und landauf,landab, dass Sie Europa in eine Stabilitätsunion führenwollen. Schauen wir uns die Realität an: DieJugendarbeitslosigkeit in sieben europäischen Ländernist größer als 25 Prozent; in vier Ländern ist sie größerals 30 Prozent; in zwei Ländern ist sie sogar größer als50 Prozent. Was halten diese jungen Menschen vonEuropa und Demokratie, wenn sie sich so von der weite-ren Entwicklung ausgeschlossen fühlen?
Die Krise in den Südländern der Europäischen Unionbewegt zunehmend Menschen, ihr Land zu verlassen.Die ökonomischen Perspektiven für die Euro-Zone sindfür das nächste Jahr alles andere als gut. Viele Länderwerden in einer Rezession landen, und auch in Deutsch-land hat die goldene Zeit von 2010, 2011, 2012 erkennbarund absehbar ein Ende. Es wird die Frage auftauchen, obSie nicht gegebenenfalls auch die Kurzarbeitergeld-Re-gelung wieder reaktivieren müssen, wie das die Gewerk-schaften längst fordern, mit Blick darauf, dass insbeson-dere Maschinenbau und Automobilbau wieder eineSituation erleben, die dies erfordert.
Es bleibt die Erkenntnis, Frau Bundeskanzlerin, dassohne Wachstum kein dauerhafter Schuldenabbau mög-lich ist.
Nur an Ihnen ist diese Erkenntnis lange vorbeigegangen.Ich sehe eine erste Revision, auch nachdem ich IhreRede beim Deutschen Arbeitgebertag vor zwei Tagengelesen habe. Aber wir sind inzwischen weiter. Selbstder IMF, der nicht im Verdacht orthodoxer sozialdemo-kratischer Wirtschaftspolitik steht, hat in seinem Wirt-schaftsausblick festgestellt, dass die Sparprogrammeinzwischen negative Auswirkungen auf die Wirtschafts-leistungen der Länder haben.
Das Ergebnis dieser Politik ist, dass die Krise über dieWährungsfrage hinaus in den letzten Jahren keineswegskleiner geworden ist; sie ist größer geworden. Ihre Stabi-litätsunion ist letztendlich nichts anderes als eine FataMorgana, die Luftspiegelung einer Scheinstabilität.Allein Deutschland haftet inzwischen summa summa-rum für 100 Milliarden Euro über die Rettungsschirme.Wenn ich die möglichen Belastungen der DeutschenBundesbank hinzuzähle, ist das noch sehr viel mehr.Ihrer Politik lag zumindest für eine lange Zeit – ichbin mir nicht sicher, ob Sie noch zu Korrekturen bereitsind – eine große Fehleinschätzung zugrunde. DieseFehleinschätzung lautete, die Krise einseitig für etwas zuhalten, das sie tatsächlich allenfalls nur in Teilen war,nämlich eine Verschuldungskrise.
Der ursächliche Einfluss der Finanz- und Bankenkrise– übrigens mit der Folge von Verschuldungen von Staa-ten, weil sie zur Stabilisierung der Banken und für Kon-junkturprogramme Geld aufnehmen mussten – und vorallen Dingen auch die wirtschaftlichen Ungleichge-wichte, die strukturellen Disparitäten innerhalb der Eu-ropäischen Währungsunion und Europäischen Unionkamen in Ihrer Analyse nicht vor. Sie wurden ausgeblen-det.
Aus einer einseitigen Krisenanalyse folgt dann auch lo-gischerweise eine einseitige Therapie: Sparen, Sparen,Sparen.Um zu ermessen, wie groß die ökonomische Torheitist, die in der simplen Gleichung „Stabilität durch Spa-ren“ liegt, sollten wir gemeinsam einen Ausflug in die
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Peer Steinbrück
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deutsche Geschichte machen. Denn die Brüning‘scheSparpolitik Anfang der 1930er-Jahre,
die genau dieser Logik folgte, hat eines garantiert nichtgebracht, nämlich Stabilität und Prosperität.
Not zerstört Demokratie. Hunger frisst gesellschaftli-che Stabilität, meine Damen und Herren. Das gilt auchheute in den Ländern, die davon betroffen sind.
In einem solchen Europa herrscht aber auch kein Frie-den. Denn der Frieden in Europa ist unabweisbar abhän-gig von Friedlichkeit in den Mitgliedsländern, abhängigvon der sozialen Balance und der gesellschaftlichen Sta-bilität in diesen Ländern, und diese ist in einigen Län-dern inzwischen längst in einer Unwucht.Die Geschichte unserer Eltern und Großeltern, meineDamen und Herren, ist aber nicht die Geschichte einergesellschaftlichen Spaltung. Sie wussten, dass das Landund sie selber nur eine Chance haben, wenn man sichdem Wohl des Gemeinwesens und dem „Wohlstand fürAlle“ verpflichtet fühlt. Lautete so nicht ein BestsellerIhres Ahnherrn und wichtigen Impulsgebers für das Sys-tem der sozialen Marktwirtschaft? Wir wollen darüberreden, wie wir das wiederherstellen können. Wir habendas in Deutschland schon einmal geschafft, und darumgeht es auch jetzt.Es gilt für Deutschland wie für Europa: Wir müssenin unserem Land und auf unserem Kontinent wieder eineneue soziale Balance schaffen. Solange wir in Europanicht in der Lage sind, den Menschen wieder Hoffnungzu geben, dass Anstrengungen und Fleiß sich lohnen,dass es gerecht zugeht, dass niemand aus der Verantwor-tung für das Gemeinwohl entlassen wird, dass all denje-nigen geholfen wird, die unverschuldet in Not kommen,und ihnen die Würde des Lebens durch Solidarleistun-gen gewährleistet wird, so lange kommt Europa nichtwieder auf die Beine.
Im Kern geht es darum, die bewährten Mechanismenund den bewährten Ausgleich der sozialen Marktwirt-schaft, die Deutschland stark gemacht hat, auf Europa zuübertragen. Als Sozialdemokraten sagen wir ganz klar:Ja, wir wollen stabile Verhältnisse in Europa. Und ja,dazu sind auch Sparanstrengungen, Konsolidierung undStrukturreformen notwendig. Wir wissen aber auch, dassdies nur gelingen kann, wenn es in Europa auch Impulsefür Wachstum und Beschäftigung gibt und wenn es inEuropa gerecht zugeht.
Vordringlich ist zweierlei: eine wirksame Banken-und Finanzmarktregulierung und, ja, in der Tat auch eineBankenunion, zu der dann allerdings auch ein Banken-fonds zur Rekapitalisierung von Banken gehört, dernicht von den Steuerzahlern finanziert wird, sondern vonden Banken.
Zweitens gehört dazu ein echter Wachstums- und Be-schäftigungspakt für Europa. Hier darf man daran erin-nern, dass es zwei Jahre und 25 Gipfel gebraucht hat, umSie, Frau Bundeskanzlerin, und konservativ-liberaleKräfte in Europa davon zu überzeugen, dass ein solcherWachstums- und Beschäftigungspakt benötigt wird.
Der Punkt ist, dass nach dem Beschluss vom Juni2012 wenig getan worden ist. Das denke ich mir nichtaus, sondern, wie der Brief des Ratspräsidenten VanRompuy vom 8. Oktober über die konkrete Einlösungder Ankündigungen dieses Beschäftigungs- und Wachs-tumspaktes ausweist, ist bisher sehr wenig – um nicht zusagen: gar nichts – geschehen. Wir erwarten, dass derEuropäische Rat dies jetzt korrigiert und die Dinge auchmit Blick auf die Tätigkeit der Europäischen Investi-tionsbank ans Laufen bringt.
Besonders gern schaut die Bundesregierung weg,wenn es um die eigenen Hausarbeiten der Bundesrepu-blik Deutschland geht. Vorsichtig formuliert: Es gibt vondieser Bundesregierung keine Vorreiterrolle beim Schul-denabbau in Europa.
Bei null Zinsen für deutsche Staatsanleihen, bei spru-delnden Steuerquellen, bei entlastenden Effekten aufdem Arbeitsmarkt müsste es doch möglich sein, dieSchuldenbremse des Grundgesetzes deutlich vor 2016einzuhalten und diese Vorreiterrolle in Europa zu doku-mentieren.Im Übrigen: Wenn wir davon reden, dass die länder-spezifischen Empfehlungen, die von der Kommissiongegeben werden, umgesetzt werden sollen, dann sehenwir: Es ist Deutschland auch hier nicht der Vorreiter unddas Vorbild; denn in diesen länderspezifischen Empfeh-lungen steht zum Beispiel drin: kein Betreuungsgeld.
Da steht explizit drin: Verzicht auf das unsägliche Be-treuungsgeld. Es steht explizit drin: keine Steuersenkun-gen. Und es steht explizit drin: die Einführung einesMindestlohns in Deutschland.
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23822 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Peer Steinbrück
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Die Frage ist: Wie wollen Sie denn andere Länder zurBefolgung der länderspezifischen Empfehlungen veran-lassen, wenn Sie selber die auf uns bezogenen länderspe-zifischen Empfehlungen gar nicht umsetzen und ignorie-ren? Das stärkt ja nicht gerade die Glaubwürdigkeit, unddas stärkt auch nicht Ihre Reputation und die Stimme,die Sie in diesem europäischen Konzert haben.Für mich ist der Maßstab, wie wir als Sozialdemokra-ten jetzt und im Weiteren die Vorschläge der Van-Rompuy-Gruppe diskutieren, ziemlich einfach. Es gehtum vier Fragen:Erstens: Wer zahlt für das vorgeschlagene Euro-Zo-nen-Budget, wer haftet dafür?
Sind es zusätzliche Mittel, oder sind es Mittel, die ohne-hin in der mittelfristigen Finanzplanung vorgesehen wer-den? Gibt es, bezogen auf die Verwendung dieser Mittel,eine demokratische Kontrolle?Zweitens: Führen die Vorschläge nicht einfach nur zumehr Europa, sondern auch zu einem besseren Europa,weil es eine bessere Bankenaufsicht und eine bessereBankenabsicherung gibt, weil es eine besser verzahnteWirtschafts- und Finanzpolitik gibt, weil es eben auchneue Möglichkeiten für ein antizyklisches Verhaltengibt? Oder verlieren sich die Vorschläge in der langenReihe von diversen Initiativen wie der Europa-2020-Strategie, dem Euro-Plus-Pakt, dem Europäischen Se-mester, dem Two-Pack, dem Six-Pack, dem Pakt fürWachstum und Beschäftigung, dem Fiskalpakt? Ichmeine: Wer blickt da noch durch, und wer betreibt ei-gentlich eine Wirkungsanalyse all dieser Initiativen?
Drittens: Führen diese Vorschläge zu einem Mehr anDemokratie, weil sie das Europäische Parlament einbin-den und stärken, oder schreiben sie den Trend zu einer„Vergipfelung“ der europäischen Politik fort?Viertens: Wird Europa zwischen den 17 Mitgliedstaa-ten der Europäischen Währungsunion und den 10 weite-ren Mitgliedstaaten in der Europäischen Union auseinan-dergetrieben, oder schaffen wir eine positive Dynamikfür ein handlungsfähiges Europa, das trotz gewisser Bin-nendifferenzierung weiterhin zusammensteht und zu-sammenhält?Auf alle diese Fragen habe ich heute von Ihnen nochkeine Antworten bekommen, aber zu diesen Fragen wer-den wir nachhaken und nacharbeiten müssen, Frau Bun-deskanzlerin, wenn Sie die Zustimmung meiner Fraktionzu wahrscheinlich notwendigen weiteren Rettungspake-ten bekommen wollen.War Europa nach dem verheerenden Zweiten Welt-krieg zuallererst eine Friedensgemeinschaft und zugleichin den Zeiten des Kalten Krieges vor allen Dingen einRaum für Frieden, Freiheit, Sicherheit und Wohlstand,so sind seit 1989 die Aufgaben noch einmal gewachsen.Die Erweiterung der Europäischen Union war die ersteHerausforderung, die von Europa als neues, als ungeteil-tes Ganzes nach dem Wunder von 1989/90 gemeistertwurde.Die aktuelle Herausforderung ist die anhaltendeKrise, die eben nicht nur eine Krise unserer Währung ist.Wir merken, dass diese Krise mehr als Geld kostenkönnte, nämlich Legitimation durch die Bürgerinnenund Bürger. Wer die Einigung unseres Kontinentes in dieZukunft fortentwickeln will, der braucht eine neue Be-gründung, und diese Begründung kann, wie Sie richtigsagen – ich stimme dem zu –, nicht mehr allein die Be-zugnahme auf den Krieg zwischen 1914 und 1945 sein.Das versteht vielleicht meine Generation, die noch inTrümmergrundstücken großgeworden ist; aber schon un-sere Kinder verstehen es nicht mehr. Europa muss sichneu konstituieren und neu erklären.Ob Klimawandel, Migration, Bevölkerungswachs-tum, Rohstoffversorgung, Nahrungsmittelversorgung,demografischer Wandel oder auch soziale Spaltungsten-denzen – auf all diese globalen Herausforderungen mitihren teilweise dramatischen Konsequenzen für jede undfür jeden von uns, genau dafür kann Europa Antwortenliefern.
Dieses Europa, meine Damen und Herren, muss aberein Europa mit einem inneren Gleichgewicht und damitein sozial gerechtes Europa der Chancen für alle sein.Nur ein solches Europa ist stark und attraktiv genug, alleMitgliedstaaten und den dort lebenden und arbeitendenMenschen Freiheit, Frieden, Schutz, soziale Ordnung,Sicherheit und Selbstbestimmung zu gewährleisten. Nurwenn uns das gelingt, ein solches Europa in den Blick zunehmen, wird die Erfahrung der Regierenden wieder inÜbereinstimmung mit den Erfahrungen der Regierten zubringen sein. Es ist also an Ihnen zuerst, Frau Bundes-kanzlerin, und an Ihrer Regierung, aber auch an uns allenhier im Hause, dass wir diesen Weg konsequent undkonzentriert fortsetzen. Ihre Politik der letzten zweiJahre und auch Ihre heutige Rede sind dem nicht gerechtgeworden.Vielen Dank.
Für die FDP-Fraktion erhält nun der Kollege Rainer
Brüderle das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In denletzten Wochen wurde viel über Nebentätigkeiten ge-sprochen. Ich wollte dazu eigentlich nichts mehr sagen.
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Rainer Brüderle
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Es wurde von vielen Seiten vieles erklärt. Nicht alles hatzum Ansehen von uns Parlamentariern beigetragen.Aber nach Ihrer Rede muss ich doch eines betonen,Herr Kollege Steinbrück: Bundeskanzler ist keine Ne-bentätigkeit; das ist die schwierigste Aufgabe, die deut-sche Politik zu vergeben hat.
Heute sind Sie größtenteils den Beweis schuldig geblie-ben, sich der Größe der Aufgabe bewusst zu sein.
Steinbrück weiß es besser – aber immer erst hinterher;so ist es bei ihm.
Die Lehman-Pleite war für Sie ein amerikanisches Pro-blem ohne Auswirkungen auf Deutschland. Kurze Zeitspäter haben Sie erklärt:Dass die Bundesrepublik Deutschland maßgeblichmitgeschüttelt wird, ist kein Wunder.Hypo Real Estate, IKB, WestLB: Bei jeder großen Ban-kenpleite der letzten Jahre hatten Sie irgendwie Ihre Fin-ger drin.
Man ist versucht, zu sagen: Holt bloß nicht denSteinbrück rein, sonst geht ihr pleite.
Kürzlich haben Sie in der Welt am Sonntag vor Inflationdurch die Anleihenkäufe der EZB gewarnt. Da haben Sieökonomisch recht; ich unterstütze das. Aber vor einemJahr haben Sie erklärt – ich zitiere wörtlich –: Allerdingszeigen die Fed der USA und die Bank of England, dassin Krisenzeiten genau dies – gemeint ist die Staatsfinan-zierung mit der Notenpresse – die Rolle von Notenban-ken ist. – Das ist das komplette Gegenteil von dem, wasSie heute behaupten.
So wollten Sie die Inflationsmaschine anwerfen.Was gilt denn nun? Wollen Sie die Bazooka für dieEZB, oder wollen Sie das nicht? Wollen Sie Zinssozia-lismus durch Euro-Bonds, oder wollen Sie das nicht?Wo bleibt Ihr Plan für Deutschland, für Europa?Bei Steuererhöhungen liefern Sie sich einen Wettlaufmit den Grünen. Auch da frage ich Sie: Was wollen Siedenn nun? Wollen Sie wie der sozialistische Präsident inFrankreich den Wachstumseinbruch durch Ihre Steuer-erhöhungen auch noch verschärfen? 30 Milliarden EuroSteuererhöhungen will die SPD. Das ist mehr als 1 Pro-zent des Bruttoinlandsprodukts.
Die Bundesregierung und die Forschungsinstitute sagenfür 2013 ein Wirtschaftswachstum von 1 Prozent voraus.Will die SPD, wollen Sie, Herr Steinbrück, die deutscheWirtschaft in eine Rezession führen?
Herr Trittin hat am Wochenende ein wahres Enteig-nungsprogramm für breite Teile der Bevölkerung ange-kündigt. Die Vermögensteuerpläne von Trittin treffenMillionen und nicht Millionäre. Das ist ein Anschlag aufdas Eigentum. Er will das auch noch rückwirkend ma-chen. Da wird der demokratische Rechtsstaat einfach au-ßer Kraft gesetzt. Hier kommen die alten Reflexe desKommunistischen Bundes Westdeutschland bei ihmwieder hoch.
Diese Woche trat Herr Trittin bei der Bundesvereinigungder Deutschen Arbeitgeberverbände in feinem Zwirnauf; aber darunter trägt er immer noch das Mao-Jäck-chen, das ist einfach seine Einstellung.
Die christlich-liberale Koalition widmet sich den gro-ßen Herausforderungen, vor denen Deutschland und Eu-ropa stehen; das hat die Bundeskanzlerin heute sehrdeutlich gemacht. Die Europäische Union steht mitten inder schwersten Bewährungsprobe ihrer Geschichte.Ökonomen sagen: Die Euro-Zone ist kein optimalerWährungsraum, zwei Dinge fehlen: die volle Mobilitätauf dem Arbeitsmarkt und die politische Union. Diemangelnde Mobilität der Arbeitskräfte ändert sich ge-rade, wenn auch unter dramatischen Vorzeichen, in Süd-europa. Wer Europa als Ganzes sehen will, wird verste-hen, dass Europa einen gemeinsamen Arbeitsmarktbraucht. Deshalb ist zu begrüßen, wenn gut ausgebildeteSpanier oder Griechen einen Arbeitsplatz in Deutschlandsuchen. Das ist ein Schritt der Integration und ein Schrittzu einem einheitlichen Wirtschafts- und Währungsraum.Die größere Herausforderung ist die politische Union.Als der Euro eingeführt wurde, war es vor allem wegender Bedenken Frankreichs nicht möglich, damals einepolitische Union zu erreichen. Deshalb haben HelmutKohl, Hans-Dietrich Genscher und Theo Waigel den Sta-bilitätspakt durchgesetzt. Das stabilitätspolitische Erbe,das europapolitische Erbe von Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher wurde von Rot-Grün verspielt.
Ich verkenne nicht, was Gerhard Schröder im Inlandgeleistet hat, die Agenda 2010. Das war eine großeKraftanstrengung. Sie wird von den Liberalen meistensmehr gewürdigt als von der Sozialdemokratie.
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23824 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Rainer Brüderle
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Aber Gerhard Schröder hat Europa nicht weiterentwi-ckelt, sondern zurückentwickelt. Er hat einen Rück-schritt gemacht. Er hat ein Stück Renationalisierung mitauf den Weg gebracht. Gerhard Schröder sprach vondem Euro als der „kränkelnden Frühgeburt“ – wörtlich.Er hat seine Prophezeiung offensichtlich selbst erfüllenwollen und gemeinsam mit Frankreich den Stabilitäts-pakt beerdigt. Er hat Griechenland in die EuropäischeUnion aufgenommen, obwohl es nicht die Voraussetzun-gen für den Euro hatte. Ihre eklatanten Fehler, IhreScherben, die Sie hinterlassen haben, müssen wir heutewegräumen. Das ist die Aufgabe, vor der wir stehen.
Ratspräsident Van Rompuy hat mit anderen Vor-schläge für eine politische Union gemacht. Es ist ein mu-tiger Entwurf, auch wenn wir Liberale nicht alles teilen,was dort aufgeschrieben wurde. Den Ansatz eines Eu-ropa der mehreren Geschwindigkeiten finde ich aber gut.Alle sind eingeladen, mitzugehen. Wer aber nicht mitge-hen will, soll diejenigen, die vorangehen wollen, nichtaufhalten dürfen. Darum geht es. „A plusieurs vitesses“fordert jetzt der französische Präsident. Europapolitischist er in der Realität angekommen. Ich bin optimistisch,dass er das finanzpolitisch auch noch hinbekommt.Wir wollen, dass Europa erfolgreich ist. Dazu kannein Euro-Zonen-Budget sinnvoll sein. Exogene Schockskönnen einzelne Länder der Währungsunion treffen.Zum Auffangen solcher Schocks haben wir kein Instru-ment. Aber man muss die Bedingungen eines solchen In-struments auch klar definieren. Erstens. Es darf keineSteighilfe für einen europäischen Finanzminister sein.Zweitens. Es darf nicht der Einstieg in Euro-Bonds sein.Und drittens. Es darf nicht der Anlass zur Einführung ei-ner EU-Steuer sein.Die Idee von Europa darf nicht darauf reduziert wer-den, lediglich immer mehr Geld nach Brüssel zu über-weisen. Wenn überhaupt, kann es dabei nur um eine Um-schichtung bestehender Mittel gehen.Nach der Präsidentschaftswahl in den USA erscheintder nächste Troika-Bericht. Er muss ernst genommenwerden. Ich bin sehr gespannt, was der KollegeSteinbrück dazu erklären wird; denn auch zum ThemaGriechenland hat er alles im Angebot: Früher hat er eineInsolvenz gefordert. Dann hat er vor diesem Schritt ge-warnt. Vor der Sommerpause war er gegen ein drittesGriechenland-Paket. Heute ist er dafür.
Wie bei allen Reformen und großen Veränderungen wirdman meines Erachtens allenfalls in der Zeitachse überkleine Zugeständnisse an die griechische Regierung re-den können. Zeit kostet Geld. Das ist richtig. Eine Finan-zierung von Reformpausen wird es nicht geben dürfen.Keine Leistung ohne Gegenleistung. Das ist eine klareLinie dieser Koalition.
Aber man darf sich nichts vormachen. Selbst wennGriechenland freiwillig zur Drachme zurückkehrenwürde, bedeutet das kein Ende der Finanzhilfen. Grie-chenland bleibt Mitglied der EU mit allen Pflichten undRechten, auch dem Recht auf Solidarität. Vor allem einesweiß keiner: Wie ist es mit der Ansteckungsgefahr Grie-chenlands? Es gibt die Kettentheorie, die besagt: DasAuswechseln des schwächsten Glieds stärkt den Rest. Esgibt die Dominotheorie: Wenn der Schwächste fällt, fal-len die anderen hinterher. Beide Szenarien sind denkbar.Beides sind Theorien, aber wir müssen in der Praxis Ent-scheidungen treffen. Dabei helfen uns die Theoriennicht. Sie nehmen uns die Entscheidung nicht ab. Für dieFDP ist der Weg der Entscheidung klar: Zuerst mussGriechenland seine Hausaufgaben machen, dann mussGriechenland die Klassenarbeit, sprich die Bewertungdurch die Troika, bestehen. Danach wird über die Verset-zung entschieden. Ein Fass ohne Boden darf es nicht ge-ben.
Meine Damen und Herren, die Europäische Union hat– darauf sind wir alle ein Stück weit stolz – den Frie-densnobelpreis bekommen. Das ist das erfolgreichsteFriedensprojekt der Geschichte. Jetzt geht aber die Dis-kussion los: Wer holt den Preis ab?
Das zeigt: Europa hat noch immer nicht die eine Tele-fonnummer, wie es Kissinger einmal ausgedrückt hat.Aber wir machen gerade Fortschritte. Wir brauchenklare Strukturen. Europa muss von den Bürgern getragenwerden. Es braucht verständiges Recht. Das Recht musseingehalten werden, das in Europa geschaffen und ver-einbart wird. Wir haben Defizite. Ich nenne als Beispieldie Stimmenverhältnisse bei der Europäischen Zentral-bank. Dort ist Malta formal genauso stark wie Deutsch-land. Das bildet weder die Wirtschaftskraft noch die Be-völkerungszahl noch das Risiko ab, das Deutschlandgegebenenfalls zu tragen hätte. Auch bei den Wahlenzum Europaparlament zählt eine deutsche Stimme weni-ger als andere. Ein bürokratischer Superstaat ohne de-mokratische Kontrolle ist falsch. Europa muss das Prin-zip „One woman, one vote – one man, one vote“erfüllen. Das ist Demokratie, die ihren Namen voll ver-dient. Wir brauchen diese weitere Demokratisierung Eu-ropas.
Europa muss von einem Gefühl getragen werden. Eu-ropa muss erlebt und gelebt werden. Europa muss einStück Faszination bieten. Mit immer mehr Zentralisie-rung und größerer Bürokratie erreichen wir das nicht.Wir müssen die Herzen der Menschen erreichen, sonstbleibt Europa ein Projekt der Eliten. Europa muss in sei-nen Möglichkeiten erweitert werden, das aber solide undstabil.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23825
Rainer Brüderle
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Da darf man nicht mit Illusionen oder kurzfristigenEffekten operieren. Ebenso verfehlt ist die Vorstellungder SPD, die die deutschen Exporte wieder drosseln will.50 Prozent unserer Exporte gehen an unsere europäi-schen Nachbarn. Weshalb wollen die Sozialdemokratenden Arbeitnehmern die Aufträge für Exporte in die euro-päischen Nachbarländer nehmen? Sie sollten einmal dieRealität anpacken, und Herr Steinbrück sollte sich da-rüber klar werden, was er wirklich will, und nicht jedemetwas bieten, wie es gerade passt.
Steinbrück kann alles, nur nichts ist klar.
Nächster Redner ist der Kollege Gregor Gysi für die
Fraktion Die Linke.
Herr Bundestagspräsident! Meine Damen und Her-ren! Heute hat der Bundestagswahlkampf offiziell hierim Bundestag begonnen. Das ist schon ein bisschenmerkwürdig; denn es gibt noch gar kein Wahlrecht etc.
Aber das lasse ich alles mal dahingestellt sein.Es wird für Sie schwer werden, Frau Bundeskanzle-rin, und auch für Sie, Herr Steinbrück, sich als Alternati-ven zu präsentieren. Alle Europabeschlüsse haben Siezusammen gefasst.
Die Deregulierung der Finanzmärkte haben Sie unter derRegierung von Frau Merkel gemeinsam betrieben. Dieprekäre Beschäftigung haben Sie in Deutschland in gro-ßem Ausmaß eingeführt. Wo soll sich denn da eine wirk-liche, knallharte Alternative abzeichnen, die wir meinesErachtens brauchen?
Viele haben sich hier zum Friedensnobelpreis für dieEU geäußert. Lassen Sie mich dazu etwas sagen: DieEuropäische Union hat es tatsächlich erreicht, dass60 Jahre lang Frieden zwischen den Mitgliedsländernherrschte. Das ist in Anbetracht der europäischen Ge-schichte gar nicht hoch genug zu bewerten. Ich stellefest, dass man in Asien, Afrika und Lateinamerika regio-nale Zusammenschlüsse wie die EU als erstrebenswertansieht.Aber es gibt auch eine andere Seite der EU.Erstens bin ich sowieso dagegen, dass Institutionenausgezeichnet werden. Dahinter stecken immer Men-schen. Ich bin dafür, dass einzelne Menschen ausge-zeichnet werden, die sich wirklich für den Frieden enga-gieren.
Zweitens sind die EU-Länder einschließlich Deutsch-land an einer Vielzahl von Kriegen beteiligt. Die EU-Länder sind äußerst hoch aufgerüstet und besondersstark beim Export von Kriegswaffen, auch Deutschland.Die EU strebt ferner ein eigenes Militär an, um endlichauch an Kriegen außerhalb der EU teilnehmen zu kön-nen. Dafür verdient man alles Mögliche, aber keinenFriedensnobelpreis.
Kommen wir nun aber zur Euro-Krise und damit auchzu Griechenland. Ich muss feststellen: Die Bundesregie-rung beginnt, in einigen Fragen zaghaft und vorsichtigden Linken zu folgen.
– Ja, Moment. Was Sie jetzt zum Teil zu Europa sagen,ist das, was wir schon vor Jahren gesagt haben. Darf ichden Mindestlohn als weiteres Beispiel anführen? Als Sienoch dagegen waren, haben wir ihn schon längst vorge-schlagen. Da waren auch noch die Grünen und die meis-ten Gewerkschaften dagegen. Wir waren die Ersten, dieihn gefordert haben. Heute klingt es in Deutschland so,als seien alle dafür.
Darf ich daran erinnern, dass Sie alle für die Einfüh-rung der Praxisgebühr waren? Die Einzigen, die sich ge-gen die Praxisgebühr ausgesprochen haben, waren wir.Jetzt reden Sie alle dagegen.
Auch bei der Finanztransaktionsteuer haben wir einigeserlebt; darauf komme ich noch zurück.Durch eine falsche Politik der EU und auch der Bun-desregierung sind unerträgliche Verhältnisse in Grie-chenland, Portugal, Italien und Spanien entstanden. DerDruck wird immer größer, Griechenland nicht abzu-bauen, sondern endlich aufzubauen.Selbst der Internationale Währungsfonds beginnt jetztselbstkritisch festzustellen, dass die harten Kürzungs-maßnahmen zulasten der Beschäftigten, zulasten desMittelstandes und zulasten der kleinen und mittleren Un-ternehmen sowie der Rentnerinnen und Rentner nichtnur übertrieben waren, sondern die Krise massiv ver-schärft haben. Der Währungsfonds stellt die Kürzungs-programme also generell infrage. Das ist ein miserablesZeugnis für die Bundesregierung, die immer darauf be-standen hat.
Die jetzige griechische Regierung macht aber alle Kür-zungen mit. Das Einzige, worum sie bittet, ist, dass siefür die Reformen zwei Jahre mehr Zeit bekommt.Herr Brüderle, es bleibt dabei: Es gab ein klares Neinvon Ihnen; es gab ein klares Nein der Bundesregierung.
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Dr. Gregor Gysi
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Aber jetzt werden Merkel, Schäuble und Brüderle weich.Warum? Mit dieser Frage hat sich auch Herr Steinbrückbeschäftigt; aber ich finde, er hat sie nicht vollständigbeantwortet. Ich komme noch darauf zurück.In Griechenland betragen die Kürzungen der Löhneund Gehälter in der Privatwirtschaft und der Renten jetzt20 Prozent. Es gibt 30 Prozent weniger Steuereinnah-men. Das ist ein unvorstellbarer Rückgang, und er resul-tiert übrigens auch aus der Lohn- und Rentenkürzung.Deshalb gibt es auch eine höhere Verschuldung. DieWirtschaftsleistung selbst ist um 20 Prozent zurückge-gangen. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei fast 50 Pro-zent. Das europäische Geld einschließlich des deutschenGeldes wird auf diese Art und Weise in den Sand ge-setzt. So kann Griechenland ja gar nicht zurückzahlen.Ich behaupte: Das, was Sie hier angerichtet haben, isteine schwere Untreue zum Nachteil der Steuerzahlerin-nen und Steuerzahler in Deutschland.
Es müssen immer diejenigen die Kosten der Krise tra-gen, die sie nicht verursacht haben. Warum haben dieBundesregierung, der Internationale Währungsfonds, dieEU-Kommission und die Europäische Zentralbank bis-her nie gefordert, dass diejenigen, die die Krise verur-sacht und an ihr verdient haben, endlich auch die Kostentragen? Nun gibt es einen Zwischenbericht der drei Ein-richtungen, und plötzlich werden Forderungen nach derBelastung der stärkeren Schultern laut – spät, aber es be-ginnt.Den öffentlichen Schulden – das will ich Ihnen sagen– stehen immer auch Vermögen gegenüber. Ich nenne Ih-nen nur drei Beispiele: In Griechenland gibt es 300 Mil-liarden Euro Schulden und ein Privatvermögen von540 Milliarden Euro, und zwar nur bei den 2 000 reichs-ten Familien, nicht etwa in der gesamten Bevölkerung.In Portugal gibt es 190 Milliarden Euro Schulden und553 Milliarden Euro privates Vermögen. Bei uns gibt es2,1 Billionen Euro Schulden und 1,9 Billionen Euro Ver-mögen nur bei den reichsten 0,6 Prozent der Bevölke-rung, und die FDP schreit immer auf, wenn sie nur einenhalben Euro mehr bezahlen sollen. Das ist wirklich nichtmehr nachvollziehbar.
Wir brauchen eine Vermögensabgabe und eine Vermö-gensteuer. Aber die Devise der Bundesregierung ist undbleibt eine Umverteilung von unten nach oben, nie inumgekehrter Richtung.
Herr Kollege Gysi, einen Augenblick, bitte. – Darf
ich darum bitten, dass wir auf der Regierungsbank
zumindest die Sicht auf den Redner wiederherstellen,
wenn schon nicht die allgemeine Aufmerksamkeit si-
chergestellt werden kann.
Wissen Sie, Frau Bundeskanzlerin, wenn zu IhrerRede eine Aussprache stattfindet, sollte man ab und zuauch einmal hinhören und nicht eine solche Arroganz anden Tag legen.
Wenn sich nun aber etwas verändert – ganz vorsichtig –,dann liegt das in erster Linie an den Protesten in Grie-chenland, auch in Spanien und in Portugal. Die Bevölke-rungen dort erzwingen eine Änderung der jeweiligen Re-gierungspolitik, niemand anderes.
Nachdem es so viel Kritik von Ihnen gab, sage ich: Ja,unser Parteivorsitzender Bernd Riexinger hat in Grie-chenland für soziale Gerechtigkeit mit demonstriert.
Darüber regen Sie sich auf. Wir wollen doch mehr Eu-ropa. Sagen Sie einmal: Darf ein Deutscher nicht inGriechenland demonstrieren? Darf Ihrer Meinung nachein Grieche nicht in Deutschland demonstrieren? – Woleben wir hier eigentlich? Das ist doch eine Selbstver-ständlichkeit.
Ich sage auch etwas zu den Hakenkreuzen, die dortgezeigt wurden. Wir lehnen das genauso ab wie Sie.Aber Sie müssen verstehen: Die Griechen verbinden Ha-kenkreuze gar nicht mit den KZs und diesen Verbrechen,sondern nur mit der Besatzungszeit. Trotzdem ist es völ-lig falsch.
Herr Schäuble begeht jetzt den Fehler, zu sagen: Grie-chenland bekommt ein Sperrkonto, damit das Geld ganzsicher nur an Banken, Versicherungen und Hedgefondsgeht. – Kein einziger Euro soll für Investitionen einge-setzt werden. Das ist doch eine Bevormundung. LassenSie das sein!Die Hakenkreuzfahnen sind trotzdem falsch.Deutschland ist nicht faschistisch und die Kanzlerin erstrecht nicht. Das sehen wir genauso; das sagen wir auchden Griechen. Die Vertreter der mit uns befreundetengriechischen Partei tragen diese Fahnen auch nicht. Aberdas Demonstrieren für soziale Gerechtigkeit in Grie-chenland ist mehr als berechtigt und dringend nötig.
Jetzt nenne ich Ihnen den Grund für Ihre verändertePolitik; Herr Steinbrück, Sie haben diesen Grund nichtgenannt. Frau Merkel war doch in China. Ich werde Ih-nen etwas erzählen. Es gibt diese veränderte Haltungnämlich auch wegen China. China möchte nicht nur denDollar als Weltwährung, sondern auch den Euro, damites ein bisschen spielen und anders auf dem Finanzmarkteingreifen kann.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23827
Dr. Gregor Gysi
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Deshalb hat China europäische Staatsanleihen aufge-kauft. Das Handelsblatt hat geschrieben – nicht ich,liebe Frau Künast –, dass es sich dabei um ein Viertel al-ler Euro-Anleihen handelt, einschließlich der deutschen.Nun waren Sie in China, Frau Bundeskanzlerin. Dahat Ihnen der Ministerpräsident gesagt, dass China nichtwill, dass Griechenland aus dem Euro ausscheidet; dennChina geht davon aus, dass das den Euro zerstört. Er hatSie ein kleines bisschen genötigt und soll Ihnen gesagthaben: Wenn Griechenland aus dem Euro ausscheidet,wird China alle Euro-Staatsanleihen auf den Markt wer-fen. – Dann hätten wir die nächste Krise. Ich sage Ihnenauch, warum. Wenn so viele Euro-Staatsanleihen auf denMarkt geworfen werden, sind sie natürlich nichts mehrwert. Dann ziehen sich die Investoren zurück, und eskommt zu einer schweren Währungskrise. Deshalb fuhrFrau Merkel danach nach Griechenland und sagte: Ihrmüsst bleiben. – Ich wundere mich, Frau Bundeskanzle-rin – ich muss das einmal sagen –: Sie hören viel zu we-nig auf uns, die demokratischen Sozialistinnen und So-zialisten.
Aber auf die chinesischen Kommunistinnen und Kom-munisten hören Sie. Das ist schon merkwürdig. HerrBrüderle, Sie sollten einmal darüber nachdenken, werhier das Mao-Jäckchen trägt.
Auf jeden Fall haben Sie, Frau Bundeskanzlerin, Sie,Herr Steinbrück, und wir recht: Griechenland darf nichtaus dem Euro gedrängt werden. Die Bertelsmann-Stif-tung hat jetzt festgestellt: Wenn das passiert, erleben wireine Rezession der Weltwirtschaft und anschließend hef-tige globale soziale Spannungen. – Wenn Sie nicht dafürsind, dann hören Sie mit diesem Gerede auf. Ich sagedeshalb noch einmal: An Griechenland darf kein Exem-pel statuiert werden, wie das der weltberühmte bayeri-sche Ökonom Markus Söder forderte. Das geht völligdaneben, wenn ich einmal darauf hinweisen darf.
Was braucht Griechenland? Griechenland braucht ei-nen Stopp der bisherigen Kürzungspolitik. Das sagt auchdie SPD. Aber, liebe SPD, dann können Sie hier nicht je-dem Europabeschluss, der genau diese Kürzungspolitikunterstreicht, zustimmen. Das ist nicht aufrichtig.
Wir brauchen endlich einen Marshallplan und Investitio-nen. Dann – und nur dann – bekommen wir auch unserGeld zurück. Es müsste direkte Konjunkturkredite undeinen direkten Kauf von Staatsanleihen durch die EZBgeben; es darf keinen Umweg über die privaten Bankengeben; die müssen wir dabei nicht reich machen. Das istdurch die Verträge verboten – ich weiß das –, und des-halb müssen die Verträge geändert werden. Wir brau-chen einen weiteren Schuldenschnitt der Banken. Diehaben sich schon dumm und dämlich verdient; mehrmuss nicht sein. Wir brauchen endlich eine Heranzie-hung der Vermögenden in der EU, auch wenn das Ver-mögen im Ausland liegt.Ich nenne immer drei Stichworte: Steuergerechtigkeitbrauchen wir. Steuerhinterziehung muss bekämpft wer-den. Steuerflucht muss verhindert werden. – Zur Verhin-derung von Steuerflucht – die Vermögenden ziehen im-mer so gerne auf die Seychellen, nach Liechtenstein undwas weiß ich wohin – gibt es einen einfachen Weg: Wirmüssen in Deutschland und in ganz Europa lediglichUS-Recht einführen und die Steuerpflicht an die Staats-bürgerschaft binden.
Dann können sie wohnen, wo sie wollen, und sie könnenihr Vermögen hinbringen, wohin sie wollen; aber dannbleiben die Deutschen hier steuerpflichtig, und die grie-chischen Vermögenden bleiben in Griechenland steuer-pflichtig. Warum führen wir das nicht ein? Ich habe da-rauf noch keine vernünftige Antwort von Ihnen gehört.
Darüber hinaus muss es in Griechenland zu einer Hal-bierung der Rüstungsausgaben kommen.
Nun komme ich zur Finanztransaktionsteuer. Es gibtjetzt elf Euro-Länder, die sie einführen wollen. Das istein Erfolg der Antiglobalisierungsbewegung und auchein Erfolg der Linken.
Sie, Herr Steinbrück, haben im Haushaltsausschuss ge-sagt, dass die Finanztransaktionsteuer eine sozialistischeSpinnerei sei.
– Ja, das liegt schon ein bisschen zurück. – Jetzt gibt esnur zwei Möglichkeiten, Herr Steinbrück: Entweder sindauch Sie ein sozialistischer Spinner, oder die Antigloba-lisierungsbewegung und die Linken hatten schon damalsrecht. – Äußern Sie sich doch einmal zu diesen beidenVarianten!
Bei der Umsetzung darf es aber keine Verwässerunggeben. Die Bundesregierung hat in ihrem Antrag an dieEU-Kommission nämlich darauf verzichtet, die Steuerauch beim Devisenhandel anzuwenden. Aber genau dashatten Union, FDP, SPD und Grüne anders vereinbart,und ohne den Devisenhandel ist die Steuer natürlich we-niger als die Hälfte wert.Auch in Deutschland führt die Krise zu immer mehrVerliererinnen und Verlierern. Dazu zählen Millionenvon Bürgerinnen und Bürgern, die private Lebensversi-cherungen abgeschlossen haben oder Riester-Verträgebesitzen. Auch die betriebliche Altersvorsorge ist be-
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Dr. Gregor Gysi
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droht; denn sämtliche Renditeversprechungen werdenSchritt für Schritt hinfällig.Es gibt auch eine Krise der Realwirtschaft. Der Inter-nationale Währungsfonds prognostiziert ein Wirtschafts-wachstum in China von 8,2 Prozent, in den USA von2,1 Prozent und in der Euro-Zone von minus 0,4 Pro-zent. Damit wird die Euro-Krise zur größten Sorgen-quelle der Weltwirtschaft. Lange Zeit haben viele ge-glaubt: Deutschland trifft das nicht. Aber das ändert sich.Durch die Kürzungsdiktate, durch die Senkung derKaufkraft in den südeuropäischen Ländern gehen jetztauch unsere Exporte zurück, und zwar immer deutlicher.Ich nenne nur folgende Beispiele: Die Quote der Exportenach Portugal ist um 14,3 Prozent gesunken; die Quoteder Exporte nach Spanien ist um 9,4 Prozent gesunken;die Quote der Exporte nach Griechenland ist um 9,2 Pro-zent gesunken. Nun schildere ich Ihnen noch den Ab-satzeinbruch bei der deutschen Automobilindustrie.
Nein, Herr Gysi, das schildern Sie jetzt bitte nicht, je-
denfalls nicht in dem Umfang, den Sie offenkundig ge-
plant hatten.
Das ist sehr schade. Dann sage ich Ihnen nur: Es wa-
ren 11 Prozent; damit Sie es wissen, Herr Bundestags-
präsident.
Ich hätte das natürlich ohnehin gewusst.
Zum Schluss sage ich Ihnen: Sie müssen Ihre Politik
in Europa ändern. Wenn Sie wollen, dass es mehr Eu-
ropa gibt, müssen Sie Europa auch für die Jugend attrak-
tiver machen. Dafür gibt es eine Bedingung: Die Umver-
teilung von unten nach oben muss beendet werden, und
mit einer gerechten Umverteilung von oben nach unten
muss begonnen werden. Anders werden Sie diese Krise
niemals meistern.
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege
Volker Kauder.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Die Bundeskanzlerin hat in beeindruckender Präzisionund Klarheit beschrieben, was im europäischen Reform-prozess auf uns zukommt.
Wir haben einige Fragen und Anmerkungen, aber – FrauBundeskanzlerin, das sollen Sie auch für die Beratungenheute Abend und morgen wissen – die Richtung stimmt.Wir stehen hinter Ihrer Politik in Europa.
Herr Steinbrück, dass Sie das eine oder andere heutezum ersten Mal von der Bundeskanzlerin gehört haben,verwundert uns nicht. Seien Sie in Zukunft öfter an ei-nem Donnerstag im Plenum! Dann wissen Sie, was dieBundesregierung meint und worauf es wirklich an-kommt.
Ich empfehle Ihnen auch dringend, keine falsche Spurzu legen, sondern die Dinge so zu sagen, wie sie wirklichsind. Auf das Wort eines Bundeskanzlers muss Verlasssein. Dahin gehend sind auch die Worte eines Kanzler-kandidaten zu überprüfen. Wir wurden gerade informiert– wir wussten das aber schon –, dass Ihre Aussagen zuden Empfehlungen der Europäischen Kommission zumReformprogramm in Deutschland nicht zutreffend sind.Dort steht in keinem einzigen Satz etwas über das Betreu-ungsgeld. Darin steht etwas über die Ganztagsbetreuung.Eine solche unzulässige Interpretation von Empfehlun-gen, die im Amtsblatt veröffentlicht wurden, ist unzuläs-sig, Herr Steinbrück.
In den Empfehlungen steht etwas, was vermutlichauch Sie, Herr Steinbrück, richtig finden. Sie habennicht darauf hingewiesen, dass in diesen Empfehlungensteht, dass die Abgaben- und Steuerlast für Geringver-dienende in Deutschland zu hoch ist, und Deutschlandermahnt wird, genau dies zu ändern. Dazu könnten Siebeitragen, indem Sie im Bundesrat endlich Ihre Blocka-dehaltung aufgeben.
Herr Kollege Steinbrück, da in den europäischen Emp-fehlungen für Deutschland von einer zu hohen Abgaben-last die Rede ist, wollen wir jetzt die Beiträge zur Ren-tenversicherung reduzieren. Aber da machen Sie nichtmit. Dort, wo die Empfehlungen klar aufzeigen, was zutun ist, verweigern Sie sich, weil Sie glauben, dass Siedies den Linken in Ihrer Partei nicht zumuten können.Das ist die eigentliche Position.
Herr Kollege Steinbrück, Sie müssen sich die Fragegefallen lassen, was noch gilt. Auf das Wort eines Kanz-lers und auch auf das eines Kanzlerkandidaten muss Ver-lass sein. Sie haben heute hier davon gesprochen, dasswir Wachstum brauchen. Richtig! Wir haben in Europaein Wachstumspaket aufgelegt und in diesem Zusam-menhang klare Positionen formuliert. Im Übrigen warschon im Vertrag von Lissabon ein Wachstumspaket vor-gesehen. Wenn sich alle an das gehalten hätten, was da-
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mals in Lissabon vereinbart worden ist – wir haben unsdaran gehalten –, wären wir schon ein gewaltiges Stückweiter.Jetzt komme ich zum Thema. Wer wirklich Wachstumwill, Herr Kollege Steinbrück, der kann doch nicht inDeutschland das Wachstum abwürgen. Genau das würdegeschehen, wenn Ihre Vermögensabgabe oder Vermö-gensteuer eingeführt würde. Genau dadurch würde dasWachstum gebremst. Jetzt sage ich Ihnen einmal, wasKollege Steinbrück hier vor einiger Zeit richtigerweisegesagt hat. Er hat gesagt, eine Vermögensteuer sei des-halb falsch, weil sie im Ertrag zu wenig bringe und weildie Probleme in der Abgrenzung zu unseren Familienbe-trieben zu groß seien.
– Er sagt jetzt auch noch, dass das stimmt. – Wenn Siebestätigen, dass es stimmt, dass eine Vermögensteuer fürunsere Betriebe schädlich ist: Wie können Sie sich dannhier hinstellen und erzählen, dass Sie eine Vermögensab-gabe, eine Vermögensteuer wollen?
Ich habe weder vom Kollegen Trittin noch von Ihnenbisher eine verfassungsgemäße Lösung für dieses Pro-blem gesehen.
– Nein, nein, Herr Trittin. – Ich kann nur sagen: WerWachstum will, darf nicht denjenigen Geld wegnehmen,die es brauchen, um zu investieren, damit Wachstum inunserem Land entsteht.
Deshalb sind Sie auf der völlig falschen Fährte.Ich halte fest: Wenn Sie die Empfehlungen fürDeutschland wirklich umsetzen wollen, dann müssen Siejetzt im Bundesrat ganz schnell den Steuervorhaben zu-stimmen und zustimmen, dass wir die Beiträge zur Ren-tenversicherung senken. An diesen beiden Punkten wer-den wir Sie messen. Daran werden wir sehen, ob Sietatsächlich bereit sind, in Europa das Notwendige zu tun.
Herr Kollege Steinbrück, wir brauchen gerade von Ih-nen keine Belehrungen
zum Umgang in Europa. Wie Sie sich hinsichtlich derSchweiz verhalten haben, das ist kein Beispiel für denUmgang in Europa. Herr Kollege Steinbrück, das istwahrhaftig kein Beispiel.
Ich rate Ihnen, nicht mit einer solchen Arroganz aufzu-treten.
– Herr Steinbrück, ich kenne Sie aus den Zeiten der Gro-ßen Koalition gut. Da habe ich vieles an Ihnen geschätzt.Aber Sie zeigen jetzt wieder etwas, das ich damals schonerlebt habe: eine persönliche Dünnhäutigkeit. Sie sindsehr gut im Austeilen; aber Sie müssen auch im Einste-cken gut werden. Herr Kollege, merken Sie sich das.
Wir stehen vor entscheidenden Veränderungen in Eu-ropa. Wir wissen, dass wir mehr Europa brauchen. Wirwissen, dass eine intensive Diskussion darüber stattfin-det. Die Bundeskanzlerin hat recht, wenn sie sagt: Dis-kussionen als Vielstimmigkeit zu beklagen, kann als Er-gebnis nur haben, dass wir gar nicht mehr darüber reden,wie es weitergehen soll. Wenn wir als nationales Parla-ment die Aufgabe haben, die Entwicklung Europas mit-zugestalten, dann muss auch darüber diskutiert werden.Ich kann nur sagen: Ich habe mich heute Morgen sehrgewundert. Zu keinem einzigen wesentlichen Punkt kameine Antwort auf die Fragen, die sich gerade in der Dis-kussion befinden; wohl aber gab es einen geradezu fle-henden Ruf von Ihnen, Herr Kollege Steinbrück, manmöge möglichst viel Geld nach Griechenland schicken.Sie hätten sagen müssen: Wir müssen in Griechenlanddafür werben, dass die notwendigen Reformen durchge-führt werden. – Nur das hilft dem Land, nicht aber sol-che Sprüche, wir müssten auf jeden Fall mehr Geld ge-ben.
Wir sind uns der Solidarität bewusst. Aber ohne Gegen-leistung kann es keine Leistung geben. Diesen Satz habeich von Ihnen nicht gehört.
Deswegen glaube ich, dass Sie kein guter Vertreter deut-scher und europäischer Interessen sein können.Wenn wir Europa wettbewerbsfähig machen wollen,müssen alle mitmachen. Das gilt für alle in Europa.Auch wir haben, wie ich vorhin an zwei Beispielen ge-zeigt habe, Bedarf, noch etwas zu verändern. Aber wirmüssen klar und deutlich im Interesse vor allem der jun-gen Generation sagen: Es müssen Strukturen geschaffenwerden, die Arbeitsplätze ermöglichen. – Spanien istbeispielsweise auf einem guten Weg, ein duales Ausbil-dungssystem auf den Weg zu bringen. Portugal ist bei-spielsweise dabei, entsprechende Strukturveränderungenvorzunehmen. Wer glaubt, den Menschen immer nur mitmehr Geld helfen zu können,
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der wird merken, dass genau das Gegenteil eintritt; dennan Geld hat es in Griechenland bisher nicht gemangelt,sondern an dem Willen, etwas zu verändern. Das mussnun vorangebracht werden.
Frau Bundeskanzlerin, ich bin Ihnen dankbar dafür,dass Sie das Augenmerk auch auf ein Thema gelenkt ha-ben, das für uns im Parlament von besonderer Wichtig-keit ist; ich habe das schon das letzte Mal angesprochen.Ein Mehr an Europa kann nicht ein Mehr an Europa vonBürokratie, Kommissionen und vielem anderem bedeu-ten, sondern ein Mehr an Europa muss ein Mehr an de-mokratischer Legitimation bedeuten.
Deswegen werden wir in der Koalition einer Übertra-gung von neuen Kompetenzen nur nachgeben können,wenn wir wissen, welche Kompetenzen, die aus der na-tionalen parlamentarischen Kontrolle übertragen wer-den, in eine neue parlamentarische Kontrolle hineinkom-men.
Mehr Räten ohne parlamentarische Legitimation werdenwir nicht zustimmen können.
Dies ist ein zentraler Punkt für uns; darüber müssen wirals Parlament intensiv diskutieren.Ich bin auch ganz klar der Meinung, dass wir für einedauerhafte Lösung in Europa – und damit, Herr Trittin,zu Ihrem Zwischenruf von vorhin – nicht das als Maß-stab nehmen können, was in einer Krise notwendig ist.Deswegen kann nicht eine Schuldenunion, eine Alt-schuldenunion und die Einführung von Euro-BondsMaßstab sein.
Vielmehr muss klar und deutlich sein, dass jeder solange Verantwortung für seine nationale Politik trägt, biswir eine gemeinsame Aufsicht, eine Bankenaufsicht,eine Haushaltsaufsicht haben. Sie reden einer Verge-meinschaftung von Schulden und Geldanleihen das Wortund nehmen damit den Druck heraus, die notwendigenRegelungen zu treffen, die Voraussetzung dafür seinkönnten, über so etwas überhaupt erst nachzudenken.
Ich kann nur sagen, Herr Kollege Steinbrück, nichtweil ich der Koalition angehöre, der auch die Bundes-kanzlerin und der Vizekanzler angehören, sondern weiles sich heute Morgen wieder einmal gezeigt hat: Wirkönnen froh und dankbar sein, dass diese Koalition indieser schwierigen Zeit unser Land regiert und AngelaMerkel die Interessen unseres Landes in Europa vertritt.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Renate Künast,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LieberHerr Kollege Kauder, lassen Sie mich am Anfang einehalbe Minute dafür verwenden, Sie darauf hinzuweisen,wie die europäischen Empfehlungen zur deutschenHaushaltspolitik lauteten. Ja, das Wort Betreuungsgeldwird nicht ausdrücklich erwähnt,
vielleicht deshalb nicht, weil man auf europäischerEbene gar nicht so schlecht und so kurios denken kann,
dass man wirklich glaubt, in Deutschland würde so et-was eingeführt.
Aber, meine Damen und Herren, in den Empfehlungensteht, dass Deutschland aufgefordert ist, eine Ganztags-betreuung einzurichten bzw. Ganztagsschulen für dieKinder des Landes zu bauen;
das hält man auf europäischer Ebene in wirtschaftlicherund sozialer Hinsicht nämlich für richtig. Sie könnenGanztagsbetreuung und Ganztagsschulen gerne als abso-lutes Gegenstück zum Betreuungsgeld verstehen.
Was Sie nicht erwähnt haben, Herr Kauder – daranzeigt sich Ihr Hang zur Vollständigkeit –: In den Emp-fehlungen steht auch, dass das Ehegattensplitting abge-schmolzen werden muss, um die Kinder in diesem Landzu finanzieren.
Herr Kollege Steinbrück, das hatten Sie ganz vergessen,zu erwähnen. Woran lag das? Wir werden es sehen.Nun zur Regierungserklärung der Kanzlerin. FrauMerkel, es hat mir nicht gereicht, dass Sie hier und heuteden Friedensnobelpreis für die EU erwähnt und lediglichgesagt haben, wie schön dieser Schatz in unserer Handist. Eine Bemerkung kann ich mir an dieser Stelle nicht
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verkneifen: Auf der einen Seite erleben wir, dass die Eu-ropäische Union den Friedensnobelpreis bekommt, undwir sehen, welchen Schatz wir in der Hand halten. In dergleichen Woche werden auf der anderen Seite Sinti undRoma, die in Serbien und Mazedonien in Bretterbudengehaust haben und den Winter fürchteten, als sie nachDeutschland kommen, bezichtigt, Asylmissbrauch zubetreiben. Meine Damen und Herren, das ist eines Frie-densnobelpreisträgers nicht würdig. Das hat mir nichtgereicht.
Mir hat auch nicht gereicht, was Sie aus der gegen-wärtigen Verschnaufpause, bedingt durch den Anleihen-kauf der EZB, gemacht haben. Sie haben lange zugelas-sen, Frau Merkel – auch wenn Sie gerade etwas anderesgesagt haben –, dass es in der Europapolitik und in derGriechenland-Politik Deutschlands zu einer Art Söderi-sierung kam. Das ist, glaube ich, so ziemlich dasSchlimmste, was man erleben kann:
die Stammtischadler, die in Kneipen über den Stamm-tischen im Luftraum kreisen und nicht daran denken,was für Deutschland und Europa gut ist. Auch an dieserStelle kamen Sie zu spät, Frau Merkel.
Sie kamen zu spät – das kann ich Ihnen nicht ersparen –,obwohl Sie hier und heute gesagt haben, Deutschland seiin vielen Bereichen vorangegangen. Sie redeten über denDelors-Plan. Ja, über den hätten wir vor zweieinhalbJahren reden können. Wo ist Deutschland da vorange-gangen? Sie redeten über den Europäischen Stabilitäts-mechanismus. Wir hätten ihn gerne schon im letztenHerbst verabschiedet. Aber Sie haben sich nicht dürfengetraut, weil Ihre Truppe offensichtlich nicht mitge-macht hätte.Wenn wir über Euro-Bonds und eine wirklich ge-meinschaftliche Haftung reden, sagen Sie: „Das wollenwir nicht“, um am Ende, wenn auch immer spät, dochumzufallen. Ein Beispiel dafür sind die EZB-Anleihen.In welchem Umfang haftet Deutschland? Wir haften für27 Prozent. Was ist denn das? Ein anderes Beispiel istdie Diskussion über eine extra Finanzkapazität für denEuro-Raum. Das alles sind Themen, bei denen wir ers-tens sehen, dass Sie wieder zu spät dran sind, und bei de-nen wir zweitens sehen, dass Sie am Ende doch umfal-len.Es war mir auch zu wenig, dass es in Ihrer heutigenRede nur um das Paket ging.
Sie haben heute keine wirkliche Perspektive aufgezeigtund keine Reformen vorgeschlagen. Ich muss Ihnenauch sagen: Sie haben heute nicht die ganze Wahrheitgesagt.
An dieser Stelle müssen wir kurz über Griechenlandreden. Schäuble hat ja am Sonntag letzter Woche inSingapur gesagt: „… there will be no Staatsbankrott inGreece“. Das kommt auch zweieinhalb Jahre zu spät.
Was kommt jetzt? Jetzt kommt die Idee eines Sperr-kontos, auf das die Gelder für die Griechen eingezahltwerden sollen. Was ist das nun wieder, Frau Merkel?Das ist eine Art Alibi dafür, dass erst die Schulden ge-tilgt werden. Dahinter steckt, dass in Griechenland dieNotenpresse angeworfen wird, um seine Probleme vorOrt zu lösen. Ich kann Ihnen nur sagen, Frau Merkel: Sa-gen Sie doch die ganze Wahrheit! Das ist wieder einekrude Idee, weil Sie sich nicht trauen, zu sagen: „Es wirdin diesem Hause ein drittes Griechenland-Paket geben“;denn Sie trauen sich nie, die ganze Wahrheit zu sagen.
Herrn Kauder möchte ich bezüglich Griechenland sa-gen: Es tut mir wirklich weh, dass Sie an dieser StelleRichtung Griechenland schlicht und einfach rufen: Esmangelt am Willen, zu verändern. Damit stehen Sie übri-gens im Dissens zu Ihrer Kanzlerin, die ja gerade gesagthat, sie habe erfahren, in Griechenland wolle man dochetwas ändern.
Herr Kauder, was mich daran ärgert, ist, dass Sie hierals konservativer Europäer stehen, der von der Ehe javielleicht etwas verstehen sollte. Oder? Zu der Ehe heißtes: in guten wie in schlechten Zeiten.
Ich kann nur sagen: Das heißt es auch in der Europäi-schen Union. In guten wie in schlechten Zeiten!
Deshalb darf man heute nicht einfach nur kritisieren,sondern muss in diesen Zeiten den 50 Prozent arbeitslo-sen Jugendlichen in Griechenland sagen: Ja, wir küm-mern uns darum, dass ihr eine Perspektive bekommt. –Darüber habe ich nur wenig gehört.
Ich habe eigentlich nichts über das europäische Inves-titionsprogramm gehört, das wir hier im Juli verabschie-det haben, als wir uns wegen Spanien getroffen haben.Wo ist denn dieses europäische Investitionsprogramm?Wo wird es denn eigentlich umgesetzt? Wo ist das Geld?
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23832 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
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Sie reden hier über Wachstum. Wir haben zu dem ent-sprechenden Zeitpunkt doch gesagt, wofür wir Gelderinvestieren wollen, damit sich zum Beispiel Griechen-land, aber nicht nur Griechenland, modernisieren undwirtschaftlich entwickeln kann: den Schienenverkehr,den öffentlichen Verkehr, die Energie. Wo ist dieses Pro-gramm? Sie sagen: Deutschland geht voran. Ich sageIhnen: Deutschland hat nicht einmal die Hausaufgabengemacht, die wir hier im Deutschen Bundestag verein-bart haben.
– So ist es.Nun zu den Vorschlägen, die im Detail gemacht wor-den sind. Schauen wir uns einmal die Vorschläge vonVan Rompuy bzw. der vier Präsidenten an. Sie sind jaauch im Auftrag der Bundeskanzlerin auf den Weg ge-bracht worden. Was wollen wir denn jetzt eigentlich?Van Rompuy oder Schäuble? Es ist schon eine gewisseChuzpe, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Be-richts der vier Präsidenten zu sagen: Nun schlagen wirwieder einmal das Gegenteil vor. – Das ist das typischevon Merkel und Schwarz-Gelb in Europa angerichteteChaos.Im Bericht von Van Rompuy bzw. der vier Präsiden-ten werden einige Punkte angesprochen: der Schuldentil-gungsfonds, die Bankenaufsicht, eine bessere Überwa-chung der nationalen Haushalte usw. Sie sind am Endeaber doch wieder nur Skeptiker. Ich will das einmal anden vier Punkten deutlich machen, die ja nicht Sie erfun-den haben, sondern im Bericht der Präsidenten stehen:Erstens. Die gemeinsame Finanzmarktpolitik. Siewollen jetzt auch eine Finanzmarktaufsicht bis Ende desJahres. Ich kann das ja nur begrüßen, weil Sie bisher alleimmer nur mit Samthandschuhen angefasst haben.Eine effiziente Regulierung wollen wir jetzt aber auchsehen. Das heißt, wir brauchen eine europäische Ab-wicklungseinheit oder eine europäische Einlagensiche-rung. Sie, Frau Merkel, haben an dieser Stelle am Endeaber doch wieder nur Andeutungen gemacht.Zweitens. Die gemeinsame Fiskalpolitik. Wir spre-chen uns für mehr Haushaltsdisziplin aus. Ja, aber dievier Präsidenten – darauf gehen Sie am Ende nicht ein –reden über die mögliche Einführung eines Altschulden-tilgungsfonds. Schon wieder verweisen sie darauf, dassein Altschuldentilgungsfonds nötig ist, allein schon, umden Zinsdruck für die betroffenen Mitgliedstaaten zuverringern. Das würde der Fonds ermöglichen. Was ha-ben Sie zur Zinsdrucksenkung angeboten, Frau Merkel?Bis zum Augenblick eigentlich gar nichts!Drittens. Die gemeinsame Wirtschaftspolitik. IhrenReden, Frau Merkel, folgen nie Taten. Bislang hat sichdie Bundesregierung eben nicht wirklich für eine Har-monisierung der Steuerpolitik oder gegen Steuerdum-ping eingesetzt.Wo ist Ihre Arbeitsmarktpolitik? Deutschland warbisher kein Vorkämpfer für eine europäische Regelung.Gegen die Jugendarbeitslosigkeit – ich habe es schon ge-sagt – haben Sie auch kein konkretes Programm. Dassind Sie heute schuldig geblieben.Am Ende wollen Sie sogar eher noch den europäi-schen Haushalt kürzen, aus dem man solche Programmefinanzieren könnte. An dieser Stelle, Frau Merkel, sindSie nicht glaubwürdig. Sie reden zwar immer für dasSoziale, aber trotzdem wollen Sie den europäischenHaushalt kürzen, sodass Sie das Soziale dann eben nichtmehr finanzieren können.
Zu dem vierten Aspekt, der stärkeren demokratischenLegitimation, die Van Rompuy und andere vorschlagen,kann man ja sagen: Deutschland steht dafür – im wahrs-ten Sinne des Wortes –, die europäischen Institutionen zuschwächen.Nun zu einigen Ihrer Detailvorschläge, die wildenund unabgestimmten Vorschläge von Herrn Schäuble,die Sie heute auch wieder benannt haben. Gucken wiruns das einmal an. Da soll jetzt ein Mann in Brüssel denDaumen heben oder senken
über den Haushaltsplan eines demokratisch gewähltenParlaments. Meine Damen und Herren, wir wollen mehrHaushaltsdisziplin und durchaus ein Stück Aufsicht andieser Stelle. Aber was schlagen Sie faktisch vor, weilSie eben nicht weitergehen? Sie schlagen doch faktischeinen Supermann, einen Superkommissar vor: Der istdann sozusagen Erster in einer Kommission. Das spaltetdie Europäische Kommission, weil es Kommissare un-terschiedlichster – –
– Bei Ihnen kann ich mir sofort vorstellen, dass es eineFrau wird, Frau Piltz. Machen Sie erst einmal die Quotein Aufsichtsräten, bevor Sie einen solchen Zwischenrufmachen!
Ihr Vorschlag ist ein Superkommissar als Erster unterGleichen in einer Kommission. Und wer sucht den dannaus, meine Damen und Herren?
Im Gemauschel, im Hinterzimmer die Regierungen wie-der, meine Damen und Herren. Dann hätten Sie dochmindestens an dieser Stelle sagen müssen, wie Sie sichdas vorstellen. Ein ausgemauschelter Kommissar, beidem das Parlament den Gesamtblock wählt, ist dochnicht demokratischer. Dann hätten Sie an dieser Stellesagen müssen: Diese Person wird durch das EuropäischeParlament eigenständig gewählt und könnte auch abge-wählt werden. Das wäre das Mindeste; aber das trauenSie sich wieder nicht, weil es dann aus dem Hinterzim-mer raus und rein ins Europäische Parlament geht, meineDamen und Herren.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23833
Renate Künast
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Alle Ihre Vorschläge sind meines Erachtens viel zu enggeworden. Am Ende muss ich sagen: Was ich mir ge-wünscht hätte
– ich komme gleich zur Mitgliederbefragung, HerrKauder –, wäre, bei Ihren Worten am Ende über dieKraft Europas, darüber, dass Europa mehr als Wäh-rungs-, Geld- und Haushaltspolitik ist, wenn wirklichklar gesagt würde: Wir wollen ein ökologisches undsoziales Europa.Sie haben über Talente und Technologien geredet.Dann sagen Sie es doch wirklich: Ein Europa, das mitseinen Nachbarn gut zusammenlebt, das nicht auf Kos-ten anderer Menschen irgendwo auf der Welt lebt, dasnicht auf Kosten der Jugend lebt, meine Damen und Her-ren. Dieses Europa – das haben Sie verpasst, FrauMerkel – braucht jetzt dringend jenseits des Dickichtsder aktuellen Verhandlungen einen europäischen Kon-vent unter Beteiligung –
Frau Kollegin.
– mein letzter Satz – der Sozialpartner, unter Beteili-
gung der Zivilgesellschaft, und dann kommen wir raus
aus den internen Zirkeln und machen einen Volksent-
scheid, an dem die gesamte europäische –
Frau Kollegin.
– Bevölkerung beteiligt wird. Das hätte eine Perspek-
tive heute sein können.
Gerda Hasselfeldt hat jetzt das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! Ja, es ist richtig, ich bin auch der Meinung,Europa ist mehr als der Euro. Das haben wir nicht nurheute mehrfach betont, sondern das wird in jeder dieserDebatten, in denen wir über den Euro und über Europareden, von uns immer wieder betont – und nicht nur indiesem Hause.Wenn jemand das noch nicht verstanden hat und nichtgehört hat, wie der Herr Steinbrück das vorhin zum Aus-druck gebracht hat, dann, finde ich, muss die Frageschon erlaubt sein: Wo war er denn dann,
als dies immer wieder zum Ausdruck gebracht und dis-kutiert wurde?
Trotzdem, meine lieben Kolleginnen und Kollegen,sollten wir uns heute schon auch noch einmal mit derFrage befassen: Wo stehen wir bei der Debatte über dieVertiefung bei der Wirtschafts- und Währungsunion?Was haben wir erreicht? Haben wir etwas erreicht?Da können wir mit Fug und Recht heute sagen: Wirsind in den letzten Monaten ein großes Stück vorange-kommen!
Der Europäische Stabilitätsmechanismus arbeitet be-reits, der Fiskalvertrag kann in Kraft treten, er wurde vonuns beschlossen. Die Finanzmarktsteuer wird kommen.Auch das haben wir in den letzten Monaten erreicht,nicht wegen des Geschreis der Opposition, sondern we-gen der Hartnäckigkeit und des hohen und großen Ver-handlungsgeschicks unseres Finanzministers. Dafürdanke ich ihm herzlich.
Auch die Situation in den Krisenländern ist besser ge-worden. Wir sehen dort rückläufige Handelsbilanzdefi-zite. Wir sehen, dass dort die Lohnstückkosten sinken,und damit sind diese Länder auf dem Weg zu mehr Wett-bewerbsfähigkeit. Einige Krisenländer haben sich in denvergangenen Wochen zu erträglichen Konditionen amKapitalmarkt refinanzieren können.Bei all den noch vorhandenen Problemen, die norma-lerweise mit jeder Umstrukturierung einer Wirtschaftverbunden sind, sind dies Erfolge, die man nicht einfachauf die Seite schieben soll, sondern diese Erfolge ma-chen deutlich: Der Weg ist richtig. Der Stabilitätskurs istrichtig. Vor allem Auflagen in Verbindung mit den Hil-fen sind richtig, aber eben Auflagen und Hilfen gemein-sam.
In einem schwierigen internationalen Umfeld ist auchDeutschland auf einem guten wirtschaftlichen Weg. Wirhaben eine weiterhin stabile positive wirtschaftliche Ent-wicklung. Wenn wir das machen würden, was uns von-seiten der Sozialdemokraten immer wieder empfohlenwird, nämlich Erhöhung der Erbschaftsteuer, der Vermö-gensteuer, der Einkommensteuer, dann hätten wir dieseChance verspielt, dann wären wir nicht mehr Wachs-tumslokomotive in Europa, wie wir es jetzt sind.
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23834 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Gerda Hasselfeldt
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Herr Steinbrück hat vorhin gesagt: Wir haben euchgezeigt, wie es geht. Schauen wir doch einmal: Was ha-ben Sie uns denn gezeigt? Sie haben uns gezeigt, wieFehler gemacht werden. Sie haben uns durch das Auf-weichen der Stabilitätskriterien in Ihrer Regierungszeitgezeigt, wohin das führen kann: dass sich nämlich nie-mand mehr in Europa an die Stabilitätskriterien gehaltenhat, weil Sie das Signal dazu gegeben haben, sich nichtdaran zu halten.Was haben Sie uns denn noch gezeigt? Sie haben unsgezeigt, wie man nach seiner Regierungszeit 5 MillionenArbeitslose hinterlässt. 5 Millionen Menschen ohne Be-schäftigung in einer Zeit, in der es keine Krise gegebenhat! Auf solche Rezepte können wir verzichten.
Nun gibt es eine aktuelle Diskussion über die Weiter-entwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion. Ichfinde das richtig. Es ist notwendig, die Lehren aus derKrise zu ziehen, die Defizite, deren Folgen wir in denvergangenen Jahren erleben mussten, zu beseitigen. Dagibt es meines Erachtens zwei Ziele, die bei all den Maß-nahmen, die zurzeit diskutiert werden, immer im Blickbehalten werden müssen. Das Erste ist das Ziel einerStabilitätsunion in Europa. Das Zweite ist das Ziel derWettbewerbsunion in Europa. Beide Ziele müssen glei-chermaßen verfolgt werden.
Diesen Zielen müssen die entsprechenden Maßnahmen,die heute diskutiert werden, die im Rat diskutiert werdenund die in den nächsten Monaten in ganz Europa disku-tiert werden, gerecht werden.Ein Vorschlag ist die Einrichtung einer europäischenBankenaufsicht. Sie ist notwendig. Sie ist richtig. Aberbei dem Punkt einer gemeinsamen europäischen Ban-kenaufsicht sind noch viele Fragen zu klären: Wie vieleBanken sollen beaufsichtigt werden? Auch hier, findeich, gilt das Subsidiaritätsprinzip. Es brauchen nichtTausende von Banken durch die europäische Bankenauf-sicht beaufsichtigt zu werden, sondern nur die system-relevanten, die grenzüberschreitenden.Eine anderer Punkt ist: Wenn diese Aufsicht bei derEZB angesiedelt sein soll, muss es eine strikte Trennungzwischen Geldpolitik und Aufsichtstätigkeit geben.Nicht zuletzt muss auch klar sein: Eine direkte Banken-rekapitalisierung durch den ESM kann es nur dann ge-ben, wenn diese europäische Bankenaufsicht nicht nuretabliert ist, nicht nur auf dem Papier steht, nicht nurvertraglich abgesichert ist, sondern wenn sie wirklicharbeitsfähig ist, wenn sie handlungsfähig ist, wenn sieeffektiv arbeiten kann. Erst dann kann es diese direkteRekapitalisierung geben,
und auch dann, liebe Kolleginnen und Kollegen, immernur mit Auflagen und Bedingungen. Es darf auch hierkeinen Blankoscheck geben. Darauf muss geachtet wer-den.Eine ganz zentrale Frage ist: Wie schaffen wir esdenn, dass wir wirklich die vereinbarten Stabilitätskrite-rien einhalten? Es war in den vergangenen Jahren einganz großes Defizit, dass von den vereinbarten Kriterienabgewichen wurde. Da muss man sich fragen: Ist das al-les wirklich abgesichert? Reichen die jetzigen Instru-mente? Reichen die jetzigen Kompetenzen? Diese Frageist, finde ich, durchaus berechtigt. Bei der Beantwortungmüssen wir sehr darauf achten, hier die richtigen Ant-worten zu geben und nicht über das Ziel hinauszuschie-ßen.Sinn und Zweck kann nur die wirklich verbindlicheEinhaltung der Stabilitätskriterien sein. Der Stabilitäts-rahmen muss die Grenzen dafür setzen; aber die Maß-nahmen müssen auch wirklich dazu geeignet sein, Stabi-lität zu erreichen. Da kann es sein, dass Kompetenzenauf eine andere Ebene übertragen werden. Sie dürfenaber nur dann übertragen werden, wenn wirklich sicher-gestellt ist, dass die Stabilitätskriterien damit besser undverbindlicher eingehalten werden, als das bisher der Fallwar. Vor diesem Hintergrund ist das alles zu prüfen.
Es gibt natürlich – das ist mir ein ganz besonderswichtiges Anliegen – noch eine Frage. Ich dachte eigent-lich, diese sei mittlerweile durch die vielen Diskussionenbei uns und auch in Europa auf die Seite gelegt. In demBericht aber, der heute diskutiert wird, ist wieder dieRede von gemeinschaftlicher Haftung. Meine Damenund Herren, das war und ist auch heute noch nicht dasrichtige Mittel, um die Probleme zu lösen, und zwar des-halb nicht, weil dann jeder Druck von den Krisenlän-dern, die die Hilfen nur mit Bedingungen und Auflagenbekommen, weggenommen wird. Es wird dann von denLändern, die ihre Reformen durchführen müssen, umwettbewerbsfähig zu werden, jeder Druck genommen.Weiter wird damit Druck von den Krisenländern genom-men, ihre Haushalte zu konsolidieren. Es muss das we-sentliche Ziel unserer Arbeit sein, für Stabilität und fürWettbewerbsfähigkeit zu sorgen. Das kann nur in deneinzelnen Ländern geschehen. Diesen Druck wegzuneh-men, wäre fatal und würde dem Ziel widersprechen.
Meine Damen und Herren, ich begrüße, dass die Dis-kussion intensiv geführt wird. Ich weiß auch die AnliegenDeutschlands bei der Bundeskanzlerin in guten Händen.Frau Bundeskanzlerin, ich möchte mich ausdrücklich fürIhre Standfestigkeit bei der Verhinderung von gemein-schaftlicher Haftung bedanken, für die immer wiederkeh-rende Mahnung nach Stabilität in jedem europäischenLand, aber auch für die Mahnung in Richtung Wettbe-werbsfähigkeit in jedem europäischen Land; denn davonleben wir insgesamt.Europa ist mehr als derEuro, aber der Euro ist einwichtiger Teil dieses Europas. In den letzten Monatenhaben wir gesehen, dass wir gerade in dieser Krise auchein Stück mehr zusammengewachsen sind. Das, was
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Gerda Hasselfeldt
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noch vor einigen Jahren nicht so selbstverständlich war,nämlich ein Stabilitätsbewusstsein –
Frau Kollegin!
– ich bin gleich fertig –, ist in allen Herzen der euro-
papolitisch Verantwortlichen spürbar geworden. Darauf
müssen wir aufbauen.
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Sigmar Gabriel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Kauder hat vorhin meinem Kollegen Steinbrück
vorgeworfen, er habe bei dem Hinweis darauf, dass die
Europäische Kommission Deutschland kritisiert und auf-
gefordert habe, die Finger vom Betreuungsgeld zu las-
sen, die Europäische Kommission falsch zitiert, und ihm
vorgeworfen, hier nicht die Wahrheit gesagt zu haben.
Ich will das gerne klarstellen, weil Herr Kauder unrecht
hat. Ich weiß nicht, Herr Kauder, ob es an der Überset-
zung liegt oder woran auch immer. Ich lese es Ihnen ein-
fach vor, und ich finde, damit sollten wir dann diese
Auseinandersetzung beenden.
– Ja, gut. – Ich unterstelle jetzt einmal, dass Sie Englisch
verstehen. Deswegen lese ich es einfach vor. Die Kom-
mission hat in ihren länderspezifischen Empfehlungen
zu Deutschland in der vom Rat gebilligten Version vom
6. Juli 2012 ausgeführt:
The low full-time participation of women in the la-
bour force is a concern.
Dann heißt es dort wörtlich:
Fiscal disincentives for second earners and the lack
of full-time childcare facilities and all-day schools
hinder female labour market participation.
„Fiscal disincentives for second earners“ heißt: finan-
zielle Fehlanreize für Zweitverdiener. In Deutschland
gibt es nur einen finanziellen Fehlanreiz für Zweitver-
diener, den wir aktuell debattieren,
und das ist Ihre wirklich schwierige Idee, ein Betreu-
ungsgeld einzuführen, um Leute bzw. Frauen daran zu
hindern, arbeiten zu gehen.
Das hat die Europäische Union kritisiert. Auf diesen Be-
schluss vom 6. Juli 2012 hat der Kollege Steinbrück zu
Recht hingewiesen.
Ihre Unterstellung, er habe hier die Unwahrheit gesagt,
ist falsch.
Ich finde die Tatsache, dass die Frau Bundeskanzlerin
in der Empfehlung dem Rat zugestimmt hat, in Ordnung.
Sie hat offensichtlich dieser Empfehlung der Kommis-
sion zugestimmt. Ich finde, es gibt ausreichend Gründe,
die auch in Ihrer eigenen Fraktion vorgetragen werden,
von diesem Unfug die Finger zu lassen. Warum ausge-
rechnet Sie das noch öffentlich verteidigen, ist mir, ehr-
lich gesagt, schleierhaft.
Der Kollege Kauder zu einer Kurzintervention.
Herr Kollege Gabriel, zunächst einmal finde ich esbemerkenswert gerade aus Ihrem Munde und aus Rich-tung der SPD, dass der sogenannte Zweitverdiener im-mer automatisch eine Frau sein soll, wie Sie es gesagthaben.
Das finde ich ausgesprochen bemerkenswert.
Jetzt zum Text. Wir sind uns einig, dass hier im Deut-schen Bundestag bei der Beratung von Vorlagen derdeutsche Text verwendet wird.
Denn noch immer ist die Sprache im deutschen Parla-ment Deutsch.Jetzt will ich Ihnen vorlesen, was dort steht, damit dasklar ist:… die fiskalischen Fehlanreize für Zweitverdienerabschafft und die Zahl der Ganztagskindertagesstät-ten und -schulen erhöht.
Jetzt kann ich nur sagen: Wenn ein Kanzlerkandidat unterfiskalischen Fehlanreizen für Zweitverdiener ausschließ-lich das Betreuungsgeld versteht, dann ist er sowieso fehlam Platz. Das ist eine unglaubliche Interpretation.
Herr Steinbrück hat gesagt, dass das Betreuungsgeldkritisiert wird. Das steht nicht drin. Ich rate dringend fürdie Zukunft, sich präzise an das zu halten, was kommt.
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23836 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Volker Kauder
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Zitate müssen stimmen. Bei Ihnen haben sie nicht ge-stimmt, Herr Kollege.
Der Kollege Hermann Otto Solms hat das Wort für
die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Frau Bundeskanzlerin, wir sind Ihnensehr dankbar, dass Sie die Weiterentwicklung von Eu-ropa heute in so klarer und präziser Form geschildert undan die Grundprinzipien erinnert haben, auf deren Basiswir Europa weiterentwickeln wollen.
Dazu gehört insbesondere die demokratische Legitima-tion der zuständigen Institutionen und Körperschaften.In diesem Zusammenhang will ich daran erinnern,dass das Bundesverfassungsgericht uns erst vor kurzemdaran erinnert und angemahnt hat, dass über die Haus-haltsmittel bzw. die Steuermittel in Deutschland derBundestag alleine zu entscheiden hat.
Wenn jetzt die Finanztransaktionsteuer in die Diskus-sion eingeführt wird, mit der ein europäischer Fondsmöglicherweise finanziert werden soll, dann will ich da-ran erinnern, dass dies aus unserer Sicht auf keinen Fallein Einstieg in eine Europasteuer ist. Das kommt über-haupt nicht infrage.
Das Geld der Finanztransaktionsteuer steht dem Haus-halt zur Verfügung, und der Deutsche Bundestag ent-scheidet darüber, wie dieses Geld eingesetzt wird. Wenndie Mittel des Strukturfonds und Kohäsionsfonds in Eu-ropa, die teilweise nicht sehr gut eingesetzt worden sind,neu ausgerichtet werden und in vernünftige Projekte ein-geführt werden, dann ist das eine gute Idee.Die Finanztransaktionsteuer im Übrigen – daran willich auch erinnern – ist an bestimmte Bedingungen gebun-den, denen wir, die Fraktionen, alle zugestimmt haben.Sie soll nämlich nicht die Kleinsparer und die Altersver-sorgung der Riester-Rentner belasten, sie soll auch nichtdie Finanzierung des deutschen Mittelstandes belasten,und sie soll den deutschen Finanzplatz im Wettbewerbmit internationalen Finanzplätzen nicht zurücksetzen.Dann bin ich gespannt, wie der Inhalt dieser Steuer aus-sehen wird.Im Übrigen haben Sie daran erinnert, dass die Prinzi-pien der sozialen Marktwirtschaft gelten sollen, dassmehr Wettbewerb in Europa organisiert werden muss,dass das Prinzip der Subsidiarität endlich auch stärkerberücksichtigt werden muss, dass Hilfen gewährt wer-den, die aber strikt an Konditionen gebunden sind. Esmuss bei dieser Konditionalität bleiben.In diesem Zusammenhang möchte ich daran erinnern,dass auch die FDP niemals den Austritt von Griechen-land gefordert hat.
Was wir gefordert haben, ist, dass Griechenland die vonihm selbst zugesagten Bedingungen auch erfüllt; dennwenn es das nicht tut, geraten wir selbst in Glaubwürdig-keitskonflikte gegenüber unseren Steuerzahlern inDeutschland.
Wir stellen Milliarden für Griechenland zur Verfügung;aber wir wollen, dass das Geld auch vernünftig einge-setzt wird und dazu führt, dass die Wirtschafts- und Leis-tungskraft von Griechenland in Zukunft gestärkt wird,und dass das Geld nicht zweckentfremdet eingesetztwird.Schließlich gilt das Prinzip des Verbots der Haftungs-vermischung. Es muss das Grundprinzip unserer Rechts-ordnung gelten, dass jeder für sein Handeln verantwort-lich ist und zur Verantwortung gezogen werden kann.Dies gilt für den einzelnen Bürger genauso wie für denStaat und die Staaten. Deswegen kann es keine Euro-Bonds oder andere Formen der Haftungsvermischunggeben.
Herr Kollege Steinbrück, Sie haben ja neulich in einerPressekonferenz einen großen Aufschlag zur Regulie-rung der Finanzmärkte gemacht. Die Zielsetzung ist inOrdnung; damit sind wir völlig einverstanden. Ich habemir die einzelnen Vorschläge angeschaut und habe fest-gestellt, dass etwa 80 Prozent dieser Vorschläge bereitsrealisiert sind
oder sich auf dem Weg der Realisierung befinden unddass dann als origineller Vorschlag nur noch die Fragedes Trennbankensystems übrig bleibt. Dies ist, wie Sie jaauch selbst wissen, in der Fachwelt höchst umstritten.Ich will gar kein Urteil darüber fällen; aber das ist jeden-falls ein sehr umstrittener Vorschlag. Damit werden Siekeine großen Punkte machen können. Für uns ist jeden-falls wichtig, dass es auch in Deutschland handlungsfä-hige, funktionsfähige Banken geben muss, die den deut-schen Mittelstand bei einer Internationalisierung auch imAusland begleiten können.
Das ist die Aufgabe der Banken, und diese Zielsetzungdarf in keinem Fall eingeschränkt werden.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23837
Dr. Hermann Otto Solms
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Die Bankenunion und die Aufsicht der Banken in Eu-ropa sind richtig. Aber sie muss so organisiert werden,dass sie auch funktioniert. Jeder in diesem Hause weiß:Eine neue Bankenaufsicht aufzubauen, geht nicht vonheute auf morgen. Da brauchen Sie viel Sachverstandund qualifizierte Menschen; das dauert Jahre. Deswegen,meine ich, sollte die Aufsicht so organisiert werden, dasssie mit den nationalen Aufsichten eng zusammenarbeitetund dass die europäische Bankenaufsicht im Zweifelsfalleben den einzelnen Konfliktfall an sich ziehen kann,aber nicht generell für alle Banken zuständig ist. Daskann man auch nicht daran bemessen, ob eine Bank sys-temrelevant ist oder nicht. Wenn Sie an die spanischenSparkassen denken, werden Sie feststellen, dass sie ge-nauso Gegenstand der Überprüfung der europäischenBankenaufsicht sein können wie eben Großbanken, dietatsächlich systemrelevant sind. Das muss man dann imEinzelfall entscheiden können.Meine Damen und Herren, die FDP-Fraktion setztsich entschieden dafür ein, in Europa voranzukommenund ein gemeinschaftliches Europa weiterzuentwickeln,aber grundsätzlich auf der Basis der demokratischen Le-gitimation. Da gibt es noch erhebliche Defizite, die zubeseitigen sind.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Der Kollege Norbert Barthle hat das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Wir befinden uns jetzt im Vorfeld des Europäischen Ra-tes wieder in der Situation, uns ernsthaft mit dem ThemaEuropa auseinandersetzen zu müssen. Nach wie vormüssen wir einerseits kurzfristige Stabilisierungsmaß-nahmen ergreifen – ich denke an Griechenland, ichdenke an Spanien –, andererseits aber auch grundsätzli-che, weitreichende Weichenstellungen für die Zukunftder Europäischen Union und der Euro-Zone vornehmen.Lassen Sie mich deshalb drei kurze Anmerkungen ma-chen.Erstens. Es ist gerade in diesen aufgeregten Zeitenimmer gut, sich zu vergewissern, was unsere Grundposi-tionen sind. Sie lauten für mich eindeutig: Alle Mitglied-staaten sind aufgefordert, solide zu wirtschaften und ihreVolkswirtschaft wettbewerbsfähig aufzustellen.Wir brauchen ein vernünftig reguliertes Finanzsys-tem, um Exzesse in jede Richtung vermeiden zu können.Unsere Banken sind Voraussetzung für funktionsfähigeMärkte, sind der Schmierstoff für eine wachsende Wirt-schaft, für wettbewerbsfähige Staaten. Daran darf mannicht rütteln. Deshalb appelliere ich vor allem an die Op-position, von eventuellen Überlegungen, einen Anti-Banken-Wahlkampf zu führen, Abstand zu nehmen. Werdas macht, schadet nicht nur der Wirtschaft, sondernauch dem europäischen Gedanken.
Die Politik hat mit dem ESM und mit dem Fiskalver-trag grundsätzliche Bausteine für die Stabilitätsarchitek-tur in Europa geschaffen. Wir sind mit der Finanzmarkt-regulierung schon ein ganzes Stück vorangekommen.Deshalb kann man feststellen, dass diese Koalition, dieKoalition aus CDU, CSU und FDP, der Motor für dieStabilisierung Europas ist. Daran soll auch künftig nichtgerüttelt werden, dabei soll es auch bleiben. Das hat uns,nebenbei gesagt, auch der Weltwährungsfonds in Tokiobestätigt, der von „significant progress“,
von signifikanten Fortschritten in Europa – ich habewörtlich zitiert –, gesprochen hat.Signifikante Fortschritte sind erzielt worden, und daswar das Ergebnis der Arbeit dieser Koalition, meine Da-men und Herren. Da brauchen wir auch keine Ratschlägevon der Opposition, die hier mit der Attitüde – Herr Kol-lege Steinbrück, erlauben Sie mir diese Anmerkung – ei-nes etwas arrogant wirkenden Besserwissers vorgetragenwerden;
denn wer nur darstellt, was man in der Vergangenheitvielleicht hätte besser machen können, anstatt zu sagen,wohin man in Zukunft gehen muss, der verfehlt eigent-lich sein Ziel.
Wenn Sie sich als ehemaliger Finanzminister hier hin-stellen und sagen, eigentlich müssten wir doch unsereZiele, was die Konsolidierung anbelangt, viel schnellererreichen, dann rate ich Ihnen: Wenden Sie sich an Ihreeigenen Haushälter. Ich bin gespannt auf die Einsparvor-schläge. Bei der Infrastruktur und den Investitionen kön-nen wir nicht weiter sparen. Wo es noch Spielräumegäbe, das wäre im sozialen Bereich. Da bin ich einmalgespannt auf Ihre Vorschläge.
Zweitens. Wir brauchen für die Zukunft Europas wei-tere Korrekturen an den Fundamenten unserer Wäh-rungsunion. Dazu trägt der jetzige Rat mit Sicherheit bei,vor allem dann bis Ende des Jahres. Unsere Positionensind ganz klipp und klar: keine systematische Verge-meinschaftung von Schulden, keine Euro-Bonds, keineAltschuldentilgungsfonds.SPD und Grüne klatschen immer Beifall, wenn sieden Begriff Altschuldentilgungsfonds hören.
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23838 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Norbert Barthle
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Die Position muss klar sein: Ein Altschuldentilgungs-fonds darf niemals dazu führen, dass man den Ländern,die ohnehin über eine überhöhte Verschuldung klagen,die Möglichkeit eröffnet, erneut Schulden aufzunehmen.Das wäre der falsche Weg; er führt in die Irre. Deshalbsind wir an dieser Stelle sehr zurückhaltend.
Wir sind der Meinung: Die Euro-Zone muss hand-lungsfähig bleiben. Deshalb darf es auch nicht sein, dasseinige wenige Staaten dauerhaft wichtige Projekte, diezur Stabilität beitragen, blockieren können. Deswegenbraucht es neue Regelungen. Man hat immer wieder denEindruck: Auf den Gipfeln vereinbart man donnerstagsund freitags gute Beschlüsse, schließt man gute Verträge,aber kaum ist der eine oder andere montags zu Hause,dann überlegt er, wie er um die Regeln herumkommt.Das ist in der Vergangenheit unter Rot-Grün mit denMaastricht-Kriterien passiert. So etwas darf es in Zu-kunft nicht mehr geben. Auch dafür müssen wir Vorkeh-rungen treffen.Wenn es dann noch gelingt, für entsprechende Kon-trollmechanismen eine stärkere demokratische Legitima-tion einzubauen, dann kommen wir tatsächlich weiter.Dabei kommen wir sehr schnell zur Frage der nationalenHaushalte und zum Budgetrecht des Bundestages.Meine Damen und Herren, wir haben mit dem Euro-päischen Semester beschlossen, dass Haushalte bereitsim Entwurfsstadium nach Brüssel gemeldet werden. Dasist gut und richtig, und das haben wir alle beklatscht. Esentsteht jedoch die Frage: Was geschieht dann? Werdendie Haushalte nur zur Kenntnis genommen, oder gibt estatsächlich jemanden, der die Gelbe oder die Rote Karteziehen kann, wenn ein nationaler Haushalt aus dem Ru-der läuft und Korrekturnotwendigkeiten entdeckt wer-den? Eine solche Person müssen wir auf europäischerEbene demokratisch legitimieren, damit sie die Gelbeoder die Rote Karte ziehen und sagen kann: Freunde, ihrmüsst noch einmal darüber nachdenken, ob ihr auf demrichtigen Weg seid.
Mehr Europa heißt an mancher Stelle auch: mehr Kon-trolle, aber eben demokratisch legitimierte Kontrolle.Drittens. Lassen Sie mich ein kurzes Wort zur Ban-kenunion sagen. Unsere Bundeskanzlerin hat recht,wenn sie sagt: Zuerst braucht es eine funktionierendeAufsicht; dann kann man über alles Weitere reden. EineÜbernahme von Haftung kann nicht zuvor erfolgen, son-dern erst dann, wenn es eine funktionierende Aufsichtgibt. Deshalb genügt es nicht, sozusagen auf der Über-holspur irgendwelche Strukturen aufs Papier zu schrei-ben. Aufsichtsstrukturen müssen auch installiert werden,damit man entsprechende Vorkehrungen treffen kann.Bei Fehlentwicklungen muss eingegriffen werden kön-nen. Wir brauchen europaweit so etwas wie eine Re-strukturierungsmöglichkeit, um bei Fehlentwicklungeneingreifen zu können, vor allem bei den großen, system-relevanten Banken.Wir wollen allerdings nicht, dass national, regionaloder gar lokal tätige Institute in diese Haftung einbezo-gen werden. Uns geht es um grenzüberschreitend tätigeGroßbanken, um systemrelevante Banken. „Too big tofail“ muss der Vergangenheit angehören. Dazu brauchtes entsprechende Vorkehrungen.Ich freue mich, dass unsere Bundesregierung, allenvoran unsere Bundeskanzlerin, in der Vergangenheit inall diesen Fragen immer mit großer Standhaftigkeit undmit großer Beharrlichkeit verhandelt hat. Das war er-folgreich, und das wird auch in Zukunft erfolgreich blei-ben. Ich wünsche unserer Bundeskanzlerin für die anste-henden Verhandlungen dieselbe Standhaftigkeit undBeharrlichkeit.Herzlichen Dank.
Der Kollege Klaus-Peter Flosbach hat jetzt das Wort
für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir haben in den letzten fünf Jahren drei Krisen erlebt:erst die Bankenkrise 2007, die Finanzkrise, 2009 dieWirtschaftskrise und Anfang 2010 den Beginn derStaatsschuldenkrise. Die meisten wissen gar nicht, dasswir, diese Koalition, erst seit drei Jahren an der Regie-rung sind. Wir hätten diese Probleme heute nicht, wennnicht Mitte des ersten Jahrzehnts dieses Jahrtausends dierot-grüne Koalition den Stabilitätspakt gebrochen hätte.
Herr Steinbrück hat in seiner Rede intensiv über Fi-nanzmarktregulierung gesprochen. Wir haben in diesendrei Jahren über zwanzig Maßnahmen der Finanzmarkt-regulierung durchgeführt. Das Wichtigste war: mehr Ei-genkapital, insbesondere bei großen Banken. HeuteNachmittag diskutieren wir über die Widerstandskraftder Banken in Deutschland und in Europa, insbesondereüber die Themen Eigenkapital und Liquidität. Paralleldazu diskutieren wir über die Regulierung von Hedge-fonds. Parallel dazu diskutieren wir über eine Regulie-rung außerbörslich gehandelter Derivate.Wir in Deutschland sind die Ersten, die ein Restruktu-rierungsgesetz verabschiedet haben – mit einer Banken-abgabe.
Wir sind die Ersten mit einer Regulierung des Hochge-schwindigkeitshandels. Wir sind die Ersten mit dem Ver-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23839
Klaus-Peter Flosbach
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bot der sogenannten ungedeckten Leerverkäufe, der Spe-kulationsgeschäfte. Wir sind auch die Ersten mit einerneuen Regelung der Honorarberatung. Wir haben denAnlegerschutz verbessert.Wir diskutieren auch über die europäische Aufsichtüber Banken, Versicherungen und Wertpapiere, die wirauch inzwischen umgesetzt haben. Auch das ThemaSchattenbanken ist aktuell in der Beratung. Ebenso istder Vorschlag von Liikanen – Stichwort: Eigenhandelder Banken bzw. Trennbanken – in der Debatte. HerrSteinbrück, Sie haben über dieses Thema gesprochen.Ich mache Ihnen keinen Vorwurf; denn Sie haben nichtmit uns über diese Themen diskutiert. Ich habe von Ih-nen mehrere Reden aus dem Jahr 2009 nachgelesen. Siehaben immer über Ihre Bemühungen gesprochen, erstauf der internationalen und der europäischen Ebene underst dann auf deutscher Ebene etwas umzusetzen. HerrSteinbrück, wir haben uns nicht bemüht, wir haben um-gesetzt. Diese Regierung mit Kanzlerin Merkel und mitFinanzminister Schäuble hat in den letzten drei JahrenMaßnahmen umgesetzt.
Meine Damen und Herren, wir stehen vor dem Euro-päischen Rat. Es wird über eine einheitliche Bankenauf-sicht diskutiert. Wir sprechen von der Bankenunion.Kann die Aufsicht verbessert werden? Ich bin der Mei-nung: Ja, die Bankenaufsicht kann verbessert werden.Das bisherige System der Regulierungsbehörde, derEBA – so heißt sie –, in Verbindung mit den nationalenBehörden ist meines Erachtens nicht ausreichend. Ichdenke, eine europäische Aufsicht einzurichten, die beisystemrelevanten Banken durchgreift, die internationaltätig sind, ist genau der richtige Weg. In der Startphasesind hier natürlich die nationalen Aufsichtsbehörden ge-fordert. Das ist meines Erachtens der richtige Ansatz.Es kann aber nicht sein, dass alle Banken einer euro-päischen Aufsicht unterstehen. Es gibt das Prinzip derSubsidiarität – Frau Hasselfeldt hat es gerade noch ein-mal deutlich dargestellt –, das besagt: Was vor Ort gere-gelt werden kann, muss auch vor Ort geregelt werden.Deswegen kann ich nicht akzeptieren, dass zum BeispielVolksbanken, die vor Ort tätig sind, der Aufsicht von Eu-ropa unterstehen.
Nein, überall dort, wo es systemische Risiken gibt,muss es selbstverständlich eine europäische Aufsicht ge-ben, ansonsten ist die Aufsicht vor Ort zu regeln.
Die Rolle der europäischen Aufsicht soll die Europäi-sche Zentralbank übernehmen. Das ist natürlich eineneue Rolle für die Europäische Zentralbank; denn sie istbisher ausschließlich für die Finanzmarktstabilität zu-ständig. In Zukunft soll sie auch eine Aufsichtsrolleübernehmen, und zwar neben der Geldversorgung. Nachwie vor ist sie für die Banken zuständig. Hier gibt es na-türlich einen Konflikt. Deswegen erwarten wir, dass eineklare Trennung vorgenommen wird und dass, was dieAufsicht angeht, eine demokratische Kontrolle gewähr-leistet ist.Es wird viel davon gesprochen, dass schon zum 1. Ja-nuar die Bankenunion realisiert werden sollte. Nicht nurwir, sondern auch die Wissenschaft haben größte Zwei-fel daran. Wer marktunabhängig ist, weiß, dass das imGrunde nicht umsetzbar ist; denn es sind nur noch zweiMonate bis zum Jahresende. Wir können eine gemein-same Bankenaufsicht nur dann akzeptieren, wenn einespürbare Verbesserung gewährleistet ist, wenn die Zu-ständigkeiten geklärt sind und auch das Verhältnis vonEuropäischer Zentralbank zu den nationalen Aufsichts-behörden und den europäischen Behörden geklärt ist.Es gibt den Vorwurf, dass viele dies schnell umsetzenwollen, um möglicherweise ohne Konditionen an Gelderaus dem ESM zu kommen. Deswegen fordere ich dieBundeskanzlerin auf, bei den Verhandlungen mit denPräsidenten der verschiedenen europäischen Institutio-nen deutlich zu machen, dass wir erst dann eine Abgabevon Souveränitätsrechten akzeptieren werden, wenn dieFunktionsfähigkeit der europäischen Aufsicht gegebenist.Auf europäischer Ebene wird bei dem Thema Ban-kenunion auch über das Restrukturierungsgesetz gespro-chen. Wir halten das für den richtigen Weg. Banken, diein eine Schieflage geraten, müssen saniert werden, siemüssen aber auch gegebenenfalls restrukturiert oderauch abgewickelt werden können. Wir müssen in dieserPhase aufpassen, dass wir nicht Entscheidungen auf dieeuropäische Ebene verlagern, ohne dass vorher die na-tionale Verantwortung dafür geprüft wurde. Wir erwar-ten, dass jede Bank, die in Zukunft auf europäischerEbene geprüft wird, zunächst einen Stresstest durchläuft.Es muss deutlich gemacht werden, dass die Verantwor-tung für die Banken zuerst auf nationaler Ebene wahrge-nommen werden muss, damit nicht einige Länder ihreVerantwortung auf Europa abschieben, um von Zahlun-gen befreit zu sein.Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.Wir akzeptieren keine gemeinsame Einlagensicherung.Wir haben in Deutschland ein bewährtes System mit denverschiedenen Säulen. Das hat sich bewährt. Wir solltennicht zerstören, was sich bisher bewährt hat.
Ich kann nur sagen: Diese Regierung steht für Stabili-tät. Diese Regierung steht zu Europa. Deswegen wün-sche ich unserer Kanzlerin viel Erfolg beim anstehendenGipfel.Vielen Dank.
Michael Stübgen hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
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23840 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit bald dreiJahren beschäftigen wir uns in diesem Bundestag regel-mäßig mit der Euro-Finanzierungskrise; ich glaube, soformuliert man es am besten. Von Anfang an haben nichtnur die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen,sondern im Wesentlichen vier Fraktionen in diesemHaus immer einen doppelten Ansatz versucht.Zunächst war und ist es notwendig, dass wir direktmit den entsprechenden Rettungsschirmen auf die Krisereagieren und Hilfsprogramme durchführen. Daran ar-beiten wir seit zweieinhalb Jahren. Wir haben mit In-krafttreten des Europäischen Stabilitätsmechanismusjetzt auch ein effizientes, effektives System geschaffen.Nach meiner Einschätzung sind die flankierendenMaßnahmen, die die Europäische Zentralbank unabhän-gig, von sich aus für bestimmte Instrumente vorsieht, derrichtige Ansatz, um jetzt in der Krise schnell aufschlechte Entwicklungen an den Finanzmärkten und aufEntwicklungen im Zusammenhang mit der Euro-Staa-tenfinanzierung reagieren zu können.Allerdings haben wir uns auch von Anfang an mitdem Thema beschäftigt, dass die Ursache dieser Krise,in der wir versuchen, kurzfristig das Schlimmste zu ver-hindern, auch in Fehlkonstruktionen der EuropäischenUnion und der europäischen Strukturen liegt.Es ist nicht das erste Mal, dass wir uns damit beschäf-tigen. Schon vor anderthalb Jahren haben wir mit demEuro-Plus-Pakt auf Fehlkonstruktionen der Europäi-schen Union reagieren wollen. Das sogenannte Six-Pack– die Kanzlerin hat darauf hingewiesen –, die Schärfungder Kontrolle der Fiskalpolitik, aber auch der Wirt-schaftspolitik der Euro-Länder, ist ein wichtiger Be-standteil für einen langfristigen Umbau.Wir alle wissen, dass die Europäische Union an ver-schiedenen Punkten noch weiter umstrukturiert werdenmuss. Hierüber wird der Europäische Rat heute Abendund morgen in einer Art Zwischenetappe diskutieren, je-doch noch nicht zu Endergebnissen kommen.Nach meiner Einschätzung ist das angestrebte Zielder vier Präsidenten, die sogenannte Vier-Säulen-Struk-tur, der richtige Ansatz. Die vier Präsidenten haben fest-gestellt: Wir brauchen eine gemeinsame europäischeBankenkontrolle, wir brauchen eine europäische Fiskal-kontrolle, wir brauchen eine stärkere Verzahnung dereuropäischen Wirtschaftspolitik für mehr Wettbewerbund Wachstum, und wir brauchen für die neuen Instru-mente und Kompetenzübertragungen an die EuropäischeUnion eine ausreichende demokratische Kontrolle undLegitimierung.Zu einem dieser Punkte liegen uns mittlerweile kon-krete Vorschläge der Europäischen Kommission, undzwar zur sogenannten europäischen Bankenkontrolle,sowie zwei Verordnungsvorschläge, einer zum Kontroll-gremium und einer zur Umstrukturierung der EBA, vor.Hierzu will ich einige Punkte nennen.Ein grundsätzliches Problem besteht darin – das kannman in dem vorgeschlagenen Text leider nicht genaunachlesen –, als welches Instrument die EuropäischeKommission die gemeinsame Bankenaufsicht sieht. Siesieht diese gemeinsame Bankenaufsicht eben nicht alseine langfristige, nachhaltige Orientierung zu mehr Kon-trolle der Bankenpolitiken in der Europäischen Union,sondern als kurzfristiges zusätzliches Kriseninstrument.Das erkennt man auch, wenn man sich den Verord-nungsvorschlag anschaut. Dieser ist sehr kurz und knappgefasst, geht in keinem einzigen Punkt ins Detail, sollam besten ganz schnell verabschiedet werden und am1. Januar 2013 in Kraft treten. Wenn wir einmal anneh-men, das würde funktionieren, dann wären wir spätes-tens Mitte 2013 in der Lage, durch den ESM – kleineÄnderungen sind notwendig, so die Vorstellung derKommission –, eine direkte Bankenrekapitalisierungvorzunehmen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieser vonder Europäischen Kommission vorgestellte Weg ist einHolzweg. Ich kann zwar verstehen, dass krisengeschüt-telte Euro-Länder natürlich überlegen, möglicherweiseüber diesen Umweg Rettungsmittel zu erhalten, wenn sienotleidend sind, ohne sich mit der lästigen Troika aus-einandersetzen zu müssen. Verstehen kann ich das, eswäre aber trotzdem der falsche Weg.Wenn wir auf diese Weise in die Situation kommenwürden, die Kontrolle und die Konditionalität der euro-päischen Hilfen aufzugeben, dann beraubten wir uns derSicherheit, dass die Gelder, die wir als Bürgschaften zurVerfügung stellen, auch zurückgezahlt werden. Das wäreein falscher Weg.
Kollege Flosbach hat es angesprochen: Der Ansatzder Europäischen Kommission ist ein sehr zentraler, mankann auch sagen: zentralistischer. Nach Vorstellung derEuropäischen Kommission soll die EZB in Kombinationmit der EBA alle europäischen Banken am besten aufAnhieb kontrollieren, weit über 6 000. Abgesehen da-von, wieweit das überhaupt möglich ist, was für ein Heervon Kontrolleuren man brauchte, um das umzusetzen,und wie lange es dauern würde, bis es effizient funktio-nieren kann, ist hier über eine wichtige Frage zuentscheiden. Nach unseren Erfahrungen mit der europäi-schen Finanzierungskrise wissen wir, dass die systemi-schen Banken starke Auslöser großer Krisen sind. Syste-mische Banken – das wissen wir – sind durch nationaleKontrollbehörden nicht ausreichend zu kontrollieren.Also ist es wichtig, dass wir zu einer europäischen Kon-trolle kommen, wobei sich aber die Europäische Zentral-bank in erster Linie auf die systemischen Banken kon-zentriert.Allerdings muss ich einen Zusatz machen: Die Euro-päische Kommission liegt in einem Punkt richtig. Wirwissen aus der europäischen Verschuldungskrise und ausden Erfahrungen gerade mit der Immobilienblase in Spa-nien, dass es nicht nur die systemischen Banken seinmüssen, die eine falsche Politik, eine geradezu abenteu-erliche Kreditvergabepolitik betreiben, sondern es kön-nen – wie in Spanien über viele Jahre – auch andere sein.Insofern wissen wir: Es wird nicht ausreichen, dass eineeuropäische Kontrolle vor kleinen und Regionalbanken
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23841
Michael Stübgen
(C)
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absolut haltmacht. Deswegen unterstütze ich den Vor-schlag der Bundesregierung, in einem solchen Fall zu ei-nem Einstiegsrecht der oberen Behörde zu kommen,welches klar definiert ist und nur dann wahrgenommenwerden kann, wenn ein begründeter Verdacht vorliegt,dass die nationalen Kontrollen versagen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich haltediesen Kommissionsvorschlag für eine gute Arbeits-grundlage. Ich denke aber, dass wir noch sehr intensiv anden Detailfragen arbeiten müssen. Wenn wir dies hin-bekommen, dann werden wir zu einer funktionierendeneuropäischen Bankenkontrolle kommen. Das wird nachmeiner Einschätzung aber frühestens übernächstes Jahrsein und nicht schon Anfang nächsten Jahres.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion der SPD, den Sie auf Druck-
sache 17/11003 finden. Wer stimmt für den Entschlie-
ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Der Entschließungsantrag ist damit abgelehnt. Zuge-
stimmt hat die einbringende Fraktion. Abgelehnt wurde
er von CDU/CSU und FDP. Enthalten haben sich Linke
und Bündnis 90/Die Grünen.
Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 d so-
wie den Zusatzpunkt 2 auf:
5 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Willi
Brase, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-
Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Jugendliche haben ein Recht auf Ausbildung
– Drucksache 17/10116 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
Alpers, Nicole Gohlke, Dr. Rosemarie Hein, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Perspektiven für 1,5 Millionen junge Men-
schen ohne Berufsabschluss schaffen – Ausbil-
dung für alle garantieren
– Drucksache 17/10856 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Brigitte Pothmer, Ekin Deligöz, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Mit DualPlus mehr Jugendlichen und Betrie-
ben die Teilnahme an der dualen Ausbildung
ermöglichen
– Drucksache 17/9586 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Berufsbildungsbericht 2012
– Drucksache 17/9700 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Schummer, Albert Rupprecht , Michael
Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Heiner Kamp, Dr. Martin
Neumann , Sylvia Canel, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der FDP
Das deutsche Berufsbildungssystem – Versi-
cherung gegen Jugendarbeitslosigkeit und
Fachkräftemangel
– Drucksache 17/10986 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Hierzu ist es verabredet, eineinhalb Stunden zu debat-
tieren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.
Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Der Kollege Willi Brase
hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Guten Morgen, liebe Kolleginnenund Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir dis-kutieren heute über die Ausbildungspolitik in der Bun-desrepublik Deutschland. Wir haben wie immer einengelungenen und guten Berufsbildungsbericht, der dieSituation anhand von Zahlen verdeutlicht. Wenn wirgleich hören werden, dass alles wunderbar ist, dass wirsehr viele Ausbildungsplätze haben, aber angeblich nichtgenügend Auszubildende, nicht genügend Jugendliche,die ausbildungsreif sind, so verweise ich auf die BIBB-
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23842 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Willi Brase
(C)
(B)
Studie, die feststellt: Das, was wir derzeit zahlenmäßigam Ausbildungsmarkt erleben, ist auch ein Produkt derdemografischen Entwicklung und weniger ein Produktder Regierungspolitik von Rot-Grün.
Wir haben derzeit 50 Prozent der jungen Leute indualer Ausbildung, 20 Prozent in schulisch-beruflicherAusbildung nach Landesrecht und 30 Prozent im Über-gangssystem. Wir von der SPD sind der Meinung, dassdas, was derzeitig im Übergangssystem abläuft, nichtmehr ertragbar ist und die Aktivitäten, die im NationalenPakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs inDeutschland beschlossen wurden, ungenügend, teilweisesogar gar nicht umgesetzt wurden. Es ist zu kritisieren,dass sich die Bundesregierung im Pakt zwar verpflichtethat, ihren Wust an Maßnahmen im Übergangssystem einStück weit zu durchforsten, dass aber als Ergebnis he-rausgekommen ist: Wir können nichts ändern, aber wirwollen das zukünftig bei neuen Maßnahmen ein biss-chen berücksichtigen. – Das ist absolut mangelhaft. Wirwissen, dass die Vielfalt der Maßnahmen im Übergangs-system zu groß und daher nicht hilfreich ist.
Da verweise ich doch gerne auf neun Bundesländer,die 2009 die Initiative „Übergang mit System“ gestartethaben. Die Bertelsmann-Stiftung – keine Kaderschmiededer SPD – hat diesen Prozess begleitet und festgestellt:Wenn wir dieses Übergangssystem mit der Vielfalt anAktivitäten auf kommunaler, auf Landes- und auf Bun-desebene und teilweise EU-finanziert weiterführen, wer-den wir auch noch 2025 230 000 junge Leute mehrjährigin diesem Übergangssystem vorfinden. Das ist verkehrtund falsch. Wir müssen schauen, dass wir von diesemSystem wegkommen.
Sie, die Vertreter der Bertelsmann-Stiftung, haben wei-ter überlegt: Wie können wir unsere Forderung „Kein Ab-schluss ohne Anschluss“ auf den Weg bringen? – Sie sa-gen: Würden wir sozusagen eine Ausbildungsgarantie fürdie jungen Leute aussprechen, dann könnten wir nicht nurreal Geld sparen – das Übergangssystem kostet mittler-weile 6 Milliarden Euro jährlich und ist insofern höchstineffizient –, sondern langfristig auch 150 000 oder160 000 junge Menschen direkt und besser qualifizierenund in Ausbildung bringen.Ich möchte an dieser Stelle die Bundesregierung auf-fordern, diesen Prozess zu unterstützen, damit die Viel-falt der Maßnahmen in diesem System endlich verringertwird. Es ist völlig falsch, meine Damen und Herren.
Wenn wir von Ausbildungsgarantie sprechen, dannsagen wir als SPD: Ja, wir wollen das machen, was dieseneun Bundesländer ein Stück weit – übrigens werdenalle farbenmäßig völlig unterschiedlich regiert – auf denWeg bringen wollen. Wir wollen, dass das duale Systemweiter ausgebaut wird. Ich sagte eingangs, dass sich50 Prozent der Auszubildenden im dualen System befin-den. Dieser Anteil müsste gesteigert werden. Schließlichgibt es immer noch genügend Betriebe, die zwar dieAusbildungsfähigkeit besitzen, aber nicht ausbilden. In-sofern erwarten wir auch vom Nationalen Pakt Initiati-ven, damit mehr Betriebe dazu gebracht werden, sich ander dualen Ausbildung zu beteiligen. Das geht nicht mitSchönwetterreden. Da muss man teilweise auch Druckmachen.
Also, diese Ausbildungsgarantie ist machbar. Wenndiese im dualen System allerdings nicht unterzubringenist, dann sind wir für eine staatlich finanzierte Ausbil-dungsunterstützung. Das kann im vollzeitschulischenBereich sein. Das kann bei den ÜBSen sein. Das kannbei den Berufsbildungszentren sein, und das kann aufder Grundlage BBiG, Handwerksordnung oder mögli-cherweise auch Landesrecht geschehen. Das ist für diejungen Menschen allemal besser, als ein, zwei oder dreiJahre im Übergangssystem zu verweilen.
Wenn das nicht reicht, sehr geehrte Kolleginnen undKollegen, dann müssen wir uns um die kümmern, dietatsächlich Probleme haben und möglicherweise nochnicht die nötigen Fähigkeiten und Kompetenzen besit-zen, um in Ausbildung zu gehen. Da erachte ich die Ein-führung einer „Einstiegsqualifizierung Plus“ als weiteresSegment der Abqualifizierung oder der weiteren Austa-rierung als völlig falsch. Es reicht völlig aus, die Ein-stiegsqualifizierung zu nehmen und diese Einstiegsquali-fizierung nur bei den Jugendlichen, die diese benötigen,und nicht bei den sogenannten Marktbenachteiligten vo-rauszusetzen. Das ist der falsche Weg.Wenn die Wirtschaft wirklich im Sinne von Fachkräf-teentwicklung Leute braucht, dann muss man den Weggehen, dass man auch den Marktbenachteiligten hilft.Zur Not müssen wir auch die Hürden der Einstiegsquali-fizierung erhöhen, aber wir sollten nicht „Einstiegsquali-fizierung Plus“ einführen. Das ist der falsche Weg.
Ich will einen weiteren Punkt ansprechen, weil dieserzunehmend eine Rolle spielt. Das ist die Qualität und dieQualitätsentwicklung in der beruflichen Bildung. Wennes richtig ist, Frau Ministerin, dass der Nationale Paktfür Ausbildung und Fachkräftenachwuchs diesen Punktals wesentlichen Aspekt enthält, dann darf man auch ein-mal nachfragen, was wir mit den 1,5 Millionen Men-schen zwischen 20 und 29 Jahren ohne Berufsabschlussmachen. Ich meine diejenigen, die weder eine duale Be-rufsausbildung noch eine Ausbildung nach Landesrechtnoch eine Assistentenausbildung oder einen Hochschul-abschluss haben. Was machen wir mit denen? Wie pa-cken wir die an? Das sind 1,5 Millionen. In der Alters-gruppe der 25- bis 35-Jährigen sind es sogar 2 Millionen.Das heißt, wir haben eine Menge Leute, die nicht qualifi-ziert sind. Wir brauchen endlich konzeptionelle Vor-schläge, wie wir diesen Menschen über das SGB III oder
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Willi Brase
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das SGB II – eventuell benötigen wir dafür Steuermittel –eine Chance geben können.Wir wissen alle: Wer nicht qualifiziert ist, geht in denNiedriglohnbereich. Ich spare mir jetzt einen Debatten-beitrag dazu. Im Niedriglohnbereich verdient er abernicht viel, und im Alter muss er Grundsicherung bekom-men. Das ist doch „linke Tasche – rechte Tasche“. Dasbringt doch nichts. Legen Sie ein gutes Konzept vor, wiewir diese hohe Zahl von 1,5 Millionen Menschen einStück weit verringern können.
Die DGB-Jugend befragt alljährlich – auch diesesJahr wieder – die an der dualen Ausbildung Beteiligten,vor allen Dingen die Auszubildenden, wie sie die Quali-tät ihrer Ausbildung einschätzen. Es verwundert dieFachleute nicht, dass dabei herauskam, dass der BereichHotel und Gaststätten allergrößte Probleme hat. Gleich-zeitig diskutieren wir – ich bin auch Mitglied im Aus-schuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher-schutz – über die Weiterentwicklung des Tourismus.Dazu sage ich: In diesem Bereich müssen schnell Maß-nahmen ergriffen werden. Die Abbrecherquote ist hoch.Zwischen 40 und 50 Prozent der Ausbildungsverträgewerden aufgelöst. Zwischen 20 und 25 Prozent der Aus-bildungsplätze sind unbesetzt.Ich will darauf hinweisen – damit will ich nicht Wer-bung machen, sondern verdeutlichen, dass manches, waswir hier beschlossen haben, durchaus Sinn hatte –, dasssich im Kammerbezirk meines Wahlkreises Siegen-Witt-genstein Vertreter der Gewerkschaften, der Kammer undder Betriebe zusammengesetzt haben, um die Frage zuklären, wie man diese schwierige Situation verändernkann. Ich sage nichts zu dem Prüfungsergebnis; denn daswäre schon fast peinlich.Die Frage ist: Wie können wir diese Situation ändern?Im Jahr 2005 haben wir mit der Reform des BBiG denörtlichen Berufsbildungsausschüssen mehr Aufgabengegeben und sie beauftragt, sich um die Qualität zu küm-mern. Ich kann nur jeder und jedem empfehlen, vor Ortzu schauen, wie es um die Qualität bestellt ist. Ausbil-dungsmärkte sind regionale Märkte. Manchmal müssensich auch die Kammern bewegen. Manchmal müssen sieauf Unternehmen zugehen und Druck machen, damit dieAusbildung besser wird. Schauen Sie sich den Ausbil-dungsreport 2012 der DGB-Jugend an. Darin steckt eineAufforderung, darüber zu diskutieren, wie wir die Quali-tät im Bereich der beruflichen Bildung verbessern kön-nen. Wenn die Fachkräftediskussion einen Sinn habensoll, dann müssen wir bei der Qualität ansetzen. Danndürfen Überstunden, schlechte Bezahlung, schlechte Ar-beitsbedingungen usw. usf. nicht auf der Tagesordnungstehen. Dann muss die duale Ausbildung auch ein hohesMaß an Qualität aufweisen. Dann ist sie vertretbar, unddann lässt sie sich auch im Ausland gut verkaufen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Bundesministerin Dr. AnnetteSchavan.
Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-dung und Forschung:Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die beruflicheBildung, die duale Ausbildung erfahren internationalderzeit eine Zustimmung und Akzeptanz wie nie zuvor.Das hat zwei Gründe: Der eine ist die hohe Arbeitslosig-keit unter jungen Leuten, und zwar nicht nur in europäi-schen Ländern. In vielen Regionen der Welt besteht dieGefahr, dass ein akademisches Proletariat entsteht. Derzweite Grund hängt mit der Frage zusammen, wie es an-gesichts des raschen technologischen Wandels und derraschen Entwicklung des Selbstverständnisses und derAnforderungen der Unternehmen gelingen kann, dierichtigen Fachkräfte zu bekommen.Angesichts dessen sagen Kollegen aus Europa, ausSüdamerika, aus Indien, aus China und vielen anderenLändern: Wir wollen diese starke Seite des Bildungssys-tems in den deutschsprachigen Ländern einführen. Des-halb werden wir eine europäische Berufsbildungskonfe-renz in Berlin durchführen. Wir wollen uns nicht nur mitder Frage beschäftigen, wer aus anderen Ländern kurz-fristig nach Deutschland kommen kann, um hier ausge-bildet zu werden, sondern wir wollen uns auch mit derFrage beschäftigen, wie die Bildungssysteme und Lern-kulturen in anderen Ländern durch die Zusammenarbeitverschiedener Akteure und mithilfe eines großen Einsat-zes der Unternehmen weiterentwickelt werden können.Es stimmt, was im BIBB-Bericht steht, also im Be-richt des Bundesinstituts für Berufsbildung: Die jetzigeEntwicklung hat mit der demografischen Veränderungzu tun.Lieber Herr Brase, Sie haben recht, wenn Sie sagen,dass die guten Zahlen nicht nur das Ergebnis rot-grünerRegierungspolitik sind; da stimme ich Ihnen sofort zu.Das Ergebnis nur unserer Regierungspolitik sind sie aberauch nicht. Weder Schwarz-Gelb noch Rot-Grün ist aus-schlaggebend. Aber unterschätzen wir nicht das, wasdiese Bundesregierung seit 2005 gerade im Blick aufbenachteiligte Jugendliche, gerade im Blick auf die Wei-terentwicklung der beruflichen Bildung auf den Weg ge-bracht hat. Ohne kluge Politik entwickelt sich Berufsbil-dungspolitik nicht weiter.
Damit komme ich zu den Fakten. Die Zahl der Ausbil-dungsverträge hat sich bundesweit um 10 000 erhöht.Entsprechend ist die Zahl derer, die unversorgt sind, deut-lich zurückgegangen. Verglichen mit 2010 gibt es einenRückgang um 10 000 bzw. 5,7 Prozent. In dieser Gruppesind jetzt noch rund 174 000. Das ist die Gruppe, die Sieunter anderem angesprochen haben, um die wir uns be-sonders kümmern. Man muss allerdings auch sagen: Al-lein in den letzten vier Jahren ist diese Gruppe um100 000 zurückgegangen. Der Rückgang um 100 000 im
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23844 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Bundesministerin Dr. Annette Schavan
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Übergangssystem ist nicht Konsequenz der demografi-schen Entwicklung, sondern Konsequenz zahlreicherMaßnahmen mit vielen Akteuren. Dazu gehört unter an-derem der Ausbildungspakt der Bundesregierung.
Die Zahl der Eintritte in das Übergangssystem ist um8 Prozent gesunken. Auch das ist interessant, HerrBrase: Die Zahl derer, die in das Übergangssystem ge-kommen sind, ist seit 2005 um knapp 30 Prozent gesun-ken. Deshalb bin ich sehr zuversichtlich. Wir haben eineVerbindung von richtigen Maßnahmen.Dies gilt übrigens auch beim Einstieg. Ich halte dieInitiative „EQ Plus“, die im Rahmen des Paktes verein-bart worden ist, für nicht so schlecht. Wir müssen immerwieder über Maßnahmen nachdenken, mit deren Hilfedie, die sich schwertun, den Einstieg schaffen, nicht, umdann niedriger qualifiziert zu werden, sondern um er-folgreich den Einstieg zu schaffen und über die zweijäh-rige in die dreijährige Ausbildung zu kommen. Ich binsehr zuversichtlich, dass die richtigen Maßnahmen, dierichtigen Weichenstellungen und die demografische Ent-wicklung zu einem deutlichen Abbau des Übergangsbe-reichs in den nächsten Jahren führen können.
Schließlich noch etwas zur Gruppe der Ungelernten;auch diese hat Herr Brase angesprochen. Ich nenne jetzteinmal die Altersgruppe 20 bis 24 als Beispiel.
Man kann nicht einfach warten, bis sie irgendwo eineChance bekommen. Deshalb erinnere ich an die Förder-initiative „Abschlussorientierte modulare Nachqualifi-zierung“. Da wird übrigens deutlich, dass gerade im Be-reich der Nachqualifizierung die Möglichkeiten, Moduleanzubieten, eine hohe Bedeutung haben. Das gilt für denWeiterbildungsbereich, aber auch für den Nachqualifi-zierungsbereich. Das Programm „Perspektive Berufsab-schluss“ des BMBF zeigt gute Quoten; auch in dieserGruppe gibt es einen Rückgang.Die Bundesagentur für Arbeit rechnet bis zum Jahr2025 mit einem Rückgang der Zahl der Erwerbstätigenum 6,5 Millionen. Natürlich sind diese Prognosen überunsere Bevölkerungsentwicklung ein ganz wesentlicherGrund dafür, dass wir sagen: Wir müssen erreichen, dassdie Unternehmen in unserem Land Fachkräfte bekom-men. Aber ich füge hinzu: Für mich sind die Zukunfts-chancen der jungen Generation nach wie vor die aller-erste Motivation in der Berufsbildungspolitik. Das mussMarkenzeichen unserer Politik sein, und das ist Marken-zeichen unserer Politik. Wir müssen Sorge dafür tragen,dass junge Leute in Deutschland Zukunftsperspektivenhaben. Die Erfahrungen, die wir gesammelt haben, müs-sen auch in einen Prozess der internationalen Weiterent-wicklung der Bildungssysteme einfließen.
Aufgrund der demografischen Entwicklung gibt eszusätzlichen Reformbedarf. Die Stichworte hier sind:Ausbildung in der Fläche, Berufsgruppen. Wer berufli-che Schulen und Ausbildungsbetriebe besucht, der weiß,dass es für die Ausbildungsbetriebe wichtig ist, dass dieAusbildung in der Nähe des Betriebes stattfindet. Aberbei immer mehr klassischen Berufsbildern müssen diejungen Leute viele Kilometer fahren, um überhaupt nochbeschult zu werden. Deshalb werden wir den Prozess derBildung von Berufsgruppen im Zuge der Neuordnungvon Berufsbildern deutlich voranbringen. Wir werdenSorge dafür tragen, dass attraktive Bildungs- und Be-rufsperspektiven damit verbunden sind.Berufsfamilie oder Berufsgruppe – wie man es nennt,ist mir egal – heißt auch: Jetzt haben wir die Chance,dass bei Neuordnungen, bei Weiterentwicklungen nochstärker definiert wird: Welchen Grundbestand an Kom-petenzen haben wie viele Berufe? Nehmen Sie etwa denBäcker, den Konditor oder den Speiseeismeister. Was istdas gemeinsame Fundament? Wie kann eine Berufsfa-milie aussehen? Was sind Module für Spezialisierung?Das beinhaltet auch neue, zusätzliche Perspektiven,weil der, der das eine Modul belegt hat, in der Lage istund die Möglichkeit hat, im Laufe seines Berufslebensweitere Module hinzuzunehmen. Die Debatte über Mo-dularisierung werden wir also ganz anders führen als voreinigen Jahren. Da bestand die Gefahr, dass junge Leutebei Modularisierung zu früh abspringen und nicht einewirklich qualifizierende Ausbildung erhalten. Heute istder Begriff „Modularisierung“ auch bei den Sozialpart-nern sehr viel mehr mit Weiterentwicklungsperspektivenverbunden. Damit müssen wir zügig vorangehen.
Schließlich war ein ganz wichtiger Punkt – das merkeich überall, vor allem im Handwerk, aber auch bei denIndustrie- und Handelskammern –: Die Gleichsetzungdes Technikers und des Meisters mit dem Bachelor ist imdeutschen Qualifikationsrahmen ein unglaublich wichti-ges Symbol gewesen. Die symbolische Wirkung ist nochviel höher als das, was damit an Philosophie der Berufs-bildungspolitik tatsächlich verbunden ist.Das Gleiche gilt für das Anerkennungsgesetz. Auchhier gibt es viele positive Nachrichten darüber, wie sichdie Kammern vor Ort darum kümmern, dass die Aner-kennungsverfahren sowie die konkreten Prozesse positivablaufen. Angesichts dessen sage ich:Erstens. Die Demografie wird uns vor weiteren Re-formbedarf stellen. Ob man sie jetzt positiv oder negativempfindet, ist ganz egal. Tatsache ist: Unsere Unterneh-men bieten mittlerweile Ausbildungsstellen an, die nichtbesetzt werden. Das macht ihnen Sorge, weil sie früherihre Auszubildenden übernommen haben. Nun fragensie uns, wie es noch besser gelingen kann, dass sie genü-gend Fachkräfte bekommen.Zweitens. Diejenigen, die im Übergangssystem sind,brauchen viele verschiedene Wege, um die Kompeten-zen zu erhalten, die ihnen einen guten Einstieg in die be-rufliche Bildung ermöglichen.Drittens. Wir werden bei der Neuordnung nicht mehrimmer mehr Spezialisierung zulassen dürfen. 360 Aus-bildungsberufe sind – dies kann man sagen – ein Zeichen
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Bundesministerin Dr. Annette Schavan
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für unsere sehr ausdifferenzierte Landschaft. Aber esdürfen nicht mehr werden, und es muss in der großenGruppe der 360 Ausbildungsberufe Strukturen geben,die zu deutlich mehr Berufsgruppen oder Berufsfamilienführen.Insofern mein Votum: Lassen Sie uns jetzt nicht übersolch alte Klamotten wie Ausbildungsgarantie oder Um-lagefinanzierung reden. Vielmehr setzen wir auf das frei-willige hochverantwortliche Engagement unserer Unter-nehmen. Ich möchte die Unternehmen jetzt dafürgewinnen, sich eben auch in Spanien, in Portugal, in derSlowakei, in Indien, wo Anfang November darüber bera-ten wird, und anderswo dafür zu engagieren. Das hilftunseren jungen Leuten mehr. Deren Zukunftschancenmüssen das erste Ziel sein, das uns leitet, wenn wir überBerufsbildungspolitik sprechen.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Agnes Alpers für die Frak-
tion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren! Frau Schavan,über genau diese alten Klamotten wie Ausbildungsga-rantie müssen wir in Anbetracht der Probleme heute sehrwohl noch reden. Aber darauf werde ich später noch zu-rückkommen.
Unsere Regierungsfraktionen sagen immer: Die Aus-bildungsplatzchancen steigen. Es gibt mehr unbesetzteStellen als Bewerberinnen und Bewerber. Das größteProblem ist, 30 000 freie Ausbildungsstellen zu beset-zen. – Aber das hat nichts mit der Realität zu tun.Der Berufsbildungsbericht 2012 besagt, dass von denbei der Bundesagentur für Arbeit rund 540 000 gemelde-ten Ausbildungsbewerberinnen und -bewerbern nur gutdie Hälfte einen Ausbildungsplatz bekommen hat. Beiüber 100 000 jungen Menschen weiß diese Agentur, wosie verblieben sind. Aber sie haben keinen Ausbildungs-platz erhalten. Von fast 86 000 Bewerberinnen und Be-werbern weiß man nicht, was aus ihnen geworden ist.Aber auch sie haben keinen Ausbildungsplatz erhalten.Wir halten also fest: Sie zählen fast 200 000 junge Men-schen in Ihrer Statistik als „vermittelt“, obwohl sie garkeinen Ausbildungsplatz erhalten haben.
Das ist doch nichts anderes als schnöde Trickserei. So et-was lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
Das heißt also, insgesamt befinden sich weit über200 000 junge Menschen im Übergangssystem. 1,5 Mil-lionen junge Menschen zwischen 20 und 29 Jahrenhaben keine Ausbildung. Rechnen wir die Menschen bis34 Jahre hinzu, sind es sogar 2,2 Millionen. Die Linke,Frau Schavan, bleibt dabei: Setzen Sie das Recht aufAusbildung um und führen Sie endlich die Ausbildungs-umlage ein!
Das zweite Problem. Trotz des Ausbildungspaktsbilden nur noch 22,5 Prozent der Betriebe aus. DerGrund – so die Arbeitgeber –: Nur gut die Hälfte der Be-triebe darf noch ausbilden, und kleine Betriebe könnenihre Ausbildungsplätze nicht besetzen. – 2003, meineDamen und Herren, wurde die Pflicht, eine Ausbilder-eignungsprüfung vorzuweisen, aufgehoben, um zu er-möglichen, dass auch Betriebe ohne Ausbilderin oderAusbilder ausbilden. Es wurden aber fast keine neuenAusbildungsplätze eingerichtet. Sechs Jahre späterwurde die Ausbildereignungsprüfung deshalb wiedereingeführt.Was also hindert die Betriebe tatsächlich daran, aus-zubilden? Arbeitgeber in kleinen Betrieben sagen mir:Der Druck ist sehr groß. Jeder Auftrag muss schnell undfachgerecht ausgeführt werden. Es gibt keine Ausbilder,oder man hat keine Zeit, um den Lehrlingen alles zu er-klären und die Erklärungen zu wiederholen. Generellbrächten die Azubis zu wenig Praxiserfahrung mit. – WirLinke sagen: Kleine Betriebe müssen unterstützt wer-den, wenn sie eine Ausbildungsbefähigung erwerbenwollen. Sie sollen gefördert werden, wenn sie erstmalseinen Ausbildungsplatz schaffen oder einen zusätzlichenAusbildungsplatz einrichten. Auch die Ausbildung imVerbund wollen wir fördern.
Ich selbst bilde im Bundestag eine Auszubildendeaus. Sicher: Man muss sich darauf einstellen, und manmuss sich umstellen. Allerdings eröffnet man einem jun-gen Menschen Zukunftschancen. Deshalb, meine Damenund Herren, lohnt sich Ausbildung. Als Lehrerin für23 Ausbildungsberufe weiß ich, wie wichtig eine konti-nuierliche Anbindung an den Betrieb ist.An dieser Stelle wende ich mich den Grünen zu: MitIhrem Konzept DualPlus propagieren Sie immer nochdie flächendeckende Modularisierung der Ausbildung.Sie sehen den Vorteil darin, dass Betriebe nicht mehr diegesamte Ausbildungsverantwortung übernehmen müs-sen, sondern nur noch einzelne Ausbildungsbausteineanbieten. Das ist Unsinn. Denn junge Menschen, ins-besondere Menschen mit Unterstützungsbedarf, brau-chen kein Modulhopping, sondern einen verlässlichenBetrieb, in dem sie handlungsorientiert lernen und konti-nuierlich die Berufsbildungsreife erwerben.
Dritter Punkt – nun zu Ihnen, Frau Schavan –: Sie er-zählen uns häufig von Bildungsketten, Berufsorientie-rung und Einstiegsbegleitung. Dann behaupten Sie, dass
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23846 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Agnes Alpers
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der demografische Wandel die Ausbildungsproblemevon ganz allein lösen wird.
Auch das ist Unsinn.
Das Bundesinstitut für Berufsbildung sagt klipp undklar: Die Beschäftigungschancen von Menschen ohneBerufsabschluss werden sich durch die demografischeEntwicklung nicht verbessern. – Eine der wichtigstenAufgaben ist doch heute, für die 1,5 Millionen jungenMenschen ohne Berufsabschluss Perspektiven zu schaf-fen. Dies gilt allerdings auch im Hinblick auf dieMenschen im Übergangssystem und alle Menschen ohneBerufsabschluss.Vierter Punkt – nun zur Einstiegsqualifizierung –: Ge-dacht war sie, um jungen Menschen mit eingeschränktenVermittlungsperspektiven über die Praxis im Betrieb ei-nen Ausbildungsplatz zu vermitteln. Die Arbeitgeber er-halten dafür monatlich 216 Euro und einen Zuschuss zurSozialversicherung. Die Praxis zeigt aber, dass nicht nursogenannte benachteiligte junge Menschen eine Ein-stiegsqualifizierung erhalten haben, sondern zur Hälfteauch junge Menschen mit mittlerem Schulabschluss undAbitur. Von all diesen jungen Menschen haben direktnach der Maßnahme aber nur 44 Prozent einen Ausbil-dungsplatz erhalten. Ich frage Sie: Welche dieser jungenMenschen – die ohne Schulabschluss oder die mitHauptschulabschluss oder die mit mittlerer Reife oderdie mit Abitur? – haben die Ausbildungsstellen wohl be-setzt?Fest steht jedenfalls, dass der begleitende Berufs-schulunterricht, der ja keine Pflicht ist, meist nicht inAnspruch genommen wird. Es gibt häufig kein Zertifi-kat, also keinen Nachweis über die erworbenen Qualifi-kationen.Bei all diesen Mängeln verstehe ich nicht, warum dieSPD die Einstiegsqualifizierung als zentrales Instrumentim Übergangsbereich festschreiben will.Dennoch finde ich: Dieses Instrument kann viele Vor-teile bieten, wenn es richtig ausgestaltet wird. Ich sageIhnen: Wer eine Einstiegsqualifizierung erwirbt, dermuss auch einen Ausbildungsplatz bekommen. DieGrundregel lautet für uns: Alle Maßnahmen müssen in-dividuell auf die einzelnen Menschen abgestimmt wer-den und verlässlich in Ausbildung führen.
Fünfter Punkt. Warum können bestimmte Ausbil-dungsplätze nicht besetzt werden? Das liegt zum einenan den regionalen Ungleichgewichten. Während bei-spielsweise in Bayern und an der Ostseeküste in ver-schiedenen Berufen Auszubildende gesucht werden, gibtes in Herford oder auch in meiner Heimatstadt Bremenmehr Bewerberinnen und Bewerber als Plätze.
Zum anderen gibt es große Unterschiede zwischen deneinzelnen Branchen.Das Bundesinstitut für Berufsbildung geht davon aus,dass für Büroberufe auch noch im Jahre 2030 ein ausrei-chendes Fachkräfteangebot zur Verfügung stehen wird.Ganz anders sieht es im Hotel- und Gaststättenbereichaus. So kommen in der Gastronomie heute nur 37 Be-werberinnen und Bewerber auf 100 Ausbildungsstellen.Auszubildende im Hotel- und Gaststättengewerbe inBremen haben mir in Gesprächen und bei meiner Befra-gung folgende Gründe genannt: Überstunden, ausbil-dungsfremde Tätigkeiten, schlechte Vermittlung derAusbildungsinhalte, regelmäßig Arbeit nach der Berufs-schule, kaum Freizeit, geringe Vergütung und geringeWertschätzung ihrer Person.Angesichts dessen fordern wir als Linke: Die dualeAusbildung muss attraktiv bleiben. Eine hohe Qualität,eine gute Vergütung, Übernahmegarantie mit gutenTarifen und Aufstiegsperspektiven, das schafft klare Per-spektiven für all diese jungen Menschen.
: Recht auf Aufstieg, das ist doch
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23847
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Frau Ministerin Schavan, Sie schwadronieren
über das duale System in Europa, in der ganzen Welt.Garantieren Sie endlich hier allen Menschen eine guteAusbildung! Dann wird man Ihnen auch wieder glauben.Vielen Dank.
Heiner Kamp hat das Wort für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Geschätzte Kollegin Alpers,ich glaube, Sie haben heute über vieles geredet, abernicht über die Situation am Ausbildungsmarkt,
die sehr erfreulich ist und die in der Tat mit Herausforde-rungen verbunden ist, denen wir auch begegnen werden.Ich werde Ihnen dies jetzt erläutern. Ich empfehle Ihnen,gut zuzuhören.
„Never touch a running system“: Wenn ein Motorrund läuft, empfiehlt es sich eben nicht, an den Kolbenherumzuwerkeln; sonst entsteht Pfusch. Diesen klugenRat aus Betrieb und Werkstätte sollten sich Pädagogen,Sozialwissenschaftler und Lehrer auf den Oppositions-bänken hinter die Ohren schreiben.
Bezwingen Sie doch einmal Ihren Drang, die Finger indas gut geölte Räderwerk unseres Berufsbildungssys-tems zu stecken. Sie ersparen dadurch unserem Land denerwartbaren Pfusch und Murks und sich einige Tränender Reue.Der deutsche Motor läuft rund. Die internationalenDelegationen strömen ins Land, sie wollen „Trainingmade in Germany“ sehen, wollen erfahren, was es heißt,wenn Berufsschulen und Ausbildungsbetriebe partner-schaftlich kooperieren.Ausbildungsplatzabgabe, Ausbildungsplatzgarantieund das grüne DualPlus-Murks-Modell interessieren dieBesucher aus Spanien, Italien, China und Südamerikadagegen nicht im Ansatz. Wen wundert’s!
Wenn wir uns den Berufsbildungsbericht 2012 anse-hen, so haben wir allen Grund zur Freude. Das haben diemeisten eingesehen, auch die auf der Oppositionsbank.Auch in diesem Berichtsjahr hat sich die Situation amAusbildungsmarkt wiederum weiter verbessert. DieSchulabgängerzahlen gehen zurück. Die Zahl der Be-werber ist um 2,5 Prozent zurückgegangen. Trotzdem istdie Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträgeum 1,8 Prozent gestiegen.Ganz besonders freue ich mich darüber, dass die Zahlder betrieblichen Ausbildungsverträge um mehr als20 000 angestiegen ist. Denn eine betriebliche Ausbil-dung genießt für uns gegenüber außerbetrieblichenModellen ganz klare Priorität. Über diese Entwicklungkönnen junge Menschen in Deutschland zu Recht jubeln.
Erfreulich ist auch, dass die Anstrengungen zur Sen-kung der Zahl der Altbewerber nach Jahren endlich ge-fruchtet haben. Ihre Zahl ist merklich gesunken. Wirsind auf dem richtigen Weg.Liebe Frau Alpers, der Ausbildungspakt trägtFrüchte. Unser Dank gilt neben den Sozialpartnern, ne-ben den Kammern, neben den Verbänden auch unseremBundeswirtschaftsminister Rösler, der die Weichen fürdie Neuausrichtung des Paktes mehr als erfolgreich ge-stellt hat.
Nicht Ausbildungsplätze wie zu Zeiten von Rot-Grün,sondern junge Auszubildende werden heute gesucht.Wer heute einen Ausbildungsplatz sucht, hat so guteKarten wie schon lange nicht mehr.Die große Stärke unserer dualen Berufsausbildung istdoch die Nähe zur betrieblichen Praxis. Sie sichert einer-seits eine bedarfsgerechte und praxisnahe Ausbildung,andererseits gewährleistet sie hohe Quoten der Über-nahme in Beschäftigung. Eine Ausbildung ist und bleibtdie beste Garantie für gesellschaftliche Teilhabe undIntegration in den Arbeitsmarkt.Wir, Deutschland, sind in der Krise gerade deswegenso erfolgreich, weil unser System der beruflichen Aus-bildung uns innovationsfähiger macht als unsere Nach-barn, denen die Brücke zwischen Berufsschule undBetrieb fehlt. Darum ist das Handwerk in Deutschlandso stark. Deswegen sind unsere mittelständischen Be-triebe so innovativ. Das ist nichts Neues. Doch da meineWorte die Zweifel im Oppositionslager eventuell nichtganz werden ausräumen können,
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23848 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Heiner Kamp
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möchte ich auf den Innovationsindikator der Deutsche-Telekom-Stiftung und des BDI verweisen, der in dernächsten Woche vorgestellt wird.
In der oberen Hälfte des Innovationsrankings finden sichvor allem Länder, die vorwiegend – wen wundert’s! –dual ausbilden. Das ist ein Beleg dafür, dass die Durch-akademisierung unserer Bevölkerung nicht zwingendzum Glück und zum Wohle der Nation führt. Man blickenur auf Finnland mit einer Jugendarbeitslosigkeit vonüber 20 Prozent.Mit 8,1 Prozent verzeichnete Deutschland im August2012 die geringste Jugendarbeitslosigkeit in Europa.
Es hat sich ausgezahlt, dass wir nicht, wie von so vie-len Visionären verlangt, die Axt an unser System derBerufsausbildung gelegt haben. Wir sind gut damit ge-fahren, dass wir von den so vollmundig geforderten Ex-perimenten abgesehen haben und die Forderung nachAuflagen, nach Zwangsmaßnahmen für Ausbildungsbe-triebe abwehren konnten. Nicht zuletzt deswegen bildensich vor den Türen des Bundesministeriums für Bildungund Forschung und unseres bundeseigenen Berufsbil-dungs-Think-Tanks BIBB lange Schlangen. Das erfolg-reiche deutsche Berufsbildungssystem wird zunehmendein Exportschlager. Da ist es ein richtiger Schritt, wennwir beim BIBB eine Zentralstelle für internationale Zu-sammenarbeit einrichten. Durch seine bereits bestehen-den internationalen Kooperationen ist es für diese Auf-gabe mehr als gut gerüstet.Auf einem Berufsbildungsgipfel in Berlin werden wirbald gemeinsam mit mehreren unserer europäischenPartner über eine Modernisierung der beruflichen Bil-dung in Europa beraten. Ergebnis soll ein konkreterFahrplan sein. Es gilt, unseren Nachbarn und Freundenzu helfen, die eigenen Bildungssysteme zu impfen unddiese für spätere Krisen weniger anfällig zu machen. Esist doch ein großer Erfolg, wenn zum Beispiel Indien aufAnregung aus Deutschland nun die Zusammenarbeit vonBerufsschulzentren und Wirtschaft zulässt: ein ersterSchritt in Richtung Dualität, ein wichtiger Schritt für dasBildungssystem der größten Demokratie auf unseremGlobus.
Bei allem Erfolg der beruflichen Bildung in Deutsch-land und der weiter verbesserten Lage am Ausbildungs-markt dürfen wir aber auch die Augen nicht vor denHerausforderungen verschließen, die noch vor uns liegen.Zwei sind auch in diesem Berichtsjahr wieder deutlichgeworden: Erstens. In einigen Regionen und Branchenhaben Unternehmen zunehmend Probleme, passende Be-werber zu finden. Zweitens. Auch fällt es – natürlich –gerade den leistungsschwächeren Jugendlichen nach wievor noch schwer, einen Einstieg in die Ausbildung zufinden.Die Initiative „Bildungsketten“ und der Ausbildungs-pakt sind die richtigen Antworten auf diese zwei As-pekte. Mit ihnen helfen wir leistungsschwächeren Schü-lerinnen und Schülern auf die Beine. Wir unterstützensie und Betriebe dabei, ein echtes Ausbildungsverhältniseinzugehen. Keine Maßnahme, kein Übergangssystem,kein Tun-als-ob: Nichts ist so gut wie echte betrieblicheAusbildung.
Genau deswegen nehmen wir 75 Millionen Euro in dieHand, um diese echten Ausbildungsplätze zu unterstüt-zen; Hilfe zur Selbsthilfe und keine Dauerschleifen derBeschäftigungstherapie.Ganz anders die Opposition. Da will die SPD tatsäch-lich der unter Volldampf stehenden Maschine Ausbil-dung die Zahnräder austauschen. Trotz Ausbildungs-platzüberschuss wird nun eine Ausbildungsplatzgarantiegefordert. Was kommt als Nächstes?
Strafen für Ausbildungsbetriebe, weil sie keine Auszu-bildenden finden? Lässt Herr Steinbrück die Kavallerieschon aufsitzen?Die Grünen üben sich dagegen wieder einmal inZwangsbeglückung. Sie präsentieren mit ihrem Wunder-modell DualPlus die Minusnummer schlechthin. Im Ge-spräch mit Sozialpartnern und Kammervertretern ernteich stets Stirnrunzeln, Unverständnis, ja manchmal auchein Schmunzeln, wenn DualPlus zur Sprache kommt.
Bislang ist mir noch nie ein Sachverständiger oder Ex-perte untergekommen, der diese windigen Projekte auchnur im Ansatz für praktikabel und umsetzbar gehaltenhätte. Kurzum: Wir brauchen keine Zwangsabgaben,keine Strafen für Ausbildungsbetriebe, kein schulischesErgänzungsmodell. Wir brauchen eine vernünftige be-rufliche Bildung.
Kurzum: Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Lassen Sie mich ganz kurz noch auf unsere Maßnah-
men und Vorschläge eingehen; dann bin ich auch schon
fertig.
Nein, Herr Kollege. Sie sind jetzt schon über eine
Minute über Ihre Redezeit.
Ist es schon eine Minute?
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23849
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Ja. Das müssen Sie vielleicht in den weiteren Bera-
tungen ausführen.
Schade. – Sie können das in unserem Antrag gerne
nachlesen.
Er ist umfassend, er ist nicht ideologiegeführt. Unsere
Vorschläge sind sachgerecht und vor allem praktikabel.
Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt der Kollege Kai
Gehring für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Auch der siebte Berufsbildungsbericht unter MinisterinSchavan bilanziert, dass Berufsbildung nicht zu den Her-zensanliegen dieser Koalition zählt.
Auf großer Bühne und überall in Europa lobt dieMinisterin zwar seit Jahren die duale Ausbildung. Ange-sichts dramatischer Jugendarbeitslosigkeitsquoten in an-deren Ländern ist das Interesse dort auch groß. Bei derkonkreten Berufsbildungspolitik hierzulande hakt esaber. Noch immer hat die Koalition kein Konzept vor-gelegt, um gemeinsam mit Ländern, Kommunen und derBundesagentur für Arbeit das Dickicht der Über-gangsangebote zwischen Schule und Ausbildung zu lich-ten.
Auch in der Antwort der Bundesregierung auf unsereKleine Anfrage haben wir vergeblich danach gesucht,und noch immer verweist die Koalition lieber auf immerneue Projekte, als das ganze System endlich geschlossenund entschlossen zukunftsfähig zu machen. Angesichtsdes steigenden Fachkräftemangels ist das zu wenig.
Bezeichnend ist auch, dass der Berufsbildungsberichterst ein halbes Jahr nach seiner Beratung im Kabinettund ein halbes Jahr vor der Vorlage des nächsten Berich-tes im Parlament beraten wird – und nicht etwa auf Re-gierungsinitiative, sondern weil die Opposition klugeAnträge zur Reform der beruflichen Bildung vorgelegthat.Für die Schulabgängerinnen und -abgänger ist es keingutes Zeichen, dass Schwarz-Gelb auch 2013 weiterausschließlich auf eine gute Konjunktur, den eher uner-giebigen Ausbildungspakt mit der Wirtschaft und dendemografisch sinkenden Anteil von Ausbildungsplatzsu-chenden setzt. Das ist kein Konzept für die notwendigeModernisierung des Berufsbildungssystems, das ist Aus-sitzen.
Für uns als Grüne-Fraktion ist gute Ausbildung derSchlüssel zu Bildungsgerechtigkeit und Teilhabe. Wirwollen die Betriebe mit mehr potenziellen Fachkräftenzusammenbringen, und wir wollen für alle Jugendlichendas Recht auf eine anerkannte qualifizierende Ausbil-dung verwirklichen, egal ob ohne oder mit Einwande-rungsgeschichte, ob leistungsstark oder schulmüde, obgehandicapt oder nicht. Es kommt darauf an, jeden undjede bis zum Berufsabschluss mitzunehmen. Dafür müs-sen sich alle – Sozialpartner, Gesellschaft und Politik –viel stärker ins Zeug legen. Wir dürfen niemanden zu-rücklassen.
Natürlich stimmt es auch uns sehr optimistisch, dasssich der Ausbildungsmarkt leicht entspannt. Das ist aberkein Grund zur Entwarnung und kann nicht darüber hin-wegtäuschen, dass es rund 175 000 Altbewerber gibt, diesich seit mehr als einem Jahr um einen Ausbildungsplatzbemühen, dass auch 2011 fast 300 000 Neuzugänge inunwirksamen Maßnahmen des Übergangssektors ge-parkt wurden und dass die Chancen auf einen Ausbil-dungsplatz ungerecht verteilt sind und viel zu vieleJugendliche durchs Raster fallen.Daher frage ich Sie, Frau Ministerin Schavan: Wastun Sie für die 2,2 Millionen bis 34-Jährigen ohne Be-rufsabschluss, die sich weder in einer Maßnahme nochin Ausbildung befinden? Der DGB nennt diese Gruppezu Recht „Generation abgehängt“, da ihr prekäre Ar-beitsverhältnisse oder Arbeitslosigkeit drohen. Für dieseGruppe stehen viel zu wenig Qualifizierungsangebotebereit. Das muss sich ändern. Die Spaltung des Ausbil-dungsmarktes in Chancenreiche und Chancenarme mussbeendet werden.
Der Weg der Koalition, sich nur auf die Paktpartnerzu verlassen, bringt zu wenig; denn sie haben ihr Ziel,die Zahl der Ausbildungsabbrüche zu verringern, klarverfehlt. Die Vertragslösungsquote ist sogar auf 23 Pro-zent gestiegen. Ein Teil der Abbrüche ist auf schlechteArbeitsbedingungen zurückzuführen, bis hin zu Fällenvon Ausnutzung. Das heißt, wir müssen die Qualität derAusbildung weiter stärken.Der übergroßen Mehrheit der Ausbildungsbetriebe inunserem Land gebührt die Anerkennung des gesamtenHauses. Sie leisten wahnsinnig viel für die Perspektivender jungen Generation und die Chancen unserer Wirt-schaft. Wir beobachten aber aufmerksam und mit Sorge,dass der Anteil der Ausbildungsbetriebe rückläufig ist.Hier fordern wir eine Trendumkehr. Wir brauchen wie-der mehr Betriebe, die ausbilden, und wir brauchen mehr
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Kai Gehring
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mutige Betriebe, die auch Jugendlichen mit schlechtenZeugnissen eine Chance geben.
Genau hier setzt unser Konzept DualPlus an. Dual-Plus garantiert individuelle Förderung, bringt Betriebeund Bewerber zusammen und fügt sich in die unter-schiedlichen Gegebenheiten der Bundesländer ein. Dual-Plus gestaltet diesen ineffizienten Übergangsdschungelzu einer echten Eingangsphase der beruflichen Ausbil-dung für alle Jugendlichen um; denn alle ausbildungs-interessierten Jugendlichen, die keinen Ausbildungsplatzbekommen haben, erhalten ein Angebot. Nach dem dua-len Prinzip durchlaufen sie einen Teil ihrer Ausbildungin der Berufsschule und einen Teil im Betrieb. Dabei er-reichen sie auch Zwischenziele, weil die Ausbildung ineinzeln zertifizierten und bundesweit anerkannten Aus-bildungsbausteinen unter Wahrung des Berufsprinzipsabsolvierbar ist.Überbetriebliche Ausbildungsstätten – das ist neu –unterstützen Jugendliche zusätzlich. Hier können sie ihreStärken ausbauen und Schwächen ausbügeln, zum Bei-spiel mit gezielter Sprachförderung. Diese Unterstüt-zungsstruktur entlastet ausbildende Betriebe; auchkleinste und spezialisierte können sich beteiligen. Dual-Plus ist gut anschlussfähig bei Reformkonzepten vonBundesländern, die ihr Übergangssystem längst neustrukturieren, sei es in Hamburg oder Nordrhein-West-falen. Deshalb schlagen wir DualPlus zur bundesweitenUmsetzung vor.
Politik und Tarifpartner sind in der Pflicht, gute undverlässliche Ausbildung für alle Jugendlichen zu garan-tieren. Das gelingt nicht durch Warten auf Konjunkturund demografischen Wandel, liebe Koalition. Jugend-liche brauchen Ausbildung statt Aussitzen. Packen Siees endlich an!
Uwe Schummer hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-
Fraktion.
Meine Damen und Herren! Verehrtes Präsidium!DualPlus wird nach dem, was wir in unseren Gesprächenmit dem Handwerk gehört haben, vom Handwerk mas-siv abgelehnt, weil es als Abkehr vom dualen System ge-sehen wird.
Aber darüber können Sie mit dem Handwerk gerne wei-ter diskutieren.
Wir werden das aufmerksam verfolgen.Interessant war gestern unser gemeinsames Fachge-spräch im Bildungsausschuss über grenzüberschreitendeAusbildungskooperationen. Dabei ist eindeutig festge-stellt worden, dass die duale Ausbildung in Deutschland,Österreich und der Schweiz mittlerweile weltweit Vor-bild geworden ist als ein Instrument, mit dem die Kriseüberwunden und jungen Menschen Handlungskompe-tenz vermittelt werden kann. Viele Länder überlegenmittlerweile, dieses System zu übernehmen.
Wir Deutschen haben mit 7,9 Prozent die geringsteJugendarbeitslosigkeit nach der Krise innerhalb derEuropäischen Union. Der Durchschnitt der Jugendar-beitslosigkeit der unter 25-Jährigen in der EuropäischenUnion liegt bei 22,6 Prozent; die Spitzen der Jugendar-beitslosigkeit in Griechenland und Spanien liegen beiüber 50 Prozent.Lernen in der Praxis für die Praxis hat eine hohe Inte-grationskraft in Bezug auf die Arbeitswelt. Wissen istwichtig. Das Wissen auch anwenden zu können – das,was in der dualen Ausbildung mit der Handlungskompe-tenz vermittelt wird –, ist aber am Ende entscheidend.
Spanien und Griechenland wollen Formen der dualenAusbildung entwickeln. Auch Themen wie Solartechnik,effizientes Bauen und deutsche Handwerkskultur sindeng mit der dualen Ausbildung verknüpft. Das ist eineVoraussetzung, die wir in Deutschland haben und die an-dere Volkswirtschaften entwickeln wollen, um wirt-schaftliche Potenziale in ihren Ländern zu schaffen, unddamit auch ein Teilelement, um die Überwindung derKrise in diesen Staaten voranzutreiben.Ein solcher europäischer Bildungsraum braucht auchMobilität, und Mobilität braucht so etwas wie Angebotezum Jugendwohnen. Es war eine ganz wichtige Ent-scheidung der christlich-liberalen Koalition, dass die550 Jugendwohnheime für Jugendliche in der Ausbil-dung, die wir in Deutschland haben, wieder Investitions-förderung bekommen. Damit bieten wir wieder pädago-gische Begleitung und eine Unterkunftsmöglichkeit, undes kann entsprechender Förderunterricht organisiert wer-den, wenn Mobilität von Hunderttausenden junger Men-schen im Rahmen der Ausbildung notwendig und sinn-voll ist.
Wir sollten dankbar sein, dass bei uns in Deutschlandüber die duale Ausbildung 30 Milliarden Euro jährlichvon der Wirtschaft für Ausbildungsvergütungen, Ausbil-dungswerkstätten und Ausbilder, die freigestellt werden,zur Verfügung gestellt werden. Das heißt, 70 Prozent dergesamten dualen Ausbildungskosten finanziert bei uns
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Uwe Schummer
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die Wirtschaft. Es ist kaum denkbar, dass diese Finanzie-rungslast von den öffentlichen Haushalten alleine getra-gen werden könnte. Das ist der Ansatz, die Wirtschaftmit ins Boot zu holen – auch bei der Finanzierung, derQualitätssicherung und der Bereitstellung entsprechen-der Ausbildungsplätze.
Ein wichtiger Erfolg der Bundesregierung der letztenJahre ist, dass die Zahl der sogenannten Altbewerber – dasheißt derjenigen, die vor mehr als zwölf Monaten aus derSchule entlassen wurden und einen Ausbildungsplatz su-chen – von 380 000 auf immerhin 175 000 abgebautworden ist.
Der Trend, diese Gruppe mit einer Ausbildung zu ver-sorgen, geht massiv weiter. Es zeigt sich auch eine Bil-dungsrendite der dualen Ausbildung im Hinblick darauf,wo die Arbeitslosigkeit am geringsten ist. Bei den Aka-demikern liegt die Arbeitslosigkeit derzeit bei etwa3,2 Prozent. In der Gruppe derer, die eine Weiterbil-dungsqualifikation im dualen System erworben habenwie Meister und Techniker, liegt die Arbeitslosigkeitderzeit bei 2,7 Prozent. Das heißt, die Bildungsrenditeund letztendlich auch der Schutz vor Arbeitslosigkeitsind in der dualen Ausbildung in den Weiterbildungs-möglichkeiten am stärksten, noch stärker als in der aka-demischen Qualifizierung. Auch das muss man hier undheute klar und deutlich sagen.
Wir – gerade unsere Ministerin Frau Schavan – habenmit den Bildungsketten einen systematischen Übergangvon der Schule in den Beruf geschaffen. Wir haben da-mit auch erreicht, dass ein Stück weit das Übergangssys-tem geglättet und auch besser aufeinander abgestimmtworden ist. Wir sagen, dass wir eine frühzeitige Berufs-orientierung brauchen, beispielsweise nicht erst drei Mo-nate vor der Schulentlassung, sondern drei Jahre vorhermit einer Potenzialanalyse. Darauf aufbauend durchlaufendie Jugendlichen dann in überbetrieblichen Werkstätten,beim Handwerk oder in anderen Bereichen verschiedeneBerufsfelder wie Holz, Metall, Hauswirtschaft, Verwal-tung, Gartenbau, um dort zu schauen, in welchem Be-rufsfeld sie noch in der Schule betriebliche Praktika ab-solvieren und ihre Berufsorientierung entsprechendzielgerichtet organisieren können. Auch dies ist ein In-strument gewesen, um die Schulabbrecherquote durchmehr Motivation, durch frühzeitige und bessere Berufs-orientierung von fast 10 Prozent auf 5,5 Prozent abzu-senken.
Das bedeutet 30 000 bis 40 000 weniger Schulabbrecheraufgrund einer neuen Perspektive durch eine organi-sierte, vernünftige Berufsorientierung. Es gibt eine Per-spektive nach dem Abschluss: kein Abschluss in derSchule ohne weiteren Anschluss.Wir brauchen weiterhin auch Instrumente im Bereichder Behinderten. In diesem Bereich liegt die Beschäfti-gungsquote bei nur 0,9 Prozent. Das ist zu wenig. Ich er-lebe in meiner Region am Niederrhein, wie mit einer Ini-tiative der Lebenshilfe oder der Initiative „Kindertraum“Behinderte sehr wohl in der Lage sind, beispielsweiseGartenarbeiten durchzuführen, in Jugendzentren im Kü-chendienst zu arbeiten oder auch in einem Museum alteGebäude zu restaurieren. Das alles dauert länger, manbraucht mehr Zeit. Aber ich denke, bei bestimmten Akti-vitäten kann man ihnen diese Zeit auch einräumen.Gemeinsam mit dem Berufsbildungsinstitut wollenwir klären, dass aus den Berufsbildern heraus Bausteineentwickelt werden, die einfache Arbeiten darstellen, mitdenen Teilqualifikationen vermittelt werden können, so-dass man den Behinderten eine Chance gibt, integriert inUnternehmen und außerhalb der betreuten Werkstätteneine sinnvolle Beschäftigung zu finden. Da müssen wirPotenziale nutzen und auch diese Potenziale stärker mitin die Arbeitswelt hineinbringen.
Eine gute Information: Bei unserer gestrigen Anhö-rung im Ausschuss haben die Kammern zu dem Gesetzzur Anerkennung der Kompetenzen gesagt, dass sichvon den 300 000 Menschen – diese Zahl hatten wir ge-schätzt –, die aus dem Ausland nach Deutschland ge-kommen sind, die bei uns leben und eine Qualifizierunghaben und diese Qualifizierung bei den Kammern aner-kannt bekommen wollen, bereits 170 000 bei den Kam-mern gemeldet hätten, und dies in den wenigen Wochen,seitdem das Anerkennungsgesetz, das wir verabschiedethaben, in Kraft getreten ist. Auch dies zeigt: Wir nutzenund schöpfen Potenziale in unserer Wirtschaft. Das Po-tenzial unserer Wirtschaft ist der Mensch, und derSchlüssel zur Hebung dieses Potenzials ist die Bildung.Da haben wir die beste Bildungsministerin in Deutsch-land seit 1949 mit Annette Schavan.
Oliver Kaczmarek hat jetzt das Wort für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ichmöchte zu Beginn eine grundsätzliche Anmerkung ma-chen und auch auf den Redebeitrag der Ministerin zu-rückkommen. Wenn wir über die grundsätzlichen He-rausforderungen reden, dann müssen wir doch zweiDinge sehen: Das eine ist, dass wir jungen Menschendurch eine qualifizierte Ausbildung Teilhabe gewähren.Das andere ist, dass wir natürlich der Herausforderungdes Fachkräftemangels begegnen müssen. Da geht esnämlich um nicht weniger als um die wirtschaftlicheLeistungsfähigkeit Deutschlands und um nicht wenigerals den Wohlstand, von dem wir alle leben. Vor diesemHintergrund und auch, wenn ich mir die Prognosen imBerufsbildungsbericht zur Entwicklung der Abgänger-zahlen ansehe, komme ich zu der Erkenntnis: Wir brau-
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Oliver Kaczmarek
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chen jeden jungen Menschen, der jetzt in der Schule ist,der jetzt keine Beschäftigung hat, der jetzt keine Ausbil-dung gefunden hat, egal woher er kommt, was seine El-tern verdienen, wo er geboren worden ist. Das ist allesegal, wir brauchen jeden. Deswegen ist es kein alter Hut,zu sagen: Das Recht auf Ausbildung ist wichtig. Viel-mehr ist es gesellschaftlich und auch wirtschaftlich, öko-nomisch, dringend geboten, dass wir jedem eine faireChance auf Ausbildung anbieten.
Weil die grundsätzliche Betrachtungsweise der SPD-Fraktion durch den Kollegen Brase schon vorgetragenworden ist, möchte ich zwei Anmerkungen zu Themenmachen, die uns besonders wichtig erscheinen.Wenn ich sage, jeder wird gebraucht, dann meine ichauch die 65 000 Schülerinnen und Schüler, die in jedemJahr die Schule ohne Abschluss verlassen. Rund dieHälfte von ihnen kommt von Förderschulen. Wir brau-chen auch sie.Ebenso brauchen wir – Herr Schummer hat das ge-rade ebenfalls angesprochen – die Menschen mit Behin-derung, aber auch in einer qualifizierten Ausbildung;denn nicht alle Behinderten sind nur für Hilfstätigkeitengeeignet. Vielmehr müssen wir durch unsere Förderung,durch unser Schulsystem dafür sorgen, dass sie auchSchulabschlüsse machen können. Viel zu viele sind inFörderschulen, machen dort einen Abschluss und sinddann mit dem Abschluss einer Förderschule stigmati-siert. Schwerbehinderte können eben auch einen Beitragzur Leistungsfähigkeit der Wirtschaft und ebenso einenBeitrag zur Bekämpfung des Facharbeitermangels leis-ten.
Deswegen dürfen wir sie eben nicht am Rande stehenlassen, sondern müssen eine auf ihre Bedürfnisse abge-stimmte Strategie entwickeln.Ich will dazu nur drei kurze Punkte nennen:Erstens. Wir müssen Menschen mit Behinderungfrühzeitig, intensiv und handlungsorientiert auf ihre spä-tere Berufstätigkeit vorbereiten; dazu braucht es einekonsequente Berufsorientierung. In diesem Zusammen-hang ist das, was die Bundesregierung in der „InitiativeInklusion“ in diesem einen Punkt vorgelegt hat, voll-kommen richtig und durchaus zu begrüßen.
Das ist sicherlich notwendig. Aber es ist nicht hinrei-chend. Es sind natürlich weitere Schritte notwendig, dieauch die Situation von Menschen mit Behinderung aufdem Arbeitsmarkt substanziell verändern.Zweitens. Wir können auf Werkstätten für Menschenmit Behinderung nicht verzichten. Aber wir müssen aufihre Kompetenz aufbauen, insbesondere im Hinblick aufihre Berufsorientierungskompetenz. Wir müssen ge-meinsam mit ihnen Wege entwickeln, damit Menschenaus der Werkstatt in den ersten Arbeitsmarkt oder in öf-fentliche Beschäftigung hinein vermittelt werden kön-nen. Ich glaube, das ist ein ganz wichtiges Signal auchan die Werkstätten, wenn wir mit ihnen gemeinsam aneiner neuen Rolle arbeiten.
Drittens. Ich bin der Meinung, dass die Bundesagen-tur für Arbeit einen besonderen Auftrag hat – er ist auchgesetzlich definiert –, nämlich den Auftrag der Berufs-orientierung und der Berufseinstiegsbegleitung. Demmuss sie auch nachkommen können.Ich weise darauf hin: Die Bundesregierung hat sichim Ausbildungspakt zu dem Versprechen verpflichtet,sich für eine bessere Integration von Jugendlichen mitBehinderung in die betriebliche Ausbildung einzusetzen.Dazu will sie prüfen – ich lese das einmal vor –, „ob undinwieweit auch in diesem Bereich arbeitsmarktpolitischeInstrumente angepasst werden müssen“.Das ist ja erst einmal gut. Die Wahrheit sieht aber an-ders aus. Allein im Bundeshaushaltsentwurf für dasnächste Jahr, den wir im Moment noch im Bundestag de-battieren, sollen 6,5 Milliarden Euro bei der aktiven Ar-beitsmarktpolitik eingespart werden. Wer aber benach-teiligten jungen Menschen eine Chance geben will,durch eine qualifizierte Berufsausbildung in die Er-werbsarbeit zu finden, der darf die Bundesagentur fürArbeit und ihr Instrumentarium, der darf die Arbeits-marktpolitik eben nicht zur Spardose für das Sparpaketmachen.
Wenn Sie dies machen würden, würden Sie diejeni-gen im Stich lassen, die jetzt noch nicht von der Ent-wicklung am Ausbildungsmarkt profitieren konnten unddie ohne Hilfe keinen Anschluss am Arbeitsmarkt fin-den. Wir haben dazu einen Antrag gestellt; das werdenwir an anderer Stelle noch debattieren.Das zweite Thema, das ich kurz ansprechen möchte:Am Ende der Ausbildung – ich habe das im letzten Jahrbei der Debatte zum Berufsbildungsbericht bereits ange-sprochen – haben immer mehr junge Menschen keinegesicherte Perspektive auf Übernahme in eine unbefris-tete Beschäftigung. Wer den DGB-Ausbildungsreportliest, stellt fest, dass weniger als die Hälfte der jungenMenschen, die sich im letzten Ausbildungsjahr befinden,eine Perspektive auf Übernahme im Betrieb haben. Vondieser Teilmenge hat wiederum nur gut ein Drittel Aus-sicht auf eine unbefristete Übernahme.Wenn aber selbst der Abschluss einer qualifiziertenBerufsausbildung für junge Menschen keine gesicherteErwerbsperspektive bedeutet, wenn das nicht ausreicht,wie sollen junge Menschen dann die Zuversicht gewin-nen, sich für die Gesellschaft einzusetzen, Familie zugründen, am Wohlstand mitzuwirken? Deswegen sagenwir: Zur guten Ausbildung gehört im Regelfall auch dieÜbernahme in eine unbefristete Beschäftigung.
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Oliver Kaczmarek
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Ich möchte das auch vor dem Hintergrund des Fach-gesprächs, das wir gestern im Ausschuss hatten, nocheinmal kurz spiegeln. Ich halte das nämlich für einenzentralen Punkt, wenn wir über die Attraktivität der Aus-bildung im dualen System sprechen. Es werden sichauch zukünftig nur dann junge Menschen mit gutenSchulabschlüssen dafür entscheiden, eine duale Ausbil-dung zu beginnen, wenn sie eine gesicherte Perspektivehaben, wenn sie davon ausgehen können, dass es ihneneinen Job bringt, der einigermaßen sicher ist, nicht aber,wenn sie damit rechnen müssen, dass nach der Ausbil-dung alles wieder vorbei ist. Deswegen ist das ein ganzwichtiger Punkt.
Es liegt auf der Hand: Wer das Problem in den Griffbekommen will, der muss die prekäre Beschäftigung inden Griff bekommen. Das ist gerade aus Sicht der jun-gen Arbeitnehmer wichtig. Das heißt aus unserer Sichterstens, dass die sachgrundlose Befristung abgeschafftwerden muss. Wer in einem Betrieb gelernt hat, der musssich nicht mehr einarbeiten. Deswegen gibt es auch kei-nen Grund, ihn nur befristet einzustellen. Deswegen sindwir für die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung.
Zweitens geht es darum, die Leih- und Zeitarbeit aufihren ursprünglichen Zweck zurückzuführen und insge-samt zu begrenzen.Drittens muss das auch in Bezug auf die Minijobs ge-schehen. Die Landesregierung von Nordrhein-Westfalenhat hierzu eine gute Initiative in den Bundesrat einge-bracht,
bei der es darum geht, eine Höchststundenzahl für Mini-jobs einzuführen.
Dabei geht es insgesamt um die Frage: Wie könnenwir die Wahrscheinlichkeit reduzieren, dass der Wegjunger Menschen im Anschluss an ihre Ausbildung vor-geprägt ist und in Richtung prekäre Beschäftigung führt?Damit komme ich zum Schluss. Was wir jetzt bei derIntegration junger Menschen in Erwerbsarbeit, in denersten Arbeitsmarkt, verpassen, können wir vor demHintergrund des Fachkräftemangels und der wirtschaftli-chen Entwicklung womöglich nicht mehr aufholen. Daswürden wir teuer bezahlen müssen. Deshalb sage ich:Verzichten können wir auf keinen Einzigen. Da sehe ichbei der Arbeit der Regierung noch ein bisschen Nachhol-bedarf.
Patrick Meinhardt hat das Wort für die FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Bei einer Debatte über berufliche Bildungim nationalen und internationalen Zusammenhang ist essinnvoll, einmal einen Blick in die internationale Com-munity zu werfen. Vor nicht einmal 48 Stunden ist derWeltbildungsbericht von der UNESCO vorgestellt wor-den. Ausdrücklich gelobt wird dabei das deutsche Mo-dell der dualen Ausbildung mit Berufsschule auf der ei-nen und praktischer Arbeit im Betrieb auf der anderenSeite. Diese besondere Form der Berufsvorbereitung istder Grund für die in der Bundesrepublik Deutschlandvergleichsweise niedrige Jugendarbeitslosenquote unddamit einer der wichtigsten Punkte, dass man hier nichtvon einer verlorenen Generation sprechen muss.
So weit die UNESCO, so weit der Weltbildungsbericht.Diese Perspektive sollte man im Zusammenhang mit derDebatte, die wir hier führen, einmal hervorheben.Zum Zweiten. Es ist von mehreren Rednern angespro-chen worden; aber es ist wichtig, dies immer wiederdeutlich hervorzuheben: Es gibt keine Leistung nur ir-gendeiner Bundesregierung, es gibt keine Leistung nurirgendeiner Landesregierung – es gibt eine Leistung, dievon der gesamten Wirtschaft und den Ausbildungsbetrie-ben erbracht worden ist. Wenn ich sehe, dass gerade indiesen schwierigen Zeiten das Handwerk, der Mittelstandim Bereich der Ausbildungsangebote so stark engagiertist, dass am Schluss 10 000 zusätzliche Ausbildungs-plätze zur Verfügung stehen und 11 000 Jugendlichen,die einen Ausbildungsplatz suchen, 30 000 offene Aus-bildungsplätze gegenüberstehen, kann ich nur ganz deut-lich sagen: Gott sei Dank gibt die Wirtschaft in der Bun-desrepublik Deutschland, gibt der Mittelstand in derBundesrepublik Deutschland jungen Menschen geradein der Krise eine Chance. Das ist ein gutes und positivesZeichen.
Flankierende Maßnahmen, die die Bundespolitik ak-tiv einbringen kann, gibt es eine ganze Reihe, und dieRegierung setzt ja auch an vielen Punkten an. Das Pro-gramm „Bildungsketten“ ist angesprochen worden. Ichgreife bewusst die Maßnahme der Bildungslotsen he-raus, eine gemeinsame Aktivität von Bundeswirtschafts-ministerium, Bundesarbeitsministerium und Bundesbil-dungsministerium. Dadurch haben wir in der Summe2 000 Bildungslotsen gewonnen, die junge Menschenbeim Übergang von der Schule in den Beruf an die Handnehmen, ihnen Orientierung geben, ihnen helfen, in eineAusbildung zu kommen, in einen Beruf zu kommen.Wer vor Ort in den Schulen, in den Betrieben ist, wirdfeststellen können: Dort, wo Bildungslotsen aktiv sind,wo Bildungslotsen junge Menschen begleiten, bekom-men die jungen Menschen eine hervorragende Möglich-keit, ihre eigene Ausbildungsorientierung zu finden.Deswegen ist das Programm „Bildungsketten“ gerade indieser Krisensituation so wichtig.
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Patrick Meinhardt
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Ein weiterer wichtiger Aspekt: Wir wissen, dass esgerade für kleine und mittlere Unternehmen nicht ganzeinfach ist, eigenständig Ausbildungsplätze anzubieten.Umso wichtiger ist es, dass Ausbildungsverbünde, über-betriebliche Ausbildungsformen schlagkräftig ausgestat-tet werden. Es ist ein gutes und richtiges Zeichen, dasssich die Regierungsfraktionen und die Regierung wiederdazu durchgerungen haben, die überbetrieblichen Be-rufsbildungsstätten auf dem hohen Niveau von 40 Mil-lionen Euro weiterhin zu fördern und sogar so viel Flexi-bilisierung einzubauen, dass wir gerade in diesen Zeitennoch mehr Dynamik herausbekommen. Jede überbe-triebliche Berufsbildungsstätte, die es in der Bundesre-publik Deutschland gibt, ist eine zusätzliche Chance fürjunge Menschen.
Die Regierung und die sie tragenden Fraktionen sa-gen – gerade gestern haben wir im Ausschuss darübergesprochen –: Das Programm „Maßnahmen zur Verbes-serung der Berufsorientierung“ läuft Gott sei Dank gut,es läuft sogar sehr gut. Es läuft so gut, dass wir jetztnoch einmal 10 Millionen Euro, das heißt 15 Prozent,draufsatteln, weil wir bei den jungen Menschen, bei de-nen die größte Gefahr besteht, dass sie eine Ausbildungfrühzeitig abbrechen, gegensteuern wollen. Dort wollenwir ansetzen. Es ist in diesen Zeiten die richtige Ant-wort, die Mittel für das Maßnahmenpaket „Berufsorien-tierungsprogramm“ zu erhöhen, um den Weg jungerMenschen mit vorbereiten zu können.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, die Ein-stiegsqualifizierung ist vielfach angesprochen worden.Dieses Instrument halten wir als FDP für ein sehr gutesInstrument. Wir müssen aber den Rahmen dafür nochweiter verbreitern. Im Bereich der Einstiegsqualifizie-rung haben wir 40 000 Plätze in der BundesrepublikDeutschland. Im Augenblick sind leider nicht all diese40 000 Plätze besetzt. Da müssen wir ansetzen; denn dieEinstiegsqualifizierung führt dazu, dass 70 Prozent der-jenigen, die sie durchlaufen und die momentan keineChance auf eine Ausbildung hätten, am Ende diesesJahres in eine Ausbildung kommen. Diese Einstiegsqua-lifizierung gibt es seit ungefähr fünf Jahren. Das bedeu-tet, dass über 100 000 Jugendliche in dieser Zeit über dieEinstiegsqualifizierung zusätzlich die Chance bekom-men haben, den Weg in die Ausbildung zu schaffen.Deswegen müssen wir die Einstiegsqualifizierungstärken und daraus ein weiteres wichtiges Instrumentmachen. Das ist ein wichtiges politisches Zeichen, das indieser Diskussion zum Ausdruck kommen muss.
Ich habe mich gewundert, wie wenige das ThemaAltbewerber in dieser Debatte angesprochen haben. Icherinnere mich noch daran, dass vor drei Jahren immerdavon gesprochen wurde, dass es ein Skandal sei, dasswir 300 000 Altbewerberinnen und Altbewerber haben.Wir haben innerhalb von drei Jahren die Zahl der Altbe-werberinnen und Altbewerber auf 174 000 reduziert.Das war eine intensive Anstrengung, von der man sagenkann: Es ist gut, wenn diese Akzente gesetzt werden.Deswegen muss dies an dieser Stelle eine vollumfängli-che Anerkennung finden. Jede Reduzierung bei der An-zahl der Altbewerber ist ein gesellschaftspolitischerSchritt in die richtige Richtung.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolle-ginnen und Kollegen, ein letzter Punkt: Im Hinblick aufdie Flexibilisierung im Ausbildungsbereich halte ich esfür ausgesprochen spannend, sich die Situation bei denzwei- und dreijährigen Ausbildungsberufen anzuschauen.Wir haben bewusst gesagt: Wir brauchen niedrigschwelli-gere Angebote. Wir haben momentan 560 000 Ausbil-dungsplätze in der dualen Ausbildung, 50 000 Plätze inder zweijährigen Ausbildung.
Jetzt wird es spannend: Von den Auszubildenden in einerzweijährigen Ausbildung haben 60 Prozent einen Haupt-schulabschluss. Bei den gesamten dualen Ausbildungs-berufen sind es nur 33 Prozent. Wir haben mit den zwei-jährigen Ausbildungen genau das geschaffen, was wirbrauchen: ein niedrigschwelliges Angebot für all die jun-gen Menschen, die einen Hauptschulabschluss habenund eine Ausbildung machen wollen.
Deswegen ist der Weg über die Einstiegsqualifizie-rung, die zweijährige Ausbildung, die dreijährige Aus-bildung und die dreieinhalbjährige Ausbildung richtig.Damit schaffen wir eine Perspektive für junge Menschenaus allen Bereichen des Bildungssystems in der Bundes-republik Deutschland.
Herr Kollege, Sie müssen wirklich zum Schluss kom-
men.
Vielen herzlichen Dank, Herr Präsident. – Die
Debatte macht eines deutlich: Wichtig ist, dass die duale
Ausbildung ein wirkliches Rückgrat in der Gestaltung
der Bundesrepublik Deutschland ist. Um es anders zu
formulieren: Die Garantieerklärung von Politik und
Wirtschaft für die Perspektiven der Jugendlichen in der
Bundesrepublik Deutschland ist die duale Ausbildung.
Vielen herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Brigitte Pothmer für die FraktionBündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Meinhardt, es ist doch nicht so, dass irgendeine Fraktion
in diesem Hause das duale System auch nur ansatzweise
infrage stellen würde. Alle hier sind für das duale
System.
Wir weisen nur darauf hin, Herr Meinhardt, dass es
offensichtlich so ist, dass ein nicht unerheblicher Teil
junger Menschen von diesem dualen System nicht profi-
tiert. Die Zahlen sind hier schon genannt worden:
2,2 Millionen junge Menschen sind weder in Ausbildung
noch in Arbeit. Fast 300 000 befinden sich immer noch
in diesem perspektivlosen Übergangssystem. Anders als
Frau Schavan es heute gesagt hat, gehen die Experten im
Berufsbildungsbericht davon aus, dass circa 230 000
junge Leute noch sehr lange in diesem Übergangssystem
bleiben werden.
Herr Meinhardt, das ist das Problem, um das wir uns
heute kümmern müssen.
Wir müssen uns im Klaren darüber sein, dass die Pro-
gnose, dieses Problem werde durch die Konjunktur,
durch den demografischen Wandel oder durch den Fach-
kräftemangel gelöst, nicht zutrifft.
Deswegen müssen wir etwas tun. Das Problem wird
sich nicht von selber lösen. Es ist unsere Aufgabe, dafür
zu sorgen, dass wirklich alle jungen Menschen eine be-
rufliche Perspektive erhalten.
Sie können nicht darüber hinwegreden, dass insbeson-
dere jungen Leuten mit Förderbedarf, den sogenannten
Marktbenachteiligten, der Zugang zum dualen System
immer noch versperrt ist.
Ganz besonders skandalös – darüber hat heute über-
haupt noch niemand geredet – ist die Ausbildungsquote
bei den Migrantinnen und Migranten.
Sie liegt bei beschämenden 33,5 Prozent; bei den Deut-
schen ist sie mit 65 Prozent etwa doppelt so hoch. Diese
jungen Leute werden abgehängt, und um sie müssen wir
uns kümmern.
Das haben sie nicht nur verdient und darauf haben sie
nicht nur einen Anspruch, sondern das Ganze ist auch
vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels zu sehen.
Das Gleiche gilt vor dem Hintergrund der demografi-
schen Entwicklung; das will ich an dieser Stelle noch
einmal sagen. Schon derzeit ist es so, dass eine kleinere
Kohorte junger Leute eine große Kohorte älterer Men-
schen ernähren muss. Wenn dann aber von diesen jungen
Leuten fast ein Fünftel nicht nur nicht auf dem Erwerbs-
arbeitsmarkt aktiv werden kann, sondern auch noch ein
Leben lang alimentiert werden muss, dann überfordert
das jede Volkswirtschaft. Deswegen müssen wir etwas
tun.
Dass das machbar ist, zeigt das Beispiel der Bertels-
mann-Stiftung. Die Bertelsmann-Stiftung ist wahrlich
keine grüne Kaderschmiede, aber sie hat gemeinsam mit
der Bundesagentur für Arbeit und acht Bundesländern
den Versuch unternommen, diesen Übergangsdschungel
zu ordnen, und hat daraus, wie sie es nennt, „Übergänge
mit System“ entwickelt.
Dieser Vorschlag liegt sehr dicht an unserem Vor-
schlag des DualPlus.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus
den Reihen der CDU/CSU?
Ja, bitte.
Sehr verehrte Frau Kollegin, ich habe es schon in ei-
nigen Redebeiträgen gehört – ob es nun vom Kollegen
Brase war oder vom Kollegen Gehring –, und auch Sie
haben es noch einmal erwähnt: die Perspektivlosigkeit
von jungen Leuten im Übergangssystem und dessen
Ineffektivität.
Nicht nur deshalb, weil ich selbst zwei Jahre als Aus-
bilder für sogenannte lernbehinderte und benachteiligte
junge Leute gearbeitet habe, halte ich Ihre Aussage für
eine sehr starke Unterstellung. Wie meinen Sie es, wenn
Sie sagen, dass das Übergangssystem völlig perspektiv-
los oder ineffektiv sei? Hierzu hätte ich gerne eine Aus-
kunft von Ihnen. – Vielen Dank.
Es gibt inzwischen diverse wissenschaftliche Evaluie-rungen über das Übergangssystem, und sie alle kommenzu dem Ergebnis – um es einmal salopp auszudrücken –:Das Übergangssystem ist teuer, es kostet fast 6 Milliar-den Euro im Jahr, und es ist schlecht, weil es die Jugend-lichen nicht stärker an die Ausbildungsreife heranführt,sondern sie im Wesentlichen frustriert.Die jungen Leute im Übergangssystem sind nicht sel-ten weniger ausbildungsreif, als sie es zuvor waren.Deswegen können wir dies nicht länger akzeptieren. Wirbrauchen eine Alternative. Unsere Alternative heißtDualPlus. – Ich danke Ihnen.
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Brigitte Pothmer
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DualPlus ist übrigens keine Erfindung vom grünenTisch, sondern das gibt es bereits in Österreich – nur miteinem etwas anderen Namen –, und wird es dort sehr er-folgreich eingesetzt.Ich will es noch einmal sagen: Das Ganze rechnetsich in dreifacher Hinsicht. Es rechnet sich für dieJugendlichen, weil sie einen guten Start in Arbeit undAusbildung bekommen. Es rechnet sich für die Betriebe,weil sie gute Fachkräfte erhalten. Und – das ist ebenfallserheblich – es rechnet sich für die öffentliche Hand, weilalle Investitionen in Ausbildung zu 100 Prozent zu einerRendite führen.Meine Damen und Herren, es ist doch wirklich nichtschwer: Ausbildungsgarantie statt Warteschleife – dasbringt Perspektiven statt Frust. Das erreichen wir mitDualPlus.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat nun Nadine Schön für die CDU/CSU-Fraktion.
Nadine Schön (CDU/CSU):Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Botschaft durchzieht die Debatte wie einroter Faden: Die duale Ausbildung in Deutschland ist einErfolgsmodell. Dank der dualen Ausbildung haben wirdie geringste Jugendarbeitslosigkeit in ganz Europa. Sieist der Grund dafür, dass im vergangenen Jahr über570 000 Jugendliche eine Berufsausbildung beginnenkonnten, mehr als in den Jahren zuvor. Sie sichert denFachkräftenachwuchs unserer Betriebe, und das auf ho-hem Niveau. Unsere dual ausgebildeten Fachkräfte sindinternational anerkannt und können mit so manchemakademischen Abschluss konkurrieren.
Sie ist das Modell, für das sich viele andere europäi-schen Länder interessieren. Darauf können wir zu Rechtstolz sein.
Gerade weil wir von diesem Modell so begeistert sindund zu Recht so stolz darauf sind, möchte ich heute ei-nen kritischen Punkt ansprechen. In den vergangenenMonaten treibt die Mitglieder meiner Fraktion einThema um, das uns sehr große Sorgen macht und das inmeinen Augen in eine solche Debatte gehört; ich wun-dere mich, dass es bisher noch niemand angesprochenhat. Es geht um die Änderungsvorschläge der Europäi-schen Kommission zur Berufsanerkennungsrichtlinie.Da Sie schon jetzt genervt gucken, liebe Kollegen derSPD, weiß ich nicht, ob Sie die Dimension diesesThemas für unser Land wirklich erkannt haben.Worum geht es? Die Kommission will, dass Ab-schlüsse in Europa leichter anerkannt werden und Aus-bildungen europaweit vergleichbar gestaltet werden. Dassoll die Mobilität in Europa erhöhen. Ich sage deutlich:Das begrüßen wir; das ist ein gutes Ziel. Aber im Richt-linienentwurf der Kommission gibt es auch eine ganzeMenge Vorschläge, die alle Alarmglocken zum Läutenbringen müssen, Vorschläge, die nämlich mit dem deut-schen System der dualen Ausbildung nicht oder nurschwer vereinbar sind, so etwa die Vorschläge zum par-tiellen Zugang, zu Änderungen bei den Niveaustufen, zugemeinsamen Ausbildungsgrundsätzen und zur Einfüh-rung eines europäischen Berufsausweises. All diese Ein-zelregelungen müssen sehr präzise ausgestaltet werden.Wir müssen sehr genau darauf achten, dass sie so ausge-staltet werden, dass sie die Mobilität erhöhen und Trans-parenz schaffen, ohne auf der anderen Seite die Qualitätzu gefährden. Zurzeit gibt es an diesen Vorschlägen nochviel Kritik. Wir plädieren da entschieden für Verände-rungen.
Auf besonders großes Entsetzen stoßen die Pläne derKommission, die Mindestschulzeit für eine Ausbildungin den Pflegeberufen auf zwölf Jahre zu erhöhen. Daswürde bedeuten, dass 45 Prozent der Krankenpflegerund Krankenpflegerinnen und 85 Prozent der Altenpfle-gerinnen und Altenpfleger in Deutschland derzeit vonder Ausbildung ausgeschlossen würden, weil sie nur diemittlere Reife haben und damit keine zwölfjährigeSchulzeit vorweisen können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das wäre ein Desasterfür die deutsche Pflegelandschaft. Dadurch würde dieQualität keineswegs verbessert. Im Gegenteil: Die Er-schwerung des Zugangs würde den Fachkräftemangel imPflegebereich und damit die Arbeitsbelastung der Mitar-beiterinnen und Mitarbeiter deutlich erhöhen. Wir habenim Pflegebereich eine hohe Fachkraftquote. Wir habenhervorragend ausgebildetes Fachpersonal. Deshalb wen-den wir uns entschieden gegen die Pläne der Kommis-sion, die Zugangsvoraussetzungen zu erhöhen und eineSchulausbildung von zwölf Jahren vorauszusetzen.
Liebe Kollegen, wir sind da in guter Gesellschaft: DieMehrheit der betroffenen Verbände – die Allianz reichtvon der Deutschen Krankenhausgesellschaft über dieIHK bis hin zu Verdi und Caritas – wendet sich gegendie Pläne der Kommission. Wir kämpfen gemeinsam da-für, dass es die Voraussetzung einer zwölfjährigenSchulzeit nicht geben wird. Ich bin froh, dass auch indiesem Haus eigentlich Einigkeit darüber besteht. Wirhatten dazu vor drei Wochen vonseiten des Wirtschafts-ausschusses einen Entschließungsantrag eingebracht,und alle Kollegen von SPD und Grünen haben die deut-sche Position unterstützt und ebenfalls gesagt, die Vo-
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Nadine Schön
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raussetzung einer Schulbildung von zwölf Jahren seieine Katastrophe.Deswegen hat es mich überrascht und entsetzt, liebeKollegen der SPD – da komme ich wieder zu Ihnen –,dass es in den Reihen der SPD auf EU-Ebene Parlamen-tarier gibt, die diese deutsche Position nicht vertreten.Offensichtlich werben SPD-Parlamentarier in Brüsselfür die Vorschläge der Kommission
und schwächen damit deutlich die Verhandlungspositionunseres Landes.
– Ich kann Ihnen gerne die Namen nennen. Ich wollte esan dieser Stelle vermeiden, aber sprechen Sie einmal mitIhren Kolleginnen Weiler, Gebhardt und Sippel, die sichnämlich ganz anders äußern, als Sie das tun.
Sie kämpfen hier im Deutschen Bundestag entschie-den für die duale Ausbildung, aber Ihre Kolleginnen inBrüssel tun das Gegenteil. Deshalb will ich an Sie appel-lieren: Werben Sie auch bei Ihren Parteifreunden auf eu-ropäischer Ebene für die duale Ausbildung. Wir müssenhier an einem Strang ziehen. Wir müssen hier mit einerStimme sprechen.
Wir wollen unser duales System erhalten, und dafürmüssen wir gemeinsam kämpfen, damit wir auch in dennächsten Jahren die Fortschritte unseres dualen Systemsanhand des Berufsbildungsberichtes und anhand dieserDebatten verfolgen können.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Katja Mast für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Ich will zwei Dinge vorweg klarstellen:Erstens. Niemand greift das duale System in Deutsch-land an.
Wir wollen das duale System in Deutschland bewahren.
Uns geht es aber um die Menschen, die im dualen Sys-tem nicht unterkommen. Zu diesen Menschen habe ichin der heutigen Debatte von der Regierungskoalitionnoch nichts gehört.
Zweitens freuen wir uns alle darüber, dass Deutsch-land die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit in der Euro-päischen Union hat. 8 Prozent sind ein tolles Ergebnis.
– Ja, da können Sie ruhig applaudieren; aber ich weißnicht, ob Ihnen mein nächster Satz genauso gut gefällt.
Leider hat es nichts mit Ihrer Politik zu tun,
dass wir bei 8 Prozent liegen.
Dass es nichts mit Ihrer Politik zu tun hat, liegt daran,dass Sie sich zurücklehnen. Sie lehnen sich in einer Zeit,in der wir gute Arbeitsmarktzahlen haben, zurück undsagen: Na ja, was wollen wir da denn tun? Die Zahlensehen doch ganz gut aus.
Mir geht es aber darum, dass in Deutschland kein ein-ziger Jugendlicher verloren gehen darf.
In Deutschland müssen wir uns Sorgen machen um die77 000 Jugendlichen, die letztes Jahr keinen Ausbil-dungsvertrag bekommen haben,
und um die 86 000 Jugendlichen, die sich gar nicht mehrbewerben, weil sie aufgrund der Verfahren frustriertsind. Insgesamt hat letztes Jahr fast jeder dritte Jugendli-che keinen Ausbildungsvertrag bekommen, obwohl ereinen wollte.
Das sind die Zahlen, die mich beunruhigen.
Deshalb geht es darum, dass keiner von ihnen verlorengehen darf.Wir finden in Deutschland die Situation vor – auchdas ist heute noch nicht klar geworden –, dass der Aus-bildungsmarkt gespalten ist. Der Ausbildungsmarkt istgespalten, weil es in den Betrieben einen Wettbewerbum die besten Köpfe gibt. Jeder kann dazu Geschichtenaus seinem Wahlkreis erzählen. Ich kann gerne die Situa-tion in Pforzheim und im Enzkreis darstellen, woher ich
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Katja Mast
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komme. Da haben alle Jugendlichen, die ein gutes Zeug-nis, einen guten Abschluss haben, überhaupt kein Pro-blem, einen Ausbildungsplatz zu finden. Aber vieleSchülerinnen und Schüler beispielsweise der Bohrain-schule in Pforzheim, einer Förderschule, erlangen nichteinmal den Hauptschulabschluss und bekommen diesenauch nicht nach einem BVJ oder dem Besuch einerBVE. Angesichts dessen kann ich mich doch nicht hierhinstellen und sagen: In Deutschland ist alles in Ord-nung.
Denn diese Jugendlichen haben ein Recht auf eine Aus-bildung in dieser Republik, und nichts anderes sagt unserAntrag.
Ich habe gesagt, Sie lehnen sich zurück und denkengar nicht darüber nach, was mit den anderen 8 Prozentder Jugendlichen los ist.
– Jetzt lassen Sie mich doch ausreden.
Sie reden hier die ganze Zeit von Programmen undProgrämmchen, die Sie neu aufgelegt haben. Ich gesteheIhnen sogar zu, dass Sie das gemacht haben; ich binschließlich Arbeits- und Sozialpolitikerin. Gleichzeitigkürzen Sie jedoch während Ihrer Regierungszeit 7,5 Mil-liarden Euro in der aktiven Arbeitsmarktpolitik.
Das ist das Geld, das für eine aktive Arbeitsförderungder Jugendlichen nicht zur Verfügung steht. Deshalbkönnen sie keine Ausbildung machen.
– Herr Schummer, da können Sie so laut schreien, wieSie wollen. Das stimmt einfach. Lassen Sie sich an IhrenZahlen messen und nicht an Ihrer Lautstärke, liebe Kol-legen von der CDU/CSU.Es ist wichtig, dass wir hier darüber diskutieren, wiewir den Jugendlichen, die heute durch das Netz fallen,helfen können, einen Ausbildungsplatz zu finden. Aufdiese Frage habe ich von Ihnen keine Antwort gehört.Ich will an dieser Stelle ausdrücklich eine Initiativeaus dem Bundesland Hamburg positiv hervorheben. InHamburg wurden Jugendberufsagenturen gegründet,Häuser, in denen Jugendlichen geholfen wird, in Ausbil-dung zu kommen. In diesen Häusern wird die gesamteArbeit mit jungen Menschen koordiniert, und zwar nichtnur die Arbeit der Bundesagentur für Arbeit, nicht nurdie Arbeit der Jobcenter, sondern auch die der Jugend-hilfe, also der kommunalen Hilfe. Das ist ein vielver-sprechender Ansatz, weil dadurch die Angebote, die diejungen Menschen beim Übergang von der Schule in denBeruf brauchen, gebündelt werden. Gab es entspre-chende Initiativen Ihrer Regierung? Fehlanzeige! Sie ha-ben drei Ministerien – Bildung, Arbeit und Familie –,die die Programme, die sie auflegen, überhaupt nicht ko-ordinieren. Sie sorgen dadurch zusätzlich für Unüber-sichtlichkeit.Zum Schluss kommend will ich noch einmal betonen,was uns die Bertelsmann-Stiftung mit auf den Weg gege-ben hat: Eine Ausbildungsgarantie ist in der Bundesre-publik Deutschland solide zu finanzieren. Jeder Jugend-liche soll eine Ausbildungsgarantie bekommen. Wirwollen darüber hinaus, dass es in Deutschland ein So-fortprogramm für die 1,5 Millionen jungen Menschengibt, die zwischen 20 und 29 Jahre alt sind, keine Aus-bildung haben, aber im Berufsleben stehen. Diesbezüg-lich werden wir Sie mit unseren Vorschlägen konfrontie-ren; denn von Ihnen kommt dazu nichts.Es geht darum, auch in Zukunft den Fachkräftebedarfdecken zu können. Es geht darum, dass der Mittelstandausbildet; das ist auch für den Mittelstand in Baden-Württemberg wichtig. Keiner darf verloren gehen. Jederhat das Recht auf Ausbildung.
Das Wort hat nun Reinhard Brandl für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Vor kurzem habe ich einen schönen Begriff gehört: Bil-dung à la Merkel. So nennen die Spanier das deutscheSystem der beruflichen Bildung. Nicht nur dort, sondernin ganz Europa wird unser System bewundert.
Das hat einen ganz speziellen Grund: Bei der Jugend-arbeitslosigkeit lagen wir im August in Deutschland bei8,1 Prozent. Das ist spitze in Europa. Der Durchschnittliegt bei 22,7 Prozent. Spanien erreichte traurige52,9 Prozent. Dass wir bei diesem Wert, der wie kaumein anderer die Zukunftsperspektiven junger Menschenausdrückt, so gut sind, hat seinen Grund auch im Systemder beruflichen Bildung. Das liegt natürlich auch an derwirtschaftlichen Lage und an der demografischen Ent-wicklung, aber eben auch an dem System der berufli-chen Bildung.
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Dr. Reinhard Brandl
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In Madrid gibt es eine Modellschule, in der nach deut-schem Vorbild ausgebildet wird. Rund 1 400 Absolven-ten haben diese Schule bisher durchlaufen. Der Schullei-ter wird auf Spiegel Online mit den Worten zitiert: Mirist kein einziger arbeitsloser Schüler bekannt.Ich weiß, dass keiner von Ihnen das System der beruf-lichen Bildung, das System der dualen Ausbildung in-frage stellt. Das heißt aber nicht, dass wir unser Systemnicht noch weiter verbessern können. Dabei dürfen wiraber nicht den Fehler machen, unsere Stärken zu schwä-chen.
Die zentrale Stärke unseres Systems ist, dass die Be-triebe in genau den Bereichen ausbilden, in denen sie zu-künftig einen Fachkräftebedarf erwarten.
Es wird nicht am Markt vorbei ausgebildet. Deswegenerteilen wir Ansätzen, bei denen die Entscheidung, inwelchen Berufen in welcher Zahl ausgebildet wird, aufden Staat oder auf Einzelne übertragen wird, eine Ab-sage. Wir wollen nicht, dass der Staat oder Einzelne dasentscheiden. Wir wollen, dass das weiterhin auf demMarkt entschieden wird; denn das hat bisher sehr gutfunktioniert.
Der Staat muss die jungen Menschen dabei unterstüt-zen, aus dem bestehenden Angebot am Markt den für sierichtigen Ausbildungsplatz zu finden. Da müssen wirbesser werden. Es ist heute schon mehrmals gesagt wor-den: Eine Abbrecherquote von 23 Prozent ist nicht ak-zeptabel, auch wenn viele von diesen 23 Prozent nahtloseine andere Beschäftigung finden. Dass sie ihren Ausbil-dungsvertrag auflösen, kostet auf allen Seiten unnötigZeit und Energie.Die Bundesregierung hat sich dieses Themas im Rah-men des Ausbildungspakts angenommen. Die Verbesse-rung der Berufsorientierung ist Teil unseres Antrags.Ebenso fordern wir in unserem Antrag eine bessere Vor-bereitung von Jugendlichen, die sich – warum auch im-mer – schwertun, einen Ausbildungsplatz zu finden. Ichkann Ihnen nur zustimmen: Keiner darf verloren gehen.Es gibt eine ganze Reihe von Programmen – sie sindheute schon mehrfach genannt worden, beispielsweisedie Einstiegsqualifizierung –, mit denen die Bundesre-gierung im Rahmen des Ausbildungspakts gemeinsammit der Wirtschaft versucht und Möglichkeiten bietet,den Jugendlichen im Übergangsbereich zu helfen. DieEinstiegsqualifizierung ist eine Art gefördertes Prakti-kum von mindestens sechs bis maximal zwölf Monaten.44 Prozent der Geförderten werden direkt vom Betriebübernommen. Immerhin 69 Prozent der Geförderten ha-ben innerhalb eines halben Jahres nach der Förderung ei-nen Ausbildungsplatz.Es geht bei der Zukunft des dualen Ausbildungssys-tems aber nicht nur darum, die Schwachen zu integrie-ren, sondern wir müssen auch darauf achten, dass dieStarken der beruflichen Bildung nicht den Rücken keh-ren. Wenn 55 Prozent eines Altersjahrgangs mit einemHochschulstudium beginnen, ist das erfreulich. Aber dasdarf nicht zu einer Überakademisierung führen. In Spa-nien nennt man das Titulitis. In keinem anderen Land ar-beiten so viele Universitätsabsolventen in einem Job, fürden sie überqualifiziert sind.Wir dürfen jetzt aber nicht den Fehler machen, beruf-liche Ausbildung und akademische Ausbildung gegenei-nander auszuspielen. Beides ist gleichwertig. Das zeigtauch die Einstufung im Qualifikationsrahmen. Bildung àla Merkel ist, wenn beides verbunden wird. Ich nenne alsBeispiel die dualen Studiengänge. Das sind Studien-gänge, die eine Lehre mit einem Bachelorstudium ver-binden. Ich komme aus einer Familie, die seit Jahrzehn-ten im Handwerk ausbildet. Ich habe die Erfahrunggemacht, dass die Jugendlichen, die Lehre und Studiumverbinden, die besonders Leistungsfähigen und die be-sonders Leistungswilligen sind. Das sind die Fachkräfte,die wir in unserer Wirtschaft auch in Zukunft brauchenkönnen und brauchen werden.Trotz der steigenden Zahl der dualen Ausbildungs-gänge sind diese immer noch zu wenig bekannt bzw.werden zu wenig geschätzt, zum Teil auch bei den Un-ternehmen. Genauso zu wenig bekannt, insbesondere beiden Eltern, ist die Möglichkeit, mit einem beruflichenBildungsabschluss, zum Beispiel einem Meister, aufeine Fachhochschule und von dort aus mit einem Bache-lor zur Universität zu gehen.
In Bayern ist das Motto im Bildungswesen: Kein Ab-schluss ohne Anschluss.
Wenn das gelebt und von allen Seiten akzeptiert wird,dann ist mir um die Zukunft unseres beruflichen Bil-dungswesens nicht bange.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Letzter Redner in dieser Debatte ist Axel Knoerig für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die duale Be-rufsausbildung ist seit langem ein einzigartiges Aushän-geschild für unser Land.
Dieses erfolgreiche Modell betrieblicher und schulischerAusbildung genießt einen hohen Stellenwert, nicht nurim Inland, sondern auch im Ausland. Das Interesse unse-
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Axel Knoerig
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rer Nachbarländer an der dualen Berufsausbildung hatzugenommen. Darauf hat das Bundesministerium fürBildung und Forschung reagiert. So wurde im Septem-ber dieses Jahres eine zentrale Anlaufstelle für interna-tionale Bildungskooperationen eingerichtet.In dem dualen Ausbildungssystem sehen viele euro-päische Nachbarstaaten ein gutes Vorbild, um die Ju-gendarbeitslosigkeit im eigenen Land zu reduzieren.Zwischen Deutschland und Spanien wurde im Juli 2012eine Kooperation im Bereich der Berufsausbildung be-schlossen. Zur Information: In Spanien ist – die Quotebeträgt 46 Prozent; das ist eine traurige Zahl – fast dieHälfte aller Jugendlichen arbeitslos. Deutschland hat da-gegen mit 7,9 Prozent die niedrigste Quote in ganzEuropa.An dieser Stelle, meine sehr verehrten Damen undHerren, lassen Sie uns in die Vergangenheit schauen. ImJahre 2005, nach sieben Jahren Rot-Grün, betrug dieJugendarbeitslosigkeit in Deutschland beträchtliche15 Prozent, Frau Mast.
Ich denke, dieser Zahlenvergleich bedarf keiner weiterenKommentierung, Herr Brase. Diese Zahlen sprechendeutlich für den Erfolg von Schwarz-Gelb.
Dieser Erfolg der dualen Berufsausbildung inDeutschland basiert auf mehreren Vorteilen:Erstens. Die Ausbildung ist praxisnah.Zweitens. Vor allem die mittelständischen Betriebebilden branchennah und mit Heimatbezug aus.Drittens. Das Ausbildungssystem entspricht dem Be-darf an Fachkräften.Viertens. Die Berufsprofile bei den einzelnen Bran-chen werden immer aktuell dem Arbeitsmarkt angepasst.Das ist ganz wichtig.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Uniongarantiert dieses Modell und sichert es für die Zukunft.
Die Entwicklung – und das sehen wir auf dem Arbeits-markt – hat dazu geführt, dass sich die Ausbildungssi-tuation für junge Menschen weiter verbessert hat. Bun-desweit sind 2011 rund 570 000 Ausbildungsverträgegeschlossen worden. Das sind 1,8 Prozent mehr als2010.
Nun haben die Grünen wieder einmal ihren Evergreenaufgelegt
und das System DualPlus in die Beratung eingebracht.Sie wollen ja neben Berufsschule und Betrieb eine dritteSäule in der Ausbildung etablieren. Sie fordern einen zu-sätzlichen Ausbildungsteil, der von den Betrieben getra-gen wird. Wir als Union sagen ganz klar: Das ist wirt-schaftsfern. Wir halten an dem Erfolgsmodell der dualenBerufsausbildung fest.
Ihr System DualPlus, auch wenn es ein Evergreen ist,steht lediglich für mehr Bürokratie sowie für eine stär-kere Regulierung unserer Wirtschaft. Das wollen wir un-seren Betrieben in Deutschland nicht zumuten. Wir set-zen auf Freiwilligkeit; denn Freiwilligkeit ist derSchlüssel zum wahren Erfolg.Deswegen konzentrieren wir uns vielmehr auf denÜbergang von der Schule zur Ausbildung. Wir haben in-soweit heute bereits mehrmals zwei Lösungen vorgetra-gen. Doch diese sind so gut, dass ich sie gerne noch ein-mal an zwei Beispielen erwähnen möchte:Erstens. Wir haben den Nationalen Pakt für Ausbil-dung und Fachkräftenachwuchs verlängert.
Jugendliche, die schwer vermittelbar sind, können soleichter in die betriebliche Ausbildung einsteigen.Zweitens. Um die Zahl der Schulabbrecher zu redu-zieren, gibt es das Programm – Sie, Herr Kollege Kamp,haben es hervorragend dargestellt – „Bildungsketten biszum Ausbildungsabschluss“. Das Bildungs- und For-schungsministerium hat hierfür rund 360 Millionen Eurozur Verfügung gestellt.Zu diesem Programm gehören auch die sogenanntenAusbildungslotsen. Das sind Mentoren, die praxisnahaus ihrem Beruf und mit ihrer Ausbildungserfahrung dieJugendlichen bei ihrer Berufsorientierung unterstützen.Ich habe das auch in meinem Wahlkreis Diepholz/Nien-burg in Niedersachsen erlebt. Dort wurde das Projekt„Ausbildungslotsen“ erfolgreich an zwei Schulen gestar-tet. An einer Oberschule in Sulingen und an der Koope-rativen Gesamtschule Stuhr-Brinkum wird es für Schülerab der 8. Klasse angeboten.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich haltefest: Wir als christlich-liberale Koalition garantieren dasduale Ausbildungssystem zum Wohle aller Jugendli-chen, die einen Ausbildungsplatz anstreben, sowie füralle Betriebe, die den Fachkräftenachwuchs in unseremLand sichern.Hierfür danken wir besonders unseren mittelständi-schen Betrieben, den Handwerksmeistern, den Innungensowie den Berufsschulen. Ich halte zum Schluss fest:Wir haben hierzulande ein vorbildliches Ausbildungs-system, auf das wir stolz sein können.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 17/10116, 17/10856, 17/9586, 17/9700und 17/10986 an die in der Tagesordnung aufgeführten
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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan-den? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind dieÜberweisungen so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 40 a bis 40 h sowiedie Zusatzpunkte 3 a bis 3 e auf:40 a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zum Schutz des Erb-rechts und der Verfahrensbeteiligungsrechtenichtehelicher und einzeladoptierter Kinderim Nachlassverfahren– Drucksache 17/9427 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugendb) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über dieFeststellung des Wirtschaftsplans des ERP-
– Drucksache 17/10915 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Finanzausschuss Haushaltsausschussc) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demLuftverkehrsabkommen vom 17. Dezember2009 zwischen Kanada und der Europäischen
– Drucksache 17/10917 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Tourismusd) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung der Gewerbeordnung und anderer Ge-setze– Drucksache 17/10961 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschusse) Beratung des Antrags der AbgeordnetenAngelika Graf , Marianne Schieder
, Frank Hofmann (Volkach), weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPDKonsum kristalliner Methamphetamine durchPrävention eindämmen – Neue synthetischeDrogen europaweit effizienter bekämpfen– Drucksache 17/10646 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit Innenausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionf) Beratung des Antrags der AbgeordnetenWolfgang Börnsen , Johannes Selle,Dorothee Bär, weiterer Abgeordneter und derFraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Claudia Winterstein,Burkhardt Müller-Sönksen, Reiner Deutschmann,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDPDas Filmerbe stärken, die Kulturschätze fürdie Nachwelt bewahren und im digitalen Zeit-alter zugänglich machen– Drucksache 17/11006 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschussg) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Barbara Höll, Jan Korte, Agnes Alpers, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKERehabilitierung und Entschädigung der ver-folgten Lesben und Schwulen in beiden deut-schen Staaten– Drucksache 17/10841 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfeh) Beratung des Antrags der Abgeordneten KathrinSenger-Schäfer, Jan Korte, Herbert Behrens, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKEFinanzierung zur Bewahrung des deutschenFilmerbes endlich sicherstellen– Drucksache 17/11007 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien HaushaltsausschussZP 3 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten ClaudiaRoth , Tom Koenigs, Hans-ChristianStröbele, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENNS-Vergangenheit von Bundesministerien undBehörden systematisch aufarbeiten – Be-standsaufnahme zur Forschung erstellen – Er-innerungsarbeit koordinieren– Drucksache 17/10068 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss Ausschuss für Kultur und Medien Rechtsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfeb) Beratung des Antrags der Abgeordneten MarkusKurth, Beate Müller-Gemmeke, Britta Haßelmann,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN
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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Für eine angemessene Praxis bei Anträgen aufKindergeldabzweigung durch die Sozialhilfe-träger– Drucksache 17/10863 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugendc) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. GünterKrings, Michael Kretschmer, Dr. Hans-Peter Uhl,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. h. c. Wolfgang Thierse,Siegmund Ehrmann, Angelika Krüger-Leißner,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Stefan Ruppert,Patrick Kurth , Gisela Piltz, weitererAbgeordneter und der Fraktion der FDPWissenschafts- und Forschungsfreiheit stär-ken, Rahmenbedingungen verbessern – DieAufarbeitung der Geschichte der wichtigstenstaatlichen Institutionen in Bezug auf die NS-Vergangenheit durch besseren Aktenzugangunterstützen und Bestandsaufnahmen zurAufarbeitung der frühen Geschichte der Bun-desministerien und -behörden sowie der ver-gleichbaren DDR-Institutionen beauftragen– Drucksache 17/11001 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für Kultur und Mediend) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Marlies Volkmer, Dr. Karl Lauterbach, ElkeFerner, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder SPDPatientenrechte wirksam verbessern– Drucksache 17/11008 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutze) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Kerstin Andreae,Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENBeitragssätze nachhaltig stabilisieren, Er-werbsminderungsrente verbessern, Reha-Bud-get angemessen ausgestalten– Drucksache 17/11010 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend HaushaltsausschussEs handelt sich um Überweisungen im vereinfach-ten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist so.Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 41 a bis c, 41 ebis l sowie die Zusatzpunkte 4 a und 4 b auf. Es handeltsich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denenkeine Aussprache vorgesehen ist.Wir kommen zunächst zu Tagesordnungspunkt 41 a:Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-neten Martin Dörmann, Gerold Reichenbach,Doris Barnett, weiteren Abgeordneten und derFraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines… Gesetzes zur Änderung des Telemedienge-setzes
– Drucksache 17/8454 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
– Drucksache 17/8814 –Berichterstattung:Abgeordneter Andreas G. LämmelDer Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache17/8814, den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD aufDrucksache 17/8454 abzulehnen. Ich bitte diejenigen,die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um dasHandzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen derOppositionsfraktionen abgelehnt. Damit entfällt nachunserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.Tagesordnungspunkt 41 b:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszum Vorschlag für einen Beschluss des Rateszur Festlegung eines Mehrjahresrahmens
für die Agentur der Europäischen
Union für Grundrechte– Drucksache 17/10760 –Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses
– Drucksache 17/11062 –Berichterstattung:Abgeordnete Andrea Astrid VoßhoffDr. Eva HöglMarco BuschmannRaju SharmaIngrid HönlingerDer Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 17/11062, den Gesetzent-wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/10760 an-
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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurfzustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist inzweiter Beratung einstimmig angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist einstimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 41 c:Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu dem Freihandelsabkommenvom 6. Oktober 2010 zwischen der Europäi-schen Union und ihren Mitgliedstaaten einer-seits und der Republik Korea andererseits– Drucksache 17/10758 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
– Drucksache 17/11054 –Berichterstattung:Abgeordnete Ulla LötzerDer Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache17/11054, den Gesetzentwurf der Bundesregierung aufDrucksache 17/10758 anzunehmen.Zweite Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktio-nen gegen die Stimmen von Linken und Grünen bei Ent-haltung der SPD angenommen.Tagesordnungspunkt 41 e:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit
zu dem Vorschlag für eine Verordnung desEuropäischen Parlaments und des Rates zurAufstellung des Programms für Umwelt- undKlimapolitik
KOM(2011) 874 endg.; Ratsdok. 18627/11– Drucksachen 17/8515 Nr. A.42, 17/10196 –Berichterstattung:Abgeordnete Josef GöppelFrank SchwabeAngelika BrunkhorstSabine StüberUndine Kurth
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 17/10196, in Kenntnis der Unter-richtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstim-mig angenommen.Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen desPetitionsausschusses.Tagesordnungspunkt 41 f:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 473 zu Petitionen– Drucksache 17/10834 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 473 ist einstimmig an-genommen.Tagesordnungspunkt 41 g:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 474 zu Petitionen– Drucksache 17/10835 –Wer stimmt dafür? – Enthaltungen? – Gegenstim-men? – Auch die Sammelübersicht 474 ist einstimmigangenommen.Tagesordnungspunkt 41 h:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 475 zu Petitionen– Drucksache 17/10836 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 475 ist gegen die Stim-men der Grünen von den übrigen Fraktionen des Hausesangenommen.Tagesordnungspunkt 41 i:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 476 zu Petitionen– Drucksache 17/10837 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 476 ist gegen die Stim-men der Linken von den anderen Fraktionen des Hausesangenommen.Tagesordnungspunkt 41 j:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 477 zu Petitionen– Drucksache 17/10838 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 477 ist mit den Stimmenvon CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen derGrünen und der Linken angenommen.
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23864 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Tagesordnungspunkt 41 k:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 478 zu Petitionen– Drucksache 17/10839 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 478 ist mit den Stimmender beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen vonSPD und Grünen bei Enthaltung der Linken angenom-men.Tagesordnungspunkt 41 l:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 479 zu Petitionen– Drucksache 17/10840 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 479 ist mit den Stimmender beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen derdrei Oppositionsfraktionen angenommen.Zusatzpunkt 4 a:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszu dem Abkommen vom 29. Juni 2012 zwi-schen der Bundesrepublik Deutschland unddem Globalen Treuhandfonds für Nutzpflan-zenvielfalt über den Sitz des Globalen Treu-handfonds für Nutzpflanzenvielfalt– Drucksache 17/10756 –Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärti-gen Ausschusses
– Drucksache 17/11035 –Berichterstattung:Abgeordnete Peter BeyerDr. Rolf MützenichMarina SchusterWolfgang GehrckeKerstin Müller
Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 17/11035, denGesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache17/10756 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-setzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenom-men.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist einstimmig angenommen.Zusatzpunkt 4 b:Beratung des Antrags der Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENPortugal unterstützen und Parlamentsrechtewahrenhier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta-ges nach Artikel 23 des Grundgesetzes i. V. m.§ 9 des Gesetzes über die Zusammenarbeit vonBundesregierung und Deutschem Bundestagin Angelegenheiten der Europäischen Union– Drucksache 17/11009 –Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dage-gen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmender beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen vonSPD und Grünen bei Enthaltung der Linken abgelehnt.Ich rufe nunmehr Zusatzpunkt 5 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENIntegrität parlamentarischer Entscheidungendurch mehr Transparenz und klare Regeln ge-währleisten – Nebentätigkeiten, Karenzzeit fürRegierungsmitglieder, Abgeordnetenbestechungund ParteiengesetzIch eröffne die Aussprache und erteile KollegenVolker Beck für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen dasWort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nir-gendwo fallen Reden und Handeln bei dieser Koalitionso auseinander wie beim Thema „Nebentätigkeiten undTransparenz für Abgeordnete“.
In der letzten Woche haben Sie auf einmal Gefallen anmehr Transparenz gefunden. Seit heute wissen wir: Dasgilt nur, wenn es um den Kollegen Steinbrück geht.
Wenn es mir keinen Ordnungsruf eintragen würde, HerrPräsident, dann würde ich das Verhalten der Koalitionglatt als Heuchelei bezeichnen.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zuden Transparenzrichtlinien des Bundestages gesagt:Wähler müssenZugang zu den Informationen haben, die für ihreEntscheidung von Bedeutung sein können. … Dieparlamentarische Demokratie basiert auf dem Ver-trauen des Volkes; Vertrauen ohne Transparenz …ist nicht möglich …
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23865
Volker Beck
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Interessenverflechtungen und wirtschaftliche Ab-hängigkeiten der Abgeordneten sind für die Öffent-lichkeit offensichtlich von erheblichem Interesse.… Das Volk hat Anspruch darauf, zu wissen, vonwem – und in welcher Größenordnung – seine Ver-treter Geld oder geldwerte Leistungen entgegen-nehmen.Diese Worte des Verfassungsgerichts sollten Sie sichhinter die Ohren schreiben.
Es geht nicht um Sozialneid. Ehrlich verdientes Geldist ehrlich verdientes Geld.
Transparenz schützt aber die Integrität und Legitimitätparlamentarischer Entscheidungen. Die Menschen müs-sen wissen, dass wir, die wir hier handeln und entschei-den, im Sinne unseres Wählerauftrages unterwegs sindund unsere Entscheidungen nach bestem Wissen undGewissen für das Wohl der Bevölkerung treffen und dassdiese Entscheidungen nicht nach den subjektiven wirt-schaftlichen Interessen der Abgeordneten oder ihrerAuftraggeber, mit denen sie wirtschaftliche Verbindun-gen haben, getroffen werden.
Meine Damen und Herren von der christlich-liberalenKoalition, Sie fürchten mehr Transparenz wie der Teufeldas Weihwasser.
Das haben Sie am 30. Juni 2005 bewiesen, als wir diegeltende Transparenzregelung eingeführt haben. DasPlenarprotokoll vermerkt dazu: „Die Beschlussempfeh-lung ist mit den Stimmen der Koalition“ – das war da-mals Rot-Grün – „bei Gegenstimmen der CDU/CSU undder FDP angenommen.“Kein Abgeordneter der Koalition wollte 2005 mehrTransparenz bei der Nebenbeschäftigung von Abgeord-neten. Heute haben Sie wieder so gehandelt. In derRechtsstellungskommission haben Sie bewiesen, dassSie keinen Schritt weiter sind. Sie waren nicht zu einemBeschluss bereit, obwohl wir Ihnen sogar zwei Alternati-ven angeboten haben,
nämlich einmal Veröffentlichung der Nebentätigkeit aufHeller und Pfennig
Das ist Heuchelei, und das werden wir Ihnen nichtdurchgehen lassen.
Die Generalsekretäre der Koalition haben Sie letzteWoche von der Kette gelassen. Dobrindt und Döringhaben gegen Steinbrück gehetzt. Was haben sie nichtalles gefordert? „Er täte gut daran, volle Transparenzwalten zu lassen und zu sagen, wie viel Geld er von derFinanzindustrie bekommen habe,“ forderte HerrDobrindt. Weiter sagt er: „Einfach sagen, in welcherHöhe“ – hört, hört! – „er in den letzten Jahren aus derFinanzindustrie Gelder erhalten hat.“ Dann kann sich je-der Gedanken darüber machen, ob hier Abhängigkeitenentstanden sind.
Ja, richtig. Dann machen wir das aber für alle und nichtnur für den Kollegen Steinbrück.
Herr Grosse-Brömer, bei Ihnen geht der Riss ja mitten-durch. Auch Sie machen „good cop, bad cop“. Außer-halb der Rechtsstellungskommission machen Sie den„bösen Polizisten“, und in der Rechtsstellungskommis-sion sagen Sie: Wir müssen alle ein bisschen nachdenk-licher werden. Das schadet uns allen.
– Ja, ich zitiere Sie, Herr Kollege: Wer als Banken-schreck auftritt, von dem will der Bürger wissen, was ervon den so Kritisierten ganz konkret bekommen hat.
– Ja, das wollen wir wissen, aber wir wollen es dannauch von allen wissen, auch von Herrn Döring, auch vonHerrn Glos. Wir wollen keine Abgeordneten erster oderzweiter Klasse schaffen.
Ihr Angebot heute Morgen, man könne durchaus überweitere Stufen bei der Transparenz reden,
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Volker Beck
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ist ja wohl wirklich ein schlechter Witz. Wir reden seitdrei Jahren in der Rechtsstellungskommission bei Kaffeeund Croissant darüber,
wie wir zu weiterer Transparenz kommen. – OhneErgebnis! So auch am heutigen Tag. Bewegt hat sicheinfach gar nichts.Meine Damen und Herren, die Transparenz bei denNebenbeschäftigungen ist eine Sache. Aber bei Transpa-renz geht es natürlich um mehr. Wir Grünen fordern eineumfangreiche Transparenzinitiative, die auch beinhaltet,die Korruption, also Abgeordnetenbestechung, zu be-strafen. Es kann nicht sein, dass Deutschland nebenÖsterreich das einzige Land in Europa ist, –
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
– das die UN-Konvention gegen Korruption nicht
verabschiedet hat.
Ein wichtiger Punkt – die anderen wird mein Kollege
Konstantin von Notz dann ausführen können – ist die
Karenzzeit bei ausgeschiedenen Regierungsmitgliedern.
Warum ist es in der EU-Kommission selbstverständlich,
dass ein Kommissar, der ausscheidet, sich seine An-
schlussverwendung genehmigen lassen muss –
Herr Kollege.
– um es mit den Worten von Herr Rösler zu sagen –,
und bei uns geht das nicht? Da müssen wir uns an den
europäischen Standard anpassen.
Das Wort hat nun Michael Grosse-Brömer für die
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Machen wir uns nichts vor, diese AktuelleStunde verdanken wir nicht unwirksamen Transparenz-regeln, sondern der Sorge von Rot-Grün, dass PeerSteinbrück mit seinen Vortragsreisen weiterhin in derDiskussion bleibt.
Dabei zeigt gerade die Causa Steinbrück, dass wir Re-geln zur Transparenz haben, die funktionieren.
Innerhalb kürzester Zeit waren in sämtlichen Zeitungendie zehn besten Nebenverdiener veröffentlicht. – HerrBeck, Sie haben doch gerade Ihren letzten Schwung hieram Pult gelassen. Nun bleiben Sie doch ein bisschenlocker.
– Ich finde das absolut spannend, aber Sie müssen auchbei diesem Thema lernen, ein bisschen ruhiger zu wer-den.
Die Causa Steinbrück besteht doch auch darin,
dass er sich freundlicherweise freiwillig zur Offenlegungbereit erklärt hat, möglicherweise deshalb, weil er sichvom normalen Abgeordneten dadurch unterscheidet,dass er Kanzlerkandidat Ihrer Partei geworden ist.
Er hat sich dazu freiwillig bereit erklärt und gesagt: Ichlege gerne alles auf den Tisch.
– Ich habe das nicht gefordert. Sie haben in der Ihnen ei-genen Art, als Sie mich zitierten, die Hälfte weggelas-sen.
Ich habe nämlich gesagt: Wenn denn jemand freiwilligsagt: „Ich offenbare alles“, dann muss er es auch tun.Diese Forderung habe ich aufgestellt. Das können Siegerne noch einmal nachlesen.
Ich finde, die bisherigen Transparenzregeln gebenauch die Möglichkeit, nachzufragen. Genau so ist esrichtig. Ich bin mit Ihnen der Auffassung: Jeder Bürgermuss wissen: „Gibt es irgendwelche wirtschaftlichen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23867
Michael Grosse-Brömer
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Interessen, die einen Abgeordneten in irgendeinem Zu-sammenhang in seinem Mandat beeinträchtigen?“
– Das ist nicht neu. Herr Kollege Lange, und Sie, HerrKollege Beck, wissen genau, dass ich das nicht nurheute, sondern schon in der letzten Woche permanent er-zählt habe.
Deswegen will ich jetzt diese Heuchelei nicht bewerten,die sich darin zeigt, dass heute so getan wird, als würdenwir hier völlig neue Vorschläge machen,
die wir im Übrigen schon beim letzten Mal gemachthaben, als wir die Sitzung vertagen mussten, weil dieSPD-Kollegen nicht da waren.
Ich finde, die Öffentlichkeit hat ein berechtigtes Inte-resse an der Offenlegung der Einkünfte von Abgeordne-ten; gar keine Frage. Das ist unstreitig. Das war imÜbrigen auch immer in unserer Fraktion unstreitig.
Es muss erkennbar sein, ob ein Abgeordneter bei derMandatsausübung wirtschaftlich frei ist und im Auftragseiner Wählerinnen und Wähler handelt. Mögliche Ab-hängigkeitsverhältnisse müssen klar benannt werden.Die Frage ist nur: Welchen Weg wählen wir, um genaudieses Ziel zu erreichen?Wir unterstützen die Forderung nach mehr Transpa-renz und auch die Verschärfung der bisherigen Regeln.Das haben wir mehrfach gesagt, nicht zuletzt in derRechtsstellungskommission. Deswegen wäre es sinn-voll, Herr Kollege Beck, wenn Sie endlich aufhörten,uns Blockade vorzuwerfen. Sie waren jedes Mal dabei,wenn wir unsere Angebote gemacht haben.
Wir haben immer gesagt: Wir sind bereit, mehrere Stu-fen einzurichten. Das hat mit Blockade überhaupt nichtszu tun.
Ich will Ihnen Folgendes sagen: Unserer Meinungnach hat sich das Stufenmodell bewährt. Einkünfte wer-den pauschaliert und nach Herkunft angezeigt. DieseMeinung hatten auch SPD und Grüne eine recht langeZeit. Ich zitiere einmal, was Sie gesagt haben, als Siebeim letzten Mal den Gesetzentwurf befürwortet haben,der dazu beigetragen hat, diese Transparenzregeln einzu-führen. Damals waren Sie folgender Auffassung, undzwar SPD und Grüne: Nach einem Gutachten für dieRechtsstellungskommission von Professor Hans Meyertragen wir dem Ausgleich der widerstreitenden Positio-nen der verfassungsrechtlichen Stellung des Abgeordne-ten, auch soweit er Grundrechtsträger ist, Rechnung. –Achtung:So sei das vorgeschlagene Stufenmodell bei derVeröffentlichung von Einkünften gerade in derAbwägung zwischen den Grundrechten des Abge-ordneten einerseits und dem berechtigten Interesseder Öffentlichkeit auf Offenlegung von Einkünftenandererseits gewählt worden.
Dies gilt gerade deshalb, weil dieses Stufenmodell derpassende Ausgleich zwischen dem notwendigen freienMandat, verfassungsrechtlich garantiert, und der not-wendigen Information der Bürger ist, ob es und, wenn ja,in welchem Umfang wirtschaftliche Interessen gibt, dieoffenzulegen sind.In diesem Zusammenhang halte ich deshalb auch dieForderung nach Offenlegung auf Heller und Pfennig fürfalsch. Wo ist der Mehrwert, wenn alles auf Heller undPfennig offenbart werden muss, im Vergleich zu diesemStufenmodell, bei dem pauschaliert wird? Im Übrigenwird dem Bundestagspräsidenten alles ganz konkret an-gezeigt, aber für die Öffentlichkeit wird das pauschaliertdargelegt. Den Mehrwert bei der Transparenz sehe ichnicht. Den hat mir bislang keiner erklärt, auch heuteMorgen nicht in der Rechtsstellungskommission.Wenn dieses Instrument der Offenlegung auf Hellerund Pfennig keinen Mehrwert hat, dann muss man sichdie Frage stellen: Ist es denn im Vergleich zum Stufen-modell geeignet, mehr Transparenz zu schaffen? Wennes nicht geeignet ist, mehr Transparenz zu schaffen, dannerlaube ich mir allerdings, an die Auffassung desBundesverfassungsgerichtes zu erinnern, dessen Richterdamals bei der Bewertung der Transparenzregeln sehruneinig, nämlich mit 4 : 4, abgestimmt haben.Das Bundesverfassungsgericht hat geschrieben: DerSchutz der Privatsphäre gilt auch für Abgeordnete.Das bedeutet, dass sich eine Offenlegung nur recht-fertigt, soweit es … Informationen sind, die auchtatsächlich dazu geeignet sind, auf die Gefahr vonInteressenverknüpfungen und Abhängigkeiten desAbgeordneten hinzuweisen.Wir wollen uns an der Verschärfung der Transparenz-regeln beteiligen, und wir sind – wie wir jetzt schonmehre Wochen lang betonen – bereit, mehrere Stufeneinzurichten. Infolgedessen sind wir auch die Fraktion,die dazu beiträgt, dass Abhängigkeitsverhältnisse in derÖffentlichkeit deutlich werden,
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23868 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Michael Grosse-Brömer
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nicht nur bei einem Kanzlerkandidaten, sondern beiallen Kolleginnen und Kollegen.
Das Wort hat nun Thomas Oppermann für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu denwenigen wirklich frustrierenden Erfahrungen als Abge-ordneter des Deutschen Bundestages gehört meineMitarbeit in der Kommission des Ältestenrates für dieRechtsstellung der Abgeordneten.
Seit zwei Jahren debattieren wir jetzt intensiv aufgrundverschiedener Vorlagen und bemühen uns, die Transpa-renzvorschriften für Abgeordnete zu erweitern. Nichtsist in dieser Zeit passiert. Nichts hat sich bewegt. Es gehtimmer nach der Methode „Verschleppen, verzögern, ver-hindern“.
Das änderte sich aber schlagartig vor zwei Wochen.Als Peer Steinbrück Kanzlerkandidat wurde, sprangendie drei Generalsekretäre der Koalitionsparteien gleich-zeitig auf die Bühne und forderten umfassende Transpa-renz von Steinbrück. Er solle alle Nebeneinkünfte aufEuro und Cent offenlegen. Für einen ganz kurzenMoment hatten die Generalsekretäre vergessen, was vor-her passiert war, nämlich dass Union und FDP bei allenAbstimmungen über die Erweiterung von Transparenz-stufen im Bundestag oder in den Ausschüssen immerdagegen gestimmt haben.
Deshalb stelle ich fest: Wer für sich selbst Transparenzverhindert, aber von anderen Transparenz fordert, der istein Pharisäer und ein scheinheiliger Zeitgenosse, HerrDöring.
Ganz besonders peinlich wird es, wenn einer wie Sie,der auch noch der Nebentätigkeit als Vorstand einerHaustierversicherung nachgeht und selber nicht überseine Einkünfte aus dieser Tätigkeit nach Euro und CentRechenschaft ablegt,
Peer Steinbrück angeht und sogar sagt, der habe nichtdas Gen des ehrbaren Kaufmanns. Das war eine massiveBeleidigung von Peer Steinbrück. Ich warte immer noch,dass Sie sich dafür entschuldigen.
Mein lieber Herr Döring, wie aber konnten Sie so ver-gesslich sein? Wie konnten Sie glauben, dass wir denBall, den Sie uns da zugespielt haben, nicht mit großerFreude nach vorne spielen – und nicht nur mit Schaden-freude. Wir wären doch schlechte Politiker, wenn wirdiese Gelegenheit nicht nutzen würden, jetzt auch in derSache voranzukommen. Und wir müssen in der Sachevorankommen, meine Damen und Herren. Die Zeit istreif für neue Transparenzvorschriften im DeutschenBundestag.
Wir wollen die Offenlegung auf Euro und Cent von allenNebeneinkünften.Jetzt heißt es natürlich ganz kleinlaut bei meinemKollegen Grosse-Brömer,
das sei mit dem freien Mandat nicht vereinbar: Wir wol-len nicht den gläsernen Bürger. – Auch wir wollen nichtden gläsernen Bürger, aber wir wollen den transparentenAbgeordneten.
Wenn Sie nicht wissen, was der Unterschied ist, kann ichIhnen das gerne anhand unserer Verfassung erklären.Abgeordnete sind Vertreter des ganzen Volkes, anAufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihremGewissen unterworfen. Das ist eine herausgehobeneStellung der Abgeordneten. Aus der dürfen Sie nicht nurRechte, sondern aus der müssen Sie auch Verpflichtun-gen ableiten, meine Damen und Herren.
Sie haben ein sehr gesundes Verhältnis zu den Rechten,aber offenbar ein gestörtes Verhältnis zu den Verpflich-tungen.Wir wollen keine Neiddebatte über Nebeneinkünftevon Abgeordneten, ganz im Gegenteil.
Ich finde es völlig in Ordnung, wenn einzelne Kollegenversuchen, über Nebentätigkeiten ihre beruflicheQualifikation zu erhalten oder auch den Kontakt zumWirtschaftsleben darüber aufrechtzuerhalten. Im Mittel-punkt muss aber die Unabhängigkeit des Abgeordnetenstehen, meine Damen und Herren.
Die Bürgerinnen und Bürger müssen erkennen können,ob sich Abgeordnete von Dritten abhängig gemacht ha-ben. Mögliche Interessenkollisionen, möglicheInteressenverflechtungen müssen erkennbar, müssen kri-tisierbar, müssen diskutierbar werden. Das ist der Sinnder Transparenzvorschriften; das ist der Sinn des Trans-
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Thomas Oppermann
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parenzgebotes. Es geht darum, das Vertrauen der Bürgerin die Unabhängigkeit der Abgeordneten zu stärken.Wenn Sie nicht das Misstrauen, sondern das Vertrauenstärken wollen, dann hilft nur eins: Offenlegung allerNebeneinkünfte auf Euro und Cent.
Von der Union sind es über 100 Kollegen und Kolle-ginnen und von der FDP über 40, die einer vergütetenNebentätigkeit nachgehen.
Ich rufe den Kollegen zu: Stehen Sie zu Ihrer Nebentä-tigkeit! Schämen Sie sich nicht dafür, dass Sie mit ehrli-cher Arbeit Geld verdienen! Aber ich finde, was manehrlich verdient hat, das kann man auch sagen.
Deshalb: Gehen Sie mit uns den nächsten Schritt, undverändern Sie mit uns die Nebentätigkeitsvorschriften!Sorgen Sie mit uns für volle Transparenz!Ich möchte zum Schluss noch eine Bemerkung ma-chen, Herr Präsident. Ich habe nämlich noch eine weitereBitte an die Koalition: Klären Sie endlich Ihr gestörtesVerhältnis zur Strafbarkeit der Abgeordnetenbeste-chung!
Wenn Sie das länger hier im Deutschen Bundestag blo-ckieren, blamieren Sie den Deutschen Bundestag bis aufdie Knochen. Der Bundestag darf nicht das einzige Par-lament und Deutschland nicht die einzige parlamentari-sche Demokratie auf der Welt sein, wo Abgeordnetenbe-stechung auch in Zukunft straffrei möglich ist. BewegenSie sich bei dem Thema! Kommen Sie endlich in dieSchuhe!
Das Wort hat nun Hermann Otto Solms für die FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich habe als Mitglied des Präsidiums des Bun-destages das Vergnügen oder auch manchmal die Last,die Rechtsstellungskommission zu leiten. In dieserFunktion und mit entsprechendem Auftrag versuche ich,in der Frage der Transparenz der Einkünfte der Abgeord-neten – ob das Nebeneinkünfte sind, ist schon eine Zwei-felsfrage – eine Verbesserung zu erzielen.Wir wollen mal bei den Fakten bleiben: Erstens. Diejetzige Regelung mit den drei Stufen ist, wie eben geradevon Herrn Beck bestätigt wurde, nicht von uns, sondernvon Rot-Grün eingeführt worden.
Sie wird nun von Ihnen genauso wie von uns als unzu-reichend angesehen.
Aber Sie sollten auch bestätigen, dass Sie Ihre Meinungauch erst einmal neu entwickeln mussten.
– Jetzt bin ich dran. – Zweitens. Wir haben in derRechtsstellungskommission einen Vorschlag in der Dis-kussion – wenn ich mich recht erinnere, seit über einemJahr – zu einer Zehn-Stufen-Regelung bis zu150 000 Euro. Es ist überhaupt nicht wahr, dass nicht da-rüber diskutiert worden ist.
Wir haben auf einer realen Grundlage diskutiert undsind bis jetzt nicht zu einer Einigung gekommen. So sinddie Fakten.
Vor 14 Tagen, als die Rechtsstellungskommission daserste Mal nach der Sommerpause getagt hat, war die Ko-alitionsseite bereit, über eine weitergehende Stufenrege-lung zu reden. Leider waren die Kollegen der SPD ver-hindert. Ich sage das nicht vorwurfsvoll. Es ist einfachein Faktum. Deswegen konnten wir nicht darüber spre-chen. Die Causa Steinbrück ist erst danach hochgekom-men. Bis zu diesem Zeitpunkt war die SPD voll ent-schlossen, über eine Stufenregelung zu reden und nichtdie Berichterstattung auf Heller und Pfennig einzufor-dern.
Das heißt, der Sachzusammenhang mit der CausaSteinbrück ist deutlich erkennbar.
Wir sind auch jetzt bereit, über eine weitgehende Stu-fenregelung zu reden.
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Dr. Hermann Otto Solms
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Das geht natürlich nicht mit einem Termin, der nur40 Minuten dauert wie heute Morgen. Dafür muss mansich etwas mehr Zeit nehmen.
– Entschuldigung, wenn man eine gemeinsame Lösungerzielen will, muss man darüber reden. Es geht ebennicht so, wie es der Kollege Beck getan hat, indem ereine Tischvorlage einbringt und verlangt, dass wir sofortdarüber abstimmen,
bevor irgendjemand Gelegenheit hatte, sich diese Tisch-vorlage anzuschauen. Das geht nicht.
– Herr Kollege Beck, das hätte doch die Lösungsfindungnur erschwert und nicht erleichtert. Jetzt sollte man dasalles einmal ein bisschen herunterhängen;
denn diese ganze Diskussion schadet dem ganzen Hausund allen Fraktionen hier im Hause.
Ich bin es nun endlich leid. Diese laufenden Schuldzu-weisungen hin und her führen dazu – –
– Ich nehme niemanden aus.
Ich habe mit dem Kollegen Döring schon unter vier Au-gen über das Problem gesprochen,
und ich hoffe, dass das andere auch getan haben im Hin-blick auf Kollegen in ihren Fraktionen.Ich bitte jetzt nur die Kollegen aus der Rechtsstel-lungskommission, sich für die nächste Woche etwasmehr Zeit zu nehmen; denn ich bin überzeugt davon,dass wir in der nächsten Woche die Chance haben, zu ei-nem Ergebnis zu kommen. Das muss unser Interessesein, damit diese leidige Diskussion endlich beendetwird.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Raju Sharma für die Fraktion Die
Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn esRegeln gibt, dann sollte man sie einhalten. Dies gilt ins-besondere dann, wenn es Regeln sind, die man selberaufgestellt hat. Darüber sollten wir heute sachlich debat-tieren.Mit Peer Steinbrück lohnt sich eine politische Aus-einandersetzung. Dafür gibt es gute Gründe, und dieseAuseinandersetzung sollten wir auch führen. An die gel-tenden Transparenzregelungen hat er sich aber nachdem, was wir wissen, offenbar gehalten. Das Problem istbloß, dass die geltenden Transparenzregelungen nichtdas halten, was sie dem Namen nach versprechen.
Nun regen sich alle über Peer Steinbrücks Nebentätig-keiten auf: die Union und die FDP. Den Grünen ist dassogar eine Aktuelle Stunde wert. Was mich wundert, ist,dass die Genossinnen und Genossen von der SPD sichnicht aufregen; denn da wird jemand als MdB bezahlt,leistet aber nicht.
Statt den Ruhm der Sozialdemokratie in Facharbeitskrei-sen und in den Ausschüssen zu mehren, mehrt PeerSteinbrück seinen eigenen Ruhm und seine eigene Ehreund bekommt dafür Honorare wie Jerry Lewis zu seinenbesten Zeiten in Caesar’s Palace.
Wenn ich Sozialdemokrat wäre und vielleicht in Mett-mann etwas bewegen wollte, dann würde ich mich wirk-lich aufregen.Aber es regen sich ganz andere auf, zum Beispiel derKollege Dobrindt. Der wird immerhin dafür bezahlt,dass er sich aufregt:
von der Allianz, von BMW, von der bayerischen Metall-industrie, die allesamt kräftig der CSU spenden.
Außerdem meldet sich Patrick Döring zu Wort, aus-gerechnet Patrick Döring, der selber zu den Top Ten derNebenverdiener gehört.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23871
Raju Sharma
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– Die Honorare bekommt er allerdings nicht für Vor-träge; sie wären vermutlich auch intellektuell weniginspirierend.
– Unterirdisch?
Ausgerechnet Union und FDP melden sich zu Wort,also die Fraktionen, die an anderer Stelle mit fadenschei-nigen Begründungen verhindern, dass endlich die UN-Konvention gegen Korruption ratifiziert wird und dassdie Empfehlungen der Staatengruppe gegen Korruptionumgesetzt werden. Ich finde, das ist selbst für einen vor-gezogenen Wahlkampfstart ziemlich platt.
Die Rechtslage in diesem Fall ist klar; aber sie ist un-zureichend.
– Natürlich war ich gestern in der Anhörung; ich habeauch einiges gesagt.
– Ich kann Ihnen ein bisschen was aus der Anhörung er-zählen. Die Anhörung, die wir gestern zum Thema Ab-geordnetenbestechung gehabt haben, hat nämlich erge-ben, dass man, wenn man es will, entweder über dieVorschläge, die die Oppositionsfraktionen, nämlichLinke, SPD und Grüne, zu einer Verschärfung der Abge-ordnetenbestechung gemacht haben, weiterkommt, umdie Voraussetzung für die Ratifizierung der UN-Konven-tion zu schaffen,
oder dass man es anders machen kann. Dazu habenselbst die von Ihnen benannten Sachverständigen Vor-schläge gemacht. Letztlich scheitert es nur daran, dassSie nicht wollen. Das ist fadenscheinig, und daran müs-sen wir jetzt endlich einmal herangehen.
Bei den Transparenzregelungen ist die Rechtslagevöllig klar; aber sie ist unzureichend. Formal – das habeich schon gesagt – hat sich Peer Steinbrück vermutlichrichtig verhalten. Dass wir dennoch diese Diskussionhier haben, zeigt, dass die Regelungen weiterentwickeltwerden müssen. Wir brauchen neue Transparenzricht-linien. Im Prinzip sollte jede Nebentätigkeit angezeigtwerden, und zwar mit Nennung des Auftraggebers undder Höhe des Honorars. Die Linke wird hier mit gutemBeispiel vorangehen. Wir werden, sofern nicht im Aus-nahmefall Rechte Dritter dem entgegenstehen, Nebentä-tigkeiten und daraus erzielte Einkünfte unter www.links-fraktion.de bzw. auf den Webseiten der Abgeordnetenöffentlich machen.
– Alles.Wir wollen keine Neiddebatten führen, und es gehtauch nicht um Neid. Ich missgönne Herrn Döring seineHonorare ebenso wenig wie Herrn Steinbrück. Es hataber etwas mit Aufrichtigkeit, mit Offenheit und Ehr-lichkeit denjenigen gegenüber zu tun, die unsere Diätenfinanzieren. Die Bürgerinnen und Bürger sollten wissen,wer unter Umständen von wem profitiert.
Von mehr Transparenz profitieren wir Abgeordnetenalle; denn das erspart uns, dass wir einem Generalver-dacht ausgesetzt werden, und es erspart uns auch, dasswir wie hier in der Aktuellen Stunde einer Diskussionüber die Nebentätigkeiten von Peer Steinbrück ausge-setzt werden.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Wolfgang Götzer für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Seit der SPD-Kanzlerkandidat wegen seiner Vortragsho-norare in die Schlagzeilen geraten ist, überbieten sichSPD und Grüne geradezu mit Vorstößen zu Neuregelun-gen zur Transparenz.
Der Tagesspiegel hat dies in seiner gestrigen Ausgabeeine „Verlegenheitsoffensive“ genannt, und genau das istder treffende Ausdruck.
Ich meine, wir sollten zu einer vernünftigen und sach-lichen Debatte zurückkehren, wie sie dem Thema ange-messen ist.
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23872 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Dr. Wolfgang Götzer
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Worum geht es denn eigentlich, verehrte Kolleginnenund Kollegen? Sollen Neidgefühle bedient werden, odersoll sinnvolle Transparenz geschaffen werden? Transpa-renz, so sagt unser Bundestagspräsident – ich kann ihmda nur beipflichten –, ist kein Selbstzweck, und er weistin einem Interview vor wenigen Tagen zu Recht auf dieAuffälligkeit hin – ich zitiere –, „mit welcher Selbstver-ständlichkeit man von politischen Mandatsträgern eineTransparenz erwartet, die man sich für den Rest der Ge-sellschaft ausdrücklich verbittet.“ Bemerkenswert!Es kann doch nicht angehen, verehrte Kolleginnenund Kollegen, Abgeordnete zu zwingen, Dinge von sichpreiszugeben, die zur Privatsphäre gehören, auf die jederMensch ein Recht hat, auch Abgeordnete.
Worum es gehen muss, ist, Interessenkollisionen auf-zuzeigen, Abhängigkeiten offenzulegen und beispiels-weise aufzuzeigen, ob die politische Tätigkeit vermark-tet wird und etwa auch, ob die Mandatsausübung imMittelpunkt steht. Das sind die Fragen, um die es bei derForderung nach mehr Transparenz gehen muss. Auf Ant-worten darauf haben die Bürger ein Recht und einen An-spruch.
Diesen Zielen, wie ich sie gerade genannt habe, müs-sen Verhaltensregeln dienen. Verhaltensregeln müssenalso danach beurteilt werden, ob sie insoweit aussage-kräftig und damit zielführend sind.Nun meinen SPD und Grüne seit einiger Zeit, dass dievon ihnen selbst – Herr Kollege Solms hat noch einmaldarauf hingewiesen; manche hier haben es anscheinendvergessen – im Jahr 2005 geschaffene Drei-Stufen-Rege-lung diesen Maßstäben nicht genügt. Wir von der Unionsind offen für eine Änderung. Wir diskutieren in der Tatin der Rechtsstellungskommission seit längerem da-rüber. Wir haben seit langem die Bereitschaft zu einerNeuregelung mit deutlich mehr und höheren Stufensignalisiert.Liebe Kolleginnen und Kollegen, mehr und höhereStufen bringen in bestimmten Fällen, zum Beispiel beiVortragshonoraren, tatsächlich einen weiteren Erkennt-nisgewinn; denn hier weichen Brutto- und Nettozuflusskaum oder gar nicht voneinander ab. Daran aber, dassaus der Höhe der Nebeneinkünfte allein immer auch Er-kenntnisse über Abhängigkeiten, über Interessenkolli-sionen gewonnen werden können, sind Zweifel ange-bracht. Außerdem bleibt ein Grundfehler der Regelungvon 2005 von Rot-Grün, nämlich das Brutto-Zufluss-prinzip.
Wegen dieses Prinzips sind die Angaben in vielen Fällennämlich nicht aussagekräftig.Gleichwohl, ich sage es noch einmal: Die Union bzw.die Koalition ist für eine neue Stufenregelung bereit.Aber wir sollten uns in diesem Zusammenhang auch Ge-danken über eine klare Differenzierung zwischen Ein-künften einerseits machen, die aus dem erlernten undmeist auch vor der Parlamentszeit bereits ausgeübtenBeruf erzielt werden, und Nebenverdiensten anderer-seits, die – ich zitiere noch einmal den Tagesspiegel vongestern – „erkennbar nicht ‚berufsspezifisch‘ sind, son-dern mehr oder weniger offenkundige Folge der politi-schen Tätigkeit“; ich sage es im Klartext: wo es um dieVermarktung von Amt oder Mandat geht.Leider wird – einer der Grundfehler dieser Regelungvon 2005 – alles pauschal als Nebeneinkünfte bezeichnetund den gleichen Regelungen unterworfen.
Da halte ich es für durchaus verständlich, dass man-che Kollegen, die etwa Handwerker, Gewerbetreibendeoder Rechtsanwälte sind, sich ungerecht behandelt füh-len und dass viele, die sich eine Kandidatur zum Deut-schen Bundestag überlegen, dadurch abgeschreckt wer-den.
Wir brauchen aber Abgeordnete, verehrter Herr KollegeBeck, die noch ihren Beruf ausüben; das sage ich geradean die Adresse Ihrer Fraktion.
Gerade ein während des Mandats ausgeübter Beruf stütztdie politische Unabhängigkeit des Abgeordneten und istdamit im Interesse des Parlamentarismus.
Deshalb dürfen wir jetzt nicht das Kind mit dem Badeausschütten. Wir sind für Transparenz, wenn sie keinSelbstzweck ist, sondern zielführend.Ich bedanke mich.
Das Wort hat nun Christine Lambrecht für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Kollegen! Sehrverehrte Damen und Herren! Wenn wir in dieser Aktuel-len Stunde über mehr Transparenz reden, dann ist daskein Selbstzweck, sondern es geht darum: Wie schaffen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23873
Christine Lambrecht
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wir es, dass die Bürgerinnen und Bürger wieder mehrVertrauen in Politik und in Politiker haben? Dazu gehörtauch die Frage: Wie können wir endlich die UN-Kon-vention zur Korruptionsbekämpfung in diesem Landumsetzen? Das ist bereits seit 2003 ein Anliegen. Wirhaben es bis heute nicht erreicht, einen Straftatbestandder Abgeordnetenbestechung zu schaffen.In dieser Woche gab es in dieser Frage endlich Bewe-gung. Wenn einer eine Reise tut, dann kann er waserzählen. So hat uns Herr Siegfried Kauder, CDU, Vor-sitzender des Rechtsausschusses des Deutschen Bundes-tages, berichtet, wie es auf seiner Reise letzte Woche inAfrika war. In Afrika ist er darauf angesprochen worden,wie es denn mit Korruption ist – nicht etwa in Afrika,nein, in Deutschland –, warum wir denn in Deutschlandnicht mehr für die Bekämpfung von Korruption tun.
– Dann müssen Sie das vielleicht mit ihm klären, Herrvan Essen. Zumindest den Journalisten gegenüber hat ererklärt, dass das bei ihm zu einem Umdenken geführt hatund er jetzt darüber nachdenkt, wie man so etwas inDeutschland regeln könne.
Da kann ich Ihnen sagen, Herr Kauder: Sie hättennicht erst nach Afrika fahren müssen. Sie hätten, jenseitsvon Afrika,
schon vor vielen Jahren – beispielsweise von Organisa-tionen wie Transparency International – hören können,wie wichtig es ist, dass die Regeln dieser Antikorrup-tionskonvention in Deutschland umgesetzt werden. Siehätten, jenseits von Afrika, einfach nur zuhören müssen,wie Grüne, Linke, SPD mit zahlreichen Gesetzesinitia-tiven versucht haben, einen Weg zu finden, Abgeordne-tenbestechung gesetzlich zu fassen. Sie hätten, jenseitsvon Afrika, einfach nur zuhören müssen, wie Bundes-tagspräsident Lammert oder auch Herr Waigel dringenddazu aufgerufen haben, endlich Regeln zur Bekämpfungvon Abgeordnetenbestechung in diesem Land zu finden.Sie hätten, jenseits von Afrika, diesen Sommer einfachnur zuhören müssen, wie ein Großteil der deutschenWirtschaft uns allen ins Stammbuch geschrieben hat:Macht endlich etwas! Es ist uns peinlich, dass wir imAusland darauf angesprochen werden, dass ausgerechnetin Deutschland kein Straftatbestand der Abgeordneten-bestechung bekannt ist. – Wir stehen damit in einerReihe mit Staaten, in deren Gesellschaft wir uns sonstnicht so sehr wohlfühlen: Syrien, Saudi-Arabien und,und, und. Jenseits von Afrika wäre das alles möglich ge-wesen.Aber Sie mussten erst diese Reise machen. Gut, jetzthaben Sie diesen Erkenntnisgewinn. Sie sagen: Wir ma-chen uns darüber Gedanken. – Herr Kauder und meineDamen und Herren von der Koalition, wir werden es Ih-nen nicht durchgehen lassen, wenn wieder nur warmeWorte kommen, wir werden genau beobachten, ob denWorten Taten folgen. Zu sagen: „Wir überlegen jetztmal. Das ist aber sehr schwer, und ob wir das noch indieser Legislaturperiode schaffen …“, ist, glaube ich,kein angemessener Umgang mit dem Thema.Das ist vergleichbar mit den Stellungnahmen, die wirhier zur Frage der Transparenz bei Nebeneinkünften be-kommen. Auch bei diesem Thema kommt erst jetzt Be-wegung in die Diskussion. Seit Jahren diskutieren wirdarüber, ob die Regeln ausreichen. Es geht nicht, dassman immer wieder vertröstet, immer wieder Erklärun-gen abgibt, aber trotzdem glaubt, dass das zu mehr Ver-trauen der Bürgerinnen und Bürger in Politik und inPolitiker führt. Wir müssen dafür sorgen, dass wir dieNebeneinkünfte offenlegen, dass wir zeigen: Wir habenkeinen Dreck am Stecken. Deswegen zeigen wir offen,von wem wir wofür bezahlt werden. Darum geht es; esgeht hier nicht um eine Neiddiskussion oder darum, ei-nen gläsernen Abgeordneten zu schaffen. Vielmehr mussdeutlich werden: Wer bekommt von wem Geld wofür?
Dann kann sich der Bürger Gedanken darüber machen,ob er sich von diesem Abgeordneten vertreten fühlt.Dazu reicht es aber nicht aus, zu sagen: Wir machen nurein paar Stufen.
Selbstverständlich muss es möglich sein, weiterhin alsAnwalt, als Arzt, als Vortragsreisender, als Tierversiche-rer zu arbeiten. Aber der Bürger muss wissen: Von wembekommt der Abgeordnete Geld wofür? Deswegen kannich Ihnen nur dringend zurufen: Hören Sie auf mit dieserVerschleppungstaktik! Das schadet uns allen und bringtuns alle in eine Situation, die mit Vertrauen bestimmtnichts zu tun hat. Lassen Sie Ihren Worten endlich Tatenfolgen!Vielen Dank.
Das Wort hat nun Jörg van Essen für die FDP-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichempfehle uns allen, ein Stück abzurüsten. Es ist schonmehrfach in der Debatte gesagt worden: Es nützt nie-mandem, wenn wir uns gegenseitig Vorwürfe machen.
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Jörg van Essen
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Ich stelle fest: Der Kollege Steinbrück hat seine Ne-bentätigkeiten ordnungsgemäß angemeldet,
aber er muss sich natürlich den Fragen stellen. Wennman so vielen Nebentätigkeiten nachgegangen ist undReden gehalten hat, wenn man eines der höchsten Ämterin diesem Lande anstrebt und im Bundestag nur ganzwenig geredet hat,
dann muss man sich Fragen gefallen lassen und darfnicht so dünnhäutig reagieren, wie wir das heute in derDebatte erlebt haben.
Trotzdem: Ich glaube, dass wir auch gut beraten sind,zu sehen, dass es in den Fraktionen unterschiedliche In-teressen gibt. Die SPD-Fraktion ist die Fraktion mit demhöchsten Anteil an Gewerkschaftsfunktionären. Das kri-tisiere ich nicht.
Ich finde, dass Arbeitnehmervertreter ganz selbstver-ständlich auch im Bundestag anwesend sein müssen, da-mit sie die Interessen der Arbeitnehmer vertreten kön-nen. Der Bundestag lebt davon, dass wir solcheInteressenvertretungen, auch einseitige Interessenvertre-tungen, haben. In der Fraktion der Grünen gibt es denhöchsten Anteil der Berufslosen, den höchsten Anteilder Lehrer. Die haben wiederum andere Interessen. DerKollege Beck beispielsweise versucht, seitdem er imBundestag ist, uns nahezubringen, dass die, die keinenBeruf haben, am unabhängigsten sind.
Ich versuche, hier das Gegenteil zu vermitteln, nämlich:Derjenige, der einen Beruf hat, ist am unabhängigsten.Herr Beck, es gibt niemanden in diesem Parlament, derabhängiger von Politik ist als Sie. Was sollen Sie dennohne Berufsabschluss sonst machen?
Deswegen werbe ich dafür, dass wir ein breites Parla-ment mit vielen Berufen sind. Für mich gehört dazu,dass sich meine Fraktion dadurch auszeichnet – darüberbin ich froh –, dass wir den höchsten Anteil an Hand-werksmeistern und Selbstständigen haben. Denn auchdie gehören in den Bundestag.
Das Interesse von Selbstständigen und Handwerkernist ein anderes als von denen, die, wie ich, als Beamte,als Lehrer, als Gewerkschaftsfunktionäre jederzeit wie-der in ihren Beruf zurückkehren können. Die durch-schnittliche Dauer der Zugehörigkeit eines Abgeordne-ten zum Bundestag beträgt zwei Perioden, acht Jahre.Ein Bäckermeister – in unserer Fraktion ist gerade einernachgerückt – kann seine Bäckerei nicht schließen undnach acht Jahren wieder öffnen, um als Bäcker wiederFuß zu fassen. Deshalb ist es sinnvoll, dass er seinen Be-ruf weiter fortführt. Das macht ihn unabhängig. Er kannjederzeit wieder in seinen Beruf zurückkehren.Deshalb: Alle Regeln, die wir schaffen, klopfen wirdaraufhin ab, ob sie so beschaffen sind, dass dem Bundes-tag auch Selbstständige weiterhin angehören können,ohne dass sie ihre Selbstständigkeit, ihren Beruf gefähr-den. Das gilt beispielsweise auch für viele freie Berufe,bei denen ebenfalls Verschwiegenheitspflichten zu be-achten sind.Meine zweite Bemerkung betrifft den Korruptionstat-bestand. Ich erinnere mich noch sehr genau: Als dieBundesregierung die UN-Konvention unterzeichnenwollte, haben alle damals vertretenen Fraktionen – dieLinke war nicht dabei, aber Herr Beck war schon dabei –die Bundesregierung gebeten, sie nicht zu unterzeichnen,
weil in der Formulierung kein Unterschied gemacht wirdzwischen Beamten und Abgeordneten.
Als Abgeordneter habe ich nach Art. 38 des Grundgeset-zes das Recht auf die freie Ausübung des Mandats.
Das bedeutet natürlich auch, dass man Pflichten hat. DerKollege Oppermann hat sie ausgeführt. Ich finde es aus-gesprochen richtig, dass Sie das getan haben. Aber derAbgeordnete ist frei. Ich bin es als Beamter nicht. Des-halb lege ich als Beamter auch einen Diensteid ab. EinAbgeordneter tut es nicht. Deshalb muss es unterschied-liche Regeln dafür geben.
Wenn man die gestrige Anhörung von Anfang an mitverfolgt hat – der Kollege Sharma war dabei; Sie, FrauLambrecht, glaube ich, auch –, dann wurde einem klar:Es war ein klarer Verriss dessen, was Sie vorgetragen ha-ben.
Diejenigen, die hier den Eindruck erwecken wollen,die Oppositionsfraktionen hätten Vorschläge gemacht,die den Anforderungen der Verfassung genügen, derlügt.
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Jörg van Essen
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Denn das Gegenteil ist der Fall: Diese Vorschläge be-inhalten entweder eklatante Verstöße gegen den Art. 103des Grundgesetzes oder eklatante Verstöße gegen denArt. 38.Dieser Verriss wäre noch deutlicher geworden, wennzwei Sachverständige, die leider nicht anwesend seinkonnten, ihre Auffassung vorgetragen hätten; so lagendie Stellungnahmen nur schriftlich vor. Wir wissen, dasssie genau die gleiche Kritik geäußert hätten. Von all de-nen, die wohlfeil sagen: „Da muss sich was tun“, erwarteich, dass sie gesetzes- und vor allen Dingen verfassungs-konforme Vorschläge machen. Solche Vorschläge habeich bisher nicht gesehen.Ich hätte meinen Beruf als Oberstaatsanwalt verfehlt,wenn ich Korruption unterstützen wollte. Das will ichnatürlich nicht, aber ich möchte Regeln, die den Anfor-derungen der Verfassung genügen. Das haben wir bishernicht gesehen. Nur daran und nicht an unserem schlech-ten Willen ist das Ganze gescheitert.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Konstantin von Notz für die Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrterHerr Kollege van Essen, Ihr Seitenhieb gegen die Be-rufslosen zeigt, wie hart an den Kern bei Ihnen dieseDiskussion gehen muss, wenn Sie nicht anerkennen,welchen großen gesellschaftlichen Beitrag auch der Kol-lege Volker Beck geleistet hat in dem, was er beruflichgetan hat. Das ist unterirdisch, das finde ich nicht okay.
Das führt uns auch weg von der Debatte. Herr Grosse-Brömer und auch der Kollege Götzer haben auf den„gläsernen Bürger“ Bezug genommen. Darum geht esdoch genau nicht. Allerdings würde ich mir diesen Ap-pell gegen den gläsernen Bürger von Ihnen auch bei derVorratsdatenspeicherung und beim Datenschutz wün-schen.
Dort hört man dieses Argument jedoch seltener. Hiergeht es allein darum, dass die Bürgerinnen und BürgerTransparenz darüber erlangen, was Abgeordnete in derZeit, in der sie Diäten erhalten, nebenher verdienen. Umdiese Transparenz geht es, und nicht um den gläsernenBürger.Wir verhandeln unter diesem Tagesordnungspunktviele gute Themen. Eine transparentere Regelung derNebeneinkünfte – das ist hier schon viel besprochenworden – ist überfällig. Die Einführung der Genehmi-gungspflicht für eine Berufstätigkeit von ausscheidendenRegierungsmitgliedern – überfällig. Die Novellierungdes Parteiengesetzes – überfällig. Die Bekämpfung derAbgeordnetenbestechung und die Ratifizierung desÜbereinkommens der VN – auch das ist angesprochenworden – sind überfällig, und es ist peinlich, dass dasnoch nicht geschehen ist.Ein verpflichtendes Lobbyistenregister – hierüber ha-ben wir in dieser Legislaturperiode bereits gestritten – istebenso überfällig.
Sie verhindern an allen Ecken und Enden, dass dieseDinge umgesetzt werden.
Ich möchte gerne aus dieser Selbstbespiegelungsnum-mer herauskommen und deutlich machen, worüber wirhier eigentlich reden: Es geht nicht um ein selbstreferen-zielles Thema, das sich nur um Abgeordnete dreht. DieThemen Transparenz und Bürgernähe sind kein grünesHirngespinst, das man mal eben aus der Kiste holt, son-dern das sind die großen gesellschaftlichen Themen un-serer Zeit.Wenn Sie mit den Bürgerinnen und Bürgern in IhremWahlkreis sprechen, wenn Sie Umfragen lesen, dann er-kennen Sie: Das ist ein ganz zentrales Thema unsererZeit, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen.
Diese Bundesregierung vertrödelt die Entwicklungder Transparenz in noch ganz anderen Bereichen. Auchim Bereich Open Data – das sei angemerkt – sind wir einTransparenzentwicklungsland. Sie wehren sich auch mitHänden und Füßen dagegen, dass Bürgerinnen und Bür-ger das Recht darauf bekommen, von Ministerien undVerwaltungen proaktiv informiert zu werden. Das ist wiebei der Abgeordnetenbestechung: Dieses Recht zu ver-weigern, ist nicht konservativ oder liberal, sondern es istangestaubt und hinterwäldlerisch.
Ihre jahrelange Verhinderungs-, Hinhalte- und Verzö-gerungstaktik in diesem Bereich ist meiner Ansicht nachletztlich nur Ausdruck eines noch nicht ganz überwunde-nen preußischen Obrigkeitsverständnisses.
– Ja, das wusste ich; das ist besonders bitter für die CSU.Im 21. Jahrhundert hat das in unserer Demokratienichts mehr zu suchen.
Unklare Nebenverdienstregelungen, Amtsverschwiegen-heit, Geheimniskrämerei – damit ist im 21. Jahrhundertkein Staat mehr zu machen. Deswegen brauchen wir ein
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23876 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Dr. Konstantin von Notz
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neues Verhältnis des Staates zu seinen Bürgerinnen undBürgern.
Das Recht jedes Einzelnen und jeder Einzelnen aufZugang zu staatlichen Informationen ist die Basis für in-formierte Mitbestimmung in einer modernen Demokra-tie. Deshalb haben wir hier vor einigen Wochen eineneigenen Gesetzesentwurf zum Informationszugangs-grundrecht eingebracht. Wenn Sie auch kein Grundrechtwollen, so müssen Sie doch zumindest zustimmen, dassdie Regelungen zur Informationsfreiheit insgesamt drin-gend einer Reform bedürfen.
Nur ein Beispiel dafür: Bisher können sich Verwaltun-gen und Unternehmen viel zu oft mit Verweis auf Be-triebs- und Geschäftsgeheimnisse herausstehlen undAuskünfte verweigern, selbst bei der Deutschen Bahnund bei Public-private-Partnerships, bei denen es um dieVerwendung von Steuermilliarden geht. Das alles hat inder Bevölkerung keine Akzeptanz mehr, ebenso die be-stehenden Regelungen zu Nebenverdiensten. Deswegengeht es so nicht weiter.
Die Aufregung hier in der Debatte, aber auch in derDiskussion um Herrn Steinbrück ist groß. Das öffentli-che Interesse ist groß, ebenso der Reformdruck. Wirbrauchen mehr Transparenz, stärkere Informationsrechteund eine gesetzliche Open-Data-Verpflichtung. Dafürmuss man aber Transparenz politisch wirklich wollen,nicht nur halbherzig, nicht nur so ein bisschen, nicht nurwochenweise, wenn es um gegnerische Kanzlerkandida-turen geht. Fangen wir endlich damit an! Wenn wir dieheute hier diskutierten Punkte umgesetzt haben, dannmüssen viele andere Schritte folgen.Ganz herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Helmut Brandt für die CDU/CSU-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Kolle-ginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ichweiß nicht, wie oft sich das Parlament bereits mit dieserFrage beschäftigt hat. Es ist jedenfalls ein wiederholtesMal der Fall. Die Überschrift, die die antragstellendeFraktion hier gewählt hat, ist allerdings – darauf werdeich gleich noch eingehen – für mich etwas verräterisch.Wenn man die Debatte über Nebeneinkünfte von Abge-ordneten, Karenzzeiten, Abgeordnetenbestechung unddie entsprechenden Regelungen im Parteiengesetz in ei-nem Tagesordnungspunkt zusammenfasst, dann hat dasschon den Geschmack, dass man das eine mit dem ande-ren verweben will, obwohl es unmittelbar überhauptnichts miteinander zu tun hat.
Es ist schon mehrfach zur Sprache gekommen – jederweiß es; man braucht es nicht auszusprechen –: DerGrund für die Aufregung, die hier künstlich erzeugtwurde und aufrechterhalten werden soll, liegt allein inden Presseveröffentlichungen und der darauf folgendenöffentlichen Diskussion über die hohen Nebeneinkünftedes Kollegen Steinbrück. Das schmeckt der Oppositionnicht, die sonst gerne den Eindruck erweckt, Nebenein-künfte in dieser Größenordnung gäbe es nur bei denPolitikern der Koalition.
Deshalb wird nun in einem hektischen Aktionismus ver-sucht, sich gegenseitig mit vermeintlich besseren Rege-lungsvorschlägen zu übertreffen.
Kommen wir zu den Nebeneinkünften. 2005 wurde– das ist hier schon erwähnt worden – die heutige Rege-lung von Rot-Grün eingeführt. Nach unserer Auffassunghat sie sich im Wesentlichen bewährt. Das beweist imGrunde genommen die Veröffentlichung der Einkünftevon Herrn Steinbrück; er hat sie angegeben. Ich habe garnichts gegen diese Einkünfte; eigentlich hatte keinerEinwände dagegen.
Aber die Diskussion kam nun einmal auf. In der Öffent-lichkeit wird von einem Kanzlerkandidaten – zu Rechtoder zu Unrecht; darüber kann man lange diskutieren –mehr erwartet, als er bislang geliefert hat. Warten wir esin aller Ruhe ab! Er hat weitere Angaben angekündigt.
Die Art der Einkünfte ist doch durchaus unterschied-lich – der Kollege Götzer hat das eben zu Recht gesagt –:Führt ein Abgeordneter eine Tätigkeit fort, die er bereitszuvor ausgeübt hat oder innehatte, oder aber – das ist eingroßer Unterschied – beruhen die zusätzlichen Einkünfteauf einer früheren Zugehörigkeit zur Regierung oderzum Parlament? Das ist ein qualitativer Unterschied, denman sicherlich beachten muss. Im letzten Fall muss mannatürlich fragen, wofür, von wem und wie viel er dafürbekommt.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23877
Helmut Brandt
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Jedenfalls müssen wir – darauf lege ich Wert – bei al-len Regelungen darauf achten, dass die Grenzen desfreien Mandats beachtet werden. Dazu gehört insbeson-dere auch, dass der Schutz von Berufsgeheimnisträgernwie Anwälten, Ärzten, Steuerberatern und anderen ge-wahrt bleiben muss. Wir müssen darauf achten, dass dasParlament – auch das ist eben zu Recht betont worden;ich danke Herrn van Essen, dass er das so deutlich ge-macht hat – für Unternehmer, Handwerker und Freibe-rufler offen und attraktiv bleibt und nicht nur für diejeni-gen, die ohne Probleme später wieder in ihren Berufzurückkehren können, beispielsweise Beamte oder Ge-werkschafter.Wir sollten uns insgesamt davor hüten, bei der Dis-kussion verschiedene Dinge, die nichts miteinander zutun haben – damit komme ich auf den Beginn meinerAusführungen zurück –, zu vermengen. Wer etwa dieFrage der Nebentätigkeiten mit der Problematik der Ka-renzzeit für Regierungsmitglieder oder auch der Abge-ordnetenbestechung vermischt, will offensichtlich be-wusst den Eindruck erwecken, dass Nebentätigkeiten perse etwas Negatives sind oder gar ein Zusammenhang mitdiesen Themen besteht. Ich halte das, offen gesagt, fürfatal. Wir alle schaden uns mit einer auf diese Art ge-führten Diskussion selbst.
Man gewinnt schon den Eindruck, dass die jetzt in derOpposition befindlichen Fraktionen wohlfeile Vor-schläge zu dem Thema machen, weil nicht die Gefahrbesteht, dass diese Vorschläge tatsächlich umgesetztwerden. Das gilt insbesondere für das Thema der Abge-ordnetenbestechung. Wir haben gestern im Rahmen derSachverständigenanhörung deutlich vernommen, dasssämtliche vorgelegten Vorschläge der Opposition sonicht umsetzbar sind.
Insofern halte ich es für sehr problematisch, heute hie-raus Vorwürfe zu entwickeln. Aber es kommt noch di-cker. Sie hatten während Ihrer Regierungszeit anderthalbJahre Zeit, die UN-Konvention umzusetzen, und für dieUmsetzung des Europaratsabkommens standen Ihnensogar sechs Jahre zur Verfügung.Ich möchte zum Schluss ein Zitat des früheren rechts-politischen Sprechers der SPD-Fraktion, des KollegenJoachim Stünker, bringen. Er hat in einer Debatte am25. September 2008 – das kann man im Plenarprotokollder 179. Sitzung auf Seite 19 144 nachlesen; so viel wirdhier geredet – gesagt:Aber dann mussten wir koalitionstreu sein, und wirdurften sie– gemeint waren die Vorschläge –nicht ins Parlament einbringen, weil uns die Grünenblockiert haben.
… Das war eine Regelung, die dem Kollegen Beckzu weit und dem Kollegen Ströbele nicht weit ge-nug ging.So viel zur Tätigkeit von Rot-Grün.Besten Dank.
Das Wort hat nun Christian Lange für die SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Am 17. Juni 2005 durfte ich für die SPD-Frak-tion den Änderungsantrag zum Abgeordnetengesetz unddamit die Transparenzvorschriften, über die wir heutesprechen, einbringen. Damals, meine lieben Kolleginnenund Kollegen von CDU/CSU und FDP, waren Sie dage-gen. Deshalb bitte ich Sie dringend: Erwecken Sie nichtden Eindruck, als ob Sie für noch mehr Transparenz, fürnoch mehr Stufen geworben hätten. Das Gegenteil istund war der Fall.
Ich nehme zur Kenntnis, dass Sie seit der Peer-Steinbrück-Diskussion Ihre Position geändert haben.
Seit wenigen Tagen vertreten Sie plötzlich die Auffas-sung, dass Sie dieses Stufenmodell, das Sie seit Beginndieser Wahlperiode vor drei Jahren erbittert bekämpfthaben, toll finden.
Ich nehme es zur Kenntnis; aber das ist eine ÄnderungIhrer Position. Die Redlichkeit gebietet es, dies auch sozu sagen.
Es ist wichtig, ein Zweites festzuhalten. Wenn wir fürTransparenz werben, dann muss eines klar sein: Trans-parenz muss für alle gelten. Was für den AbgeordnetenSteinbrück gilt, das muss auch für den AbgeordnetenRiesenhuber, für den Abgeordneten Glos und für denAbgeordneten Döring gelten. Erklären Sie bitte im Deut-schen Bundestag, warum es für diese nicht gelten soll!Erklären Sie bitte, warum für den einen Extraregeln gel-ten sollen, für diese Personen aber nicht.
Für die Juristen unter uns – ich sehe, dass der KollegeGrosse-Brömer schon gegangen ist –
– ja, da gehen wir alle noch hin –, will ich Folgendesdoch noch einmal sagen: Tun Sie bitte nicht so, als ob
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Christian Lange
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das Bundesverfassungsgericht sich gegen Transparenz-regeln ausgesprochen hätte. Das Gegenteil ist der Fall.Ich will hier einmal die Gründe nennen, die zur Rechts-kraft der vorhandenen Regelung und zu mehr Transpa-renz geführt haben. Das Bundesverfassungsgericht hatnicht nur gesagt: „Der Wähler muss wissen, wen erwählt“. Es hat auch gesagt: Es entspricht damit einemGrundanliegen demokratischer Willensbildung, Abge-ordnete zu verpflichten, Angaben über Tätigkeiten ne-ben dem Mandat zu machen, die auf Interessenverflech-tungen und wirtschaftliche Abhängigkeiten hindeutenkönnen. Weiter heißt es:Das Interesse des Abgeordneten, Informationen ausdieser Sphäre vertraulich behandelt zu sehen, ist ge-genüber dem öffentlichen Interesse an der Erkenn-barkeit möglicher Interessenverknüpfungen …grundsätzlich nachrangig.Es ist „nachrangig“. Deshalb sind die Transparenzvor-schriften verfassungskonform. Deshalb unterstützt dasBundesverfassungsgericht die Vorschläge der SPD-Frak-tion, endlich alles auf Heller und Cent offenzulegen.
Das Bundesverfassungsgericht geht sogar noch einenSchritt weiter. Wenn wir weiterlesen – das sage ich denKolleginnen und Kollegen, die ein Interesse an demThema haben –, stellen wir fest, dass darin sogar etwasüber uns steht. Darin steht:Auch Mit-Abgeordnete haben ein legitimes Inte-resse, zu wissen, welchen Interessenverbindungenihre Kollegen unterliegen, weil dies für die Ein-schätzung, nach welcher Richtung hin deren Argu-mente besonders wachsamer Prüfung bedürfen, vonBedeutung sein kann.Es ist also nicht nur für die Wählerinnen und Wähler,sondern auch für uns von Bedeutung, diese Abhängig-keiten zu erkennen. Deshalb ist die Zeit reif für eine Of-fenlegung nach Heller und Cent.
Ich will Ihnen, meine Damen und Herren, und insbe-sondere Herrn van Essen noch etwas zum Thema Selbst-ständige sagen. Ja, Sie haben recht: Wir haben hier zuwenig Selbstständige. Wir brauchen mehr Selbststän-dige.
Da bin ich ganz bei Ihnen. Leute wie ich, die Landesbe-amte sind, die aus einem Ministerium kommen, haben esda besser. Eines ist aber auch klar: Niemand fordert einVerbot von Nebentätigkeiten, wie wir es in anderen Län-dern haben. Niemand! Wir sind immer der Auffassunggewesen, dass wir das in dieser Wahlperiode für dienächste Wahlperiode beschließen müssen, damit dieKandidaten sich darauf vorbereiten und einstellen kön-nen. Das war immer Konsens in diesem Hause, und dasist auch die Position der SPD.Eines steht auch fest: Wenn es dazu kommt und je-mand nicht bereit ist, die Nachrangigkeit seines wirt-schaftlichen Eigeninteresses anzuerkennen, dann hat ernoch andere Möglichkeiten.
Zum Beispiel könnte sein Betrieb treuhänderisch weiter-geführt werden usw. Es ist aber wichtig, dass wir dasjetzt beschließen, damit das für die nächste Wahlperiodegelten kann.Ein Letztes: Ich bitte Sie wirklich, jetzt den Weg da-für frei zu machen, dass die Einkünfte aus Nebentätig-keiten auf Euro und Cent offengelegt werden. Ich bitteSie wirklich, den Weg frei zu machen für die Korrup-tionsbekämpfung. Die SPD-Fraktion hat einen Antragzur Änderung von § 108 e Strafgesetzbuch eingebracht.Ich bitte Sie wirklich, den Weg frei zu machen für einverbindliches Lobbyregister. Auch hierzu haben wir ei-nen Antrag eingebracht. Auch dies ist bislang aufgrundIhrer Blockade gescheitert. Ich bitte Sie schließlich auchdarum, den Weg frei zu machen für eine Regelung fürExterne in den Bundesministerien. Viermal zu blockie-ren ist wirklich zu viel des „Guten“. Ändern Sie IhrePosition, nicht nur im Lichte der Kandidatur von PeerSteinbrück, sondern zum Wohle der Bürgerinnen undBürger. Transparenz ist angesagt. Deshalb bitte ich umZustimmung und Unterstützung für die Anträge derSPD.Herzlichen Dank.
Letzter Redner in der Aktuellen Stunde ist Ansgar
Heveling für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eskönnte auf den ersten Blick fast ein wenig verwundern,dass sich bei diesem Gemischtwarenladen von Themender Aktuellen Stunde vonseiten der Opposition haupt-sächlich Kolleginnen und Kollegen zur Abgeordneten-bestechung geäußert haben, die, abgesehen vom Kolle-gen Sharma, gestern nicht oder nicht die ganze Zeit beider diesbezüglichen Anhörung dabei gewesen sind.
Und wer dann die ganze Zeit dabei gewesen ist undwer einen Gesamteindruck von der Veranstaltung be-kommen hat, der hätte heute hier sicherlich nicht so ge-redet.
Das Thema ist entschieden komplizierter, als es aufden ersten Blick aussieht. Zumindest das ist in der De-batte deutlich geworden, in der neben offensichtlichenUnterschieden auch erkennbare Übereinstimmungen inder Beurteilung dieser differenzierten Sachverhalte of-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23879
Ansgar Heveling
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fenkundig geworden sind. – Dies hat unser Bundestags-präsident Norbert Lammert vor einiger Zeit zu diesemThema gesagt.Von differenzierten Sachverhalten ist in dieser Ak-tuellen Stunde allerdings nicht viel zu merken. Man siehtschon an der thematischen Gestaltung: Alles wird in ei-nen Topf geworfen, und daraus wird ein Süppchen ge-kocht. Ob daraus Kost wird, die den Bürgerinnen undBürgern schmeckt, sei dahingestellt.Wenn wir wirklich etwas für die Integrität parlamen-tarischer Entscheidungen tun wollen, hilft eine AktuelleStunde sicherlich nicht weiter. Der gestrigen Anhörungzum Thema Abgeordnetenbestechung wäre sicherlichdie gleiche Aufmerksamkeit zu wünschen gewesen wieder heutigen Aktuellen Stunde. Die Anhörung war je-denfalls eine wirkliche Lehrstunde dafür, wie mühsamund schwierig es ist, abstrakte Ziele in konkret handhab-bare Vorschriften umzusetzen. Mein Fazit der gestrigenAnhörung ist, dass da noch eine ganze Menge Arbeit voruns liegt. Wer gesehen hat, wie sehr schon die Sachver-ständigen bei jedem Punkt mit sich gerungen haben, demist klar, welch diffizile Aufgabe auf uns Abgeordnete zu-kommt, wenn wir eine sachgerechte Regelung beimThema Abgeordnetenbestechung treffen wollen.
Insofern, glaube ich, sollte man besser einmal inne-halten und das gegenseitige Überbieten darin, wer nunkein Interesse an einer Regelung habe und aus welchenGründen, einen kurzen Moment einstellen. Es wäre na-türlich auch für mich ein Leichtes, aufzuzählen, werwann einmal was regeln wollte und warum er dann anwem gescheitert ist. Das ist alles kein Problem. Dafürbraucht man nur einmal in die Stenografischen Berichtedieses Parlaments zu schauen. Wenn man ein bisschenblättert, wird man ganz schnell fündig, auch bei denFraktionen auf der linken Seite dieses Hauses.
Mein persönliches Highlight ist das Bekenntnis einesehemaligen Kollegen von der SPD aus dem Jahr 2008– Kollege Brandt hat das eben ausführlich zitiert –, derhier freimütig erklärte, man habe das alles schon 2005regeln wollen, aber dann habe es Koalitionsprobleme ge-geben. Dem Koalitionspartner Beck sei der Regelungs-vorschlag zu weit gegangen, dem KoalitionspartnerStröbele aber nicht weit genug. Man findet also schnellBeispiele; aber ich glaube, das führt uns nicht weiter.Wichtig ist – das ist gar keine Frage –, dass wir ersteinmal aus dem Dilemma herauskommen, ratifizierteAbkommen noch nicht ausreichend umgesetzt zu haben.
Das ist auf die Sache bezogen ein formaler Kritikpunkt.
– Hören Sie zu, was ich noch sage; dann lachen Sie viel-leicht nicht mehr. Dazu gleich mehr.
Es ist gleichzeitig der wesentliche Punkt in der interna-tionalen Diskussion. Aber die Umsetzung einer entspre-chenden Konvention besagt zunächst einmal nicht viel.Deutschland und Japan, die beide die Konvention unter-zeichnet, aber noch nicht umgesetzt haben, liegengemeinsam auf Platz 14 des internationalen Korrup-tionsindexes von Transparency International – vor denUmsetzungsstaaten Großbritannien auf Platz 16 undFrankreich auf Platz 25 und weit vor den Umsetzungs-staaten Paraguay, Libyen und Venezuela. Das zeigt ganzeindeutig, dass es nicht auf die Buchstaben eines Geset-zes ankommt, sondern darauf, wie eine Gesellschaft mitdiesem Thema umgeht.
Wie dem auch sei; die Tatsache, dass wir die von uns ra-tifizierten Konventionen noch nicht umgesetzt haben, istund bleibt ein Zustand, der auf Dauer nicht hinnehmbarist. – Jetzt können Sie sich wieder beruhigt zurückleh-nen.
Die Bereitschaft zur Regelung ist ohne Frage gege-ben. Aber die gestrige Anhörung hat ganz deutlich ge-zeigt: Es ist ausgesprochen schwierig, einen tragfähigenAnsatzpunkt zu finden. Gerade die Sprachlosigkeit, dasminutenlange Schweigen des Sachverständigen vonTransparency International – wer gestern anwesend war,hat es erlebt – war beispielgebend, und zwar nicht impositiven Sinne.
Das Ganze ist so zu regeln, dass die Mitglieder von Or-ganen zweier Gewalten, nämlich Legislative und Exeku-tive, Parlament und Räte, von den Regelungen umfasstsind.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Aus meiner Sicht sollten wir daher erst einmal sehr
offen und sehr genau über das nachdenken, was uns die
Sachverständigen gestern gesagt haben. Entscheidend
aber ist und bleibt, dass es eines gesellschaftlichen Kli-
mas der Transparenz bedarf, eines Klimas, das dafür
sorgt, dass korruptive Verhaltensweisen ans Licht gezerrt
werden. Denn damit wird Korruption in all ihren Formen
am besten der Boden entzogen.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
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Das tue ich jetzt.
Ganz herzlichen Dank.
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-
zung der Richtlinie 2012/…/EU über den Zu-
gang zur Tätigkeit von Kreditinstituten und
die Beaufsichtigung von Kreditinstituten und
Wertpapierfirmen und zur Anpassung des
Aufsichtsrechts an die Verordnung
Nr. …/2012 über die Aufsichtsanforderungen
an Kreditinstitute und Wertpapierfirmen
– Drucksache 17/10974 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Rechtsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Parlamentarischen Staatssekretär Hartmut Koschyk.
H
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Mitden im Dezember 2010 veröffentlichten Empfehlungendes Basler Ausschusses für Bankenaufsicht wurde eineneue Grundordnung für die Banken weltweit geschaffen.Diese „Basel III“ genannten Empfehlungen sind eine derwichtigsten Konsequenzen aus der Finanzmarktkrise,und sie dienen dem Zweck, Banken in Zukunft krisen-fester zu machen; denn eines haben wir in der Krise ge-lernt: Banken, die mit zu wenig Eigenkapital ausgestattetsind und zu stark über ihre Eigenkapitalquote hinausge-hende Risikogeschäfte eingehen, können nationale undinternationale Finanzsysteme in große Erschütterungversetzen. Die Umsetzung von Basel III ist ein Herz-stück der Reformen auf dem Finanzmarkt; denn einnachhaltig funktionierendes Bankensystem braucht nichtnur qualitativ hochwertiges Eigenkapital, sondern mussauch über hinreichend Eigenmittel verfügen.Im Rahmen der G 20 hat sich Deutschland, habensich die Europäer verpflichtet, Basel III als zentralesElement der Bankenregulierung jetzt umzusetzen. Auchauf internationaler Ebene – und das ist für die Bundes-regierung ganz entscheidend – ist die Umsetzung voran-gekommen. So haben die USA im Juni 2012 ihre Vor-schläge zur Umsetzung zur Konsultation gestellt undwollen mit der Implementierung am 1. Januar 2013 be-ginnen. Auch Japan will mit der Umsetzung ab Ende desersten Quartals 2013 beginnen und die Arbeiten an dennationalen Regulierungsvorschriften weitgehend been-den.Auf EU-Ebene haben die Finanzminister am 15. Maidieses Jahres die Vorschläge zur Umsetzung von Ba-sel III mittels einer EU-Verordnung und einer Richtliniegebilligt. Auf europäischer Ebene unterstützt die Bun-desregierung mit Nachdruck einen schnellen Abschlussder Verhandlungen zwischen Rat, Europäischem Parla-ment und Kommission noch in diesem Jahr. Bundes-finanzminister Schäuble hat in den letzten Wochen mitvielen Mitgliedstaaten, mit der Kommission und auchmit den maßgeblichen Persönlichkeiten im EuropäischenParlament gesprochen; denn ein Aufschub der Umset-zung von Basel III dient der Sache nicht, vor allem weildie Wirkung dieser Regulierung über die unmittelbar be-troffenen Banken hinausgeht und Wirtschaft und Gesell-schaft insgesamt betrifft. Daher haben wir auch inDeutschland das nationale Gesetzgebungsverfahrenfrühzeitig eingeleitet. Natürlich müssen wir jetzt auf denAusgang der Trilog-Verhandlungen warten. Aber wirwollten in Deutschland alles tun, um unsere Entschlos-senheit zu bekunden, Basel III so zeitgerecht und so frühwie möglich umzusetzen.Mit der neuen EU-Verordnung wird die Harmonisie-rung des EU-Bankenaufsichtsrechts weiter gestärkt. AlleMitgliedstaaten müssen dieselben Vorschriften anwen-den und dürfen nur in ausdrücklich zugelassenen Fällenabweichen. Dies ist ein besonderer Baustein für einekommende einheitliche europäische Aufsichtsstruktur.Das Gesetzespaket enthält zahlreiche neue Sicher-heitsstandards und gibt der deutschen Bankenaufsichtneue und verschärfte Kontroll- und Sanktionsmöglich-keiten an die Hand. Die neuen Regelungen schützen All-gemeinheit und Steuerzahler besser vor dem Risiko, beiAusfällen im Bankensektor in Haftung genommen zuwerden.Ein Teil der Umsetzung von Basel III erfolgt mittelseiner unmittelbar in Deutschland geltenden EU-Verord-nung. In dieser Verordnung werden unter anderem stren-gere Mindesteigenkapitalanforderungen an Banken,insbesondere eine deutliche Erhöhung des harten Kern-kapitals, festgelegt, eine Verschuldungsobergrenze ab2018 nach einer entsprechenden Beobachtungsphaseeingeführt und zwei neue Liquiditätskennziffern zur Ab-deckung der Liquidität für 30 Tage und zur Abdeckungder Liquidität bis zu einem Jahr vorgesehen.Im Kern verlangt Basel III von den Banken qualitativbesseres und quantitativ umfangreicheres Eigenkapital.Hier bestanden in der Vergangenheit Defizite, die fürUnsicherheiten und Misstrauen hinsichtlich der Haf-tungseigenschaft der Kapitalinstrumente gesorgt haben.Nicht zuletzt deshalb mussten in Schieflage gerateneBanken vom Staat und damit vom Steuerzahler gestütztwerden. Vor diesem Hintergrund war es sehr wichtig, indiesem Sektor grundsätzlich und grundlegend tätig zuwerden.Mit den Änderungen des Kreditwesengesetzes voll-ziehen wir folgende Veränderungen: Es wird eine Ver-
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Parl. Staatssekretär Hartmut Koschyk
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besserung der Transparenz der Bankgeschäfte und eineumfangreichere Offenlegung von Millionenkrediten ge-genüber den Aufsichtsbehörden geben. Es werden dieAnforderungen an die Art und Weise, wie eine Bank zuführen ist, erhöht. Es wird in Abhängigkeit von derGröße der Bank zur Einrichtung zusätzlicher Ausschüssekommen, um weitere interne Kontroll- und Beratungs-möglichkeiten zu schaffen. Wir werden eine Verschär-fung der Sanktionsmaßnahmen durch Erhöhung desBußgeldrahmens bekommen; damit wird grundsätzlichauch ermöglicht, die durch Verstöße gegen das Banken-aufsichtsrecht erzielten Gewinne abzuschöpfen. Schließ-lich werden neue Kapitalpuffer eingeführt, die unabhän-gig voneinander festgesetzt werden und zu einerErhöhung des harten Kernkapitals führen.Für uns als Bundesregierung war sowohl bei den Ver-handlungen im Basler Ausschuss, die BaFin und Bun-desbank geführt haben, als auch bei der Umsetzung aufeuropäischer Ebene entscheidend, die bewährte Infra-struktur der deutschen Bankenlandschaft zu sichern.Deshalb haben wir sowohl bei den Verhandlungen alsauch bei der Umsetzung von Basel III sehr darauf geach-tet, Lösungen zu finden, die unserem Wirtschaftssystemund seinen Finanzierungsbedürfnissen angepasst sindund den vielfältigen Merkmalen des bewährten Drei-Säulen-Systems des deutschen Bankensektors gerechtwerden.Im Basler Ausschuss für Bankenaufsicht wurde eineprinzipienbezogene Ausgestaltung der qualitativen An-forderungen an das Eigenkapital im Sinne des Grundsat-zes „Qualität des Eigenkapitals geht vor dessen rechtli-cher Form“ geschaffen. Das hat bei der Umsetzung inzahlreichen Mitgliedstaaten, die anders strukturierteBankensysteme haben, Widerstand hervorgerufen. Aberwir haben es geschafft, dafür zu sorgen, dass die regula-torischen Rahmenbedingungen für Banken in derRechtsform einer Aktiengesellschaft, einer eingetrage-nen Genossenschaft oder einer öffentlichen Anstalt wieeiner Sparkasse in diesem zentralen Punkt gleichwertigausgestaltet werden. Das heißt, eine Genossenschafts-bank kann die Genossenschaftsanteile ebenso ihrem har-ten Kernkapital zurechnen wie etwa eine Sparkasse dieEinlagen stiller Gesellschafter.In den Ratsverhandlungen zur Umsetzung von Ba-sel III hat die Bundesregierung zudem eine Klauseldurchgesetzt, die auch den nicht als Konzern organisier-ten Finanzverbünden eine günstige Berechnung ihresEigenkapitals im Hinblick auf ihre Finanzbeteiligungenerlaubt. Das Eigenkapital steht den Verbundinstitutenzur Ausreichung von Krediten im Aktivgeschäft weiterzur Verfügung. Auch in Zukunft werden so Genossen-schaftsbanken und Sparkassen in Deutschland ihre zen-trale Rolle im Privatkundengeschäft und ebenso bei derFinanzierung der Wirtschaftsunternehmen umfassendund letztlich besser als zuvor erfüllen können.Seitens der Bundesregierung wollen wir alles dafürtun, diesen großen Regulierungsschritt weiter im Gleich-klang mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Unionvoranzubringen. Sie können sich darauf verlassen, dassdie Bundesregierung alles tun wird, um die schwierigenTrilog-Verhandlungen zwischen Rat, Kommission undEuropäischem Parlament zügig zu einem Abschluss zubringen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Manfred Zöllmer für die SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ba-sel III ist ein dringend notwendiges Regelwerk zur Sta-bilisierung des Finanzsystems. Es ist notwendig, weilder Verlauf der Finanzmarktkrise gezeigt hat, dass eineverbesserte Ausgestaltung der Banken mit Eigenkapitaldringend erforderlich ist, um die Stabilität des Finanz-systems insgesamt zu verbessern. Eigenkapital stabili-siert, mehr Eigenkapital bedeutet aber auch wenigerGeld für riskante und spekulative Geschäfte.Basel II, das Vorläufermodell, hatte die Weichen indie falsche Richtung gestellt. Danach ist es de facto zueiner geringeren Eigenkapitalunterlegung gekommen, dadie Regelung es den Banken erlaubt hat, Risiken mit ei-genen Modellen zu bewerten und zu gewichten und dieRisikobewertungen auf Ratingagenturen zu verlagern.Der Verlauf der Finanzmarktkrise hat gezeigt: Dies warein falscher Weg. Das musste korrigiert werden.
Die G 20 hatte deshalb schon 2009 in London undPittsburgh gefordert, durch die Erhöhung der Quantitätund der Qualität des Eigenkapitals bei verbesserter inter-nationaler Vergleichbarkeit der Eigenmittel die Liquidi-tät des Bankensystems weltweit zu stärken und damit dieWiderstandskraft des Systems gegen Krisen zu verbes-sern. Kernpunkte waren höhere Eigenkapitalanforderun-gen mit einem Zuschlag für systemrelevante Banken,neue Definitionen zur Qualität des Eigenkapitals undeine nicht risikobasierte Schuldenobergrenze, im Engli-schen: Leverage Ratio. Diese Leverage Ratio soll aller-dings noch nicht verbindlich sein. Wir hoffen aber, dasssie in absehbarer Zeit endlich verbindlich eingeführtwird. Kapitalpuffer sollen eingeführt werden, damit dieBanken auch in schwierigen Situationen über ausrei-chend Liquidität verfügen.Eigentlich hätten wir hier heute über einen Gesetzent-wurf zur Umsetzung von Basel III diskutieren sollen.Das steht ja auf der Tagesordnung, und wir haben auchein dickes Paket von 184 Seiten Gesetzestext auf denPulten liegen. Eine ganze Reihe bestehender Gesetzewird geändert: Pfandbriefgesetz, Kreditwesengesetz bishin zum Gesetz über die Landwirtschaftliche Renten-bank, worüber ich mich schon gewundert habe. So weit,so gut. Wer aber in den Gesetzentwurf hineinschaut,stellt fest: An den wirklich wichtigen Punkten finden Siegenau dieses, nämlich Punkte und keine Inhalte.
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Manfred Zöllmer
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Das Werk sollte eigentlich am 1. Januar 2013 in Krafttreten. Es ist aber nicht fertig. Die Bundesregierung hatbei den Verhandlungen in Brüssel bisher nicht vermocht,ein Ergebnis zu erzielen.
– Herr Flosbach, das ist eine Tatsache, entschuldigenSie. Oder wie soll man es nennen, wenn die eigene Ziel-setzung nicht erreicht wird?Es gibt eine Reihe von strittigen Punkten in diesemsogenannten Trilog auf europäischer Ebene. Alle Betei-ligten bemühen sich, zu einem Ergebnis zu kommen,aber eine ganze Reihe sehr wichtiger Fragen ist noch of-fen. Dabei geht es zum Beispiel um die Liquiditätssiche-rung, die Eigenkapitaldefinition oder die Managergehäl-ter. Das sind für uns zentrale Punkte, die geregelt werdenmüssen. Erst dann können wir die Qualität dessen, wasletztendlich in Kraft treten soll, auch wirklich bewerten.Wir können über die Umsetzung von Basel III heutegar nicht substanziell debattieren, weil wir nur eine Ver-packung, aber noch keinen Inhalt vorliegen haben.
Deshalb ist meine Bitte an die Bundesregierung: Tun Siein der Öffentlichkeit doch bitte nicht so, als würden be-reits jetzt strengere Eigenkapitalregeln umgesetzt. Dasist nicht der Fall.
Auf den Ärger mit den Briten will ich gar nicht einge-hen. Eine interessante Frage hinterher wird sein: Schaf-fen wir es wirklich, einheitliche Regeln umzusetzen?Die Briten sind ja bereits jetzt dabei, sich hier herauszu-stehlen, nachdem sie das Ganze erst erhöhen wollten.Jetzt wollen sie deutlich unterhalb der Kriterien bleiben.Das ist wirklich schwierig.Ich glaube, wir müssen aber auch über die Frage dis-kutieren: Reicht Basel III eigentlich aus? – Wenn mansich wissenschaftliche Studien anschaut, dann stellt manfest: Es gibt eine ganze Reihe solcher Studien, die sagen:Basel III ist zu lasch. Es bändigt die Banken nicht wirk-lich.Ich darf hier einmal Herrn Adair Turner zitieren, dersagt:Um das Finanzsystem wirklich sicher zu machen,müssten die Eigenkapitalauflagen für Banken deut-lich schärfer sein als Basel III.Immerhin ist er Chef der britischen Finanzmarktauf-sicht, ein ausgewiesener Experte, kein Vertreter irgend-einer Occupy-Bewegung.Auch andere Wissenschaftler haben sich dieser Über-legung angeschlossen. Sie sagen, bei einer Eigenkapital-quote von 16 bis 20 Prozent würde die Wahrscheinlich-keit neuer Finanzkrisen deutlich sinken.Wir wissen auf der anderen Seite, dass sich die Ban-ken aber vehement dagegen wehren, höhere Eigenkapi-talanteile zu unterlegen. Die große Frage ist: Kommt esdann wirklich dazu, dass die Zahl der Kredite, die verge-ben werden können, dann deutlich geringer wird? Wirdes zu einer Kreditklemme kommen? Wie sind die Aus-wirkungen auf die Realwirtschaft?Man wird das im Moment sicherlich nur ansatzweisebeurteilen können. Es gibt sehr seriöse Schätzungen, diesagen, die Auswirkungen deutlich höherer Eigenkapital-unterlegungen sind begrenzt. Also, zum Beispiel hat dieBank für internationalen Zahlungsausgleich einmal ge-sagt: Eine Verdoppelung der Basel-III-Quote würde dasWachstum um ungefähr 0,7 Prozent bremsen. Das wäredann natürlich ein relativ überschaubarer Preis für ein si-cheres Finanzsystem.Ich sage nicht, dass wir das fordern, ich sage nur, manmuss es sehr genau beurteilen, evaluieren und wissen-schaftlich begleiten.Wir wären schon froh, wenn es gelänge, Basel III imvereinbarten Zeitplan umzusetzen und eine vernünftigeEigenkapitalunterlegung zu schaffen.Die Bundesregierung ist aufgefordert, nun den Wor-ten auch Taten folgen zu lassen. Wir werden dann überdie entsprechenden Details reden. Wir können nur hof-fen, dass es sehr bald gelingt, auch wirklich Fakten zuschaffen.Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Manfred Zöllmer. – Nächster
Redner ist für die Fraktion der FDP unser Kollege Björn
Sänger. Bitte schön, Kollege Björn Sänger.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Wir beginnen heute die Beratungen über ein ganzzentrales Gesetzesvorhaben in der Regulierung derFinanzmärkte. Gemeinsam mit dem Bankenrestrukturie-rungsgesetz wird es meiner Auffassung nach das Funda-ment einer neuen Sicherheitsarchitektur darstellen.In der Tat ist es ein ungewöhnliches Verfahren, HerrKollege Zöllmer, wenn man mit den Beratungen be-ginnt, bevor die eigentliche Richtlinie in Brüssel fertigist. Das ist völlig richtig.Heute früh hat Ihr Kanzlerkandidat gesagt, man sollden europäischen Partnern nicht immer gleich mit derKavallerie drohen, wenn aus deutscher Sicht irgend-etwas nicht richtig läuft.
– Also, den europäischen; die Schweiz gehört ja nichtdazu.Insofern wundert es mich jetzt schon, dass Sie derAuffassung sind, dass hier am deutschen Wesen dannauch die Welt bzw. die europäische Welt genesen soll.
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Björn Sänger
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Tatsache ist, es hakt in Brüssel, aber – der Staats-sekretär Koschyk hat das schon sehr richtig gesagt – wirsind bereit, das umzusetzen. Insofern finde ich es auchrichtig und gut, dass die Bundesregierung jetzt mit denBeratungen beginnt, um auch einen kleinen Hinweisnach Brüssel zu geben, dass man dort vielleicht das eineoder andere Problem etwas schneller löst.Worum geht es? Es gibt zwei grundlegende Problemefür jedes Unternehmen, in Schwierigkeiten zu kommen.Das eine ist eine Überschuldung, das andere ist ein Li-quiditätsengpass. Beide Probleme haben wir im Rahmender Finanzkrise bei Banken gesehen. Beide Problemesind eben bei Banken aufgrund der Verflechtungen undauch der Wichtigkeit für die Realwirtschaft nicht soohne Weiteres zu lösen.Diese beiden Probleme werden mit dem Basel-III-Vorhaben oder CRD-IV-Vorhaben in den Griff zu be-kommen sein. Es wird eine risikoadäquate Eigenkapital-unterlegung geben. Es gibt eine neue Definition dessen,was überhaupt Eigenkapital ist, welche Qualität das ha-ben sollte. Auch hier herzlichen Dank an die Bundesre-gierung, dass die deutschen Besonderheiten entspre-chend berücksichtigt werden. Die sind gelöst.Darüber hinaus werden weitere Risiken, die es gebenkann, geregelt, beispielsweise das Gegenparteiausfall-risiko, das Risiko, das sich aus der Unternehmensfüh-rung einer Bank ergeben kann. Glücklicherweise ist dasalles so angelegt, dass wir über den Umsetzungsweg inForm einer Verordnung zumindest in Europa auf ein „le-vel playing field“ kommen. Aber ich erinnere noch ein-mal an den Entschließungsantrag, den dieses Haus imletzten Jahr zu diesem Thema mit großer Mehrheit be-schlossen hat. Wichtig ist, dass diese Regeln auf allen re-levanten Finanzmärkten dieser Welt umgesetzt werden.Die Abhängigkeit von Ratingagenturen wird durchdas Vorhaben reduziert werden. Es wird eine Stärkungdes internen Ratings geben, sodass wir dann insgesamtzu einer guten Aufstellung kommen: auf der einen Seitedie CRD-IV-Maßnahmen, die präventiv wirken, auf deranderen Seite das Bankenrestrukturierungsgesetz, dasdann, sollte es zu Problemen kommen, eine geordneteAbwicklung ermöglicht.Mit dem im Bankenrestrukturierungsgesetz vorgese-henen „living will“ werden sich Kreditinstitute so orga-nisieren müssen, dass sie problematische Teile relativschnell herauslösen können. Das ist im Prinzip eine ArtTrennbankensystem, das da entsteht. Diese Regelungenin Kombination mit der Einlagensicherung werden danndie Sparer schützen und unser Finanzsystem stabilisie-ren.Der Binnenmarktkommissar Barnier hat bei der Vor-stellung des Richtlinienentwurfs gesagt:Die Finanzkrise hat viele Familien und Unterneh-men in Europa hart getroffen. Wir dürfen nicht zu-lassen, dass es noch einmal zu einer solchen Krisekommen kann und unser Wohlstand durch einigewenige Finanzmarktakteure aufs Spiel gesetzt wird.Das ist richtig. Da ist schon viel erreicht worden, umVorsorge zu treffen. Es ist auch noch einiges offen. Aberes ist ein großes Verdienst dieser Bundesregierung, dasswir schon extrem weit gekommen sind.Das nutzt uns aber nichts, wenn die Regulierung amEnde dafür sorgt, dass die Finanzbranche nicht mehr inder Lage ist, ihrer Aufgabe vernünftig nachzukommen,nämlich die Realwirtschaft zu finanzieren; denn um denvon Herrn Barnier angesprochenen Wohlstand zu errei-chen, brauchen wir Wachstum. Das Wachstum mussfinanziert werden. Die kumulativen Wirkungen der Re-gelungen, die wir schon jetzt haben – es kommen nochweitere –, bereiten möglicherweise doch die eine oderandere Sorge, dass es hier zu Problemen kommt.Im Handwerk gibt es einen Spruch, der da lautet:Nach Fest kommt Ab. – Auch das muss beachtet werden.Insofern freue ich mich auf die Beratungen.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Kollege Björn Sänger. – Nächster Red-
ner in unserer Aussprache ist für die Fraktion Die Linke
unser Kollege Dr. Axel Troost. Bitte schön, Kollege
Dr. Axel Troost.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Diese Beratung hat schon eine gewisse Komik. Das istschon deutlich geworden, sowohl durch die Rede vonStaatssekretär Koschyk als auch vom Kollegen Zöllmervon der SPD. Wir beraten hier einen Gesetzentwurf.Aber die dazugehörige Richtlinie und Verordnung derEU liegen nicht vor. Insofern haben wir hier in der Tateine Hülle und keinen Inhalt, über den man wirklichkonkret streiten könnte.
Warum dieser unreife Gesetzentwurf? Sie wollen da-mit besondere deutsche Termintreue beweisen. In Pitts-burgh ist 2009 beschlossen worden, dass das Basel-III-Abkommen bis Ende 2012 vorliegen soll. In Pittsburghist aber auch beschlossen worden, dass sich bis dahinalle zu den UN-Millenniumszielen und zu der Entwick-lungshilfequote bekennen sollen. Dabei haben Sie bisherkeine solche Termintreue zeigen können.
Jetzt aber zum Basel-III-Abkommen selber. Wir sinduns in drei wesentlichen Punkten in der Tat einig: Ers-tens. Das Basel-III-Abkommen ist nur ein Element einerumfassenden Finanzmarktregulierung. Zweitens. Höhe-res und besseres Eigenkapital ist für Banken sinnvoll,weil Banken damit widerstandsfähiger sind. Drittens.Bank ist nicht gleich Bank. Das Basel-III-Abkommendarf nicht dazu führen, dass Sparkassen und Genossen-schaftsbanken auf der Strecke bleiben. Das würde das
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23884 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Dr. Axel Troost
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Finanzsystem nicht sicherer, sondern nur noch wackeli-ger machen.
Doch über dieses Grundsätzliche hinaus gibt es ausunserer Sicht allen Anlass, zu meckern. Die Reform gehtgrundsätzlich in die richtige Richtung. Sie wird der Tiefeder Krise und dem bestehenden Veränderungsbedarfaber nicht gerecht. Insbesondere differenziert die No-velle ungenügend zwischen auf der einen Seite den Ban-ken, die im internationalen Kapitalmarkt das große Raddrehen, und auf der anderen Seite den Tausenden kleinenBanken, welche hauptsächlich Spareinlagen verwaltenund private Haushalte sowie kleine und mittelständischeUnternehmen mit Krediten versorgen. Es sind aber diewenigen großen Banken vom Schlage einer DeutschenBank oder einer Commerzbank, die uns Kopfschmerzenbereiten, und nicht die vielen kleinen Sparkassen undGenossenschaftsbanken. Außerdem wird das Problemder Schattenbanken überhaupt nicht angegangen, son-dern bleibt völlig außen vor. Außer vagen Absichtserklä-rungen haben Sie zu diesem Bereich bisher rein garnichts geliefert.Doch bleiben wir bei den Banken im Engeren. Diesystemrelevanten Banken sollen einen Eigenkapitalzu-schlag von 1 bis 3,5 Prozent bekommen. Insgesamt liegtderen Eigenkapitalquote damit im historischen Vergleichaber immer noch relativ niedrig. Staaten wie dieSchweiz und Schweden wollen im nationalen Allein-gang deutlich höheres Eigenkapital verlangen.Laut Finance Watch, einer Organisation, die den Ka-pitalmarkt schon genau beobachtet, hätte in der jüngstenKrise – das ist eben auch angesprochen worden – eineEigenkapitaldecke von ungefähr 16 Prozent die meistenVerluste einzelner Banken absorbiert. Bei 24 Prozent– so deren Berechnung – hätten beinahe alle Verluste insämtlichen Bankenkrisen seit 1988 absorbiert werdenkönnen.Wir liegen aber mit den Entwürfen und den Gedankenbisher weit darunter. Gerade große Banken müssen abergezwungen werden, entsprechend mehr Eigenkapitalvorzuhalten. Doch Sie lehnen entsprechende Zuschlägein großem Umfang für systemrelevante Banken ab. Ba-sel III ist daher wesentlich zu zaghaft. In den letzten Jah-ren haben sich zahlreiche Finanzprodukte, Institute undGeschäftsmodelle entwickelt. Dafür gab es immer denApplaus, weil die Märkte das entwickelt haben. Dannhat man gesagt: Wir wollen eine Art Selbstregulierunghaben. Diese Selbstregulierung ist nach wie vor auch dieLogik von Basel III. Sie drehen sie nur etwas zurück.Seit Basel II können Banken nämlich ihr eigenes Risi-komanagement anwenden. Es ist eben die Frage, ob dasausreichend und sicher ist. In Zeiten, in denen alles gutgelaufen ist, gab es hohe Boni und Gewinne. Als es dannschlecht lief, mussten die Steuerzahler und die Staaten indie Bresche springen. Wir sagen daher: Die Höhe des Ei-genkapitals zu bestimmen, ist Aufgabe der Aufsicht undnicht Aufgabe der Bank selbst oder privater Agenturen.
Deshalb fordern wir, keine mit internen Modellen be-rechneten Risikogewichte zu akzeptieren. Wir fordernauch, sämtliche Passagen aus dem Gesetz herauszuneh-men, in denen externe Ratings zugrunde gelegt werden.Wir fordern eine Aufsicht auf Augenhöhe bei den Ban-ken und mit den Banken. Wir müssen uns trauen, denBanken in der Tat Vorgaben zu machen, die eine ausrei-chende Eigenkapitalvorsorge bedeuten und den interna-tionalen großen Banken, die am großen Rad drehen, soviel Rückhalt geben, dass sie im Falle einer Auseinan-derentwicklung bzw. einer Krise Auffanglösungen ausdem Eigenkapital haben und nicht die Staaten zu Ret-tungsaktionen herangezogen werden.Danke schön.
Vielen Dank, Kollege Dr. Axel Troost. Nächster Red-
ner in unserer Aussprache ist für die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen Dr. Gerhard Schick. Bitte schön, Kol-
lege Dr. Gerhard Schick.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Inder Tat ist es bemerkenswert, dass das Regelwerk auf eu-ropäischer Ebene noch nicht fertig ist und wir hier trotz-dem schon eine Vorlage haben. Ich finde, es ist aber ei-gentlich sinnvoll, dass wir versuchen, so zügig wiemöglich an die Umsetzung zu gehen und den Prozess zubeginnen.Wenn man über die Verhandlungen in Brüssel redet,muss man, finde ich, aber einmal sagen, was da eigent-lich die Verhandlungsposition ist und wer da auf welcherSeite steht. Darüber habe ich noch nicht viel gehört. Dererste Punkt sind die Liquiditätsregeln. Aus dem Rat, demVertreter der Regierungen, wird verhindert, dass ein fes-tes Datum festgelegt wird. Das Parlament will hier einfestes Datum für die Einführung festlegen. Ich glaube,das ist auch sinnvoll.
– Sie können nachher gerne Ihre Ausführungen machenund das darlegen.
– Ich habe nicht widersprochen. An dieser Stelle ist esvielleicht ausnahmsweise einmal nicht die Bundesregie-rung. Das können Sie nachher gerne ausführen. Sonstmelden Sie sich bitte zu einer Zwischenfrage, wenn Siedas genauer haben wollen.Der zweite Punkt sind die Bonuszahlungen. VieleMenschen haben sich zu Recht darüber empört, dassMillionenboni dazu geführt haben, dass Banken großeRisiken eingehen und nachher genau die Leute, die Bonikassiert haben, nicht die Verantwortung übernehmen,wenn es schiefgeht.
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Dr. Gerhard Schick
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Unsere grüne Position im Europäischen Parlament ist,dass wir die Bonuszahlungen so tief drücken, dass sienicht höher sind als das Fixgehalt – höchstens eins zueins. Die Regierungen der Mitgliedstaaten wollen diesePosition aufweichen. Ich glaube, es ist im Interesse derBürgerinnen und Bürger und eines stabilen Finanzmark-tes, dass wir zu Regelungen für niedrigere Bonuszahlun-gen kommen und die Fehlentwicklungen in der Vergan-genheit endlich korrigieren.
Dann geht es um die Aufschläge für systemische Ban-ken. Dabei muss man sagen: Es ist notwendig, dass wirfür große Banken einen zusätzlichen Kapitalpuffer auf-bauen, der mit zusätzlicher Größe ansteigt. Es ist näm-lich so, dass seit Ausbruch der Finanzkrise viele Institutenoch größer geworden sind und damit die Gefahr bei ei-nem Zusammenbruch noch gewachsen ist. Deswegensind wir Grünen für eine Größenbremse für Banken, diesicherstellt, dass Größe sich nicht lohnt, sondern teuerwird, und wollen auch im Europäischen Parlamentdurchsetzen, dass es Aufschläge gibt, die auf europäi-scher Ebene gemeinsam etabliert werden.
Es geht auch darum, dass die europäische Bankenauf-sicht festlegen kann, wie die Qualität des Kapitals ausse-hen soll. Auch hier stehen wieder die nationalen Regie-rungen im Rat auf der Bremse. Wir diskutieren über eineeuropäische Bankenaufsicht, und gleichzeitig wird nochdabei gebremst, gemeinsame europäische Standards überdie bereits bestehende europäische Bankenaufsichtdurchzusetzen. Ich glaube, es ist notwendig, dass wirhier einen Schritt vorankommen.Ich will noch zu einem weiteren Punkt kommen, derwichtig ist: Was leistet eigentlich Basel III in Bezug aufdie Eigenkapitalausstattung? Das ist der zentrale Kernder neuen Regulierung. Wir können sehen, dass man im-mer noch bei dem alten Modell bleibt.Ich nehme das Beispiel Deutsche Bank: Bilanz2,2 Billionen Euro. 56 Milliarden Euro sind regulativesEigenkapital. Trotzdem heißt es: Die Kapitalquote be-trägt 9,5 Prozent. Das klingt erst einmal viel und hörtsich nach Stabilität an. Aber wenn man die zwei genann-ten Größen zueinander ins Verhältnis setzt, kommt manauf eine Relation von 2,5 Prozent. Dann sieht man denUnterschied in der Frage, ob man es den Banken wie bis-her erlaubt, ihre Bilanz kleinzurechnen und damit einegrößere Kapitalquote auszuweisen, als vorhanden ist,oder ob wir ein stabileres System mit einer Schulden-bremse für Banken schaffen, indem wir wirklich fragen:Wie ist das Verhältnis von Eigenkapital zur gesamten Bi-lanzsumme?Dabei müssen wir eines sehen: Auch fünf Jahre nachAusbruch der Finanzkrise wird in Deutschland einerBank wie der Deutschen Bank eine Eigenkapitalausstat-tung von nur 2,5 Prozent erlaubt. Dieselbe Bank würdeeinem mittelständischen Unternehmen, das nur 2,5 Pro-zent Eigenkapital hat, nie einen Kredit geben. Dazu sagenwir Grünen zusammen mit vielen wissenschaftlichen In-stitutionen: Es braucht definitiv eine Untergrenze, eineSchuldenbremse für Banken. Wir wollen ein Eigenkapi-tal von 5 Prozent als Minimum vorschreiben, wie es inKanada bereits der Fall ist, wo wir unter anderem bei ei-ner Reise des Finanzausschusses gelernt haben, dassauch deswegen die kanadischen Banken von der Krisenicht so stark getroffen worden sind wie die deutschenBanken.Dabei ist ein Punkt sehr wichtig. Dass die deutscheBundesregierung – in dem Fall war es wirklich die deut-sche Bundesregierung, und dazu müssen auch die Koali-tionsfraktionen stehen – in Basel, vertreten durch dieBundesbank, und in Brüssel darauf gedrängt hat, dassdie Leverage Ratio, also die ungewichtete Eigenkapital-untergrenze, nicht festgeschrieben wird, sondern wir erstnoch fünf Jahre beobachten, halte ich für falsch. Dastand die Bundesregierung auf der falschen Seite. Dennwir müssen es endlich schaffen, Stabilität sicherzustel-len. Es ist viel zu gefährlich, Banken mit so wenig Ei-genkapital zuzulassen.
Wir haben jetzt einen großen Gesetzentwurf mit sehrvielen einzelnen Punkten vor uns. Sie sind schon ge-nannt worden: Es geht um Anpassungen bei der Renten-bank – das halten wir für sinnvoll –, es geht darum, dasin vielen einzelnen Punkten anzupassen.Dann haben wir die Möglichkeit, nationale Wahl-rechte auszuüben. Da gilt es jetzt wieder, genau hinzu-schauen, was uns eigentlich die Koalition hier vor-schlägt. Das ist im Kern unsere Aufgabe als DeutscherBundestag: zu entscheiden, welche dieser Wahlrechtewir wie ausüben. Wir stellen fest, dass bei entscheiden-den Punkten, bei denen der nationale Gesetzgeber dasumsetzen kann – zum Beispiel bei der Frage der Risiko-gewichtung bei Immobilienkrediten –, die Bundesregie-rung uns vorschlägt, diese Wahlrechte nicht zu nutzenund damit aufsichtsrechtlich bei uns nicht so stark auf-gestellt zu sein, wie wir es sein könnten. Angesichts derEntwicklung, dass wir an manchen Stellen gerade inDeutschland im Immobiliensektor eine beginnendeBlase haben, halten wir es für falsch, an dieser Stelle dieWahlrechte nicht auszunutzen. Vielmehr müssten wirauch national entsprechend dort vorsorgen, wo uns daseuropäische Recht die Möglichkeit dazu gibt.Es gibt also Bedarf, nachzusteuern: zum einen beimThema Leverage Ratio, also beim Thema Schulden-bremse für Banken. Wir wollen eine stabile Eigenkapi-taluntergrenze. Zum anderen müssen wir dafür sorgen,dass die nationalen Wahlrechte so ausgeübt werden, dassder deutsche Finanzmarkt stabil ist. Denn eines mussman in Deutschland zur Kenntnis nehmen – die interna-tionalen Vergleiche sind sehr eindeutig –: Im internatio-nalen Vergleich – ich zitiere den Global Financial Stabi-lity Report des Internationalen Währungsfonds vomOktober 2012, also ganz aktuell – sind die deutschen
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23886 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Dr. Gerhard Schick
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Banken diejenigen mit der schwächsten Eigenkapital-ausstattung. Das heißt, wir haben hier noch richtig waszu tun.Danke.
Vielen Dank, Kollege Dr. Gerhard Schick. – Nächster
Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege
Klaus-Peter Flosbach. Bitte schön, Kollege Klaus-Peter
Flosbach.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirsind im fünften Jahr der Banken- und Finanzenkrise. Je-der Presseartikel, jedes Buch, jeder Wissenschaftler, derüber die Krise spricht, wird über das Eigenkapital vonBanken sprechen. Überall wird dargelegt, die erste Er-kenntnis aus dieser Krise sei gewesen, dass die Bankenmehr Eigenkapital haben müssen. Dies setzt sich in allenBereichen durch, und deswegen unterscheiden wir unsauch in dieser Grundsatzfrage nicht. Die Risiken werdengemindert, je mehr Eigenkapital da ist. Auch viele unse-rer Diskussionen über Trennbanken, über Fragen der In-solvenz oder über Einlagensicherung relativieren sich, jemehr Eigenkapital im Bankensystem vorhanden ist.Weil das so eine zentrale und wichtige Frage ist, stel-len wir uns als Regierungspartei natürlich auch dieFrage, warum sich der Kanzlerkandidat der SPD, der ineinem Papier von 5 plus 25 Seiten dargelegt hat, wie erdas alles regulieren würde, nicht dazu bequemt, docheinmal in dieses Parlament zu kommen, um mit denFinanzpolitikern über diese zentrale Frage zu diskutie-ren.
Das mag auch daran liegen, dass in seiner Stellung-nahme von diesen insgesamt 30 Seiten sich überhauptnur eine einzige Seite mit diesem Thema beschäftigt hat,das allgemein als die zentrale Sache der Finanzmarkt-regulierung anerkannt ist.Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute geht es umdie Umsetzung der europäischen Richtlinie. Es ist einRahmenwerk zur Stärkung der Widerstandskraft derBanken, auch bekannt geworden unter dem Thema Ba-sel III, weil es eben in Basel einen Ausschuss gibt, deraus Notenbankern und Vertretern von Aufsichtsbehördenbesteht und im Grunde die Standards für die Finanz-marktstabilität festlegt.Es ist von den Kollegen angesprochen worden, dasswir bereits jetzt beginnen. Wir haben seit dem 22. Au-gust einen Kabinettsentwurf vorliegen, obwohl die Ent-scheidung auf der europäischen Ebene in der Tat nochnicht gefallen ist.Wir waren letzte Woche mit einigen Kollegen imfranzösischen Parlament und haben dort einen Unter-schied in der Finanzdiskussion festgestellt. Wir habennämlich einen anderen parlamentarischen Prozess als dieFranzosen, die das möglicherweise in ganz kurzer Zeitverabschieden, während wir uns sehr intensiv überMonate mit diesem Thema beschäftigen. Ich halte es fürrichtig, dass wir das machen, auch wenn noch nicht jedesDetail geklärt ist.Auf der europäischen Ebene gibt es noch ein Vermitt-lungsverfahren zwischen dem Europäischen Parlament,der Europäischen Kommission und dem EuropäischenRat, bekannt als das Trilogverfahren. Nach meinen Er-kenntnissen wird sich das noch einige Monate hinziehen.Ich glaube nicht, dass wir den 1. Januar halten können.Die Ziele sind aber dennoch festgelegt worden, wobei essich hier um folgende Fragen handelt: Wie schaffen wireine größere Widerstandskraft? Wie sieht es mit Risiko-management aus, und wie sieht es mit Transparenzsyste-men aus?Zentral ist aber auf jeden Fall, dass deutlich gemachtwird: Wir brauchen mehr Eigenkapital im Bankensys-tem, sowohl von der Qualität als auch von der Quantitäther. Die normalen Banken müssen bis zum Jahre 2019,also Zug um Zug, diese Vorgabe auch hier in Deutsch-land umsetzen. Das ist für die eine oder andere Bankaber nicht ganz einfach, weil die Banken neben der Be-schaffung von zusätzlichem Eigenkapital auch noch dieBankenabgabe zu tragen haben. Zudem sind wir auf demWeg zur Finanztransaktionsteuer. Es ist also mit weite-ren Belastungen zu rechnen.Bei dem Treffen der G 20 in Cannes ist deutlich ge-worden: Je größer eine Bank ist, desto mehr Eigenkapi-tal muss vorgehalten werden. Deswegen kann ich hiernicht den Eindruck bestätigen, dass die großen Bankenkein erhöhtes Eigenkapital vorlegen müssten. Gerade inCannes ist noch einmal eine Erhöhung um 2,5 Prozent-punkte vorgenommen worden. Wir haben mehr oder we-niger positiv auch die sogenannten Stresstests in Europabegleitet, die EBA-Stresstests, deren Ergebnis war, dass13 deutschen Banken gesagt wurde, sie müssten deutlichmehr Eigenkapital schon bis zum 30. Juni des Jahres2012 vorhalten. Hier ging es allein um eine Summe von13 Milliarden Euro. Wichtig ist, dass die großen Bankennatürlich deutlich mehr Eigenkapital vorhalten müssen.Wir haben hier heute morgen auch schon über dieBankenunion gesprochen. Da geht es um die Frage, obdie Europäische Zentralbank eine neue Aufsichtsposi-tion übernehmen soll. Meines Erachtens ist es bei dieserDiskussion über Basel III oder CRD IV einfach wichtig,dass wir auch in den nächsten Monaten darauf achten,dass wir die Regulierung angemessen, proportional um-setzen. Das heißt, kleine Banken dürfen nicht so kontrol-liert werden wie große Banken. Was die Sparkassen unddie Volksbanken angeht, sollte deutlich werden, dasshier proportional kontrolliert und beaufsichtigt wird,aber nicht das Gleiche wie bei den großen Banken ge-macht wird.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben nun ein-mal in Europa unterschiedliche Bankensysteme. Für unswar es sehr wichtig, dass auch bei der Definition desEigenkapitals auf die Rechtsformneutralität geachtetwurde. Rechtsformneutral heißt, dass die sogenannten
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Klaus-Peter Flosbach
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stillen Einlagen unserer Sparkassen oder die Genossen-schaftsanteile der Genossenschaftsbanken als hartesKapital akzeptiert werden.Wir diskutieren über die Liquidität und haben in derKrise erfahren, dass gerade die Liquidität bei den Ban-ken ein ganz großes Problem gewesen ist. Auch hier gibtes noch Fragen, zum Beispiel wie Liquidität definiertwird.Als sehr problematisch sehe ich den Ansatz an, denHerr Schick gerade angesprochen hat; wir werden ihndiskutieren. Auch Herr Steinbrück hat das in seinemPapier vorgelegt. Es geht darum, dass möglicherweisePrivatanleger, die ein Haus bauen, nicht nur 20 ProzentEigenkapital vorweisen müssen, sondern Immobilienmöglicherweise nur bis zu 60 Prozent finanziert werdenkönnen, dass also ein höheres Eigenkapital vorhandensein muss. Ich vermute, das würde manchem die Mög-lichkeit nehmen, ein Haus zu bauen. Die Erfahrung, diewir mit dem Hypothekensystem hier in Deutschland ge-sammelt haben, ist meines Erachtens sehr gut. Wir er-möglichen auch Beziehern kleinerer Einkommen, eineImmobilie zu erwerben. Ich möchte an diesem Systemnicht rütteln.
Es gibt auch Kritik am jetzigen Verfahren, nämlichdass es eine Verordnung gegeben hat. Wir haben auchdie Möglichkeit, einen Teil über eine Richtline umzuset-zen. Wir haben nationale Einflussmöglichkeiten, ins-besondere was die Aufsicht angeht. Das betrifft die Kon-trolle vor Ort, aber auch die Abhängigkeit von externenRatings oder die Sanktionierung bei Verstößen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Trilog, das Ab-stimmungsverfahren, läuft. Auch wir fordern, dass Mit-telstandskredite anders unterlegt werden, dass also dieMöglichkeit zur Finanzierung unserer Realwirtschaft,insbesondere unserer mittelständischen Wirtschaft, ent-sprechend berücksichtigt wird. Auch werden wir prüfenmüssen, ob die Bewertung von Beteiligungen so ange-messen ist. Aber ich denke nach wie vor: Es ist undbleibt das Kernthema.Ein letzter Satz noch einmal zu Steinbrück: In den25 Seiten seiner Vorlage hat er auf eines überhaupt nichthingewiesen, was möglicherweise für uns auch Gegen-stand einer Diskussion sein wird, nämlich auf die Eigen-kapitalunterlegung für Staatsanleihen. Mit diesemThema müssen wir uns in den nächsten Jahren beschäfti-gen. Das ist das zentrale Problem der jetzigen Staats-schuldenkrise. Dass dieses Thema von Herrn Steinbrücküberhaupt nicht angesprochen worden ist, zeigt dochnur, dass er sich die Möglichkeiten einer höheren Staats-verschuldung auch in Zukunft nicht nehmen lassen will.
Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Klaus-Peter Flosbach.
Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die
Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege
Dr. Carsten Sieling. Bitte schön, Kollege Dr. Carsten
Sieling.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichfühle mich heute der größten Herausforderung meinerParlamentarierzeit unterworfen.
Das liegt vor allem daran, dass wir heute einen Gesetz-entwurf beraten, der – mehrere vor mir haben es gesagt –noch gar keine Grundlage hat.
Es gibt einen Kabinettsbeschluss vom 22. August; aberden wollen wir ja noch verändern. In Wirklichkeit hatdieses Gesetz noch überhaupt keine Grundlage.
Auch Sie sagen, dass Sie es anders machen wollen. Wirstehen hier und müssen über einen schwebenden Vor-gang reden. Das ist nahezu eine artistische Übung. Ichnenne das ein virtuelles Gesetz – und das zu einer sowichtigen Frage. Ich hätte erwartet, dass Sie – KollegeFlosbach hat einige Punkte angesprochen – etwas klarersagen, was die Bundesregierung denn wirklich an hartenVerhandlungspunkten einbringen will. Das brauchen wir.Der Vorgang ist zu ernst. Es muss eine ernsthafte Regu-lierung in diesem Land, aber auch auf der europäischenEbene geben.
Ich sage mit Blick auf die Verhandlungsposition derBundesregierung: Wir müssen in viel stärkerem Maße,als das im Rahmen von Basel III ursprünglich vorgese-hen war, nicht nur in Deutschland, sondern auch im in-ternationalen Raum die Besonderheiten der Bankaktivi-täten gewichten und unterstreichen.Ich will, damit Sie nicht auf dumme Ideen kommen,in dieser Debatte noch einmal sagen, was wir Sozial-demokraten uns vorstellen. Wenn Sie sich einmal die Mühemachen würden, sich das Papier von Peer Steinbrück ge-nau anzuschauen, würden Sie sehen, dass die dort vorge-schlagene Regulierung durchgreift und richtig ist. Dareichen die lockeren Leistungspunkte, die Sie hier vorle-gen, bei weitem nicht hin; da müssen Sie schon mehr aufden Tisch legen.Bei diesem Mehr geht es insbesondere um das Ver-hältnis von Risiken und Haftung. Das ist ein wesentli-ches Grundprinzip. Da bedarf es einer größeren Anstren-
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Dr. Carsten Sieling
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gung und klarer Veränderungen. Bisher ist überlegtworden, dass unterschiedliche Risiken auch unterschied-lich behandelt werden sollen. Das muss ein Grundakzentsein.Der wichtigste Aspekt ist in diesem Zusammenhang,dass wir bei den Eigenkapitalregeln, aber auch bei denLiquiditätsregeln – inklusive der Leverage Ratio, derVerschuldungsgrenze – die Größe der Institute ins Augefassen müssen; ich komme gleich noch einmal darauf zusprechen. Ich will an dieser Stelle sagen: Die 2,5 Pro-zentpunkte, um die die Anforderungen noch einmal er-höht worden sind, reichen uns nicht. Das ist nicht genug,um den Sektor sicher zu machen.
Wir werden uns aber auch das Geschäftsverhalten ge-nauer anschauen müssen. Nicht umsonst kommen wir zudem Vorschlag eines Trennbankensystems, also einerTrennung der Aktivitäten. Wir halten das gerade in Ver-bindung zu den realwirtschaftlichen Notwendigkeitenfür bedeutend. Dass mit Mittelstandskrediten anders um-gegangen werden muss als mit spekulativen Geschäftenoder mit Eigenhandel von Banken, ist klar. Das sind un-terschiedliche Risiken, und die sind unterschiedlich zubehandeln.
Damit sind wir bei den unterschiedlichen Instituten.Wir wissen: Die, die mit ihrem Kreditgeschäft die ge-werbliche Wirtschaft, die Industrie, ja wirtschaftlicheAktivitäten im Land überhaupt unterstützen, sind inüberdurchschnittlichem Maße Sparkassen und Genos-senschaftsbanken. Trotz aller Bemühungen der Groß-banken muss man eigentlich sagen: Großbanken sindwirtschaftspolitische Blindgänger. Ich finde, das mussman auch entsprechend gewichten.Ein weiteres Thema, das ich ansprechen möchte, istdie Auswirkung auf die Kommunalfinanzierung. Das hatmit den Volksbanken und den Sparkassen zu tun. WirSozialdemokraten machen uns große Sorgen, dass es imZusammenhang mit der Leverage Ratio, der Verschul-dungsgrenze, zu unterschiedlichen Herangehensweisenkommt. Das, was ich gerade differenziert ausgeführthabe, gilt auch dort.Kollege Schick hat das Europäische Parlament ange-sprochen. Ich finde, nicht alle Ebenen des Vorschlagsdes Europäischen Parlaments sind umfänglich betont.Das Europäische Parlament hat einen Vorschlag mit dreiStufen gemacht. Die erste Stufe heißt: Banken, die im-mer noch meinen, Spekulationsgeschäfte betreiben zumüssen, müssen eine Leverage Ratio von 5 Prozent er-füllen. Normale Risiken werden mit 3 Prozent und dasrisikoarme, margenschwache Geschäft wird mit einerObergrenze von 1,5 Prozent belastet. Ich finde diesenVorschlag richtig. Wir sollten das, was dazu im Europäi-schen Parlament angedacht wird, in die Debatte aufneh-men. Das zu diesem Punkt.
– Herr Kollege, Sie werden gleich noch die Gelegenheithaben, hier zu reden. Es wäre schön, wenn Sie darlegenwürden, was durch den Eigenhandel passiert ist, wie sichviele Sektoren entwickelt haben und wie wir dort ein-greifen und begrenzen müssen. Ich sage Ihnen an dieserStelle – hierzu möchte ich, Herr Kollege Wissing, einklares Wort von Ihnen hören –: Die Boni müssen deut-lich reduziert werden. Ich bin sehr dafür, dass die flexi-blen Bestandteile, also Prämien und Ähnliches, Anreize,die auch in die falsche Richtung führen können, nichthöher sein dürfen als die festen Bestandteile. Ich willauch sagen: Es muss auch eine steuerliche Begrenzungder Absetzbarkeit von Boni geben. Das ist jedenfalls un-sere Position als Sozialdemokratinnen und Sozialdemo-kraten.
Lassen Sie mich zum Schluss etwas sagen, weil ichahne, was jetzt kommt. Mich erinnert das immer an denunvergessenen Rudi Carrell. Ich bitte aber darum, Kol-lege Wissing, heute nicht so viel an Carrell zu denken.Rudi Carrell hat gesagt: Schuld ist immer die SPD, andem schönen Wetter, aber auch am schlechten Wetter. –Ich befürchte, dass jetzt wieder eine Rede kommt, diesich leider nicht mit dem Thema auseinandersetzt, son-dern das Lied zu singen versucht: Schuld ist immer dieSPD. Ich sage: Vorangehen wird es in diesem Land undeine ordentliche Regulierung wird es geben, wenn dieSPD wieder mehr zu sagen bekommt und regiert.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Kollege Dr. Sieling. – Nächster Redner
ist der Kollege Dr. Volker Wissing für die FDP. Wir
haben eben gehört, die Erwartungen an ihn vonseiten der
Sozialdemokraten sind sehr groß. Bitte schön, Kollege
Volker Wissing.
Herr Präsident! Ich danke Ihnen. Falls Rudi Carrelljemals gesagt haben sollte: Schuld ist immer nur dieSPD
– oder es gesungen hat –, dann kann man feststellen,dass er ein kluger Kopf gewesen ist.
Ich möchte heute über das Thema Basel III reden. Ichsage Ihnen: Wir haben Lehren aus der Krise gezogen.Wir haben in der Krise gesehen, dass Banken Problemehatten, weil sie keine ausreichende Liquidität hatten. Wir
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Dr. Volker Wissing
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haben gesehen, dass Banken Probleme hatten, weil siekein ausreichendes Eigenkapital hatten. Wir haben unszu Beginn dieser Legislaturperiode als Koalitionsfrak-tion die Frage gestellt: Welches sind die zentralen Leh-ren aus dieser Krise? Wir haben gesagt: Der Schwer-punkt muss darauf liegen, die Eigenkapitalausstattungder Banken zu verbessern und Liquiditätspuffer zuschaffen, damit sich das Gleiche nicht wiederholt. Dannhaben wir gesagt: Wir brauchen auch einen Restrukturie-rungsfonds. Für den Fall, dass Banken wieder ins Strau-cheln geraten, soll der Steuerzahler nicht dafür aufkom-men. Dafür brauchen wir eine Bankenabgabe. Die mussder Höhe nach so ausfallen, dass genügend Möglichkei-ten vorhanden sind, Liquiditätspuffer zu finanzieren undEigenkapitalvorsorge zu treffen.Sie haben sich für einen anderen Weg entschieden.Sie haben – Sie lassen hier im Plenum keine Gelegenheitaus, das zu betonen; das gilt auch für Peer Steinbrückmit seinem Papier – den Schwerpunkt auf eine höhereBankenabgabe gelegt und sagen immer, dass sie nochhöher sein muss. Deswegen können Sie sich hier nichtglaubwürdig hinstellen und sagen, Basel III sei derrichtige Weg. Der Weg, den Sie immer propagieren, isteine höhere Bankenabgabe. Der Weg, den wir für besserhalten, ist Basel III: Eigenkapitalvorsorge, Liquiditäts-puffer.
Deswegen ist es falsch und außerdem scheinheilig,wenn Sie sich Basel III zu eigen machen. Sie argumen-tieren immer gegen diesen Regulierungsansatz. Wir ha-ben uns für einen anderen Ansatz entschieden als Sie;wir haben uns Basel III zu eigen gemacht, weil mit Ba-sel III genau die richtigen Lehren aus der Krise gezogenwerden.
Sie wollen einen staatlichen Fonds füllen; Sie könnenden Menschen jedoch nicht erklären, wie eine Bank1 Euro aus ihrem Gewinn gleich dreimal ausgeben kann.
1 Euro bleibt 1 Euro. Dann kommen Sie auch nochund verlangen, dass Banken möglichst hohe Finanz-transaktionsteuern und zugleich eine höhere Bankenab-gabe bezahlen und dann auch noch für Eigenkapitalvor-sorge und Liquiditätspuffer sorgen.
Ich wiederhole: 1 Euro ist 1 Euro, und wenn die So-zialdemokraten das nicht verstehen, belegen sie damitnur, dass sie eben immer falsch liegen und nicht rechnenkönnen.
Das Gute an Basel III ist, dass es bereits erste Wir-kungen zeitigt
und die Banken ihre Geschäftsmodelle heute schon da-nach ausrichten. Ich kann Ihnen nur sagen: Ihre Vor-würfe, die Sie heute versuchsweise eingestreut haben,nämlich dass Basel III von der Bundesregierung nichtschnell genug vorangetrieben würde, sind schlicht undeinfach falsch.Wenn an der einen oder anderen Stelle gebremst wird,dann kommt das eher vonseiten der französischen Regie-rung. Das sind diejenigen, zu denen Sie noch hingefah-ren sind und die Sie als die Besseren in Europa bezeich-net haben. Das sind Ihre Freunde. Eine Verzögerungkommt jedoch keinesfalls von einer christlich-liberalenKoalition, die Basel III entschieden voranbringt. Sie lie-gen tatsächlich in allen Punkten falsch. Rudi Carell hatrecht, lieber Kollege Sieling.
Herr Kollege Wissing, der Kollege Dr. Schick will
Ihre Redezeit verlängern, indem er Ihnen eine Zwischen-
frage stellt.
Ja, bitte.
Bitte schön.
Herr Kollege, ich würde gerne wissen – jetzt gar nicht
auf Frankreich bezogen, sondern auf Deutschland –, ob
Sie es richtig finden, dass wir es weitere fünf Jahre zu-
lassen, dass Banken mit weniger als 3 Prozent Eigenka-
pital arbeiten können. Nehmen wir als Beispiel die Deut-
sche Bank mit 2,5 Prozent. Oder sind Sie der Meinung,
dass mehr Eigenkapital nötig ist?
Herr Kollege Schick, im Gegensatz zu Ihnen bin ichder Meinung, dass die Bankenabgabe nicht erhöht wer-den sollte, sondern dass sie auf dem derzeit richtigen jus-tierten Maß bleiben sollte. Außerdem bin der Meinung,dass das Eigenkapital kontinuierlich auf ein ausreichen-des Niveau angehoben werden muss.Dabei muss man jedoch die Tatsache im Blick behal-ten, dass die notwendige Kreditvergabe und somit dieLiquiditätsversorgung der Wirtschaft sichergestellt wer-den muss. Dies zeichnet das Augenmaß der christlich-liberalen Regierung aus, während Sie, ebenso wie dieSozialdemokraten, den Menschen in Deutschland einre-den, man könne 1 Euro dreimal, viermal oder fünfmalausgeben. Das hat mit der Realität nichts zu tun.Deswegen müssen Sie sich klar bekennen: Wollen Siehöhere Bankenabgaben, wollen Sie hohe Finanztrans-aktionsteuern für die Banken, oder wollen Sie ein höheresEigenkapital? Sie stehen nämlich mit all Ihren Forderun-gen gegen eine höhere Eigenkapitalausstattung. Also be-haupten Sie hier doch nicht immer wieder das Gegenteil!
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Dr. Volker Wissing
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Entscheiden Sie sich doch einmal, was die Bankenmit ihren Gewinnen machen sollen! Man kann 1 Euronur einmal ausgeben. Eins und eins ist eins und nichtdrei.
– Eins bleibt eins und ist nicht zwei oder drei. Ja, HerrSieling, ist ja gut.
Die Frage ist beantwortet.
Den Mitgliedern des Finanzausschusses wird immer
unterstellt, das Einmaleins bestens zu kennen.
Eins bleibt eins, liebe Kollegen. Freuen Sie sich, das
ist geschenkt. – Sie werden jedoch von dieser Fragestel-
lung nicht loskommen. Sie können sich nicht hinstellen
und den Leuten immer wieder sagen, die Bankenabgabe
sei zu niedrig, die Finanztransaktionsteuer müsse kom-
men und das Eigenkapital sowie der Liquiditätspuffer
seien zu niedrig.
Sie müssen den Banken irgendwann die Frage beant-
worten, woraus das Ganze finanziert werden soll.
Das geht ja nur aus dem Gewinn, und den gibt es eben
nur einmal. Das wollte ich Ihnen verdeutlichen.
Deswegen führt das, was auf europäischer Ebene mit
Basel III vorangebracht wird, zur Schließung weiterer
Lücken im Regulierungssystem. Das ist genau der rich-
tige Weg, um unseren Bankensektor sicherer zu machen,
begleitet von einer Aufsichtsreform, die wir in dieser
Woche im Finanzausschuss beraten haben.
Das Ganze wird begleitet von vielen einzelnen Schrit-
ten, die unseren Finanzsektor stabiler machen, sowie von
einer europäischen Aufsichtsreform. Am Ende werden
wir in Europa ein stabiles Finanzsystem vorfinden. Ich
freue mich jedenfalls, dass Basel III schon heute in den
Geschäftsmodellen der Banken antizipiert wird. Es ist
ein gutes Gesetz. Sie hingegen sollten sich endlich ein-
mal entscheiden, welche Regulierung Sie für richtig hal-
ten. Die Quadratur des Kreises, die Sie vorschlagen, ist
jedenfalls nicht möglich. Deswegen bleiben wir dabei:
Wir haben Lösungsansätze, Sie liefern nur Papier.
Vielen Dank, Kollege Dr. Volker Wissing. – Der
letzte Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion
der CDU/CSU unser Kollege Ralph Brinkhaus. Bitte
schön, Kollege Ralph Brinkhaus.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine Damen undHerren! Eigentlich ist heute ein ziemlich historischerTag. Wir hatten 2008 eine fundamentale Bankenkrise,die nicht nur dazu geführt hat, dass wir zweistellige Mil-liardenbeträge an Liquidität in die Banken hineinpustenmussten und dreistellige Milliardenbeträge als Haftungbereitgestellt haben, sondern auch dazu, dass es einenveritablen Konjunkturabschwung und Ausfälle bei denSteuer- und Sozialversicherungseinnahmen in Milliar-denhöhe gab. Nicht zuletzt hat die Bankenkrise dazu ge-führt, dass die Menschen in diesem Land nicht nur dieFrage nach der Sinnhaftigkeit des Bankensystems, son-dern auch die Systemfrage gestellt haben. Wir alle in derPolitik, die wir hier sitzen, wissen eines: Wenn sichsolch eine Bankenkrise wiederholt, dann haben wir ganzandere Fragen zu beantworten als jene, die wir heute zubeantworten haben.Die Politik hat sich deswegen damals, zur Zeit derGroßen Koalition, auf den Weg gemacht, die Banken zuregulieren. Uns war eines immer klar: Vorschriften zuEigenkapital und Liquidität sind die wichtigsten Instru-mente, um Banken zu regulieren. Nach 2008 hat es vierJahre gedauert, bis wir zum heutigen Tag gekommensind, an dem wir versuchen, entsprechende Instrumentein deutsches Recht umzusetzen. Das ist bemerkenswert.Wenn wir die Debatte, die wir heute führen, vor vier Jah-ren geführt hätten, dann hätte sie mehr Aufmerksamkeiterregt, dann wäre sie insbesondere vonseiten der Oppo-sition etwas intensiver und weniger lustlos geführt wor-den.
Ich habe gesagt: Wir haben uns auf den Weg gemacht,die Banken zu regulieren. Man kann die Maßnahmen infünf Kategorien einteilen:Die erste Kategorie. Wir haben dafür gesorgt, dass inBanken weniger Fehler gemacht werden, durch die Ver-änderung der Vergütungsstrukturen, durch die Regulie-rung von Ratingagenturen, durch das Paket zum Hoch-frequenzhandel, das wir jetzt auf den Weg bringen,durch viele Maßnahmen, die im Rahmen der Kapital-adäquanzrichtlinie umgesetzt worden sind.Die zweite Kategorie. Wir haben dafür gesorgt, dassdie Fehlertragfähigkeit bei Banken, offenen Immobilien-fonds und in vielen anderen Bereichen erhöht wordenist.Die dritte Kategorie. Wir haben die Aufsichtsstruktu-ren verbessert, indem wir bei Leerverkäufen Transpa-renz und neue Aufsichtsarchitekturen geschaffen haben,ganz aktuell hier in Deutschland und vor einigen Mona-ten in Europa. Auch das ist bemerkenswert.Die vierte Kategorie. Wir sind uns immer im Klarendarüber gewesen, dass das nicht reicht, dass wir einenRestrukturierungsmechanismus für Banken brauchen.Im Gegensatz zu dem, was Herr Steinbrück heute Mor-
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Ralph Brinkhaus
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gen erzählt hat, haben wir hier in Deutschland einenBankenrestrukturierungsmechanismus auf den Weg ge-bracht. Wir haben eine Bankenabgabe eingeführt und da-für gesorgt, dass zumindest die ersten Verluste von denBanken selber getragen werden, nämlich über einenFonds, der über die Bankenabgabe gespeist wird.Die fünfte Kategorie. Wir haben auch dafür gesorgt,dass wir die Lasten verteilen. Die Bundesregierung hatauf europäischer Ebene dafür gesorgt, dass die Finanz-transaktionsteuer nunmehr von ganz vielen Ländern un-terstützt wird.
Das alles ist in den letzten Jahren gemacht worden.
Trotzdem hat eines gefehlt. Wir haben hier über 50 De-batten geführt; wir haben fast 20 Gesetze und Initiativan-träge auf den Weg gebracht. Wenn wir mit irgendeinerSache fertig waren, haben wir immer gesagt: Das warwieder ein kleinerer oder größerer Baustein, um die Ban-kenwelt sicherer und besser zu machen. Aber der ganzgroße Baustein, das Fundament hat noch gefehlt. DasFundament bildet tatsächlich das, was wir heute verab-schieden. Dementsprechend können wir, der DeutscheBundestag, wirklich stolz darauf sein, dass wir es, ob-wohl die europäischen Regelungen noch nicht fertig sind– das ist richtig –, geschafft haben, ein Gesetz auf denWeg zu bringen, das sicherstellt, dass wir in Europa zuden Ersten gehören, die das Paket tatsächlich umsetzen.Das ist gut und richtig.Meine Damen und Herren, ich habe gesagt: Wir ha-ben 2008 eine wirklich fundamentale Krise gehabt. Wirin der Politik haben das kapiert; wir haben aus dieserKrise gelernt. Wenn ich mir aber teilweise anschaue, wiedie Branche, die Finanzinstitute auf unsere Maßnahmenreagieren, dann scheint mir, dass diese Menschen nichtsdaraus gelernt haben. Leichte Kritik ist okay; auchschwerere Kritik ist teilweise okay, weil wir nicht allesrichtig machen. Aber das permanente Ablehnen von Re-gulierungsmaßnahmen, das Genöle der Branche, dassdieses oder jenes dazu führe, dass die Realwirtschaft zu-sammenbricht, dass ganze Geschäftsmodelle zusammen-brechen, führt nicht weiter.
Da schaue ich jetzt auch zu den Kollegen in der Op-position; da sind wir alle in diesem Haus uns einig. Ichwürde mir mehr konstruktive Beiträge wünschen. Ichglaube, das ist angesichts der Krise, die durch dieseBranche verursacht worden ist, durchaus berechtigt.
Ich habe gesagt, dass die Krise durch diese Brancheverursacht worden ist. In dem Zusammenhang möchteich sagen, was mich des Weiteren stört. Es wird immerwieder gesagt – die Kollegen, die in diesem Bereich alsBerichterstatter tätig sind, kennen es genauso wie ich –:Ich habe mit der Krise nichts zu tun gehabt. Wir sindnicht verantwortlich. Wir sind die Guten. Reguliert bittedie Schlechten.Das ist eine Geschichte, die so nicht stimmt. Wir müs-sen uns an den Risiken, die tatsächlich im Bankenwesenentstehen, orientieren, und es gibt zwei gute Messlattenfür die Risiken: Das sind Eigenkapital und Liquidität,und Eigenkapital und Liquidität sind das Rückgrat derBasel-III-Regulierung.Meine Damen und Herren, trotz aller Dinge, trotz al-ler Gesetze, trotz aller Maßnahmen, die wir auf den Weggebracht haben, müssen wir eines sehen: Eine hundert-prozentige Garantie, dass wir eine Krise wie die, die2008 aufgetreten ist, in Zukunft werden verhindern kön-nen, kann niemand geben.Finanzmarktregulierung ist nicht der große Wurf.Finanzmarktregulierung ist ein hartes Geschäft. Finanz-marktregulierung beinhaltet viele Einzelmaßnahmen,und Finanzmarktregulierung heißt auch, dass wir unsimmer wieder damit auseinandersetzen müssen, dass– der Kollege Schick hat es angesprochen – die eine oderandere Regierung irgendetwas anders sieht, dass wir unsmit unseren Vorstellungen international nicht durchset-zen und dass es in den Märkten Menschen gibt, dieschneller – sie sind im Übrigen auch besser bezahlt alswir – auf Ideen kommen, um unsere Regulierungen zuumgehen.Das ist einfach die Realität. Es geht nicht darum, einauf ewige Zeiten stabiles Finanzsystem hinzubekom-men. Das werden wir nicht hinbekommen. Es geht da-rum, die Instabilitäten, die in diesem Finanzsystem ent-halten sind, gut zu managen, und deswegen bin ichimmer noch über das, was die SPD und der Kanzlerkan-didat der SPD in den letzten Wochen geboten haben,nachhaltig verärgert.
Nicht nur, dass er komplett ignoriert hat, was in denletzten vier Jahren – übrigens auch unter seiner Mitwir-kung – an Finanzmarktregulierung auf den Weg gebrachtworden ist – nein, er behauptet auch: Ihr müsst einfachnur das machen – und Herr Sieling hat es gerade bestä-tigt –, was in meinem göttlichen Papier steht. Das ist dergroße grüne Knopf, und wenn wir den drücken, dannwird alles gut in dieser Welt.
Meine Damen und Herren – und das gilt für die Besu-cher hier und für die Damen und Herren, die vor demFernsehschirm sitzen –, wenn Ihnen jemand verspricht,er habe im Finanzmarktbereich und in anderen Politikbe-reichen den großen grünen Knopf gefunden, auf denman drücken könne, und dann werde alles gut, dannglauben Sie ihm nicht.Danke schön.
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23892 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
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Kollege Ralph Brinkhaus war der letzte Redner in un-serer Debatte, die ich folglich nun schließe.Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor.Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 17/10974 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esandere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nun die Ta-gesordnungspunkte 7 a bis 7 i auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten MatthiasW. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEWiederherstellung eines Lebensstandard si-chernden und strukturell armutsfesten Ren-tenniveaus– Drucksache 17/10990 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheitb) Beratung des Antrags der Abgeordneten MatthiasW. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEAltersarmut wirksam bekämpfen – Solidari-sche Mindestrente einführen– Drucksache 17/10998 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheitc) Beratung des Antrags der Abgeordneten MatthiasW. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKERente erst ab 67 sofort vollständig zurückneh-men– Drucksache 17/10991 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheitd) Beratung des Antrags der Abgeordneten MatthiasW. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEKindererziehung in der Rente besser berück-sichtigen– Drucksache 17/10994 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheite) Beratung des Antrags der Abgeordneten MatthiasW. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEEine solidarische Rentenversicherung für alleErwerbstätigen– Drucksache 17/10997 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheitf) Beratung des Antrags der Abgeordneten MatthiasW. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKERisiko der Erwerbsminderung besser absi-chern– Drucksache 17/10992 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheitg) Beratung des Antrags der Abgeordneten MatthiasW. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEAngleichung der Renten in Ostdeutschlandauf das Westniveau bis 2016 umsetzen– Drucksache 17/10996 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheith) Beratung des Antrags der Abgeordneten MatthiasW. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKERente nach Mindestentgeltpunkten entfristen– Drucksache 17/10995 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23893
Vizepräsident Eduard Oswald
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i) Beratung des Antrags der Abgeordneten MatthiasW. Birkwald, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKERentenbeiträge für Langzeiterwerbslose wie-der einführen– Drucksache 17/10993 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für GesundheitNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Sie sind infolgedessen damit ein-verstanden. Das ist also beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner in unsererAussprache ist für die Fraktion Die Linke unser KollegeMatthias Birkwald. Bitte schön, Kollege MatthiasBirkwald.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Warum legt Ihnen die Linke neun einzelneAnträge vor? Nun, die Linke will konkrete und schnelleVerbesserungen – am besten natürlich in Form des ge-samten linken Rentenkonzepts, das wir hier bereits imMärz debattiert haben. Wir wissen aber, dass das hier imParlament noch nicht mehrheitsfähig ist.In einzelnen Punkten gibt es jedoch Übereinstimmun-gen. Uns geht es hier um konkrete einzelne Schritte imKampf gegen Altersarmut und für eine gute Rente.
In der Rentenpolitik muss sich etwas bewegen, unddarum fordere ich Sie auf, liebe Kolleginnen und Kolle-gen: Verweigern Sie sich nicht. Machen Sie mit. LegenSie Ihre parteipolitischen Scheuklappen ab, und unter-stützen Sie die Forderungen, die Sie selbst für richtighalten.
Da komme ich direkt zur CDU/CSU. Jüngst war imHandelsblatt zu lesen, dass Sie, Herr Kollege Weiß, undKarl-Josef Laumann von der Christlich-DemokratischenArbeitnehmerschaft
– wie im Übrigen auch die SPD – fordern, die Rentenach Mindestentgeltpunkten für Zeiten nach 1992 fort-zuführen. Das ist eine gute Idee, weil lange Jahre zuniedriger Löhne in der Rente deutlich besser bewertetwürden. Darüber hinaus käme diese Rentenform Frauenzugute. Verzichten Sie auf die Einkommensanrechnung,und stimmen Sie unserem Vorschlag zu. Dann sind wiran dieser Stelle auf einem guten Weg für Menschen mitniedrigen Löhnen.
Die Frauen in der Union fordern ähnlich wie wir, dassallen Müttern und Vätern für jedes Kind bei der Renten-berechnung drei Jahre Kindererziehungszeiten gutge-schrieben werden. Sie fordern das allerdings nur im Hin-blick auf diejenigen, die in Zukunft in Rente gehenwerden. Wir sagen: Es muss gelten, dass jedes Kind demStaat und der Gesellschaft gleich viel wert ist, und des-halb müssen wir diejenigen Mütter und Väter, die vor1992 Kinder bekommen haben, gleichstellen. Es istnämlich überhaupt nicht einzusehen, dass es für dieseKinder nur 74 bis 84 Euro mehr Rente gibt und für Kin-der, die bis 1991 geboren wurden, nur 25 bis 28 Euromehr. Damit wir diese Gleichstellung zustande bringen,sollten Sie auch diesem Vorschlag der Linken zustim-men.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ja, esist richtig: Man muss darüber reden, dass es Armut trotzErwerbsarbeit gibt. Wir brauchen am Arbeitsmarkt guteTariflöhne. Wir brauchen einen gesetzlichen Mindest-lohn. Zwei Drittel der Leiharbeiterinnen und Leiharbei-ter erhalten, wie wir diese Woche gehört haben, Niedrig-löhne. Deswegen müssen wir die Leiharbeit regulieren.Wir würden sie am liebsten verbieten. Ich könnte nochvieles mehr nennen.Trotz der Tatsache, dass es gute Erwerbsarbeit gibt,haben wir das Problem der Altersarmut. Deswegen müs-sen wir an die Gründe dafür herangehen. Einer derHauptgründe ist das weiter absinkende Rentenniveau.Das ist ein wesentlicher Risikofaktor für Altersarmut.Das darf auf gar keinen Fall so bleiben. Das muss geän-dert werden. Die Rente muss wieder den Lebensstandardsichern.
Damit das geschieht, muss das Rentenniveau auf 53 Pro-zent angehoben werden. Durchschnittlich verdienendeArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hätten rund160 Euro Rente verloren, wenn das Rentenniveau heutenur noch bei 43 Prozent läge. Das ist doch ein Skandal!
Liebe Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten,manche von Ihnen wollen aus guten Gründen ebenfallsdas Rentenniveau anheben oder zumindest beibehalten.Darum bitte ich Sie: Ordnen Sie Ihre rentenpolitischeVernunft nicht leichtsinnig dem Vizekanzlerkandidaten-konzept Ihrer Partei unter und unterstützen Sie diesenAntrag, der Millionen von hart arbeitenden Männern undFrauen zugutekäme.
Weitere rentenpolitische Kürzungsmaßnahmen for-cieren das Problem der Altersarmut, zum Beispiel dieRente erst ab 67. Deswegen muss sie abgeschafft wer-den.
Bei der Erwerbsminderungsrente sind Abschläge sys-temfremd. Wer krank ist, hat keine Wahl. Darum müssendie Abschläge aus der Erwerbsminderungsrente heraus.
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Matthias W. Birkwald
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Hinein in die Rente müssen aber unbedingt wieder dieRentenbeiträge für Langzeitarbeitslose, die von dieserRegierung auf null gesetzt worden sind. Hartz-IV-Be-troffene dürfen nicht unter die Räder geraten. Deswegenbrauchen wir anständige Rentenbeiträge für Langzeit-arbeitslose.
Insgesamt ist es wichtig, dass alle Erwerbstätigen indie Rentenversicherung einbezogen werden, also auchSelbstständige, Beamtinnen und Beamte und vor allenDingen Abgeordnete, Ministerinnen und Minister,Staatssekretärinnen und Staatssekretäre.
Alle Erwerbstätigen sollen in die Rentenversicherungeinzahlen, und zwar entsprechend der Löhne und Gehäl-ter, die sie beziehen. Wer ein Gehalt von 10 000 Euro imMonat hat, soll auch für 10 000 Euro Rentenversiche-rungsbeiträge zahlen und nicht nur für 5 600 Euro.
Ein ganz wichtiger Punkt: 22 Jahre nach der Einheitmuss endlich Schluss sein mit der erbärmlichen Sankt-Nimmerleins-Tag-Politik. Union und FDP und die Kanz-lerin persönlich haben ihre Wählerinnen und Wählerbelogen. Rentnerinnen und Rentner im Osten, die durch-schnittlich verdienende Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer waren, erhalten immer noch durchschnittlich142 Euro weniger Rente im Monat. Es muss aber gelten:Gleiche Rente für gleiche Lebensleistung. Deswegenmüssen wir jetzt angleichen und die Sache bis 2016 ab-schließen.
Herr Präsident, ich komme zum Schluss. Wir habenschon heute Altersarmut. 436 000 Menschen befindensich in der Grundsicherung im Alter. Rechnet man dieDunkelziffer hinzu, stellt man fest, dass es um weit über1 Million Menschen geht. Deswegen brauchen wir schonheute eine solidarische Mindestrente in Form eines ein-kommens- und vermögensgeprüften steuerfinanziertenZuschlags. Denn es muss gelten: Niemand soll im Alterin Armut leben müssen.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Kollege Birkwald. – Ich weise darauf
hin, dass wir uns hier im Hause einig sind, dass das Wort
„Lüge“ nicht parlamentarisch ist.
Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU
unser Kollege Peter Weiß.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Das Statistische Bundesamt hat uns erst kürzlich dieneuesten Untersuchungen zur Bevölkerungsentwick-lung in Deutschland vorgelegt, und es hat festgestellt:Deutschland hat im Durschnitt die älteste Bevölkerungin Europa und die zweitälteste in der Welt. Die Deut-schen werden immer älter und bekommen immer weni-ger Kinder. Im Jahr 2010 war nicht einmal jeder siebteDeutsche jünger als 15 Jahre und zugleich jeder fünfte65 Jahre und älter. Pro 1 000 Einwohnerinnen und Ein-wohner werden nur noch acht Kinder geboren. Damit istDeutschland weltweit bei einem Negativrekord ange-langt.Auf der anderen Seite gibt es eine eigentlich erfreuli-che Entwicklung, nämlich dass die Lebenserwartung derDeutschen kontinuierlich ansteigt, um etwa sechs Wo-chen pro Jahr. Ein 60-jähriger Mann hat heute im Durch-schnitt die Aussicht, noch mindestens 20 Jahre zu leben.Das sind fünf Jahre mehr, als es für einen 60-Jährigen imJahr 1960 galt. Bei den Frauen sind es sogar 24 Jahreund damit 6 Jahre mehr, als es für eine Frau im Jahr 1960galt.Mir persönlich, auch unserer Fraktion, CDU/CSU,fallen eine Menge wünschenswerter Dinge ein, die wirzugunsten unserer Rentnerinnen und Rentner neu insGesetz schreiben könnten. Aber wir wissen auch: Dieumlagefinanzierte Rente bedeutet, dass das, was wirheute und in den kommenden Jahren und JahrzehntenRentnerinnen und Rentnern zusätzlich geben, von denimmer weniger werdenden jungen Leuten, die eines Ta-ges in Arbeit und Brot stehen werden, bezahlt werdenmuss.
Offensichtlich blendet die Linke dies schlichtweg aus.Sie ist die jugendfeindlichste Partei, die es in Deutsch-land gibt.
In einer kürzlich veröffentlichten repräsentativen Um-frage haben 41 Prozent der Befragten erklärt, dass sieden Generationenvertrag, auf dem die Rente basiert, fürungerecht halten. Dies begründeten sie damit, dass Jün-gere in diesem System zu stark belastet werden. Ichfrage mich: Welche Akzeptanz würde das Alterssiche-rungssystem in Deutschland bei der Bevölkerung finden,wenn wir die Jüngeren noch mehr belasten würden,
als es nach der heutigen rechtlichen Regelung der Fallist?Das zeigt mir, verehrte Damen und Herren: Ein Al-terssicherungssystem kann nur funktionieren, wenn esGenerationengerechtigkeit abbildet, wenn die Zusage andie Älteren gilt, dass sie eine sichere Rente bekommen,und wenn die Jüngeren wissen, dass sie das von dem,was sie eines Tages durch ihre Arbeit verdienen werden,finanzieren können.
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Herr Kollege Peter Weiß, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage unseres Kollegen Ralph Lenkert?
Bitte schön.
Bitte schön, Herr Kollege.
Vielen Dank. – Herr Kollege Weiß, Sie sagen immer,
wir müssten aus Gründen der Demografie heute die Ren-
ten der Zukunft abschmelzen.
Nein, das habe ich nicht gesagt.
Ich stelle Ihnen eine Frage. Ich betrachte es jetzt ein-
mal unabhängig vom Geld, einfach nur von den Produk-
ten her. Die Generation, die, so wie Sie und ich, im Ar-
beitsleben ist, muss in ihrem Arbeitsleben alle Güter,
materiellen Werte und Ausbildungsmittel produzieren
und bereitstellen, die notwendig sind, um die Seniorin-
nen und Senioren zu versorgen und gleichzeitig die Aus-
bildung der kommenden Generation sicherzustellen; das
muss sie machen. Ich betrachte das jetzt unabhängig
vom Geld, rein von den Waren her. In 40 Jahren muss
die Generation, die dann im Arbeitsleben sein wird – un-
abhängig davon, wie groß diese Gruppe sein wird –,
ebenfalls für die Seniorinnen und Senioren und gleich-
zeitig für die nachwachsende Generation die Mittel be-
reitstellen.
Jetzt kommt meine Frage an Sie: Welche Produkte
und Güter kann ich 40 Jahre lang einlagern und aufhe-
ben, die ich dann in Anwendung bringen kann, wenn
nicht mehr genügend produziert wird? Denn Geld kann
man ja bekanntlich nicht essen.
Ein Einlagern findet in der gesetzlichen Rente nicht
statt. Weil das, was die Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer heute einzahlen, am nächsten Tag an die Rentne-
rinnen und Rentner ausgegeben wird, funktioniert dieses
System immer. Da haben Sie recht.
Aber das Problem, vor dem wir in Deutschland stehen,
ist: Heute sind die sogenannten geburtenstarken Jahr-
gänge – hoffentlich – allesamt im Erwerbsleben. An der
Spitze befindet sich der Jahrgang 1964. Damals sind die
meisten Kinder in Deutschland geboren worden, näm-
lich 1,35 Millionen.
Wenn wir – die meisten Anwesenden im Plenum des
Deutschen Bundestages kommen aus geburtenstarken
Jahrgängen – und unsere Altersgenossinnen und Alters-
genossen eines Tages Rentnerin oder Rentner sein wer-
den, dann werden diese geburtenstarken Jahrgänge, die
dann ja auch die geburtenstarken Rentnerinnen- und
Rentnerjahrgänge sein werden, durch das finanziert wer-
den müssen, was die jungen Leute – letztes Jahr haben
wir, glaube ich, 640 000 Geburten in Deutschland ge-
habt; das war also nicht einmal die Hälfte der Menschen,
die 1964 geboren worden sind – für die Sicherstellung
des Rentenaufkommens aufbringen. Wie diese Rech-
nung aufgeht, das können uns die Linken nicht erklären.
Sie handeln mit ihren Anträgen fundamental gegen das
Gesetz: Generationengerechtigkeit ist die Grundlage ei-
ner solidarischen Sozialversicherung.
Herr Kollege Peter Weiß, ich frage Sie, ob Sie eine
weitere Zwischenfrage aus der Fraktion Die Linke, näm-
lich unseres Kollegen Matthias Birkwald, beantworten
wollen.
Das mache ich alles sehr gerne.
Bitte schön, Kollege Matthias Birkwald.
Herzlichen Dank, Herr Präsident. Herzlichen Dank,Herr Weiß, dass Sie die Frage zulassen. – Sie haben ge-fragt, ob wir Ihnen das erklären können. Auf diese Fragevon Ihnen hin habe ich mich gemeldet. Ich bin jetztgerne bereit, Ihnen das zu erklären.
Zu Bismarcks Zeiten kamen 12 Erwerbsfähige im Al-ter zwischen 15 bis 65 Jahren auf 1 Rentner und 1 Rent-nerin. Im Jahre 1916 wurde das Renteneintrittsalter von65 Jahren eingeführt; da waren es immer noch ungefähr12. Bei Einführung der dynamischen Rente durch IhrenParteifreund Dr. Adenauer 1957 und 1960 waren es5,8 Menschen im erwerbsfähigen Alter, die einen Rent-ner oder eine Rentnerin finanzieren mussten. Im Jahre2010 waren es 3,3, und in Zukunft, in den Jahren 2030und 2040, werden es 2 sein.Diesen großen demografischen Wandel von 12 Er-werbsfähigen, die es brauchte, um 1 Rentner oder1 Rentnerin zu ernähren, auf heute 3,3 und auf in Zu-kunft 2 kann man bewältigen durch zwei Punkte, näm-lich durch steigendes Wirtschaftswachstum – durch eingrößer werdendes Bruttoinlandsprodukt, das über Jahreund Jahrzehnte im Durchschnitt immer um die 1,4 oder1,5 Prozent gelegen hat – und durch eine steigende Ar-beitsproduktivität, die im Durchschnitt immer bei1,7 oder 1,8 Prozent gelegen hat.Das heißt, selbst wenn die Rentenbeiträge deutlichanstiegen – in Zukunft, nicht heute –, dann hätten die
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Matthias W. Birkwald
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Menschen bei einem Wirtschaftswachstum auf diesemniedrigen prozentualen Niveau trotzdem mehr in der Ta-sche als heute, und wir könnten sowohl die Älteren alsauch die Jüngeren finanzieren. Hinzu kommt Folgendes:Als die gerade von Ihnen angesprochenen geburtenstar-ken Jahrgänge jung waren – ich bin ja auch einer aus die-sem Jahrgang –, mussten für sie Kindertagesstätten,Grundschulen, Universitäten etc. finanziert werden; da-mals gab es aber wenig Ältere. Dieser Gesamtquotient,also die Jungen und die Alten gemeinsam im Verhältniszur erwerbstätigen Bevölkerung, war schon im Jahre1970 niedriger, als er in Zukunft sein wird.Sind Sie also bereit, anzuerkennen, dass man mit demWirtschaftswachstum und mit der Arbeitsproduktivitäts-steigerung in Zukunft sehr wohl in der Lage ist, anstän-dige Renten für die heute jüngere Generation zu zahlen?
Herr Kollege Birkwald, wir können selbstverständlichgern ein historisches Seminar hier im Plenum des Deut-schen Bundestages durchführen.
Sie haben natürlich manches verschwiegen. Sie habendie Einschnitte durch den Ersten und den Zweiten Welt-krieg verschwiegen, und Sie haben verschwiegen, wiehoch die Beiträge beim Start der Rentenversicherungwaren, nämlich unter 10 Prozent, und wo sie heute ste-hen.
– Sie haben auch die Rentenhöhe verschwiegen. –
Sie negieren schlichtweg, dass es eine in Deutschland indieser Form bislang noch nie dagewesene Situation ist,
– doch! –
dass wir eine solch große Zahl geburtenstarker Jahr-gänge haben – diese Personen sind heute zwischen35 und 55 Jahre alt –, dass wir danach aber deutlich klei-nere Jahrgänge haben, was die Anzahl der geborenenJungen und Mädchen anbelangt, während wir es gleich-zeitig mit einer deutlich höheren Lebenserwartung als inder Vergangenheit zu tun haben. Das heißt, einen sol-chen demografischen Wandel, wie er uns in den kom-menden Jahren erwartet, hat es in dieser Form inDeutschland historisch noch nie gegeben.
Insofern ist die Antwort, die Sie geben, falsch.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, das, was ichvorgetragen habe, heißt nicht, dass im Rentensystemnicht gehandelt werden muss, wenn Sicherheit im Alterfür die deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerauch in Zukunft eine verlässliche Perspektive sein soll.Insofern ist es gut, zunächst einmal an den Problem-punkten anzusetzen.Wenn man sich anschaut, welche älteren Mitbürgerin-nen und Mitbürger heute ergänzend auf den Bezug vonLeistungen der Grundsicherung, also auf staatliche Sozi-alhilfe, angewiesen sind, weil ihr Einkommen im Alternicht ausreicht, dann fällt auf, dass darunter vor allemsolche Menschen sind, die wegen Krankheit oderbedingt durch einen Unfall vorzeitig aus dem Erwerbsle-ben ausscheiden mussten. Schon heute müssen 9,6 Pro-zent der sogenannten Erwerbsminderungsrentner ergän-zende Leistungen der Grundsicherung beziehen, und inder Perspektive steigt dieser Anteil deutlich an.Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, dass wir in derKoalition bereits vereinbart haben, die Berechnung derErwerbsminderungsrente deutlich zu verbessern, umdieser – derzeit größten – sozialpolitischen Herausforde-rung klar zu begegnen. Wir wollen, dass Erwerbsminde-rungsrentner künftig besser dastehen als heute, damit sienicht auf Leistungen der staatlichen Grundsicherung an-gewiesen sind.
Da unser Alterssicherungssystem, vor allen Dingenseit Rot-Grün es 2001 umgebaut hat, davon lebt, dassman ergänzend für das Alter vorsorgt, ist die Frage zustellen, warum nicht auch die ergänzende Altersvor-sorge, also die betriebliche bzw. private Vorsorge, imFall des Bezugs einer Erwerbsminderungsrente eineLeistung erbringt. Morgen bringt die Koalition einenGesetzentwurf ins Parlament ein, mit dem sie den Anteileines Riester-Sparvertrages, der für den Fall einer Er-werbsminderungsrente vorgesehen werden kann, erhö-hen will.Als ich vorgestern auf dem Arbeitgebertag hier inBerlin an einer Diskussion teilgenommen habe, war ichpositiv überrascht, dass die Befürworter der betriebli-chen Altersvorsorge auf den Vorschlag, auch in diesemBereich eine verbindliche Vorsorge für den Erwerbsmin-derungsfall zu treffen, durchaus positiv reagiert haben.Insofern gilt: Die zweite und dritte Säule der Alters-sicherung müssen für den Fall der Erwerbsminderungs-rente mehr leisten, als es heute der Fall ist.
Generell gilt: Wer ein Leben lang gearbeitet, Beiträgegezahlt und für das Alter vorgesorgt hat, der sollte sichersein können, dass er im Alter mehr hat als jemand, dernicht vorgesorgt und keine Beiträge gezahlt hat. Wir dis-kutieren in der Koalition also zu Recht darüber, wie wirdieses Prinzip im Rentenrecht generell stärker verankern
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Peter Weiß
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können. Der Vorschlag „Mindestrente für alle“ ist aberein Schlag ins Gesicht von Gerechtigkeit:
ein Schlag ins Gesicht von Generationengerechtigkeitund Leistungsgerechtigkeit. Wir setzen uns für ein Ren-tensystem ein, in dem auch zukünftig gilt: Wer etwas ge-leistet und vorgesorgt hat, der soll mehr haben als derje-nige, der nicht vorgesorgt und nichts geleistet hat. Dasist Gerechtigkeit im Rentensystem.Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Peter Weiß. – Nächster Redner
für die Fraktion der Sozialdemokraten ist unser Kollege
Anton Schaaf. Bitte schön, Kollege Anton Schaaf.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DerRespekt vor den Mitgliedern des Hauses gebietet es,dass ich mich im Wesentlichen mit den Anträgen derLinken beschäftige. Aber ich muss sagen: Peter Weiß hatmich durch die Art und Weise, wie er sich hier geradedargestellt hat, ganz schön gereizt.
Peter, die Akzeptanz des Rentenversicherungssystemsausschließlich daran festzumachen, wie hoch die Bei-tragssätze sind, ist relativ einfach. Allerdings ist dasauch ein bisschen schlicht. Für die Menschen ist nämlichauch wichtig, was dabei herauskommt.
Beides muss in einem vernünftigen und gesunden Ver-hältnis zueinander stehen.
Indem die Arbeitsministerin darauf hingewiesen hat,dass das Rentenniveau bis 2030 auf 43 Prozent desdurchschnittlichen Nettolohns sinkt, hat sie Angst vorAltersarmut geschürt. Sie hätte es eigentlich besser wis-sen müssen; denn im Gesetz steht: Bei einem Renten-niveau von 46 Prozent ist die Regierung aufgefordert,Vorschläge dafür zu machen, wie man dieses Niveauhalten kann. 43 Prozent sind überhaupt kein Ziel. DieMinisterin hat versucht, diese Truppe, die rentenpoli-tisch völlig zerstritten ist, auf den Weg zur Zuschuss-rente zu zwingen.Bei der Rentenversicherung geht es immer auch umdie Akzeptanz der Leistungen und nicht nur der Bei-tragssätze. Hier seid ihr völlig ignorant. Bei uns in derPartei gibt es eine heftige Debatte über das Leistungs-niveau. Ich gebe hier unumwunden zu, dass das nochnicht entschieden ist. Der jungen Generation aber zu sa-gen: „Bei 43 Prozent werdet ihr altersarm“, und dann zuerwarten, dass dieses System bei der jüngeren Genera-tion Akzeptanz findet, ist fast schon zynisch.
Da ich gerade dabei bin: Diese Ministerin ist in dieserLegislaturperiode mit all dem, was sie rentenpolitischauf den Weg bringen wollte, kläglich gescheitert. DieZuschussrente hat noch nicht einmal die Ressortabstim-mung überlebt. Jetzt habt ihr eine neue Kommission zurEntwicklung von Plänen gegen Altersarmut eingesetzt.Ein Jahr lang habt ihr für eine Zuschussrente getagt, dieam Ende nicht realisiert worden ist – übrigens korrekter-weise nicht, weil diese Zuschussrente eigentlich eine so-zialpolitische Leistung ist und über Beiträge finanziertwerden sollte. Die Ordnungspolitiker in der FDP habendas korrekterweise verhindert, zwar aus anderen Grün-den und ideologisch anderer Motivation heraus. Ausmeiner Sicht haben sie Gott sei Dank verhindert, dasseine Sozialleistung über Beiträge finanziert wird.Zum Beitragssatz. Da man große Teile der deutschenEinheit über die Beiträge an die Sozialversicherungfinanziert hat, darf man sich über steigende Beitrags-sätze nun wirklich nicht wundern und beschweren. Dasgeht nun gar nicht.
Jetzt zu den Anträgen der Linken, Matthias Birkwald.Ich finde, es ist eine deutliche Verbesserung, dass nichtgrundsätzlich alles falsch und einiges sehr zustimmungs-fähig ist, wie zum Beispiel der Punkt, dass man generellsagt: Die Erwerbsminderungsrente muss verbessert wer-den. D’accord! Ihr schreibt in eurem Antrag allerdingsauch, dass die Zugänge offener werden müssen. Hierbeiwill ich lieber genau wissen, worüber wir reden, bevorich einem solchen Antrag zustimme.Zur Rente nach Mindestentgeltpunkten: D’accord!Alle Anträge haben letzten Endes aber gleichermaßenwenig Substanz. Dass sie beispielsweise nicht mit Zah-len unterlegt sind, ist wohl auch beabsichtigt. Ihr fordertdie Bundesregierung mit diesen Anträgen auf, zu han-deln. Dann muss man auch nicht konkret werden. Beiganz vielem würde ich aber gerne wissen, was ihr genaudamit meint.Ihr sprecht zum Beispiel von der Wiederherstellungder lebensstandardsichernden Rente.
Was heißt das denn konkret?
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Anton Schaaf
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Heißt das, eine Rentenhöhe von 53 Prozent ist lebens-standardsichernd? Ich bin da anderer Meinung. Für eineFriseurin, eine Krankenschwester oder eine Frau in ei-nem typischen Frauenberuf werden diese 53 Prozent nie-mals lebensstandardsichernd sein.
Daher ist das Ganze an dieser Stelle nicht konsistent,also ein Widerspruch. Insofern bin ich hier etwas andererMeinung.Nun zur solidarischen Mindestrente. Auch wir habengesagt, man brauche eine Mindestabsicherung für Men-schen, die langjährig gearbeitet haben. Ihr sagt aber: Wirbrauchen eine Mindestabsicherung für Menschen, auchwenn sie überhaupt keine Beiträge gezahlt haben.
Das ist dann aber keine rentenrechtliche Frage, sonderneine sozialpolitische Frage. Dann geht es letzten Endesdarum, dass ihr nur die Grundsicherung im Alter vondem jetzigen Betrag von 680 Euro auf 1 050 Euro anhe-ben wollt. Das sagt dann doch auch! Noch einmal: Dasgehört dann aber nicht in eine Rentendebatte, sondern ineine sozialpolitische Debatte, und es hat im Rentenkon-zept letzten Endes nichts zu suchen.
Übrigens: Da das sozusagen bedingungslos sein soll,also nicht durch Beiträge hinterlegt werden muss, hat dieKatja Kipping euch bei dem bedingungslosen Grundein-kommen sicherlich über den Tisch gezogen. Anderskann ich mir nicht erklären, dass das so darin steht.Bezüglich der Rente mit 67 bin ich völlig anderer Mei-nung; das wisst ihr. Innerhalb unserer Partei gibt es auchkeine ausreichende Mehrheit dafür, die Rente mit 67 zu-rückzunehmen. Ich finde, diese Erkenntnis ist ein Fort-schritt auch in unserer eigenen Debatte: Wir müssen dieÜbergänge in die Rente anders, flexibler und sozialver-träglicher gestalten.
Man kann in der Rückschau natürlich sagen: Wir hättendas eigentlich machen müssen, als wir die Rente mit 67eingeführt haben. Ich halte hier aber kein Geschichts-seminar und sage nicht, wer schuld daran ist, dass dasnicht gemacht wurde. Das wäre völliger Quatsch. Wirhaben damals für die Rente mit 67 die Hand gehoben,und jetzt geht es darum, die Wege dahin vernünftig zugestalten.Was die Erwerbstätigenversicherung angeht, bin ichder festen Überzeugung, dass es richtig ist, dass jeder,der ein Erwerbseinkommen hat, in irgendeiner Form indie sozialen Sicherungssysteme einzahlt. Wie die Kap-pung oben aussehen soll, zum Beispiel bei einem Abge-ordneten, sollte man dann allerdings auch konkretisie-ren, damit man weiß, worauf man sich einlässt.
Ab wann wird gekappt, und in welcher Höhe wird ge-kappt?
Das ist auch eine Frage von Akzeptanz.Jetzt haben 80 000 Selbstständige Frau von der Leyenper Internet die Mitteilung zukommen lassen, dass sienicht zwangsweise in die gesetzliche Rentenversiche-rung hineinwollen. Also, man braucht auch für einen sol-chen Weg Akzeptanz.
Die Frage Angleichung von Ost und West ist in derTat eine, die wir auf dieser Seite des Hauses abladenkönnen. Sie haben den Menschen im Osten vorgemacht,Sie führten in dieser Legislaturperiode Schritte zur ren-tenrechtlichen Angleichung durch. Nichts, gar nichts istgeschehen.
Die Menschen im Osten sind an dieser Stelle belogenworden. Ich sage das, auch wenn es unparlamentarischist. Ich entschuldige mich auch sofort dafür. Es ist in derTat so, dass Sie den Menschen vorgemacht haben, Siewürden ihnen helfen. Einige der Menschen im Osten ha-ben Sie wahrscheinlich deshalb gewählt, und sie sind mitSicherheit und zu Recht maßlos enttäuscht, dass Sie andieser Stelle nichts gemacht haben.
Zur Rente nach Mindestentgeltpunkten – das steht inunserem Konzept; das will ich unumwunden sagen –:Das ist in Ordnung. Da können wir mitmachen.Zur Frage, ob man Langzeitarbeitslose mit 0,5 Punk-ten aufwertet: Na ja, man kommt dann schnell in die Ka-tegorie derer, die für geringe Gehälter arbeiten, die kei-nen, eventuell nur einen halben oder einen dreiviertelEntgeltpunkt erarbeiten. Ich sage: Da ist die Rente nachMindestentgeltpunkten, also die Aufwertung bei nachge-lagerter Betrachtung, eigentlich das Richtige. Man solltenicht im Voraus sagen, was jemand auf jeden Fall be-kommt, sondern man sollte im Nachhinein schauen, wel-che Ansprüche jemand hat und wie man sie entspre-chend aufwerten muss.
Matthias Birkwald, du siehst, wir sind nicht in allenPunkten völlig unterschiedlicher Meinung. Aber bei ei-nigen hätten wir mit Sicherheit noch Diskussionsbedarf,bevor ich einem solchen Antrag zustimmen könnte. Da-bei wäre der Charme tatsächlich, wenn wir eine Mehr-heit hätten, diese Anträge zu beschließen, weil sie sichausschließlich an die Bundesregierung richten. Die Bun-desregierung soll einmal Konzepte vorlegen. Es wärespannend, zu sehen, was bei diesem zerstrittenen Haufen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23899
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dabei herauskommt. Dabei würde nämlich nichts heraus-kommen, meine Damen und Herren.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die
Fraktion der FDP unser Kollege Dr. Heinrich Kolb. Bitte
schön, Kollege Dr. Heinrich Kolb.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DasWeltbild der Linken ist einfach. Herr Birkwald, Sie wis-sen, was richtig ist, und an einer echten Diskussion mitdem Rest des Hauses ist Ihnen nicht wirklich gelegen.
Zu diesem Schluss muss ich jedenfalls kommen – wartenSie einmal ab, Herr Strengmann-Kuhn –, wenn ich fest-stelle, dass Sie neun Anträge zur Beratung angemeldethaben, die uns am Dienstag, spät am Abend, noch nichtzugegangen waren,
gestern noch nicht mit einer Bundestagsdrucksachen-nummer erfasst waren und die wir heute schon mit Ihnendiskutieren sollen.
Das zeigt: Sie sind ignorant. Sie wollen wirklich nichtdie Diskussion in der Sache, sondern Sie wollen nur IhreIdeologie nach vorne bringen. An dieser Stelle könnenSie mit uns nicht rechnen.
Nachdem ich mir diese Anträge heute angesehenhabe, muss ich sagen, dass darin wirklich nichts Neuesist. Sie bringen zum x-ten Mal die gleichen Forderungen.Herr Birkwald, Sie kennen vielleicht das Krankheitsbildder Diarrhö.
Ich sorge mich wirklich, dass irgendjemand in IhrerFraktion an „Graphorrhö“ leidet und nicht mehr kontrol-lieren kann, was aus seinem Computer oder aus seinerFeder herausläuft.
Da wäre wirklich weniger mehr. Wen wollen Sie dennmit dieser Flut von Anträgen beeindrucken, Herr Kol-lege Birkwald?
– Ich sage ja etwas zum Inhalt.
– Ich komme schon dazu.Ich will Ihnen zunächst einmal vorhalten, dass Sie diefalschen Grundannahmen treffen. Wer von falschenWerten und falschen Annahmen ausgeht, muss am Endeauch zu falschen Ergebnissen kommen. Am falschestenist die Annahme, Deutschland brauche neun Anträge derLinken, um rentenpolitisch voranzukommen.
Das ist wirklich nicht der Fall.Wir haben mit dem Alterssicherungsstärkungsgesetz,das sich derzeit in der Ressortabstimmung befindet, sehrdeutlich gemacht, dass wir Anpassungen bei der Zurech-nung der Erwerbsminderungsrente wollen, dass wir einedemografiefeste Neufassung des Rehabudgets wollen– Stichwort „atmender Deckel“ – und dass wir vor allenDingen Verbesserungen bei den Hinzuverdienstmöglich-keiten für Rentner wollen.
Das ist ein wichtiger Schritt, Toni Schaaf, für den flexi-blen Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand.
Daran müssen wir alle ein Interesse haben.Es ist doch nicht so, dass wir nichts täten. Aber so,wie Sie das machen – immer wieder einmal hopplahoppein paar Anträge fallen lassen, und dann geht es zweiWochen später in die nächste Runde –, kommt man ren-tenpolitisch wirklich nicht voran.
Es ist immer schön, wenn man Debattenzeit bekommt– das ist das einzig Positive an Ihren Anträgen –, in derman sich etwas ausführlicher mit einzelnen Aspekten be-fassen kann.
Eine weitere Fehlannahme von Ihnen ist nämlich, dasRentenniveau sinke auf 43 Prozent, das sei im Gesetz sofestgeschrieben.
Das steht so nicht im Sozialgesetzbuch VI, Herr Kol-lege Birkwald. Ich finde da nur eine Rentenformel. Die
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Dr. Heinrich L. Kolb
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Rentenformel beinhaltet einen Nachhaltigkeitsfaktor,mit dem der Rentenanstieg gedämpft wird,
und zwar in Abhängigkeit von dem Verhältnis der Äqui-valenzrentner – das ist ein statistisches Modell – zu denÄquivalenzbeitragszahlern. Wie sich das tatsächlich ent-wickelt, steht auf einem ganz anderen Papier.Ich will Ihnen einmal Zahlen nennen, damit wir etwasNeues in die Debatte hineinbekommen. Unter rot-grünerRegierungszeit sank das Nettorentenniveau von 53,6 Pro-zent im Jahre 1998 auf 50,0 Prozent im Jahre 2005. Ak-tuell, Juni 2012, liegt das Rentenniveau praktisch unver-ändert hoch bei 49,9 Prozent statt den von Walter Riesterdamals für diesen Zeitpunkt prognostizierten 47,5 Pro-zent. Merken Sie etwas? Es kommt darauf an, wie manes macht, wie sich die Dinge am Arbeitsmarkt entwi-ckeln. Dann kommen Sie auch zu zählbaren Ergebnissenin der Politik. In dem Rentenversicherungsbericht 2011– wir werden bald neuere Zahlen bekommen – geht manvon 47,8 Prozent für 2020 und 46,2 Prozent für 2025aus. Das ist alles mehr als 43 Prozent.
Anstatt jetzt Krokodilstränen darüber zu vergießen,dass das alles so schlimm sei, sollten wir gemeinsam un-sere Anstrengungen darauf richten, dass über die beein-flussbaren Faktoren in der Rentenformel die Renten-anpassung in Zukunft möglichst ungedämpft verläuft.Das ist doch das Ziel, das uns umtreiben muss.
Dabei sind Flexibilisierung und längere Teilhabe am Er-werbsleben ein Thema. Da ist die Frage zu beantworten,wie Teilzeitstellen in Vollzeitstellen umgewandelt wer-den können, und andere Dinge mehr. Das wäre desSchweißes der Edlen wert. Aber so, wie Sie das hier ma-chen, geht es meines Erachtens nicht.Falsch ist auch Ihre Annahme – das ist der zweitePunkt, den ich in der verbleibenden Zeit noch kurz anrei-ßen kann –, das Rentensystem würde dann stabiler, wennman mehr Menschen in das System einbezieht. Das istfalsch.
In dieser einfachen und schlichten Darstellung, wie Siedas bringen, ist das falsch. Denn die Menschen, die indas System einbezogen werden, zahlen Beiträge und er-werben mit ihren Beiträgen Anwartschaften. Das heißt,man kann vielleicht kurzfristig ein Strohfeuer entfachen.Aber wir haben in der Rente ein langfristiges und struk-turelles Problem. Das lösen Sie nicht damit, dass Siemehr Menschen in das System aufnehmen.Man kann natürlich jetzt so wie Sie sagen, wir neh-men nicht nur mehr Menschen in das Rentensystem auf,sondern wir schaffen auch die Beitragsbemessungs-grenze ab und flachen am oberen Ende die Ansprücheder erworbenen Anwartschaften ab.
Ich sage Ihnen: Das ist verfassungswidrig.
Damit werden Sie in Karlsruhe zwangsläufig scheitern.
Aber diese beiden Annahmen – mehr Redezeit habeich leider nicht – zeigen, dass Sie mit Ihren rentenpoliti-schen Anträgen auf einem vollkommen falschen Funda-ment stehen. Ich kann Sie nur noch einmal dazu auffor-dern, Herr Birkwald – das spart auch ein bisschen Arbeitund Energie –: Produzieren Sie weniger, aber dafür bes-sere Anträge.
Dann haben Sie vielleicht irgendwann einmal dieChance, mit uns in einen ernsthaften Dialog über IhreVorstellungen einzutreten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Nächster Redner in unserer Aussprache ist für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen unser KollegeDr. Wolfgang Strengmann-Kuhn. Bitte schön, KollegeDr. Strengmann-Kuhn.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eswäre schön, Herr Kolb, wenn die Regierungskoalitioneinmal etwas vorlegen würde, aber es gibt nichts.
Es gibt einen Referentenentwurf, der in der Ressortab-stimmung ist, aber schon wieder kassiert worden ist.Hier im Bundestag diskutieren wir immer nur über An-träge der Oppositionsfraktionen.
Es gibt diesen einen Gesetzentwurf, mit dem der Au-tomatismus, der im Gesetz steht, umgesetzt werden soll.Das ist aber auch schon alles. Sonst gibt es keine zu-kunftsweisenden Konzepte der Regierungskoalition, zu-mindest keine abgestimmten. Es gibt viele verschiedeneKonzepte. Die FDP hat eines. In der CDU gibt es min-destens zwei Konzepte. Im BMAS gibt es ein weiteres
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Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
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Konzept. Die CSU hat eines. Aber hier herrscht Leere.Darüber kann man nicht diskutieren.Meine Redezeit läuft schon. Ich kann nicht auf alleneun Anträge eingehen, sondern will mich auf vierPunkte konzentrieren.Es ist immer wichtig, zu schauen: Wohin will man beider Rente langfristig? Dann weiß man auch, was jetzt zutun ist. Ein wesentliches Ziel in dem grünen Rentenkon-zept ist, langfristig eine Bürger- und Bürgerinnenversi-cherung auch in der Rente zu schaffen. Das, was Sieeben dazu gesagt haben, Herr Kolb, ist falsch.
Natürlich ist es nachhaltiger, wenn man mehr Menschenin der Rentenversicherung hat. Sonst würden sich auchmehr Geburten nicht nachhaltig auswirken. Wenn mehrKinder geboren werden, bekommen auch sie irgendwanneinmal Rente. Mehr Menschen in die Rentenversiche-rung einzubeziehen, ist ökonomisch nichts anderes, alsmehr Geburten zu haben. Insofern ist eine Ausweitungauf weitere Bevölkerungsgruppen genauso effektiv wiemehr Geburten. Sie ist sogar effektiver, weil man nichtnoch 18 Jahre warten muss, bis die Menschen einzahlen;vielmehr zahlen sie sofort ein.
– Stellen Sie eine Zwischenfrage, dann kann ich daraufreagieren.Mit einer Bürgerversicherung, in die alle – Selbststän-dige, Beamte, Politiker, Politikerinnen, alle Bürgerinnenund Bürger – einzahlen und an der möglichst alle Ein-kommen beteiligt sind, bekommt man langfristig einenachhaltige Finanzierung hin. Das wäre sozial gerechtund ökonomisch nachhaltig.
Wir wissen, dass wir diese Bürgerversicherung nichtauf einmal hinbekommen. Das wird schrittweise erfol-gen. Die Wirkung wäre sowieso nur langfristig spürbar.Wir müssen aber schneller agieren.Deswegen haben wir zweitens das Konzept einer grü-nen Garantierente; das haben wir hier schon des Öfterenpräsentiert. Es beinhaltet das Prinzip, dass bei mindes-tens 30 Versicherungsjahren – nicht Beitragsjahren, son-dern Versicherungsjahren – 30 Entgeltpunkte garantiertwerden. Das wäre ein Niveau, das über dem durch-schnittlichen Grundsicherungsniveau liegt. LangfristigVersicherte wären damit so gestellt, dass sie nicht aufGrundsicherung angewiesen sind. Dadurch erhöhen wirdie Akzeptanz der Rentenversicherung und verhinderndrohende Altersarmut. Diese grüne Garantierente ist einzentrales grünes Konzept.
Dritter Punkt: Ost-West-Angleichung. Dazu sagenauch wir, dass wir – wir wollen das noch schneller alsdie Linken – ein einheitliches Rentenrecht in Ost undWest brauchen. Nach über 20 Jahren deutscher Einheitist es wichtig, die innerdeutsche Mauer bei der Renteendlich abzureißen und ein einheitliches Rentenrecht zuschaffen. Wir wollen, dass der Rentenwert Ost auf denRentenwert West angehoben wird; denn Altersarmut istbesonders im Osten bedrohlich. Sie wird dort besondersansteigen. Die Garantierente, die wir vorschlagen, sollim Osten genauso hoch sein wie im Westen.Wir wollen das aber nicht wie die Linken machen,sondern wir wollen es kostenneutral finanzieren. Dasheißt, die bisher erworbenen Rentenansprüche sollengleich bleiben und in Zukunft in Ost und West einheit-lich berechnet werden. Das soll aber, wie gesagt, mit ei-ner Garantierente verbunden werden, die in Ost undWest gleich ist.Vierter und letzter Punkt. Nachhaltige Finanzierungist für uns ein ganz zentrales Ziel. Wir wollen langfristignachhaltige, stabile Beitragssätze in der Rentenversiche-rung haben. Aus dem Grund ist es falsch, jetzt die Ren-tenbeiträge zu senken. Das ist kurzsichtig und nichtnachhaltig. Wir wollen, dass die Rentenbeiträge jetztnicht gesenkt werden, damit sie über das Jahr 2020 hi-naus kontinuierlich unter 20 Prozent bleiben können.Außerdem wollen wir frei werdende Mittel dafür ver-wenden – das ist ein zentrales Problem, das auch schonangesprochen worden ist –, die Erwerbsminderungsrentezu verbessern. Wer aus medizinischen Gründen nichtmehr arbeiten darf, für den sollten die Abschläge abge-schafft werden.
Bürgerversicherung, Garantierente und stabile Bei-tragssätze sind Kernelemente des grünen Rentenkon-zepts. Ein solches Rentenkonzept wäre ökonomisch,nachhaltig und sozial gerecht.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Kollege Dr. Strengmann-Kuhn. – Letz-
ter Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der
CDU/CSU unser Kollege Max Straubinger. Bitte schön,
Kollege Max Straubinger.
Geschätzter Herr Präsident! Werte Kolleginnen undKollegen! Die Fraktion Die Linke überhäuft unswiederum mit Anträgen, die sie schon x-mal gestellt hatund die letztendlich nur dazu dienen, hier ein Bild zuzeichnen von einer angeblich sehr schwierigen Rentensi-tuation in Deutschland. Das ist ein verzerrtes Bild.
Ich möchte zuerst feststellen, Herr Kollege Birkwald,dass das Rentenniveau in Deutschland ständig steigt unddass darüber hinaus vor allen Dingen auch die Finanz-
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Max Straubinger
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grundlagen für die Rentenversicherung von dieser Bun-desregierung nachhaltig gefördert worden sind. Deshalbhaben wir stabile Rentenfinanzen. Darauf können sichdie Bürgerinnen und Bürger verlassen.
Kollege Weiß hat bereits darauf hingewiesen, dassheute sehr viele Wünsche geäußert werden. Es ist unge-fähr wie beim Wunsch an das Christkind. Vieles vondem, was gefordert wird, überlegen auch wir; manchesist auch von uns abgeschrieben worden.
Dafür hätten wir die Linken nicht benötigt.
Entscheidend ist aber auch, dass wir auf die Finan-zierbarkeit und die Beitragszahlerinnen und Beitragszah-ler in unserem Land achten. Ich glaube, dies ist wichtigund entscheidend für eine verantwortliche Rentenpolitik.Ich möchte mich nicht mit allen Anträgen in irgendei-ner Art und Weise befassen. Aber eines ist für mich ent-scheidend und wichtig, nämlich dass die Linke wiedereine Angleichung der Ost- und Westrenten fordert. Ichbin sehr dafür, auf einer tatsächlich sachlich fundiertenGrundlage darüber zu reden und es dann vor allen Din-gen auch in ein Gesetz zu fassen.
Aber es geht natürlich nicht so, wie Sie es wollen, HerrKollege Birkwald. Erstens insinuieren Sie mit Ihrem An-trag, es gäbe eine Benachteiligung der Rentnerinnen undRentner und der Menschen im Osten Deutschlands. Dasist keineswegs der Fall.
Denn Sie wissen haargenau, dass die Renten aufgestocktwerden und dementsprechend mittlerweile feststellbarist, dass das Rentenniveau im Osten Deutschlands imDurchschnitt höher ist als im Westen Deutschlands.Darüber hinaus gilt auch unter aktuellen Gesichts-punkten, Herr Kollege Birkwald: Wenn jemand im Ostenein Bruttoeinkommen von 30 000 Euro im Jahr hat
und im Westen ebenfalls 30 000 Euro die Grundlagesind, dann erwirbt man im Osten Deutschlands eine Ren-tenanwartschaft von 27,08 Euro im Jahr und im WestenDeutschlands von 25,95 Euro im Jahr. Das zeigt sehrdeutlich, dass die derzeitige Situation die Menschen imOsten bei der Rentenversicherung bevorteilt.Ein weiterer Punkt: Derzeit wird sehr viel über ange-hende Altersarmut und insgesamt über Altersarmut inunserer Gesellschaft gestritten. Es ist bezeichnend, dasswir immer darauf bauen und derzeit auch darauf bauenkönnen, dass es eine geringe Inanspruchnahme vonGrundsicherungsleistungen gibt, weil die Versorgungaus der gesetzlichen Rentenversicherung gut ist. Daszeigt sich vor allen Dingen auch sehr deutlich für dieBürgerinnen und Bürger im Osten.Die Enquete-Kommission des Landtages von Meck-lenburg-Vorpommern „Älter werden in Mecklenburg-Vorpommern“ stellt in einer Kommissionsdrucksachevom 9. Oktober 2012 als Fazit fest – ich darf daraus zi-tieren –:In Deutschland wird derzeit viel von Altersarmutgesprochen und insbesondere auf die prekäre Lagevon Rentnerinnen verwiesen. Die aktuellen Zahlenbeschreiben jedoch ein ganz anderes Bild – auch inMV.Den Älteren steht heute tendenziell mehr Einkom-men zur Verfügung als noch vor zehn Jahren,– hört, hört! –weit über 80 % verfügen über ein gewisses Geld-
vor; rund ein Viertel der Rentnerhaushalte und 43 %der Jüngeren unter den Älteren kannauf Versicherungsansprüche aus Lebens- und priva-ter Rentenversicherung bauen.
Der Anteil von Grundsicherungsbeziehern unterden Älteren ist und bleibt vermutlich bis 2020 ehergering.Er liegt derzeit bei 1,5 Prozent.Mehr als die Hälfte der über 75-jährigen Frauen inden neuen Bundesländern beziehen neben Versiche-rungsrenten auch Witwenrenten und erreichen hier-durch von allen Vergleichsgruppen das höchsteRenteneinkommen.
In MV beziehen rund 34 % der Rentnerinnen Mehr-fachrenten und erzielen auf diese Weise ein Ein-kommen, das seit 2004 jedes Jahr anstieg; 2011 be-trug es 1 230 Euro. Die Analyse des Bezugs vonMehrfachrenten zeigt, dass es notwendig ist, sorg-fältig zwischen den Aussagen zu Renten und Rent-nern zu unterscheiden.Ich glaube, dass es notwendig ist, bei der Frage vonAltersarmut auch darüber zu diskutieren und dies viel-leicht auch einmal stärker in das Blickfeld der Öffent-lichkeit zu rücken. Ich danke ausdrücklich für diese
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Max Straubinger
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Kommissionsdrucksache, die von der Universität Ros-tock erarbeitet worden ist.
Damit bin ich auch schon am Ende meiner Redezeit.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Die Anträgeder Linken werden wir natürlich ablehnen.
Wir sind am Ende unserer Aussprache, liebe Kolle-ginnen und Kollegen.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 17/10990 bis 17/10998 an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Sie sind damit einverstanden? – Ich sehe keinen Wider-spruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Flexibilisierung von haushaltsrechtlichenRahmenbedingungen außeruniversitärer Wis-
– Drucksachen 17/10037, 17/10123 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-schätzung
– Drucksache 17/11046 –Berichterstattung:Abgeordnete Tankred SchipanskiRené RöspelDr. Peter RöhlingerDr. Petra SitteKrista SagerHierzu liegt ein Entschließungsantrag der FraktionDie Linke vor.Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach einer inter-fraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eineDreiviertelstunde vorgesehen. Sie sind damit einverstan-den? – Dann haben wir das auch gemeinsam so be-schlossen.Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin in unsererAussprache ist für die Bundesregierung Frau Bundes-ministerin Dr. Annette Schavan. Bitte schön, Frau Bun-desministerin.
Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-dung und Forschung:Danke schön, Herr Präsident. – Herr Präsident! LiebeKolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren!Einrichtungen der Wissenschaft stehen in einem starkeninternationalen Wettbewerb um Wissen und Technolo-gien, und sie stehen in einem Wettbewerb um gute Rah-menbedingungen, der ebenso stark ist. Sie brauchen Ge-staltungsspielraum, sie brauchen Handlungsfreiheit,Eigenverantwortung, einen autonomen Status ihrer Insti-tution. Dies beschäftigt uns seit langem. Ich habe geradeFrau Flach, die sich, bevor sie ins Gesundheitsministe-rium ging, viele Jahre dafür stark gemacht hat, gesagt,dass es uns nun gelingt, den Einrichtungen die Bedin-gungen zu geben, die notwendig sind, um internationalstark und souverän auftreten zu können.
Der Gesetzentwurf, den wir heute in zweiter und drit-ter Lesung beraten, hat deshalb auch einen starken undungeteilten Zuspruch aus der Wissenschaft bekommen.Er hat über Fraktionsgrenzen hinweg einen breiten poli-tischen Konsens gefunden; das freut mich. Das Gesetzist damit nicht nur ein Gesetz der einen oder anderenGruppe im Parlament, sondern auch das Ergebnis eineslangjährigen Dialoges der wissenschaftspolitischenSprecher mit unseren Wissenschaftsorganisationen. DreiSäulen tragen dieses Gesetz: Autonomie, Eigenverant-wortung und Transparenz.Autonomie heißt Selbstständigkeit, wenn es um Pro-fil, Programme, Projekte und Strategien geht. Die Ein-richtungen müssen selbst entscheiden können. WennWissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Forschungs-projekte betreuen und gestalten, müssen sie immer auchkurzfristig die Möglichkeit haben, neue Wege zu gehen,umzuplanen und bislang nicht Vorhersehbares aufzugrei-fen. Neue Ansätze müssen berücksichtigt werden, For-schungsergebnisse in die weiteren Planungen aufgenom-men werden. Hierfür ist größtmögliche Flexibilität in derMittelbewirtschaftung erforderlich. Dafür sind Global-haushalte notwendig. Genau das ermöglicht dieses Ge-setz.
Ich nenne Ihnen ein Beispiel, das viele von uns in denletzten Jahren verfolgt haben: Die Gründungsphase desDeutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankun-gen hat uns gezeigt, wie wichtig diese operative Flexibi-lität vor Ort ist. Nur so können wir aktuelle, gesellschaft-lich relevante Forschungsgebiete zügig erschließen unduns im internationalen Vergleich an der Spitze positio-nieren.Die Wissenschaftseinrichtungen werden durch dasGesetz mehr Freiheit und Selbstständigkeit bei Finanz-und Personalentscheidungen, bei Kooperationen undBauvorhaben erhalten. Wir machen Ernst mit der De-regulierung und in der Folge dann auch mit dem Büro-kratieabbau, nicht nur, weil es effizienter ist, sondernauch, weil wir die Einrichtungen und ihre Mitarbeiterin-nen und Mitarbeiter darin unterstützen wollen, sich aufihre Kernkompetenzen zu konzentrieren. Wir wissen,das steigert die Leistung.Zweitens: Eigenverantwortung. Freiheit ist an Verant-wortung gebunden. Deshalb kann ich Ihnen versichern– das sage ich ganz besonders den Mitgliedern des Haus-haltsausschusses, die uns berechtigterweise viele Fragengestellt haben –: Die Pilotphase der Wissenschaftsfrei-heitsinitiative hat gezeigt, dass die Einrichtungen maß-
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Bundesministerin Dr. Annette Schavan
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voll und verantwortungsbewusst mit ihrer Selbstständig-keit umgehen und dass sie unser Vertrauen verdienthaben.
Mehr Eigenverantwortung bedeutet auch, die Detail-steuerung durch Staat und Verwaltung weiter zurückzu-fahren. Das bedeutet aber nicht Regellosigkeit. Die Ver-antwortungsbereiche von Wissenschaftseinrichtungen,Staat und Politik werden insgesamt klarer gefasst unddamit auch transparenter. Ich glaube, das ist ein zentralerPunkt. Wir bauen nicht Regeln ab. Autonomie heißtnicht Anarchie. Vielmehr haben wir neue Formen derRechenschaftsgebung und der Rechenschaftslegung.
Drittens: Transparenz. Transparente Strukturen ma-chen Verantwortung sichtbar. Mit dem Monitoring zumPakt für Forschung und Innovation und mit den damitverbundenen Zielvereinbarungen haben wir bereits guteErfahrungen gemacht. Auf diesen Erfahrungen bauenwir auf. Wir wollen kein starres Berichtswesen, sondernein flexibles Instrumentarium, mit dem wir auch kurz-fristig auf aktuelle Entwicklungen reagieren können. Wirwollen keine neue Bürokratie, sondern wir wollen denAbbau bisheriger Bürokratie.
Meine Damen und Herren, das Wissenschaftsfreiheits-gesetz ist schlank konzipiert. Herr Professor Schubertvom Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsfor-schung hat dies im Rahmen der Expertenanhörung zur in-haltlichen Seite des Gesetzentwurfes treffend formuliert.Ich zitiere: Es sind sieben einfache Paragrafen, die in wei-ten Bereichen oder in weiten Teilen eine Diskussion be-enden – zumindest für die außeruniversitäre Forschung –,die wir nun seit mindestens 20 Jahren führen.Ich bin davon überzeugt: Das Wissenschaftsfreiheits-gesetz wird dem gesamten Wissenschaftssystem positiveImpulse geben. In diesem Zusammenhang nenne ichausdrücklich auch die Ressortforschungseinrichtungen.Mit dem Entwurf für den Haushalt 2013 hat die Bundes-regierung auch für solche Einrichtungen wichtige Flexi-bilisierungen auf den Weg gebracht.Und ich freue mich sehr, dass das Parlament auch denDAAD und die Alexander-von-Humboldt-Stiftung indieses Gesetz aufnimmt.
– Danke an alle. – Auch hier gilt das Struck’sche Gesetz:Kein Gesetz geht so hinaus, wie es hereingekommen ist.Dies begrüße ich außerordentlich.Meine Damen und Herren, ich ermutige schließlichdie Länder, im Blick auf die Hochschulen ausdrücklichgemeinsam mit uns diesen Weg zu gehen. Wir habenviele Kooperationen zwischen Hochschulen und außer-universitären Forschungseinrichtungen, und genau da-für ist es wichtig, dass auch die Hochschulen ein ver-gleichbares Maß an Autonomie erhalten.Ich bin davon überzeugt: Für die Wissenschaft inDeutschland, für die betroffenen Wissenschaftseinrich-tungen ist dieses Gesetz Signal zum Aufbruch, eine wei-tere Etappe zur Stärkung in einem harten internationalenWettbewerb.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Bundesministerin. – Nächster Red-
ner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der Sozial-
demokraten unser Kollege René Röspel. Bitte schön,
Kollege Röspel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Zunächst, Frau Ministerin Schavan, herzlichenDank, dass Sie mit relativ wenig Pathos und sehr sach-lich in das Wissenschaftsfreiheitsgesetz eingeführt ha-ben.
Wir haben das in den letzten Wochen und Monaten inden Ausschussanhörungen oder in den Debatten manch-mal durchaus etwas anders erlebt.Wir debattieren heute in der Tat nicht über Wissen-schaftsfreiheit. Das haben wir im Hohen Hause an ande-rer Stelle durchaus gemacht, immer dann, wenn die Wis-senschaftsfreiheit wirklich tangiert war, bei embryonalerStammzellforschung und Ähnlichem.Beim Wissenschaftsfreiheitsgesetz geht es um dieFlexibilisierung haushaltsrechtlicher Rahmenbedingun-gen der Forschung, also Erleichterungen im Wissen-schaftsmanagement.
Das ist eine Initiative der Großen Koalition von 2008.Ich habe schon damals kritisiert, dass der Titel eigentlichzu hoch gehängt ist, wenngleich viele der Maßnahmenfür außeruniversitäre Einrichtungen durchaus sinnvollsind. Wir stärken damit sozusagen ein Bein im Mara-thonlauf um ein besseres Bildungs- und Wissenschafts-system in Deutschland und mehr Wettbewerbsfähigkeitim internationalen Vergleich.Aber auch das andere Bein muss man immer im Blickbehalten: Das ist die universitäre Forschung. Im Hin-blick darauf, wie die Hochschulen künftig aufgestelltsind, treibt uns doch die Sorge um. Auch dieses Beinmuss weiterentwickelt werden. Leider geht die Debatteüber die Änderung des Grundgesetzes heute Abend zuProtokoll. Wir hätten Ihnen gerne in dieser Debatte un-sere Vorschläge vorgestellt, wie man dauerhaft, nachhal-
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René Röspel
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tig und sicher Bildung, aber auch universitäre Hoch-schulforschung und -lehre besser finanzieren kann.
Das ist dringend notwendig; denn wenn Sie nur bei ei-nem Bein den Muskel stärken, werden Sie feststellen,dass Sie irgendwann im Kreis laufen und nicht wirklichvorankommen.Unabhängig davon bedeutet das Wissenschaftsfrei-heitsgesetz für außeruniversitäre Einrichtungen sicher-lich einen Fortschritt. Ich will den beiden Berichterstat-tern, Herrn Schipanski und Herrn Rehberg, ausdrücklichmeinen Dank dafür aussprechen, dass sie unser Ge-sprächsangebot angenommen haben, zu schauen, an wel-chen Stellen wir gemeinsam noch etwas verbessern kön-nen. Daraus ist ein interfraktioneller Antrag geworden.Dass nun auch die Alexander-von-Humboldt-Stiftungund der DAAD in das Gesetz aufgenommen sind, ist si-cherlich ein Fortschritt.
Das führt dazu, dass wir diese Initiative mit einer Enthal-tung begleiten.Zustimmen können wir leider nicht, weil wir an ande-ren Stellen – das werden Sie uns nachsehen – weiterhinProbleme oder Verbesserungsbedarf sehen. Wir hätten eszum Beispiel besser gefunden, wenn die Ressortfor-schungseinrichtungen des Bundes verbindlicher in dasGesetz aufgenommen worden wären, als das jetzt überMaßnahmen haushaltsrechtlicher Art erfolgt. DieserPunkt war uns wichtig; doch wir haben ihn leider nichthineinverhandeln können. Schon jetzt erreichen uns An-fragen aus den entsprechenden Instituten,
warum sie, die sie doch gute Forschung machen, nurdeswegen, weil sie zum Bund gehören, von den Rege-lungen des Wissenschaftsfreiheitsgesetzes keinen Ge-brauch machen könnten.Andere Punkte, die wir für wichtig und richtig halten– wir finden es gut, dass das endlich kommt –, sind De-ckungsfähigkeit und Überjährigkeit. Nach der Vorlauf-phase, die es gab, wird es den Instituten jetzt endlichmöglich sein, Sachmittel, die nicht abgerufen wordensind, in Personalmittel umzuschichten und damit zumBeispiel für die nächsten Jahre einen Doktoranden zu fi-nanzieren. Das ist wirklich gut für die außeruniversitärewissenschaftliche Arbeit. Schlecht wäre es allerdings,wenn umgekehrt der Fall entstünde, dass vorhandenePersonalmittel, die nicht abgerufen wurden, in Sachmit-tel umgewandelt werden und damit zum Beispiel – zuge-gebenermaßen ein extremes Beispiel – dem neuen Di-rektor eine Dienstvilla gebaut wird; im Gesetz steht jaauch etwas von baurechtlichen Erleichterungen. Wenndie Bürger uns fragen würden: „Warum macht ihr so et-was?“, könnten wir kaum sagen: Wir haben den Institu-ten 1 Milliarde Euro zur Verfügung gestellt; was sie da-mit machen, wissen wir jedoch nicht.
Deswegen ging es in einem unserer Anträge – erwurde im Ausschuss leider abgelehnt – um ein verbes-sertes Steuerungs- und Informationssystem, das das Par-lament beschließt, um die Kontrolle nachvollziehbar undsichtbar zu machen.
Wir sind es, die dem Bürger gegenüber zu rechtfertigenhaben, was mit dem Geld, das den Einrichtungen zurVerfügung gestellt wird, passiert. Das ginge über das hi-naus, was in § 3 Abs. 3 des Entwurfs des Wissenschafts-freiheitsgesetzes steht; da kommt das aus unserer Sichtzu kurz. Da hätten wir uns eine stärkere parlamentari-sche Beteiligung gewünscht.Gut für die außeruniversitären Einrichtungen ist si-cherlich auch, dass man Berufungen, Neueinstellungenvon Spitzenwissenschaftlern dadurch begleiten kann,dass man ihnen ein höheres Gehalt zahlt, als eigentlichvorgesehen ist – solange dieses zusätzliche Geld ausnichtöffentlichen Quellen kommt.So gut das für die außeruniversitären Einrichtungenist, so sehr sehen wir auch drei Probleme, die damit ver-bunden sind:Erstens führt ein solches Verfahren zu einem Un-gleichgewicht in den Instituten. Wir bekommen schonjetzt mit, dass sich viele Mitarbeiter zu Recht fragen, wa-rum es eine Stärkung in der Spitze und nicht in derBreite gibt. Über das Tarifsystem in außeruniversitärenForschungseinrichtungen wird an anderer Stelle, im Zu-sammenhang mit dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz,zu reden sein.Das zweite Problem, das wir sehen, ist: Wie steht eseigentlich mit der Unabhängigkeit von Spitzenwissen-schaftlern, wenn künftig über private Industriebeiträgeein Teil ihres Gehalts finanziert wird? Kann Unabhän-gigkeit wirklich gewährleistet werden? Ich habe zwarerst einmal Vertrauen in die Wissenschaft,
aber es ist ein schwieriger Ansatz, das muss man schonsagen.Das dritte Problem, das wir sehen, ist: Wie ist das imVerhältnis zu Universitäten und Hochschulen, die es sichnicht leisten können, diesen zusätzlichen Zuschlag zugewähren? Auch da ist die Balance zwischen außeruni-versitärer und universitärer Forschung ein Problem.Leider haben Sie unseren Antrag, etwas für den wis-senschaftlichen Nachwuchs – und nicht nur für dieSpitze – zu machen, im Ausschuss abgelehnt. Das hättenwir für gut befunden. Wissenschaftsfreiheit in unseremSinne bedeutet nämlich auch, dass Wissenschaftler freivon Sorgen um ihre Existenz forschen und kreativ arbei-ten können.
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Das bedeutet, eine Zukunftsperspektive und vernünftigeArbeitsbedingungen zu schaffen. Dafür werden wir unsweiterhin einsetzen.Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege René Röspel. – Nächster Red-
ner für die FDP-Fraktion ist unser Kollege Dr. Peter
Röhlinger. Bitte schön, Kollege Dr. Röhlinger.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute ist ein
Tag für die Wissenschaft. Wir freuen uns darüber. Wenn
wir ehrlich sind, dann müssen wir feststellen – ich kann
das zumindest für meine Fraktion sagen –: Insbesondere
Grundlagenforschung hat nicht so eine große Lobby, wie
man sich das manchmal wünscht. Schauen Sie sich die
Programme der Parteien einmal dahin gehend an, wie
häufig sich dort das Wort „Grundlagenforschung“ wie-
derfindet. Ich habe es getan. Ich war erstaunt, wie groß
die Differenz ist: „Bildung“ ja; „Grundlagenforschung“
und „Forschung“ schon nicht so sehr. Insoweit ist es ein
gutes Zeichen, mit dem heutigen Tag diesen Akzent über
die Parteigrenzen hinaus zu setzen.
Dies ist ein Zeichen der Politik für Verlässlichkeit und
Dauerhaftigkeit, insbesondere auch ein Zeichen von Ver-
trauen. Wir haben es heute schon von der Ministerin ge-
hört: Es ist ein Ausdruck der Einheit von Freiheit und
Verantwortung. Wir wollen einen Beitrag dazu leisten,
dass die Wissenschaftseinrichtungen nicht gegängelt
werden, sondern dass sie einen gewissen Entscheidungs-
spielraum haben, der ihnen Luft zum Atmen gibt.
Meine Damen und Herren, uns allen liegt die Be-
schlussempfehlung und der Bericht des Bundestagsaus-
schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung zur Annahme des Entwurfs eines
Wissenschaftsfreiheitsgesetzes mit Änderungen vor. Bei
genauerem Hinsehen werden wir unschwer erkennen:
Auch dieses Mal ist es gelungen, dem Grundsatz zu fol-
gen, dass ein Gesetz das Plenum anders verlässt, als es
Eingang gefunden hat. Dies ist also Ausdruck dessen,
dass wir zuhören.
Herr Röspel, Sie haben es angesprochen: Es gibt beim
Gesetzgeber, insbesondere bei den Koalitionären, durch-
aus das Begehren bzw. den Wunsch, den Oppositions-
parteien so weit entgegenzukommen, möglichst einen
Antrag auf den Weg zu bringen, bei dem es partei- und
fraktionsübergreifend die Möglichkeit der Zusammenar-
beit gibt. Das geht nicht bis zum Schluss, und irgendwie
muss die Opposition auch Kante zeigen, wie man in der
Politik sagt. Aber in vielen Dingen ist es uns doch gelun-
gen. Ich freue mich darüber, dass der Änderungsantrag
der christlich-liberalen Koalition zum Gesetzentwurf
auch von der SPD mitgetragen wurde.
Das ist insofern bemerkenswert, als das zugleich als ein
Signal – Herr Röspel, hören Sie genau zu –
an die von der SPD geführten Landesregierungen ver-
standen werden kann,
schnell entsprechende Landesgesetze auf den Weg zu
bringen.
Der Bund kann nicht alles alleine machen, und das will
er auch gar nicht.
Hier sind die Landesregierungen gefragt. Alle Initiati-
ven, diesbezüglich etwas auf den Weg zu bringen, wer-
den von uns unterstützt.
Dieses Gesetz verbinde ich ganz persönlich mit einer
Erinnerung. Als ich mich nach Berlin in den Bundestag
beworben habe, bin ich zu den Präsidenten dieser Ein-
richtungen gegangen und habe sie gefragt: Was kann ich
für euch tun? Ich war über die Antworten erstaunt, denn
mir wurde gesagt: Geld brauchen wir nicht, Herr
Röhlinger,
wir brauchen weniger Bürokratie. Uns stört diese ewige
Gängelung. Sehen Sie bitte zu, dass das aufhört. Wir
wollen weniger Beobachtung, dafür mehr Unterstützung
und mehr Freiraum.
Das ist uns gelungen. In diesem Zusammenhang be-
danke ich mich ganz herzlich bei all denen, die den Ge-
setzentwurf auf den Weg gebracht haben. Ist Frau Flach
noch da? Ja, da hinten sind Sie, liebe Frau Flach.
Vielleicht können Sie ihr das direkt sagen; denn Ihre
Redezeit ist mehr als abgelaufen.
Alles Gute auf diesem Wege!
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23907
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Die Kollegin Dr. Petra Sitte hat jetzt das Wort für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir be-raten heute einen Gesetzentwurf, den die Koalition ge-wissermaßen in einem Anflug von Hochstapelei als Wis-senschaftsfreiheitsgesetz bezeichnet hat.
Genau genommen – Herr Röspel hat schon daraufhingewiesen – geht es gar nicht um Wissenschaftsfrei-heit. Vielmehr geht es darum, dass Institutsleitungen,Präsidien und Forschungsministerien mehr Handlungs-spielraum bekommen sollen.
Insofern wäre es allemal ehrlicher gewesen, wenn Siedas ganze Konstrukt „Wissenschaftsmanagementge-setz“ genannt hätten. Aber nein, wie man Sie so kennt,schlagen Sie lieber ein bisschen Schaum auf einerPfütze, die ziemlich flach, trübe und natürlich auch kleinist.
Die Linke fürchtet nach den Erfahrungen der letztenJahre allerdings, dass die Wissenschaftsfreiheit eher ver-liert als gewinnt. Das will ich Ihnen gerne erklären.Das Problem liegt gar nicht so sehr in den achtschlichten Paragrafen, für die Sie immerhin drei Jahregebraucht haben, sondern vielmehr in dem, was geradenicht in dem Entwurf steht. Jetzt wollen Sie sozusagenGlobalhaushalte einführen, Sie wollen Stellenpläne ab-schaffen, Sie wollen, dass sich die Einrichtungen leichteran Unternehmen beteiligen können. Schließlich sollendie einrichtungseigenen Kompetenzen bei Bauverfahrenerweitert werden.
Insoweit könnte man jetzt meinen, dass Entwarnungsignalisiert werden könnte – wenn sich nicht in den letz-ten Tagen ausgerechnet der Bundesrechnungshof kri-tisch bis ablehnend zu Wort gemeldet hätte.
Aber auch das haben Sie in der gestrigen Turboberatungim Bildungsausschuss ganz tapfer ignoriert.
Für die Linke ergeben sich, wie ich es schon angedeu-tet hatte, Probleme vor allem aus dem, was nicht in die-sem Gesetz enthalten ist. Sie zelebrieren sozusagen denRückzug aus angeblicher staatlicher Detailsteuerung undverkennen gänzlich, dass Sie sich auch aus Ihrer politi-schen Verantwortung zurückziehen.
Mit solchen Fragen, wie man in den Einrichtungen,wenn man ihnen schon mehr Autonomie einräumt, mehrTransparenz oder größere Mitbestimmung für ihre Be-schäftigten schaffen kann, haben Sie sich schon gar nichtbelastet.
Hierzu will ich Ihnen gerne ein Beispiel nennen:Wenn man auf Stellenpläne verzichtet und das Besser-stellungsverbot für Wissenschaftlerinnen und Wissen-schaftler aufhebt,
dann ergeben sich daraus nicht nur für diese Gruppe,sondern für alle Beschäftigten Konsequenzen. Warumergeben sich für alle Beschäftigten daraus Folgen: Weildas Besserstellungsgebot nicht für alle Beschäftigtengilt; Herr Röspel hat das bereits angedeutet. Es soll nurfür das Personal gelten, das einen sogenannten wesent-lichen Beitrag zum wissenschaftlichen Prozess leistet.
Dahinter verbirgt sich – das sage ich für die Zuhöre-rinnen und Zuhörer – die Möglichkeit, dass sogenannteSpitzenkräfte, die gewonnen werden können oder sollen,in ihren künftigen Einkommen aus Drittmitteln aus pri-vatwirtschaftlicher Auftragsforschung bessergestelltwerden können.
Für diese Gruppe ist so etwas also möglich. In diesemFalle gehen Sie auch über die Vergütungsregelungen desöffentlichen Dienstes hinaus.
Allerdings wollen wir an dieser Stelle einmal festhal-ten, dass diese Praxis bereits vom Bundesrechnungshofkritisiert worden ist, weil sie in den letzten Jahren in-transparent gestaltet worden ist. Daher fordert der Bun-desrechnungshof klare Regeln und eine Gehaltsober-grenze. Ich kann mich da dem Bundesrechnungshof nuranschließen.
Meine Damen und Herren, wieso wird eigentlich dasPersonal in den Laboren, an den Großgeräten und imWissenschaftsmanagement ausgeschlossen?
Ich frage: Wieso werden Beschäftigte, insbesondere derwissenschaftliche Nachwuchs im Mittelbau, ausge-schlossen? Wissenschaftliches Arbeiten ist viel komple-xer geworden; man kann das gar nicht mehr so abgren-zen. Deshalb kritisieren wir es.
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23908 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Dr. Petra Sitte
(C)
(B)
Ich erinnere daran: Wir haben hier schon mehrfachdarüber geredet, dass drei Viertel der Beschäftigtenbefristet angestellt sind, was übrigens ein Hauptgrunddafür ist, dass neu gegründete Einrichtungen beispiels-weise in den neuen Bundesländern überhaupt keine Inte-ressenvertretung mehr haben. Da gibt es gar keinen Be-triebsrat, weil die Beschäftigten im Wesentlichenbefristete Verträge haben. Das muss man schon kritisie-ren.
Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass wir hier imBundestag alle gemeinsam schon einen Antrag zur Ver-besserung der Situation des wissenschaftlichen Nach-wuchses beschlossen haben.
Also müsste man nicht nur eine Art Wissenschaftsma-nagementgesetz vorlegen, sondern auch das Wissen-schaftszeitvertragsgesetz ändern. Sie müssten die Tarif-sperre aufheben, damit die Tarifpartner bessereBedingungen schaffen können.
Wer gute Forschung will, muss gute Arbeitsbedingungenbieten, und das auf allen Ebenen, auf allen Karrierestu-fen und für alle Beschäftigten.Fazit: Dieses erste Bundesgesetz für die Forschunghätte eine Initialzündung für eine Zukunftsdebatte gebenkönnen, für eine Debatte über die Frage, wie die Wissen-schaftslandschaft von morgen aussehen soll, über dieProfile und Aufgaben unserer Forschungsorganisatio-nen, über moderne, digital vernetzte Wissenschaft undschließlich über gute Arbeit in den Wissenschaftsein-richtungen.
Das alles findet nicht statt. Das gibt auch dieses Gesetznicht her. Deshalb hat es den hochtrabenden Namen„Wissenschaftsfreiheitsgesetz“ auch nicht verdient.
Frau Kollegin.
Keine Zwischenfrage, Frau Präsidentin.
Ich wollte Ihnen keine Zwischenfrage stellen.
Ich wollte Ihnen einen Hinweis geben.
Das war nur ein Versuch, zu scherzen.
Ich will nur noch sagen, dass dieses Gesetz aus diesen
Gründen für uns nicht annehmbar ist.
Wenn Sie den Scherz demnächst bitte schriftlich ein-
reichen könnten, damit auch ich ihn verstehe?
Krista Sager hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! DiesesGesetz ist im Grunde ein Schritt nachholender Moderni-sierung. Warum „nachholend“? Weil viele Forschungs-einrichtungen die Rechte, die heute gesetzlich fixiertwerden, schon in der Praxis nutzen, weil viele Hoch-schulen seitens der Bundesländer schon seit längeremähnliche Rechte und einen ähnlichen Autonomiestatushinsichtlich ihrer eigenen Belange eingeräumt bekom-men haben. Das heißt, wir bewegen uns in einem Feld,in dem wir schon jahrelang Erfahrungen gesammelthaben.
Dann wundert mich aber doch so manches im Zusam-menhang mit diesem Gesetz.Ich muss den Kollegen der FDP sagen: Es hat michsehr gewundert, dass im ursprünglichen Regierungsent-wurf die Wissenschaftseinrichtungen, die dort ressortie-ren, wo die FDP selber den Hut auf hat, nicht als Nutz-nießer dieser Freiheit vorgesehen waren.
Da frage ich mich schon, Herr Röhlinger, warum sie ur-sprünglich am Gängelband bleiben sollten.
Ich habe mich auch gewundert, wie lange ausgerechnetdie FDP gebraucht hat, sich in dieser Frage neu zu sor-tieren.
Gut, wir haben diese Angelegenheit gestern im Aus-schuss geheilt, die Regierungskoalition gemeinsam mitGrünen und SPD. Das ist auch gut so. Ich möchte Sieaber daran erinnern, dass Sie nicht vergessen sollten,diese Heilung jetzt auch im Haushaltsgesetz umzuset-zen. Auch darin muss sich die Budgetflexibilisierungwiederspiegeln; sonst haben die Einrichtungen davonkeinen Nutzen. Also vergessen Sie das bitte nicht auchnoch.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23909
Krista Sager
(C)
(B)
Wenn wir bedenken, dass wir uns hier in einem Be-reich bewegen, in dem wir viele Erfahrungen gesammelthaben, ist es im Grunde unverständlich, dass letztendlichoffengeblieben ist, mit welchen Instrumenten man tat-sächlich von der Inputsteuerung zur Outputsteuerungübergehen will. Das heißt, welche Indikatoren sollenjetzt eigentlich die relevanten Indikatoren sein, um dieLeistung dieser Einrichtungen zu messen? Wie soll derUnterschiedlichkeit, der Besonderheit von einzelnenEinrichtungen Rechnung getragen werden? Wie sollaber auch mit Kennzahlen eine Vergleichbarkeit herge-stellt werden? Trotz der großen Unterschiede der Ein-richtungen muss es schließlich vergleichbare Kennzah-len geben. Wie soll das Ganze mit Elementen derleistungsabhängigen Mittelzuweisung begleitet werden,und welche Auswirkungen hat das auf Zielvereinbarun-gen? Da hat die Bundesregierung – das muss ich ganzehrlich sagen – ihre Hausgaben nicht gemacht. Dazusagt sie vielmehr: Wir gucken weiter, nachdem wir dasGesetz gemacht haben. – Das halte ich, ehrlich gesagt,für zu wenig.
Meine Damen und Herren, wir reden hier nicht überPeanuts. Es geht hier um ein Volumen von 4,6 Milliar-den Euro, und da ist die Frage, wie bei den außeruniver-sitären Forschungseinrichtungen die Steuerungs- undMonitoringelemente aussehen sollen, nicht gerade einePetitesse. Ich finde es vollkommen richtig, was der Kol-lege Röspel gesagt hat: Wir müssen auch das Parlamentbeteiligen.
Die Angelegenheit ist einfach zu wichtig, als dass dasParlament einfach außen vor bleiben könnte.
Richtig ist auch, dass eine verantwortliche Personal-politik nicht erst bei den Spitzenforschern, sondern beimwissenschaftlichen Nachwuchs anfängt. Uns haben inder Vergangenheit aus einigen Forschungseinrichtungenzu Recht Klagen erreicht, wie mit diesen Menschen inden Verträgen umgegangen wird. Ich hätte es richtig ge-funden, dieses Wissenschaftsfreiheitsgesetz zugunsteneiner verantwortlichen und nachhaltigen Personalpolitikund zugunsten des gesamten Personals um einen Code ofConduct zu erweitern.
Ein weiteres großes Problem ist hier angesprochenworden. Es gibt bei den Gehältern von Spitzenkräften inder Forschung jetzt mehr Handlungsspielräume. Wennaber in den einzelnen Einrichtungen Milliarden bewegtwerden, dann braucht man auch in der Verwaltung undin den technischen Infrastrukturen Spitzenkräfte.
Dass die Handlungsspielräume auf diese Kräfte nichtausgeweitet werden, leuchtet mir, ehrlich gesagt, nichtein.
Von der Bundesregierung erwarte ich, dass sie Sorgedafür trägt, dass auch die Leibniz-Gemeinschaft von denMöglichkeiten dieses Gesetzes profitieren kann und dasswir erfahren, wie es mit Blick auf die Einrichtungen derRessortforschung weiterentwickelt werden kann und wieeinzelne Elemente wie die Überjährlichkeit vielleichtauch bei den Begabtenförderungswerken angewendetwerden können.Darüber hinaus müssen wir uns der Frage widmen,wie wir verhindern können, dass die Universitäten alsArbeitgeber noch mehr Nachteile gegenüber den außer-universitären Forschungseinrichtungen haben. DieseFrage ist für die Wissenschaftspolitik eine der aktuells-ten Fragen; sie ist noch nicht gelöst. Wir brauchen nach-haltige Personalstrukturen.
Wir brauchen einen Pakt für den wissenschaftlichenNachwuchs. Das heißt, es gibt in der Wissenschaftspoli-tik auch in Zukunft noch eine ganze Menge zu tun.
Der Kollege Albert Rupprecht hat das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Frau Sitte, was wir heute beschließen,ist nicht Kleinkram, sondern hat eine Dimension, wie essie in dieser Größenordnung noch nie gegeben hat. Wirschaffen erstmalig – so etwas hat es in der Tat noch niegegeben – ein eigenes, separates Haushaltsrecht für ei-nen speziellen Politikbereich. Das ist einzigartig und hateine historische Dimension.
Wer dieses Gesetz, Frau Sitte, kleinredet – Sie sagten,es seien nur acht schlichte, dürftige Paragrafen –, hat,glaube ich, die Dimension und die Wirkung dieses Ge-setzes noch nicht verstanden.
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23910 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Albert Rupprecht
(C)
(B)
Ich prognostiziere Ihnen, Frau Sitte, dass das, was wirheute beschließen – Frau Sager, Sie haben recht, an man-chen Hochschulen ist dies bereits Realität, aber an vieleneben nicht –, eine Dynamik entfalten, eine Welle auslö-sen wird, die letztendlich auch vor den Hochschulennicht haltmachen wird. Vielmehr wird es auch an denHochschulen aufgrund dieses Gesetz zu wesentlichen,substanziellen Veränderungen kommen.
Was wir heute machen, ist in eine Studie, in ein Doku-ment des Wissenschaftsrates von Juli 2000 einzubetten.Damals hat der Wissenschaftsrat letztmalig umfassenddas deutsche Wissenschaftssystem untersucht. Er hat indiesem Zusammenhang elf Anforderungen an die Politikformuliert. Er forderte eine stärkere Anwendungsorien-tierung, eine stärkere internationale Ausrichtung undviele andere Dinge mehr. Einer dieser elf Punkte war dieAufforderung des Wissenschaftsrates an die Politik, fürmehr Selbststeuerung und weniger Detailsteuerungdurch die Politik zu sorgen, eben das, was wir heute mitdem Wissenschaftsfreiheitsgesetz beschließen.Die Aufgaben, die der Wissenschaftsrat damals ge-nannt hat, sind wir in den letzten zwölf Jahren angegan-gen, auch zusammen mit der SPD in der Großen Koali-tion. Die Reform wurde von Frau Bulmahn angestoßenund von Frau Ministerin Schavan in großer Dimensionumgesetzt und vollzogen. Dieser Bericht war die Grund-lage für die Arbeit der letzten Jahre. Das gilt für dieHightech-Strategie, die Exzellenzinitiative und denHochschulpakt. Mit den Paketen, die wir als Lösungpolitisch beschlossen haben, haben wir im Wissen-schaftssystem Deutschlands eine Dynamik in Gang ge-setzt, die eine historische Dimension hat. Wir habendamit das Wissenschaftssystem in Deutschland neu aus-gerichtet.
Ich will in diesem Zusammenhang nur einen Betragnennen: Der Bund hat seit 2000, über die Regierungszei-ten der verschiedenen Koalitionen hinweg, deutlichmehr als 150 Milliarden Euro investiert, um das Wissen-schaftssystem in Deutschland neu auszurichten. Das warein Riesenkraftakt, aber damit waren wir, wie ich finde,ausgesprochen erfolgreich.
Heute beschließen wir den letzten gewichtigen Bau-stein, den der Wissenschaftsrat damals eingefordert hat:mehr Freiheit für die Wissenschaft. Herr Röspel, diesesGesetz bringt sehr wohl mehr Freiheit. Dieser Einzel-baustein fügt sich in ein Ganzes. Ich sage es nochmals:Über die Parteigrenzen hinweg haben wir unsere Mis-sion aus dem Jahr 2000 erfüllt.
In der parlamentarischen Beratung haben wir vierThemen vertieft behandelt:Erstens. Wir wollten – Sie haben das Thema ange-sprochen; das wollten aber auch die Unionsfraktion unddie FDP-Fraktion –, dass die AvH und der DAAD in denGesetzentwurf aufgenommen werden. Dafür war einStück Überzeugungsarbeit bei den Fraktionskollegen ausden anderen Fachbereichen notwendig. Das ist letztend-lich gelungen. Der Punkt ist somit erledigt.Zweitens: das Berichtswesen. In der Tat war die Frage– Sie haben es angesprochen –, ob wir das Berichtswe-sen im Gesetzentwurf inhaltlich konkret und präzisefestschreiben wollen. Letztendlich war der entschei-dende Punkt, dass wir der Überzeugung sind, dass mehrFreiheit auch mehr Verantwortung bedeutet. Und mehrVerantwortung heißt für uns ganz konkret: Wir erwartenvon den Wissenschaftsorganisationen, dass sie aufgrundvon mehr Freiheit zusätzliche, weitere und bessere wis-senschaftliche Ergebnisse vorlegen. Wir erwarten vonden Forschungseinrichtungen, dass sie systematisch,kontinuierlich und aussagekräftig darüber berichten. Dasist unstrittig. Die Frage war letztlich nur, ob wir das jetztmit diesem Gesetz konkret und detailliert regeln sollten.Nach vielen Gesprächen, die wir geführt haben, sind wirzu der Erkenntnis gekommen, dass das falsch wäre, weilsich ein derartiges, outputorientiertes Berichtssystem nurim Dialog, im Zuge der Umsetzung und im Zusammen-spiel von Wissenschaftseinrichtungen, Parlament undRegierung über Monate hinweg entwickeln kann. Wirkönnen das heute an dieser Stelle nicht abschließend unddetailliert festlegen. Das ist eine Aufgabe, deren Lösungheute beginnt. Der Beschluss, die Verabschiedung desGesetzentwurfs ist letztendlich der Einstieg in genau die-sen Dialog, der notwendig ist.
Ich sehe, dass meine Redezeit leider Gottes schon zuEnde ist. Ich verstehe gar nicht, wieso.
Ich hätte gerne noch weitere Themen angesprochen, zumBeispiel den Bereich des wissenschaftlichen Nachwuch-ses. Aber dafür sind fünf Minuten wesentlich zu kurz.
Ich hätte auch gerne noch etwas zu den Ressortfor-schungseinrichtungen gesagt. Das wird der Kollege fürmich übernehmen.Lassen Sie mich abschließend sagen: Ich habe in denzehn Jahren, in denen ich Mitglied des Deutschen Bun-destages bin, keinen Gesetzentwurf erlebt, der so vielZustimmung von den betroffenen Institutionen erhaltenhat wie dieser Gesetzentwurf. Wir werden von den Wis-senschaftseinrichtungen wie Schellenkönige – so sagtman in Bayern – für diesen Gesetzentwurf gelobt. Ichglaube, das ist ein starkes Zeichen dieser Einrichtungendafür, dass wir heute hier in der Tat einen richtigenSchritt machen.Herzlichen Dank.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23911
(C)
(B)
Der Kollege Klaus Hagemann hat das Wort für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! KollegeRöspel hat davor gewarnt, heute mit zu viel Pathos in dieDiskussion zu gehen. Daran musste ich gerade bei derRede des Kollegen Rupprecht denken. Sie haben es sodargestellt, als ob ein neues Zeitalter beginnt, als ob einUrknall durch die Wissenschaftsszene geht.
Wenn wir in die Genese gehen, lieber KollegeRupprecht, dann sehen wir, dass es nichts Neues ist. Siehaben darauf hingewiesen, dass wir das Gesetz nichtschlecht- und kleinreden sollen. Die Wissenschaftsfrei-heitsinitiative, die wir in der Großen Koalition geregelthatten, enthielt schon fast alles von dem, was jetzt imGesetz steht. Die Wissenschaftsorganisationen konntenalso schon handeln, und die Anregungen des Wissen-schaftsrates sind in diesem Zusammenhang umgesetztworden.Wir könnten in dieser Frage schon wesentlich weitersein, wenn es nicht den einen oder anderen Bremser inder Zeit der Großen Koalition gegeben hätte. Ich schauenach rechts zum damaligen haushaltspolitischen Spre-cher der Union und heutigen geschätzten StaatssekretärPeter Kampeter.
Er war einer derjenigen, die am meisten gebremst haben.Er wollte nicht, dass Haushaltsrechte an Außenstehendeabgegeben werden. Wir, Frau Ministerin Schavan, habengekämpft, um dies im Haushaltsausschuss voranzubrin-gen. Das sollten wir noch einmal in Erinnerung rufenund deutlich machen.
Ich bin auch dankbar – jetzt spreche ich den KollegenRehberg an –, dass wir in Vorgesprächen einiges bewe-gen konnten, leider nicht so, dass wir alle Anregungen,lieber Kollege Dr. Röhlinger, aufgreifen konnten. EinigeAnregungen sind nicht umgesetzt worden; ich kommedarauf gleich noch zu sprechen. Deswegen können wiruns heute – Kollege Röspel hat darauf hingewiesen – nurder Stimme enthalten. Aber der Grundzug ist richtig.Diesen haben wir in der Zeit der Großen Koalition fest-gelegt. Wir haben dabei die Anregungen aus den Wis-senschaftsorganisationen übernommen.Dass die AvH, die Alexander-von-Humboldt-Stif-tung, und der Deutsche Akademische Austauschdienstim Gesetz enthalten sind, ist sehr positiv; denn sie brau-chen mehr Flexibilität in ihren Haushalten.Ich möchte aber auch die Ressortforschungseinrich-tungen ansprechen. Ich finde es nicht gut, dass sie nichtim Gesetz stehen. Man regelt das jetzt über Vermerke imHaushaltsplan. Weil die Ressortforschungseinrichtungender einzelnen Ministerien auch von der politischen Di-rektive der Ministerien abhängig sind, besteht aber dieGefahr, dass hier keine Freiheit so wie bei den Wissen-schaftsorganisationen gegeben ist. Deswegen, so meineich, müssen sie ins Gesetz aufgenommen werden, zumBeispiel die Physikalisch-Technische Bundesanstalt, dieBAM, also die Bundesanstalt für Materialforschung und-prüfung, und der Deutsche Wetterdienst. Man hätte siein das Gesetz aufnehmen sollen, um ihnen mehr Flexibi-lität zu geben. Hier besteht eine gewisse Gefahr, dassWillkür herrscht, dass über politische Direktiven Ein-fluss genommen werden kann und dass politischer Op-portunismus eine Rolle spielt. Diese Einrichtungenmüssten daher unserer Ansicht nach in das Gesetz aufge-nommen werden.
Die Kritik des Rechnungshofes ist schon angespro-chen worden. Ich möchte hier auf eine Pressemitteilunghinweisen – darüber haben wir uns schon heute Nach-mittag im Haushaltsausschuss unterhalten –: „Rech-nungshof verreißt Wissenschaftsfreiheitsgesetz“. Ichdarf einen kurzen Abschnitt zitieren:Angesichts der stetig wachsenden Mittel für dieForschungsorganisationen fehle ein ausreichendesControlling. Gelder könnten auf Selbstbewirtschaf-tungskonten geparkt werden.Das darf nicht passieren; denn sie sollen in der For-schung verausgabt werden.
Ich zitiere weiter:Bei den geplanten Spitzenvergütungen für heraus-ragende Wissenschaftler fehle es an Transparenz …Auch das sollten wir als Parlamentarier ernst nehmen.Wir sollen im Blick behalten, ob hier entsprechend ge-handelt wird.
Es sollte auch – so steht es in der Pressemitteilung – eineGehaltsobergrenze eingeführt werden.
Diese Kritikpunkte des Rechnungshofes sind berech-tigt. Ich sage nicht, dass ihnen allen gefolgt werdenkann, aber sie müssen beachtet werden.Lassen Sie mich zum Schluss – mir geht es wie demKollegen Rupprecht; auch mir läuft die Zeit davon –noch einmal deutlich machen: In der ersten Lesung hatteich sehr kritisiert, dass eine der Forschungseinrichtun-gen, die Max-Planck-Gesellschaft, gerade im Bereichder Förderung von Stipendiaten, von Doktoranden sehrzurückhaltend war. Wir haben hier Verbesserungen ge-fordert. Seit der ersten Lesung ist etwas geschehen: DieMax-Planck-Gesellschaft hat festgelegt, dass Stipendia-ten, dass Doktoranden mit einem Höchstbetrag von – ich
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23912 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Klaus Hagemann
(C)
(B)
hoffe, ich habe es richtig im Kopf – 1 350 Euro gefördertwerden. Das sollte beispielhaft für alle Organisationenwerden.
Denn, wie vorhin schon formuliert wurde, gute Wissen-schaftler bedingen gute Nachwuchswissenschaftler. DieWissenschaft erzielt nur Erfolge, wenn entsprechendgute Leute zur Verfügung stehen.Zum Schluss noch dieses: Der Kollege Rachel undich haben in dieser Woche an einer Gremiensitzung einergroßen Wissenschaftsorganisation teilgenommen. Dawurde seitens des Gesamtbetriebsrates kritisiert, dassman nur die Spitzenwissenschaftler aufnimmt und nichtauch die wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mit-arbeiter. Diese Kritik nehmen wir auf, und die werdenwir hier auch weiter verfolgen.
Herr Kollege Hagemann.
Ich komme zum Ende und möchte darum bitten, das
zu beachten.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Der Kollege Professor Dr. Martin Neumann hat für
die FDP-Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich beginne mit dem bemerkenswertestenBegriff, der hier gefallen ist, nämlich mit dem Thema„Outputsteuerung“ – ich sage es mal auf Deutsch –, alsoSteuerung auf Zielsetzung. Das, was hier dazu gesagtwurde, stimmt so nicht; denn die Zielvereinbarungenwerden mit den Wissenschaftseinrichtungen getroffen.Wir geben damit – das will ich an der Stelle hervorhe-ben, denn darum geht es ja in diesem Gesetzentwurf –Freiheit und übertragen Verantwortung an die Einrich-tungen auf der Grundlage genau dieser Zielvereinbarun-gen.Gestatten Sie mir noch eine zweite Bemerkung. FrauSager, Sie sprachen beispielsweise von Leibniz und derRolle der Länder dabei. Auch das, was Sie hierzu gesagthaben, ist nicht richtig. Die Länder können und müssenin der gemeinsamen Wissenschaftskonferenz für ent-sprechende Landesregelungen sorgen. Das haben wirimmer wieder deutlich gesagt. Dazu laufen gegenwärtigBeratungen. Verdrehen Sie die Tatsachen bitte nicht. Ichhabe bisher keine Anzeichen dafür bemerkt, dass sichLänder hier sperren wollten.Kommen wir zum Inhalt. Wir haben jetzt drei Jahre inder Koalition an einem für die Wissenschaft äußerstwichtigen Gesetz gearbeitet. Hier sind ja verschiedeneFragmente genannt worden, die ich kurz zitierenmöchte; ich habe mir das gerade aufgeschrieben. Ge-sprochen worden ist von wissenschaftlichem Nach-wuchs, von Intransparenz, und von der Outputsteuerungwar die Rede. Sie haben aber nicht mit einem einzigenWort gesagt, was notwendig ist für die Spitzenfor-schung, welche Bedingungen wir in Deutschland organi-sieren müssen, um hier Spitzenforschung zu bekommen.Wir reden also nun drei Jahre darüber, wir diskutierendarüber, und auch hier im Parlament wurde oft darübergesprochen. Aber fünf Minuten vor der Angst bekom-men wir Änderungsanträge, die Sie mit den zuvor zitier-ten Bemerkungen umschrieben haben.
– Jetzt, Frau Sitte, gestatten Sie mir noch eine Bemer-kung zu den Ressortforschungseinrichtungen.
– Ja, das war aber etwas ganz anderes.Auch die Sache mit den Ressortforschungseinrichtun-gen ist tatsächlich nicht so, wie Sie das hier dargestellthaben. Ich habe in der diesjährigen Sommerpause eineganze Reihe von Einrichtungen der Ressortforschung inBerlin und Brandenburg besucht, unter anderem diePhysikalisch-Technische Bundesanstalt und die Bundes-anstalt für Materialforschung und -prüfung. Die Kolle-gen dort haben mir etwas völlig anderes gesagt als das,was Sie hier behaupten. Sie wollen nämlich nurbestimmte Flexibilisierungen. Sie wollen nicht dasgesamte Gesetz; das muss man an der Stelle sagen. Des-halb haben wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, die be-treffenden Regelungen mit Maß und Verstand in denjetzt vorliegenden Gesetzentwurf aufgenommen.Ein kleines Beispiel: Die Bundesanstalt für Material-forschung und -prüfung möchte im Jahre 2013 mit einemPilotprojekt starten, bevor man dort Stellenpläne kom-plett verändert. Die Bundesanstalt wartet auf die Ergeb-nisse, die man dann dort gemeinsam erzielen wird. Dasgeht vollkommen gegen das, was Sie hier in den Geset-zestext aufzunehmen versuchen.
Sie, liebe Frau Kollegin Sager, haben uns vorgewor-fen, dass wir ein Verhinderer von Freiheit seien, dass wirdie Ausweitung des Gesetzes blockierten. Dazu kann ichnur Folgendes sagen, und das will ich wirklich lobendhervorheben: Die Ressortforschungseinrichtungen derFDP-geführten Ministerien machen am meisten von denFlexibilisierungsregelungen Gebrauch. Das Gesund-heitsministerium und das Auswärtige Amt haben ge-zeigt, dass man weitreichende Flexibilisierungen auf-nehmen kann. Wir sind nicht Verhinderer, liebe
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23913
Dr. Martin Neumann
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Kolleginnen und Kollegen, sondern die Förderer derWissenschaftsfreiheit.Ich bedanke mich bei den Kolleginnen und Kollegender Opposition ausdrücklich dafür, dass sie die Rege-lung, die Alexander-von-Humboldt-Stiftung und denDAAD mit aufzunehmen, mittragen.Ich komme zum Schluss. Wir wollen mit dieser Rege-lung, so wie wir sie heute vorgestellt haben, letztendlichganz konkret zum Ausdruck bringen, dass wir ein klarespolitisches Signal von Ihnen vermissen. Sie haben ohneBlick auf die richtige Zielrichtung gesprochen. Sie lie-ben es, uns über das Thema „Freiheit in der Wissen-schaft“ zu belehren.
Vor diesem Hintergrund fordere ich Sie ganz deutlichauf: Wenn es Ihnen tatsächlich um ein Signal an die Wis-senschaft geht und wenn Sie ein solches Gesetz ernsthaftfordern, dann stimmen Sie doch endlich für unser Wis-senschaftsfreiheitsgesetz!Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Kollege Eckhardt Rehberg für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich würde dieses Thema nicht so abtun wollen,als ob wir lediglich ein paar haushaltsrechtliche Rege-lungen verändern oder aufheben. Nein, meine sehr ver-ehrten Damen und Herren, das, worum es heute geht, istfür die deutsche Wissenschaftslandschaft ein Schrittnach vorne.Ich glaube, Herr Kollege Hagemann, es ist ganznormal, dass im Vorfeld bestimmte Schritte notwendigwaren, um das zu erreichen, was man jetzt erreicht hat:Globalhaushalte, die weitgehende Befreiung von Rege-lungen im Baubereich usw. usf. Ich glaube, es wäre nichtziel- und sachgerecht gewesen, wenn man diese Maß-nahmen schon 2008 so durchgeführt hätte, wie wir esheute tun. Ich erinnere nur an die Helmholtz-Debatte, inder es darum ging, dass, wie es der Bundesrechnungshofdargestellt hat, angeblich Mittel liegengeblieben sind. ImNachhinein hat sich herausgestellt, dass es nicht so war,sondern dass im Rahmen der Selbstbewirtschaftungs-grenzen sachgerecht gearbeitet worden ist. Insofern sageich als für den Einzelplan 30 zuständiger Haushälter: Ichglaube, heute ist ein mehr als guter Tag. Da dieser Ge-setzentwurf heute im Deutschen Bundestag verabschie-det wird, ist es für den deutschen Wissenschaftsbereichsogar ein ganz entscheidender Tag.
Dieser Prozess wurde ganz maßgeblich von AnnetteSchavan und Ulrike Flach gestaltet. Sie haben auch da-für gesorgt, dass dieses Vorhaben im Koalitionsvertragverankert wurde. Dass es dagegen Widerstände derFachressorts gibt, halte ich für ganz normal.
Ich komme noch einmal auf den DAAD und die AvH-Stiftung zu sprechen. Beide werden aus drei Ressorts ge-speist: aus dem des Auswärtigen Amts, dem des Ent-wicklungshilfeministeriums und dem des Bildungs- undForschungsministeriums. Deswegen waren auch hierWiderstände zu überwinden. Wir, die Abgeordneten vonCDU/CSU und FDP, sind allerdings so selbstbewusst,meine sehr verehrten Damen und Herren von der Oppo-sition, dass wir sagen: Wenn wir das für richtig undsachgerecht halten, wird das auch umgesetzt. – Wirbedanken uns bei der SPD und beim Bündnis 90/DieGrünen, dass Sie das mittragen.
Frau Sager, Sie kritisieren, dass es zwischen den For-schungs- und Wissenschaftseinrichtungen, die im Wis-senschaftsfreiheitsgesetz aufgeführt sind, und den Hoch-schuleinrichtungen der Länder einen Niveauunterschiedgeben wird. Dazu kann ich nur eines sagen: Dann sollendoch bitte auch die Länder Globalhaushalte einführen!
Dann sollen doch bitte auch die Länder ihre Universitä-ten und Fachhochschulen von stringenten Regelungenbefreien!
Dann, glaube ich, gäbe es noch mehr Wettbewerb, so-wohl zwischen den Ländern als auch innerhalb der Län-der, und man könnte sehen: Wo ist man erfolgreich, undwo kommen wir voran?
– Das ist in vielen Ländern überhaupt noch nicht gesche-hen. In vielen Ländern haben die Universitäten keineGlobalhaushalte. In den meisten Ländern frönt man nochdem Urzustand der Kameralistik und Gängelung. Den-jenigen, der sich darüber beklagt, dass der Bund in die-sem Bereich voranschreitet, kann ich nur auffordern, esdem Bund gleichzutun. Dann braucht man sich an dieserStelle nicht mehr zu beklagen.
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23914 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Eckhardt Rehberg
(C)
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– Wissen Sie: Es ist mir ganz egal, welche Parteifarbe ineinem Bundesland gerade vorherrscht.
Das war eine generelle Aussage im Hinblick auf dieWissenschafts- und Forschungslandschaft in Deutsch-land. Da achte ich überhaupt nicht auf Parteibücher.Noch eine Anmerkung zum Thema Ressortforschung.Ich halte es für nicht sachgerecht, das Wissenschaftsfrei-heitsgesetz in dieser Art und Weise für die Ressortfor-schungseinrichtungen des Bundes zu öffnen. Sach-gerecht war vielmehr der Kabinettsbeschluss vom Maidieses Jahres, der vorsah, dass die Ressorts selber ent-scheiden: Wer kann die Flexibilisierung nutzen, und werkann sie nicht nutzen? Es gibt Ressortforschungseinrich-tungen, die überwiegend Forschung betreiben, und esgibt auch viele, die in hohem Maße administrative Auf-gaben haben. Ich glaube, hier muss man ein bisschenaufpassen, dass man nicht zu viel des Guten tun wird.
Eine letzte Bemerkung: Ich glaube, ich verrate keinGeheimnis, wenn ich sage: Ich denke, es ist ein falschesAnsinnen, jetzt schon mit einer Neiddebatte anzufangen.Es geht um das Thema „Transparenz von Gehältern beiden Forschungseinrichtungen“. Wir haben uns dazu ent-schieden, dass sie durch Drittmittel, durch private Mittel,aufgestockt werden können, und sollten nicht gleich imnächsten Schritt dafür sorgen, dass diese Gehälter offen-gelegt werden. Überlegen Sie auch einmal, was wäre,wenn Sie das gleiche Ansinnen, dass sämtliche Einkom-men personenbezogen offengelegt werden müssen,bezogen auf ein Unternehmen hätten. Das macht keinUnternehmen.
Deswegen bin ich strikt dagegen, dass wir als Erstesdamit anfangen, eine Neiddebatte zu führen, indem wiralle Gehälter in den Forschungseinrichtungen offenle-gen; denn dies führt nicht zum Ziel, sondern nur zuNeiddebatten in der Öffentlichkeit. Das Wissenschafts-freiheitsgesetz wird aber nicht dazu da sein, eineNeiddebatte zu initiieren, sondern Wissenschaft undForschung voranzubringen.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Flexibili-
sierung von haushaltsrechtlichen Rahmenbedingungen
außeruniversitärer Wissenschaftseinrichtungen.
Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik-
folgenabschätzung empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/11046, den Gesetzentwurf
der Bundesregierung auf den Drucksachen 17/10037
und 17/10123 in der Ausschussfassung anzunehmen.
Diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
bitte ich jetzt um ihr Handzeichen. – Die Gegenstim-
men! – Die Enthaltungen! – Damit ist der Gesetzentwurf
in zweiter Beratung bei Zustimmung durch die Koali-
tionsfraktionen angenommen. Dagegen hat die Fraktion
Die Linke gestimmt, SPD und Bündnis 90/Die Grünen
haben sich enthalten.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer ist für den Gesetzentwurf
und erhebt sich deswegen? – Die Gegenstimmen! – Die
Enthaltungen! – Damit ist der Gesetzentwurf in dritter
Beratung bei gleichem Stimmenverhältnis wie zuvor an-
genommen.
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über den
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/11064. Wer stimmt für den Entschließungsan-
trag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit
ist der Entschließungsantrag bei Zustimmung durch die
einbringende Fraktion abgelehnt. Die Fraktion Bündnis
90/Die Grünen, die CDU/CSU und die FDP waren dage-
gen, die SPD hat sich enthalten.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel
Höhn, Kerstin Andreae, Hans-Josef Fell, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kosten und Nutzen der Energiewende fair
verteilen
– Drucksache 17/11004 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Federführung strittig
Für die Beratung ist eine halbe Stunde vorgesehen. –
Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist
das so beschlossen.
Das Wort für Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege
Hans-Josef Fell.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Seit Monaten gibt es wegen angeblich untrag-barer Strompreiserhöhungen eine Hetzkampagne gegenden Ausbau der erneuerbaren Energien.
Kampagnenchef ist Wirtschaftsminister Rösler, assistiertwird ihm von Umweltminister Altmaier, FDP-Fraktions-chef Brüderle und Energiekommissar Oettinger.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23915
Hans-Josef Fell
(C)
(B)
Verbreitet werden die übelsten Diffamierungen gegendie erneuerbaren Energien, auch in millionenschwerenAnzeigen von der Initiative Neue Soziale Marktwirt-schaft.
Sie alle verschweigen völlig den Beitrag des Ökostromszum Klimaschutz und zur Ablösung der Erdölwirtschaft,die die Verbraucher und die gesamte Wirtschaft mit im-mer höheren Ölpreisen unter Druck setzt.
Doch Ihnen von Union und FDP geht es ja gar nichtum die Lösung zentraler Menschheits- und Wirtschafts-probleme, sondern ausschließlich um den Bestands-schutz der schmutzigen Stromerzeugung aus Kohle, undSie bereiten Ihre dritte Kehrtwende für eine Laufzeitver-längerung von Atomkraftwerken vor,
wie sie der Fraktionsvize Vaatz gestern gefordert hat.Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen.
Die wahren Strompreistreiber sind Sie, meine Damenund Herren von Union und FDP. 2005, am Ende der rot-grünen Regierungsverantwortung, lag die EEG-Umlagegerade mal bei 0,7 Cent pro Kilowattstunde.
Sie von Union und FDP haben sie mit gravierenden Feh-lern in verschiedenen EEG-Novellen auf heute 5,3 Centhochgetrieben.
Ohne Ihre verfehlte Politik läge die EEG-Umlage trotzerfolgreichen Ausbaus der erneuerbaren Energien heutesozialverträglich unter 3 Cent.
Der erste Fehler der Union, den Sie zusammen mitder SPD machten, passierte schon 2009, als Sie denUmlagemechanismus verändert haben. Sie haben damitden wegen der erneuerbaren Energien sinkenden Bör-senstrompreis zur Basis für die Berechnung der EEG-Umlage gemacht und so schon die EEG-Umlage um1 Cent pro Kilowattstunde hochgetrieben.Dann folgten Schlag auf Schlag die schwarz-gelbenpreistreibenden Fehler: die uferlose Befreiung vonProduktionsbetrieben von der EEG-Umlage,
die Eigenstrombefreiung von Kohlekraftwerken und dieEinführung der Marktprämie.Wir fordern Sie heute mit dem Antrag auf, genaudiese hausgemachten Fehler zu korrigieren. Wenn Sie esernst meinen mit der Begrenzung der Kosten der Ener-giewende, dann müssen Sie unserem Antrag zustimmen.
Aber ich habe mir auch einmal Ihre konkretenVorschläge zur Preisdämpfung angeschaut. Im Verfah-rensvorschlag zum EEG von Umweltminister Altmaierfinden wir keine Vorschläge zur Korrektur Ihrer hausge-machten schwarz-gelben Fehler. Stattdessen hören wirvon der FDP und vom Umweltminister ausschließlichVorschläge zur Begrenzung des Ausbaus der erneuerba-ren Energien. Erstmals in der Geschichte Deutschlandshaben wir einen Umweltminister, der die wichtigste Kli-maschutztechnologie ausbremsen will. Was ist das dennfür ein Umweltminister?Ja, die FDP verlässt sogar den Boden der freienMarktwirtschaft.
Ihre Vorschläge zum Quotenmodell mit staatlich festge-legten Ausbauzielen habe ich vor allem in den kommu-nistischen Fünfjahresplänen Chinas gefunden.
Nur, selbst in China wurde inzwischen erkannt, dassdiese staatlich festgelegten Quoten nicht erfolgreichsind, und dort wurde ein EEG eingeführt, das Sie genauabschaffen wollen.
Aber den Vogel schießt ausgerechnet UmweltministerAltmaier ab.
Er will den jährlichen Zubau von Windkraft, Biomasseund Photovoltaik staatlich festgelegt kontrollieren undmit einer marktwirtschaftswidrigen Obergrenze belegen.
Sein Argument, dass der angeblich unkontrollierteAusbau des Ökostromes mit dem Ausbau der Netzenicht mithält, ist nicht tragfähig. Vergleichbar ist dies mitdem Vorschlag, dass man wegen der vielen Staus auf dendeutschen Straßen und des fehlenden Straßenausbaus beiden Bundesfernstraßen VW und Daimler staatlich zwin-gen will, den Verkauf von Autos einzuschränken. Nichtsanderes ist dies. Eine absurde Vorstellung, die nichts mitMarktwirtschaft zu tun hat, weil Sie nur eingreifenwollen in den Ausbau der anderen.
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23916 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Hans-Josef Fell
(C)
(B)
Ihre Politik von Schwarz-Gelb hat nichts mehr mitMarktwirtschaft zu tun.
Ihre planwirtschaftlichen Vorschläge –
Herr Kollege.
– zum Bestandsschutz der großen Energiekonzerne
werden aber nicht durchgehen; denn weite Teile der
Bevölkerung haben längst erkannt, dass sie mit genos-
senschaftlichen Modellen selbst den Strom erzeugen
können –
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende gekommen sein.
– ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin – und die
Wertschöpfung in die eigene Hand nehmen können.
Wir Grünen werden die Bevölkerung gegen Ihre
Preistreiberei und Ihre planwirtschaftlichen Vorschläge
zum Ausbremsen der erneuerbaren Energien unterstüt-
zen.
Das Wort hat der Kollege Andreas Lämmel für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Herr Fell, wissen Sie, da höre ich mir doch drei-mal lieber die Frau Höhn an als noch einmal das, was Siehier zum Besten gegeben haben.
Es ist wirklich unglaublich, was Sie hier für einenUnfug erzählt haben.
Das Erneuerbare-Energien-Gesetz ist genau das Pro-blem, weil es nämlich bei den Kosten nach oben völligunbegrenzt ist. Jedes Förderprogramm, das wir bisheraufgelegt haben, ob das nun Marktanreizprogrammeoder andere waren, hat einen Deckel, aber das Erneuer-bare-Energien-Gesetz ist praktisch unbegrenzt.
Die EEG-Umlage steigt natürlich genauso unbegrenztmit, wenn man den Ausbau in unserem Lande unbe-grenzt forciert. Ganz besonders gilt dies im Bereich derPhotovoltaik. Sie, Herr Fell, wissen selbst: 57 Prozentder Umlage entstehen durch die Kosten für die Photovol-taik, die aber nur einen Anteil von 12 Prozent unseresStromes in Deutschland ausmacht.Wo wäre denn die EEG-Umlage heute, wenn wirnicht in den letzten Jahren gegen den erbitterten Wider-stand von Ihnen, den Grünen, und von Ihnen, der SPD,
und den Ländern, die alle mitgemischt haben, die Förde-rung gekürzt hätten? Es klingelt doch in den Ohren,wenn ein Ministerpräsident sagt, er würde eine Energie-preisdeckelung einfordern. Ich frage mich da manchmal,was im Bundesrat diskutiert wird.Das Erneuerbare-Energien-Gesetz stößt eben, wirt-schaftlich gesehen, marktwirtschaftlich gesehen undauch technisch gesehen, an seine Grenzen. Darüber kannman doch nicht diskutieren.
Ich merke: Auch bei Ihnen zieht langsam die Erkenntnisein, dass wir Änderungen brauchen und dass wir dieseÄnderungen schnell brauchen.
Die erneuerbaren Energien sind doch mit einem An-teil von über 20 Prozent am Strom kein Nischenproduktmehr. Damals, als das Stromeinspeisungsgesetz und spä-ter das Erneuerbare-Energien-Gesetz in Kraft gesetztwurden, war es sinnvoll, neue Technologien zu fördern.Das ist doch unbestritten.
– Wir können darüber reden, warum ich dagegen ge-stimmt habe.
Es war nämlich erkennbar, dass wir genau an den Punktkommen, an dem wir heute stehen. Das war damalsschon erkennbar.
Herr Fell, Sie können im Moment den Strompreisnicht mehr dämpfen, weil die von Ihnen vorgeschlage-nen Maßnahmen in Ihrem Antrag erst mittel- und lang-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23917
Andreas G. Lämmel
(C)
(B)
fristig wirken. Kurzfristig kann man an diesem Systemüberhaupt nichts ändern.Jetzt zu der größten Legende, die Sie verbreiten. InIhrem Antrag steht der Satz:Die weit verbreitete Sorge, dass die Energiewendegerade energieintensive Unternehmen hart treffenwerde, hat sich als unbegründet erwiesen.Das ist der Hammer. Mein lieber Mann, da kann man se-hen, dass die Grünen wirtschaftspolitisch völlig blindsind und überhaupt nicht merken, was seit der Einfüh-rung zusätzlicher Belastungen in Deutschland passiertist.
Herr Kollege, Herr Lenkert möchte Ihnen gern eine
Zwischenfrage stellen. Möchten Sie sie zulassen?
Nein, ich möchte im Moment keine Zwischenfragen
zulassen.
Ich will Herrn Fell gerne die Zahlen liefern, damit er er-
kennen kann, wie blind die Grünen heute in der Wirt-
schaftspolitik agieren.
Ein Unternehmen aus der Stahlbranche zahlt bei der ak-
tuellen Umlage von 3,59 Cent pro Kilowattstunde ohne
Entlastung 280 Millionen Euro pro Jahr zusätzlich. Für
diese 280 Millionen Euro zusätzliche Kosten entsteht
nicht eine einzige Tonne Stahl mehr. Für diese 280 Mil-
lionen Euro zusätzliche Kosten entsteht auch kein einzi-
ger Arbeitsplatz mehr.
Nach der Entlastung – Sie sprechen immer von Be-
freiung, aber es handelt sich hier ausschließlich um eine
Entlastung – zahlt das Unternehmen 88 Millionen Euro.
Wenn man jetzt diese neue Preissteigerung einrechnet,
also die 5,3 Cent pro Kilowattstunde, die jetzt für die
Zukunft ausgerechnet worden sind und dabei wieder die
Entlastung einrechnet, dann entstehen dem Unterneh-
men in einem Jahr 128 Millionen Euro zusätzliche
Kosten.
– Ich kann Sie Ihnen geben. – Man muss doch erkennen,
dass dieses Unternehmen natürlich nicht mehr in
Deutschland investieren wird, sondern es wird sich an-
dere Standorte in anderen Ländern suchen, wo einfach
diese zusätzlichen Belastungen nicht entstehen.
Die Stahlindustrie insgesamt hat ab 2013 jährliche
Mehrkosten ohne Entlastung in Höhe von 1,8 Milliarden
Euro, also 1 840 Millionen Euro.
Unter Berücksichtigung der Entlastung sind es immer
noch 609 Millionen Euro. Wenn Sie das auf die Arbeits-
plätze umrechnen, die in der Stahlindustrie existieren,
heißt das, dass das Mehrkosten in Höhe von 6 766 Euro
pro Arbeitsplatz sind. Meine Damen und Herren, man
könnte neue Arbeitsplätze schaffen, wenn man diesen
belastenden Betrag nicht einfach so ausgeben müsste.
Herr Kollege, möchten Sie denn eine Zwischenfrage
des Kollegen Krischer zulassen?
Nein, möchte ich nicht. – Herr Fell, bevor man Solar-
paneele aufs Dach schrauben kann, muss man Alumi-
nium, Silizium und Glas herstellen. Wenn Sie verhindern
wollen, dass diese Wertschöpfungskette in Deutschland
weiter existiert, müssen Sie so weitermachen wie bisher.
Dann können Sie das alles in China kaufen. Sie werden
aber hier am Pult stehen und über hohe Arbeitslosigkeit
klagen.
Meine Damen und Herren, ich fasse zusammen:
Minister Altmaier ist auf dem richtigen Weg. Eine
Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes muss drin-
gend auf den Weg gebracht werden. Angesichts dieser
Tatsache kann ich nur hoffen, dass auch die linke Seite
– ich meine die SPD und die Grünen – Vernunft an-
nimmt und hier an diesem Werk mitarbeitet.
Vielen Dank für ihre Aufmerksamkeit.
Ich gebe jetzt nacheinander den Kollegen Lenkert und
Krischer das Wort zu einer Kurzintervention. Dann
könnte Herr Lämmel darauf antworten. Bitte schön.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr KollegeLämmel, im Jahr 2000 habe ich für eine KilowattstundeStrom 14 Cent bezahlt. Damals betrug die EEG-Umlage0,2 Cent. Im Jahr 2012 bezahle ich für die Kilowatt-stunde Strom 26 Cent. Die EEG-Umlage beträgt3,5 Cent. Die Differenz beträgt 12 Cent. Davon sind– selbst wenn ich den Mehrwertsteueranteil zurechne –etwa 4 Cent EEG-Umlage. Das heißt, ein großer Teil desAnstieges des Strompreises kommt nicht aus den erneu-erbaren Energien.Ich stelle Ihnen dazu Fragen. Was hat Benzin im Jahre2000 gekostet? Was hat Heizöl im Jahr 2000 gekostet?Was hat zum Beispiel Kohle für Heizzwecke im Jahr2000 gekostet? Diese Preise haben sich bis heute mehrals verdoppelt. Demzufolge scheint es so zu sein, dasstrotz EEG-Umlage durch den Wettbewerb im Strom-bereich die Stromerzeugungskosten und die Strom-nutzungskosten selbst – im Gegensatz zu dem, was Siehier verkünden – für uns relativ gesunken sind.
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23918 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Ralph Lenkert
(C)
(B)
Ich komme zu einer Studie von Arepo-Consult imAuftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Dabei geht esum die Befreiung der energieintensiven Industrien undder anderen Industrien. Wir haben letztens gelernt, dasszu den energieintensiven Industrien Rolltreppenbetreiberin einem Einkaufscenter gehören. Die Befreiungen fürdiese Industrien und auch für Aluminiumwerke wie dasin Hamburg – es investiert jetzt auch in Deutschland,weil die Energiekosten scheinbar so hoch sind – machenfast 10 Milliarden Euro pro Jahr aus, wenn man alles zu-sammenrechnet.Wenn man die Industriestromkosten vom Jahr 2000mit denen von heute vergleicht, stellt man fest, dass dieUnterschiede im Verhältnis zu unseren Wettbewerbernsogar kleiner geworden sind. Wir haben zwar immernoch die zweitteuersten; aber der Abstand ist von 2 Centfür die Kilowattstunde auf 1 Cent für die Kilowattstundegeschrumpft. Das heißt, die Wettbewerbsfähigkeit derdeutschen Industrie ist nicht gefährdet.Ich frage Sie deshalb: Wieso lasten Sie die gesamtenKosten permanent den Verbraucherinnen und Verbrau-chern an? Wieso stellen Sie nicht sicher, dass hierWahrheit herrscht? Wenn wir nämlich die Preisanstiegein allen Bereichen betrachten, werden wir feststellen,dass gerade der Strombereich – so weh uns die Kostendort auch allen tun – den geringsten Preisanstieg hat.Gerade die erneuerbaren Energien haben dafür gesorgt,dass dies so ist.Bitte, erklären Sie mir, warum die Stromrechnung sogestiegen ist.
Herr Krischer, bitte.
Aha, es regiert also das Parlament und nicht die Re-
gierung. – Herr Kollege Lämmel, Sie haben uns eben
vorgeworfen, hier gäbe es keinen wirtschaftspolitischen
Sachverstand. Den vermisse ich leider bei Ihnen. Ich
finde es schon erstaunlich, dass Sie hier in Ihrer Rede ei-
nen Lobbybrief der Stahlindustrie, der uns allen heute
oder gestern zugegangen ist, ungeprüft vorlesen. Das ist
schon ein unglaublicher Vorgang.
Sie sollten sich wenigstens die Mühe machen, die An-
gaben, die dort gemacht werden, zu überprüfen. Sie hal-
ten nämlich einer Überprüfung nicht stand. Einer Über-
prüfung stand hält allerdings das, was die Industrie
selber sagt. Ich möchte Ihnen dazu Beispiele nennen.
Das Unternehmen Norsk Hydro produziert weltweit
Aluminium und hat vor zwei Wochen angekündigt, seine
Produktion nach Deutschland, nämlich nach Neuss, zu
verlagern, weil in Deutschland die Strompreise günstiger
sind. Das Unternehmen hat ein Werk in Deutschland, das
es stillgelegt hat, wieder in Betrieb genommen und die
Produktion von Australien nach Deutschland verlagert,
mit der Begründung, die Industriestrompreise seien in
Deutschland billiger. Das ist die Realität in Deutschland.
Weiteres Beispiel: Trimet Aluminium. Trimet Alumi-
nium hat in der Tat im letzten Jahr Verluste gemacht.
Aber wissen Sie, warum sie Verluste gemacht haben?
Weil sie auf steigende Strompreise gewettet haben. Aber
die Strompreise sind für Trimet Aluminium gesunken.
Deshalb ist der Verlust entstanden. Das ist die Realität in
Deutschland – nicht das, was Sie uns erzählen wollen.
Ich möchte noch ein drittes Beispiel nennen, das mir
nach der Debatte, die wir in der letzten Sitzungswoche
zu dem Thema geführt haben, nochmals bestätigt wor-
den ist. Bayer MaterialScience sagt klipp und klar: Die
Industriestrompreise in Deutschland sind geringer als im
europäischen Durchschnitt. – Sie erzählen hier wider
besseres Wissen das Gegenteil. Sie sollten lernen. Infor-
mieren Sie sich besser, statt ungeprüft Lobbybriefe vor-
zulesen und damit auch noch wirtschaftliche Kompetenz
zu suggerieren, die Sie offensichtlich nicht haben.
Herr Lämmel, möchten Sie reagieren? – Bitte schön.
Das ist das Interessante bei den Grünen: Wenn SieZahlen einer Branche verwenden, dann ist das die Wahr-heit. Wenn die Solarbranche ihre Zahlen liefert, dann istdas gedruckte Wahrheit.
Wenn man Zahlen verwendet, die zum Beispiel die Ge-werkschaft oder eine andere Branche vorlegen, dann istdas die Unwahrheit. So gehen Sie mit den Dingen um.Deshalb habe ich gesagt: Sie sind auf dem wirtschafts-politischen Auge blind. Denn wenn Sie die Industrie-strompreise in Amerika, Asien und Europa vergleichen,dann werden Sie feststellen, dass es nicht stimmt, wasSie behaupten.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23919
Andreas G. Lämmel
(C)
(B)
Die Industriestrompreise sind eben nicht mit den Prei-sen vergleichbar, die an der Börse gebildet werden. Dassollten Sie vielleicht im Lehrbuch nachlesen.Zu dem Herrn von der linken Seite: Sie haben viel-leicht noch den VEB Energiekombinat im Hinterkopf,
der feste Preise hatte, und der Staat hat dann aus seinerKasse den Rest gezahlt. Wenn Sie sich die Belastungendes Strompreises allein durch politische Elemente anse-hen, dann zeigt sich, wo die großen Preissteigerungenherkommen. Der größte Batzen war die Einführung derÖkosteuer, die im Prinzip als Rentenauffüllsteuer einge-führt worden ist.
Das hatte mit Öko nichts zu tun. Außerdem gibt es dieNetzentgelte und all die anderen Bausteine, die politischmotiviert auf den Strompreis aufgeschlagen werden. Dassind die großen Strompreistreiber.Derzeit ist das die EEG-Umlage. Man kann diskutie-ren und reden, wie man will: Das sind jetzt 5,3 Cent proKilowattstunde. Die muss jeder bezahlen, und zwar nichtnur die Bürgerinnen und Bürger; die Wirtschaft zahlt dasgenauso.
Wenn man jetzt nicht der Sache Einhalt gebietet unddie Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes angeht,wird sich dieser Preisaufschwung in den nächsten Jahrenfortsetzen. Das ist ein einfaches mathematisches Modell.Herr Fell, ich weiß nicht, ob Sie in der Schule das Rech-nen vielleicht nicht richtig gelernt haben. Sonst könntenSie nämlich mit einem Dreisatz ausrechnen, wie sich dieKosten entwickeln.
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Rolf
Hempelmann jetzt das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Es ist doch erfrischend, dass wir für die Debatteheute einen Antrag mit dem sachlichen Titel „Kostenund Nutzen der Energiewende fair verteilen“ von denGrünen vorgelegt bekommen haben.In der gestrigen von Schwarz-Gelb aufgesetzten Ak-tuellen Stunde wollten Sie uns in die Schuhe kippen,dass wir eine EEG-Umlage von 5,3 Cent im Jahre 2012haben. Sie haben sich damit absolut lächerlich gemacht.Die Zahlen sind eben hier genannt worden: 0,67 Centwar die EEG-Umlage im Jahre 2005 am Ende von Rot-Grün, 1,13 Cent am Ende von Schwarz-Rot, und jetzt,also in Ihrer Verantwortungszeit, liegt sie bei 5,27 Cent.Gestehen Sie wenigstens ein, dass das Ihre Preiserhö-hung ist und bitte schön nicht unsere! Wir nehmen sieIhnen nicht weg.
Der Titel des heute vorliegenden Antrags „Kosten undNutzen der Energiewende fair verteilen“ veranlasst mich,zunächst einmal darüber zu reden, dass wir als Erstes ver-suchen sollten, unnötige Kosten zu vermeiden. Wenn ichsehe, was Sie da in den letzten Jahren gemacht haben,dann denke ich daran, dass Sie genau an dieser Stelle einScheitern par excellence zu verantworten haben. Siehaben durch planloses Handeln zum Beispiel im Bereichder Offshorewindenergie dafür gesorgt, dass zusätzlicheKosten entstanden sind, die jetzt auf die Verbraucherumgewälzt werden müssen. Sie haben einen Gesetzesvor-schlag gemacht und gestehen ein, dass inzwischen Haf-tungsentschädigungen von 1 Milliarde Euro fällig wer-den, die auf die Verbraucher umzulegen sind. Dies macht0,25 Cent pro Kilowattstunde für die nächsten drei bisvier Jahre aus. Das war Ihr Werk. Das sind Kosten, die Siedurch planloses und hektisches Handeln künstlich undzusätzlich verursacht haben.Das Zweite. Es droht durch die fehlende Koordinationder Energiewende, was Sie auch wiederum zu verantwor-ten haben, dass wir in den nächsten Jahren weitere zu-sätzliche und unnötige Kosten haben werden. Es gibtnämlich keinen abgestimmten Plan zwischen Bund undLändern zur Entwicklung der Energieinfrastruktur. ImGegenteil, wir haben auf der einen Seite im Norden dieBemühungen, die Steigerung von Offshore- undOnshorewindenergie weit über den eigenen Bedarf hi-naus zu bewerkstelligen – dagegen will ich gar nichts sa-gen –; aber gleichzeitig sagen in anderen Bundesländern,zum Beispiel im Süden der Republik, explizit Minister-präsidenten, sie wollen von diesem Strom nicht abhängigsein, sie wollen autark sein, sie wollen Energieerzeugungim eigenen Land. Wenn Sie dies zulassen, wenn Sie dasnicht koordinieren, dann werden wir demnächst nicht nurdas eine oder andere notleidende konventionelle Kraft-werk haben, sondern möglicherweise notleidende Infra-strukturen an allen Ecken und Enden, nämlich dann,wenn zum Beispiel Netze, die von Nord nach Süd gebautwerden, aus diesem Grund nicht ausgelastet werden oderwenn Stromerzeugungsanlagen, die im Norden stehen,im Süden keine Abnehmer finden und deswegen Abfallproduzieren. Sie sollten sich darum kümmern, endlichdie Koordinierungsaufgabe in der Energiewende ernst zunehmen, um weitere Kostenexplosionen zu vermeiden.
Das Dritte. Seit über einem Jahr oder noch länger bas-teln Sie an einer Alternative, die durchaus kostengünstigsein würde – aber Sie haben bisher immer noch nicht ge-liefert –: Ich rede vom Lastmanagement, also davon,dass man zu- und abschaltbare industrielle Lasten nutzenkann, um zu bestimmten Zeiten – zum Beispiel zu Spit-zenlastzeiten, wenn aber beispielsweise der Wind nichtweht – gegenüber der sehr teuren Regelenergie die Al-ternative der Abschaltung zu haben. Liefern Sie endlich,
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23920 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Rolf Hempelmann
(C)
(B)
und sorgen Sie dafür, dass wir hier eine Alternative be-kommen, die uns vor allen Dingen in der zeitlichen Per-spektive hilft, Kosten zu vermeiden!Nun zu dem Thema der fairen Kostenverteilung. Ges-tern haben wir diese unsägliche Debatte gehabt. Ich habegerade schon gesagt: Es sind Ihre 5,3 Cent, die Sie ges-tern zum Thema gemacht haben. Die Öffentlichkeit,denke ich, hat das auch gemerkt. Diese 5,3 Cent kom-men zu 100 Prozent beim Kunden als Belastung an.Aber was heute hier zu Recht gesagt worden ist: Wir ha-ben durch die erneuerbaren Energien auch Kostensen-kungen im System. Wir haben beispielsweise beim Bör-senstrompreis den Effekt, dass die erneuerbarenEnergien in der Merit Order aufgrund ihrer geringen, ge-gen null tendierenden variablen Kosten den Börsen-strompreis senken.Das hat aber den paradoxen Effekt, dass das als dop-pelte Steigerung bei der EEG-Umlage ankommt. Alsosorgt der Kostenvorteil, generiert durch erneuerbareEnergien, für eine doppelte Steigerung der EEG-Um-lage. Arbeiten Sie an diesem System! Denn daran ist et-was falsch. Dann werden wir es auch schaffen, dass dieKostenvorteile und nicht nur die Belastungen beim End-kunden ankommen.
Sie mussten ja auch gestern erfahren: Nicht die Aus-nahmen für die wirklich stromintensiven, im internatio-nalen Wettbewerb stehenden Unternehmen sind das Pro-blem, sondern das Problem ist Ihre Ausweitung dieserAusnahmen auf zahlreiche Unternehmen, die zu diesemKreis überhaupt nicht gehören. Das hat dazu geführt,dass zusätzliche Belastungen beim Endkunden entstan-den sind, gerade auch bei den Haushalten, und dass Vor-teile, die nicht sinnvoll sind, für Unternehmen, die dieseAusnahmen nicht brauchen, entstanden sind. Das istkeine faire Verteilung von Chancen und Lasten.
Möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen zulas-
sen?
Ja, da kann ich mal einen Schluck Wasser trinken.
Bitte schön.
Lieber Kollege Hempelmann, Sie haben gerade ange-
sprochen, dass die im letzten Jahr eingeführte Stufe der
Entlastung für energieintensive Unternehmen diese Aus-
weitung bewirkt hat. Jetzt frage ich Sie: Ist Ihnen be-
kannt, dass diese Stufe in der Summe gerade einmal
10 Terawattstunden ausmacht und dass vorher bereits
150 Terawattstunden befreit waren? Sind Sie der Mei-
nung, dass diese 150 Terawattstunden, die die rot-grüne
Koalition bzw. wir in der Großen Koalition 2008 be-
schlossen haben, damit in Ordnung und gut sind?
Erstens. Selbst wenn die Zahlen – ich kann sie jetztnicht prüfen – so stimmen: Es geht nicht allein um denUmfang, sondern auch um die Symbolik.
Wenn Sie Unternehmen befreien, die nicht zu dem Kreisder Privilegierten gehören sollten – dies aufgrund derTatsache, dass sie eben nicht ausreichend stromintensivsind, dass sie nicht im internationalen Wettbewerb ste-hen, dass sie keine Produkte herstellen, in deren Preisman zusätzliche Lasten hineinbringen kann, weil derPreis an internationalen Handelsplätzen gebildet wird –,dann ist jedes einzelne Unternehmen, das hier privile-giert wird, fehl am Platze und dann stört das die Akzep-tanz dieses Instruments.
Das Zweite ist: Sie haben diese Ausweitung der Aus-nahmetatbestände nicht nur im EEG vorgenommen. Siehaben es zum Beispiel auch bei den Netztarifen ge-macht. Da haben wir die schizophrene Situation, dassUnternehmen dabei sind, die nun mit produzierendemGewerbe überhaupt nichts mehr zu tun haben. Wir habenIhnen gestern die Liste genannt. Ich glaube, man mussdas nicht wiederholen.Meine Damen und Herren, ich will zur Differenzie-rung darauf hinweisen, dass zwar auf der einen Seite inder Tat die Großhandelspreise sinken, dass aber auf deranderen Seite nicht jedes Industrieunternehmen, jeden-falls auf Sicht, gleichermaßen davon profitiert. Das hatetwas damit zu tun, dass sich viele Unternehmen an Ter-minmärkten oder auch bei Over-the-Counter-Geschäftenvorsorglich mit Strom eindecken. Wir hatten die Situa-tion, die Sie im letzten Jahr mit der hektischen Energie-wende verursacht haben, dass die Preise deutlich gestie-gen sind und Unternehmen sich am Terminmarkt oderbilateral mit Strom für die nächsten Jahre versorgt ha-ben. Sie profitieren derzeit überhaupt nicht von den ge-sunkenen Großhandelspreisen, sondern erst dann, wenndiese Verträge ausgelaufen sind. Deswegen sage ich: ImGrundsatz stimmen die Behauptungen. Aber man mussnoch einmal sehr differenziert hinschauen.Meine Damen und Herren, helfen Sie den Leuten,Kosten zu sparen. Zur fairen Verteilung gehört, dass mandafür sorgt, dass die Menschen, die es nicht von alleinekönnen, beim Energiesparen Unterstützung erhalten. Wirhaben dazu vielfältige Vorschläge gemacht. Jetzt werdensie aufgegriffen, von Umweltminister Altmaier aller-dings nur verbal; gehandelt hat er bisher nicht. Er will et-was tun für die Energieberatung, er will auch im BereichWärme sowie im Bereich Mobilität etwas tun. Er willEffizienzmaßnahmen unterstützen. Kündigen Sie nichtmehr nur an, sondern handeln Sie in diesen Bereichen!Dann können Sie tatsächlich zeigen, dass Sie ein Herzfür diejenigen haben, die zurzeit von den Kosten er-drückt werden.Vielen Dank.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23921
(C)
(B)
Herr Meierhofer für die FDP-Fraktion. Bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich bin wirklich
ziemlich überrascht, wie Sie hier mit Wahrheiten umge-
hen, wie Sie hier die Tatsachen verdrehen, nur weil es
Ihnen gerade in den Kram passt. Das ist wirklich unred-
lich von Anfang bis Ende.
Die Aussage, dass wir die Energiekosten durch die EEG-
Umlage auf 5,3 Cent pro Kilowattstunde hochgetrieben
hätten und es bei Ihnen nur so wenig, 0,6 Cent, gewesen
seien,
ist vollkommen richtig. Wissen Sie auch, warum? Weil
Rot-Grün im Jahr maximal 0,92 Gigawatt erneuerbare
Energie ausgebaut hat. Wir dagegen haben die beiden
letzten Jahre 7,5 Gigawatt ausgebaut.
Wir haben die erneuerbaren Energien ausgebaut; im Ver-
gleich dazu ist bei Ihnen nichts passiert.
Natürlich habe ich keine EEG-Umlage, wenn ich die Er-
neuerbaren nicht ausbaue. Das ist genau der Punkt. Jetzt
haben wir die Dynamik, dass der Preis nach oben geht.
Deswegen kommen die Kosten.
Möchten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Kelber
zulassen?
Ja, gern; so viel Zeit muss sein.
Bitte schön.
Herzlichen Dank. – Man kann ja die vielen Zahlen,
die vorgetragen wurden, auf eine reduzieren: In den vier
Jahren schwarz-gelbe Koalition gab es in der Tat einen
massiven Ausbau der Erneuerbaren. Ihre Vergütung hat
sich, wenn man 2013 einkalkuliert, verdoppelt. Doch
warum hat sich die EEG-Umlage in dieser Zeit dann ver-
vierfacht?
Das kann ich Ihnen sagen: Weil fast 50 Prozent derEEG-Umlage mit der Photovoltaik zusammenhängen,für die Sie und der Kollege Fell von den Grünen lobby-ieren.
Aus diesem Grund sind die Kosten insgesamt extrem an-gestiegen. Ich nenne die Zahlen bei der Photovoltaik:0,92 Gigawatt, 7,5 Gigawatt, 7,3 Gigawatt, dieses Jahrwieder über 7 Gigawatt. Die Vergütung für Photovoltaikist viel höher, sie liegt bei 20 bis 30 Cent pro Kilowatt-stunde.
So viel rechnen müssten Sie doch können, dass Sie se-hen, dass es einen Unterschied macht, ob man für 6 oder7 Cent pro Kilowattstunde die Windkraft ausbaut oder,wie Sie früher, für 43 Cent oder, wie wir jetzt, für19 Cent die Photovoltaik.
Natürlich ist es dadurch teurer geworden. Wir haben dieteuren erneuerbaren Energien ausgebaut.
– Sie haben es immer noch nicht verstanden, oder? Siewollen es nicht verstehen. Es ist doch selbstverständlich,dass diejenigen Energien am meisten ausgebaut wurden,die die teuersten waren.
Wissen Sie auch, warum? Weil die Rendite am höchstenwar.
Wissen Sie auch, warum die Rendite am höchsten war?Weil Sie sich in allen Gremien, wo Sie die Möglichkeitdazu hatten, dagegen gewehrt haben, die Vergütung ver-nünftig zu kürzen.
Das ist die Wahrheit: Sie haben aus Lobbyinteressen he-raus jedes Mal die Prozesse monatelang verzögert.
Wir sind mittlerweile zwar bei 19 statt 42,7 Cent für eineKilowattstunde Photovoltaik. Die Kosten sind aber ge-
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23922 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Horst Meierhofer
(C)
(B)
nau deswegen so langsam gesunken, weil Sie sich immerquergestellt haben.
Und jetzt sollen wir dafür verantwortlich sein, dass es soteuer geworden ist? Das schlägt dem Fass den Bodenaus.
Seien Sie doch wenigstens so ehrlich, zu sagen: Wir wol-len diese hohe Vergütung; es ist uns egal, dass das zu so-zialen Zerwürfnissen führt; es ist uns egal, dass von un-ten nach oben umverteilt wird; wir sind der festenÜberzeugung, das ist richtig; der Strompreis kann garnicht hoch genug sein, weil Strom per se nicht ver-braucht werden soll.
– Sagen Sie das den Leuten ehrlich und offen; dann wer-den Sie einmal ein realistisches Ergebnis bekommen.
Aber dazu sind Sie nicht bereit. Mit Krokodilstränenreden Sie von Sozialtarifen. Dabei sind Sie diejenigengewesen, die die Großindustrie – Betriebe, die 10 Giga-watt abnehmen – ausgenommen haben.
Natürlich wird diese besondere Berücksichtigung derGroßindustrie in Anspruch genommen.
– Sie wollen uns vorwerfen, dass wir neben der Großin-dustrie, von der Sie lobbyiert werden,
auch die Mittelständler, die im internationalen Wettbe-werb stehen, ausnehmen?
Das kann doch nicht Ihr Ernst sein! Seit wann sind Siedenn ausschließlich für die Großkonzerne?
Seit wann haben Sie ein Problem damit, wenn Mittel-ständler, die im internationalen Wettbewerb stehen, auchentlastet werden? Ich halte das für eine Absurdität son-dergleichen.
Jetzt, lieber Kollege Fell, würde ich gern mal daraufhinweisen, was die tatsächlichen Kosten ausmacht.Wenn Sie genau zuhören, werden Sie feststellen, dassIhre Aussage vollkommen verkehrt war. Gestern habeich leider gehört, dass es hier absolut nicht möglich ist,von einer Lüge zu sprechen; dass das unparlamentarischist. Mir fällt jetzt kein passendes Wort dafür ein, wieman es nennen sollte.
Gerade einmal 0,1 bis 0,2 Cent pro Kilowattstundemacht unsere Reform, dass wir die Mittelständler entlas-ten, aus. Das sind 2 Prozent dessen, was Sie beschlossenhaben. Es ist vollkommen absurd, so zu tun, als würdenwir es teuer machen.
Sie haben es teuer gemacht, weil Sie nicht bereit waren,zu akzeptieren, dass sich internationale Investoren dieTaschen auf Kosten des kleinen Mieters vollgestopft ha-ben. Das ist Ihr Verdienst. Das werden wir jetzt beenden.
Jetzt kommt mein Lieblingspunkt. Wenn man sich mitLeuten von energieintensiven Unternehmen unterhält,dann bekommt man klare und eindeutige Aussagen. Eswird gesagt: Das ist eine Existenzfrage. Die Energie-und Stromkosten seien die zweithöchsten in ganz Eu-ropa. Wir wären erledigt, wenn es keine Ausnahmengäbe. – Also: Sie haben es damals mit Ihren Ausnahmenrichtig gemacht, nur gehen sie nicht weit genug. Undwas sagen Sie? Sie sagen: Es gibt aber Firmen, die dasgenau andersherum sehen. Der Kollege Krischer hatdarauf hingewiesen, und es steht auch in Ihrem wunder-baren Antrag. Dem Unternehmen Norsk Hydro geht eswunderbar und deshalb erhöhen sie die Produktion; dashat Herr Krischer gesagt.Die weit verbreitete Sorge, dass die Energiewendegerade energieintensive Unternehmen hart treffenwerde, hat sich als unbegründet erwiesen.Das schreiben die Grünen.Im Gegenteil: Die günstige Strombeschaffung hatkürzlich den Aluminiumhersteller Norsk Hydro zudem Plan bewogen, seine Produktion in Deutsch-land deutlich zu erhöhen. Der IndustriestandortDeutschland profitiert also auch in stromintensivenBranchen von der Umstellung auf erneuerbareEnergien.Das steht in dem Antrag. Herr Krischer hat es bestätigt.Die Zitate, die ich gerade genannt habe – nämlichExistenzfrage; die Strompreise seien die zweithöchstenin Europa; wir wären erledigt, wenn es keine Ausnah-
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Horst Meierhofer
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men gäbe – kommen zufälligerweise von Herrn Bell.Oliver Bell heißt der Herr. Er ist Vorsitzender des Auf-sichtsrates von Norsk Hydro. Man könnte jetzt vermu-ten, der Mann weiß nicht, wovon er spricht, oder er hatden Verstand verloren, weil es das Gegenteil von dem zusein scheint, was sie machen.
Darum haben wir uns in meinem Büro die Mühe ge-macht und bei dem Unternehmen nachgefragt. Das Tele-fonat hätten Sie hören sollen. Sie hätten hören sollen,was sie dazu gesagt haben, dass Norsk Hydro für Ihrendünnen, jämmerlichen Lobbyantrag missbraucht wird.Und Sie hätten hören sollen, was sie dazu gesagt haben,dass sie dafür in Haftung genommen werden, dass siewegen der günstigen Strompreise hier ausbauen. WissenSie, was sie wirklich gemacht haben? Sie haben im Jahr2005, also kurz nachdem Sie aus der Regierung ausge-schieden sind, ihre Produktion in Deutschland auf20 Prozent reduziert, also um 80 Prozent. Das lag an derUnklarheit, wie es auf europäischer Ebene weitergeht.
Sie haben nicht gewusst, wie es mit der Bundesregie-rung weitergeht, ob wirtschaftsverträgliche Regelungenangekündigt werden. Nachdem dies geschehen ist, habensie jetzt die Produktion auf 70 Prozent erhöht. Es ist sowas von schäbig, zu unterstellen, dass diejenigen, diewegen Ihrer Politik einen Großteil der Produktion insAusland verlagert haben,
sich über Ihre Politik freuen. Ich sage Ihnen: Wenn Sieso etwas noch einmal machen, dann erzählen Ihnen dieFirmen etwas. Uns haben sie es gesagt. Sie haben gesagt:Die Grünen wissen genau, dass sie Quatsch erzählen. Siesagen es aber trotzdem, weil ihnen die Wahrheit an die-ser Stelle vollkommen egal ist. Sie tun es nur für PR, umdie Leute zu überraschen.
Da machen wir nicht mit. Wenn Ihre Fairness darin be-steht, dass man im Bundesrat blockiert, wenn die Kostensinken, wenn es Ihre Fairness ist, dass man, wenn es umdie Gebäudesanierung geht, bei der man viel CO2 ein-sparen könnte, sich dauernd daneben verhält, weil Sienicht bereit sind, sich an den Kosten, die alle, auch dieLänder, betreffen, zu beteiligen, dann gute Nacht,Deutschland! Wir machen es so, dass es für alle verträg-lich ist. Wir haben Ihnen Vorschläge vorgelegt.
Herr Kollege.
Sie machen hier nichts außer Propaganda.
Herzlichen Dank.
Jetzt hat Eva Bulling-Schröter das Wort für die Frak-
tion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ökologischer Umbau und sozialer Ausgleich müssenHand in Hand gehen. Diesen Satz aus Ihrem Antrag un-terstützen wir voll und ganz.
Ich hoffe auch, Sie meinen es ernst;
denn in der Regierungszeit von Rot-Grün wurden eineMenge neuer Instrumente eingeführt, die auf den Strom-preis wirken. Aber den richtigen sozialen Ausgleich da-für gab es leider nicht. Auch der im Jahr 2005 einge-führte Emissionshandel hat die Energieversorger reichgemacht, aber bisher leider kaum zum Klimaschutz bei-getragen. Gab es irgendwann Geld, um für Haushalte dieStrompreiseffekte des CO2-Handels abzufedern? Nein.Es gab auch keine Mittel, um die miese Verteilungswir-kung der Ökosteuer auszugleichen. Wir haben das ange-mahnt. Kein Cent ging in Richtung Bedürftiger, auchnicht unter Schwarz-Gelb, die es immer anmahnen. Siemachen wirklich den Bock zum Gärtner.
Klar ist: Der beste Schutz vor steigenden Preisen be-steht darin, die Energieeffizienz, Energieeinsparungenzu erhöhen sowie Kohle und Öl abzulösen; denn diewerden immer knapper und teurer. Gleichzeitig müssenwir aber die Energiewende sozial absichern – darumgeht ja der Streit: Wer ist sozialer? –
und die Kosten fair verteilen, Kollege Meierhofer. Da-rum hat die Linke ein Sieben-Punkte-Programm erarbei-tet, das diese Aspekte enthält. Uns geht es darum, diePrivilegien der Industrie abzubauen, die unberechtigtsind.
Es kann nicht sein, dass große Stromverbraucher mit-hilfe des EEG Geld verdienen, etwa weil sie von demsinkenden Börsenpreis durch die Vorrangregelungen desEEG profitieren, selbst aber kaum EEG-Umlage zahlen,Kollege Lämmel. Befassen Sie sich doch einmal mit die-sen Themen; das Wirtschaftsministerium hat ja bestätigt,dass es diese Probleme gibt.Jetzt wende ich mich an die Grünen. Ich verstehe Fol-gendes nicht: In Ihrem Antrag fordern Sie, dass die ener-
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Eva Bulling-Schröter
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gieintensiven Unternehmen lediglich 0,5 Cent Umlageals Ausgleich für den preissenkenden Merit-Order-Ef-fekt – ich habe ihn schon erklärt – zahlen sollen. Dieserbeträgt aber doch 0,9 Cent; das schreiben Sie selbst. Dasheißt also: Auch hier wird den Großverbrauchern nochetwas gegeben. Wir haben einmal für einen Alubetriebberechnet, wie sich das auswirken würde, und kommenauf einen Betrag von 20 Millionen Euro – und das ohneLeistung. Das ist ein bisschen viel, oder?Einige Ausnahmen halten auch wir für berechtigt. DieLinke will nicht leichtfertig Arbeitsplätze aufs Spiel set-zen. Das haben wir auch in unserem Antrag imFrühsommer bereits x-mal gesagt. Weiterhin brauchenwir eine effektive Stromaufsicht im Endkundenbereich.Denn der Großhandelsmarkt und die Netze werdennatürlich überwacht; denn – kein Wunder – die Industriehat Interesse an niedrigen Strompreisen. Die Preisbil-dung für Endverbraucher hingegen interessiert offen-sichtlich niemanden. Das ist ebenfalls kein Wunder;denn hier geht es ja nur um die privaten Haushalte undnicht um die Konzerne. Der ganze Spuk kostet eine Fa-milie rund 70 Euro im Jahr, und das betrifft nur diesenTatbestand; es kommt noch einiges andere hinzu.Darüber hinaus müssen wir über die Stromsperren re-den. Das ist wichtig. Stromsperren sind asozial, hierzuhabe ich gestern schon etwas gesagt.
Reden müssen wir zudem über eine Abwrackprämie fürStromfresser im Haushalt, damit die Leute Energie spa-ren können. Man kann den Leuten doch nicht sagen, siesollen Energie sparen, weil die Preise steigen, und dabeiwissen sie überhaupt nicht, wie das funktioniert. Dasgeht gar nicht.Wir wollen ein Stromtarifmodell, in dem wir Effi-zienz und soziale Gerechtigkeit miteinander verbinden.
Wir wollen mehr Geld in die energetische Gebäudesa-nierung fließen lassen; das ist aus sozialen Gründen drin-gend notwendig. Wir wissen, dass viele Menschen be-reits aus ihren Wohnungen ausziehen mussten, weil siedie Mieten nicht mehr bezahlen konnten.Nicht zuletzt – da stimmen wir mit den Grünen nichtüberein – wollen wir die Stromsteuer senken. Ihre Len-kungswirkung ist marginal.
Wir setzen auf das Lenkungsinstrument EEG, KollegeMeierhofer, und hier darf eben nicht gesenkt werden,wie Sie es immer fordern. Wir wollen das EEG aus-bauen.
Frau Kollegin, Ihre Zeit ist abgelaufen.
Meine Zeit ist leider für heute abgelaufen.
Der ökologische Umbau kann nur sozial gestaltet wer-
den, oder er wird auf Dauer nicht akzeptiert werden.
Deshalb brauchen wir soziale Strompreise.
Der Kollege Dr. Georg Nüßlein hat jetzt das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Ichhätte mir wenigstens einen Minimalkonsens gewünscht,der gelautet hätte: Jawohl, dieser Energieumbau kostetviel Geld. Wir müssen über die Frage diskutieren, wiedas Ganze verteilt werden soll und wie wir vorgehenwollen.Stattdessen erleben wir eine Feigenblattdiskussionerster Güte, eine Haltet-den-Dieb-Debatte,
bei der die eine Seite des Hauses versucht, der anderenSeite den exorbitanten Anstieg der EEG-Umlage in dieSchuhe zu schieben. Das ist schon bemerkenswert.Wenn gute Katholiken über Schuld und Unschuld spre-chen, geht es mit der Erforschung des eigenen Gewis-sens los. Hier haben Sie einiges auf dem Kerbholz.
Ich möchte darauf hinweisen, dass die Freiflächenpho-tovoltaik-Einspeisevergütung im Jahr 2003 45,7 Centund im Jahr 2005 noch 43,4 Cent betrug. Wenn man indem Tempo, das Sie da vorgegeben haben, weiterge-macht hätte, wären wir heute noch bei einer Vergütungin der Größenordnung von 30 Cent pro Kilowattstunde.Es ist Legendenbildung, wenn hier manche behaupten,sie hätten die notwendige Reduzierung der Einspeisever-gütungen im Solarbereich mit großer Wonne unterstützt.Das ist einfach falsch. Sie wissen ganz genau, dass dieAltlast, die das EEG mitschleppt, der Sprengsatz diesesGesetzes, die Tatsache ist, dass Sie mit der Photovoltaikzu früh an den Markt gegangen sind, als es noch zu teuerwar. Das ist das Problem.
Es ist auf ganz besondere Art und Weise unredlich, unsdas jetzt in die Schuhe schieben zu wollen und zu sagen:Schaut her! Die haben die böse Industrie von der Um-lage befreit. Deshalb ist das so teuer.Nun gestehe ich den Linken zu, dass sie das tun, wassie an der Stelle immer tun, nämlich auf ihre Klientelschielen und sagen: Wichtig ist, dass die Hartz-IV-Emp-fänger befreit sind. Wir schenken ihnen auch noch einenKühlschrank. Dann ist die Welt wunderbar. –
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Dr. Georg Nüßlein
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Das gestehe ich Ihnen zu; aber das interessiert hier wirk-lich niemanden.Wenigstens von der SPD, die in der Großen Koalitionbei dem Thema mit dabei war,
hätte ich aber erwartet, dass sie sagt: Freunde, es ist voll-kommen richtig, dass man die energieintensive Industriein Deutschland von der EEG-Umlage befreit; wir sind daauf dem richtigen Weg. – Das hätte ich von Ihnen erwar-tet.Herr Krischer, Ihr komischer Vergleich mit demDurchschnitt ist im Übrigen Unfug. Denken Sie daran:Deutschland ist die letzte Industrienation in Europa. Eskommt nicht darauf an, ob wir knapp über oder knappunter dem Durchschnitt liegen, sondern darauf, dass wirdiesen Status halten; das ist entscheidend.
Das können wir nur tun, wenn wir dieses Thema auch iminternationalen Bereich sehr präzise angehen.
Herr Nüßlein, der Kollege Lenkert möchte Ihnen eine
Zwischenfrage stellen. Möchten Sie sie zulassen?
Ja, bitte schön, gerne.
Bitte.
Herr Kollege Nüßlein, ich stelle eine Frage zu den
Offshorewindparks, die von Ihrer Koalition bevorzugt
werden. Stimmen Sie mir zu, dass Sie den Betreibern der
Offshorewindparks mehrere Geschenke unterbreitet ha-
ben, indem Sie erstens eine Vergütung für die Off-
shorewindenergie in Höhe von 15,9 Cent pro Kilowatt-
stunde durchgesetzt haben – sie ist übrigens höher als die
Vergütung für Solarstrom –, zweitens den Netzkunden
die Kosten für den Anschluss der Offshorewindparks an
die Koppelpunkte an Land aufgedrückt haben und Sie
jetzt drittens als Krönung dafür gesorgt haben, dass die
Netzkunden, die nichts dafür können, die Versicherung
bezahlen müssen, die einspringt, wenn Windparks nicht
rechtzeitig angeschlossen werden bzw. es in Zukunft zu
Ausfällen kommt? Allein die Kosten der Versicherung
gegen das Risiko ausfallender Nutzungsstunden in den
Offshorewindparks betragen 1 Milliarde Euro; dieses
Geschenk haben Sie den Betreibern gemacht. Stimmen
Sie mir zu, dass dies Ihre Politik ist, die nicht über die
EEG-Umlage, aber über die Netznutzungsentgelte dazu
führt, dass die Kosten der Endverbraucher um 1 bis
2 Cent je Kilowattstunde steigen?
Sie haben die Tragweite Ihrer Frage zum Schluss Gottsei Dank selber relativiert; denn Sie haben immerhin– das billige ich Ihnen zu – die Kosten richtig zugeord-net. Sie stimmen mir doch hoffentlich zu, dass das, wasSie gerade angeführt haben, nichts mit der Steigerungder EEG-Umlage zum jetzigen Zeitpunkt zu tun habenkann.
Das ist doch wohl Fakt. Deshalb ist Ihre Frage an dieserStelle komplett unsachgerecht.Aber ich räume ein, dass es uns auch darum gehenmuss, das Thema Offshorewindenergie – da gab es bisdato einen Konsens; Sie sind offenkundig bereit, ihn zukündigen – angesichts der größeren Zahl der Laststun-den bei der Energiewende zu berücksichtigen. Da gehtes am Schluss natürlich auch um die Frage: Wer trägtwelche Risiken? Wie gestalten wir dies, dass am Schlussnoch investiert wird? Ich bitte Sie, zur Kenntnis zu neh-men, dass wir redlich und ernsthaft darum ringen, dieseRisiken gerecht zu verteilen.Sie sollten jetzt nicht noch eine Nebelkerze zünden;aber das tun Sie, um die Verwirrung komplett zu ma-chen. Es geht Ihnen nämlich bei diesen Debatten perma-nent darum, die Verwirrung komplett zu machen, anstattzu sagen: Jawohl, diese Energiewende ist teurer. – Wirmüssen letztendlich über die Frage reden, wie wir damitumgehen.
Ich sage Ihnen ganz offen: Es hat mich ernsthaft geär-gert, dass Kollege Trittin und Ihr Parteivorsitzender,Herr Özdemir, in letzter Zeit Unwahrheiten verbreitethaben. Das ist schon ein dreistes Ding. Ich gehe garnicht auf die Zahlen ein; denn schon die Zahlen, dieQuantitäten waren falsch. Sie haben nämlich immer vonüber 2 000 Unternehmen gesprochen, die von der Um-lage befreit seien. Wenn man genau gelesen hätte, hätteman gesehen, dass das die Unternehmen sind, die ent-sprechende Anträge gestellt haben. Zum jetzigen Zeit-punkt sind etwas über 700 Unternehmen befreit. Wennman weiter im Gesetz gelesen hätte, nicht Verwirrunghätte stiften wollen und nicht bewusst die Unwahrheithätte sagen wollen, dann hätte man auch lesen können,dass nur das produzierende Gewerbe und der Schienen-verkehr befreit werden können. Ein Golfplatz ist selbstbei der weitesten und naivsten Auslegung
: Wider besseres
Wissen alles behaupten!)kein produzierendes Gewerbe.Wenn ich mir die Richtlinien der BAFA anschaue– ich könnte sie Ihnen im Einzelnen vorlesen, aber dafürreicht die Zeit leider nicht –, –
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Aber vielleicht reicht die Zeit für eine Zwischenfrage.
– dann finde ich auch dort keinen Golfplatz. Trotz-
dem tragen Sie diesen Golfplatz wegen des Verhetzungs-
potenzials monstranzartig vor sich her, damit Sie sagen
können: Das sind die anderen.
Sie tun so, als ob das das Negativbeispiel wäre, anhand
dessen man zeigen könnte, welche bescheuerten Aus-
nahmen wir gemacht haben.
Herr Nüßlein, möchten Sie die Frage von Frau Höhn
zulassen?
Ja.
Der arme Herr Nüßlein. – Herr Nüßlein, können Sie
bestätigen, dass zwei Golfplätze – einer liegt in Sontho-
fen – einen Antrag auf Befreiung von den Netzdurchlei-
tungsgebühren gestellt haben und dass Sie bei den Netz-
durchleitungsgebühren nicht den Faktor „Produktion“
berücksichtigt haben? Können Sie das bestätigen? Ja
oder nein?
Frau Höhn, ich kann etwas dieser Art überhaupt nicht
bestätigen, weil ich nicht weiß, wer welchen Antrag
stellt. Das ist das Erste.
Im Unterschied zu Ihnen – das ist der zweite Punkt –
weiß ich auch nicht, wie dieser Antrag am Schluss be-
schieden wird; denn ich habe leider nicht so viel Augu-
renvermögen wie Sie.
Dritter Punkt – und das halte ich für ganz entschei-
dend –: Ich habe von der EEG-Umlage gesprochen, und
ich habe bis dato gedacht, dass auch Sie davon reden.
Jetzt reden Sie wieder von etwas anderem. Man muss
schon wissen, wovon man redet, wenn man nicht nur zur
Verwirrung beitragen will.
Sie wollen nur einseitig zur Verwirrung beitragen und
rufen: Die Kosten haben die anderen verursacht. Wir ha-
ben nur gute Dinge gemacht. – Das ist falsch und unred-
lich, und das kann man Ihnen an der Stelle nicht durch-
gehen lassen.
Reden Sie mit uns doch über vernünftige Dinge, bei-
spielsweise über die Frage, wie man die EEG-Umlage
berechnet. Das wäre eine spannende Debatte. Denn ich
sehe, dass die Berechnung einen Zirkelschluss enthält
und dass der Druck auf die Preise für Strom aus grenz-
kostenlosen erneuerbaren Energien dazu führt, dass die
EEG-Umlage steigt. Man kann darüber diskutieren, wie
man so etwas in Zukunft gestaltet. Das ist eine span-
nende Geschichte.
Auch über die Frage der Verteilung der Lasten durch
die EEG-Umlage kann man aus meiner Sicht diskutie-
ren. Vielleicht fällt uns etwas ein, wie wir die EEG-Um-
lage, die 20 Jahre läuft, so gestalten können, dass auch
die nachfolgende Generation – schließlich profitiert
diese davon, dass wir in die Erneuerbaren eingestiegen
sind und ohne variable Kosten Strom produzieren kön-
nen – einen Teil dieser Lasten übernimmt.
Dazu gibt es intelligente Ideen. Dafür müssen Sie lesen,
was die CSU dazu publiziert. Das ist hochspannend,
nicht nur weil es von der CSU ist, sondern weil es – das
hängt natürlich damit zusammen – intelligent ist.
Ich lade Sie ein, solche Diskussionen mit uns zu füh-
ren, und möchte Sie bitten, hier nicht am laufenden Band
solche Verwirrungsaktionen zu starten. Schließlich ha-
ben wir morgen das Vergnügen, dasselbe Thema noch
einmal miteinander zu bereden.
Vielen herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.Es ist verabredet, die Vorlage auf Drucksache17/11004 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-schüsse zu überweisen. Darüber gibt es Einvernehmen;jedoch ist die Federführung strittig. Die Fraktionen vonCDU/CSU und FDP wünschen Federführung beim Aus-schuss für Wirtschaft und Technologie, die FraktionBündnis 90/Die Grünen hingegen beim Ausschuss fürUmwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag vonBündnis 90/Die Grünen abstimmen. Wer stimmt für die-sen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Damit ist dieser Überweisungsvor-schlag abgelehnt. Zugestimmt haben die einbringendeFraktion und die Linke. Die übrigen Fraktionen warendagegen.Ich lasse jetzt über den Überweisungsvorschlag derFraktionen von CDU/CSU und FDP abstimmen. Wer ist
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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – DieserÜberweisungsvorschlag ist bei Zustimmung durch dieKoalitionsfraktionen und die SPD angenommen. Dage-gen waren die Linke und Bündnis 90/Die Grünen.Jetzt rufe ich die Zusatzpunkte 6 a bis e auf:ZP 6 a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines AchtenGesetzes zur Änderung des Gesetzes gegenWettbewerbsbeschränkungen
– Drucksache 17/9852 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
– Drucksache 17/11053 –Berichterstattung:Abgeordneter Ingo Egloffb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-nologie zu dem Antrag der Abge-ordneten Kerstin Andreae, Dr. Tobias Lindner,Nicole Maisch, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENVerbraucherschutz und Nachhaltigkeit imWettbewerbsrecht verankern– Drucksachen 17/9956, 17/11053 –Berichterstattung:Abgeordneter Ingo Egloffc) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-nologie zu dem Antrag der Frak-tionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENPresse-Grosso gesetzlich verankern– Drucksachen 17/8923, 17/9989 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Georg Nüßleind) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Kultur und Medien
zu dem Antrag der Fraktionen
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENInstrumente zur Förderung der Medienvielfaltauf solide Datenbasis stellen– Drucksachen 17/9155, 17/11058 –Berichterstattung:Abgeordnete Reinhard GrindelMartin DörmannBurkhardt Müller-SönksenKathrin Senger-SchäferTabea Rößnere) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Kultur und Medien
zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Martin Dörmann, Siegmund Ehrmann, PetraErnstberger, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der SPDFreiheit und Unabhängigkeit der Medien si-chern – Vielfalt der Medienlandschaft erhal-ten und Qualität im Journalismus stärken– Drucksachen 17/10787, 17/11045, 17/11082 –Berichterstattung:Abgeordneter Reinhard GrindelMartin DörmannBurkhardt Müller-SönksenKathrin Senger-SchäferTabea RößnerIch weise darauf hin, dass wir später über Art. 3 desGesetzentwurfs der Bundesregierung zur Änderung desGesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen nament-lich abstimmen werden.Zu dem genannten Gesetzentwurf liegt ein Entschlie-ßungsantrag der Fraktion der SPD vor.Verabredet ist, eine halbe Stunde zu debattieren. –Dazu sehe ich keinen Widerspruch.Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort demKollegen Dr. Martin Lindner für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Damen! Meine Herren!Ich freue mich, heute die Debatte über die achte GWB-Novelle eröffnen zu dürfen. Der Bundeswirtschafts-minister und diese Koalition stärken damit die wettbe-werblichen Rahmenbedingungen in Deutschland. DieseReform ist ein klares ordnungspolitisches Signal, mitdem Wachstumskräfte und der WirtschaftsstandortDeutschland nachhaltig gestärkt werden. Die Verbrau-cher profitieren genauso davon.
Ich glaube, es ist uns vor allem gut gelungen, auf dereinen Seite den Fokus klar auf kleine und mittlere Be-triebe in Deutschland zu richten und auf der anderenSeite nicht ohne Not starke und große Unternehmen zuschwächen. Beispielsweise im Bereich des Presse- undMedienwesens ist das hervorragend gelungen. Wir las-sen zu, dass gerade in den Bereichen, in denen einzelneUnternehmen bedroht sind, Fusionen zur Sanierung die-ser Unternehmen stattfinden. Wir brauchen hier starkeMedienunternehmen. Das ist ein ganz klares Signal fürdie Stärkung des Wettbewerbs im Medienbereich.Oftmals ist groß auch klein. Markenunternehmen bei-spielsweise haben große Marktanteile in ihren Branchen,aber bezogen auf den Lebensmitteleinzelhandel insge-samt haben sie nur einen kleinen Anteil am Marktsorti-ment. Deswegen freue ich mich, dass wir beispielsweisedas Verbot des Verkaufs von Lebensmitteln unter Ein-standspreisen um weitere fünf Jahre verlängern konnten.Auch dies ist ein starkes Signal. Wir wollen gerade imHandel in Deutschland Wettbewerb haben. Das tut den
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Dr. Martin Lindner
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Verbrauchern gut, das sorgt für günstigere Preise. Dashaben wir mit dieser Novelle richtig und gut gemacht.
Ich sage Ihnen: Es war richtig und wichtig, auch öf-fentliche und gesetzliche Unternehmen in diese Novelleeinzubeziehen. In dieser Auffassung unterscheiden sichdie zwei Hälften dieses Hauses. Die linke Hälfte diesesHauses sagt: Was öffentlich-rechtlich ist, was hoheitlichist, was staatlich ist, ist gut und bedarf keiner Kontrolle.Die vernünftige Hälfte des Hauses sagt:
Wer am Markt teilnimmt, muss sich auch der Aufsichtstellen, unabhängig davon, ob es staatliche oder privateAnteilseigner gibt.
Das gilt für den Bereich der Wasserversorgung und inanderen Bereichen. In der Vergangenheit haben geradestaatliche Monopolunternehmen für extrem hohe Preisegesorgt. Deswegen ist es richtig und vernünftig, dass wirein Auge darauf haben und sich auch diese Unternehmenin Deutschland dem Wettbewerb und der Aufsicht stel-len müssen.Ich komme zu den gesetzlichen Krankenkassen. Ichsage Ihnen: Auch was einem sozialen Zweck dient, auchwas primär sozialgesetzlichen Regelungen unterstellt ist,kann Preisabsprachen treffen, kann zum Nachteil desWettbewerbs verdrängen und fusionieren. Deswegen istes richtig, dass die gesetzlichen Krankenkassen ab sofortder Fusionskontrolle in Deutschland unterliegen sollen.
Nichts ist sozialer als ein gesunder, geregelter Wettbe-werb in Deutschland. Nichts ist sozialer als dies. Nichtdie Schaffung und Förderung von privaten oder öffentli-chen Monopolen ist die zentrale Aufgabe des Staates,sondern die Herstellung und Stärkung von Wettbewerb.
Das beinhaltet folgende Grundsätze:Erstens. Der Markteintritt muss gesichert werden.Zweitens. Es muss einen fairen Wettbewerb geben.Dies beinhaltet übrigens auch den Austritt aus demMarkt. Es beinhaltet auch, dass ein Unternehmenskon-zept scheitern kann, wie das beispielsweise bei Quelleoder Schlecker der Fall war. Dazu gehört auch, dass derStaat nicht zulasten der Mitbewerber, die erfolgreicheUnternehmenskonzepte haben, intervenieren kann.Drittens: Wachstum und Größe ermöglichen – auchdas ist ein wichtiges Prinzip der Marktwirtschaft –, abergleichzeitig dafür sorgen, dass die Größe von Unterneh-men nicht zu Verdrängungen auf dem Markt führt.Ich glaube, diesen Grundsätzen wird diese Novelle inhervorragender Weise gerecht. Diese Koalition und die-ser Bundesminister werden weiterhin dafür sorgen, dasswir Wettbewerb, Aufsicht und Fusionskontrolle zuguns-ten der Marktwirtschaft und vor allen Dingen zugunstender Verbraucherinnen und Verbraucher in Deutschlandhaben.
Herr Kollege!
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Der Kollege Ingo Egloff hat jetzt das Wort für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die achte Novelle zur Änderung des GWB-Gesetzes hat drei Jahre gebraucht, um es hier ins Plenumzu schaffen, und in den letzten drei Wochen ist noch ein-mal hektisch an dem Gesetzentwurf herumgeschraubtworden, ohne dass man genau erkennen kann, warum.Das Ergebnis ist anscheinend der kleinste gemeinsameNenner der Koalitionspartner. Jedenfalls sind Punkte, dieeinst wortgewaltig von Herrn Brüderle angekündigt wor-den sind, zum Beispiel Regelungen zur Entflechtung derUnternehmen, dabei sang- und klanglos auf der Streckegeblieben.
Nicht ausreichend geregelt ist in dem Gesetzentwurfdie Frage der Abschöpfung unrechtmäßig erlangterKartellgewinne. Wer wie das Kaffeekartell unrecht-mäßige Gewinne in Höhe von 860 Millionen Euromacht, der lässt sich auch durch ein Bußgeld in Höhevon 160 Millionen Euro nicht beeindrucken.
Der wichtigste Kritikpunkt ist aus unserer Sicht aberdie Einbeziehung der gesetzlichen Krankenkassen in denBereich der Fusionskontrolle. Hier können wir wiedereinmal die neoliberale Resterampe der FDP besichtigen.
Ich hatte in den letzten drei Wochen erwartet, dass dieKollegen von der CDU/CSU – ich weiß von dem einenoder anderen, dass er überhaupt nicht damit einverstan-den ist, dass die Krankenkassen einbezogen werden –diesen Punkt noch herausverhandeln. Aber anscheinendhaben sie sich nicht durchsetzen können und müssen denUnsinn, den ihnen der liberale Koalitionspartner in die-sen Gesetzentwurf geschrieben hat, hinnehmen.
Diese Regelung hat in dem Gesetzentwurf nichts zusuchen. Sowohl nach deutschem als auch nach europäi-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23929
Ingo Egloff
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schem Recht sind Krankenkassen keine Unternehmen imkartellrechtlichen Sinne.
Sie sind Teil der mittelbaren Landes- bzw. Bundesver-waltung und laut Bundessozialgericht – hören Sie zu –„organisatorisch verselbstständigte Teile der Staatsge-walt“. Schreiben Sie sich das hinter die Ohren!
Die Fusionskontrolle ist überflüssig, weil die freiwil-lige Vereinigung von gesetzlichen Krankenkassen schondem sozialrechtlichen Genehmigungsvorbehalt durchdie Aufsichtsbehörde unterliegt.
Der Bundesrat hat völlig recht, wenn er feststellt,dass das Verhalten der Krankenkassen weiterhinnach sozialversicherungsrechtlichen Maßstäbenund allein durch die für die Rechtsaufsicht über diejeweilige Krankenkasse zuständige Aufsichts-behörde beurteilt wird.Er stellt auch fest, dass einer Beteiligung des Bundes-kartellamts verfassungsrechtliche Bedenken entgegen-stehen.
Gesetzliche Krankenkassen als Körperschaften desöffentlichen Rechts, die im Verhältnis untereinander undzu ihren Mitgliedern vom Solidarprinzip geprägt sind,sind nicht mit freien Unternehmen vergleichbar. Gesetz-liche Krankenkassen sind Ausdruck des Sozialstaats-prinzips – auch wenn Ihnen das nicht gefällt, HerrDr. Lindner – und deshalb zu Recht bisher von der Über-prüfung durch die Kartellbehörden ausgenommen. SeienSie sicher: Wenn wir regieren, ändern wir das wieder.
Sie schaffen nicht nur überflüssige Doppelstrukturenauf der Genehmigungsebene, sondern Sie gefährden aufeuropäischer Ebene die Stellung der Krankenkassen. Wirlaufen Gefahr, dass die Anwendung des Kartellrechts zurFolge hat, dass Krankenkassen nach europäischemRecht als Unternehmen eingestuft werden, unter Aus-blendung des sozialstaatlichen Auftrages.Gesetzliche Krankenkassen sind zu einer kassenüber-greifenden Solidargemeinschaft zusammengeschlossen,innerhalb derer ein Kosten- und Risikoausgleich erfolgt.Das Solidarprinzip lässt an dieser Stelle ein Gewinnstre-ben nicht zu, und darüber hinaus besteht die Verpflich-tung, jeden Versicherungspflichtigen aufzunehmen.Sie gefährden aus ideologischen Gründen das Systemder gesetzlichen Krankenkassen. Das Kartellrecht passthier nicht. Es ist systemwidrig, und deswegen lehnen wirIhren Gesetzentwurf ab.Vielen Dank.
Der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer spricht für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Heute beschließen wir hier in zweiter und dritter Lesungdie achte Novelle zum Grundgesetz der sozialen Markt-wirtschaft. Der Grundgedanke der sozialen Marktwirt-schaft ist nämlich die Wettbewerbswirtschaft.
– Da sollten Sie auf der linken Seite nicht lachen, son-dern gut zuhören, damit Sie vielleicht noch das eine oderandere lernen.
Gerade dieser Wettbewerb ist ursächlich dafür, dasswir in diesem Land Fortschritt erzielen. Das GWB sorgtnämlich durch den Rahmen, dieses Grundgesetz, das esaufspannt, dafür, dass der Wettbewerb funktioniert undmöglichst ungehindert ein vielgestaltiger Wettbewerbauf allen Märkten stattfindet, ganz im Sinne von LudwigErhard. Anders als in der reinen Marktwirtschaft oder inder menschenverachtenden Planwirtschaft nach IhremGusto besteht in der sozialen Marktwirtschaft das So-ziale darin, dass die Effizienzgewinne, die über denWettbewerb im Markt gehoben werden, dem Verbrau-cher in allen Sektoren zugutekommen. Es bedarf alsokeiner sozialen Flankierung in dem Sinne, dass der Staateingreifen muss. Vielmehr hebt der Wettbewerb die Effi-zienzpotenziale, die dem Verbraucher zugutekommen.Das ist der Kerngedanke der sozialen Marktwirtschaft.
– Das freut mich, Volker.
Mit dieser Rolle kam das GWB bisher sehr gut zu-recht. Daher beschränkt sich diese Novellierung auf Ver-besserungen in Kernbereichen der Fusionskontrolle, derMissbrauchsaufsicht und bei Verfahren wegen Kartell-verstößen.Was wird konkret geregelt? Hervorzuheben ist hierdie Verlängerung des Verbots der Preis-Kosten-Schereum weitere fünf Jahre. Der Wettbewerb auf dem Kraft-stoffsektor ist noch nicht so, wie wir uns das vorstellen.Deshalb ist ein Gesetz in Vorbereitung – StichwortMarkttransparenzstelle –, das insbesondere die kleinenund mittleren Tankstellenbetreiber betrifft. Auch wirddie spezielle Preismissbrauchsaufsicht für marktbeherr-schende Strom- und Gasanbieter um weitere fünf Jahre
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23930 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Dr. Joachim Pfeiffer
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verlängert. Dies ist notwendig, um in Bereichen, in de-nen der Wettbewerb noch nicht vollendet funktioniert,mit dem Hammer im Schrank dem Wettbewerb auf dieBeine zu helfen.
Zudem wird das wettbewerbliche Handeln der gesetz-lichen Krankenkassen zukünftig dem Kartellrecht unter-liegen. Darüber kann man in der Tat diskutieren. Aberdurch die Reformgesetze der vergangenen Jahre imKrankenkassenbereich sind wesentliche wettbewerbli-che Elemente in der Krankenversicherung gestärkt wor-den. Beispielsweise wurden die Möglichkeiten der Kran-kenkassen, Selektivverträge abzuschließen, erweitert.Auch können sie in erweitertem Umfang Wahltarife undSatzungsleistungen anbieten. Darüber hinaus haben wirseit 2011 den für die Kassen individuell eingeführtenZusatzbeitrag, der auch ein zentrales Unterscheidungs-kriterium im Wettbewerb darstellt. Wenn Bereiche, diebisher nicht im Wettbewerb standen, an den Wettbewerbherangeführt werden oder in den Wettbewerb überführtwerden, ist es natürlich logisch, auch diese dem GWB zuunterstellen und in das Grundgesetz der sozialen Markt-wirtschaft einzubeziehen. Die effiziente Versorgung derPatienten wird darunter nicht leiden.Konflikte mit dem Sozialrecht, am Beispiel „Koope-rationsgebot der Krankenkasse“, sind nicht zu erwarten.Die Gefahr, dass die EU durch die Hintertür über denWettbewerb in den Gesundheitsbereich eingreift, waswir uns nicht wünschen, sehe ich in Deutschland alsnicht gegeben an.
Auch gemeinsames Handeln der Krankenkassen istzukünftig weiterhin möglich, beispielsweise beimMammografie-Screening. Im vorliegenden Gesetzent-wurf geht es um einen regelrechten Bauchladen vonThemen, weil er alle betroffenen Sektoren behandelt.Der Handlungsspielraum kleinerer und mittlerer Presse-unternehmen wird gestärkt. Die Aufgreifschwelle beiFusionen von Zeitungs- und Zeitschriftenverlagen wirdvon 25 auf 52,5 Millionen Euro erhöht; dies stärkt diekleinen Verlage, den Mittelstand und die Medienland-schaft insgesamt. Auch sind Sanierungsfusionen zukünf-tig leichter möglich, als es bisher der Fall ist. Uns istlieber, dass kleine Verlage übernommen werden, als dasssie aus wirtschaftlichen Gründen ganz aus dem Marktausscheiden.
Last, but not least wird das Presse-Grosso-Systemdurch eine Betrauungslösung rechtlich abgesichert.Auch dies stärkt die Pressevielfalt, insbesondere imländlichen Raum.
Herr Kollege!
Gibt es eine Zwischenfrage?
Nein. Aber Sie sind schon seit 40 Sekunden über Ih-
rer Zeit.
Gemäß dem ehemaligen Vorsitzenden der Monopol-
kommission, Möschel, schließe ich, ganz wie es die Prä-
sidentin wünscht, –
Wie es Ihre Zeit vorsieht.
– wie folgt:
Die Erfahrung zeigt, daß da, wo Märkte funktionie-
ren, jeder kriegt, was er will.
Wir wollen, dass jeder kriegt, was er will. Deshalb hof-
fen wir nicht nur heute im Bundestag, sondern auch im
Bundesrat auf Zustimmung zum vorliegenden Gesetz-
entwurf.
Kathrin Vogler hat jetzt das Wort für die Fraktion Die
Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir reden hier und heute über die immerhin achte No-velle zum Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen.Wenn es dabei darum ginge, die Verbraucherinnen undVerbraucher und die kleinen und mittleren Unternehmenvor der Marktmacht der Großkonzerne zu schützen,dann würde die Linke ihr gerne zustimmen. Aber dazuist sie leider völlig unzureichend.
Illegale Preisabsprachen schädigen die Verbrauche-rinnen und Verbraucher in Millionen- oder sogar Milliar-denhöhe. Beim sogenannten Badezimmerkartell zumBeispiel schätzt man, dass es um einen Betrag von7 Milliarden Euro ging. Die Linke fordert deshalb ers-tens deutliche Verbesserungen für die Verbraucherinnenund Verbraucher im Klageverfahren. Zweitens wollenwir, dass die Geschädigten ihr zu viel gezahltes Geld un-bürokratisch zurückbekommen, etwa durch einfachereSammelklagen. Und: Ein Fünftel der Bußgelder soll derunabhängigen Verbraucherarbeit zufließen.
Das leistet Ihr Gesetzentwurf leider nicht. Dabeikönnten Sie hier wirklich etwas Gutes für die Verbrau-cherinnen und Verbraucher tun. Stattdessen verfolgt dieschwarz-gelbe Bundesregierung die absurde Idee, dasKartellrecht jetzt noch mehr über die gesetzlichen Kran-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23931
Kathrin Vogler
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kenkassen zu stülpen. Das ist aber völlig neben der Spur.Die gesetzlichen Krankenkassen sind keine Wirtschafts-unternehmen. Sie haben einen gesetzlichen Auftrag, dernahezu das gesamte Leistungsspektrum regelt. Ihre Ver-sicherten sind keine Kunden, sondern Mitglieder; siezahlen keine Versicherungsprämien, sondern Beiträge,und die Kassen dürfen keine Gewinne machen.
Die Linke sagt: So soll es bleiben. Wir wollen eine soli-darische gesetzliche Krankenversicherung erhalten undsie zu einer Bürgerinnen- und Bürgerversicherung wei-terentwickeln.Aber für die FDP und leider auch für große Teile derUnion ist dies ein kaum erträglicher Fremdkörper imneoliberalen Weltbild.
Sie predigen Ihren Glaubenssatz vom Wettbewerb derKassen. Dazu gehört dann eben auch, dass Kassen nichtmehr zusammenarbeiten dürfen, wenn sie dadurch einegroße Marktmacht erringen.
Dabei wäre genau diese Zusammenarbeit im Interesseder Versicherten.
Frau Kollegin, es gibt den Wunsch nach einer Zwi-
schenfrage, und zwar von Frau Aschenberg-Dugnus.
Sehr gerne.
Bitte schön.
Vielen Dank. – Liebe Frau Kollegin Vogler, ist Ihnen
eigentlich bewusst, dass wir mit der vorliegenden GWB-
Novelle eine entsprechende Anwendung des Wett-
bewerbs- und Kartellrechts anordnen, eben keine unmit-
telbare? Ist Ihnen bewusst, dass mit der juristischen For-
mulierung „entsprechend“ dem Umstand Rechnung
getragen wird, dass die Krankenkassen keine Unterneh-
men sind?
Ist Ihnen weiterhin bewusst, dass bereits seit 2007
Vorschriften des Kartellrechts im Hinblick auf das Ver-
hältnis zwischen Krankenkasse und Leistungserbringer
ebenfalls entsprechend angewendet werden und dass
niemand, auch nicht der EuGH, deswegen auf die Idee
kommt, daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, eine Ein-
ordnung der Krankenkassen als Unternehmen vorzuneh-
men?
Ist Ihnen weiterhin bekannt, dass im EU-Kartellrecht
ein funktionaler Unternehmensbegriff vorherrscht, das
heißt, dass die Einführung der wettbewerblichen Ele-
mente nicht dazu führt, dass die Krankenkassen künftig
als Unternehmen einzuordnen sind? Ich frage mich, was
zutrifft: Wissen Sie das, sagen aber etwas anderes, oder
wissen Sie das nicht? In diesem Fall sollten Sie viel-
leicht Ihre Rede umschreiben.
Liebe Frau Kollegin, ich bedanke mich sehr für dieseFrage, weil mir das ermöglicht, noch ein bisschen mehrauf Details einzugehen.Tatsächlich haben Sie offensichtlich auch gemerkt,welche Schwierigkeiten mit dieser GWB-Novelle insHaus stehen, wenn Sie nicht nachbessern. Deshalb habenSie uns gestern im Ausschuss ja auch noch einen Ände-rungsantrag vorgelegt, der den Kassen zumindest teil-weise weiter gemeinsames Handeln erlaubt. Liebe Kol-legin Aschenberg-Dugnus, das macht den gesamtenGesetzentwurf aber nicht besser, sondern allenfalls kom-plizierter.Meine Prognose ist, dass wir erleben werden, wie sichHeerscharen hochdotierter Consulting-Unternehmer, Be-rater, Juristen und Fachreferenten damit auseinanderset-zen werden, wo jetzt die Grenze zwischen der von Ihnenmit diesem Gesetzentwurf erlaubten und der unerlaub-ten, weil kartellrechtlich zu kontrollierenden, Zusam-menarbeit liegt. Das heißt, die Versicherten, die Patien-tinnen und Patienten, haben davon gar nichts, aber esgibt eine ganze Schar von Leuten, die dadurch wiedersehr gutes Geld verdienen werden.Vielen Dank.
Im Übrigen gibt es keinen einzigen Hinweis darauf,dass Ihre Art von Wettbewerb den Versicherten nutzt. ImGegenteil: Er führt zur Konkurrenz der Kassen um jungeund gesunde Mitglieder und zu Kostendrückerei zulastenKranker. Der Versicherte wird im Krankheitsfall zumKostenfaktor. Dieses Welt- und Menschenbild lehnt dieLinke ab. Gesundheit ist für uns keine Ware.
Jetzt kurz noch einmal zur SPD. Herr Kollege Egloff,Sie gebärden sich hier ja sehr schön populistisch als Ret-ter der Krankenkassen vor dem Wettbewerbsrecht.
Erinnern Sie sich nicht mehr daran, dass Sie es waren,die die Krankenkassen mit den Wahltarifen, den Selek-tivverträgen, den Zusatzbeiträgen, den Prämien und an-deren unternehmerischen Elementen in den ökonomi-schen Wettbewerb geschickt haben? Jetzt stellen Sieganz überrascht fest, dass Sie mit dem Wettbewerb, denSie wollten und den Sie gesät haben, Wettbewerbsrechternten.
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23932 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Kathrin Vogler
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Die Linke sagt kategorisch: Im Gesundheitswesendarf es Wettbewerb nur und ausschließlich um die besteVersorgung von Patientinnen und Patienten geben.
Darum müssen wir uns bei Ihrem Entschließungsantragleider auch enthalten.Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von SPDund Grünen, die gesetzliche Krankenversicherung ernst-haft als soziales Umlagesystem erhalten wollen und zueiner solidarischen Bürgerinnen- und Bürgerversiche-rung für alle ausbauen, dann schreiten wir gerne mit Ih-nen Seit’ an Seit’.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Tobias Lindner.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Diese Debattezeigt: Wir sind uns in diesem Haus über zwei Dinge ei-gentlich einig:Erstens. Das Kartellrecht ist wichtig in unserer sozia-len Marktwirtschaft. Wettbewerb ist kein Selbstzweck.Wettbewerb ist nicht aus sich heraus gut, nein, Wettbe-werb soll sicherstellen, dass die Konsumentinnen undKonsumenten den Preis bezahlen, der einerseits für Pro-duzenten kostendeckend ist, andererseits aber nichtübertriebene Gewinne ermöglicht.
Zweitens. Eine Reform des Kartellgesetzes ist drin-gend notwendig; denn ein solches Gesetz muss immerwieder an die Zeichen der Zeit angepasst werden.
Es gibt aber eine Sache, über die wir uns gar nicht ei-nig sind. Sie von der rechten Seite des Hauses haben hierdiese Novelle, die in den letzten Tagen – man kannschon fast sagen: im Schweinsgalopp – durchgepeitschtwurde, in den Himmel gelobt. Mein Kollege Dr. MartinLindner sprach eben von einem klaren Signal für dasWettbewerbsrecht. Nein, Herr Dr. Lindner, das ist allesandere als ein klares Signal. Was Sie hier vorlegen, istvielmehr eine Nebelkerze.
Ich habe Ihnen etwas mitgebracht. Sie können es vondort aus vermutlich nicht erkennen. Es ist die Seite 18Ihres Koalitionsvertrages. Dort schreiben Sie:In das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungenwird als ultima ratio ein Entflechtungsinstrumentintegriert.Auch die Experten in der Anhörung und die Mono-polkommission sind der Auffassung: Wir brauchen auchim Kartellrecht ein missbrauchsunabhängiges Entflech-tungsinstrument als Ultima Ratio.Mit anderen Worten: Es ist in Oligopol und Monopolalles andere als leicht, einen Missbrauch nachzuweisen.Deshalb müsste diese Forderung in dieser Novelle desKartellgesetzes stehen, und das tut sie nicht.Ich will auf einen anderen Punkt eingehen – ich habees anfangs erwähnt –: Das Kartellgesetz, der Wettbewerbstehen im Dienst der Verbraucherinnen und Verbraucher.Wer, wenn nicht die Verbraucherinnen und Verbraucher,muss oftmals die durch Kartelle abgesprochenen über-höhten Preise bezahlen? Wer, wenn nicht die Verbrau-cherinnen und Verbraucher, kann dazu beitragen, dassMarktmissbrauch aufgedeckt wird, und wer, wenn nichtdie Verbraucherinnen und Verbraucher, profitiert vonfairem Wettbewerb?Meine Damen und Herren, meine Fraktion, wir for-dern, dass die Belange des Verbraucherschutzes ins Kar-tellgesetz aufgenommen werden und dass Verbraucher-verbände auch entsprechend gestärkt werden. Das istdringend notwendig.
Lassen Sie mich an dieser Stelle, gerade weil wir ineiner parlamentarischen Debatte sind, noch einen Punkterwähnen. Es geht mir um die Ministererlaubnis, darum,dass wir uns da nicht falsch verstehen. Da wollen wir dieBundesregierung nicht aus der Verantwortung lassen. Esist richtig, dass der Bundeswirtschaftsminister die Ver-antwortung trägt, wenn eine seltene Ausnahme gemachtwird. Aber genauso wichtig und richtig ist es in einerparlamentarischen Demokratie, dass dann der Bundestagbzw. der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie dasRecht zu einer Stellungnahme zu einer solchen Aus-nahme hat und, wenn er anderer Auffassung ist, dann dieBundesregierung nochmals entscheiden muss. Das wol-len wir im Kartellgesetz ergänzt sehen.
Ich möchte auf einen allerletzten Punkt eingehen. DasThema Krankenkassen ist vielfach angesprochen worden.Es ist völlig unstrittig, dass natürlich auch gesetzlicheKrankenkassen beaufsichtigt werden müssen.
Das ist überhaupt nicht das Problem. Aber was das Pro-blem ist – da blicke ich genau in Ihre Richtung, zu derPartei, die sich immer des Bürokratieabbaus rühmt –:Warum machen Sie das dann nicht über das Sozialge-setzbuch? Warum machen Sie eine Art doppelte Prü-fung?
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23933
Dr. Tobias Lindner
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Das ist alles andere als effizient. Nein, das ist ein neuesBürokratiemonster, das Sie hier aufbauen. Das wirdnoch eine Menge Konflikte geben.Ich komme zum Schluss. Die vorliegende Novelle desKartellrechts macht eines deutlich: Sie haben die Zei-chen der Zeit nicht erkannt. Diese Novelle programmiertdie nächste Überarbeitung des Gesetzes gegen Wettbe-werbsbeschränkungen schon vor. Deshalb werden wir esheute in dieser Abstimmung ablehnen.Vielen Dank.
Für die Bundesregierung spricht jetzt der Parlamenta-
rische Staatssekretär Hans-Joachim Otto.
H
Danke schön. – Herr Präsident! Meine lieben Kolle-ginnen und Kollegen! Ich habe mich als Staatssekretärdes Bundeswirtschaftsministeriums gemeldet, aber ichspreche hier natürlich auch als ein langjähriger Kultur-und Medienpolitiker. Deswegen will ich Ihnen eingangsganz offen einräumen, dass manche der Änderungen imPressebereich dem Bundeswirtschaftsministerium undmir persönlich gar nicht leichtgefallen sind. Wir habendas alles nicht leichtfertig gemacht. Das gilt insbeson-dere für die Bagatellanschlussklausel, die dazu führt,dass alle Verlage mit weniger als 1,25 Millionen EuroUmsatz pro Jahr ohne jede Überprüfung durch das Kar-tellamt übernommen werden können.
Das ist ein Zielkonflikt. Das will ich hier ganz offenkennzeichnen. Wirtschaftliche Ordnungspolitik, für diedas Bundeswirtschaftsministerium ja steht, gebietet einestarke Wettbewerbskontrolle durch das Kartellamt.Weshalb also erleichtern wir im Pressebereich die Fu-sionskontrolle? Wir tun das, meine Damen und Herren,weil die Digitalisierung der Medien zu einer wirklich ra-santen Marktveränderung geführt hat und in Zukunftnoch weiter führen wird. Die Umsätze verschieben sichin immer größerem und immer schnellerem Umfang vonPrintangeboten hin zu digitalen Angeboten. Wir müssendeshalb insbesondere die kleinen und mittleren Verlage,die vor großen Umstellungen, vor großen Investitionenstehen, in die Lage versetzen, die Herausforderungen ge-meinsam zu stemmen und sich leichter zusammenzu-schließen.
Deswegen haben wir die Aufgreifschwellen erhöht,deshalb haben wir die Sanierungsfusionen erleichtert,und deshalb haben wir auch die Bagatellanschlussklau-sel vorgesehen.
Lassen Sie mich noch ein Wort zum Presse-Grossosagen. Ich hätte es wirklich sehr begrüßt, wenn die imGesetzentwurf vorgesehene europarechtliche Betrauungund kartellrechtliche Befreiung der Printverlage und desGrosso-Verbandes überflüssig geworden wären.Deswegen habe ich im Vorfeld alle Beteiligten undauch alle fünf Fraktionen zu mehreren Sitzungen einesrunden Tisches eingeladen. Wir mussten dort allerdingsfeststellen, dass eine außergesetzliche Einigung leidernicht möglich war und auf der anderen Seite eine anste-hende Klage gegen das Grosso-System die Gefahr her-aufbeschworen hat, dass hier Schaden entsteht.Wir haben uns deshalb schweren Herzens – das willich ganz klar sagen – zu dieser Gesetzesänderung durch-gerungen, mit der wir gesetzgeberisches Neuland betre-ten. Wir hatten so etwas noch nicht. Es sind bereits – dasmuss man offen sagen – Klagen gegen diese Neufassungangekündigt.Diese Regelung ist allerdings dennoch unumgänglich,weil wir wissen, dass das bewährte Grosso-System einGarant für die weltweit einmalige Pressevielfalt inDeutschland ist, für die Überallerhältlichkeit, für dieDiskriminierungsfreiheit aller Presseerzeugnisse. Wirdürfen nicht zulassen, dass dieses bewährte Presse-Grosso-System in seinem Kern gefährdet oder gar zer-stört wird.
Wir werden dadurch bestärkt, dass bis auf einen alledeutschen Zeitungs- und Zeitschriftenverlage, der Grosso-Verband und auch alle fünf Fraktionen des DeutschenBundestages hinter dieser Änderung stehen. Ich bin seitrund 20 Jahren Mitglied dieses Hohen Hauses. Ich kannmich nicht erinnern, dass es eine Änderung oder einenVorschlag gegeben hat, der in diesem Detail von allenfünf Fraktionen dieses Hauses gemeinsam getragenwurde.Deswegen will ich hier abschließend feststellen: Allefünf Fraktionen des Bundestages bekennen sich zurPressevielfalt in Deutschland, bekennen sich zumPresse-Grosso-System, das diese Pressevielfalt sichert.Das ist immerhin eine gute Nachricht. Ich hoffe, dass esuns gelingen wird, mit dieser Änderung dazu beizutra-gen, dass wir diese einmalige Pressevielfalt auch in Zu-kunft erhalten können.Vielen Dank.
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23934 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
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Jetzt hat das Wort der Kollege Martin Dörmann von
der SPD.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mein Fraktionskollege Ingo Egloff hat bereits prägnant
dargelegt, warum wir heute die GWB-Novelle insgesamt
ablehnen werden. Ich möchte aber einige ergänzende
Anmerkungen zu den presserelevanten Bestimmungen
machen und dabei auch auf den von der SPD-Fraktion
vorgelegten Medienantrag eingehen, über den wir heute
auch beraten.
Für die SPD-Fraktion ist die Sicherung der Medien-
freiheit und der Medienvielfalt von zentraler Bedeutung.
Wir begrüßen es deshalb sehr – Herr Kollege Otto, Sie
wissen das –, dass die Koalition unsere Forderung nach
einer gesetzlichen Absicherung des Presse-Grosso-Ver-
triebssystems aufgegriffen hat und die bewährte Mög-
lichkeit von freiwilligen Branchenvereinbarungen erhält.
Das bisherige Presse-Grosso-System verhindert, dass
größere Verlage bessere Konditionen als kleine Verlage
erhalten, und trägt so entscheidend zu einer vielfältigen,
diskriminierungsfreien und flächendeckenden Medien-
landschaft bei. Die vorgesehenen Änderungen beim
Pressefusionsrecht sehen wir differenziert. Wegen der
besonderen Bedeutung der Presse für die Meinungsbil-
dung und damit für unsere Demokratie ist es wichtig,
dass hierfür auch weiterhin strengere Sonderregelungen
gelten als im übrigen Wettbewerbsrecht.
Richtig ist andererseits aber auch, dass wir in einer
veränderten Medienwelt leben und dass insbesondere die
Zeitungsverlage unter besonderen wirtschaftlichen Druck
geraten sind. Vor diesem Hintergrund können wir eine
vorsichtige Lockerung des Pressefusionsrechts mittra-
gen, soweit hierdurch in einer Gesamtbetrachtung die
Medienvielfalt eher gestärkt und eben nicht geschwächt
wird.
So halten wir eine Erleichterung bei der Sanierungs-
fusion in engen Grenzen durchaus für sinnvoll, um defi-
zitäre Zeitungstitel überhaupt noch zu erhalten. Wettbe-
werbsrechtlich gerade noch vertretbar erscheint uns auch
eine Erhöhung der Aufgreifschwellen für kartellrechtli-
che Verfahren. Ich will darauf hinweisen, dass das in der
Anhörung des Wirtschaftsausschusses sowohl die Mo-
nopolkommission als auch das Bundeskartellamt ent-
sprechend gesehen haben. Sie haben aber auch gleich-
zeitig betont, dass hierdurch eine rote Linie erreicht sei,
und Sie haben vor weiteren Änderungen insbesondere
bei der Bagatellanschlussklausel gewarnt. Herr Otto, ich
habe Ihr schlechtes Gewissen herausgehört. Wir glau-
ben, dass an dieser Stelle die Balance insgesamt doch
nicht mehr stimmt.
Wir kritisieren allerdings scharf, dass die Regierungs-
koalition einseitig nur auf wettbewerbsrechtliche Rege-
lungen fokussiert ist und weitergehende, aber notwen-
dige Maßnahmen zur Sicherung der Medienvielfalt und
von Qualität im Journalismus verweigert. Die SPD-
Fraktion hat hierzu einen umfassenden Antrag vorgelegt.
Darin schlagen wir ein Maßnahmenbündel vor, um die
Qualität, die Freiheit und die Unabhängigkeit der Me-
dien in einer sich verändernden Medienlandschaft zu
sichern. Dies reicht von neuen Modellen zur Finanzie-
rung von Journalismus bis hin zu Fragen der Medienord-
nung, die man natürlich gemeinsam mit den Ländern an-
gehen muss.
Im laufenden Haushaltsverfahren verweigert die
Koalition zudem die Finanzierung und ständige Aktuali-
sierung einer Medienstatistik. Genau die ist aber Vo-
raussetzung für belastbare Daten für zukünftige Ent-
scheidungen.
Insgesamt springt die schwarz-gelbe Koalition auch me-
dienpolitisch deutlich zu kurz.
Ich komme zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kol-
legen. Wir laden alle Fraktionen ein, mit uns nicht nur
beim Presse-Grosso für gemeinsame medienpolitische
Lösungen einzutreten bzw. diese zu finden. Unsere Vor-
schläge jedenfalls liegen auf dem Tisch.
Vielen Dank.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt der Kollege Dr. Georg Nüßlein von der CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen, meine Herren! Kritikist natürlich das Metier der Opposition. Ich hätte michtrotzdem gefreut, wenn wir – so wie es der KollegeDörmann gerade exerziert hat – ein paar lobende Wortemehr insbesondere zu dem gehört hätten, was man hierbeispielsweise im Bereich des Presse-Grossos imple-mentiert hat.
Nichtsdestotrotz gebe ich auch zu, dass ich den einenoder anderen kritischen Einwurf zum Thema Kranken-kassen nachvollziehen kann. Ich bin aber der Auffas-sung, dass Sie sich damit auf den Regierungsentwurf be-ziehen und nicht auf das, was nach Veränderungen durchdas Parlament hier heute zu beschließen ansteht.Meine Damen und Herren, wir haben dafür gesorgt,dass auf der einen Seite wichtige, gebotene und auch ge-setzlich vorgegebene Möglichkeiten der Kooperationzwischen Krankenkassen ermöglicht werden, dass manauf der anderen Seite aber über die Fusionskontrolle
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23935
Dr. Georg Nüßlein
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auch sicherstellen kann, dass noch eine Vielzahl vonKrankenkassen erhalten bleibt und dass auch da derWettbewerb eine Rolle spielt. Darauf kommt es uns ent-scheidend an.
Bei der anderen Thematik, die hier kritisch erwähntwurde, handelt es sich um das Fehlen einer miss-brauchsunabhängigen Entflechtungsbefugnis. MeineDamen und Herren, als wir das Thema am Beginn derKoalition diskutierten, taten wir uns alle miteinanderschwer, Anwendungsbeispiele – und zwar solche, dierechtlich durchsetzbar sind – zu finden. Ich finde es hochspannend, dass die SPD plötzlich einen Antrag formu-liert und alle problematischen Märkte in ganz Deutsch-land aufführt, wo man dieses Instrument jetzt, weil esnicht kommt, angeblich hätte anwenden können, um mitdiesem Allheilmittel alles zu klären und alles zu regeln.Meine Damen und Herren, Sie wissen präzise: Diesesmissbrauchsunabhängige Entflechtungsinstrument wäreein stumpfes Schwert gewesen. Es wäre auf der einenSeite verfassungsrechtlich höchst problematisch, auf deranderen Seite wäre es, wenn man es wirklich hätte an-wenden wollen, so an Vorprüfungen und rechtliche Ein-schränkungen gebunden gewesen, dass es schier unmög-lich gewesen wäre, damit etwas zu tun. Ein stumpfesSchwert, meine Damen und Herren! Trotzdem sage ichganz offen: Auch mit einem stumpfen Schwert kann manSchaden anrichten, wenn die Falschen damit herumfuch-teln. Deshalb ist es ganz gut – es kann ja einmal sein,dass jemand von Ihrer Seite damit fuchtelt –, dass wirdas an dieser Stelle unterlassen und eben nicht in dieseNovelle implementiert haben.Zum Thema „schwierige Märkte“ habe ich schon ei-niges erwähnt. Wir haben auch etwas zum Thema„Presse und Medien“ – was sich da verändert hat – ge-hört. Ich glaube, es ist ganz spannend, dass uns geradedas Thema Pressefusionskontrolle sehr beschäftigt hat.Wie stellt man sicher, dass auf einem Markt, auf demdie Auflagen so dramatisch zurückgehen – und zwarnicht deshalb, weil das von irgendeiner Politik beein-flusst wird, sondern weil die Mediennutzung so ist, wiesie ist –, die eine oder andere Tageszeitung letzten Endestrotzdem weiter existieren kann? Eben im Wege der Fu-sion. Ich halte es für wichtig, richtig, geboten und sinn-voll, dass man das dann so macht und sagt: Dann mussman ein bisschen großzügiger mit der Fusionskontrolleumgehen.In der Tat hat uns das Thema Presse-Grosso sehr in-tensiv beschäftigt. Ich bin dem Kollegen Otto ausdrück-lich dankbar für seine Versuche, zu klären, welche Mög-lichkeiten zur Gestaltung es gibt. Denn der runde Tischwar letztendlich auch das, nämlich ein Ansatz, zu klären,was man tun kann, um ein jahrzehntelang geduldetesKartell so abzusichern, dass es gegen Europarecht beste-hen kann. Denn wir alle wissen, meine Damen und Her-ren, dass dieses Kartell, wenn es darum ging, Presseer-zeugnisse flächendeckend auch im ländlichen Raum zuverteilen, dazu beigetragen hat, dass die Medienland-schaft in Deutschland anders aussieht als beispielsweisein Frankreich.Es ist auch ein spannendes Lehrstück, dass man er-kennen muss, dass die Wettbewerbsbeschränkung an dereinen Stelle für mehr Wettbewerb an der anderen Stellesorgt. Wettbewerbsbeschränkung bei der Verteilung vonMedien sorgt nämlich dafür, dass wir dann zwischen denMedien mehr Wettbewerb haben. Deshalb haben wir unsam Schluss durchgerungen, diesen Schritt zu gehen undbeide, die Grossisten und die Verleger, mit einer Auf-gabe zu betrauen, von der wir meinen, dass sie kulturellund auch national von besonderer Bedeutung ist.Die EU macht an dieser Stelle etwas Bemerkenswer-tes: Sie öffnet das Tor im Wege der Betrauung, Ausnah-men zu machen; dabei greift das europäische Kartell-recht nicht. Es war gut, Herr Kollege Otto, dass wirdurch dieses Tor gegangen sind und die Gestaltungs-möglichkeiten nutzen, die die EU eröffnet. Man solltenicht immer nur über die Kollegen in Brüssel schimpfen,sondern auch das regeln und gestalten, was sie uns indieser Weise eröffnen. Das ist eine gute Sache. Ich hoffe,dass dieses Vorhaben jetzt nicht beim Thema Kranken-kassen am Bundesrat scheitert oder eingeschränkt wird.Denn ich glaube, dass unser Presse-Grosso und unsereMedienlandschaft so wichtig sind, dass wir sehen soll-ten, dass diese Gesetzesnovelle zum Schluss auch durch-kommt.Vielen herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zurÄnderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschrän-kungen. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologieempfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 17/11053, den Gesetzentwurf derBundesregierung auf Drucksache 17/9852 in der Aus-schussfassung anzunehmen.Die Fraktion der SPD hat beantragt, über Art. 3 einer-seits und über den Gesetzentwurf im Übrigen anderer-seits getrennt abzustimmen.Ich rufe zunächst Art. 3 in der Ausschussfassung auf.Die Fraktion der SPD hat namentliche Abstimmung ver-langt.Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, diePlätze einzunehmen. – Sind die Plätze besetzt? – Gut.Dann eröffne ich die Abstimmung und bitte, die Stimm-karten einzuwerfen.Haben alle Kolleginnen und Kollegen Ihre Stimm-karte eingeworfen? – Dann schließe ich diesen Abstim-mungsgang. Ich bitte, mit der Auszählung zu beginnen.1)Ich erteile jetzt das Wort zu einer persönlichen Erklä-rung zur Abstimmung nach § 31 unserer Geschäftsord-nung der Kollegin Elke Ferner. Bitte schön.1) Ergebnis Seite 23936 D
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23936 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
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Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kollegen und
Kolleginnen! Ich melde mich deshalb jetzt hier zu Wort,
weil es aus sozialpolitischer Sicht keine Kleinigkeit ist,
worüber wir abstimmen. Im Kern geht es darum, ob die
gesetzlichen Krankenversicherungen Sozialversicherun-
gen bleiben oder ob sie als Wirtschaftsunternehmen be-
trachtet werden. Weil dies eine weitreichende und unab-
sehbare Folge hat, stimmen wir – auch ich – heute gegen
die 8. GWB-Novelle. Wir stimmen gegen das Gesetz,
weil Sie, meine Damen und Herren von CDU/CSU und
FDP, das Kartellrecht auf die gesetzlichen Krankenkas-
sen anwenden.
Dies widerspricht aus meiner Sicht in elementarer
Weise dem Wortlaut und dem Geist des Sozialgesetz-
buches V.
Dort ist an vielen Stellen die Rede vom einheitlichen und
gemeinsamen Handeln der Krankenkassen. Es gibt dort
ein Gebot zur Kooperation, und das passt eben nicht mit
der Anwendung des Kartellrechts zusammen, weil in
diesem Gesetz ein Verbot der Kooperationen normiert
ist.
Wir stimmen gegen das Gesetz, weil unterstellt wird,
dass die gesetzlichen Krankenkassen Wirtschaftsunter-
nehmen sind und es hier um einen Wettbewerb zwischen
Unternehmen geht, der durch das Kartellamt überwacht
werden muss. Die gesetzlichen Krankenkassen sind aber
keine Wirtschaftsunternehmen, sondern solidarische, im
Umlageverfahren finanzierte Pflichtsozialversicherun-
gen, die für über 70 Millionen Menschen in unserem
Land die notwendigen medizinischen Leistungen ohne
jegliches Gewinnstreben zu günstigen Kosten sicherstel-
len müssen.
Auch der EuGH hat in einem Urteil die Auffassung
vertreten, dass die deutschen Krankenkassen eben keine
Unternehmen sind. Nur deshalb gilt das europäische
Wettbewerbsrecht für die gesetzlichen Krankenkassen in
Deutschland nicht, Herr Minister. Wir stimmen gegen
dieses Gesetz, weil durch die Anwendung des Kartell-
rechts auf alle Sozialversicherungen im nationalen Recht
die Gefahr besteht, dass auch der EuGH unsere gesetz-
lichen Krankenkassen als Unternehmen betrachtet und
sie dann mit allen negativen Konsequenzen dem euro-
päischen Wettbewerbsrecht unterworfen wären. Dann
wären eben nationale Sonderregelungen nicht mehr
möglich, und am Ende müssten die Versicherten die Ze-
che bezahlen.
Wir stimmen gegen dieses Gesetz, weil mit den von
CDU/CSU und FDP getragenen Änderungen die gesetz-
liche Krankenversicherung ihren Charakter als Sozial-
versicherung verlieren wird. Die solidarische Finanzie-
rung, der Steuerzuschuss, die bewährte Selbstverwaltung
von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, aber auch
die der Leistungserbringer, das Gebot zur Kooperation
zwischen den Kassen, die Rechtsform der Körperschaf-
ten des öffentlichen Rechts bis hin zu den Gestaltungs-
möglichkeiten dieses Parlaments werden durch diesen
Gesetzentwurf ebenfalls zur Disposition gestellt.
Wir stimmen gegen dieses Gesetz, weil dies der Ein-
stieg in ein völlig anderes, in ein von privaten und priva-
tisierten Versicherungsunternehmen getragenes Gesund-
heitssystem wäre, und das wollen die Menschen in
Deutschland nicht, das wollen die Arbeitgeber nicht, das
wollen die Gewerkschaften nicht, nicht die Sozialver-
bände und nicht die Patientenorganisationen, und die
SPD will das auch nicht.
Wir stimmen gegen dieses Gesetz, weil wir wollen,
dass die Krankenversicherungen Sozialversicherungen
bleiben und nicht zu Wirtschaftsunternehmen mutieren;
denn Sie spielen mit einem der grundlegenden Eckpfei-
ler unserer Gesellschaft, auf dem auch ein großer Teil
des sozialen Friedens in unserem Land beruht. Wenn der
Wettbewerb zwischen den Krankenkassen überhaupt ei-
ner weiteren Regulierung bedarf, liebe Kolleginnen und
Kollegen, dann muss diese im Sozialrecht und nicht im
Kartellrecht erfolgen.
Wir werden anhand der eben erfolgten namentlichen
Abstimmung auch sehen, wer sich hier für Sozialversi-
cherungen und den Erhalt der gesetzlichen Krankenver-
sicherung als Sozialversicherung einsetzt und wer das
nicht tut. Vor allen Dingen hoffe ich, dass Sie alle hier
sich der Tragweite Ihrer Entscheidung bewusst sind. Ihre
Länder werden dazu wahrscheinlich im Bundesrat eine
für Sie vermutlich nicht sehr erfreuliche Position vor-
bringen.
Schönen Dank.
Bis zum Vorliegen der Ergebnisse der namentlichenAbstimmung unterbreche ich jetzt die Sitzung.
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.Ich gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen undSchriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichenAbstimmung bekannt: abgegebene Stimmen 543. MitJa haben gestimmt 302, mit Nein haben gestimmt 241,keine Enthaltungen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23937
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 543;davonja: 302nein: 241JaCDU/CSUIlse AignerPeter AumerThomas BareißNorbert BarthleGünter BaumannManfred Behrens
Veronika BellmannDr. Christoph BergnerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserWolfgang Börnsen
Wolfgang BosbachNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannThomas DörflingerMarie-Luise DöttDr. Thomas FeistEnak FerlemannHartwig Fischer
Dirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachHerbert FrankenhauserDr. Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserErich G. FritzHans-Joachim FuchtelIngo GädechensDr. Thomas GebhartNorbert GeisAlois GerigEberhard GiengerMichael GlosJosef GöppelPeter GötzDr. Wolfgang GötzerUte GranoldReinhard GrindelHermann GröheMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundMonika GrüttersOlav GuttingFlorian HahnDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilFrank HeinrichRudolf HenkeMichael HennrichAnsgar HevelingErnst HinskenPeter HintzeChristian HirteRobert HochbaumKarl HolmeierFranz-Josef HolzenkampJoachim HörsterAnette HübingerHubert HüppeThomas JarzombekDieter JasperDr. Franz Josef JungAndreas Jung
Dr. Egon JüttnerHans-Werner KammerSteffen KampeterAlois KarlBernhard Kaster
Volker KauderEckart von KlaedenEwa KlamtVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenManfred KolbeDr. Rolf KoschorrekHartmut KoschykThomas KossendeyMichael KretschmerGunther KrichbaumDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Hermann KuesGünter LachDr. Karl A. Lamers
Andreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeDr. Max LehmerPaul LehriederDr. Ursula von der LeyenIngbert LiebingMatthias LietzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsDr. Jan-Marco LuczakDaniela LudwigDr. Michael LutherKarin MaagDr. Thomas de MaizièreHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Dr. Michael MeisterMaria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergPhilipp MißfelderDietrich MonstadtMarlene MortlerDr. Gerd MüllerDr. Philipp MurmannBernd Neumann
Michaela NollDr. Georg NüßleinFranz ObermeierEduard OswaldHenning OtteDr. Michael PaulRita PawelskiUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferBeatrix PhilippRonald PofallaChristoph PolandRuprecht PolenzEckhard PolsThomas RachelDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergLothar RiebsamenJosef RiefKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckErwin RüddelAlbert Rupprecht
Anita Schäfer
Dr. Wolfgang SchäubleDr. Annette SchavanDr. Andreas ScheuerKarl SchiewerlingNorbert SchindlerTankred SchipanskiGeorg SchirmbeckChristian Schmidt
Patrick SchniederDr. Andreas SchockenhoffNadine Schön
Dr. Kristina SchröderDr. Ole SchröderBernhard Schulte-DrüggelteUwe Schummer
Detlef SeifReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelErika SteinbachChristian Freiherr von StettenDieter StierGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerKarin StrenzThomas Strobl
Lena StrothmannMichael StübgenAntje TillmannDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzVolkmar Vogel
Stefanie VogelsangAndrea Astrid VoßhoffDr. Johann WadephulMarco WanderwitzKai WegnerMarcus Weinberg
Peter Weiß
Sabine Weiss
Karl-Georg WellmannPeter WichtelAnnette Widmann-MauzKlaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerDagmar G. WöhrlDr. Matthias ZimmerWolfgang ZöllerWilli ZylajewFDPJens AckermannChristian AhrendtChristine Aschenberg-DugnusDaniel Bahr
Florian BernschneiderSebastian BlumenthalClaudia BögelNicole Bracht-BendtKlaus BreilRainer BrüderleAngelika BrunkhorstErnst BurgbacherMarco BuschmannHelga DaubReiner DeutschmannBijan Djir-SaraiMechthild DyckmansHans-Werner EhrenbergRainer ErdelJörg van EssenUlrike FlachOtto FrickeDr. Edmund Peter GeisenDr. Wolfgang GerhardtHans-Michael GoldmannHeinz GolombeckJoachim Günther
Heinz-Peter HausteinManuel HöferlinElke HoffBirgit HomburgerHeiner KampMichael KauchDr. Lutz KnopekPascal Kober
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23938 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Dr. Heinrich L. KolbGudrun KoppDr. h. c. Jürgen KoppelinSebastian KörberHolger KrestelPatrick Kurth
Sibylle LaurischkHarald LeibrechtLars LindemannDr. Martin Lindner
Michael Link
Oliver LuksicHorst MeierhoferPatrick MeinhardtGabriele MolitorJan MückePetra Müller
Burkhardt Müller-SönksenDr. Martin Neumann
Dirk NiebelHans-Joachim Otto
Cornelia PieperGisela PiltzDr. Christiane Ratjen-DamerauJörg von PolheimDr. Birgit ReinemundDr. Peter RöhlingerDr. Stefan RuppertBjörn SängerFrank SchäfflerChristoph SchnurrJimmy SchulzMarina SchusterDr. Erik SchweickertJudith SkudelnyDr. Hermann Otto SolmsJoachim SpatzDr. Max StadlerTorsten StaffeldtDr. Rainer StinnerStephan ThomaeManfred TodtenhausenFlorian ToncarSerkan TörenJohannes Vogel
Dr. Daniel VolkDr. Guido WesterwelleDr. Claudia WintersteinDr. Volker WissingHartfrid Wolff
NeinSPDIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeinz-Joachim BarchmannDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsKlaus BarthelSören BartolBärbel BasUwe BeckmeyerGerd BollmannKlaus BrandnerWilli BraseEdelgard BulmahnMarco BülowUlla BurchardtPetra CroneMartin DörmannElvira Drobinski-WeißSebastian EdathyIngo EgloffSiegmund EhrmannPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerElke FernerGabriele FograscherDr. Edgar FrankeDagmar FreitagMichael GerdesMartin GersterIris GleickeGünter GloserUlrike GottschalckAngelika Graf
Kerstin GrieseGabriele GronebergMichael GroßHans-Joachim HackerBettina HagedornKlaus HagemannMichael Hartmann
Hubertus Heil
Wolfgang HellmichRolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogGabriele Hiller-OhmPetra Hinz
Dr. Eva HöglChristel HummeJosip JuratovicOliver KaczmarekJohannes KahrsDr. h. c. Susanne KastnerUlrich KelberLars KlingbeilHans-Ulrich KloseDr. Bärbel KoflerDaniela Kolbe
Fritz Rudolf KörperAnette KrammeAngelika Krüger-LeißnerUte KumpfChristine LambrechtChristian Lange
Dr. Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerKirsten LühmannCaren MarksKatja MastHilde MattheisPetra Merkel
Ullrich MeßmerDr. Matthias MierschFranz MünteferingDr. Rolf MützenichAndrea NahlesDietmar NietanHolger OrtelHeinz PaulaJohannes PflugJoachim PoßDr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeStefan RebmannGerold ReichenbachDr. Carola ReimannSönke RixRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannMichael Roth
Marlene Rupprecht
Annette SawadeAnton SchaafBernd ScheelenMarianne Schieder
Werner Schieder
Ulla Schmidt
Ottmar SchreinerSwen Schulz
Ewald SchurerFrank SchwabeRolf SchwanitzStefan SchwartzeRita Schwarzelühr-SutterDr. Carsten SielingSonja SteffenPeer SteinbrückChristoph SträsserKerstin TackDr. h. c. Wolfgang ThierseFranz ThönnesWolfgang TiefenseeRüdiger VeitUte VogtDr. Marlies VolkmerAndrea WickleinHeidemarie Wieczorek-ZeulWaltraud Wolff
Manfred ZöllmerDIE LINKEJan van AkenAgnes AlpersDr. Dietmar BartschHerbert BehrensKarin BinderHeidrun BluhmSteffen BockhahnEva Bulling-SchröterDr. Martina BungeRoland ClausHeidrun DittrichWerner DreibusWolfgang GehrckeNicole GohlkeDiana GolzeAnnette GrothDr. Gregor GysiHeike HänselInge HögerDr. Barbara HöllAndrej HunkoUlla JelpkeDr. Lukrezia JochimsenHarald KochJan KorteJutta KrellmannKatrin KunertCaren LaySabine LeidigRalph LenkertMichael LeutertStefan LiebichUlla LötzerDr. Gesine LötzschThomas LutzeUlrich MaurerDorothée MenznerNiema MovassatWolfgang NeškovićThomas NordPetra PauJens PetermannRichard PitterlePaul Schäfer
Michael SchlechtDr. Ilja SeifertKathrin Senger-SchäferRaju SharmaDr. Petra SitteKersten SteinkeSabine StüberAlexander SüßmairDr. Kirsten TackmannFrank TempelAlexander UlrichKathrin VoglerJohanna VoßHalina WawzyniakJörn WunderlichSabine ZimmermannBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKerstin AndreaeMarieluise Beck
Volker Beck
Cornelia BehmAgnes BruggerEkin DeligözKatja DörnerHarald EbnerHans-Josef FellDr. Thomas GambkeKai GehringKatrin Göring-EckardtBritta HaßelmannBettina HerlitziusPriska Hinz
Dr. Anton HofreiterIngrid HönlingerUwe KekeritzKatja KeulMemet KilicSven-Christian Kindler
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23939
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Maria Klein-SchmeinkUte KoczyTom KoenigsSylvia Kotting-UhlOliver KrischerAgnes KrumwiedeStephan KühnRenate KünastMarkus KurthUndine Kurth
Monika LazarDr. Tobias LindnerNicole MaischJerzy MontagKerstin Müller
Beate Müller-GemmekeDr. Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffDr. Hermann E. OttLisa PausBrigitte PothmerTabea RößnerKrista SagerManuel SarrazinDr. Gerhard SchickDr. Frithjof SchmidtUlrich SchneiderDorothea SteinerDr. Wolfgang Strengmann-KuhnHans-Christian StröbeleDr. Harald TerpeMarkus TresselJürgen TrittinDaniela WagnerArfst Wagner
Wolfgang WielandDr. Valerie WilmsDer Art. 3 des Gesetzentwurfs ist angenommen.
Ich rufe nun die übrigen Teile des Gesetzentwurfs inder Ausschussfassung auf. Ich bitte diejenigen, die zu-stimmen wollen, um ihr Handzeichen. – Gegenstimmen? –Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiterBeratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ge-gen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenom-men.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist mit gleichem Stimmergebnis angenommen.Wir kommen zu dem Entschließungsantrag der Frak-tion der SPD auf Drucksache 17/11065. Wer stimmt fürdiesen Entschließungsantrag? – Gegenstimmen? – Ent-haltungen? – Der Entschließungsantrag ist abgelehnt mitden Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltungvon Bündnis 90/Die Grünen und Zustimmung von SPDund Linken.Wir setzen die Abstimmungen zu den Beschlussemp-fehlungen des Ausschusses für Wirtschaft und Technolo-gie auf Drucksache 17/11053 fort. Der Ausschuss emp-fiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung dieAblehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen auf Drucksache 17/9956 mit dem Titel „Verbrau-cherschutz und Nachhaltigkeit im Wettbewerbsrecht ver-ankern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koali-tionsfraktionen gegen Bündnis 90/Die Grünen bei Ent-haltung von SPD und Linken.Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaftund Technologie zu dem Antrag der Fraktionen von SPDund Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Presse-Grosso gesetzlich verankern“. Der Ausschuss empfiehltin seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9989,den Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/DieGrünen auf Drucksache 17/8923 abzulehnen. Wer stimmtfür diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? –Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenom-men mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen dieStimmen von SPD und Grünen bei Enthaltung der Lin-ken.Beschlussempfehlung des Ausschusses für Kulturund Medien zu dem Antrag der Fraktionen von SPD undBündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Instrumente zurFörderung der Medienvielfalt auf solide Datenbasis stel-len“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-fehlung auf Drucksache 17/11058, den Antrag der Frak-tionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen aufDrucksache 17/9155 abzulehnen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Die Koalitionsfraktionen. Ge-genstimmen? – SPD und Grüne. Enthaltungen? – DieLinken. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.Beschlussempfehlung des Ausschusses für Kultur undMedien zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Ti-tel „Freiheit und Unabhängigkeit der Medien sichern –Vielfalt der Medienlandschaft erhalten und Qualität imJournalismus stärken“. Der Ausschuss empfiehlt in sei-ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11045 bzw.in seinem Bericht auf Drucksache 17/11082, den Antragder Fraktion der SPD auf Drucksache 17/10787 abzuleh-nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – DieKoalitionsfraktionen und die Fraktion der Linken. Ge-genstimmen? – SPD und Grüne. Die Beschlussempfeh-lung ist angenommen.Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 bauf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten MichaelGroß, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Daniela Wagner, BettinaHerlitzius, Britta Haßelmann, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NENProgramm „Soziale Stadt“ zukunftsfähig wei-terentwickeln – Städtebauförderung sichern– Drucksache 17/10999 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung InnenausschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschuss
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23940 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verkehr, Bau undStadtentwicklung
– zu dem Antrag der Abgeordneten SörenBartol, Uwe Beckmeyer, Martin Burkert, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der SPDsowie der Abgeordneten Bettina Herlitzius,Daniela Wagner, Dr. Anton Hofreiter, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN40 Jahre Städtebauförderung – Erfolgsmo-dell für die Zukunft der Städte und Regio-nen erhalten und fortentwickeln– zu dem Antrag der Abgeordneten HeidrunBluhm, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEStädtebauförderung auf hohem Niveau ver-stetigen, Forderungen der Bauministerkon-ferenz umsetzen– Drucksachen 17/6444, 17/6447, 17/8199 –Berichterstattung:Abgeordneter Peter GötzNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-derspruch dagegen? – Das ist offenkundig nicht der Fall.Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner dem Kollegen Michael Groß von der SPD-Fraktiondas Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir ha-ben in den Städten zurzeit zwei große Herausforderun-gen. Die erste betrifft die Frage: Wie können die Men-schen demnächst noch ihre Miete bezahlen, wenn inmanchen Regionen 30 bis 50 Prozent des zur Verfügungstehenden Einkommens für das Wohnen ausgegebenwerden müssen?Die zweite Herausforderung betrifft die Fragen: Wiewollen wir in den Städten leben? Was heißt gute Lebens-qualität? Wie sieht die Zukunft der Menschen in denStädten aus? Die zweite Herausforderung hat damit zutun, dass sich Menschen, insbesondere Familien, fragen:Wachsen unsere Kinder gesund auf? Welche Unterstüt-zung finde ich im Stadtteil für meine Kinder? Gibt esBetreuungsangebote? Gibt es Spielplätze? Können sichdie Kinder ihr Wohnumfeld aneignen? Identifiziere ichmich mit meinem Wohnumfeld? Der zweite Fragenkom-plex lautet: Kann ich selbstbestimmt in meinem Stadtteilleben? Finde ich Arbeit? Finde ich Freunde, die mir hel-fen, wenn ich krank werde?Der dritte Fragenkomplex betrifft das Altwerden imStadtteil in Würde: Finde ich Unterstützung, wenn ichHilfe brauche, wenn ich krank bin? Kann ich in meineneigenen vier Wänden alt werden?Ich glaube, dass die Bundesregierung zurzeit aufdiese Fragen keine Antwort hat, weder auf die die stei-genden Mieten betreffen noch auf die zur Lebensqualitätin unseren Städten.
Das Programm „Soziale Stadt“ hat alle Antworten ge-boten, die notwendig sind. Ich habe alle Akteure meinesStadtteils beteiligen können, um die Frage zu beantwor-ten: Wie gestalte ich den Stadtteil, die Quartiere? Ichhabe alle Themen abarbeiten können: Inklusion, Integra-tion, gutes Leben, Altwerden im Stadtteil. Ich habe einengroßen Teil der Bürger mobilisieren können.Sie haben das Programm seit 2009 systematisch zu-rückgefahren, Sie haben die Mittel um 60 Prozent, zumTeil um 70 Prozent gekürzt. Während im Jahr 2009 noch48 Projekte neu aufgenommen werden konnten – da wa-ren Sie noch nicht in der Verantwortung –, wurde imletzten Jahr nur ein Projekt neu in das Programm „So-ziale Stadt“ aufgenommen. Sie haben das Programm vordie Wand gefahren, vor allen Dingen deshalb, weil sichdie Kommunen und die Länder nicht darauf verlassenkonnten, dass Planungssicherheit und eine verlässlicheFinanzierung vorhanden sind.
Wir leben in einer Zeit der riskanten Chancen. DieseAussage ist schon 30, 40 Jahre alt. Sie stammt von demSoziologen Beck aus München. Diese Aussage ist im-mer noch ganz aktuell. Die Arbeiterwohlfahrt hat eineStudie zu Lebenslagen von Kindern herausgebracht.Man höre, wie der Titel heißt: „Von alleine wächst sichnichts aus …“ Je länger ein junger Mensch in Armutaufwächst, desto geringer wird die Chance für ein Wohl-ergehen, für ein gutes Leben, desto größer sind die Risi-ken.Der von Ihnen und anderen studierte Armuts- undReichtumsbericht belegt eindeutig: Trotz wirtschaftli-chen Wachstums haben wir ein zunehmendes Armutsri-siko in Deutschland. 12,8 Millionen Menschen sind ge-fährdet, insbesondere Kinder, Alleinerziehende, Frauenund ältere Menschen. 6,5 Prozent eines Jahrgangs,60 000 junge Menschen in Deutschland, haben keinenSchulabschluss. 20 Prozent der Deutschen schaffen esnicht, einen höheren Bildungsabschluss zu bekommenals ihre Eltern. Nur 17 Prozent der Arbeiterkinder studie-ren. Man kann das zusammenfassen: Die Bundesregie-rung hat eine Studie in Auftrag gegeben zu „Trends undAusmaß der Polarisierung in deutschen Städten“, aus derhervorgeht – ich zitiere –:… dass Bewohnerinnen und Bewohner mit niedri-gem sozialen Status, geringer Qualifikation und un-terdurchschnittlichem Einkommen oft konzentriertin Stadtteilen mit mangelhaftem Gebäudebestandund unterdurchschnittlicher Infrastruktur leben.Das ist der Befund, den Sie sich selber ausstellen. Dage-gen wollen Sie nichts tun.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23941
Michael Groß
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Was trägt zur Stabilisierung in Stadtteilen bei? Es gibtein Dutzend Faktoren. Ich glaube, über das Thema Bil-dung brauchen wir nicht zu reden. Außerschulische För-derung ist ein wichtiges Thema. Bereits in der U-3-För-derung im Kindergarten ist es notwendig, die Familienzu unterstützen. Wir müssen Netzwerke aufbauen, so-ziale Hilfen und vor allen Dingen vorbeugende Hilfen inStadtteilen organisieren, in denen sich die Menschennicht mehr selber helfen können. Wir müssen die Bürge-rinnen und Bürger aktivieren. Das ist eigentlich daswichtigste Pfund, mit dem wir wuchern können; denn sieverfügen über Ressourcen und Kompetenzen. Diese dür-fen wir nicht brachliegen lassen. Wir müssen daher inden Stadtteilen für Aufbruchstimmung sorgen und dür-fen nicht zulassen, dass sich die Menschen abgehängtfühlen.
Die „Soziale Stadt“ ist ein Erfolgsmodell. Wir habenjahrelang erlebt, dass die Städte und Länder mithilfe desBundes erfolgreiche Arbeit geleistet haben. Ich möchteeinen in Berlin geborenen Diplom-Wirtschaftsingenieurzitieren. Er sagt, durch die Zusammenarbeit mit demProgramm „Soziale Stadt“ habe er zum ersten Mal inseinem Leben das Gefühl gehabt, nicht mehr nur gedul-deter Ausländer zu sein, sondern zu dieser Gesellschaftzu gehören.Wenn Sie Kinder befragen, sagen diese: Nachbar-schaft ist wichtig. Die Menschen dort sind für unsFreunde und Bekannte, die wir jeden Tag sehen. – Nach-barn haben keine eigentlichen Aufgaben, ich halte es je-doch für meine Aufgabe, meinem Nachbarn zu helfen,wenn er Hilfe benötigt.
Warum gerade Ältere von der Nachbarschaftshilfeprofitieren, sagen Ihnen Menschen aus dem Stadtteil, diemit dem Programm „Soziale Stadt“ zu tun haben. Auf-grund dieses Programms erfahren sie Nachbarschafts-hilfe, sodass sie im Bedarfsfall nicht die Tagespflegeoder die Kurzzeitpflege in Anspruch nehmen müssen,sondern zu Hause wohnen bleiben können. Deswegenfordern wir Sie auf, Ihre Kürzungen in der Städtebauför-derung endlich zurückzunehmen, die Mittel für die „So-ziale Stadt“ auf 150 Millionen Euro aufzustocken
und endlich Verlässlichkeit und Planbarkeit einzuführen.
Wir schlagen Ihnen vor, das Programm „SozialeStadt“ zu einem Leitprogramm zu machen. Dies solltenicht nach defizitorientierten Maßstäben erfolgen; viel-mehr sollte man ressourcenorientiert nach den Kompe-tenzen der Menschen Ausschau halten. Vor allen Dingengilt es, übergreifend, koordinierend und kooperativ zuplanen und zu handeln und die Menschen im Stadtteilzusammenzubringen, damit sie dort gut leben können.Wir fordern Sie auch auf, dafür zu sorgen, dass insbe-sondere die Kommunen diese Programme in Anspruchnehmen können. Nach dem KfW-Panel sind 40 Prozentder Kommunen dazu nicht in der Lage. Hier lassen Siedie Städte allein. Sie könnten jedoch mit wenig Mittel-einsatz viel erreichen.Ich komme zum Schluss. Willy Brandt hat vor circa50 Jahren im Ruhrgebiet gesagt: Der Himmel über demRuhrgebiet soll wieder blau werden. – Das war nicht nureine umweltpolitische Aussage, sondern damit haben dieMenschen im Ruhrgebiet die Hoffnung verbunden, dasses ihnen einmal besser geht und dass sie sich darauf ver-lassen können, dass ihre Stadtteile ihnen ein besseres Le-ben ermöglichen.Herzlichen Dank und Glückauf!
Das Wort hat jetzt der Kollege Peter Götz von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber KollegeGroß von der Opposition, jetzt lassen Sie doch einfacheinmal die Kirche im Dorf und nehmen Sie die Realitätwahr. Es ist diese Bundesregierung, die die Kommunendurch die Übernahme der Kosten der Grundsicherung imAlter und bei Erwerbsminderung allein im Zeitraum von2012 bis 2016 um über 20 Milliarden Euro entlastet. Dasist die größte Kommunalentlastung in der Geschichte derBundesrepublik Deutschland
Und dann kommen Sie heute her und beklagen, genauwie vor einem Jahr, in einer rückwärtsgewandten De-batte, dass der Bund nicht genug tut.
Wenn Ihnen sonst nichts Besseres einfällt, begreifen Siewirklich nicht, wie wichtig die Gesundung der Kommu-nalfinanzen eigentlich ist.
Chancen für die Übernahme eigener Verantwortungin freier Entscheidung sind besser als goldene Zügedurch Bund und Länder mit immer stärker ausgestaltetenlenkenden und bevormundenden Förderprogrammen.
– Lieber Kollege Sören, für uns haben auch eine solideHaushaltspolitik und das Einhalten der Schuldenbremseeinen hohen Stellenwert. – Die Kostenübernahme derAltersgrundsicherung steht sinnbildlich für einen Para-digmenwechsel in der Bundespolitik. Anstatt wie in der
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23942 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Peter Götz
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Vergangenheit die Kommunen immer wieder mit neuenAufgaben und Ausgaben zu belasten, stärken wir dieStädte, Gemeinden und Landkreise nachhaltig. DieFrüchte dieser Politik lassen sich auch an der Entwick-lung der Gewerbesteuereinnahmen ablesen. Die meistenKommunen – sicherlich nicht alle – sind wieder in derLage, ihre eigenen gesetzlichen und freiwilligen Aufga-ben selbst zu finanzieren.
Unabhängig von dieser positiven Entwicklung, HerrKollege Scheelen, werden wir die Städte und Gemein-den auch zukünftig bei nötigen Investitionen im Bereichder Städtebauförderung und der Stadtentwicklung unter-stützen. Dies gilt gerade auch für wirtschaftlich und so-zial benachteiligte Stadtteile. Dafür – das ist seit mehrals 40 Jahren unstrittig – sind die Städtebauförderungs-programme ausgezeichnet geeignet.Für uns ist ein ressortübergreifender, stadtteilbezoge-ner Ansatz ein zentraler Erfolgsfaktor in der Stadtent-wicklung. Deshalb haben wir neue Schwerpunkte ge-setzt und den Energie- und Klimafonds auch für dieFinanzierung von Maßnahmen der Stadtentwicklungs-politik geöffnet. Die große Nachfrage nach den neuenProgrammen „Kleine Städte und Gemeinden“ und„Energetische Stadtsanierung“ bestätigt eindrücklich dieNotwendigkeit, sich diesen Zukunftsthemen verstärktzuzuwenden. Wir leisten damit auch einen unverzichtba-ren Beitrag zur Sicherung der öffentlichen Daseinsvor-sorge in dünn besiedelten Räumen und erschließen neuePotenziale bei der Vermeidung von CO2-Ausstoß in städ-tischen Quartieren.Nur zur Erinnerung: Das Programm „Die sozialeStadt“ wurde in seiner Grundidee unter der Leitung derdamaligen Bundesbauminister Klaus Töpfer und EduardOswald auf den Weg gebracht. Das war 1998, vor inzwi-schen 14 Jahren.
Es half, vor allem in den Jahren geringen wirtschaft-lichen Wachstums und hoher Arbeitslosigkeit. Leiderhaben einige wenige Kommunen die bei solchen Pro-grammen stets notwendige kritische Reflexion aus denAugen verloren. Dadurch ist der gute Ansatz des Pro-gramms „Die soziale Stadt“ in Misskredit geraten.Ziel dieses Programms ist nicht die dauerhafte Ali-mentierung sämtlicher Maßnahmen – der Kollege Großhat es vorhin aufgezeigt –, sondern die Beseitigung derUrsachen der Entwicklung eines Stadtquartiers zu einemProblemquartier. Vor diesem Hintergrund hat sich dieCDU/CSU-Bundestagsfraktion intensiv an der Weiter-entwicklung und am Ausbau des Programms beteiligt.Wir wollen eine passgenaue Verzahnung der verschie-denen Programme und Maßnahmen sowohl auf Bundes-ebene als auch vor Ort erreichen. Um benachteiligteQuartiere zu stabilisieren, wurden die städtebaulichenInvestitionen des Programms „Die soziale Stadt“ pas-send zu den gesetzlichen Vorgaben mit arbeitsmarktpoli-tischen Instrumenten gekoppelt; so steht es auch im Ge-setz. Wenn wir uns die verschiedensten nichtinvestivenBundesprogramme anschauen, wie zum Beispiel dasESF-Aktionsprogramm „Mehrgenerationenhäuser“ unddie Bundesinitiativen „Offensive Frühe Chancen:Schwerpunkt-Kitas Sprache & Integration“, „JUGENDSTÄRKEN“ oder „Lernen vor Ort“, dann erkennen wir:Es gibt wahnsinnig viele Möglichkeiten, das Programm„Die soziale Stadt“ sinnvoll zu ergänzen. Diese notwen-dige Koordinierung ist von keinem der vielen SPD-Bun-desbauminister gegenüber anderen Ressortchefs dauer-haft durchgesetzt worden.Es ist richtig, das Programm „Die soziale Stadt“ aufdie baulichen Investitionen zu konzentrieren und es somit anderen Programmen zu kombinieren, dass städte-bauliche Missstände in den Kommunen behoben werdenund das Programm den Menschen zugutekommt. JedesLand, jede Kommune ist frei in ihrer Entscheidung, sichzusätzlich mit eigenen Mitteln in die Programmfinanzie-rung einzubringen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen undHerren, der Bundeshaushalt ist kein Wünsch-dir-was-Katalog, und trotzdem ist es gelungen, die Mittel derStädtebauförderung auf hohem Niveau zu verstetigenund zusätzlich die Mittel für die energetische Stadtsanie-rung auf über 100 Millionen Euro aufzustocken. Dassollten Sie einfach zur Kenntnis nehmen.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Heidrun Bluhm von der
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Unser Antrag mit dem Titel „Städtebauförderung aufhohem Niveau verstetigen, Forderungen der Bauminis-terkonferenz umsetzen“, der hier heute neben den beidenAnträgen der SPD besprochen wird, bezieht sich auf denseinerzeit einstimmig gefassten Beschluss der Bauminis-terkonferenz vom 28. Juni 2011. Ich kann heute den Be-schluss der Bauministerkonferenz vom 20./21. Septem-ber 2012 in Saarbrücken danebenlegen und konstatieren,dass unsere Forderungen von vor einem Jahr nicht nurimmer noch aktuell sind, sondern ihre Umsetzung sogarnoch notwendiger geworden ist. Herr Götz, wenn Siehier die SPD dafür kritisieren, dann muss ich Sie schonfragen: Sind Sie als CDU klüger als 16 Bauminister, dieseit Jahren beklagen, dass Sie zwar im Koalitionsvertragversprochen haben, 535 Millionen Euro pro Jahr in den
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23943
Heidrun Bluhm
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Haushalt einzustellen, nun aber die Mittel auf 455 Mil-lionen Euro reduzieren?
Sie tragen es zwar nett vor, aber Sie tragen es nicht ehr-lich vor.
Das ist auch nicht verwunderlich, weil unerledigteAufgaben durch Liegenlassen nicht kleiner werden, son-dern wachsen. Qualitativ neue Aufgaben sind zwischen-zeitlich aufgrund der Aktualität des Themas hinzuge-kommen und wachsen jeden Tag rasant an. DieRegierung macht aber nichts anderes, als die Mittel aufimmer geringerem Niveau zu verstetigen. Sie machtnicht das, was sie im Koalitionsvertrag versprochen hat.So wird der Berg unerledigter Aufgaben bei der Ent-wicklung unserer Städte,
den die Bundesregierung vor sich herschiebt, immer grö-ßer.Städtebauförderung eignet sich auch nicht für Kampa-gnen. Sie muss langfristig, dauerhaft und zuverlässig an-gelegt sein, auch weil die Länder und Kommunen je-weils mit mindestens 30 Prozent an den Kosten derStädtebauförderung beteiligt sind und vor allem die Um-setzung zu organisieren haben. Auch sie haben ihreHaushaltspolitik zu machen und ihren Planungsvorlaufzu realisieren, und dafür benötigen sie dauerhaft zuver-lässige Aussagen der Bundesregierung.
Deswegen ist es absolut unverständlich, dass die Kon-tinuität der Städtebauförderung gerade in einer Zeit un-terbrochen wird, in der die Erfordernisse der Stadtent-wicklung objektiv eine völlig neue Dimensionannehmen. Die Ansprüche und Maßstäbe, die heute andie Städtebauförderung gelegt werden müssen, habensich an sozialdemografischen, ökologischen, ökonomi-schen und Entwicklungserfordernissen der Gesellschaftzu orientieren. Herr Groß hat das hier sehr intensiv undauch sehr umfassend dargestellt.Die Städtebauförderung ist nicht nur eine nationaleAufgabe, sondern auch eine globale Herausforderung.Gerade der Kongress, den wir in der vergangenen Wochegemeinsam bestritten haben, hat noch einmal deutlichgemacht, dass unsere Städte auch international eine Ver-antwortung tragen.Ich bin weit davon entfernt, dem Koalitionsvertragvon 2009 vorausschauende Weisheit zu unterstellen,aber immerhin hat die Koalition damals versprochen,535 Millionen Euro zu verstetigen. Daran sieht sie sichseit 2011 nicht mehr gebunden. Wir erheben mit unse-rem Antrag also gar keine neue Forderung, sondern for-dern nur die Umsetzung des Koalitionsvertrages. Wennwir Ihnen zum wiederholten Mal vorrechnen, dass dieStädtebauförderung keine Subventionssünde, sondernein einzigartiges, sich selbst finanzierendes Konjunktur-programm ist, dann wundert es uns schon, dass Sie ge-rade in Zeiten, in denen die Wachstumsraten fürDeutschland wieder korrigiert werden und in denen dieAlarmglocken verschiedener Branchen läuten, weil esbergab gehen wird, konjunkturell funktionierende Pro-gramme abbauen und ihre Mittelausstattung auf einemniedrigeren Niveau verstetigen. Das ist für uns völlig un-verständlich.
Wenn von heute 455 Millionen Euro Städtebauförde-rung – und jetzt zitiere ich Herrn Ramsauer selbst –städtebauliche Investitionen von insgesamt über 6 Mil-liarden Euro angestoßen werden, frage ich mich, um wieviel größer die ökologischen und volkswirtschaftlichenEffekte von 535 Millionen Euro oder den eigentlich not-wendigen 700 Millionen Euro wären.Ein weiterer Grund für eine entschlossene Aufsto-ckung der Städtebaufördermittel kommt hinzu: Die Kon-junkturdaten, die ich eben genannt habe, erfordern In-vestitionen des Bundes und der Länder, nicht aber denRückbau von Investitionen. Ich sage Ihnen: Die Städte-bauförderung könnte neben den sowieso gewollten undnotwendigen Impulsen für den sozialökologischen Um-bau unserer Städte und Regionen zu einem starken undeffizienten Motor der gesamtwirtschaftlichen Entwick-lung werden. Sie könnte Arbeitsplätze sichern, die So-zialsysteme stabilisieren und zusätzliche Steuereinnah-men bei Bund und Ländern generieren. Dies nicht zubegreifen, ist die große Schwäche unseres Bauministers.Danke schön.
Für die FDP-Fraktion hat jetzt die Kollegin Petra
Müller das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gu-ten Abend, meine sehr geehrten Damen und Herren! DieStädtebauförderung ist seit 40 Jahren ein Erfolgsmodell.Darüber herrscht breite, große Einigkeit in diesemHohen Haus, in den Ländern und parteiübergreifend.
– Lass mich doch einmal weitersprechen, bitte.Die Finanzhilfen des Bundes für 2013 bleiben bei455 Millionen Euro; diese Summe ist seit drei Jahrengleich. Hinzu kommen die Mittel für die energetischeStadtentwicklung in Höhe von 100 Millionen Euro. Werrechnen kann, kommt dann auf 555 Millionen Euro, unddas ist ein bisschen mehr als 535 Millionen Euro.
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23944 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Petra Müller
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Diese Ergebnisse – das möchte ich hinzufügen – er-reichen wir trotz Haushaltskonsolidierung und trotzEuro-Krise. Das zeigt, wie hoch der Stellenwert derStädtebauförderung in der christlich-liberalen Koalitionist. Damit betreiben wir eine verlässliche und erfolgrei-che Politik.
Daher lasse ich den Vorwurf vonseiten der SPD, dass wirdie Städtebauförderung vernachlässigen, nicht gelten.Zu Ihren Anträgen fallen mir zwei Dinge ein:Wunschkonzert und Gießkanne. Wunschkonzert, weilIhre Forderung zeigt, dass Sie keine Rücksicht auf denGesamtetat oder die Teilprogramme nehmen. Ihre An-träge zeigen, dass Sie auch nicht zur Kenntnis nehmen,dass mit dem Programm „Kleinere Städte und Gemein-den“ 2010 ein neues Programm auf den Weg gebrachtwurde. Es war zunächst mit 18 Millionen Euro ausge-stattet. Mittlerweile wurden 55 Millionen Euro abgeru-fen. Das spricht für Kontinuität. Das ist ein Anwachsender Städtebauförderung in ganz bestimmten Bereichen,nämlich den kleinen Städten und Gemeinden. Ich mussIhnen auch einmal sagen: Unter Rot-Grün haben Sie dasnicht zustande gebracht.
Das haben wir zustande gebracht.
Ihre Anträge zeigen auch, dass Sie nicht zur Kenntnisnehmen, dass die alten Ziele des Programms „SozialeStadt“ schon längst in anderen Programmen aufgenom-men wurden und jetzt in diesem Rahmen angestrebt wer-den, und zwar viel direkter und viel effizienter.Wir, die christlich-liberale Koalition, werden dieStädtebauförderung in Deutschland kontinuierlich wei-terentwickeln, zielgenau und treffsicher.
Bestes Beispiel ist der Stadtumbau West. Das Programmberücksichtigt heute als breitaufgestelltes Programm denKlimawandel gleichermaßen wie den demografischenWandel und die wirtschaftliche Entwicklung. Das istdas, was Sie eben beklagt haben. Lesen Sie das einmalnach. So stelle ich mir – das muss ich Ihnen ganz ehrlichsagen – eine zukunftsweisende Stadtentwicklung vor.Nur so können wir Städte, Gemeinden und Kommunenfitmachen für die Zukunft. Das nenne ich eine erfolgrei-che Politik der christlich-liberalen Koalition.
Wir haben die Energiewende beschlossen. Wir habenuns vorgenommen, in nur wenigen Jahren die Energie-versorgung unseres Landes auf eine neue, andere Basiszu stellen. In unseren Gebäuden, egal ob in privater oderöffentlicher Hand, werden 40 Prozent der Primärener-gien verbraucht. Die Stadtentwicklung muss in Zukunftzur Senkung des Primärenergieverbrauchs in den Gebäu-den beitragen. Sie muss dabei einen entscheidendenBeitrag leisten. Dieser Verantwortung haben wir uns ge-stellt, und diese Chance haben wir mit dem Programm„Energetische Stadtsanierung“ genutzt.Es gibt weitere Bereiche, in denen wir uns neu aus-richten müssen. Abgesehen von der Notwendigkeit einesenergetischen Umbaus und der Berücksichtigung desdemografischen Wandels müssen wir auch dasUngleichgewicht zwischen Stadt und Land, zwischenmegaurbanem und ländlichem Raum ausgleichen. Dasmüssen die Schwerpunkte der zukünftigen Städtebauför-derungsprogramme sein. Ich glaube auch, dass eineenergetisch-dynamische Stadtentwicklung den Blickweg vom Einzelgebäude hin zum Quartier richten muss.Das ist ganz wichtig, wenn wir unsere Klimaschutzzieleerreichen wollen. An dieser Stelle macht der Einsatzöffentlicher Mittel Sinn. Er ist effizient, er verringert denbürokratischen Aufwand, und er schafft nachhaltigeLösungen.In Ihrem Antrag schreiben Sie, liebe Kolleginnen vonden Linken, dass gute Nachbarschaft, sozialer Zusam-menhalt, reges Vereinsleben, kulturelle Vielfalt usw.Ausdruck funktionierender Städte, Gemeinden undQuartiere sind. Ich muss Ihnen einmal ganz ehrlichsagen: Genau das setzen wir um. Das wird gefördert.Dennoch sind die Prozesse dynamisch. In den vergan-genen Tagen konnten Sie Bilder von Studenten sehen,die eine Wohnung suchen, die keinen günstigen Wohn-raum finden. Auch hier besteht Handlungsbedarf, undzwar im Interesse aller Wohnungssuchenden. Die sozialeWohnraumförderung ist Ländersache. Wir erwarten vonden Ländern, dass der Bundeszuschuss eins zu eins inden sozialen Wohnraum fließt und nicht für andere haus-halterische Maßnahmen in den Länderhaushalten ge-nutzt wird. Das ist ein ganz wichtiger Punkt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, 630 Millionen Eurofür das Wohngeld – das sind 34 Millionen Euro mehr alsim letzten Jahr –; 455 Millionen Euro, seit drei Jahrenverstetigt, für Stadtentwicklungsmaßnahmen; 1,5 Mil-liarden Euro für die CO2-Gebäudesanierung, verstetigtbis 2014; 100 Millionen Euro für das Programm „Ener-getische Stadtsanierung“. Ehrlich gesagt, das ist für michmoderne Stadtentwicklungspolitik.
Genau diese Politik werden wir in der Zukunft fortset-zen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23945
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Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das
Wort die Kollegin Daniela Wagner.
Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! LiebeKollegin Müller, die einzige Aussage in Ihrer Rede, derman zustimmen kann, war, dass der Bund in der Tatdarauf achten muss, dass die Länder die Mittel für densozialen Wohnungsbau ausgeben. Darum haben wir jaauch den Bauminister gebeten. Damals, im Jahr 1999,haben wir mit dem neuen Bund-Länder-Programm „So-ziale Stadt“ in vielen Stadtteilen in ganz Deutschlanddrohende oder bereits in Gang gesetzte Abwärtsspiralenstoppen können. Es gab sichtliche bauliche Verbesserun-gen für die Menschen: neue Spielplätze, renovierteSchulen, neue Gemeinwesenzentren, Stadtteilbibliothe-ken.Aber eine Stadt besteht eben nicht nur aus ihrenGebäuden, aus ihren Wohnungen und aus dem Sand aufihren Spielplätzen, sondern sie besteht auch aus denMenschen, die dort wohnen, arbeiten und leben, dietäglich das Leben dort gestalten. Deswegen haben wirdamals in dieses Programm die Möglichkeit aufgenom-men, Handlungen in diesen Stadtteilen anzustoßen, dieIdentifikation stiften. Das waren damals die nichtinvesti-ven Maßnahmen. Soziale und professionelle Netzwerkeund bürgerliches Engagement zur Stärkung von Integra-tion und einem fairen Zugang zu Bildung und Teilhabean Kultur konnten damit gefördert werden.
Das alles haben Sie geschleift. Sie haben das Pro-gramm nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ zuseinem Nachteil verändert.
Erst der lagerübergreifende Protest aus allen Städten hatSie überhaupt dazu veranlasst, in den letzten beidenHaushalten, dem Haushalt 2012 und dem Haushalt 2013,noch ein bisschen nachzulegen.
Ich hoffe, dass Sie an dieser Stelle bei Ihrer Linie blei-ben.
Sie müssen jetzt nur noch die gegenseitige Deckungsfä-higkeit wiederherstellen und die Diskriminierung desBund-Länder-Programms „Soziale Stadt“ innerhalb derStädtebauförderung beseitigen. Vor allen Dingen müssenSie sicherstellen, dass die Städte ihren Eigenanteil auf-bringen können.
Freiheit ist das, was im Moment herrscht, nicht, HerrKollege Götz. Es ist keine Freiheit, zum Beispiel dienichtinvestiven Maßnahmen selber zu finanzieren. VieleStädte können nicht einmal mehr den investiven Anteiltragen.Sie müssen die Einschnitte rückgängig machen. Denndie soziale Spaltung in unseren Städten und Gemeindenverschärft sich. Das hat eine Difu-Studie ganz klarbelegt. Die, die in diesen Stadtteilen übrig bleiben, dienicht wegziehen können, sind genau diejenigen, die amEnde des Tages dringend unsere Unterstützung brau-chen. Wir dürfen diese Stadtteile nicht sich selbst über-lassen. Diese Stadtteile sind überfordert. Wir müssen siedauerhaft und nachhaltig erhalten und ihnen helfen, undzwar nicht mit einem Strohfeuer, nicht mit jährlichemInvestitionsrisiko, bei dem die Städte am Ende sagen:Wir wissen überhaupt nicht, was auf uns zukommt, alsolassen wir besser die Finger davon.
Das Bund-Länder-Programm „Soziale Stadt“ hat her-vorragende Arbeit geleistet, auch und gerade mit dennichtinvestiven Maßnahmen und mit der Förderung derZusammenarbeit zwischen den verschiedenen Diszipli-nen der Stadtverwaltung: Sozialverwaltung, planendeVerwaltungsbereiche, Bildungsbereiche. Das ist wichtig,und das muss fortgesetzt werden, sowohl bei den Län-dern als auch beim Bund. Denn anders wird es nichtgehen. Ohne den interdisziplinären Ansatz diesesProgramms wird die Förderung im Grunde als Stroh-feuer verbrennen.Deswegen wollen wir die Anhebung der Mittel für dieStädtebauförderung, für das Bund-Länder-Programm„Soziale Stadt“ auf das Niveau von vor drei Jahren,nämlich auf 105 Millionen Euro. Wir wollen dieDeckungsfähigkeit mit allen anderen Programmen derStädtebauförderung wiederherstellen. Vor allen Dingenmüssen die nichtinvestiven Maßnahmen wieder zugelas-sen werden.Außerdem wollen wir ein Programm zur energeti-schen Sanierung
von Quartieren mit einem hohen Anteil einkommens-schwacher Haushalte anregen. Das betrifft viele Gebietedes Programms „Soziale Stadt“. Hier muss das Ziel sein,zu einer warmmietenneutralen energetischen Sanierungzu kommen; denn diese Menschen können sich hervorra-gend sanierte Wohnungen, bei denen die Sanierungskos-ten mit 11 Prozent umgelegt wurden, nicht mehr leisten.Sie werden sozusagen heraussaniert. Deswegen brau-chen wir ein besonderes Programm für diese Stadtteile.Anders werden wir die sozialen und ökologischenSchieflagen in unseren Städten nicht in den Griff bekom-men.Wir, der Bund, haben eine klare Mitverantwortung fürdie Entwicklung in unseren Städten und Wohnquartie-ren. Da kann man nicht sagen: Das ist doch Ihre Sache.
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23946 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Daniela Wagner
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Machen Sie doch etwas. – Das ist auch unsere Sache.Das ist auch Sache der Länder. Wir müssen das gemein-sam anpacken.
Für die CDU/CSU hat jetzt das Wort der Kollege
Volkmar Vogel als letzter Redner zu diesem Tagesord-
nungspunkt.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lassen Sie mich zum Abschluss dieser Debatte erst ein-mal Folgendes feststellen: Wenn man von Sozialstaatspricht, dann denken alle an Rentenversicherung, an Ar-beitslosenversicherung, an Sozialhilfe. Aber keinerdenkt eigentlich an das berühmte Dach über dem Kopf.
Ich glaube, das Dach über dem Kopf und lebenswerteStädte sind die größte soziale Errungenschaft, die wir inunserem Lande haben. Es muss auch ein bisschen Zeitsein, denen zu danken, die dafür gesorgt haben. Es istnicht die SPD an erster Stelle. An erster Stelle sind esdie, die vor Ort im Rahmen der Wohnungswirtschaft alsprivate Immobilienbewirtschafter, als Wohnungsunter-nehmen, als kommunale Unternehmen dafür sorgen,dass unsere Städte im Großen und Ganzen bei aller Kri-tik und bei allen Problemen, die es gibt, in einem sehrguten Zustand sind.
Wenn man das weltweit, also auch mit anderen großenIndustrienationen, vergleicht, dann zeigt sich: Das kannsich sehen lassen.Natürlich haben ihren Beitrag geleistet die Kommu-nen, die Länder, in deren Zuständigkeit einige dieserDinge liegen, und auch der Bund, der seit mittlerweile40 Jahren die Städtebaufördermittel kontinuierlich zurAusreichung bringt.Ja, „Soziale Stadt“ ist gut. Aber „Soziale Stadt“ istnur dann gut, wenn auch tatsächlich sozial wirkendeInvestitionen im Vordergrund stehen –
Investitionen ins Wohnumfeld, in die soziale Infrastruk-tur und auch in lebenswerte Wohnungen. Genau dabauen wir nicht ab. Einen solchen Abbau zu verhindern,ist die Aufgabe, die uns, dem Bauausschuss, zusteht. DieMittel, die auch in diesem Jahr für investive Zwecke zurVerfügung stehen, haben mindestens die Höhe, die schonin den vergangenen Jahren zur Verfügung gestanden hat.Eines muss man an dieser Stelle auch sagen: Als 1998die SPD gemeinsam mit den Grünen in die Verantwor-tung kam, ist es ihr nicht gelungen, das Programm„Soziale Stadt“ tatsächlich zu verzahnen. Peter Götz hates anschaulich dargestellt. Dem gibt es nichts hinzuzufü-gen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolle-ginnen und Kollegen, wenn wir über Städtebauförderungsprechen, dann müssen wir vor allen Dingen darübersprechen, welche Herausforderungen in der Zukunft voruns stehen werden. Das sind zwei wesentliche Dinge:Das eine ist der demografische Wandel, und das andereist die Energiewende, die auch im Gebäudebereich einewichtige Rolle spielt. Es waren wir, die dafür gesorgt ha-ben, dass der Stadtumbau Ost und der Stadtumbau Westmit einem hohen Anteil weitergeführt werden. Es warenwir, die sich auch in der Fläche darum gekümmerthaben, dass für kleine Städte und Gemeinden die Mög-lichkeit besteht, eine gemeinsame Infrastruktur zu entwi-ckeln. Wir fördern das mit einem entsprechenden Pro-gramm.Gerade im Stadtumbau sind weitere Maßnahmennotwendig. Wir haben die Zwischenberichte zum Stadt-umbau Ost, und wir haben den Zwischenbericht zumStadtumbau West. Wir werden in den nächsten Jahrengroße Anstrengungen unternehmen müssen, um hiervoranzukommen. Wir stellen uns dieser Aufgabe in viel-fältiger Hinsicht.Demografischer Wandel heißt, da, wo es notwendigist, Rückbau zu unterstützen. Demografischer Wandelheißt aber auch Umbau, der den neuen Bedingungen derMenschen entspricht. Außerdem heißt demografischerWandel Aufwertung, etwa was soziale Infrastruktur an-geht. Auch hier sieht man die Verknüpfung mit anderenProgrammen, wie zum Beispiel mit dem Programm „So-ziale Stadt“.
Die Energiewende wird im Gebäudebereich – daswissen wir alle – eine sehr große Rolle spielen. Ichmöchte an dieser Stelle sagen: Wenn wir von insgesamt555 Millionen für die Städtebauförderung sprechen,dann müssen wir auch noch darüber sprechen, dass jedesJahr 1,5 Milliarden für das CO2-Gebäudesanierungspro-gramm zur Verfügung stehen, ein großer Teil davon fürunsere Gebäude, für unsere Immobilien, die es energe-tisch zu ertüchtigen gilt.Nun spreche ich besonders die Opposition an: Wennes um die Energiewende und die Bereitstellung finan-zieller Mittel geht, fordere ich Sie auf: Springen Sie end-lich über Ihren Schatten und sprechen Sie mit den Ver-antwortlichen in den Bundesländern, in denen Sie an derRegierung beteiligt sind,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23947
Volkmar Vogel
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um dafür zu sorgen, dass wir im Hinblick auf die energe-tische Sanierung auch die Möglichkeit von Sonderab-schreibungen auf den Weg bringen.
Der Vorschlag von Ministerpräsident Kretschmann istzwar nicht ganz neu; er stellt aber zumindest eine guteBasis für weitere Verhandlungen dar, wenngleich es ausunserer Sicht notwendig ist, hier noch etwas zu tun, umauch privates Kapital zu heben.
Lassen Sie mich zum Schluss sagen: 40 Jahre Städte-bauförderung, das ist eine gute Sache.
Sie gilt es fortzuführen, allerdings immer den jeweiligenBedingungen entsprechend. Ich rufe die Kollegen vonder Opposition auf: Unterstützen Sie uns, wenn es darumgeht, neue Programme zu entwickeln und alte Pro-gramme weiterzuentwickeln, und zwar den Bedingun-gen, die uns der Wohnungs- und der Immobilienmarktvorgeben, und den Bedürfnissen der Menschen entspre-chend.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/10999 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf
Drucksache 17/8199. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung
des Antrags der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 17/6444 mit dem Titel
„40 Jahre Städtebauförderung – Erfolgsmodell für die
Zukunft der Städte und Regionen erhalten und fortentwi-
ckeln“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
CDU/CSU und FDP. Wer stimmt dagegen? – Die Oppo-
sitionsfraktionen. Enthaltungen? – Keine Enthaltungen.
Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/6447 mit dem Ti-
tel „Städtebauförderung auf hohem Niveau verstetigen,
Forderungen der Bauministerkonferenz umsetzen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Die Koali-
tionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? – SPD und Linke.
Wer enthält sich? – Bündnis 90/Die Grünen. Die Be-
schlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Lebensmittelverluste reduzieren
– Drucksache 17/10987 –
Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Binder, Johanna Voß, Dr. Kirsten Tackmann, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Die Ursachen der Vernichtung und Ver-
schwendung von Lebensmitteln wirksam be-
kämpfen
– Drucksache 17/10989 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Peter
Bleser.
Pe
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist mireine große Freude, hier und heute miterleben zu dürfen,dass sich der Deutsche Bundestag mit dem Thema Le-bensmittelverschwendung befasst und in einem frak-tionsübergreifenden Antrag gleiche Ziele definiert. Ichhalte das für ein sehr wichtiges Signal, das die öffentli-che Debatte beflügeln und dabei helfen wird, diesesThema mitten in die Gesellschaft zu tragen.Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, auf jederStufe der Warenkette werden Lebensmittel weggewor-fen. In Deutschland rechnen wir mit 11 Millionen Ton-nen pro Jahr.
Dies ist mit dem Prinzip der Nachhaltigkeit nicht verein-bar. Die Erzeugung, Verarbeitung und Verteilung vonNahrungsmitteln beansprucht nämlich eine große Mengenatürlicher Ressourcen, die dadurch für andere Nutzun-gen nicht zur Verfügung stehen. Sie verursachen natür-lich auch Kosten für die Gesellschaft.
Es ist daher ein Gebot der Verantwortung gegenüberder Weltbevölkerung und den kommenden Generatio-nen, Lebensmittelverluste so weit wie möglich zu redu-zieren.
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23948 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Parl. Staatssekretär Peter Bleser
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Das ist in einer Gesellschaft, die sich an Überfluss, aneine breite Auswahl und an die ständige Verfügbarkeitvon Lebensmitteln gewöhnt hat, nicht einfach. Etwas,was man immer hat, wird weniger geschätzt. Das giltauch für andere gesellschaftliche Bereiche.Wir brauchen mehr Wertschätzung für die Mittel zumLeben. Insofern bin ich froh, dass unsere MinisterinAigner schon vor einiger Zeit mit der Kampagne „JedesMahl wertvoll“, mit der Initiative „IN FORM“ und auchmit der Kampagne „Zu gut für die Tonne“ damit begon-nen hat, entsprechende Hinweise zu geben und damit dieGesellschaft auf dieses Problem hinzuweisen. Die Kam-pagne „Zu gut für die Tonne“ bündelt zahlreiche Aktivi-täten, die in diesem koalitionsübergreifenden Antragrichtigerweise angesprochen werden.Sowohl die Europäische Union als auch die Bundes-ministerin haben sich verpflichtet, bis zum Jahre 2020die vermeidbaren Lebensmittelabfälle um die Hälfte zureduzieren. Ich meine, dieses ambitionierte Ergebnislässt sich nur in einem gesellschaftlichen Bündnis ausPolitik, Wirtschaft, Wissenschaft, Verbänden und natür-lich Verbrauchern erreichen.Wichtig ist uns die Information der Verbraucherinnenund Verbraucher a) über die Möglichkeit der Abfallver-meidung und b) zur Sensibilisierung für die Wertschät-zung von Lebensmitteln. Dazu gehören natürlich Wissenund auch praktische Tipps, die unsere Eltern und Großel-tern vielleicht noch eher kannten als viele Angehörigejüngerer Generationen. Es geht um nützliches Wissenund praktische Tipps für den Umgang mit Lebensmittelnund um die Berücksichtigung dieses Wissens und dieserTipps schon beim Einkauf, bei der Lagerung und natür-lich bei der Verarbeitung in der Küche, also bei der Nah-rungsmittelzubereitung.Wir haben die Internetseite www.zugutfuerdie-tonne.de geschaltet, die sehr stark nachgefragt wird undfür die es auch eine App gibt. Hier werden Tipps vonSterneköchen
dafür preisgegeben, wie man aus vermeintlichen Abfäl-len, also mit Lebensmittelresten, tolle Speisen zubereitenkann. Ich kann mich jedenfalls daran erinnern, dass inmeiner Jugend gerade Speisen aus Resten am besten ge-schmeckt haben. Bis heute liegt mir noch sehr viel anRestesuppen, wie wir immer gesagt haben. Das warensehr schmackhafte Gerichte.
– Liebe Frau Kollegin Drobinski-Weiß, ich glaube, wirhaben hier den gleichen Erfahrungsschatz.Außerdem gilt es natürlich, gemeinsam mit den Ta-feln und Slow Food durch öffentlichkeitswirksame Ver-anstaltungen auf die Rettung von Lebensmitteln auf-merksam zu machen. In Bremerhaven wird noch imHerbst die erste Veranstaltung dazu stattfinden.Aber auch bei unseren Kindern müssen wir ansetzen,und wir müssen ihnen Wertschätzung vermitteln. Dazuhat unsere Ministerin am 3. Oktober 2012 den Schüler-wettbewerb „ECHT KUH-L“ gestartet, der in diesemSchuljahr die Lebensmittelverschwendung thematisiert.Ich hoffe auch, dass in so mancher Küche über unserealltägliche Verwendung und oft auch Verschwendungvon Lebensmitteln diskutiert wird. Ich glaube, nur sowerden wir ein Umdenken erreichen, das letztlich erst inden Köpfen der Menschen herbeigeführt werden mussund dann auch zu praktischem Handeln führen kann.
Wir dürfen natürlich nicht nur auf die privaten Haus-halte setzen. Deswegen hat das BMELV in den vergan-genen Monaten erste Gespräche auch mit Herstellern,dem Handel und Großverbrauchern geführt. Diese Ge-spräche werden mit dem Ziel fortgesetzt, konkrete Bei-träge aller Akteure zur Reduzierung von Lebensmittel-verschwendung zu leisten.Im Frühjahr nächsten Jahres soll dieser Prozess miteinem runden Tisch abgeschlossen werden. Von allenBeteiligten werden bis dahin konkrete, überprüfbareMaßnahmen zur Reduzierung der Lebensmittelabfälle inihrem Verantwortungsbereich erwartet.Es geht darum, Verantwortung zu übernehmen undRessourcen zu schonen. Das geht uns alle an. DiesesThema ist für jeden wichtig. Jeder ist gefragt, und jederist gefordert. Am Schluss dieser Debatte sage ich nocheinmal: Ich freue mich, dass wir bei diesem Thema einenso tollen Konsens in diesem Haus haben. Ich denke, esist auch eine Botschaft an die Bevölkerung, dass wir unshier nicht nur streiten, sondern bei Themen, bei denenwir einen Konsens haben, auch gemeinsam handeln kön-nen. Auch diese Kampagne ist von Erfolg gekrönt, weilwir zusammenstehen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Elvira Drobinski-
Weiß von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, was langewährt, wird endlich gut, nicht wahr, Herr Staatssekretär?
Nun haben wir es doch geschafft, einen gemeinsamenAntrag mit Maßnahmen gegen die Verschwendung vonLebensmitteln auf den Weg zu bringen. Das ist ein gutesSignal. Denn mit dem Wegwerfen genießbarer Lebens-
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Elvira Drobinski-Weiß
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mittel werden ungeheure Ressourcen verschwendet– Arbeitskraft, Energie, Wasser, Rohstoffe, ländlicheFläche –, die in armen Ländern dringend benötigt wür-den, um den Hunger vor Ort zu bekämpfen. Damit hatdieses Thema nachhaltige und ethische Dimensionen,denen wir nur dann gerecht werden können, wenn wiralle gemeinsam an einem Strang ziehen. Insofern war esuns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sehrwichtig, dass wir hier einen gemeinsamen Antrag aufden Weg bringen konnten.
Auch wenn in einem gemeinsamen Antrag nicht alleVorschläge zu 100 Prozent untergebracht werden könnenund Kompromisse gemacht werden müssen, ist das, waswir heute hier vorlegen, so denke ich, eine gute Grund-lage.Bisher stand allerdings vor allem das Verhalten derVerbraucher im Fokus der Maßnahmen gegen die Le-bensmittelverschwendung. Das reicht nicht aus, HerrStaatssekretär; denn beim verschwenderischen Umgangmit Lebensmitteln handelt es sich um ein systemischesProblem, dessen Ursache in einem nicht nachhaltigenUmgang auf allen Produktionsstufen liegt.
– Vielen Dank.Zwar müssen wir als Verbraucherinnen und Verbrau-cher unser Konsumverhalten und unsere Ansprüche anVielfalt, frische Optik und ständige Verfügbarkeit vonLebensmitteln hinterfragen. Dazu gehört aber auch, dassVerbraucher besser darüber informiert werden, welchesozialen und ökologischen Folgen die Erfüllung dieserAnsprüche hat und welchen Wert Lebensmittel wirklichhaben.
Die mangelnde Wertschätzung ist nicht nur bei Ver-brauchern ein Problem. Wo Wegwerfen billiger undleichter für alle Anbieter als die Weiterverwertung ist,braucht man nach Wertschätzung nicht zu fragen.Die Konzentration im Handel verschärft die Situa-tion; denn im Kampf um Marktanteile sind Niedrigst-preise für Lebensmittel die Waffe, mit der Konkurrentenvom Markt gedrängt werden und unter der Zuliefererund Erzeuger zu leiden haben. Auch die Ansprüche anOptik und Verarbeitungsfähigkeit üben Druck auf die Er-zeuger aus und führen zum Aussortieren und zu unnöti-gen Abfällen bereits bei der Ernte. Dieser Umgang mitLebensmitteln ist ethisch, sozial und ökologisch nichtvertretbar.
Unser Antrag ist auf die gesamte Wertschöpfungs-kette ausgerichtet. Die Verschwendung von Lebensmit-teln kann nur eingedämmt werden, wenn alle Beteiligten– alle! – ihren Beitrag leisten. Auch die Landwirtschaft,die Ernährungsindustrie und der Handel müssen stärkerVerantwortung übernehmen. Diese Einsicht scheint sichjedoch noch nicht überall in der Branche durchgesetzt zuhaben.So hatte zum Beispiel die vom Agrarministerium inAuftrag gegebene Studie der Universität Stuttgart wegenfehlender Auskunftsbereitschaft auf neue Zahlen ausHandel und Industrie verzichten müssen. Hier, so mei-nen wir, braucht es mehr Kooperationsbereitschaft undmehr Transparenz, um nachvollziehen zu können, wowie viel Lebensmittelabfälle anfallen.Uns allen ist bewusst, dass im Zeitalter der Globali-sierung, in einer immer weiter vernetzten Welt, die Wert-schöpfungsketten immer länger werden. Damit gibt eszwischen Produzenten und Verbrauchern immer mehrZwischenhändler, Logistiker, Verpackungs- und Lage-rungsspezialisten und immer mehr Wege, auf denenbrauchbare Ware, brauchbare Lebensmittel aussortiertund weggeworfen werden.Zudem gibt es immer alles und überall: Erdbeeren ausChina, Mangos aus Indien und Äpfel aus Amerika – unddas alles das ganze Jahr über. Die Lebensmittel müssenteilweise weit reisen, um zu uns, zum Verbraucher, zugelangen. Kürzere Wertschöpfungsketten und der Ein-kauf von regionalen und saisonalen Produkten sind des-halb auch gute Maßnahmen gegen die Lebensmittelver-schwendung. Dabei sind nicht nur die Verbrauchergefragt, sondern auch die Gastronomie, Großküchen undKantinen.20 Millionen Tonnen genießbarer Lebensmittel – HerrStaatssekretär, ich habe bei dieser Zahl ein paar Tonnenmehr, als Sie genannt haben – wandern in Deutschlandjährlich auf den Müll. Statistisch gesehen wirft jeder vonuns jedes Jahr 235 Euro in den Abfall. Jedes fünfte Brotwird weggeworfen. Trotzdem haben wir über 300 ver-schiedene Brotsorten in den Regalen der heimischen Bä-ckereien und Läden. Und bis zum Ladenschluss wird daskomplette Sortiment vorgehalten, um dem Kunden auchnoch nach 20 Uhr die volle Auswahl bieten zu können.Was übrig bleibt, wird weggeworfen.Der Bischof von Caesarea, Basileus, hat einmal ge-sagt: Das Brot, das ihr verderben lasst, das ist das Brotder Hungernden. – Das ist ethisch, sozial und ökologischunverantwortlich. Deshalb bin ich froh, dass wir heutehier gemeinsam einen Antrag auf den Weg bringen, ersteSchritte gehen, um diese Verschwendung einzudämmenund zu einem achtsamen Umgang mit Lebensmitteln zu-rückzufinden.Vielen Dank.
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23950 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
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Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Michael
Goldmann von der FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ein gemeinsamer Antrag macht es vielleichtmöglich, den persönlichen Zugang zu einem Thema ineiner Rede hier im Bundestag darzustellen.Als ich die Aufgabe des Vorsitzenden in meinemLieblingsausschuss übernahm, habe ich mir überlegt:Was willst du eigentlich als Akzent setzen in der Funk-tion, in der Rolle, die du jetzt hast? Mir war es ganz be-sonders wichtig, herauszustellen, dass wir heute enormglobal mit allem vernetzt sind – die Erdbeeren ausChina, die hier unglücklicherweise ankamen, sind dafürein besonderes Beispiel –, dass es aber auch darum geht,dass man immer wieder die Vernetzung zwischen derglobalen Situation und dem ganz persönlichen Verhaltendeutlich macht.Jeder, der sich damit ein bisschen beschäftigt, kommtsehr schnell dahinter, dass es ein Thema gibt, das uns be-wegen muss, das uns in die ethische Verantwortungnimmt: Das ist das Thema der Lebensmittelverschwen-dung. Das ist ein Synonym dafür, dass bei uns Lebens-mittel viel zu billig sind und dass wir es eigentlich miteinem Begriffsirrtum zu tun haben; denn sehr viele Men-schen empfinden die Lebensmittel nicht als wesentlicheMittel für ihr Leben.Deswegen haben wir vom Ausschuss nach diesen Er-kenntnissen, die wir gemeinsam hatten, wie der Antragbelegt, als Erstes eine Reise nach Afrika gemacht, nichteine Vergnügungsreise, sondern eine Arbeitsreise. Wirwollten dahin fahren, wo die größte Gruppe von Men-schen Hunger leidet. Angesichts der Weltbevölkerung istdas eine unvorstellbar große Zahl: Von 7 MilliardenMenschen hungern 1 Milliarde Menschen.Als die Kollegen aus Afrika wiederkamen, haben wirgefragt: Was bringen Sie uns mit? Dabei stellten wir fest,dass der Hunger auch etwas damit zu tun hat, dass in die-sen Ländern die Lagerbedingungen schlecht sind, dass indiesen Ländern die Transportbedingungen schlecht sind.All das sind Gründe dafür, dass es nicht zu einer ver-nünftigen Lebensmittelverwendung kommt.Wir haben dann eine weitere Reise nach China ge-macht. Die Chinesen waren enorm stolz darauf, dass siein der Lage waren, ihr 1,3-Milliarden-Volk zu ernähren,weil sie sich darüber im Klaren waren, dass Hungerkon-flikte sehr schnell zu kriegerischen Konflikten führenkönnen.Dann gab es eine Veranstaltung von Greenpeace hierin unmittelbarer Nachbarschaft. Bei dieser Veranstaltunghat eine junge Frau aus Österreich erzählt, wie die Zah-len in Österreich sind. Ich habe mich daraufhin gefragt:Warum haben wir eigentlich keine Zahlen? Wir habenuns dann gemeinsam auf den Weg gemacht, um dieseZahlen zu beschaffen.Eines Tages tauchte der Film „Taste the Waste“ auf.In Papenburg, meiner Heimatstadt, habe ich einen Kino-saal angemietet. 500 junge Menschen, 500 Schüler, sindgekommen. Als der Film zu Ende war, ist etwas einge-treten, was ich sehr selten erlebt habe. Tief bewegtejunge Menschen kamen auf mich zu und fragten mich:Wie können Sie eigentlich als Politiker damit leben, dasswir diese unendlich großen Mengen wegwerfen, wäh-rend in der Welt Menschen verhungern?Wir haben daraus den Schluss gezogen – gemeinsamden Schluss gezogen –, den wir mit dem heute vorlie-genden Antrag zum Ausdruck bringen. Er setzt darauf,die gesamte Kette ins Auge zu fassen und daraus dierichtigen Schlüsse zu ziehen, wie wir an jeder einzelnenStelle – von Afrika bis in den Kühlschrank, bis auf denTeller – die Dinge so entwickeln können, dass wir zu ei-ner Minimierung des Wegwerfens kommen, dass wir zueiner viel, viel besseren Situation kommen.Kernvoraussetzung dafür ist Bildung, Informationund Wissen um die Dinge. Wir haben in Deutschland imMoment eine riesige Chance, uns in besonderer Weisemit dem Thema zu beschäftigen, weil sich die Familien-struktur verändert. Heute gehen Kinder relativ früh inaußerhäusliche Bildungseinrichtungen, ob es Kindergär-ten oder Schulen sind. Viele dieser Schulen machen sichauf den Weg, Kantinen einzurichten. Diese Kantinensind häufig nicht unbedingt das, was man unter einemklugen Bildungsangebot in den Schulen versteht. Siesind häufig nicht mit dem unterrichtlichen Tun vernetzt,wo in Erfahrung gebracht wird: Wo kommt das Produkther? Wie muss es bearbeitet werden? In welcher Mengemuss es eingesetzt werden, damit es auch zu einer ver-nünftigen Verwendung dieses Produktes kommt?Wir wissen natürlich auch, dass die Dinge zum Teilsehr kompliziert sind. Gerade das jüngste Beispiel mitden Erdbeeren aus China hat gezeigt, welche Streuungsolche Themen heute erfahren. Da hatten auf einmalTausende von jungen Menschen Durchfall bzw. ein En-teritisproblem. Das gab es aber keineswegs nur in Nord-rhein-Westfalen. Nein, das gab es auch in Thüringen undSachsen-Anhalt. Im Grunde gab es das überall.Wenn man nicht weiß, wo die Ursachen für solcheProbleme liegen, kann man die Dinge nicht korrigieren.Deswegen bin ich sehr dafür, dass wir über die gesamtePalette – über den Forschungsbedarf, das Mindesthalt-barkeitsdatum, Aufklärungskampagnen, Vermarktungs-strukturen in der EU und über Wertschätzung – nachden-ken.Am Anfang hatte ich gesagt, dass es eine globale Ver-antwortung gibt. Es gibt aber auch die lokale. Vor einigerZeit habe ich auf Mallorca ein bisschen Urlaub gemacht.Ich stellte, als ich relativ spät den Speisesaal verließ,fest, dass die gesamte Palette auf dem Büfett noch vor-handen war. Meine Tochter hat in einem Hotel gearbei-tet. Zwei Minuten vor zehn hat sich ein Gast furchtbardarüber beschwert, dass bestimmte Artikel des Pro-gramms nicht mehr da waren.Ich frage: Was machen wir selbst? Sagen wir dannauch einmal: „So muss das nicht sein; ich bin im Grundegenommen auch zufrieden, wenn ich, weil ich später ge-kommen bin, nicht mehr alles geboten bekomme“? Ich
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23951
Hans-Michael Goldmann
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habe es schon ein paarmal gesagt: Ich finde es tief bla-mabel, dass, wenn bei den Veranstaltungen, die bei unsin der Parlamentarischen Gesellschaft abends stattfin-den, Anmeldungen für 40, 50 oder 60 Kollegen einge-hen, aber nur 15 erscheinen, dann weggeworfen wird aufTeufel komm raus. Ich finde, wir sollten da bei uns selbstanfangen und das umsetzen, was in diesem Antrag steht.Dann sind wir auf einem guten Weg.Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Karin Binder von der
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Bleser, Siemöchten gerne Lebensmittelverluste reduzieren, umHimmels Willen aber nicht mit der Linken zusammen,obwohl es ein gemeinsames Anliegen ist und wir auchmitgearbeitet haben.
Aber deshalb haben wir dann noch einen eigenen Antragauf den Weg gebracht, um zu Ihrem Antrag vielleichtnoch ein paar zusätzliche Ideen beizusteuern. Denn wirgehen davon aus, dass die Ursachen der Lebensmittel-vernichtung in Deutschland sehr vielfältig sind.
In erster Linie sind sie ein Problem der Nahrungsmit-telindustrie und des Handels. Echte Wertschätzung fürunsere Lebensmittel bleibt leider auf der Strecke, wennDumpingpreise und Lockvogelangebote den Takt ange-ben.
Das regionale Lebensmittelhandwerk wie Bäckeroder Metzger kann da auch nicht mehr mithalten.In den ärmeren Ländern dieser Erde entstehen Ver-luste aus der alltäglichen Not heraus. Erntemaschinen,Lagerhaltung oder die Infrastruktur fehlen, um Produktezu ernten oder auf den Markt zu bringen. Ernten werdenvernichtet, nicht nur durch Klimakatastrophen. JederKrieg verhindert oder zerstört Ernten.Erschwerend kommt noch hinzu, dass multinationaleLebensmittelkonzerne aus den Wohlstandsländern dieMärkte dieser armen Länder mit unseren Abfällen undBilligprodukten überschwemmen und damit den heimi-schen Anbau und die Produktion von Nahrungsmittelnverdrängen oder langfristig sogar zerstören. Das ist fürdie Linke nicht hinnehmbar.
Dagegen ist hierzulande Lebensmittelvernichtung einProblem des Überflusses. Hersteller und Handel gebenden Takt an. Bauern bleiben auf ihren Erzeugnissen sit-zen, da sie nicht den Normvorgaben der Industrie ent-sprechen.
Wer nicht die passende Größe, Form oder Farbe liefernkann, kann seine krummen Gurken oder zu kleinen oderzu großen Kartoffeln wieder unterpflügen, da sie zur ma-schinellen Weiterverarbeitung nicht taugen.Die Produktion von Halbfertig- oder Fertigproduktenläuft maschinell. Sie sollen billig und haltbar sein. Des-halb sind auch viele Füll- und Zusatzstoffe drin.Strategien zur Eindämmung der Lebensmittelver-schwendung müssten auch dieses systembedingte Pro-blem aufgreifen. Insofern ist der Antrag „Lebensmittel-verluste reduzieren“ der vier anderen Fraktionen etwasenttäuschend. Es handelt sich um wohlfeile Lippenbe-kenntnisse nach dem Motto „Wasch mir den Pelz, abermach mich nicht nass“: Verbraucher müssten nur richtigmit Lebensmitteln umgehen lernen, dann landete auchnichts auf dem Müll. Da sollen ein offener Dialogpro-zess eingeleitet und die Verbraucher verstärkt informiertwerden. Verantwortliche in Industrie und Handel sollenaufgefordert werden; ein Innovationswettbewerb solleingeleitet werden, aber: keine Verbindlichkeit, keineVerpflichtung, keine klaren Vorgaben. Frau Aignerdürfte sehr zufrieden sein, denke ich. Damit fällt nämlichin dieser Wahlperiode keine Arbeit mehr an.Die Linke hingegen fordert wirksame Maßnahmen,um der Vernichtung und Verschwendung von Lebens-mitteln zu begegnen: Die Regierung muss die Halbie-rung der Menge an vermeidbaren Lebensmittelabfällenbis 2020 verbindlich vorgeben. Große Lebensmittelun-ternehmen sollten verpflichtet werden, ihre Stoffbilanzoffenzulegen, um die Wirksamkeit ihrer Vermeidungs-strategien überprüfbar zu machen.
Für Waren wie Obst, Gemüse, Brötchen und Eiermuss es neben den Mehrfachgebinden immer auch denStückverkauf geben. Güteklassen und industrielle Ver-marktungsnormen für Waren wie Obst und Gemüse sindaufzuheben.Statt Exportförderung für die Industrie brauchen wireine konsequente Förderung des ökologischen Anbausund regionaler Erzeugung. Das haben wir auch in derHaushaltsberatung deutlich gemacht.Es gibt noch viele Forderungen, die Sie unserem An-trag entnehmen können, aber auf eine möchte ich nochausdrücklich eingehen: Wir brauchen eine Umkehr derRechtslage. Das Containern, also das Fischen nach ess-baren Lebensmitteln im Müll, darf nicht länger als Straf-tat verfolgt werden.
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Karin Binder
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Stattdessen muss das verantwortungslose Wegwerfen beiHerstellern und im Handel geahndet werden, meine Da-men und Herren.Jetzt danke ich Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit undwünsche einen schönen Abend.
Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Wort die
Kollegin Nicole Maisch.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirführen heute auf Grundlage eines fast fraktionsübergrei-fenden Antrags nichts weniger als eine Lebensstil- undWertedebatte. Ich finde es gut, dass Union und FDP, diesich sonst solchen Lebensstildebatten ja nicht so gernenähern –
ich denke an die Frage des Fleischkonsums –, sich ge-meinsam mit uns und anderen starken gesellschaftlichenAkteuren wie den Tafeln, Slow Food, den Kirchen ganzvorne dabei, auf den Weg gemacht haben, diese Diskus-sion zu führen.
Wir wissen nicht erst seit dem letzten Bericht unsererEnquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebens-qualität“: Unser Ressourcenverbrauch übersteigt dasLeistungsvermögen des Planeten, und durch reine Effi-zienzsteigerung in der Produktion ist dies nicht aufzu-fangen. Das macht sich exemplarisch an der Frage derNahrungsmittelproduktion fest. Wenn global ein Drittelund in den reichen Ländern bis zur Hälfte der Lebens-mittel im Müll landen, dann können wir uns natürlichbemühen, im Agrarbusiness Innovationen einzuführen;wir können effizienter werden. Aber wenn gleichzeitig9 Milliarden Menschen satt werden wollen, wird es unsnicht gelingen, diese Lücke zu schließen. Was wir an Ef-fizienzsteigerung hereinholen, wird uns auf der anderenSeite durch Verschwendung und durch den größeren Be-darf wieder weggegessen.
Wenn wir also in Zukunft satt werden wollen, müssenwir uns mit dem Thema Nahrungsmittelverschwendungbefassen. Wir wollen hier als Abgeordnete des Ernäh-rungsausschusses keine Welle der Empörung reiten unddas Thema dann, wenn wir ein paar Schlagzeilen abge-griffen haben, wieder zu den Akten legen, sondern wirhaben intensiv in Anhörungen, in langen Diskussionenim Ausschuss ein politisches Programm erarbeitet. Esgeht uns um nichts weniger als um eine gesellschaftlicheDebatte darüber, wie viel wir als Individuen und wie vielwir als Gesellschaft von den knappen Ressourcen, dieunser Planet bereithält, für uns in Anspruch nehmenwollen.Unser Antrag sagt es klar und deutlich: Angesichts1 Milliarde hungernder Menschen, angesichts schonexistierender und in Zukunft drohender Knappheitensind die Verluste entlang der gesamten Produktions- undHandelskette und die Verschwendung im Privathaushaltaus ethischer und ökologischer Sicht nicht akzeptabel.
Wir haben als gemeinsames Ziel formuliert – derStaatssekretär hat es ganz am Anfang gesagt –, bis 2020die Zahl der vermeidbaren Lebensmittelverluste zu hal-bieren. Das ist ein sehr ambitioniertes Ziel, und deshalbist es gut, dass sich der gesamte Bundestag – auch dieLinke hat sich ja zu diesem Ziel bekannt – hinter dieserZielmarke versammelt.Es gibt noch einige Dinge, die im fraktionsübergrei-fenden Antrag nicht zu unserer vollständigen Zufrieden-heit niedergelegt sind, obwohl es ein sehr guter Antragist. Deshalb möchte ich diese Punkte hier doch noch ein-mal nennen, weil ich glaube, dass sie zu der Debatte überLebensmittelverluste dazugehören.Erstens. Wir brauchen eine tiefer gehende Analyse desSystems der Nahrungsmittelproduktion. Wir müssen unsfragen: Wie ist es dazu gekommen, dass Nahrungsmittelzu Wegwerfprodukten werden? Hat das vielleicht etwasdamit zu tun, dass wir Milch billiger als Mineralwasserverramschen? Hat es etwas damit zu tun, dass man dasKilo Schweinefleisch für 3 Euro bekommt und dass dieexternen Kosten eben nicht auf dem Kassenzettel auftau-chen, sondern die Umwelt- und sozialen Kosten auf an-dere Menschen und die Natur abgewälzt werden?
Deshalb sagen wir: Die Neuordnung der Agrarsubven-tionen auf europäischer Ebene ist eine gute Möglichkeit,um sich für Klasse statt Masse einzusetzen. Wir setzennicht mehr auf billig, sondern wir setzen auf besser.
Zweitens. Es ist eine schwierige politische Aufgabe,der wir uns aber stellen müssen, neue Formen des Tei-lens und Tauschens zu ermöglichen. Wer von Ihnen inkleinen Orten wohnt, der weiß: Wenn die Zucchini reifsind, dann verschenkt man sie an die Nachbarn; wenndie Pflaumen reif sind, gibt man den Korb an Freundeund Verwandte weiter. In Großstädten ist das gar nicht soeinfach mit dem Teilen und Tauschen. Deshalb habensich Leute aufgemacht, im Internet Plattformen – dienennt man heute Food-Sharing Platforms – zu organisie-ren.
Hier stellt sich die Frage für uns in der Politik: Müssendiese Plattformen reguliert werden?
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Nicole Maisch
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Ich würde sagen, da begegnen sich Bürger wie früher amGartenzaun, die die Zucchini rübergeben und die Eierentgegennehmen. Leider ist das Ministerium andererMeinung. Dort ist man der Meinung, dass solche Platt-formen ähnlich wie Lebensmittelunternehmen reguliertwerden sollen. Wir sind der Meinung: Wenn sich Bürgerbegegnen, um etwas zu tauschen, dann muss der Staatnicht unbedingt übermäßig regulieren.
Der dritte Punkt, der mir sehr wichtig ist, ist – das hatder Ausschussvorsitzende angesprochen, was ich sehrgut finde – das Thema Schulernährung. Wenn wir etwasim Hinblick auf die Wertschätzung für unsere Lebens-mittel ändern wollen, dann dürfen wir die Kinder nichtabfüttern, sondern dann müssen sie gutes Essen kriegen.Wenn große Caterer heute 50 Cent an Rohstoffkosten fürein Schulmittagessen ausgeben, dann ist das Abfüttern;dann ist das kein gutes Essen. Damit lernen Kinder nichtWertschätzung für Lebensmittel.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Das mache ich; das ist mein letzter Satz.
Wir Abgeordnete haben den ersten Teil unserer Arbeit
geleistet: Wir haben nach langen Diskussionen im Aus-
schuss und einer Anhörung ein verbindliches Reduk-
tionsziel und ein umfassendes Maßnahmenpaket verab-
schiedet. Jetzt ist die Bundesregierung am Zug.
– Herr Bleser, Sie haben uns an Ihrer Seite. Wenn es uns
zu langsam geht, haben Sie uns dann auch im Nacken.
Deshalb wünsche ich mir, dass Sie schnell Maßnahmen
auf den Weg bringen. Ich denke, inhaltlich sind wir uns
in weiten Teilen einig.
Das Wort hat jetzt als letzte Rednerin zu diesem Ta-
gesordnungspunkt die Kollegin Carola Stauche von der
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Wir diskutieren heute, wie schon ge-sagt wurde, einen gemeinsamen Antrag von Grünen,SPD und den Regierungsfraktionen. Eigentlich weistschon das darauf hin, welche Bedeutung wir dem ThemaLebensmittelverschwendung und den damit verbunde-nen Lebensmittelverlusten beimessen. Uns allen ist eswichtig, so wenig Lebensmittel wie nur irgend möglichin der Versorgungskette zu verlieren. Das möchte ichhier noch einmal ausdrücklich betonen. Hierfür gibt esökonomische, ökologische, aber vor allen Dingen ethi-sche Gründe. Dies wurde auch schon gesagt.Es darf nicht sein, dass nach Schätzung der Ernäh-rungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO 1 Mil-liarde Menschen auf der Welt hungern und gleichzeitigin der EU 89 Millionen Tonnen Lebensmittelabfälle imJahr verursacht werden. Allein in Deutschland – eswurde vorhin schon in Geld beziffert – sind es, um dieseinmal zu verdeutlichen, pro Bürger 81,6 KilogrammLebensmittel, die wir als Müll verursachen. Es gilt alsonicht nur international zu fragen, ob wir es uns tatsäch-lich leisten können, Lebensmittel zu verschwenden.Ausdrücklich lobe ich hier im Plenarsaal des Deut-schen Bundestages die Arbeit der vielen Ehrenamtlichenbei den Tafeln.
Das kann nicht oft genug geschehen. Sie fahren landauf,landab Supermärkte ab und sammeln Lebensmittel fürArme ein, die noch gut sind, aber nicht mehr verkauftwerden können. Sie haben seit vielen Jahren regen Zu-lauf. Es gibt auch in Deutschland noch bedürftige Men-schen, die sich ohne Hilfe nicht ausreichend oder ver-nünftig ernähren können. Der sozialpolitische Aspektdessen gehört diskutiert, allerdings nicht heute in dieserDebatte. Ohne die Einsatzbereitschaft der Tafeln und dervielen Ehrenamtlichen würde noch viel mehr Essen imEimer landen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht nur die Tafelnsind aktiv im Kampf gegen die Lebensmittelverschwen-dung. Weltweit versuchen Menschen, diesen Wegwerf-irrsinn zu stoppen. Die BundeslandwirtschaftsministerinIlse Aigner hat nach dem Film „Taste the Waste“ querdurch die Gesellschaft eine breite Debatte angestoßenund die Menschen für das Thema Lebensmittelver-schwendung sensibilisiert. Politiker aller Parteien sindsich einig: Lebensmittelverschwendung ist ein Problem,und es ist unsere gemeinsame Aufgabe, dieses Problemzu lösen. Viele kleine Schritte können bewirken, dasswir unser Ziel erreichen, Lebensmittelverschwendungum die Hälfte zu reduzieren.Doch welche Wege führen aus der Wegwerffalle?Vieles zu den Ursachen und Lösungswegen wurde heutebereits gesagt. Das ist auch gut; denn oberste Prioritätmüssen Information und Aufklärung haben. Das mussbei den Kleinsten anfangen und darf bei den Älterennicht aufhören. Der verantwortungsvolle Umgang mitLebensmitteln muss Tag für Tag neu gelernt werden. Nurso gelingt es uns, das Bewusstsein für den Wert von Le-bensmitteln wieder in die Köpfe der Menschen zubekommen. Nur so können wir in unserer Überflussge-sellschaft abhandengekommenes Alltagswissen zumUmgang mit Lebensmitteln langfristig und erfolgreichzurückgewinnen. Diese Kompetenzen im Umgang mit
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Carola Stauche
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Lebensmitteln müssen von klein auf erlernt werden. Hiermüssen wir die Länder, die ja für die Bildung zuständigsind, in die Pflicht nehmen.Nachdem insgesamt 11 000 Kinder – vermutlich auf-grund verkeimter Erdbeeren aus China – Magen-Darm-Erkrankungen erlitten haben, fragen sich viele, warumunsere Kita- und Schulkinder im Herbst Erdbeeren ausChina bekommen. Ich will dazu nur so viel sagen: Esgibt hervorragende Kitas und Schulen, die die Verpfle-gung der Kinder mit Ernährungsbildung verknüpfen.Das ist der richtige Ansatz. Dann lernen die Kinder näm-lich, dass im Herbst Äpfel, Birnen und Pflaumen auf denBäumen wachsen.
Wenn sie dann noch das Obst fürs Frühstück selbst ge-schnippelt haben, werden sie eine ganz andere Einstel-lung zum Essen bekommen.Unsere Landfrauen leisten mit dem Ernährungsfüh-rerschein sehr gute Arbeit. Sie haben das Wissen, und siehaben den Willen, uns bei der Ernährungsbildung zu hel-fen. Wir sollten dieses Wissen einbeziehen.
Die Einstellung zu Lebensmitteln muss sich ändern.Der Verbraucher ist natürlich nur ein Glied in der Kette;er ist nicht allein für dieses hohe Ausmaß der Lebensmit-telverschwendung verantwortlich. Wir können ihn aberauch nicht außen vor lassen; denn er ist besonders an-spruchsvoll: In der Regel will er nämlich nur einwand-freie Produkte kaufen, und das möglichst zu jeder Tages-und Nachtzeit. Manche gehen mitten in der Nacht zurTankstelle und kaufen dort Brötchen oder Tiefkühlpizza;das ist heute eine Selbstverständlichkeit.Ich erlebe selbst jeden Tag, dass viele Mitbürger Le-bensmittel nicht mehr wertschätzen; schließlich gibt esja genug davon, und sie wachsen ja nebenan in der Kauf-halle und sind preiswert. Wir wissen nicht erst jetzt, dassdem nicht so ist.Ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung ist derim Antrag geforderte offene Dialogprozess, der eingelei-tet werden soll, um eine Strategie zur Reduzierung derLebensmittelverschwendung zu entwickeln. Über denWeg des Dialogs muss es uns gelingen, die Wertschät-zung für Lebensmittel zu erhöhen und dadurch die Le-bensmittelverschwendung zu reduzieren. Ich möchte dasals gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden wissen.Wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion fordern denmündigen Verbraucher, der gut informiert selbst ent-scheidet, was er konsumieren möchte und, vor allem,was nicht. Die Aufklärung, die ich beschrieben habe,spielt bei dem Thema Lebensmittelverluste eine wesent-liche Rolle.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ja. – Lebensmittelindustrie und -handel sind ebenso
in der Pflicht, Lebensmittelverluste zu minimieren. An-
gefangen beim Mindesthaltbarkeitsdatum über das Ver-
fütterungsverbot tierischer Proteine bis hin zu praktika-
bleren Verpackungsgrößen ist hier vieles aufgezählt. Die
Gastronomie könnte mit kleineren Schnitzeln einen Bei-
trag leisten. Deshalb fordern wir einen Ideenwettbewerb
zur Vermeidung von Lebensmittelabfällen.
Meine Damen und Herren, ich möchte es nicht ver-
säumen, mich bei Ministerin Aigner, dem Staatssekretär
und ihrem Hause für ihren Einsatz zu bedanken.
Dadurch hat das Thema Lebensmittelverschwendung in
der öffentlichen Wahrnehmung den Stellenwert bekom-
men, den es verdient.
– Ich danke Ihnen. – Nur wer sich traut, kann gewinnen.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/DieGrünen auf Drucksache 17/10987 mit dem Titel „Le-bensmittelverluste reduzieren“. Wer stimmt für diesenAntrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Bei Ent-haltung der Fraktion Die Linke und Zustimmung alleranderen Fraktionen ist der Antrag angenommen.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/10989 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf:a) – Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat ein-gebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Ände-rung des Strafgesetzbuchs – Aufnahme men-schenverachtender Tatmotive als besondereUmstände der Strafzumessung
– Drucksache 17/9345 –– Zweite und dritte Beratung des von der Fraktionder SPD eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes
– Drucksache 17/8131 –Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses
– Drucksache 17/11061 –
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Berichterstattung:Abgeordnete Ansgar HevelingBurkhard LischkaJörg van EssenHalina WawzyniakJerzy Montagb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Rechtsausschusses zudem Antrag der Abgeordneten Volker Beck
, Ingrid Hönlinger, Memet Kilic, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENVorurteilsmotivierte Straftaten wirksam ver-folgen– Drucksachen 17/8796, 17/11061 –Berichterstattung:Abgeordnete Ansgar HevelingBurkhard LischkaJörg van EssenHalina WawzyniakJerzy MontagInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die-sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1) SindSie damit einverstanden? – Das scheint der Fall zu sein.Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-wurf des Bundesrates zur Änderung des Strafgesetz-buchs – „Aufnahme menschenverachtender Tatmotiveals besondere Umstände der Strafzumessung“. DerRechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 17/11061, den Ge-setzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 17/9345abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurfzustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstim-men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zwei-ter Beratung abgelehnt mit den Stimmen der Koalitions-fraktionen bei Zustimmung der SPD-Fraktion undEnthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und den Linken.Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die wei-tere Beratung.Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion derSPD zur Änderung des Strafgesetzbuchs. Der Rechtsaus-schuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussemp-fehlung auf Drucksache 17/11061, den Gesetzentwurf derFraktion der SPD auf Drucksache 17/8131 abzulehnen.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmenwollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Ent-haltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratungabgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen beiZustimmung der SPD-Fraktion und Enthaltung der Frak-tionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Auch hierentfällt die weitere Beratung.Wir setzen die Abstimmung zu der Beschlussempfeh-lung des Rechtsausschusses auf Drucksache 17/11061fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Be-schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/8796 mitdem Titel „Vorurteilsmotivierte Straftaten wirksam ver-folgen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koali-tionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen und Enthaltung von SPD und Linken.Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 bauf:a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines SiebtenGesetzes zur Änderung des Weingesetzes– Drucksachen 17/10042, 17/10124 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-cherschutz
– Drucksache 17/11019 –Berichterstattung:Abgeordnete Alois GerigGustav HerzogDr. Erik SchweickertAlexander SüßmairMarkus Tresselb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-schaft und Verbraucherschutz zudem Antrag der Abgeordneten Alexander Süßmair,Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKERettung einheimischer Rebsorten durch Er-haltungsanbau– Drucksachen 17/7845, 17/8612 –Berichterstattung:Abgeordnete Alois GerigGustav HerzogDr. Erik SchweickertAlexander SüßmairHarald EbnerNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dage-gen Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist dasso beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner das Wort dem Kollegen Alois Gerig von der CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren! Deutschland istein wirtschaftlich starkes Land. Dies liegt am Fleiß undGrips unserer Mitbürger, an der Innovationskraft unsererUnternehmen und natürlich auch an der richtigen politi-schen Führung.
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weil diese in der unübersichtlichen anonymen Waren-welt vertrauenswürdiger sind. Mit dem Kauf von Pro-dukten regionaler Herkunft können unsere Bürger einenBeitrag zum Umwelt- und Klimaschutz leisten und ge-zielt die heimische Erzeugung und somit auch den Erhaltder liebgewonnenen Kulturlandschaft stärken. DieserTrend ist zu begrüßen und wird durch die vorliegendeGesetzesänderung unterstützt.
Wichtig ist, dass wir nicht nur neue Bezeichnungenschaffen, sondern auch die Qualität fördern. Die Länderkönnen für Weine, die aus kleineren geografischen Ein-heiten oder einer Steil- oder Terrassenlage stammen,strengere Qualitätsanforderungen festlegen, beispiels-weise hinsichtlich der zugelassenen Rebsorten oder deszulässigen Hektarertrags. Damit bieten wir die Möglich-keit und Gewähr, die spezielle Wertigkeit dieser Weinezu erhöhen. Die Käufer werden dadurch motiviert, dienotwendigen höheren Preise zu akzeptieren.
Derzeit bedeutet Steillagenweinbau für die Winzernämlich harte körperliche Arbeit und leider häufig auchnicht kostendeckende Erträge. An Mosel sowie an Main,Tauber und Neckar wird deutlich, dass der dortige Wein-bau diesen Regionen eine besondere landschaftliche Prä-gung verleiht und sie sehr attraktiv für den Tourismusmacht. Hier sehe ich noch deutliche Zukunftspotenziale.Leider liegt der Erhalt des Steillagenweinbaus nichtallein in unserer Hand. Wichtig ist, dass sich die Bundes-länder weiterhin engagieren. Ebenso wichtig ist, dass inder Europäischen Union der bestehende Anbaustopp fürReben verlängert wird.Der Anbaustopp hat für den Weinbau in Deutschlandeine große Bedeutung. Eine Aufhebung würde unwei-gerlich zu einer Ausdehnung der Rebflächen in einfachzu bewirtschaftenden Flachlagen und damit zu einer Pro-duktionssteigerung führen. Die Folge: Die Preise unddamit die Einkommen der Winzer kämen vermutlichmassiv unter Druck, und unsere überwiegend kleinenund mittelständischen Unternehmen wären schnell in ih-rer Existenz bedroht.Ich bitte deshalb die Bundesregierung, ihren richtigenKurs beizubehalten und sich in Brüssel weiterhin massivfür die Verlängerung des Anbaustopps einzusetzen. Diesliegt im Interesse der deutschen Weinbauern und unsererBevölkerung.Eine weitere wichtige Zukunftsaufgabe – auch fürden deutschen Weinbau – ist es, einen besseren Schutzgegen zunehmende Wetterextreme zu erreichen. Hagel,Sturm, Spätfrost und Starkregen häufen sich infolge desKlimawandels und können für existenzbedrohende Pro-duktionsverluste sorgen. Bei der Absicherung gegendiese Risiken dürfen deutsche Winzer nicht gegenübereuropäischen Wettbewerbern benachteiligt werden.Aus diesem Grund bin ich dafür, die Mehrgefahren-versicherungen steuerlich genauso zu behandeln wie dieHagelversicherungen. Bei der Änderung des Versiche-rungsteuergesetzes sollten wir die Steuersätze so festle-gen, dass Winzer, Bauern und auch Gärtner ermuntertwerden, Eigenvorsorge zu betreiben, um sich selbst ge-gen witterungsbedingte Risiken absichern zu können.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die deut-sche Weinwirtschaft erzeugt qualitativ hochveredelteProdukte, die für ein gutes Stück Lebensqualität stehen.Darüber hinaus leisten die Winzer einen wertvollen Bei-trag zum Erhalt der Kulturlandschaft und für den Touris-mus in den Anbaugebieten.Wohl wissend, dass auf europäischer Ebene weiterewichtige Entscheidungen anstehen, sollten wir heute un-seren Beitrag für positive Rahmenbedingungen in derdeutschen Weinwirtschaft leisten und den vorliegendenGesetzentwurf gemeinsam beschließen.Ich bitte um Ihre Zustimmung, damit auch weiterhinfröhliche Weinfeste gefeiert werden und wir weiterhinhübsche Weinköniginnen krönen können.Vielen Dank.
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Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Gustav
Herzog das Wort.
Frau Präsidentin! Schönen guten Abend, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Heute hat es im Plenum, hier an
diesem Rednerpult, eine ganze Reihe heftigster politi-
scher Auseinandersetzungen gegeben; über Fragen der
Europa-, Finanz-, Energie- und Rentenpolitik ist heftig
gestritten worden. Aber schon beim vorhergehenden Ta-
gesordnungspunkt – bei der Frage, wie wir mit Lebens-
mittelverlusten umgehen – haben wir bewiesen, dass es
möglich ist, hier im Deutschen Bundestag nicht nur ei-
nen Kompromiss zu finden, sondern auch einen Kon-
sens. So ist es gut, dass wir auch hier, beim Thema Wein,
einen Konsens gefunden haben.
Nun darf man daraus nicht den Schluss ziehen, dass
es beim Weinrecht immer so friedlich zugeht. Ich kann
mich daran erinnern, dass es in Zeiten, in denen wir die
Hektarhöchsterträge eingeführt haben, stundenlange De-
batten und heftige Auseinandersetzungen gab. Aber das
ist schon einige Jahre her. Ich glaube, wir haben damals
den Mut bewiesen, ein vernünftiges Regelwerk zu eta-
blieren, und leben heute von den Früchten, die wir da-
mals gesät haben.
Ich habe heute Abend gleich zu Beginn einige gute
Nachrichten. Zunächst zitiere ich aus der Zeitschrift
Pfälzer Bauer: „Jahrhundertweine sind beim 12er mög-
lich“.
– Aber daraus habe ich zitiert. Andere haben das, Kol-
lege Schweickert, sicherlich auch zutreffend beschrie-
ben. – Auch die Mengen sprechen dafür, dass sowohl die
Erzeuger als auch wir, die Kunden, über die Runden
kommen. Die Preise sind für die Erzeuger auskömmlich
und für die Kunden leistbar.
Ich sage das, weil wir beim Wein schon ganz andere
Zeiten erlebt haben, beispielsweise als die Mengen vaga-
bundiert und die Preise abgestürzt sind. Die Politik hat
dafür gesorgt, dass in diesem Bereich Ruhe eingekehrt
ist. Heute wollen wir die Rahmenbedingungen der Ver-
marktung weiter verbessern.
Die heutige zweite und dritte Lesung des Siebten Ge-
setzes zur Änderung des Weingesetzes bietet die Gele-
genheit, zwei, drei grundsätzliche Dinge zu sagen. Wir
haben mit der Überführung des eigenen Regelwerkes in
die gemeinsame Marktordnung vor einigen Jahren einen
großen Schritt getan, nicht immer mit Beifall aus diesem
Haus. Insgesamt hat sich gezeigt, dass die Politik euro-
päisches Recht vernünftig in nationales Regelwerk über-
setzt hat. Mein Vorredner hat schon die vielen Möglich-
keiten angeführt, die das Bezeichnungsrecht heute mit
sich bringt.
Wir waren hier im Deutschen Bundestag immer gut
beraten, die Länder intensiv in die Diskussion mit einzu-
beziehen; denn nicht nur die Länder, sondern auch die
Weinanbaugebiete weisen eine große Vielfalt auf, die
sich im Wein widerspiegelt und ein besonderes Quali-
tätsmerkmal des deutschen Weines ist.
Eine Ursache dieser Vielfalt liegt darin – auch da stimme
ich dem Kollegen Gerig zu –, dass wir, was die Pflanz-
rechte angeht, ein sehr strenges Regelwerk haben, wir es
also nicht zulassen wollen, dass die Weinrebe nur dort
angepflanzt wird, wo die Kapitalverwertung am besten
möglich ist, sondern dass sie Teil der Kulturlandschaft
bleibt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, allein im
Entwurf eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Wein-
gesetzes wurden neunmal die Bezeichnungen „Prädi-
katswein“, „Qualitätslikörwein b. A.“ und „Qualitäts-
perlwein b. A.“ eingefügt. Ich sage das deshalb, weil
damit deutlich wird, wie hochkompliziert und wie ver-
rechtlicht dieser Bereich geworden ist. Es ist kein Ste-
ckenpferd der Politik – wir finden keine innere Freude
daran –, die Sachen besonders kompliziert zu machen.
Vielmehr haben wir in der Debatte zu dieser Weingesetz-
änderung viele Anregungen aus der Weinwirtschaft be-
kommen, von den Verbänden, den Genossenschaften,
den Kellereien; auch einzelne Winzer haben sich an
mich gewandt. Jeder hatte einen Wunsch oder die Emp-
fehlung, dies oder jenes in das Weingesetz aufzunehmen.
Ich glaube, wir waren gut beraten, dass wir als Bericht-
erstatter für das Weingesetz insgesamt gesagt haben:
Verständigt euch weitestmöglich in der Weinwirtschaft,
klärt das erst einmal unter euch, und dann sind wir gerne
bereit, diese Vorschläge auch in unsere Willensbildung
mit einzubeziehen.
Es hat sich in einer großen Anhörung, die wir zu dem
Weingesetz gemacht haben, gezeigt, dass auch die Wis-
senschaft, die Wirtschaft und die Verbände diesen Weg
und das Ergebnis für richtig halten.
Wir haben uns dann in einem Berichterstattergespräch
den Gesetzentwurf noch einmal sehr detailliert vorge-
nommen. Daher kann ich sagen: Weil das Struck’sche
Gesetz zur Anwendung kommt, werden wir auch hier
dem Änderungsgesetz zustimmen. Wir haben aus einem
brauchbaren Gesetzentwurf der Bundesregierung einen
guten Gesetzentwurf gemacht, dem es sich auch zuzu-
stimmen lohnt.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Für die FDP-Fraktion hat der Kollege ProfessorDr. Erik Schweickert das Wort.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Über die guteErnte sind schon einige Worte verloren worden. Ichmöchte auch für die Zuhörer darstellen, dass es hiernicht um eine kleine Nische geht. Über 50 000 Genos-senschaftswinzer, über 20 000 Weingüter, über 200 Win-zergenossenschaften in verschiedenen Arten und über200 Wein- und Sektkellereien sind in Deutschland indiesem Bereich tätig. Viele Familien sind also davon ab-hängig, wie wir unsere Entscheidung heute treffen.Ich möchte dem Kollegen Herzog, aber natürlich auchdem Kollegen Gehrig zustimmen: Wir haben es über dieFraktionen hinweg geschafft – so stellen es sich vieleZuhörer auch vor –, darüber zu diskutieren und auch An-regungen der Länder aufzunehmen, um hier gemeinsameinen Gesetzentwurf vorzulegen.Ich muss mit mir selber ein bisschen ins Gericht ge-hen. Ich komme aus der Weinwirtschaft. Mein Opa hatfrüher immer von Schrott gesprochen, wenn es umDinge ging, die die Politik beschlossen hat, und hat überdas Weingesetz geschimpft. Aber ich muss sagen: Wennes heute schiefgeht, dann ist daran definitiv nicht diePolitik schuld. Denn wir haben die Anregungen aus demBerufsstand aufgenommen und für die Betriebe zumBeispiel die Berücksichtigung von Jungwein bei derUmrechnung vereinfacht. Ich möchte Ihnen verdeut-lichen, dass es bei „g.g.A.“ und „g.U.“ nicht um einenRap, der hier in Berlin produziert wurde, geht, sondernum bezeichnungsrechtliche Eigenschaften.Wir werden den Ländern nun bei kleineren herkunfts-geschützten Angaben die Freiheit einräumen, ihre eigenenMöglichkeiten im Bereich der Rebsorten, des Hektarertra-ges, des Mindestalkoholgehaltes und des Restzuckerge-haltes zu nutzen. Das heißt, wir kommen weg, wie es inDeutschland bisher immer der Fall war, von der Qualitätim Glase und hin zur Ursprungsbezeichnung, wie es invielen anderen Ländern wie Frankreich, Italien und Spa-nien schon lange Tradition ist.Wenn man sich vor Augen hält, dass wir in Deutsch-land ungefähr 35 Prozent eigenen Wein trinken – 65 Pro-zent der Weine, die in Deutschland getrunken werden,kommen aus dem Ausland –, dann wird klar, dass dieWinzer bei Aldi & Co. im Wettbewerb stehen. Denn80 Prozent werden über den Lebensmitteleinzelhandelund nur 20 Prozent ab Weingut vermarktet. Dann wirduns bewusst, dass wir die Basis dafür schaffen müssen,dass sich die Winzer in diesem Wettbewerb behauptenkönnen.
Meine Damen und Herren, vor dem Hintergrund, dassbei einem Einkauf im Supermarkt im Prinzip in drei Se-kunden die Entscheidung zwischen Rotwein, Weißweinund Preis gefällt wird, müssen wir den Winzern Mög-lichkeiten geben, hier aktiv zu werden. Das machen wir.Denn die Länder wissen vor Ort besser, welche regionaleBesonderheit sie besonders schützen und im Marketingbesonders hervorheben können.Ich möchte allerdings auch ganz klar sagen: DiesesGesetz birgt eine große Chance für die Weinwirtschaft.Aber sie muss auch genutzt werden. Insofern appelliereich an die Länder, dieses Gesetz nicht nur limitativ zunutzen, also den Hektarertrag extrem einzugrenzen, son-dern profilbildend zu wirken und Profile auf den Marktzu bringen, unter denen sich der Verbraucher etwas vor-stellen kann.Allein die Region Rioja mit über 60 000 Hektar – inDeutschland wird auf insgesamt 102 000 Hektar Weinangebaut – oder die Region Chianti mit 24 000 Hektarstehen jeweils für einen einzigen Weinstil, und trotzdemkann jedes Weingut machen, was es will. Es hat sich al-lerdings diesem Profil und dieser Stilistik zu unterwer-fen, wenn es diesen Wein produziert. Das sind Chancenauf dem Markt. Aber natürlich muss ich auch die Mög-lichkeit haben, diese Weine zu erzeugen. Deswegenmein Appell: Wir sollten in diesem Bereich nicht nurlimitative Möglichkeiten nutzen, sondern insbesondereprofilbildende.
Wir haben in der Anhörung zu diesem Gesetzentwurfklargemacht, dass wir, wenn wir möchten, dass das Reb-flächenmanagement erhalten bleibt – dazu stehen alleFraktionen im Deutschen Bundestag –, auch dafür sor-gen müssen, dass das Rebflächenmanagement auf euro-päischer Ebene erhalten bleibt. Dann dürfen keine natio-nalen Freiräume genutzt werden; denn dafür ist dieWeinwirtschaft ein zu großes Haifischbecken. Wermeint, als Winzer in einem Haifischbecken Goldfischspielen zu müssen, der darf sich nicht wundern, wenn ergefressen wird. Deswegen müssen wir alle, die wir hiersitzen, uns dafür einsetzen, dass das Rebflächenmanage-ment auf europäischer Ebene erhalten bleibt. Wir wissenalle, dass das nicht so einfach gehen wird wie in den Jah-ren zuvor, dass die Regelung nicht einfach verlängertwerden wird. Wir müssen schauen: Wo gibt es Kompro-missmöglichkeiten? An welcher Stelle kann man mit fle-xibleren Regelungen entgegenkommen? Im Grundsatzmuss der Beschluss aber erhalten bleiben.
Ich sage auch: In diesem Bereich können wir alsFraktionen einiges tun. Wir haben das ParlamentarischeWeinforum, in dem wir seit Jahren fraktionsübergreifendgut zusammenarbeiten. Wenn ich aber sehe – das sageich auch an die Adresse des Präsidiums, nicht nur an dieAdresse der Fraktionen und der Regierung –, was fürProdukte bei Veranstaltungen der BundesrepublikDeutschland, der Fraktionen oder bei ParlamentarischenAbenden manchmal ausgeschenkt werden,
dann muss ich sagen: Es liegt auch an uns. Wir entschei-den nicht nur heute Abend über die Rahmenbedingungender Weinwirtschaft, sondern wir können auch mit ande-ren Entscheidungen, die wir treffen, unsere Weinwirt-schaft unterstützen und zeigen, dass wir zu ihr stehen.Wir können sagen: Jawohl, wir haben in Deutschlandeine gut ausgebildete Weinwirtschaft. Wir haben beste
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23959
Dr. Erik Schweickert
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Voraussetzungen: eine gute Wasserverfügbarkeit, tolleBöden, eine hohe Tag-Nacht-Amplitude, die Aromenbringt. Wir können auch durch solche Entscheidungenzu den Produkten stehen, die die Weinwirtschaft nachunseren Regeln erzeugt. In diesem Sinne können wir denWinzern sagen: Zum Wohl!Herzlichen Dank.
Kollege Schweickert, den Hinweis auf das Präsidium
habe ich nicht ganz verstanden. Hier oben – damit das
auch für die Zuhörer klar ist – wird weiter Wasser ge-
reicht. Das mit dem Wein verschieben wir auf einen spä-
teren Zeitpunkt.
Das Wort hat der Kollege Alexander Süßmair für die
Fraktion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Ich muss Ihre Anre-
gung gleich aufnehmen. Mir kommt jetzt wohl die Rolle
zu, etwas Wasser in den Wein zu gießen.
– Ja, leider. Das kann ich Ihnen nicht ersparen.
Wir befassen uns heute mit dem Entwurf eines Geset-
zes der Bundesregierung zur Änderung des Weingeset-
zes und mit einem Antrag meiner Fraktion zum Erhalt
von einheimischen Rebsorten. Einige der Änderungen,
die die Regierung beim Weingesetz vornehmen will, fin-
den auch wir von der Linken sinnvoll, zum Beispiel die
Anpassung von Begrifflichkeiten und Formulierungen
an das EU-Recht. Allerdings steckt der Teufel, wie so
oft, im Detail.
Die Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und FDP ha-
ben einen Änderungsantrag zum Gesetzentwurf der Bun-
desregierung eingebracht. Darin sind zwei Punkte ent-
halten, die wir von der Linken kritisieren:
Erstens. Laut Ihrem Änderungsantrag wollen Sie es
den Bundesländern ausdrücklich untersagen – jetzt wird
es fachlich –, eigene strengere Festlegungen für die
Hangneigung in herkunftsgeschützten, kleineren geogra-
fischen Einheiten zu treffen. Das ist falsch; denn gerade
im Weinbau ist die sogenannte Steillage prägend. Sie
bewahrt die Kulturlandschaft.
Nicht zu vergessen ist der Wert für den Tourismus.
Weinbau in Steillagen ist aber kostenintensiver als der
Weinbau in Flachlagen. Gerade deshalb sollten Steil-
lagen besonders gefördert und geschützt werden können.
Wir sind der Meinung: Wenn Bundesländer mit einem
großen Anteil von Gebieten mit Steillagen, wie zum Bei-
spiel an der Unstrut, der Nahe oder dem Main, schärfere
Regelungen treffen wollen, dann sollen sie dies auch
dürfen. Deshalb lehnen wir diese Änderung ab.
Zweitens. Sie beantragen eine Erhöhung der Anzahl
der Sitze des Aufsichtsrats des Deutschen Weinfonds
und eine Erhöhung der Anzahl der festen Mitglieder der
Winzereigenossenschaften von eins auf zwei. So weit, so
gut. Aber gleichzeitig machen Sie es durch eine Verän-
derung der Zusammensetzung des Aufsichtsrates so gut
wie unmöglich, dass Mitglieder der Verbraucherschutz-
organisationen im Aufsichtsrat vertreten sind.
Kollege Süßmair, gestatten Sie eine Frage des Kolle-
gen Schweickert?
Er kann sich am Ende meiner Rede zu einer Kurzin-
tervention melden, aber jetzt nicht.
Also nicht.
Eine der Hauptaufgaben des Deutschen Weinfonds istdie Erschließung und Pflege des Weinmarktes. Es sinddoch die Verbraucherinnen und Verbraucher, für die derWein produziert wird. Deshalb haben wir im Ausschussbeantragt, dass mindestens zwei Mitglieder des Auf-sichtsrates Vertreter der Verbraucherschutzorganisatio-nen sein müssen und dass auch die Anzahl der Verbrau-cherschützer im Verwaltungsrat erhöht wird. DiesenAntrag haben die Regierungsfraktionen abgelehnt. Daszeigt einmal mehr, welchen Stellenwert Verbraucher-schutz für Sie hat. Die Linke jedenfalls möchte dieRechte der Verbraucherinnen und Verbraucher stärken.
Abschließend möchte ich über den Antrag der Linkenzum Erhalt der einheimischen Rebsorten sprechen. Fastzwei Drittel der Weinbaubetriebe in Deutschland verfü-gen nur über maximal 1 Hektar Landfläche. Wenn dieseWinzerinnen und Winzer alte Rebsorten anbauen wollen,die nicht registriert sind, müssen sie für die Zulassungzum Teil mehrere Tausend Euro zahlen, und das, bevorauch nur eine einzige Flasche verkauft ist. Nebener-werbswinzer können sich diese Kosten kaum leisten.Staatliche Institute haben zwar auch Weinstöcke selteneroder alter Sorten, aber teilweise nur drei Stück. Wir fin-den, das ist zu wenig.
Alle reden über Biodiversität, also Artenvielfalt; aberwenn es konkret wird, dann ist plötzlich Schluss mit derFörderung von Vielfalt. Die Linke aber meint: Biodiver-sität und Erhaltungsanbau brauchen Wertschätzung undUnterstützung.
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Alexander Süßmair
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Wir alle wissen: Auch Wein aus Deutschland hat einenguten Ruf. Tun wir als Gesetzgeber alles, damit es auchso bleibt!Vielen Dank.
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege
Schweickert das Wort.
Sehr geehrter Herr Kollege Süßmair, man kann natür-
lich die Position vertreten, dass man es den Bundeslän-
dern offenlässt, strengere Festlegungen in Bezug auf die
Hangneigung zu treffen. Aber stimmen Sie mit mir darin
überein, dass allein der Hinweis auf den höheren Ar-
beitsaufwand in der Steillage nicht geeignet ist, den Ver-
braucher, den Sie gerade in den Mittelpunkt gestellt ha-
ben, zu überzeugen? Denn wenn der Verbraucher von
dieser Mehrarbeit keinen Mehrwert hat, dann wird er
nicht dafür zahlen.
Die Originalität der Steillage besteht darin, dass sie
eine bessere Wasserverfügbarkeit hat. Wir alle wissen,
dass es eher eine Wasserrennbahn ist, wenn die Steillage
zu steil ist. Dann rinnt das Wasser herunter, und es wird
weniger gespeichert. Bei den Graden, die jetzt im Gesetz
stehen, gibt es eine optimale Reflexion von Nachtwärme
und besserer Aromabildung. Ich möchte einfach bitten,
dass wir mehr über die Qualität, die uns die Steillage lie-
fert, und nicht über den Arbeitsaufwand, der dahinter-
steckt, sprechen. Er ist zwar vorhanden und muss ent-
lohnt werden, er wird aber nur dann entlohnt, wenn der
Verbraucher etwas davon hat. Das ist nur dann der Fall,
wenn genau diese Charakteristika, die man jetzt mit der
Eigenschaft g.U. erheben kann, vom Verbraucher wahr-
genommen werden.
Zur Erwiderung hat der Kollege Süßmair das Wort.
Sehr verehrter Kollege Schweickert, ich habe dazu
eine andere Position. Sie sagen, dass der Verbraucher be-
reit ist, mehr zu zahlen, wenn er Wein mit einer besseren
Qualität bekommt. Mit dem Fachlichen kennen Sie sich
wahrscheinlich besser aus als ich. Aber Sie müssen er-
klären, warum Sie meinen, dass unsere Vorstellung in
diesem Zusammenhang nicht gerechtfertigt ist. Sie wis-
sen auch, dass die Europäische Union es so definiert hat,
dass eine Förderung erst ab 30 Prozent möglich ist. Das
gilt natürlich für die gesamte EU.
Gerade wir in Deutschland haben sehr viele Regio-
nen, zum Beispiel bei mir im Bayerischen, im Fränki-
schen, in denen es zahlreiche Steillagen gibt. Wir sind
der Meinung, dass es nicht allein um die Bezahlung des
Aufwands der Menschen, die die Steillagen bewirtschaf-
ten, geht, sondern – das habe ich gesagt – dass es auch
um den Erhalt einer besonderen Form der Kulturland-
schaftspflege geht, also um den Aufwand, der betrieben
wird, um zum Beispiel einen Mehrwert für die Land-
schaft und den Tourismus zu erreichen.
Sie werden mir auch zustimmen, wenn ich sage: Wir
haben auf europäischer Ebene – Sie haben das angespro-
chen – Debatten über die Aufhebung der Pflanzrechte.
Andere Länder wollen in der Tiefe und in den Flachla-
gen in die größere Produktion gehen. Wenn wir weiter-
hin rechtfertigen wollen, dass die Steillage etwas Beson-
deres ist, und wenn wir sie fördern und erhalten
möchten, und zwar auch für die Kulturlandschaft und für
den Tourismus, dann finde ich es sehr wohl angebracht,
dass man dies dem Verbraucher klarmacht, wenn die ent-
sprechenden Bundesländer es wollen. Wenn die Men-
schen zum Beispiel einen Ausflug in ein schönes Tal, ob
an der Mosel oder sonst wo, machen und die Steilhänge
sehr schön finden, müssen sie wissen, dass wir dies lang-
fristig nur erhalten können, wenn wir genau diese Form
des Kulturanbaus schützen. Interessanterweise ist die
Bundesregierung in ihrer Gegenäußerung zu der Stel-
lungnahme des Bundesrats hierauf eingegangen. Sie hat
in Bezug auf § 24, der unter anderem die Beschränkung
der zugelassenen Rebsorten, den Alkoholgehalt und der-
gleichen beinhaltet, unter Punkt 1 die Hangneigung hi-
neingeschrieben. Sie bestätigt also die Position der Lin-
ken.
Deshalb finde ich es durchaus korrekt, dass wir es den
Bundesländern überlassen wollen.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der
Kollege Markus Tressel das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Jenseits der schönen Weinfeste und der noch schönerenWeinköniginnen hat der Weinbau auch wichtige Funk-tionen in anderen Bereichen. Er stärkt die regionaleWertschöpfung, er schafft Arbeitsplätze auf dem Land,und er fördert den Tourismus. Das ist hier schon mehr-fach angesprochen worden. Unsere Aufgabe als Politikist es, die Rahmenbedingungen so zu setzen, dass diesauch weiterhin gewährleistet wird. Die Winzerinnen undWinzer in Deutschland haben unsere Unterstützung ver-dient. Ich glaube, das wird auch deutlich, liebe Kollegin-nen und Kollegen.
Ich bin froh darüber, dass uns heute ein Gesetzent-wurf vorliegt, der die Rahmenbedingungen für denWeinbau verbessert. Der Gesetzentwurf lässt den Bun-desländern die Freiheit, unterschiedliche Ansätze bei derProfilierung kleinerer geografischer Einheiten und Steil-oder Terrassenlagen zu wählen. Kleinere Weinlagen
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Markus Tressel
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können somit aufgewertet werden. Das ist ein Vorteil fürdie Verbraucher; denn mit dem Grundsatz „Je genauerdie Herkunftsangabe, desto höher die Qualitätsanforde-rungen“ bekommen sie eine bessere Orientierung.Eine geregelte Aufwertung der Lagenweine trägtauch dazu bei, das hohe Niveau der Weine, seine Vielfaltund Einzigartigkeit zu erhalten. Wir wissen, es gibt über2 500 Einzellagen in Deutschland. Hier können höherePreise erzielt und der Absatz der Winzer gesichert wer-den.Erfreulich ist in diesem Zusammenhang auch, liebeKolleginnen und Kollegen, dass in der EU seit AnfangAugust dieses Jahres anstelle der Bezeichnung „Weinaus Trauben aus ökologischem Anbau“ endlich dieBezeichnung „Ökologischer Wein“ verwendet werdenkann. Verbraucherinnen und Verbraucher legen zuneh-mend Wert auf ökologische Qualität und auf eine gerin-gere Belastung der Umwelt mit Pflanzenschutzmitteln.Deshalb ist auch das ein richtiger Schritt.
Trotz der positiven Entwicklungen bei der Weinge-setzgebung, gibt es eine Entwicklung – die Kollegen ha-ben es angesprochen –, die die qualitätsorientierte Zu-kunft des Weinbaus gefährdet. Das ist das für 2015geplante Auslaufen der Rebpflanzrechte. Wenn das Ver-bot, wie von der EU vorgesehen, ausläuft, droht eine Ab-wanderung des Weinbaus in Ackerbauregionen. Damitwäre einer industriellen Produktion von BilligweinenTür und Tor geöffnet, und es wäre für viele Winzer kaumnoch möglich, Weinbau in solch einzigartigen Kultur-landschaften zu betreiben und diese so zu erhalten. Daswäre katastrophal für unsere Weinbauregionen. Deshalb,liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir das verhin-dern.
Auch da sehen Sie uns an Ihrer Seite. Ich freue mich,dass wir da, glaube ich, partei- und auch fraktionsüber-greifend Konsens haben.Wir haben starke Unterstützer. Auf EU-Ebene unter-stützen 16 EU-Mitgliedstaaten dieses Anliegen, undauch eine von der EU-Kommission eingesetzte hochran-gige Expertengruppe versucht, einen Kompromiss jen-seits der völligen Liberalisierung zu finden. Ich glaube,hier sollte die Bundesregierung in Zukunft deshalb nochmehr Engagement zeigen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, uns liegt heute einGesetzentwurf vor, den wir unterstützen können. DieKollegen haben das ebenfalls gesagt. Er leistet einenBeitrag dazu, dass die Qualität des Weinbaus in Deutsch-land erhalten bleibt, regionale Wertschöpfung gestärktund Arbeitsplätze gesichert werden. Deshalb stimmtmeine Fraktion dem Gesetzentwurf zu.Ich hoffe, dass wir weiterhin gemeinsam und im Kon-sens Initiativen für den deutschen Weinbau entwickelnkönnen. Ich glaube, nicht nur aus dem Parlamentari-schen Weinforum heraus sind wir insoweit auf einem gu-ten Weg.Ich wünsche den Kolleginnen und Kollegen, denWinzerinnen und Winzern in unserem Land auch weiter-hin gutes Gelingen bei ihrer Arbeit.Vielen Dank.
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Norbert
Schindler das Wort.
Guten Abend, meine Damen und Herren! Ich möchtenicht nur die Gäste auf den Tribünen, sondern vor allemauch meine Freunde aus Neustadt an der DeutschenWeinstraße herzlich begrüßen.
– Ja, besser kann es nicht sein. – Sie warten schon dieganze Zeit auf dieses Thema und natürlich auch auf mei-nen Auftritt.
Natürlich könnte ich jetzt eine abendfüllende Redehalten. Aber, lieber Herr Süßmair, Ihnen rufe ich nur zu:Vielleicht haben Sie Ahnung von Bier, von Wein jeden-falls haben Sie keine.
Lassen Sie sich doch einmal im Rahmen einer geschei-ten Weinprobe von der Rebsortenergründung und denFeinheiten und filigranen Wünschen der Winzerschaftüberzeugen. Wir laden Sie dazu gerne ein.
Im Übrigen wäre es ja das erste Mal, dass die linke Frak-tion einem Gesetzentwurf der Bundesregierung zustim-men würde. Ihr habt ja immer und an allem etwas zu me-ckern. Leider Gottes ist es so.
Zur Sache. Es gibt zwei neue elementare Begriffe, mitdenen es die Länder im Rahmen der Ermächtigung zutun haben. Das hat es im deutschen Weinrecht bis jetztnicht gegeben, weder im Weinrecht von 1970 noch indem von 1971, noch in dem von 1986, noch in dem von1997. Es geht um kleinere geografische Einheiten oder,wie die deutschen Weinleute sagen, um die Qualitätspy-
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Norbert Schindler
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ramide: je kleiner die geernteten und vermarkteten Men-gen, je höher die qualitativen und mengenmäßigen An-strengungen.Sowohl bei den zugelassenen Rebsorten – ihre Zahlsoll allerdings sehr eng begrenzt werden – als auch beimzulässigen Gesamternteertrag als auch beim natürlichenMindestalkoholgehalt – bis hin zum Restzuckergehalt –versetzen wir die Länder in die Lage – Baden-Württem-berg, Bayern, Sachsen-Anhalt, natürlich auch Rhein-land-Pfalz –, für Betriebe, die in der Vegetationszeitdurch Ausdünnung nur 6 000, 7 000 oder 8 000 Liter proHektar produzieren – die Ausdünnung ist in der Wein-wirtschaft heutzutage ja schon selbstverständlich – undderen Weine aus kleineren geografischen Einheitenstammen, besondere Bedingungen festzulegen.In Baden-Württemberg denkt man im Hinblick aufdie Bereichslagen und in Rheinland-Pfalz im Hinblickauf die Einzellagen darüber nach, einen Katasternamenhinzuzufügen. Die kleinste geografische Einheit geht üb-rigens auf das Weinrecht von vor 100, 120 Jahren zu-rück. Damals war es selbstverständlich, eine Weinfla-sche mit der Katasterlage als engster geografischerHerkunft des Weins auszuzeichnen; mit den Weingeset-zen, die in der nachfolgenden Zeit auf den Weg gebrachtwurden, wurde dieses Vorgehen etwas egalisiert. Mit derErmächtigung werden die Länder also in die Lage ver-setzt, gemeinsam mit der Weinwirtschaft für Baden, fürWürttemberg, für die Mosel und für die Pfalz individuellbesondere Qualitätskriterien festzulegen.
Hier sind natürlich auch die Länder in der Verantwor-tung. Ich richte sowohl an Rheinland-Pfalz als auch anBaden-Württemberg den Appell, die Kriterien – ob imHinblick auf die Ursprungsbezeichnungen, die uns dieEuropäische Union vorgegeben hat, oder im Hinblickauf die neuen Lagenbezeichnungen engerer Herkunft –landeseinheitlich zu formulieren, damit es beim Verbrau-cher nicht erneut zu Verwirrung kommt.Zu dem Begriff „Steillagen“, den wir bundeseinheit-lich festlegen. Ja, es ist richtig, dass wir bundesweit eineHangneigung von 30 Prozent festlegen, damit der Ver-braucher weiß: Die Steillage am Würzburger Juliusspitalist genauso differenziert wie der Bernkasteler Doctor.Damit hat man im Interesse der Verbraucher eine klareTrennung vorgenommen. Warum 30 Prozent? Weil esvonseiten der Europäischen Union bei Überschreitendieser 30 Prozent eine zusätzliche Fördermöglichkeitgibt. In Zukunft werden hoffentlich alle Steillagen- undTerrassenwinzer eine besondere Zuwendung aus derzweiten Säule der Gemeinsamen Agrarpolitik der Euro-päischen Union bekommen. Deswegen, Herr Kollege:Setzen Sie sich mit diesem Thema auseinander, fordernSie aber keine Sonderrechte, die man vielleicht gerne alsi-Tüpfelchen hätte! Das führt bei den Verbrauchern nurzu Verwirrung.Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die Besetzung desAufsichtsrates. Ja, diese Debatte wurde vom Genossen-schaftsverband zu Recht angestoßen. Über 30 Prozentaller Weine, die in Deutschland abgefüllt werden, kom-men nämlich aus dem genossenschaftlichen Bereich.In den neun Aufsichtsräten war die genossenschaftli-che Schiene schwächer vertreten, und wir waren uns ei-gentlich über die Parteien hinweg einig: Diesem berech-tigten Wunsch sollte man entgegenkommen.
– Warum kritisieren Sie es denn dann? Dann lassen Siees doch sein!
– Stellen Sie eine Frage, dann kommen Sie dran.
Wir haben in Bezug auf den Begriff „Schaumwein“eine Korrektur vorgenommen. Weil die Bezeichnung„Tafelwein“ weggefallen ist, haben wir neu geregelt,dass man an die Bezeichnung „Schaumwein“ den Be-griff „Landwein“ anfügen kann.
– Geben Sie dem einmal einen gescheiten Schluck Weinzu trinken, dann ist er vielleicht ein bisschen ruhiger. Erhat immer was zu meckern. –
Damit ist auch wieder Rechtssicherheit geschaffen, wasgerade im Bereich der Schaumweine notwendig war.Dies musste neu geordnet werden, damit bei den Quali-tätssekten eine nähere geografische Herkunftsbezeich-nung gegeben ist.Meine letzte Anmerkung zu etwas, das auch KollegeGerig angesprochen hat. Es geht um die Elementarscha-densversicherung. Für Frost- und Hagelschäden gibt essie. Es gilt hier auch ein besonderer Satz. Wir führen imFinanzausschuss derzeit eine Debatte darüber. HelfenSie mir, meine Freunde, dass wir die Finanzleute in die-ser Frage noch überzeugen. Das ist kein leichter Weg,den wir hier gehen, aber es wäre eine gute Sache.Entgegen den Rechnungen der Finanzbeamten wärendie Einnahmen, die der Staat aus der Versicherungsteuererzielen würde, höher, weil mit dem Angebot an alle,eine Elementarversicherung abzuschließen, ein Anreizdafür gegeben wird, und zwar nicht nur für diejenigen,die sich gegen Hagelschäden versichern wollen, sondernauch für diejenigen, die sich gegen die Folgen vonHochwasser und Frost versichern wollen, damit sie nichtin elementare Not kommen und jedes Mal nach einemJahrhundertereignis nach der Hilfe der Staates rufenmüssen. Das könnte man wirklich sehr elegant lösen.Ich sehe, ich habe meine Redezeit um eine Minuteüberschritten. Danke, Frau Präsidentin, für die Großzü-gigkeit.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23963
Norbert Schindler
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Wohl bekomm’s! Es ist ein guter Gesetzentwurf. Wiegesagt: Sie, Herr Süßmair, lade ich einmal zu einer ge-scheiten Weinprobe ein.
– Bringen Sie kein Bier mit, das haben wir selbst. – Indiesem Sinne wünsche ich Ihnen einen schönen gutenAbend.Irgendwann müssen wir zwar wieder eine Änderungvornehmen, aber wir haben jetzt eine kundenorientierteZielrichtung gewählt.
Klarheit und Wahrheit! Die Winzer, die bestrebt sind,Qualität anzubieten, werden mit dieser gesetzlichen Vor-gabe belohnt.Danke schön.
Bevor es zum interfraktionellen Zusammentreffen beieinem guten Wein oder auch Bier kommen kann, habenwir noch ein wenig Arbeit vor uns.Ich schließe die Aussprache.Tagesordnungspunkt 12 a. Wir kommen zur Abstim-mung über den von der Bundesregierung eingebrachtenGesetzentwurf zur Änderung des Weingesetzes.Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 17/11019, den Gesetzentwurf derBundesregierung auf den Drucksachen 17/10042 und17/10124 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ichbitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschuss-fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzent-wurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion und der FraktionBündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion DieLinke angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-entwurf ist bei Enthaltung der Fraktion Die Linke undZustimmung der übrigen Fraktionen des Hauses ange-nommen.Tagesordnungspunkt 12 b. Beschlussempfehlung desAusschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Ver-braucherschutz zu dem Antrag der Fraktion Die Linkemit dem Titel „Rettung einheimischer Rebsorten durchErhaltungsanbau“.Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 17/8612, den Antrag der FraktionDie Linke auf Drucksache 17/7845 abzulehnen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-lung ist bei Zustimmung der Koalitionsfraktionen undder SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion DieLinke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ange-nommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. LukreziaJochimsen, Dr. Petra Sitte, Jan Korte, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKERechtliche und finanzielle Voraussetzungenfür die Zahlung einer Ausstellungsvergütungfür bildende Künstlerinnen und Künstlerschaffen– Drucksache 17/8379 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien RechtsausschussFinanzausschussInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zudiesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1) –Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/8379 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des Grundgesetzes
– Drucksache 17/10956 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung InnenausschussRechtsausschussAuch hier nehmen wir die Reden zu Protokoll.2)Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 17/10956 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esdazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Innenausschusses zudem Antrag der Abgeordneten Josef PhilipWinkler, Viola von Cramon-Taubadel, VolkerBeck , weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENFür wirksamen Rechtsschutz im Asylverfah-ren – Konsequenzen aus den Entscheidungendes Gerichtshofs der Europäischen Union unddes Europäischen Gerichtshofs für Menschen-rechte ziehen1) Anlage 32) Anlage 2
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23964 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Vizepräsidentin Petra Pau
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– Drucksachen 17/8460, 17/9008 –Berichterstattung:Abgeordnete Reinhard GrindelRüdiger VeitHartfrid Wolff Ulla JelpkeJosef Philip WinklerInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zuProtokoll zu nehmen.1) – Sie sind damit einverstanden.Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschussempfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-che 17/9008, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen auf Drucksache 17/8460 abzulehnen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegendie Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu denÄnderungen vom 10. und 11. Juni 2010 desRömischen Statuts des Internationalen Straf-gerichtshofs vom 17. Juli 1998– Drucksache 17/10975 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Auswärtiger AusschussInnenausschussRechtsausschussVerteidigungsausschussAuch hier nehmen wir die Reden zu Protokoll.2)Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 17/10975 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sinddamit einverstanden. Dann ist so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Anpassung des Bauproduktengesetzes undweiterer Rechtsvorschriften an die Verord-nung Nr. 305/2011 zur Festlegung har-monisierter Bedingungen für die Vermark-tung von Bauprodukten– Drucksache 17/10310 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
– Drucksache 17/10874 –Berichterstattung:Abgeordnete Daniela WagnerWie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wirdie Reden zu Protokoll.
Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung
soll im Wesentlichen dazu dienen, das Bauprodukten-
gesetz und damit einhergehende Rechtsvorschriften an
die Bauproduktenverordnung der Europäischen Union
anzupassen. Diese Verordnung wird am 1. Juli 2013
die bisher geltende Rechtsvorschrift der Bauprodukten-
richtlinie 89/106/EWG aus dem Jahre 1988 ablösen. Die
neue Verordnung Nr. 305/2011 des Europäischen
Rates und des Europäischen Parlaments vom 9. März
2011 gibt harmonisierte Bedingungen für die Vermark-
tung von Bauprodukten vor. Inhaltlich handelt die Ver-
ordnung vor allem Maßnahmen zur Beseitigung von
Handelshemmnissen im Binnenmarkt ab.
Wie so oft nehmen wir mit dem Gesetzentwurf unsere
Aufgabe als Mitgliedstaat innerhalb der EU wahr und
passen unsere Gegebenheiten an die harmonisierten
Vorgaben der Europäischen Union an. Zwar müsste bei
der nun durch die EU gewählten Rechtsform einer Ver-
ordnung grundsätzlich keine Umsetzung in nationales
Recht erfolgen, da sie ohnehin direkt in jedem Mitglied-
staat gilt. Dennoch müssen wir einige nationale Anpas-
sungen der momentan geltenden Regelungen vorneh-
men. Damit der bald geltenden Verordnung nichts im
Wege steht, sieht der Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung vor, alte Vorschriften, die derzeit zur Umsetzung
der Bauproduktenrichtline gelten, aufzuheben. Auch
Folgeänderungen im übrigen Bundesrecht müssen zu-
sätzlich vorgenommen werden.
Grundsätzlich wird in der EU-Bauproduktenverord-
nung ein neuer Rechtsrahmen für die Vermarktung der
CE-Kennzeichnung von Bauprodukten geregelt. Das An-
passungsgesetz der Bundesregierung regelt zudem die
folgenden organisatorischen Punkte: Einsetzung des
Deutschen Instituts für Bautechnik, DIBt, als eine „tech-
nische Bewertungsstelle“ für Bauprodukte, die Einset-
zung des DIBt als Behörde für sogenannte unabhängige
Drittstellen, Ausführungsregelungen zur Marktüberwa-
chung sowie Bußgeld- und Straftatbeständen, Verpflich-
tung zur Akkreditierung von unabhängigen Drittstellen
bei der Deutschen Akkreditierungsstelle, DAkkS.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist notwen-
dig und richtig. Detailfragen zu fachlichen Themen sind
zuvor mit den Bundesländern und Verbänden einver-
nehmlich abgestimmt worden, und auch der Ausschuss
für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung des Deutschen
Bundestages hat sich in einer Beschlussempfehlung ein-
stimmig für die Annahme des Antrags in leicht geänder-
ter Fassung ausgesprochen. Nach Abänderung der an-
gesprochenen formalen Berichtigungen im Antrag bitte
ich, dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zuzustim-
men.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf sollen die Bedin-gungen für die Vermarktung von Bauprodukten in der EUharmonisiert werden, und es wird eine Anpassung an dieEU-Verordnung Nr. 305/2011 und damit die Aufhebungder bisherigen Bauproduktenrichtlinie 89/106/EWG vor-genommen. Vor dem Hintergrund, dass auf die europäi-sche Bauwirtschaft 15 Prozent der industriellen Wert-1) Anlage 52) Anlage 4
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23965
Matthias Lietz
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schöpfung entfallen, jedoch ihr Anteil am europäischenHandel nur 5 Prozent beträgt, hat die EuropäischeUnion das Recht der Bauprodukte europaweit angegli-chen.Der EU-weite Handel soll unter anderem durch fol-gende Maßnahmen gestärkt und die Verwendung vonBauprodukten vereinfacht werden: durch die Einführungeiner gemeinsamen Fachsprache für Bauprodukte aufGrundlage der harmonisierten Normen, dem CE-Kennzeichen kommt eine größere Bedeutung zu, Leis-tungserklärungen sind den Produkten beizufügen. DieMitgliedstaaten richten sogenannte technische Bewer-tungsstellen ein. Auch in der EU-Bauproduktenverord-nung, die auf der früheren Bauproduktenrichtlinie be-ruht und die jetzt mit diesem Gesetz umgesetzt wird, sinddie wesentlichen Leistungsmerkmale der Bauproduktenicht festgeschrieben, sondern werden aus den Grund-anforderungen an Bauwerke abgeleitet. Für diese Merk-male werden dann in harmonisierten Normen konkreteAnforderungen formuliert. Diese bilden die Grundlagefür die Leistungserklärung des Herstellers und die Ver-gabe der CE-Kennzeichnung. Mit der Leistungserklä-rung übernimmt der Hersteller die Verantwortung fürsein Bauprodukt und dessen Leistung und kann in Män-gelhaftung genommen werden. Straftat- und Bußgeld-vorschriften ergeben sich ebenfalls aus dem vorliegen-den Gesetz.Das Deutsche Institut für Bautechnik, DIBt, wird dieAufgabe der technischen Bewertungsstelle wahrneh-men. Nach der EU-Bauproduktenverordnung können dieMitgliedstaaten für die jeweiligen Produktbereiche ei-nen oder mehrere technische Bewertungsstellen benen-nen. Hier sollte zukünftig geprüft werden, ob aufgrundder wirtschaftlichen Bedeutung, aber auch hinsichtlichrelevanter Bauprodukte wie Dämmstoffe zum Erreichender Klimaziele und der Energiewende zusätzliche Kapa-zitäten benötigt werden und weitere Bewertungsstellenhinzugezogen werden sollten.Mit der Ablösung der EU-Bauproduktenrichtlinie89/106/EWG durch die neue EU-Bauproduktenverord-nung stand die Anpassung zahlreicher nationaler Vor-schriften an den veränderten Rechtsrahmen bevor. DieUmsetzung der alten EU-Bauproduktenrichtlinie ist seitlängerem Gegenstand mehrerer durch die EuropäischeKommission gegen die Bundesrepublik geführter Vertrags-verletzungsverfahren, Nrn. 2004/5116 und 2005/4743. Ge-genstand dieser Verfahren sind insbesondere die in derBauregelliste B vorgesehenen Zusatzanforderungen anProdukte, die von harmonisierten europäischen Normenerfasst sind und die CE-Kennzeichnung tragen. DieKommission rügt, dass die bestehenden Zusatzanforde-rungen gegen die europäischen Vorgaben verstoßen.Hier sollte im Sinne der europäischen Angleichung umeine gemeinsame Lösung gerungen werden.Eine Harmonisierung, mehr Transparenz und die Ge-währleistung einer europarechtskonformen Umsetzungdes Bauproduktenrechts sind generell zu begrüßen.
Die CE-Kennzeichnung ist seit ihrer Einführung in-nerhalb der Europäischen Union 1993 eine Erfolgs-geschichte. Mit ihr dokumentieren Hersteller, dassProdukte den produktspezifisch geltenden europäischenRichtlinien entsprechen und damit Sicherheits- undGesundheitsanforderungen erfüllen, die in den 30 Ver-tragstaaten des Europäischen Wirtschaftsraums gelten.Faktisch hat sich die CE-Bezeichnung im Baugewerbeals Qualitätssiegel etabliert und ist ein für Produzenten,Händler und Verbraucher gleichermaßen leicht an-wendbares und gut erkennbares Instrument der Sicher-heit und Verlässlichkeit. Die FDP unterstützt daher alleim Zuge eines weiteren Harmonisierungsprozesses derLänder der Europäischen Union notwendigen und demCharakter des bisherigen Konformitätsverfahrens ent-sprechenden Schritte.Über die Richtigkeit und den Bedarf dieser Harmo-nisierung besteht im Hohen Hause kein Streit. LassenSie mich zur Anpassung des Bauproduktengesetzestrotzdem hier sagen: Es bleibt, erstens, wie bisher bei ei-ner Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten für diesich aus einem Bauwerk ergebenden Anforderungen anBauprodukte. Die EU – wie wir – regelt mit dieser Vor-lage nur die Verfahren des Nachweises, dass ein Produktbestimmte Anforderungen auch erfüllt. Diese Verfahrenwerden vereinheitlicht mittels harmonisierter techni-scher Normen und durch einzelproduktbezogene techni-sche Bewertungen, die ein Hersteller bei den von denMitgliedstaaten einzurichtenden Bewertungsstellen be-antragen muss. Dann erst ist er befugt und verpflichtet,die CE-Kennzeichnung anzubringen, und muss genauangeben, welches Anforderungsniveau das jeweiligeProdukt in Bezug auf bestimmte Merkmale erreicht.Das war bisher so, und das wird auch so bleiben. Neujedoch ist, dass die Kommission zukünftig europaweitgültige und europaweit einheitliche Schwellenwerte fest-setzen kann für einzelne Inhaltsstoffe oder Leistungs-werte. Das ist ein großer und wichtiger Schritt hin zueiner nachhaltigen und zukunftsorientierten Gesetz-gebung im Bauproduktenrecht und wird von der FDPausdrücklich unterstützt.Im Verfahren selbst sind, zweitens, Verfahrenserleich-terungen vorgesehen. Insbesondere wird die technischeBewertung zukünftig an Fristen gebunden und wirddamit rascher erfolgen können. Das ist insbesondere fürMarktteilnehmer ein nicht zu unterschätzender Wert,denn in vielen Fällen dauern Prüfvorgänge zu lange undverhindern den Marktzugang. Es war daher der FDPwichtig, dass Hersteller sich auch weiterhin die Prüf-stelle frei wählen können.Drittens. Das Deutsche Institut für Bautechnik, DIBt,soll weiterhin als in Deutschland zuständige Stelle fürdie Erteilung europäischer technischer Zulassungen fürBauprodukte fungieren. So werden wir sicherstellen,dass trotz der Zweigleisigkeit im Zulassungswesen eineorganisatorische Einheitlichkeit für Hersteller undHandel gewährleistet bleibt.Eine vierte und damit letzte Bemerkung: Nicht nur istim Interesse der Marktüberwachung und im Interessedes deutschen Baugewerbes vorgesehen, die deutscheSprache für die notwendigen Dokumente zu verwenden;es soll auch die Bundesregierung, also das fachlichzuständige BMVBS, dieselben Informationen erhalten,Zu Protokoll gegebene Reden
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23966 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Petra Müller
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die die Europäische Kommission im Rahmen der Markt-überwachung erhalten muss. So bleibt Deutschlandinformativ uneingeschränkt handlungsfähig.Die ursprüngliche Motivation, mit der CE-Kenn-zeichnung als Produktreisepass Handelshemmnisse fürden europäischen Binnenmarkt zu beseitigen, ist einurliberaler Gedanke. Die FDP-Bundestagsfraktion wirddaher für diesen Gesetzentwurf stimmen.
Zu dem hier vorliegenden Antrag der Bundesregie-
rung kann ich die Zustimmung der Fraktion Die Linke
signalisieren. Wir verbinden damit allerdings die Er-
wartung, dass die mit dem Gesetz verfolgten Absichten
und Ziele in einer angemessenen Frist überprüft werden
und die Bundesregierung dem Bundestag spätestens ein
Jahr nach Inkrafttreten darüber berichtet.
Uns ist wichtig, dass mit dem Gesetz nicht nur rechts-
formale Vereinheitlichungen ohne jeden praktischen
Nutzen stattfinden, sondern dass die Anwendung des Ge-
setzes auch einen konkreten Beitrag zur ökologischen
und ökonomischen Effektivitätssteigerung der Bauwirt-
schaft leistet. Die Bauwirtschaft ist einer der Hauptak-
teure bei der Durchsetzung von Klimaschutzzielen und
der Energiewende. Deshalb muss sichergestellt sein,
dass erstens die Einführung des Gesetzes auch zur aus-
schließlichen Verwendung von CE-zertifizierten Bau-
produkten beiträgt und ein Ausweichen auf billigere,
aber nicht gekennzeichnete Bauprodukte ausgeschlos-
sen wird, zweitens die Verwendung ausschließlich zer-
tifizierter Bauprodukte europaweit zur Einhaltung ein-
heitlicher Schwellenwerte bezogen auf Inhaltsstoffe und
Leistungswerte der Bauprodukte führt und drittens die
Verwendung zertifizierter Bauprodukte nicht zur Be-
gründung höherer Baupreise missbraucht werden darf.
Wir fordern die Bundesregierung daher dazu auf, vor
Inkrafttreten der vorgelegten Regelungen am 1. Juli 2013
in Bezug auf die aufgeworfenen Fragestellungen Stel-
lungnahmen sowohl vom Deutschen Institut für Bau-
technik als auch von den Baufachverbänden einzuholen
und diese dem Deutschen Bundestag zur Kenntnis zu ge-
ben.
Das vorliegende Gesetz dient der Anpassung desBundesrechts an die neue Verordnung Nr. 305/2011des Europäischen Parlaments und des Rates vom9. März 2011 zur Festlegung harmonisierter Bedingun-gen für die Vermarktung von Bauprodukten und zur Auf-hebung der Richtlinie 89/106/EWG des Rates – EU-Bauproduktenverordnung.Die EU-Bauproduktenverordnung sieht einen neuenRechtsrahmen für die Vermarktung und CE-Kennzeich-nung von Bauprodukten vor und löst zum 1. Juli 2013 diebisher geltende Bauproduktenrichtlinie 89/106/EWG ab.Der Gesetzentwurf ist sehr technisch, aber von hoherpolitischen Relevanz für Bündnis 90/Die Grünen. Eswerden Anforderungen an die Vermarktung von Baupro-dukten harmonisiert, und diese Anforderungen habeninsbesondere Auswirkungen auf die Art und Weise, wieökologisch vertretbare Baunormen gefördert werdenkönnen. Die Verordnung legt wesentliche Merkmale fürverschiedene „Familien“ von Bauprodukten fest. Einigedieser Kategorien von Produkten unterliegen harmoni-sierten Normen, andere wiederum unterliegen den Euro-pean Technical Assessments. Es ist daher unerlässlich,die Bewertungsverfahren zu definieren.Die Fraktion der Grünen im Europaparlament hattebereits festgestellt, dass im Ergebnis die Verhandlungenzur Verordnung zur Festlegung harmonisierter Bedin-gungen für die Vermarktung von Bauprodukten mit demRat nicht ideal verlaufen sind. Es gab erheblichen Druckvon einigen Sektoren der Industrie, die von einigen Mit-gliedstaaten unterstützt wurden, um klare Verpflichtun-gen zu vermeiden. Aber der letztlich vereinbarte Textenthält Elemente, die aus unserer Sicht wichtig sind.Den Grünen ist es wichtig, dass die Verfahren trans-parent sein sollten. Insbesondere die Normungsgremiensollten nicht von den Vertretern der Großindustrie mo-nopolisiert werden.In dem vorliegenden Gesetz wird die renommierte Zu-lassungsstelle im Bauwesen, das Deutsche Institut fürBautechnik, als unabhängiges Normungsgremium be-nannt, das 1993 aus dem Institut für Bautechnik hervor-gegangen ist.Unser Anliegen ist es, dass auch Positionen kleinerund mittlerer Unternehmen oder anderer Beteiligter be-rücksichtigt oder übernommen werden sollten.Der Aufbau der Vorschriften und auch das Verfahrensollten in der Lage sein, innovative und ökologische An-sätze zu fördern.Weiter ist zu vermeiden, dass spezielle Verfahren für„Kleinstunternehmen“ von der Industrie als ein Mittelgenutzt werden könnten, um die Anforderungen und Ver-fahren generell zu umgehen.Lassen sie mich die Gelegenheit nutzen, etwas zuBauprodukten im Allgemeinen zu sagen. Deutschlandhat sich international verpflichtet, seinen Beitrag zuleisten, um den Anstieg der globalen Temperatur ummehr als 2 Grad Celsius zu verhindern. Dies bedeutet,dass der Ausstoß von Klimagasen hierzulande um min-destens 40 Prozent bis 2020 und um 95 Prozent bis 2050gesenkt werden muss. Der Gebäudebereich spielt alsofür das Erreichen der Klima- und Energieeinsparzieleeine zentrale Rolle; denn in den Bestandsgebäuden wer-den 40 Prozent der Endenergie für Wärme und Kühlungverbraucht und fast 20 Prozent der gesamten CO2-Emis-sionen in Deutschland verursacht.Mit den Klimazielen gehen Fragen der Versorgungs-sicherheit einher. Das Gros der fossilen Energieroh-stoffe wird aus außereuropäischen Ländern importiert,und es wird immer teurer. Deutschland lag in 2008 miteinem Erdölverbrauch von 118,1 Millionen Tonnen ansechsten Stelle der zehn Länder mit dem weltweit größ-ten Erdölverbrauch. Die deutsche Wirtschaft zahlte imJahr 2010 allein für ihre Ölimporte 41,6 MilliardenEuro.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23967
Daniela Wagner
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Um die Klimaschutzziele zu erreichen, den Energie-verbrauch sowie die CO2-Emissionen zu senken und dieAbhängigkeit von Erdölimporten zu reduzieren, ist alsodie Steigerung der Ressourcen-, Energieeffizienz undNachhaltigkeit im Gebäudebestand ein wichtiger Bau-stein.In Bezug auf die Modernisierung der Wärmeversor-gung von Gebäuden sind immerhin erste Schritte einge-leitet. Alternative Baustoffe haben aber trotz des großenSubstitutionspotenzials nur wenig Eingang in die Ak-tionsprogramme zur Gebäudesanierung gefunden, undselbst im Neubau sind sie nur die Ausnahme.Ein Großteil der in Deutschland benötigten energeti-schen und nichtmetallischen mineralischen Rohstoffewird im Land gewonnen. Mengenmäßig sind Bausandeund -kiese mit etwa 239 Millionen Tonnen die wichtigs-ten mineralischen Rohstoffe, auf die knapp ein Drittelder heimischen Rohstoffproduktion entfällt. ÖkologischeHerausforderungen ergeben sich aufgrund der negati-ven Umweltwirkungen, durch Abbau und Verbrauch,und ihrer Endlichkeit. Die Entnahme von Rohstoffen be-einflusst die Umwelt negativ: unter anderem durch Ver-änderungen der Landschaft, Abholzung der Vegetationfür Tagebaue, Absenken der Grundwasserspiegel, dieBelastung des Grundwassers mit Metallen oder durchVersauerung sowie durch das Risiko von Bergschäden.Die von Rot-Grün eingeführten Marktanreizpro-gramme für ökologische Baustoffe wurden von dennachfolgenden Bundesregierungen leider nicht weiter-geführt. Die Absatzzahlen von Dämmstoffen auf Basisvon nachwachsenden Rohstoffen konnten durch dieMarktanreizprogramme kurzfristig gesteigert werden.Die Laufzeit der Programme war zu kurz, um wesentli-che dauerhafte Preissenkungen der Produkte zu errei-chen. Diese konnten gegenüber den Produkten aus dersteuerbefreiten stofflichen Nutzung von Erdöl keine ge-steigerte Konkurrenzfähigkeit entwickeln, obwohl die imNeubau und der energetischen Gebäudesanierung übli-cherweise verwendeten Baustoffe hinsichtlich Energie-verbrauch, CO2-Emissionen, Haltbarkeit, Schadstoff-freiheit und Recyclingfähigkeit vielfach mangelhaft sind.Obwohl die konventionellen organisch-synthetischenDämmstoffe über die Steuerbefreiung für die stofflicheNutzung von Erdöl bereits einen Marktvorteil haben,sind ökologisch nachhaltige Baustoffe in der Fördersys-tematik der KfW mit Dämmstoffen auf petrochemischerBasis gleichgestellt.Unter anderem wegen dieses Marktvorteils und dendaraus resultierenden niedrigen Preisen der petroche-mischen Materialien werden Dämmstoffe aus ökolo-gisch nachhaltigen Materialien weniger verbaut.Schaut man auf die Zahlen der CO2-Gebäudesanie-rungsprogramme der KfW, so sieht man: Es wurden seit2006 der Neubau und die energetische Sanierung von2,4 Millionen Wohnungen finanziert. Über diese Förder-mittel wurden Investitionen mit einem Volumen von74 Milliarden Euro angestoßen, circa 4,6 Millionen Ton-nen CO2 eingespart und 320 000 Arbeitsplätze geschaf-fen oder gesichert. Für die Verwendung ökologischerBaustoffe gäbe es bei Betrachtung dieser Zahlen somitein erhebliches Potenzial.Die Bundesregierung sollte daher erwägen, die Sub-ventionierung petrochemischer Kunststoffe und CO2-in-tensiver Baustoffe abzubauen und die Steuerbefreiungfür die stoffliche Nutzung von Erdöl abschaffen. DieSteuerbefreiung für die stoffliche Nutzung von Erdölstellt eine Marktverzerrung zugunsten umwelt- und kli-maschädlicher sowie energieaufwendiger Produkte dar.Die steuerliche Gleichstellung würde einen deutlichenökonomischen Anreiz zur Nutzung nachwachsenderRohstoffe setzen.Die Energie- und Stromsteuersubventionen sollten fürdie energieintensive Herstellung von Baustoffen wie Ze-ment und Keramik nur gewährt werden, wenn die Pro-duktion sonst nachweislich von der Verlegung ins weni-ger stark regulierte Ausland bedroht wäre und keinegleichwertigen Alternativbaustoffe mit besserer Um-weltbilanz bereitstehen.Auch ist es überlegenswert, das Bergrecht grundle-gend zu reformieren. In Deutschland kann nach dem gel-tenden Bergrecht eine Förderabgabe von 10 Prozentoder mehr des Rohstoffwertes auf sogenannte bergfreieBodenschätze von den Ländern erhoben werden. Aller-dings ist die derzeitige Aufteilung in bergfreie undgrundeigene Bodenschätze und damit die Aufteilung, fürwelche Bodenschätze Förderabgaben grundsätzlich zuzahlen sind oder nicht, willkürlich. Darüber hinaus gibtes zahlreiche Ausnahmeregelungen, sodass in der Regelüberhaupt keine Förderabgabe gezahlt wird.Diese Regelung ist – wie auch weite Teile des übrigendeutschen Bergrechts – nicht mehr zeitgemäß. Bis heutestehen hier völlig einseitig die Interessen der Bergbau-treibenden im Vordergrund, nicht die Schonung von Res-sourcen. Wir wollen das Bergrecht umfassend reformie-ren.Die Zahlung einer Förderangabe muss der Regel-und darf nicht der Ausnahmefall in Deutschland sein.Wir wollen daher eine Förderabgabe in Höhe von min-destens 10 Prozent konsequent auch auf nicht erneuer-bare Baustoffe wie Kies und Sand erheben. Dies ist ge-rechtfertigt, da beim Rohstoffabbau in der Regel inerheblichem Umfang Gemeingüter in Anspruch genom-men werden. Jedenfalls sind die bestehenden Förderab-gaben nicht ausreichend, und die vielen Ausnahmen ma-chen diese ineffizient. Die konsequente Erhebung einerFörderabgabe schafft Anreize für Ressourceneffizienz,gerade bei dem bisher nicht erfassten Abbau von Mas-senrohstoffen der Bauindustrie wie Kies, Sand und Ge-steinen. Die Verpflichtung zur Zahlung wollen wir aufalle hierzulande geförderten Bodenschätze ausdehnen.Sie sollte nur in begründeten Ausnahmefällen und zeit-lich eng befristet erlassen werden und weiterhin denLändern zugutekommen.Wir wollen Unternehmen, die nachweislich besondersenergieintensiv sind und in intensivem internationalenWettbewerb stehen, weiterhin Erleichterungen bei denEnergiesteuern oder bei den Umlagen für erneuerbareEnergien gewähren, um eine CO2-bedingte VerlagerungZu Protokoll gegebene Reden
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23968 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Daniela Wagner
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von Unternehmen zu vermeiden. Allerdings müssen dieseSubventionen zukünftig an den im Einzelfall nachgewie-senen Härten bemessen und an konkrete Effizienzver-pflichtungen geknüpft werden, damit nicht Verschwen-dung und technologischer Stillstand subventioniertwerden.Der Einsatz ökologischer Baustoffe sollte im Neubauund bei energetische Sanierung stärker gefördert unddaher ein Modellprogramm für ökologische Baustoffeinitiiert werden.Hinsichtlich der Standards für Baustoffe sollten dieseum den Energieverbrauchs ergänzt werden und den ge-samten Lebenszyklus der Baustoffe, inklusive des Ener-gieverbrauchs bei Herstellung, Betrieb und Entsorgungberücksichtigen.Die Energieausweise für Gebäude müssen dringendum eine Nachhaltigkeitsbewertung mit Lebenszyklusbe-trachtung der Gebäude erweitert werden.Auch dürfen ökologische Baustoffe nicht länger inden Bauordnungen des Bundes und der Länder diskrimi-niert werden, wie etwa in den Brandschutzkategorien.Sehr sinnvoll wäre es, die Programme der KfW fürNeubau und Sanierung stärker auf den Einsatz ökologi-scher Baumaterialien auszurichten; denn viele der imNeubau und der energetischen Gebäudesanierung her-kömmlich verwendeten Baustoffe erfüllen nur mangel-haft Anforderungen an das Nachhaltigkeitsprinzip hin-sichtlich ihrer Haltbarkeit, Schadstofffreiheit undRecyclingfähigkeit.Die Grundlagenforschung in diesem Bereich der öko-logischen Baustoffe und Bauweisen, beispielweise einForschungsprogramm „Bauen mit Holz“, muss daherdringend intensiviert werden.Zum Instrumentarium einer nachhaltigen Ressour-cenpolitik gehören auch Ressourcensteuerabgaben. Ne-gative gesellschaftliche Umweltauswirkungen, die durchden Abbau von Rohstoffen entstehen, können durch Steu-ern und Abgaben internalisiert werden. Nötig ist des-halb ein Forschungsprogramm, das konkrete Möglich-keiten in den Einstieg der Rohstoffbesteuerung aufzeigt.Die Diskriminierung ökologischer Baustoffe in Deutsch-land muss endlich ein Ende haben.E
Das Gesetz dient der Anpassung des Bundesrechts
an die Verordnung Nr. 305/2011 des Europäi-
schen Parlaments und des Rates vom 9. März 2011 zur
Festlegung harmonisierter Bedingungen für die Ver-
marktung von Bauprodukten und zur Aufhebung der
Richtlinie 89/106/EWG des Rates, ABl. L 88 vom
4. April 2011, S. 5 EU-Bauproduktenverordnung. Die
EU-Bauproduktenverordnung sieht einen neuen Rechts-
rahmen für die Vermarktung und CE-Kennzeichnung
von Bauprodukten vor und löst zum 1. Juli 2013 die bis-
her geltende Bauproduktenrichtlinie 89/106/EWG ab.
Zur Anpassung des Bundesrechts ist es erforderlich, Re-
gelungen zur Durchführung der EU-Bauproduktenver-
ordnung im Bauproduktengesetz zu treffen, die Vor-
schriften aufzuheben, die zurzeit der Umsetzung der
Bauproduktenrichtlinie dienen, sowie Folgeänderungen
im übrigen Bundesrecht vorzunehmen.
Das Gesetz zur Anpassung des Bauproduktengesetzes
und weiterer Rechtsvorschriften an die Verordnung
Nr. 305/2011 zur Festlegung harmonisierter Bedingun-
gen für die Vermarktung von Bauprodukten, BauPG-An-
passungsgesetz, regelt Folgendes: die Einsetzung des
Deutschen Instituts für Bautechnik, DIBt, als technische
Bewertungsstelle für Bauprodukte, analog den Zulas-
sungen nach Landesrecht; die Einsetzung des DIBt als
notifizierende Behörde für „unabhängige Drittstellen“
– diese erteilt etwa Prüflaboratorien die Befugnis, im
Rahmen der EU-Bauproduktenverordnung tätig zu wer-
den –; die Verpflichtung zur Akkreditierung für unab-
hängige Drittstellen bei der Deutschen Akkreditierungs-
stelle, DAkkS – diese bescheinigt die technische
Kompetenz der Drittstellen –; ergänzende Ausführungs-
regelungen zur Marktüberwachung sowie Bußgeld-/
Straftatbestände.
Der Gesetzentwurf ist zur Durchführung von EU-
Recht notwendig und ausreichend. Die Art. 1 und 2 des
Gesetzes enthalten die notwendigen Durchführungsre-
gelungen zur EU-Bauproduktenverordnung. Sie umfas-
sen im Wesentlichen Zuständigkeitsbestimmungen, er-
gänzende Verfahrensbestimmungen sowie Bußgeld- und
Straftatbestände.
Die weiteren Artikel enthalten Folgeänderungen des
Erlasses der EU-Bauproduktenverordnung im übrigen
Bundesrecht. Der gespaltenen Inkrafttretensregelung
des Art. 68 der EU-Bauproduktenverordnung folgend
tritt Art. 1 sofort in Kraft; die übrigen Artikel treten zum
1. Juli 2013 in Kraft.
Für Bund, Länder und Gemeinden ergeben sich keine
Haushaltsausgaben ohne Vollzugsaufwand. Das Gesetz
verursacht keinen Erfüllungsaufwand für Bürgerinnen
und Bürger. Das Gesetz verursacht keinen Erfüllungs-
aufwand für die Wirtschaft. Das Gesetz verursacht kei-
nen Erfüllungsaufwand für die Verwaltung.
Weitere Kosten entstehen nicht. Es sind keine Auswir-
kungen auf die Einzelpreise für Bauprodukte und andere
Waren und Dienstleistungen zu erwarten. Auswirkungen
auf das Preisniveau, insbesondere auf das Verbraucher-
preisniveau, sind auszuschließen.
Ich bitte Sie, dem Gesetzentwurf der Bundesregierung
zuzustimmen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss fürVerkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seinerBeschlussempfehlung auf Drucksache 17/10874, denGesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache17/10310 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ichbitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschuss-fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzent-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23969
Vizepräsidentin Petra Pau
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wurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenom-men.Dritte Beratungund Schlussabstimmung.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim-men wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist einstimmigangenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten GabrieleFograscher, Wolfgang Gunkel, Michael Hartmann
, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPDEvaluierung der Auswirkungen des neuenWaffenrechts– Drucksache 17/10114 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss RechtsausschussWie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll genommen.
Der schreckliche Amoklauf vom 11. März 2009 inWinnenden war Anlass dafür, eine Änderung des Waffen-rechts vorzunehmen. Insbesondere die mangelhafte Si-cherung bei der Aufbewahrung von Waffen und Muni-tion hat dem Täter erst Zugang zu Waffen und Munitionermöglicht. In seinen Beratungen hat sich der DeutscheBundestag besonders mit dieser Problematik auseinan-dergesetzt. Dabei wurde deutlich, dass die Waffengesetz-gebung an mehreren Stellen verändert werden muss, ummehr Sicherheit zu erreichen. Ein Hauptaugenmerk lagunter anderem darauf, dass gerade Jugendlichen derZugang zu Waffen und Munition erschwert wird.Um die Wirksamkeit der Gesetzesänderungen zuüberprüfen, hat der Deutsche Bundestag in seiner227. Sitzung am 18. Juni 2009 zudem eine Entschlie-ßung angenommen, die die Bundesregierung auffordert,die getroffenen Regelungen zu evaluieren. Diese Forde-rung findet sich auch im Koalitionsvertrag der christ-lich-liberalen Koalition. Dabei sollte ein besonderesAugenmerk darauf gelegt werden, ob die Änderungenfür legale Waffenbesitzer eine zu hohe Belastung dar-stellen. Um dies zu bewerten, ist eine aussagekräftigeEvaluierung wichtig.Der vorliegende Antrag der SPD fordert die Bundes-regierung nun auf, diesen Evaluierungsbericht, der biszum Ende 2011 vorliegen sollte, endlich vorzulegen. DesWeiteren bittet die SPD die Ständige Konferenz der In-nenminister und Senatoren der Länder, IMK, endlich umFreigabe des Berichts der Expertengruppe EvaluierungWaffenrecht. Bedauerlicherweise liegt uns dieser Be-richt der Länder nicht vor. Die Länder haben mehrfacheiner Freigabe des Berichts widersprochen, zuletzt imRahmen einer Abfrage durch die Geschäftsstelle derIMK im September 2012. Zwischenzeitlich hat die Bun-desregierung dem Innenausschuss ihren Bericht zugelei-tet. Grundsätzlich muss festgehalten werden, dass nachArt. 83 Grundgesetz die Ausführung des WaffengesetzesAngelegenheit der Länder ist. Der Bund war insoferndarauf angewiesen, Erfahrungswerte von den 577 Waf-fenbehörden der Länder aufzugreifen und zu einem Be-richt zusammenzufügen.Vor dem Hintergrund, dass unsere derzeitige Struktursehr heterogen ist und auch die Zuständigkeitsbereicheder Mitarbeiter unterschiedlich gestaltet sind, stützt sichdie Bundesregierung in ihrem Bericht auf die Ergebnisseder Expertengruppe Waffenrecht der Länder. Die Län-derexpertengruppe hat einen Fragenkatalog erarbeitet,der von 15 Prozent der Waffenbehörden anonymisiert zubeantworten war. Unter Einbeziehung der Erfahrungenvon Flächenländern ebenso wie Stadtstaaten sollte soein repräsentatives Bild gezeichnet werden. Insgesamtwurden also 86 Behörden über ihre Erfahrungen mit denwaffenrechtlichen Änderungen von 2009 im Zeitraumvom 1. Januar 2010 bis zum 31. Dezember 2010 befragt.Aufgrund des Fragenkatalogs der Expertengruppe Waf-fenrecht kommt die Bundesregierung zu der Bewertung,dass die Waffenrechtänderungen von 2009 zur Verbesse-rung der Sicherheit beitragen und sie damit das Ziel, Ju-gendlichen und unberechtigten Personen den Zugang zuWaffen und Munition zu erschweren, erreicht hat. DasDatenmaterial, auf dem die Auswertung der waffen-rechtlichen Änderungen im Einzelnen basiert, kann mei-ner Ansicht nach nur Hinweise zur Wirksamkeit geben.Dies ist unter anderem dem Umstand geschuldet, dassdie Waffenbehörden der Länder nicht verpflichtet sind,Statistiken zu führen und somit keine einheitlich struktu-rierten Daten zur Auswertung vorliegen. Abgesehen da-von ist vonseiten der Bundesregierung aber auch keineweitere umfassende Abfrage hinsichtlich der Wirksam-keit der jüngsten Änderungen des Waffengesetzes er-folgt. Dies wäre wünschenswert gewesen.Im Hinblick auf einheitliche Struktur und Datenlagewird die Einführung des Nationalen Waffenregisters, daswir in diesem Jahr auf den Weg gebracht haben, einedeutliche Verbesserung bringen. Die bisher in unter-schiedlicher Form gesammelten Informationen überWaffenbesitz der lokalen Waffenbehörden werden nunaktualisiert und in ein computergestütztes System über-führt. Darüber hinaus werden jetzt in ganz Deutschlanderstmals einheitliche Standards festgelegt, welche Infor-mationen im Zusammenhang mit Waffenbesitz im Einzel-nen festgehalten werden müssen. Eine aktuelle undbelastbare Datengrundlage ist nicht nur ein Sicherheits-gewinn für Polizei und Strafverfolgungsbehörden. Siedient auch einer sachlichen Debatte um das Thema Waf-fenrecht.Ein wesentlicher Teil der Gesetzesänderungen von2009 bezieht sich auf die Kontrolle der sicheren Aufbe-wahrung von Waffen und Munition sowie die Überprü-fung der waffenrechtlichen Bedürfnisse. Die Umsetzungder verdachtsunabhängigen Kontrollen nach § 36 Abs. 5WaffG hat im Vorfeld große Diskussionen unter den Waf-fenbesitzern hervorgerufen. Die Ordnungsämter habennun die Möglichkeit, in Vor-Ort-Kontrollen die Einhal-tung der Aufbewahrungsvorschriften bei Besitzern von
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23970 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Günter Lach
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Schusswaffen stichprobenartig ohne vorherige Ankündi-gung zu überprüfen. Im Berichtszeitraum haben die Waf-fenbehörden der Länder in 8 554 Fällen die Möglichkeitder verdachtsunabhängigen Kontrolle genutzt.Erfreulicherweise ist festzuhalten, dass die Beanstan-dungsquote bei Jägern und Schützen nur bei 14 Prozentlag. Dies zeigt deutlich, dass Vereine und Verbände einegute Aufklärungsarbeit leisten. Die Beanstandungsquotebei Altbesitzern lag allerdings bei fast 100 Prozent. EinGroßteil der Beanstandungen konnte kurzfristig behobenwerden, und nur 12 Prozent der Beanstandungen führtenzu 236 Widerrufsverfahren.Mit § 36 Abs. 3 Satz 1 WaffG hat der Waffenbesitzernun eine „Bringschuld“ und muss gegenüber der Waf-fenbehörde die sichere Aufbewahrung nachweisen. Ausdem Bericht geht hervor, dass dieser Nachweis von Jä-gern und Sportschützen durchweg erbracht wurde. Da-gegen konnten Erben und Altbesitzer eine sichere Aufbe-wahrung häufig nicht nachweisen und entschieden sichdafür, entsprechende Waffen an die Behörden abzuge-ben.Nach der Regelung des § 52 a WaffG ist ein Verstoßgegen die Aufbewahrungsvorschriften nun nicht mehrwie bisher nur bußgeldbewehrt. Ein vorsätzlicher Ver-stoß steht unter Strafe, wenn konkrete Gefahr des Ab-handenkommens bzw. der Zugriff Dritter entsteht.Hierzu ist der Bericht meiner Ansicht nach nicht aussa-gekräftig genug, da kaum Erfahrungen mit dem Vollzuggemacht wurden.Grundsätzlich teile ich die Einschätzung, dass dieBeibehaltung eines Strafmaßes bei besonders schwer-wiegenden Verstößen gegen die waffenrechtlichen Auf-bewahrungsvorschriften sinnvoll ist. Eine genaue Über-prüfung der Vorschrift ist aber erst möglich, wennkonkretere Erfahrungswerte vorliegen.Insgesamt sehe ich klare Hinweise darauf, dass mitNachweispflicht und verdachtsunabhängigen Kontrollendas Ziel erreicht wurde, die Sicherheit bei Aufbewah-rung von Waffen und Munition wesentlich zu verbessern.Die Inhaber waffenrechtlicher Erlaubnisse haben jeder-zeit für eine sichere Aufbewahrung von Waffen und Mu-nition Sorge zu tragen.In Bezug auf die 2009 in § 4 Abs. 4 Satz 3 WaffG ge-troffene Möglichkeit, auch nach der bisher vorgeschrie-benen einmaligen Regelüberprüfung das waffenrechtli-che Bedürfnis fortlaufend überprüfen zu können, kommtder Bericht zu einem positiven Ergebnis. Von den be-fragten Waffenbehörden wurde diese Möglichkeit der er-neuten Überprüfung befürwortet und auch durchge-führt. In den meisten Fällen geschah dies anlassbezogenzum Beispiel aufgrund von Information von Schießsport-vereinen oder bei Zuzug. Außerdem erfolgte die Bedürf-nisprüfung häufig im Zuge von Kontrollen der sicherenAufbewahrung von Waffen und Munition. Bei knapp4 Prozent der Fälle wurde ein Widerrufsverfahren ge-mäß § 45 Abs. 2 WaffG eingeleitet, und in Einzelfällenhaben Waffenbesitzer ihre Waffen freiwillig an Behördenabgegeben.Zu den waffenrechtlichen Änderungen von 2009 ge-hört auch, dass der Waffenerwerb durch Sportschützenüber das sogenannte Grundkontingent hinaus stärkervon waffenrechtlichen und sportlichen Bedürfnissen ab-hängig ist. Der Bericht sieht hierin eine Unterstützungder Arbeit von Waffenbehörden und ehrenamtlich Ver-antwortlichen in den Schießsportverbänden, da so nurnachgewiesen aktive Sportschützen in der Ausübung ih-res Sports gefördert werden.Die Anhebung der Altersgrenze von 14 auf 18 Jahre– § 27 Abs. 3 WaffG – für das Schießen mit sogenanntengroßkalibrigen Waffen im Schießsportverein war einerichtige Entscheidung. Nur zur Nachwuchsgewinnungund Förderung des Leistungssports sind Ausnahmen zu-gelassen.Sehr positiv wird die Verpflichtung der Meldebehör-den in § 44 Abs. 2 WaffG aufgenommen, auch den Zuzugvon Waffenbesitzern an die Waffenbehörden zu melden.Diese Regelung verbessert die Informationslage derWaffenbehörden wesentlich und gewährleistet eineschnellere Bearbeitung und Aktualisierung der Waffen-akten.Aus dem Bericht der Bundesregierung geht außerdemhervor, dass auch die Möglichkeit der Vernichtung ein-gezogener Waffen mit Änderung des § 46 Abs. 5 Satz 1WaffG positiv bewertet wird. Nach den vorliegenden An-gaben machten 92 Prozent der Waffenbehörden von derMöglichkeit Gebrauch, sichergestellte und eingezogeneWaffen zu vernichten. Damit können diese Waffen end-gültig vom Markt genommen werden.Nicht zuletzt durch den Erfolg der befristeten Amnes-tieregelung kommt die Bundesregierung zu dem Schluss,dass die in 2009 getroffenen Änderungen des Waffenge-setzes die Erwartungen erfüllt haben. Insgesamt wurdenbis zum 31. Dezember 2009 circa 200 000 Waffen abge-geben.Als Gesetzgeber ist es das Bestreben des DeutschenBundestages in seiner Gesetzgebung zum Waffenrechteinen Ausgleich zwischen dem berechtigten Sicherheits-bedürfnis der Bevölkerung einerseits und den Interessenvon rechtmäßigen Waffenbesitzern wie Sportschützen,Jägern und Sammlern andererseits zu schaffen. Insbe-sondere vor dem Hintergrund der letzten waffenrechtli-chen Änderungen von 2009 ist es daher von großem In-teresse für den Deutschen Bundestag, die Auswirkungender Änderungen überprüfen zu können. Nur aufgrund ei-ner fundierten Information und Datenlage können Aus-sagen über die Wirksamkeit der Regelungen getroffenwerden.Die Ergebnisse des vorgelegten Berichts der Bundes-regierung sind leider nicht so aussagekräftig, wie ich esmir als Innenpolitiker wünschen würde. Hier möchte ichdie Anregung an das Bundesministerium des Innern wei-tergeben, eine weitere Ergänzung des Berichts vorzu-nehmen.Es bleibt außerdem festzuhalten, dass bestehendeFragen und Unklarheiten zur Umsetzung einiger Rege-lungen erst mit der am 23. März 2012 in Kraft getrete-nen Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Waffenge-Zu Protokoll gegebene Reden
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Günter Lach
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setz, WaffVwV, ausgeräumt wurden. Inwieweit das einenEinfluss auf die Praxis der Waffenbehörden vor Orthatte, geht aus diesem Bericht leider nicht hervor.Deutlich geworden ist, dass Sportschützen, Jäger undSammler überwiegend gut über die neuen Anforderun-gen an die Sicherheit bei der Aufbewahrung von Waffenund Munition informiert sind und sie weitestgehenderfüllt haben. Dies bestätigt auch meine persönlicheErfahrung in Gesprächen mit Waffenbesitzern.
Am 18. Juni 2009 hat der Deutsche Bundestag um-fangreiche Änderungen im Waffenrecht beschlossen. Ne-ben anderen Neuregelungen wurde die Nachweispflichtder sicheren Aufbewahrung für Waffenbesitzer ein-geführt und für die Waffenbehörden die Möglichkeit ge-schaffen, die sichere und ordnungsgemäße Aufbewah-rung der Waffen verdachtsunabhängig zu kontrollieren.Viele Waffenbesitzer haben diese Änderungen kritisiert,weil sie angeblich die legalen Waffenbesitzer unter ei-nen Generalverdacht stelle.Deshalb hat der Deutsche Bundestag bei der Verab-schiedung des Gesetzes eine Entschließung gefasst, ichzitiere: „Der Deutsche Bundestag fordert die Bundes-regierung auf, die Wirksamkeit der getroffenen Regelun-gen zur sicheren Aufbewahrung und zum Schutz vor un-berechtigtem Zugriff bis Ende 2011 zu evaluieren.“Doch bis Ende 2011 lag nichts, aber auch gar nichtsaus dem Bundesinnenministerium vor, was den Auftragdes Bundestages hätte erfüllen können.Am 11. Oktober 2012, also mehr als 9 Monate nachAblauf des Frist, erhalten wir ein Schreiben aus demBundesinnenministerium, das der geforderte Evaluie-rungsbericht sein soll. Doch dieser angebliche Evaluie-rungsbericht ist, gelinde gesagt, eine Unverschämtheit.Schon alleine in der Vorbemerkung zeigt das Bundes-innenministerium, was es von Aufträgen des DeutschenBundestages hält: „Der zwischen CDU, CSU und FDPfür die 17. Legislaturperiode vereinbarte Koalitionsver-trag greift diesen Auftrag auf und regelt, dass insbeson-dere darauf geachtet werden soll, ob es im praktischenVollzug der 2009 getroffenen Regelungen unzumutbareBelastungen für die Waffenbesitzer gegeben hat.“Es ist doch völlig unerheblich, was in dem Koalitions-vertrag von CDU, CSU und FDP steht. Wichtig ist, wasder Deutsche Bundestag von der Bundesregierungfordert. Das Parlament wollte eine Evaluierung der Auf-bewahrungsvorschriften und der Regelungen zumSchutz vor unberechtigtem Zugriff. Ob es unzumutbareBelastungen für die Waffenbesitzer gibt, war und istnicht Auftrag des Bundestages gewesen. Wenn Sie alsKoalitionsfraktionen das gerne wissen wollen, dann fra-gen Sie doch Ihren Minister.Wer sich von dem angeblichen Evaluierungsberichtneue Erkenntnisse über das neue Waffenrecht erhoffthat, wurde abermals enttäuscht: In der Ausschussdruck-sache heißt es dazu: „Da nicht zu erwarten war, dasseine erneute eigenständige Abfrage des Bundes bei denLändern zu weitergehenden Ergebnissen bzw. Erkennt-nissen geführt hätte, wurde nicht zuletzt auch im Hin-blick auf die begrenzten personellen Ressourcen sowohlbeim Bund als auch bei den Ländern darauf verzichtetund der von der IMK beschlossene Evaluierungsberichtzur Erledigung des Auftrages des Deutschen Bundesta-ges zugrunde gelegt.“Das ist eine Frechheit und eine Missachtung des Par-laments. Dieser angebliche Evaluierungsbericht ist alsoeine Zusammenfassung des Berichts der IMK, der demDeutschen Bundestag nicht zugänglich gemacht wird.Hinzu kommt, dass der IMK-Bericht auch die Ände-rungen des Waffenrechts von 2008 untersuchen sollte.Die Erkenntnisse wurden für den Zeitraum 1. Januar2010 bis 31. Dezember 2010 erhoben, also für einenZeitraum, in dem das im Juli 2009 geänderte Waffen-recht gerade erst in Kraft getreten war. Auch die All-gemeine Verwaltungsvorschrift zum Waffengesetz war indem Zeitraum noch nicht in Kraft.Erstaunlich ist auch, dass das Bundesinnenministe-rium fast ein Jahr gebraucht hat, um den IMK-Berichtzusammenzufassen und dem Bundestag vorzulegen.Es gab keine eigenständige Abfrage der Wirkungender Neuregelungen bei den Waffenbehörden durch dasBundesinnenministerium. Es gab keine Gespräche mitWaffenbesitzern und deren Verbänden durch das Bun-desinnenministerium. Es gab auch keine Erhebung desBundesinnenministerium, wie die verdachtsunabhängi-gen Kontrollen in den einzelnen Ländern durchgeführtwerden, welche Gebühren für diese Kontrollen denWaffenbesitzern angelastet werden. Nach meinen Infor-mationen sind die Gebühren für die Kontrollen teilweiseerheblich, unterscheiden sich aber massiv von Bundes-land zu Bundesland, ja sogar von Landkreis zu Land-kreis.Dabei steht in der Begründung zu den neuen waffen-rechtlichen Regelungen: „Die verdachtsunabhängigenKontrollen liegen im öffentlichen Interesse und des-wegen werden keine Gebühren erhoben.“ Wenn dasBundesinnenministerium eigene Erhebungen durch-geführt und den Auftrag des Bundestages ernst genom-men hätte, dann hätte so etwas auch in dem Evaluie-rungsbericht stehen müssen.Wenn Sie uns schon eine Zusammenfassung des IMK-Berichts als Ihren eigenen Evaluierungsbericht vorle-gen, müssen Sie uns eine Reihe von Fragen beantwor-ten: Wie ist der Bericht zustande gekommen? WelcheMethodik liegt ihm zugrunde? Führen die Länder Statis-tiken über die Kontrollen? Wird unterschieden zwischenangemeldeten und unangemeldeten Kontrollen? Wiekann man einen Bericht zusammenfassen und die Ergeb-nisse bewerten, wenn „keine einheitlich strukturiertenDaten für eine statistische Auswertung zur Verfügung
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– Drucksachen 17/10571, 17/10707 Nr. 2.2,
17/10817 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Maria Flachsbarth
Dirk Becker
Michael Kauch
Ralph Lenkert
Hans-Josef Fell
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir
die Reden zu Protokoll.
Am 30. Juni 2011, also gerade mal vor einem Jahr,hat der Deutsche Bundestag die Novelle des Erneuer-bare-Energien-Gesetzes beschlossen – das Herzstückder Energiewende. Mit dem Ziel, den Anteil erneuerba-rer Energieträger am Bruttostromverbrauch bis 2022auf 80 Prozent gegenüber heute etwa zu verdreifachen,müssen auch die Anforderungen an die Rahmenbedin-gungen für diese Entwicklungen angepasst werden. Ausdiesem Grund war die schrittweise Integration regene-rativer Erzeuger in den Energiemarkt – neben der kos-teneffizienten Ausgestaltung der Förderung und derFortsetzung bewährter Grundprinzipien – schon vor ei-nem Jahr ein zentraler Bestandteil der Novelle. Auch imEnergiekonzept der Bundesregierung vom September2010 wird das Ziel „die Einspeisung effizienter gestal-ten“ bereits deutlich herausgestellt. Ich zitiere: „... eineschrittweise, aber zügige Heranführung an den Marktund damit eine stärker bedarfsgerechte Erzeugung undNutzung der erneuerbaren Energien. Künftig soll dasEEG stärker am Markt orientiert werden und der wei-tere Ausbau der erneuerbaren Energien in stärkeremMaße marktgetrieben erfolgen.“Dieses Kernelement – die Markt- und Systemintegra-tion – hat die Weiterentwicklung des Gesetzes aus demvergangenen Jahr übrigens mit nahezu allen Vorschlä-gen über die zukünftige Ausgestaltung des Strommarktsgemein, die heute auf dem Tisch liegen.Damit will ich sagen: Wir wissen alle, dass das EEGdurch den zunehmenden Anteil regenerativer Erzeuger– die erneuerbaren Energien sind keine Nischenpro-dukte mehr – an seine Grenzen stößt. Aus diesem Grundbeschäftigten sich die Bundesregierung, aber auch dieUnionsfraktion im Deutschen Bundestag seit Jahren mitmarktorientierten Förderwerkzeugen innerhalb des be-stehenden Gesetzes.Bereits heute liegt der Anteil der Erneuerbaren an derBruttostromerzeugung bei 25 Prozent, und bei diesemAnteil gewinnt die Optimierung des Zusammenspiels al-ler Marktakteure – der Erneuerbaren, der Konventionel-len, aber auch von Speichern und Stromverbrauchern –immer weiter an Bedeutung.Ich möchte in diesem Zusammenhang noch mal aus-drücklich darauf hinweisen, dass die CDU/CSU-Frak-tion im Deutschen Bundestag nicht erst seit der Novelledes EEG im Jahr 2009 auf die Bedeutung der Marktinte-gration hinweist. So fand der Beginn der Marktintegra-tion Erneuerbarer Anfang 2010 statt; seitdem wirdStrom, der in EEG-Anlagen erzeugt wird, durch dieÜbertragungsnetzbetreiber am Day-ahead-Markt der
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Dr. Maria Flachsbarth
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Leipziger Strombörse transparent vermarktet. Strom ausErneuerbaren leistet erstmals einen aktiven Beitrag zurGrundfunktion des Marktes, dem Prinzip von Angebotund Nachfrage, und beeinflusst seitdem aktiv die Preis-bildung.Das zweite Instrument, die Einführung eines Prämien-modells, um eine marktorientierte Produktion erneuer-barer Energien anzureizen und diese schrittweise an denMarkt heranzuführen, war ursprünglich ebenfalls imRahmen der 2009er-Novelle angedacht. Gegen vehe-mente Intervention des damaligen Koalitionspartners istdas Instrument jedoch bedauerlicherweise im parlamen-tarischen Beratungsverfahren gescheitert und erst vierJahre später, auf erneute Initiative der CDU/CSU-Bun-destagsfraktion, zum 1. Januar 2012 in Kraft getreten.Die Einführung der Marktprämie stellt bis heute einenParadigmenwechsel bei den erneuerbaren Energien dar.Es war ein weiterer wichtiger Schritt in die richtigeRichtung und hat Anlagebetreibern zum ersten Mal dieMöglichkeit eröffnet, sich optional selbstständig imMarkt zu versuchen oder aber Dritte mit dieser Aufgabezu beauftragen.Die Anzahl der EE-Anlagen, die in diesem Jahr in dieDirektvermarktung gewechselt sind, hat uns letztendlichrecht gegeben; unsere Erwartungen wurden bei weitemübertroffen und somit im Oktober 2012 fast 27 Gigawattüber das Marktprämienmodell vermarktet – das ent-spricht der Hälfte der installierten Leistung erneuerba-rer Energien in Deutschland. Und auch für die Zukunftwird ein breiter Zulauf erwartet; die Übertragungsnetz-betreiber haben in ihrer Annahme zur EEG-Umlage2013 prognostiziert, dass der Anteil der Anlagen in derMarktprämie auf bis zu 36 Gigawatt ansteigen könnte.Bereits heute lassen sich die ersten positiven Effektedieser Marktorientierung feststellen: Dies betrifft in ers-ter Linie die zunehmende Flexibilität des Gesamtsystemsund die damit zusammenhängenden sinkenden System-kosten. Zum Beispiel konnte durch den Auf- und Ausbaueiner umfassenden Infrastruktur, von Kommunikations-und Steuerungssystemen die Prognosegüte bei derStromerzeugung deutlich verbessert werden. Wie sichein zukünftiger Strommarkt immer auch gestalten wird –hierbei handelt es sich um eine sinnvolle Investition indie Zukunft.Dieser Nutzen findet sich auch in der finanziellen Be-trachtung wieder. Bereits im ersten Jahr hat die Einfüh-rung der Marktprämie zu einer Reduzierung negativerStrompreise am Spotmarkt geführt und die EEG-Umlagedadurch signifikant entlastet. Diese Entlastung liegt da-rin begründet, dass die Marktprämie – im Gegensatz zurEinspeisevergütung – einen Anreiz schafft, Windenergie-anlagen abzuregeln, wenn keine Nachfrage besteht.Dieser unerwartete Erfolg hat unzweifelhaft auchAuswirkungen auf die Kosten der Marktprämie. Die pro-gnostizierten 200 Millionen Euro Mehrkosten, die fürdas Einführungsjahr der Marktprämie – maßgeblichdurch die Vergütung der Kosten für den Ausgleich vonPrognoseabweichungen sowie die Kosten für den Han-delszugang veranschlagt wurden, werden aufgrund derregen Teilnahme bereits deutlich überschritten. Aller-dings haben die Gutachter im vergangenen Jahr einenRückgang der Kosten für das Folgejahr prognostiziert –dieser Beweis ist in den kommenden Jahren noch zu füh-ren.Obwohl oder gerade weil die Marktprämie solch einErfolgsmodell ist, ist es notwendig, die Prämie nachhal-tig an die Entwicklung des Marktes anzupassen: DieManagementprämie für fluktuierende erneuerbare Er-zeuger, und nur um diese geht es in dieser Verordnung,wäre zum 1. Januar 2013 von heute 1,2 Cent pro Kilo-wattstunde auf 1 Cent pro Kilowattstunde gesunken. Al-lerdings war bereits im Laufe dieses Jahres absehbar,dass sich die Grundlage für die Berechnung der Ma-nagementprämie verändert. Es war von Beginn an da-von auszugehen, dass die Einführung eines neuen unbe-kannten Instruments anfangs höhere Kosten als imderzeitigen System verursachen dürfte und schon kurz-fristig mit einem deutlichen Lerneffekt zu rechnen ist.Auch aus diesem Grund hat der Deutsche Bundestag imvergangenen Sommer eine Verordnungsermächtigunginnerhalb des EEG beschlossen, um die Marktprämiekurzfristig und kosteneffizient an die Marktentwicklun-gen anzupassen.Auf Basis neuer wissenschaftlicher Untersuchungen,die gezeigt haben, dass sich die Höhe der Management-prämie für volatile Erzeuger mittlerweile deutlich überden wirtschaftlich abzudeckenden Kosten befindet, wirddie Höhe der Managementprämie im Rahmen der Ma-nagementprämienverordnung über die im EEG festge-legte Degression zum Ende des Jahres angepasst. DieseErkenntnisse wurden darüber hinaus durch die Erfah-rungen der Übertragungsnetzbetreiber bestätigt, diediese über Jahre bei der Vermarktung des EEG-Stromsmachen konnten. Das führt letztlich dazu, dass die Ma-nagementprämie für das Jahr 2013 bei nicht fernsteuer-baren Anlagen um 0,35 Cent pro Kilowattstunde abge-senkt wird.Eine weitere Anpassung, die im Rahmen der Manage-mentprämienverordnung zu einer effizienteren Integra-tion fluktuierender Erneuerbarer in den Markt führensoll, ist die Kopplung einer erhöhten Managementprä-mie an die Fernsteuerbarkeit der Anlagen. Die Manage-mentprämie wird hierfür um 0,1 Cent pro Kilowatt-stunde gegenüber nicht fernsteuerbaren Anlagenerhöht; somit fällt die Degression der Managementprä-mie bei fernsteuerbaren Anlagen mit 0,25 Cent pro Kilo-wattstunde etwas niedriger aus. Diese Regelung solldazu führen, den – bisher schleppend vorangehenden –Integrationsprozess fernsteuerbarer Wind- und Solaran-lagen im folgenden Jahr signifikant zu beschleunigenund einen Anreiz zu schaffen, um die Einrichtung vonFernsteuerungstechnologien im Sinne der Systemsicher-heit weiter zu etablieren und die bedarfsorientierte Be-reitstellung von Strom zu verbessern.Vor diesem Hintergrund wird die Absenkung der Ma-nagementprämie eine geringere Gewinnmarge für dieDirektvermarktung von Strom aus Windenergie und so-larer Strahlungsenergie zur Folge haben. Grundsätzlich– und das ist auch die Rückmeldung aus der Branche –bleibt jedoch der Anreiz zum Wechsel in die Direktver-Zu Protokoll gegebene Reden
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Dr. Maria Flachsbarth
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marktung erhalten und bietet bei entsprechendem Anla-genbetrieb auch zukünftig die Aussicht auf angemessenewirtschaftliche Mehrerlöse.Dem ist noch hinzuzufügen, dass in der Verordnungauch für die Zeit ab 2014 die Höhe der Managementprä-mie für nicht fernsteuerbare Anlagen und eine stetigeVerstärkung der zusätzlichen Anreizwirkung für fern-steuerbare Anlagen geregelt ist.Das Ziel der Managementprämienverordnung ist es,die Direktvermarktung der erneuerbaren Energien zu-nehmend stärker an den Markt heranzuführen und dieKosteneffizienz der Stromversorgung insgesamt zu ver-bessern; die EEG-Umlage wird durch die Neuregelungim Jahr 2013 um die Größenordnung von 200 MillionenEuro entlastet und leistet infolgedessen einen Beitrag zuden Bestrebungen der Bundesregierung, die Kosten derEnergiewende in einem angemessenen Rahmen zu hal-ten.Die Entwicklung der Direktvermarktung wird weiter-hin regelmäßig evaluiert, und die Entwicklung der tat-sächlichen Kosten als auch der unmittelbare Nutzen derDirektvermarktung, insbesondere in Bezug auf dieMarktintegration, werden analysiert.Ich bitte daher um Zustimmung zur vorliegenden Ver-ordnung.
Ich halte die Degression der Managementprämie für
richtig. Sie allein reicht jedoch nicht aus, um die erneu-
erbaren Energien marktfähig zu machen.
Die Direktvermarktung von Eigenstrom ist ein wichti-
ger Schritt in Richtung Marktanpassung. Wichtig ist
hierzu, dass die Angebote der vielen Kleinerzeuger zu-
sammengeführt und daraus verlässliche Komplettpakete
geschnürt werden.
Die Bevölkerung in Deutschland greift die Chancen
der Energiewende aktiv auf: Seit 2005 haben sich über
80 000 Bürger in rund 600 Energiegenossenschaften zu-
sammengetan. Darüber hinaus gibt es weitere Formen
des genossenschaftlichen Engagements. Ihnen allen ist
gemein, dass sie die Energiewende dezentral gestalten
und die Wertschöpfung in der jeweiligen Region halten.
Das Einkommen aus der Energieproduktion fließt nicht
mehr in anonyme Aktienpakete oder ins Ausland, son-
dern kommt Landwirten, Hausbesitzern, Handwerkern
und vielen Privatleuten zugute, die sich an Windrädern
und Solaranlagen beteiligen oder diese vor Ort installie-
ren und warten. Das ermöglicht breite Eigentumsstreu-
ung im Energiebereich und stärkt so die Mittelschichten
der Gesellschaft.
Das aktuelle Zusammentreffen neuer Informations-
technologien mit erneuerbaren Energien führt zu einem
Entwicklungsschub, der die Grundlagen unseres Lebens
in Richtung Dezentralität und Kleinteiligkeit verändert.
Dies fördert langfristig ein verlässliches Stromangebot –
wir sind weder vom Funktionieren einer Handvoll Groß-
kraftwerke abhängig, noch sind wir steigenden Rohstoff-
kosten oder Unsicherheiten beim Import ausgeliefert.
Der Import macht derzeit noch 70 Prozent der Energie-
kosten aus. Mit erneuerbaren Energien können wir
flexibel und selbstbestimmt auf Angebot und Nachfrage
reagieren.
Dabei spielt auch Biomasse eine wichtige Rolle – sie
kann kurzfristig an den Verbrauch angepasst werden
und helfen, Lücken in der Stromproduktion durch Wind
und Sonne zu überbrücken. Eine Zusammenführung der
Kleinerzeuger mit bedarfsgerechten Komplettangeboten
stabilisiert den Markt und entlastet die EEG-Umlage.
Derzeit wird von den Möglichkeiten der Direktvermark-
tung noch nicht ausreichend Gebrauch gemacht. Die
Managementprämie ist strukturell zu sehr auf die alten
Stromversorger hin orientiert.
Gut ist an ihr, dass die Fernsteuerbarkeit von Anla-
gen verbessert wird. In einem virtuellen Kraftwerk, also
einem Verbund verschiedener Kleinerzeuger, trägt die
Fernsteuerbarkeit zur bedarfsgerechten Einspeisung
der erneuerbaren Energien und zur Entlastung der
EEG-Umlage bei. Unumstößlich für das Gelingen der
Energiewende ist und bleibt bei allen diesen Markt-
mechanismen der Einspeisevorrang der erneuerbaren
Energien.
Viele Ökostromhändler haben in eine langfristig an-
gelegte Direktvermarktung investiert und sind bereit,
sich weiterzuentwickeln. Jörg Müller, Vorstandschef
von ENERTRAG, erklärt: „Mit einem novellierten
Grünstromprivileg könnten wir die Stromkunden preis-
werter mit sauberer Energie beliefern.“ Diesem Zitat
schließe ich mich an.
An diesem Montag konnte man schwarz auf weiß le-sen, was zuvor viele befürchtet hatten: Die Übertra-gungsnetzbetreiber gaben an, dass die sogenannte EEG-Umlage im nächsten Jahr 5,277 Cent pro Kilowatt-stunde betragen wird. Dies entspricht einer Erhöhungum rund 50 Prozent, nachdem die EEG-Umlage in die-sem Jahr noch 3,59 Cent pro Kilowattstunde betragenhat. Verbraucherinnen und Verbraucher bezahlen diesenPreis pro verbrauchter Kilowattstunde, um Deutsch-lands Energieerzeugung fit für die Zukunft zu machen.Kritiker und Gegner der Energiewende sind kräftigam Werk, um Ängste seitens der Verbraucherinnen undVerbraucher vor steigenden Strompreisen zu schüren.Eines muss uns jedoch klar sein: Die Energiewende wirdes nicht zum Nulltarif geben. Der Umbau der Energiein-frastruktur und des Marktsystems mit dem Ziel, eineVollversorgung mit erneuerbaren Energien bis 2050 zuerreichen, wird zweifelsohne Geld kosten.Andererseits muss man sich darüber im Klaren sein,welche immens hohen Kosten auf uns zukommen wür-den, wenn wir in der Energiefrage untätig blieben. Dasfossile Öl und Gas aus Saudi-Arabien und Russland ge-hen zur Neige, die Brennstoffe müssen in den nächsten40 Jahren ersetzt werden. Die zentrale Frage, die wiruns stellen müssen, ist: Was hätte es gekostet, wenn dieEnergiewende nicht in Gang gesetzt worden wäre undalles beim Alten geblieben wäre? Eine Struktur desZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23977
Dr. Matthias Miersch
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Strommarkts mit wenigen, aber übermächtigen Strom-konzernen, ins Unermessliche steigende Öl- und Gas-preise, verpestete Luft und eine zerstörte Umwelt!Eine überwältigende Mehrheit der deutschen Bevöl-kerung will nach wie vor die Energiewende hin zu einemdezentralen Strommarkt, bezahlbarem Strom und einerVollversorgung mit sauberen, erneuerbaren Energien.Es gilt jetzt vor allem, die anfallenden Kosten so gerechtzu verteilen, dass die Herkulesaufgabe Energiewendenicht nur auf wenigen Schultern ruht, sondern alle glei-chermaßen mit in die Finanzierung eingebunden und so-ziale Härten abgefedert werden.Die Höhe der EEG-Umlage taugt dabei ganz und garnicht als Indikator für die Kosten der Energiewende, ob-wohl Kritiker uns dies weismachen wollen: Die Umla-geerhöhung geht am wenigsten auf die ansteigende För-derung für die erneuerbaren Energien zurück. Nur rundein Drittel des gesamten Anstiegs um rund 1,7 Cent be-trifft die zusätzlichen Förderkosten von Erneuerbare-Energien-Anlagen. Für den Rest sind vor allem die poli-tischen Fehlentscheidungen der schwarz-gelben Bun-desregierung im Zuge der Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes im Sommer 2011 verantwortlich.Bundeskanzlerin Angela Merkel und der damalige Um-weltminister Röttgen haben im letzten Jahr die Anhe-bung der EEG-Umlage aus politischen Gründen einfachaufgeschoben. Nichts sollte die NRW-Wahl für Röttgenbelasten. Dieser Schuss ging Gott sei Dank nach hintenlos, die Rechnung dafür müssen die Verbraucherinnenund Verbraucher aber nun im nächsten Jahr bezahlen.Zudem hat Schwarz-Gelb die Umlageentlastung von In-dustrieunternehmen enorm ausgeweitet. Ab 2013 profi-tieren dann statt circa 750 Unternehmen wie in diesemJahr mindestens 2 000 industrielle Abnehmer von denPrivilegien. Die Umlage wird somit auf weniger Schul-tern verteilt. Privathaushalte und kleine und mittelstän-dische Unternehmen müssen die Zeche dafür zahlen.Ein weiterer Punkt, der die EEG-Umlage unnötig be-lastet, ist das sogenannte Marktprämienmodell, das dieBundesregierung in der letzten EEG-Novelle gegen denWillen der SPD-Bundestagsfraktion beschlossen hat.Das Modell beinhaltet eine Marktprämie und eine Mana-gementprämie, die Anlagenbetreibern ausgezahlt wird,wenn sie ihren erzeugten Strom direkt – und nicht überden EEG-Mechanismus – verkaufen.Nun, noch nicht einmal ein Jahr nach der Einführungdieses Mechanismus, bestätigt sich die Kritik der SPD-Bundestagsfraktion am Marktprämienmodell voll undganz: Diese Form der Direktvermarktung fördert wederdie Markt- und Systemintegration erneuerbarer Energien,noch setzt sie ausreichend Anreize für eine bedarfsge-rechte Einspeisung und für Investitionen in Speicher-technologien. Zudem wurde weder die Prognosegüteverbessert, noch eröffneten sich neue Vermarktungs-wege für den wertvollen Grünstrom. Es zeigt sich, dassdie Marktprämie zwar hohe Kosten verursacht, die ge-wünschte Wirkung jedoch nicht erzielt hat. Zudemmachen Anlagenbetreiber, Direktvermarkter und diekonventionelle Energiewirtschaft durch hohe Mitnahme-effekte Kasse. Konventionelle Energieerzeuger kaufenbeispielsweise den billigen Grünstrom ein, anstatt mithöheren Kosten selbst Strom zu produzieren, und teilensich die Managementprämie mit den Anlagenbetreibern.So profitieren sie sogar doppelt.Kurzum: Die nun von der Bundesregierung vorgese-hene Absenkung der Managementprämie ist ein Symp-tom dafür, dass das Marktprämienmodell in seiner der-zeitigen Form gescheitert ist. Die Absenkung kann manzwar begrüßen, sie ändert aber nichts an der grundsätz-lichen Fehleinschätzung auch in dieser energiepoliti-schen Frage.Die Kosten, die die Managementprämie verursacht,sind Bestandteil der EEG-Umlage und werden von denStromendverbrauchern bezahlt. Angesichts der steigen-den Belastungen für Stromkunden sehen wir es als rich-tig an, die sinnlosen Überförderungen innerhalb derManagementprämie zu beseitigen, und stimmen daherder Verordnung zu ihrer Absenkung zu.Gleichzeitig kritisieren wir, dass die Bundesregierungim Zuge der letzten EEG-Novelle das bislang einzig ef-fektive Instrument zur Marktintegration erneuerbarerEnergien, das sogenannte Grünstromprivileg, durch un-gerechtfertigte Restriktionen faktisch beseitigt hat. An-ders als die Marktprämie wäre ein weiterentwickeltesGrünstromprivileg ein einfaches, unbürokratisches Sys-tem, das Märkte für Grünstrom schafft und Anreize zumbetriebswirtschaftlichen Planen bietet. Die Bundesre-gierung soll endlich die Marktprämie in der derzeitigenForm als ineffizientes und überteuertes Direktvermark-tungsmodell abschaffen und stattdessen ein Konzept füreine Weiterentwicklung des Grünstromprivilegs vorle-gen, das die System- und Marktintegration effektiv undkosteneffizient vorantreibt, Anreize für eine bedarfsge-rechte Stromeinspeisung erneuerbarer Energien und fürInvestitionen in Speichertechnologien schafft. Ein Lern-effekt stellt sich bei Schwarz-Gelb aber leider nur seltenein.
Der Vermittlungsausschuss hat sich im Rahmen desPakets zur Reform der Photovoltaikvergütung daraufgeeinigt, die Managementprämie ab dem Jahr 2013 ab-zusenken, um Mitnahmeeffekte zu vermeiden und dieBelastung der Stromkunden zu verringern. Diese Absen-kung stellt eine Justierung des im letzten Jahr eingeführ-ten Instruments der Marktprämie dar. Deren Einführungwar richtig, da sie zur Direktvermarktung motiviert undso die erneuerbaren Energien an den Markt heranführt.Allerdings wurden von den zuständigen Ministerien imGesetzgebungsverfahren wesentlich niedrigere Kostenprognostiziert. Das zeigt erneut die begrenzte Prognose-fähigkeit der öffentlichen Institutionen in Bezug auf dieEEG-Instrumente.Zudem ist dieses Instrument für die Markt- und Netz-integration erneuerbarer Energien auf Dauer nicht ge-eignet, weil es einen Mindestpreis setzt und die Börsen-entwicklung nach unten abfedert. Die Marktakteurekönnen also nach oben profitieren und haben nach untenkein Risiko. Deshalb plädiert die FDP-Bundestagsfrak-tion dafür, die Marktprämie durch ein Marktzuschlags-Zu Protokoll gegebene Reden
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Michael Kauch
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modell zu ersetzen, bei dem es einen festen Zuschlag aufden Börsenpreis und nicht einen vollständigen Kosten-airbag nach unten gibt, der letztendlich die in Rede ste-henden Zusatzkosten mit verursacht.Es ist die Mühe wert, gemeinsam zu schauen, wie mandie Direktvermarktung reformieren kann. Die Antwortder Opposition, einfach das Grünstromprivileg auszu-weiten, greift zu kurz. Denn das Grünstromprivileg istimmer damit verbunden, dass die EEG-Umlage auf im-mer weniger Schultern lastet. Deshalb müssen andereModelle entwickelt und dann auch beschlossen werden.Unser Vorschlag liegt auf dem Tisch.
Vergangenes Jahr haben wir in einem unfassbaren
Tempo 200 Seiten EEG-Novelle durch dieses Haus ge-
jagt. Es war aufgrund der Eile nicht einmal den Verbän-
den möglich, die Gesetzesnovelle in ihrer ganzen Breite
zu durchdringen, obwohl sie den Entwurf dafür Tage vor
den Abgeordneten zur Stellungnahme erhalten hatten.
Verschiedene peinliche Dinge, die sich in dem Entwurf
noch verborgen hatten, wurden inzwischen ausgeräumt.
Darüber hinaus gab es aber auch Politisches, aufgrund
dessen der Bundesrat diese Novelle so nicht passieren
lassen wollte. Die Verordnung zur Absenkung der Ma-
nagementprämie, die wir jetzt behandeln, ist Teil der
Kompromissmasse aus den Verhandlungen mit dem Bun-
desrat und wiederum eine Korrektur der völlig überhas-
teten und planlosen Änderungen am Erneuerbare-Ener-
gien-Gesetz des vergangenen Jahres.
Die Linke begrüßt diese Verordnung, da wir bereits
zur Einführung der Managementprämie davor gewarnt
haben, dass diese zu unnötigen Mehrkosten bei der Er-
neuerbare-Energien-Umlage führen würde. Auch der
Bundesverband Erneuerbare Energien hat seinerzeit ve-
hement darauf hingewiesen. Bereits nach wenigen Mo-
naten hat sich herausgestellt, dass die Prämie zu hoch
angesetzt war und kaum einen Nutzen gebracht hat. Sie
hatte keinen Nutzen für den Ausbau der erneuerbaren
Energien und ebenso wenig für deren Marktintegration.
All das war bereits im Juni 2011 absehbar, und davor
hatten wir gewarnt.
Bei einer zweiwöchigen Beratungszeit für einen über
200 Seiten umfassenden Gesetzentwurf, in dem noch we-
sentlich gravierendere Dinge fehlgesetzt worden waren,
ist es aber kein Wunder, dass solche mahnenden Stim-
men nicht wahrgenommen wurden. Obwohl wir die vor-
gesehene Kürzung der Managementprämie nun begrü-
ßen, können wir uns letztendlich zu dem Gesamtwerk
nur enthalten. Das eigentliche Problem dieser Verord-
nung ist nämlich das Ziel der Marktintegration von fluk-
tuierenden erneuerbaren Energien. Die Linke vertritt
hier deutlich den Standpunkt, dass nicht die erneuerba-
ren Energien sich dem Markt anpassen müssen, sondern
der Markt den fluktuierenden erneuerbaren Energien.
Wir alle kennen das Bild stillstehender Windräder, ob-
wohl sehr wohl Wind weht. Es kommt immer häufiger
vor, dass die Übertragungsnetzbetreiber erneuerbare
Energien vom Netz nehmen müssen, weil fossile Grund-
lastkraftwerke die Netze verstopfen. Aber trotz der zu-
nehmenden Abschaltung von Erneuerbare-Energien-An-
lagen hält die Bundesregierung weiter daran fest,
Sonnen- und Windstrom passend für den Markt machen
zu wollen, anstatt das Marktdesign, bei dem das eigent-
liche Problem liegt, grundlegend auf den Kopf zu stel-
len. Unser Ziel ist die Vollversorgung mit erneuerbaren
Energien. Wenn man das möchte, kann man die Regene-
rativen aber nicht in das Stromsystem hineinpressen,
sondern man muss den Markt entsprechend ausrichten.
Dass sich diese Erkenntnis noch immer nicht in den Re-
gierungs- und Koalitionskreisen durchgesetzt hat, zeigt
uns exemplarisch das weitere Festhalten an der Markt-
und Managementprämie, anstatt sie völlig abzuschaffen.
Deshalb können wir dieser Verordnung nicht zustimmen.
Seit letztem Montag wissen wir, um welchen Betragdie EEG-Umlage im nächsten Jahr steigen wird. Es sindknapp 1,7 Cent pro Kilowattstunde. Neben Wirtschafts-minister Rösler schiebt auch der Kollege Vaatz die Erhö-hung auf den Ausbau der erneuerbaren Energien. HerrVaatz will mit der Begründung steigender Strompreisedie gefährliche und teure Atomkraft wiederbeleben, wel-che er für billig hält. Dabei ist die Atomenergie bishermit rund 180 Milliarden Euro subventioniert worden,die nicht im Strompreis auftauchen. Eine billige Strom-quelle, Herr Vaatz? Während bei der EEG-Umlage sogetan wird, als wären dies ausschließlich die Kosten fürden Ausbau der erneuerbaren Energien, wurden dieenormen Subventionen für Atom und die fossilen Ener-gien über Jahrzehnte in unzähligen Haushaltspostenversteckt. Leider ist die EEG-Umlage eben kein Indika-tor für die Kosten des Ausbaus der Erneuerbaren, weilsie inzwischen mit zahlreichen anderen Posten belastetwird. Die Regierung und die Koalitionsfraktionen sindleider an einer ehrlichen Analyse der einzelnen Postender EEG-Umlage und deren Steigerungen gar nicht inte-ressiert. Da Sie zu dieser Analyse nicht bereit sind,werde ich sie für Sie machen. Von den 1,7 Cent Erhö-hung der Umlage sind gerade einmal 0,5 Cent auf denAusbau zurückzuführen. Etwa zwei Drittel aber gehenauf Ihre Fehler zurück.Da haben wir zunächst die Ausweitung der Privile-gien für die Industrie. Es ist richtig, dass wir unter derrot-grünen Regierung die Ausnahmen für die energiein-tensive Industrie im EEG 2004 eingeführt haben. Wirwollen nämlich auch nicht die energieintensive Industrieaus Deutschland vertreiben. Doch wir führten damalsauch einen Passus ein, der die Ausnahmen auf 10 Pro-zent des Gesamtvolumens der Umlage deckelten. DieserPassus wurde 2006 aus dem Gesetz gestrichen. In derletzten EEG-Novelle senkten Sie dann die Schwelle fürenergieintensive Unternehmen auf eine GigawattstundeJahresverbrauch. Dadurch haben jetzt gut 2 000 Unter-nehmen einen Antrag auf Befreiung von der EEG-Um-lage gestellt. Erhält der große Teil dieser Unternehmendie Befreiung, erhöht sich die Entlastung der Unterneh-men auf etwa 4 Milliarden Euro. Die weitere Befreiungvieler Industriezweige muss auf den Prüfstand, und wirZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23979
Hans-Josef Fell
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freuen uns, dass dies inzwischen auch die Bundeskanz-lerin so sieht.Ein weiterer Punkt sind die geringeren Erlöse der er-neuerbaren Energien an der Strombörse durch die Einfüh-rung des neuen Wälzungsmechanismus im Jahr 2009.Eigentlich freuen wir uns über den strompreissenkendenEffekt der erneuerbaren Energien. Allerdings fehlt aufder einen Seite eine Maßnahme der Bundesregierung,diesen positiven Effekt für alle Stromkunden wirksamwerden zu lassen, und auf der anderen Seite steigt genaudurch diesen Effekt die EEG-Umlage um etwa 1 Centpro Kilowattstunde. Warum gibt es zur Weitergabe desMerit-Order-Effekts an die Haushalte und zu einem ver-besserten Wälzungsmechanismus eigentlich keinen Vor-schlag von Umweltminister Altmaier?Als nächsten Punkt haben wir die viel zu hohe Anset-zung der Liquiditätsreserve. Wenn die Prognose für dieEEG-Umlage für das nächste Jahr dieses Mal seriös be-rechnet wurde, dann brauchen wir keine Liquiditätsre-serve von 10 Prozent, dann hätte die Bundesnetzagenturdie Reserve bei 3 Prozent belassen können. Auch hierhaben wir wieder Mehrkosten von etwa 1,2 MilliardenEuro.Auch die Marktprämie ist eine Fehlleistung dieserRegierung. Dabei ist die Idee, die erneuerbaren Ener-gien dort, wo es jetzt schon möglich ist, auch außerhalbdes EEG am Markt zu etablieren, richtig. Aber das In-strument hat wenig für die Marktintegration der erneuer-baren Energien bewirkt und stattdessen viele Mitnahme-effekte produziert. Durch die Mitnahmeeffekte wurdenobendrein innovative andere Vermarktungswege uninte-ressant und damit ausgebremst. Die Mehrkosten derManagementprämie belaufen sich anstelle der von derRegierung veranschlagten 200 Millionen Euro in diesemJahr auf rund 600 Millionen Euro.Wir stehen hinter dem Ziel, die erneuerbaren Ener-gien außerhalb des EEG stärker zu fördern. Wir wollendazu das Grünstromprivileg wieder in das Zentrum derDirektvermarktung der erneuerbaren Energien rücken.Obwohl wir eine Abschaffung der Managementprämiefordern, stimmen wir dieser Beschlussempfehlung den-noch zu, da wir damit zumindest einen ersten Schritt zurKorrektur dieser Fehlentwicklung machen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10817,
der Verordnung der Bundesregierung auf Drucksa-
che 17/10571 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung
der Fraktion Die Linke und Zustimmung der übrigen
Fraktionen des Hauses angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Dietmar Nietan, Uta Zapf, Josip Juratovic, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Für eine ehrliche und faire europäische Per-
spektive der Staaten des westlichen Balkans
– Drucksachen 17/9744, 17/11034 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Beyer
Dr. Rolf Mützenich
Marina Schuster
Wolfgang Gehrcke
Kerstin Müller
Auch hier nehmen wir die Reden, wie in der Tages-
ordnung ausgewiesen, zu Protokoll.
Spricht man über Ehrlichkeit und Fairness für dieMenschen auf dem Westbalkan im Zusammenhang miteiner europäischen Perspektive, sollten wir vor derWahrheit nicht die Augen verschließen. Die Wahrheitlautet: Analysiert man den Zustand der Länder dessogenannten Westbalkan anhand der KopenhagenerMesslatte, werden zahlreiche Defizite offenkundig. ZurWahrheit gehört aber auch, dass bereits honorige An-strengungen aktueller und potenzieller Beitrittskandida-ten benannt werden können. Bereits in der Debatte vom28. Juni 2012 habe ich in meinem Redebeitrag daraufhingewiesen, dass – auch wenn wir vereinheitlichendvom „Westbalkan“ sprechen – wir die Heterogenitätdieser Region nicht außer Acht lassen dürfen. So unter-schiedlich die nationalen, historischen, ethnischen undreligiösen Identitäten auf dem Westbalkan sind, so un-gleich sind auch ihre politischen und wirtschaftlichensowie sozialen Entwicklungsstadien.In Bezug auf die geforderte Geschwindigkeit der eu-ropäischen Integration im Antrag der SPD sollte daraufhingewiesen werden, dass die Behebung der Defizite imSinne der Erfüllung der Kriterien für eine Vollmitglied-schaft Zeit braucht. Deutlich wird dies am BeispielKroatiens, das kurz vor der bevorstehenden Aufnahmein die EU in der vergangenen Woche einen Blauen Briefaus Brüssel erhielt. Gleich zehn Mängel stellte die EU-Kommission fest, die das Land bis nächsten Juli beseiti-gen muss. Es hat den Weg noch nicht erfolgreichbeschritten, wie auch ich im vergangenen Juni noch an-nahm. Nach wie vor gilt uneingeschränkt: Wer beitritt,muss beitragen. Und so muss Zagreb nun nachsitzen.In diesem Zusammenhang macht es die EU-Erweite-rungsmüdigkeit, wie sie in den Worten des Bundestags-präsidenten Norbert Lammert mitschwang, Politikernnicht leichter. Es geht längst nicht mehr allein um eineehrliche und faire Perspektive. Für die Menschen aufdem Balkan geht es um konkrete Verhandlungen, nichtum Versprechungen. Augenmaß und bindende Kriteriensind das, was zählt, nicht das Termingeschäft. Nur dasschafft Vertrauen und Akzeptanz, besonders nach denErfahrungen mit Bulgarien und Rumänien, auch odergerade bei unseren Bürgern im eigenen Land.
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23980 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Peter Beyer
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Im Fall Kroatien ist noch eines zu erwähnen: An ei-nem Beitritt ist festzuhalten, schon allein wegen derStrahlkraft auf die Nachbarstaaten und dem eigenenInteresse, um die in den 1990er-Jahren aus den Fugengeratene Region für ein friedliches und sicheres Europaweiter zu stabilisieren.Für den Schlüsselstaat Serbien ist ebenfalls kein bal-diges Termingeschäft zu empfehlen, wie es der Antragfordert. Die kürzlichen Äußerungen des serbischen Prä-sidenten Nikolic über einen möglichen Verzicht Belgradsauf die EU-Eingliederung, sollte Serbien vor die Wahlzwischen EU und der Anerkennung des Kosovo gestelltwerden, sind dafür ein warnendes Indiz. Die neue Regie-rung in Serbien muss durch Taten zeigen, dass siereformwillig ist. Verbalinjurien wie die des Premiermi-nisters Dacic vor laufender Kamera: „Scheiß auf dieEU, wenn die Schwulenparade die Eintrittskarte ist“,zeugen nicht vom Willen zu einem positiven Avis zur Auf-nahme von Beitrittsverhandlungen, der im Frühjahr2013 denkbar gewesen wäre. Die Zukunft Serbiens liegtin Europa, die Geschwindigkeit der Annäherung hängtaber zuallererst vom Land selbst ab.Die Reihe setzt sich fort mit Bosnien-Herzegowina.Nicht nur, dass Bosnien Ende August eine Frist fürReformen auf seinem Weg nach Europa verstreichenließ. Die vom Europäischen Gerichtshof für Menschen-rechte geforderte Anpassung des Wahlrechts wurdeebenfalls nicht umgesetzt. Zusätzlich drohen antieuropä-ische, nationalistische Tendenzen, die eine Spaltung desLandes voranzutreiben geeignet sind. Mit der Ankündi-gung eines Zahlungsstopps betreffend die bosnischeArmee erhöht der bosnische Serbenführer Dodik denDruck, womit er das Land gefährlich nahe an die Situa-tion der 1990er Jahre bewegt. Allzu ausgeprägte Klein-staaterei ist in einem zusammenwachsenden Europanicht zu unterstützen und stellt einen Anachronismusdar.Verglichen mit der ungeklärten Kosovo-Frage undder prekären Situation in Bosnien-Herzegowina er-scheint die Auseinandersetzung zwischen Mazedonienund Griechenland um die Namensfrage quasi als Rand-notiz. Und doch hat die Region bei allen beschriebenenUnterschieden in jedem Fall ein gemeinsames Problem:den Exodus junger Menschen ins Ausland. Der Grundfür diese Tendenz ist nicht die hohe Arbeitslosigkeit. Esist das fehlende Vertrauen der jungen Menschen in diePolitik und vor allem das Gefühl wirtschaftlicher undsozialer Stagnation, weshalb sie ihrer Heimat – zumin-dest zeitweilig – den Rücken kehren. Dabei wäre es vonnicht zu unterschätzender Wichtigkeit, dass die jungeGeneration nach Ausbildung und Studium im Ausland inihrer Heimatländer zurückkehren. Denn sie sind einerder die Zukunft stützenden Pfeiler für Stabilität, Rechts-staatlichkeit und Demokratie ihrer Länder.Wir stehen zu unserem Wort und bieten mehr als eineehrliche und faire Perspektive. Uns geht es um eine rea-listische Zukunft und die klare Benennung der tatsächli-chen Möglichkeiten, die Kriterien zu erfüllen, die denSchlüssel für jede Mitgliedschaft der Staaten des westli-chen Balkan in der EU darstellen. Nicht allein die Zeitmuss reif sein, sondern vor allem der Kandidat.
Die europäische Perspektive, die die EU den Länderndes westlichen Balkan in der Erklärung des Europäi-schen Rats von Thessaloniki 2003 mit den Worten „DieZukunft des westlichen Balkan liegt in Europa“ gab,wird nächstes Jahr mit dem Beitritt Kroatiens eine neueForm der Realität annehmen. Auch die anderen Staatendes westlichen Balkan sind auf dem Weg nach Europa.Wie die aktuellen Fortschrittsberichte der EU-Kommis-sion vom 10. Oktober für die einzelnen Länder des west-lichen Balkan zeigen, ist die europäische Perspektiveheute näher und konkreter denn je. Allerdings ist sienicht pauschal und ohne Bedingungen und Auflagen zuhaben. Daher lehnen wir den Antrag der SPD ab.Die EU hat für alle Länder des westlichen Balkan ei-nen Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess, SAP, ein-geleitet, der sie nach und nach enger an die EU heran-führen soll. In den letzten Jahren waren etlicheFortschritte zu verzeichnen, wobei jeder Staat selbstTiefe und Geschwindigkeit dieses Prozesses bestimmt.Hier ergibt sich noch ein sehr differenziertes Bild. Alspotenzielle Kandidaten gelten nach heutigem StandAlbanien sowie Bosnien und Herzegowina und dasKosovo. Was Albanien anbelangt, so hat die EU-Kom-mission in ihrem jüngsten Fortschrittsbericht vom10. Oktober eine Empfehlung für den Kandidatenstatusausgesprochen. Die EU hat Albanien in diesem Zusam-menhang angehalten, seine Reformbemühungen ins-besondere in den Bereichen Justiz und öffentliche Ver-waltung sowie bezüglich der Verfahrensregelungen imParlament zu intensivieren. Der Kandidatenstatus ist so-mit an weitere Fortschritte und die Umsetzung weitererReformen gebunden. Wir unterstützen diese Haltung derEU.Bosnien und Herzegowina muss insbesondere seineVerfassung in Einklang mit der Europäischen Men-schenrechtskonvention bringen, damit endlich das Stabi-lisierungs- und Assoziierungsabkommen, SAA, in Krafttreten kann, und die Grundlagen für einen fundiertenBeitrittsantrag gelegt werden. Für uns sind darüberhinaus substanzielle Fortschritte im Hinblick auf dieVerfassungsreform im Bereich Parlamentskammer undPräsidentschaft unablässige Voraussetzungen für dasInkrafttreten des SAA und einen möglichen EU-Beitritt.Was das Kosovo anbelangt, gilt, dass wir uns weiter-hin insbesondere in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit,Bekämpfung organisierter Kriminalität und Korruptionengagieren müssen, um die entsprechenden Reformen imKosovo und die Arbeiten an einem Stabilisierungs- undAssoziierungsabkommen zu unterstützen.Was die Kandidatenländer Mazedonien, Monteneground Serbien betrifft, möchte ich hervorheben, dass dortFortschritte erzielt worden sind. Gleichwohl bestehenweiterhin Defizite. Auch hier gilt – wie für alle Beitritts-kandidaten: Selbst wenn diese Staaten auf ihrem Weg indie EU weiter vorangeschritten sind, bestehen wir da-Zu Protokoll gegebene Reden
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Dr. Wolfgang Götzer
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rauf, dass alle Auflagen und Verpflichtungen der EU er-füllt sind, ehe ein Beitritt erfolgt.In Bezug auf Mazedonien unterstützen wir den hoch-rangigen Dialog zur EU-Annäherung, der Reformen inallen Bereichen begleitet, solange die Aufnahme vonBeitrittsverhandlungen aufgrund des Namensstreitsdurch Griechenland blockiert wird.Montenegro hat insbesondere in den BereichenRechtsstaatlichkeit, Bekämpfung von Korruption undorganisierter Kriminalität noch etliche Reformen zumeistern. Daher begrüßen wir den Ansatz der EU-Kom-mission, die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mitden Kapiteln Justiz und Rechtstaatlichkeit zu beginnen.Auch die Beitrittsverhandlungen mit Serbien müssenunserer Meinung nach insbesondere an weitere Fort-schritte im Stabilisierungs- und Assoziierungsprozesssowie einer weiteren Normalisierung der bilateralen Be-ziehungen zum Kosovo gebunden sein. Wie dem Fort-schrittsbericht der EU-Kommission zu Serbien vom10. Oktober zu entnehmen ist, muss Serbien außerdemReformen im Bereich Justiz sowie der Bekämpfung vonKorruption und dem organisierten Verbrechen zügig aufden Weg bringen. Vor diesem Hintergrund werden wirden europapolitischen Kurs des serbischen PräsidentenNikolic genauestens verfolgen. Bleibt zu hoffen, dass erden Reformkurs seines Vorgängers fortsetzt.Auch beim Beitrittsland Kroatien legen wir Wertdarauf, dass die EU-Kommission ihre bisherige Über-wachung des Beitrittsprozesses fortsetzt. Gerade in An-betracht des jüngsten durchaus kritischen Fortschritts-berichts der EU-Kommission sehen wir Kroatien auch inder Pflicht, vereinbarte Fristen einzuhalten und ein an-gemessenes Reformtempo aufrechtzuerhalten. Wir er-warten ein eindeutigeres Bekenntnis Kroatiens zu seinereuropäischen Perspektive und greifbare Erfolge auf sei-nem Weg nach Europa. Denn eine Ratifizierung der Bei-trittsurkunde wird es mit uns erst geben, wenn alle Auf-lagen erfüllt sind.
Aus Sicht der Geschichtsschreibung ist es erst einenAugenblick her, dass auf dem Balkan blutige Konfliktetobten. Nach dem Versagen der internationalen Gemein-schaft während der Jugoslawienkriege haben die EUund Deutschland große Verantwortung in der Regionübernommen, um Frieden zu sichern, Neues aufzu-bauen, Versöhnung zu erreichen und schließlich auchdie einzelnen Länder sowie die Region als ganze aufdem Weg hin zur europäischen Integration zu begleiten.Die europäische Integration nach dem Ende desZweiten Weltkrieges ist eine große Erfolgsgeschichte desFriedens und der Verständigung und Zusammenarbeitunter den Völkern. Es erfüllt mich und – ich denke – allehier in diesem Hause mit Freude, Respekt und Stolz,dass die Europäische Union den Friedensnobelpreis er-halten wird – ausdrücklich auch für die Friedenswir-kung ihrer Erweiterungen und ausdrücklich auch unterBenennung ihrer Anstrengungen zur Integration vonLändern des westlichen Balkan! Dies ist ganz klar aucheine politische Botschaft und unterstreicht damit eineVerantwortung, der sich niemand der politisch Verant-wortlichen in unserem Land – etwa mit einem populisti-schen Gerede über einen Stop der EU-Erweiterung –entledigen kann.Die jüngsten Fortschrittsberichte der EU-Kommis-sion und die Erweiterungsstrategie für die Jahre 2012bis 2013 zeigen in aller Deutlichkeit: Vieles haben Kroa-tien, Serbien, Montenegro, die ehemalige jugoslawischeRepublik Mazedonien, Bosnien und Herzegowina, Alba-nien und das Kosovo schon erreicht auf dem Weg inRichtung EU, viel muss noch getan werden. Gerade inden zentralen Bereichen Rechtsstaatlichkeit, Grund-rechte und Justiz gibt es vielfach noch Missstände,ebenso bei der Reform staatlicher Verwaltung, der Be-kämpfung von Korruption und Kriminalität, dem Schutzvon Minderheiten, der Medienfreiheit und -pluralitätund in weiteren Bereichen.Als SPD-Bundestagsfraktion haben wir die zentraleBedeutung der Kopenhagener Kriterien stets betont. Wirsind für strenge Beitrittskriterien und erwarten von denKandidatenländern und beitrittswilligen Staaten großeReformanstrengungen. Weder die Erfolge noch dieSchwächen der Länder des westlichen Balkan dürfenkleingeredet werden. Nur eine ehrliche Position der EUund ehrliche Anstrengungen der Beitrittskandidaten undbeitrittswilligen Länder werden schließlich zum Erfolgführen.Nun entzünden sich kurz nach der Bekanntgabe derVerleihung des Friedensnobelpreises an die EU Debat-ten, welche Teilen der Begründung des Nobelpreiskomi-tees zuwiderlaufen. Was wir hier von einigen Protago-nisten aus der CDU/CSU innerhalb weniger Tage ankurzsichtigen und schädlichen Signalen an die Länderdes westlichen Balkan vernehmen konnten, muss einenschon sehr nachdenklich stimmen. Da erklären führendePolitiker der Union Kroatien neun Monate vor dem ge-planten Termin für nicht beitrittsreif. Da rufen führendePolitiker der Union nach einem Erweiterungsstopp. Undder Bundesinnenminister fordert die Aussetzung dervisafreien Einreise in die EU für Bürgerinnen und Bür-ger Serbiens und der ehemaligen jugoslawischen Repu-blik Mazedonien. Das alles sind Schläge in die Gesich-ter der europafreundlichen Kräfte in den Ländern deswestlichen Balkan. Befeuert werden damit mitnichtendifferenzierte Debatten, sondern ungute Stimmungenund Ängste sowohl in der EU als auch in den betroffenenLändern, die uns keinen Schritt weiterbringen. Das BildDeutschlands und der EU als glaubwürdige und verläss-liche Partner wird darunter leiden.Ob Kroatien reif für den Beitritt am 1. Juli 2013 ist,wird sich zeigen. Der Reformwille Kroatiens sollte nichtabgeschrieben, sondern nach Kräften unterstützt wer-den. Vor abschließenden Beurteilungen sind die Ent-wicklungen in Kroatien während der kommendenMonate und die Veröffentlichung des letzten Monito-ringberichtes der EU-Kommission im Frühjahr 2013abzuwarten. Es waren die Vertreter Kroatiens selbst, dieimmer wieder betonten, dass sie die Kriterien erfüllenwerden und dabei auch keinen politischen Rabatt erhal-Zu Protokoll gegebene Reden
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23982 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Dietmar Nietan
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ten wollen. In unserem heute hier zur Abstimmung vor-liegenden Antrag machen wir als SPD-Bundestagsfrak-tion ganz deutlich, dass wir für strenge Beitrittskriterienund deren strikte Einhaltung sind. Wir haben zum jetzi-gen Zeitpunkt keinen Grund, daran zu zweifeln, dassKroatien bis zum 1. Juli 2013 die Bedingungen der EUerfüllen wird. Denn wenn es die Kriterien bis dahin nichterfüllt, wird es zu diesem Termin auch nicht beitretenkönnen. Das ist in Kroatien sowohl der Regierung alsauch der Bevölkerung klar. Wer dies aber bereits jetztherbeiredet, schadet mehr, als dass er nützt.Die Forderung nach einem Erweiterungsstopp ausden Reihen der Union ist nicht neu. Sie erhält aber eineneue Brisanz, wenn der Bundestagspräsident sie auf-greift.Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Unions-fraktion, sehr geehrter Herr BundestagspräsidentLammert, wenn Sie die Position eines Erweiterungs-stopps tatsächlich vertreten, fordere ich Sie nun auchdazu auf, in letzter Konsequenz ehrlich und aufrichtig zusein. Dann müssen Sie jetzt offen und ehrlich sagen, dasssich die EU aus dem 2003 in Thessaloniki gegebenenVersprechen verabschieden soll, demzufolge alle Staatendes westlichen Balkan eine EU-Perspektive haben. Ver-treten Sie Ihre Haltung offen gegenüber der EU-Kom-mission, den Mitgliedstaaten und den Staaten, denen dasVersprechen gilt! Zu guter Letzt zeigen Sie dann bitteauch den Weg auf, wie die EU den Spagat zwischeneinem Bruch ihrer Zusage und ihrer Glaubwürdigkeitmeistern soll; denn ich sehe diesen Weg nicht. Wenn sichdie EU von der gegebenen Zusage einer Beitrittsper-spektive abwendet, wird die friedens- und stabilitätsstif-tende Wirkung dieser Perspektive erlöschen, Reform-kräfte werden geschwächt, und die betroffenen Länderwerden sich früher oder später anderen Partnern zu-wenden. Dies liegt nicht in unserem Interesse. Und ge-nau das wäre die Flucht aus unserer Verantwortung fürFrieden und Freiheit in ganz Europa! Wieder würde dieEU auf dem Balkan versagen, mit möglicherweise dra-matischen Folgen für den Frieden in dieser Region.Noch einige Worte zur Visafrage. Einem Missbrauchvon Asylleistungen muss selbstverständlich entgegen-gewirkt werden. Die Lösung kann aber nicht sein, gan-zen Bevölkerungen die visafreie Einreise zu verweigernund nun alle Serben und Mazedonier – Bürgerinnen undBürger von EU-Beitrittskandidaten – unter Generalver-dacht zu stellen. Die visafreie Einreise ist die für dieMenschen wohl stabilste, greifbarste Brücke nach Eu-ropa. Geschäftsleute, Wissenschaftler, Studenten, Tou-risten, Familienangehörige, Teilnehmer von Jugendaus-tauschprogrammen – wollen wir für alle diese Menschendas Überqueren der Brücke erschweren? In Verbindungmit dem Ruf nach einem Erweiterungsstopp ist dies einüberdeutliches Signal, das sagt: „Wir wollen euchnicht.“ Ein falscheres Signal können wir nicht senden.Auch lohnt sich ein zweiter Blick darauf, wer dieMenschen eigentlich sind, die da Asylanträge stellen. Esgibt in Staaten des westlichen Balkan leider immer nochgroße Probleme bei der Integration von Sinti und Roma.Sie leiden unter Diskriminierung und Armut. Bei einerohnehin wirtschaftlich katastrophalen Lage – so lag bei-spielsweise die Jugendarbeitslosigkeit in Serbien 2011bei 46 Prozent, in der ehemaligen jugoslawischen Repu-blik Mazedonien bei fast 54 Prozent – stehen sie am un-teren Rand der Gesellschaft. Wir können diese Problemenicht anstelle Serbiens oder der ehemaligen jugos-lawischen Republik Mazedonien lösen, wir können nichtalle aufnehmen, die ihr Land der Armut wegen verlassenwollen, aber wir können gemeinsam mit den Regierun-gen nach Lösungen suchen. Armut und Massenarbeits-losigkeit in Kandidatenländern der EU gehen uns sehrwohl etwas an. Die Türe zuzuschlagen, kann nicht derrichtige Weg sein.Die Bundesregierung sollte zeitnah schlüssige Kon-zepte aufzeigen, wie sie die Länder des westlichen Bal-kan auf dem nicht immer einfachen und keineswegsschnellen Weg hin zu Stabilität, Rechtsstaatlichkeit undwirtschaftlichem Aufschwung, letztlich auf dem WegRichtung EU, unterstützen will. Dazu gehört ganz klarauch die Benennung von Schwachstellen. Ob jedoch Ini-tiativen wie der jüngste Besuch des KollegenSchockenhoff in Belgrad dazu geeignet sind, den Re-formwillen vor Ort zu unterstützen, darf bezweifelt wer-den.Besonders drängend stellt sich die Frage nach deut-scher Unterstützung im Fall Bosnien und Herzegowinas.Der vor wenigen Wochen vollzogene Abzug der letztendeutschen Soldaten aus der EU-Mission EUFOR Altheadarf kein Rückzug aus dem deutschen Engagement inund für Bosnien und Herzegowina sein. Das Land magfriedlich sein, stabil ist es noch lange nicht. NationalePartikularinteressen in den verschiedenen Landesteilenblockieren nötige Reformschritte zugunsten des Gesamt-staates. Der Annäherungsprozess Bosnien und Herzego-winas an die EU stockt. Auch wirtschaftlich steht dasLand schlecht da. Die Europäische Union und Deutsch-land müssen vor allem den Aufbau demokratischer undtransparenter Strukturen als Grundlage eines funktio-nierenden Staates fördern. Zivilgesellschaft und regio-nale Kooperation müssen gestärkt werden. Unsere Ver-antwortung für Bosnien und Herzegowina bleibtbestehen. Dazu gehört auch die Unterstützung desEngagements des Hohen Repräsentanten der VereintenNationen für Bosnien und Herzegowina. Die SPD-Bun-destagsfraktion fordert daher ausdrücklich, seine Ar-beitsfähigkeit und sein Büro vor Ort bis zur Erfüllungder vereinbarten 5+2-Kriterien zu erhalten. Die BonnPowers des Hohen Repräsentanten sind immer nocheine tragende Säule der staatlichen Integrität Bosnienund Herzegowinas und dürfen daher nicht ausgehöltwerden.Weil uns die Integrations- und damit Zukunftsfähig-keit der EU sehr am Herzen liegt, erwarten wir Sozial-demokraten von Kroatien, Serbien, Montenegro, derehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien, Bos-nien und Herzegowina, Albanien und Kosovo große Re-formanstrengungen und die Erfüllung aller nötigen Kri-terien. Aber auf eines können sich die Menschen indiesen Ländern verlassen: Von unserer Seite bleibt dieHand dabei ausgestreckt, wir stehen zu dem, was wir alsEU den Menschen des Westbalkan versprochen haben.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23983
Dietmar Nietan
(C)
(B)
Es wäre ein wichtiges Signal, wenn auch die CDU/CSU-Fraktion in diesem Haus ein solches Signal der Verläss-lichkeit und des Verantwortungsbewusstseins aussendenwürde.
Eine Woche nach der Veröffentlichung der Fort-
schrittsberichte der Europäischen Union ist ein guter
Zeitpunkt für diese Debatte. Ich weiß, dass die Fort-
schrittsberichte, gerade wenn sie kritisch ausfallen, von
den Beitrittsländern leicht als zusätzliches Hindernis
angesehen werden. Von manchen innerhalb der EU wer-
den sie ebenfalls manchmal gerne als Vorwand genom-
men, den gesamten Prozess aufzuhalten oder zumindest
zu verzögern. Wir Liberale lehnen jegliche Versuche die-
ser Art mit Nachdruck ab. Die Fortschrittsberichte sind
eine Hilfestellung auf dem Weg zum Beitritt. Sie können
und dürfen für keine anderen Zwecke missbraucht wer-
den. Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten
fällen Entscheidungen dann, wenn sie anstehen. Bei-
trittskandidaten werden danach beurteilt, was sie zu die-
sem Zeitpunkt erreicht haben – und nicht ein halbes Jahr
vorher. Ich sage ausdrücklich, dass dies auch uneinge-
schränkt für Kroatien gilt. Wir sind optimistisch, dass
das Land die noch offenen Aufgaben bis 2013 abarbei-
ten kann. Wir ermutigen Kroatien, dies zu tun, und hal-
ten nichts von Vorverurteilungen.
Die diesjährigen Fortschrittsberichte zeigen – wie
immer – Licht und Schatten. Zwei besonders dunkle Ka-
pitel, wenn auch aus entgegengesetzten Gründen, bilden
Bosnien-Herzegowina und Makedonien. Die Kommis-
sion hat jetzt zum vierten Mal die Aufnahme von Bei-
trittsverhandlungen mit Makedonien empfohlen, was
von Griechenland weiter wegen der ungelösten Namens-
frage blockiert wird. Dieser Fall gefährdet die Glaub-
würdigkeit unseres gesamten konditionierten Ansatzes.
Wenn ein Land Fortschritte macht, aber trotzdem keinen
Schritt weiterkommt, dann ist das ein extrem schlechtes
Beispiel für alle anderen Beitrittsländer. Bei allem Ver-
ständnis für die aktuelle Lage in Griechenland, ich
glaube, wir müssen hier mehr Nachdruck entwickeln.
Das andere dunkle Kapitel ist Bosnien-Herzegowina:
Die Reform des Wahlrechts ist nicht vorangekommen. So
lange wird es auch keine weiteren Annäherungsschritte
an die EU geben können. Sie alle hier kennen meine
Meinung, dass die internationale Gemeinschaft hier
nicht eingreifen sollte, sondern im Gegenteil, die Institu-
tion des Internationalen Hohen Repräsentanten abge-
schafft werden sollte. Ich bin aber sehr froh, dass Valentin
Inzko sich in der aktuellen Lage völlig richtig verhält,
indem er auf die Eigenverantwortung der Politiker des
Landes pocht und nicht für einen vermeintlich leichten
Ausweg sorgt. Das Land muss diesen Schritt selber ge-
hen. Nur dann zeigt es seine Europatauglichkeit.
Zu Serbien: Die Kommission hat keine Aufnahme von
Beitrittsverhandlungen empfohlen. Ich halte das für
richtig. Mit der Verleihung des Kandidatenstatus im
März hat die EU meiner Ansicht bereits eine Vorleistung
erbracht. Serbien muss diesen Vertrauensvorschuss nun
mit Fortschritten bei den Verhandlungen mit Kosovo
erst einmal rechtfertigen.
Wir unterstützen den Vorschlag der Kommission, mit
Kosovo ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkom-
men auszuhandeln. Das hört sich heute nach einem tech-
nischen Schritt an, ich möchte aber daran erinnern, dass
diese Perspektive noch vor wenigen Jahren ganz, ganz
weit entfernt schien.
Ich habe bereits in der ersten Debatte zu diesem An-
trag deutlich gemacht, warum wir ihm wegen verschie-
dener Einzelpunkte nicht zustimmen können, obwohl wir
uns glücklicherweise in diesem Haus über die Grund-
linien sehr einig sind. Ich möchte aber noch eine Bemer-
kung zum Titel des Antrags machen: „ehrliche und faire
europäische Perspektive“. Denn wenn wir ehrlich sind,
dann müssen wir zugeben, dass wir im Grunde nicht
wirklich fair sind. Die jetzigen Beitrittsländer müssen
höhere Anforderungen erfüllen als frühere. Wir schauen
heute wesentlich genauer hin. Natürlich würden wir mit
dem ganzen Serbien/Kosovo-Problem anders umgehen,
wenn wir nicht unsere Erfahrungen mit Zypern gemacht
hätten. Wir würden auch bei Kroatien weniger genau
hinschauen, wenn wir nicht unsere Erfahrungen mit Ru-
mänien und Bulgarien gemacht hätten. Europa hat aus
seinen Fehlern gelernt, und das hat Konsequenzen für
die Kandidatenländer. Das sollten wir ehrlich zugeben.
Diese Strategie liegt aber auch im Interesse der Länder.
Diese wollen einer starken und handlungsfähigen Union
beitreten. Dazu müssen die Kandidatenländer besser
werden, aber auch wir müssen besser werden. Daran ar-
beiten wir.
Für eine ehrliche und faire europäische Perspektiveder Staaten des westlichen Balkan, so heißt der Antragder SPD, den wir heute debattieren. Zur ehrlichen De-batte gehört auch der Blick in die Vorbedingungen derjetzigen Situation. Und da muss immer wieder daraufhingewiesen werden, dass die schwarz-gelbe Regierung1991 durch ihre vorzeitige Anerkennung von Slowenienund Kroatien Mitverantwortung für die Eskalation dernationalistischen Konflikte im ehemaligen Jugoslawienhat. Zur ehrlichen Debatte gehört auch die Feststellung,dass die rot-grüne Regierung die Verantwortung für denvölkerrechtswidrigen Angriff auf Rest-Jugoslawien imJahr 1999 trägt.In dem heute zu debattierenden Antrag finden wirdennoch viele richtige Ansätze. Die Linke begrüßt dieAussage, den EU-Erweiterungsprozess nicht zu stoppenund die Zusagen des Europäischen Rates von Thessalo-niki nicht infrage zu stellen, obwohl die EU selbst imMoment nicht mehr eine so attraktive Ausstrahlung hatwie noch 2003. Die EU-Mitgliedschaft bietet für dieStaaten des Westbalkan dennoch eine große Chance aufeine dauerhaft friedliche Perspektive. Angesichts deraktuellen Fortschrittsberichte ist dies aber eine Jahr-hundertaufgabe und keine schnell zu lösende Herausfor-derung.Auch wir stehen dazu, dass die Beilegung regionalerKonflikte und die Anerkennung bestehender GrenzenZu Protokoll gegebene Reden
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23984 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Thomas Nord
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Bedingung für eine EU-Mitgliedschaft sind. In den sel-tensten Fällen kann man die Grenzstreitigkeiten in derRegion als bilateral bezeichnen, wie dies im Antrag ge-tan wird. Deshalb hat sich die Linke gegen die einseitigeUnabhängigkeitserklärung des Kosovo vom 17. Februar2008 ausgesprochen.Wir begrüßen, dass Serbien nun den Status eines Bei-trittskandidaten hat. Allerdings muss hier zur Ehrlich-keit hinzugefügt werden, dass die Vorbedingung der An-erkennung eines unabhängigen Kosovo durch Serbiensich noch als ein Pferdefuß für den gesamten Westbalkanherausstellen kann. Denn die einseitige Unabhängig-keitserklärung im Jahr 2008 wird mit dem Gutachtendes internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag zurBlaupause für weitere territoriale Aufsplitterungen imehemaligen Jugoslawien.Mit der Ankündigung eines Zahlungsstopps betref-fend die bosnische Armee ist der Ministerpräsident derRepublik Srpska, Milorad Dodik, bereits einen weiterenSchritt in Richtung seines politischen Vorhabens gegan-gen, Bosnien-Herzegowina aufzulösen. Das Haltbarkeits-datum Bosniens sei schon längst abgelaufen, so DodikAnfang Oktober. Er fordert ein Referendum zur Ablö-sung von Srpska aus Bosnien ein. Niemand wird nach ei-nem der Sezession zustimmenden Referendum glaub-würdig begründen können, warum für Srpska nichtgelten soll, was für Kosovo rechtens ist. Die aktuellenErwägungen, das Büro des Hohen Repräsentanten fürBosnien und Herzegowina ins Ausland zu verlagern,spielen dieser Entwicklung in die Hände. Deshalb istaus meiner Sicht nicht nachvollziehbar, warum die EUin dieser problematischen Situation mit dem Kosovonoch einen Schritt weitergeht. Trotz der Tatsache, dassfünf Mitgliedstaaten – Spanien, Griechenland, Slowakei,Rumänien und Zypern – das Kosovo nicht als eigenstän-digen Staat anerkennen, will sie einen Stabilisierungs-und Assoziierungsabkommen auf den Weg bringen. Inder mit den Fortschrittsberichten veröffentlichten Mach-barkeitsstudie heißt es auf Seite 4: „Die Assoziierungdes Kosovo mit der Europäischen Union ist mit der Tat-sache vereinbar, dass die Mitgliedstaaten der Union un-terschiedliche Standpunkte in Bezug auf den völker-rechtlichen Status des Kosovo haben.“ Es scheint, alssollte hier das Krisenpotenzial des Westbalkan in die EUselber hineingetragen werden.Bosnien-Herzegowina ist derzeit das räumliche undpolitische Krisenzentrum. In dem Fortschrittsbericht istdie Rede davon, dass Korruption sowohl im öffentlichenSektor als auch im Privatsektor noch immer ein weitver-breitetes und gravierendes Problem ist. Die Zersplitte-rung der Polizeikräfte in Bosnien und Herzegowinawirkt sich nach wie vor nachteilig auf die Effizienz, dieZusammenarbeit und den Informationsaustausch aus.Die Roma sehen sich nach wie vor mit sehr schwierigenLebensbedingungen und mit Diskriminierung konfron-tiert. Positive Wandlungen können kaum festgestelltwerden.Kroatien soll am 1. Juli 2013 der 28. Mitgliedstaatder EU werden, aber der Fortschrittsbericht zählt zehnPunkte auf, die der Aufnahme entgegenstehen. Im Hin-blick auf den Grenzverlauf sind mit Serbien, Monteneground Bosnien-Herzegowina keine konkreten Fortschritteerzielt worden. Die Romaminderheit lebt unter beson-ders schwierigen Bedingungen. Bildung, Sozialschutz,Gesundheitsversorgung, Beschäftigung und der Zugangzu Personaldokumenten sind weiterhin problematisch.Bundestagspräsident Lammert fordert angesichts derBewertung der Fortschritte in Kroatien einen Stopp derEU-Erweiterung. Auch die negativen Erfahrungen derBeitritte von Bulgarien und Rumänien könnten nichtignoriert werden. Die EU müsse sich erst selber stabili-sieren, bevor sie sich erweitern könnte. Hier deutet sichein politischer Kurswechsel an, der die Lösung derKrise eher in der Konzentration auf ein Kerneuropa bzw.ein Europa der zwei Geschwindigkeiten sieht.Innenminister Friedrich stößt in das gleiche Horn. Erwill die Visumspflicht für die Balkanstaaten Bosnien-Herzegowina, Albanien, Mazedonien, Serbien und Mon-tenegro wieder einführen. Er bekommt von der EU-In-nenkommissarin Malmström hierin Unterstützung. Erstim Juni hat die EU Beitrittsverhandlungen mit Monte-negro beschlossen, obwohl das Land als eines der kor-ruptesten Länder der Welt gilt. Gegen den gerade ge-wählten Premierminister Milo Djukanovic laufen inmehreren westeuropäischen Ländern Verfahren gegengroß angelegten Zigarettenschmuggel. Seine Familie istin zahlreiche Affären verstrickt. Justiz und Medien ste-hen unter dem Einfluss der Regierung.Angesichts der realen Lage auf dem Westbalkan istschwer nachvollziehbar, warum in der jetzigen Situationnoch von Fortschrittsberichten gesprochen wird. Es sindStagnations- oder sogar Rückfallberichte, die wir hierzur Kenntnis nehmen müssen. Große Teile des Balkaninnerhalb und außerhalb der EU sind heute wieder poli-tische und ökonomische Zonen der Instabilität. Geradedeswegen ist es wichtig, an der Idee von einem friedlichgeeinten Kontinent festzuhalten.Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):Der Westbalkan bleibt eine fragile und gefährlicheKrisenregion. Es bestehen Spannungen und ungelösteKonflikte. Die Gefahr eines erneuten Gewaltausbruchsist leider immer noch nicht gebannt. Die Region benötigttrotz Euro-Krise eine hohe Aufmerksamkeit der europäi-schen Politik.Die 2003 in Thessaloniki eröffnete Beitrittsperspek-tive ist ein wichtiges Instrument für Stabilität und Frie-den auf dem Westbalkan. Der voraussichtliche BeitrittKroatiens am 1. Juli 2013 und die Aufnahme vonBeitrittsverhandlungen mit Montenegro sind richtigeSignale. Sie zeigen, dass die Europäische Union weiterzu der Thessaloniki-Agenda steht. Umso beunruhigen-der sind aktuelle Äußerungen, die unnötigerweise denBeitritt Kroatiens und die Visumfreiheit für Serbien undMontenegro in frage stellen. Gerade die Reisefreiheitlässt die Menschen auf dem Westbalkan die Vorzüge derAnnäherung an die Europäische Union konkret erleben.Der Austausch fördert das Zusammenwachsen desKontinents und trägt die Erfahrung demokratischerZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23985
Marieluise Beck
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Bürgergesellschaften in die Transformationsländer Süd-osteuropas.Der anstehende Beitritt Kroatiens ist ein Bespiel fürdie Reformkraft, die der Beitrittsprozess auslösen kann.Die EU-Kommission hat aus den vorangegangenenErweiterungen gelernt und auf strikte Konditionalitätgeachtet. Diese Strategie hat in Kroatien Wirkung ge-zeigt. Es ist klar, dass auch die anderen Staaten desWestbalkans nur beitreten können, wenn sie die Bedin-gungen vollständig erfüllen. Politische Rabatte kann esnicht geben.Eine rein technische Erweiterungslogik ist allerdingsnicht ausreichend. Einzelne Länder drohen dabei aufder Strecke zu bleiben, weil bestehende Konflikte nurschwer zu lösen sind und ein Fortkommen verhindern.Deshalb muss die Europäische Union ihr Prinzip vonAnreiz und strikter Konditionalität durch eine aktivePolitik ergänzen, die die bestehenden Konflikte zu lösensucht. Nur so kann Chancengleichheit zwischen denzukünftigen Beitrittsländern hergestellt werden. Und nurso können die Länder möglichst zeitnah zueinanderbeitreten. Sollten einzelne Staaten von der Annäherungan die Europäische Union abgehängt werden, drohensich die bestehenden Spannungen zu verstärken – mitnicht absehbaren Folgen.Viele der bestehenden Konflikte auf dem Westbalkansind ohne eine Einigung der europäischen Politik nichtzu lösen. Die Europäische Union muss sich deshalb aufgemeinsame Grundsätze in der Westbalkanpolitik eini-gen. Allem zugrunde muss ein klares Bekenntnis zurUnverrückbarkeit der Grenzen liegen. VereinzelteVorschläge, Länder entlang ethnischer Grenzen zu spal-ten, bergen unabsehbare Risiken für mögliche Ketten-reaktionen. Denn in der gesamten Region ist das Zusam-menleben der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppenund Minderheiten fragil.Auch gegenüber den einzelnen Ländern des Westbal-kan muss die Europäische Union Einigkeit herstellen. Sokann der Aufbau des Rechtsstaats im Kosovo durch dieEU-Mission EULEX nur gelingen, wenn alle Mitgliederder Europäischen Union das Land anerkennen undEULEX nicht länger statusneutral agieren muss. Weileine Teilung des Kosovo aus den genannten Gründennicht hingenommen werden kann, ist von Serbien derAbbau der Parallelstrukturen im Nordkosovo zu fordern.Vorher kann es keine Beitrittsverhandlungen mit Serbiengeben. Auf lange Sicht ist für den Beitritt Serbiens eineAnerkennung des Kosovo nötig. Denn gute Nachbar-schaft ist ein Grundprinzip der Europäischen Union.Andernfalls könnten die Länder gegenseitig den Beitrittblockieren oder später durch Blockaden innerhalb derUnion deren Funktionsfähigkeit bedrohen.Der Namensstreit zwischen Griechenland und Maze-donien muss endlich beendet werden, damit MazedonienBeitrittsverhandlungen aufnehmen kann. In Montenegrosollten wir in den Bereichen Korruption und organisier-ter Kriminalität genauer hinsehen, wenn der Reform-prozess durch die beginnenden Beitrittsverhandlungenein Erfolg werden soll. In Bosnien und Herzegowina be-reiten zwei Jahre Dauerblockade und völliger Stillstandgroße Sorge. Dieser Zustand zeigt, dass Anreizpolitikund Ownership allein nicht ausreichen, um Reformenanzustoßen. Die Europäische Union hat die weiterhinbestehende Nachkriegsordnung 1995 in Dayton mit ver-fasst. Sie hat deshalb nicht nur ein eigenes Interesse,sondern auch eine Verantwortung, die diskriminierendeund undemokratische Dayton-Verfassung zu überwin-den. Nur so kann das Land regierbar werden und sichauf den Beitritt zur Europäischen Union vorbereiten.Auch wenn die Kräfte der Europäischen Union durchdie Euro-Krise stark gebunden sind, ist eine aktive West-balkan-Politik dringend nötig. Deutschland sollte mitseinen zahlreichen Verbindungen in die Region und sei-nem Gewicht innerhalb der Europäischen Union voran-gehen und die Initiative auf dem Westbalkan ergreifen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Auswärtige Aus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/11034, den Antrag der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/9744 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion und der
Fraktion Die Linke gegen die Stimmen der SPD-Frak-
tion bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes und
anderer umweltrechtlicher Vorschriften
– Drucksache 17/10957 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Rechtsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir
die Reden zu Protokoll.
Der vorliegende Gesetzentwurf zur Änderung desUmwelt-Rechtsbehelfsgesetzes und anderer umwelt-rechtlicher Vorschriften klingt zunächst technisch undwenig spektakulär. Allerdings geht es darin um nicht we-niger als um die künftige Infrastruktur in Deutschland,um den Umbau unserer Energieversorgung, es geht umdie Beteiligung der Öffentlichkeit bei großen Bauvor-haben wie etwa Industrieanlagen, und es geht vor allemum die Stellung der Umweltverbände im deutschenRechtsgefüge.Was ist der Hintergrund? Mit Urteil vom 12. Mai2011 hat der Europäische Gerichtshof den deutschenUmweltverbänden mehr Klagerechte zugebilligt.Danach können diese grundsätzlich in einem gerichtli-chen Verfahren auch die Verletzung der objektiven maß-geblichen Umweltvorschriften des Unionsrechts geltendmachen. Den Umweltverbänden werden demnach we-sentlich mehr Klagerechte eingeräumt, als das geltendedeutsche Recht derzeit vorsieht. Diese weitergehende
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23986 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Dr. Thomas Gebhart
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Regelung leitet der EuGH aus der Umweltverträglich-keitsrichtlinie, Richtlinie 85/337/EWG des Rates überdie Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öf-fentlichen und privaten Projekten, ab, die seiner Ansichtnach umfassendere Klagemöglichkeiten für die Umwelt-verbände vorsieht. Nach geltendem deutschem Rechtsind Umweltverbände bislang weitestgehend klage-befugten Personen gleichgestellt. Das deutsche Rechts-schutzsystem geht im Ansatz – nicht nur in diesemBereich – vom Individuum und dessen subjektiven Rech-ten aus. Den Umweltverbänden soll mit dem Urteil jetztdie Möglichkeit gegeben werden, auch die Verletzungobjektiver Umweltrechtsvorschriften zu rügen. Die Öff-nung der Verbandsklage im Verwaltungsverfahren undder Verwaltungsgerichtsbarkeit bedeutet ein Novum, dasauch in der deutschen Rechtswissenschaft nicht unum-stritten ist. Dadurch wird die Kontrollfunktion derumweltrechtlichen Verbandsklage erweitert. Klage-gegenstand kann nun beispielsweise auch die Wieder-herstellung der Artenvielfalt sein. Bei dieser Herange-hensweise sprechen viele von einer Zäsur im deutschenRechtsschutzsystem.Die Bundesregierung hat sich deshalb sehr intensivmit der Thematik befasst. Der Gesetzentwurf setzt dieeuropäischen Vorgaben in nationales Recht um. DaDeutschland auch nach der Aarhus-Konvention eine er-weiterte Verbandsklage im Umweltrecht zulassen muss,ergibt es sich, dass die erweiterte Verbandsklage nichtnur im Bereich der unionsrechtlich basierten Umwelt-vorschriften, sondern künftig auf den gesamten deut-schen Bestand der Umweltrechtsvorschriften Anwendungfindet. Durch die Änderung des Umwelt-Rechtsbehelfs-gesetzes wird sichergestellt, dass den Umweltverbändendiese hinreichenden Klagebefugnisse eingeräumt wer-den.Alles in allem hat der Gesetzentwurf aber viel Kritikerfahren. Auch ich möchte an dieser Stelle ausdrücklichbetonen, dass Deutschland beschlossen hat, seine Ener-gieversorgung umzubauen. Wir benötigen neue Netze.Es werden neue Offshorewindenergieanlagen gebaut.Wir benötigen zur Überbrückung lastschwacher Zeitenhocheffiziente und flexible Gaskraftwerke. Bei diesenBau- und Großvorhaben sind in vielen Fällen Umwelt-verträglichkeitsprüfungen oder Überprüfungen nachdem Bundesimmissionsschutzgesetz notwendig. Glei-ches gilt bei Verkehrsprojekten oder Deponien. Mit derNeuregelung werden nun bei allen diesen Vorhabenauch die weitergehenden Klagerechte für die Umwelt-verbände greifen.Bereits heute werden zahlreiche Großprojekte ge-richtlich angefochten. Dies führt – in einigen Fällenauch begründet – zu erheblichen Verzögerungen, die mithohen Kosten für die Unternehmen und schlussendlichdamit auch die Verbraucher verbunden sind. Die Indus-trie fürchtet daher weitere Verfahrensverzögerungen beiGroßprojekten. Es geht deshalb auch darum, ökologi-sche Gegebenheiten mit ökonomischen Erfordernissenin Einklang zu bringen. Ich begrüße daher außerordent-lich, dass mit dem Gesetzentwurf bewusst ein Ausgleichgeschaffen wird. Danach sieht der Gesetzentwurf in § 4 aUmwelt-Rechtsbehelfsgesetz vor, mit flankierendenMaßnahmen diesen Ausgleich zu schaffen. Sofern dieUmweltverbände die Verletzung objektiven Umwelt-rechts rügen, müssen sie bestimmte Fristen einhaltenund ihre Klagen ausreichend begründen. Dies ist im An-gesicht der Herausforderungen, beispielsweise im Be-reich der Energieversorgung, durchaus angemessen.Durch die flankierenden Maßnahmen stellen wirsicher, dass Umweltverbände sich weiterhin genau über-legen, gegen welche Großvorhaben sie aufgrund ihrererweiterten Befugnisse künftig Klage erheben. Dadurchwollen wir in der konkreten Ausgestaltung sicherstellen,dass sich die Rahmenbedingungen bei Vorhaben wiezum Beispiel Infrastrukturprojekten im Energie- oder imVerkehrsbereich nicht so verändern, dass sich diesekaum noch durchsetzen lassen. Geschaffen werden sollein konstruktives Miteinander. Wir wollen, dass die Um-weltverbände gestärkt und die Umwelt geschützt wer-den. Wir wollen aber auch, dass in Deutschland auchkünftig wichtige Infrastrukturprojekte entstehen. Wirwollen, dass die Akzeptanz von Großprojekten steigt undeine frühe Öffentlichkeitsbeteiligung geschaffen wird,und wir wollen, dass Deutschland Industrieland bleibtund Investitionen in Deutschland weiter stattfinden.Dass der Bundesrat die komplette Abschaffung des § 4Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz fordert, ist aus meinerSicht unverständlich. Auch den Ländern sollte daran ge-legen sein, dass wichtige Großprojekte realisiert werdenkönnen.Darüber hinaus werden weitere europarechtliche Er-fordernisse mit dem Gesetzentwurf in deutsches Rechtumgesetzt. Beispielsweise wird eine UVP-Pflicht fürProjekte zur Verwendung von Ödland oder naturnahenFlächen zu intensiver Landwirtschaftsnutzung geschaf-fen und künftig im Umwelt-Verträglichkeitsprüfungs-gesetz des Bundes geregelt.Der Gesetzentwurf wird nun in den Ausschuss über-wiesen. Am kommenden Montag findet eine Anhörungstatt. Ich bin davon überzeugt, dass der eingeschlageneWeg im Ergebnis von den Sachverständigen bestätigtwird.
Ich begrüße den Entwurf zur Neugestaltung des Um-welt-Rechtsbehelfsgesetzes. Durch das Trianel-Urteildes Europäischen Gerichtshofs vom 12. Mai 2011 wurdeDeutschland veranlasst, das Verbandsklagerecht zu än-dern. Das Gericht beanstandete die Beschränkungen aufdie Verletzung subjektiver Rechte. Es ist schade, dassDeutschland erst nach mehrmaliger Aufforderung durchden Gerichtshof in Luxemburg die Mitbestimmungs-rechte seiner Bürger erweitert. Deutschland gehört zuden Mitgliedsländern der Europäischen Union, die Kla-gerechte noch immer einschränken. Deswegen hat dieEuropäische Kommission Ende September ein Verfahrenwegen Vertragsverletzung eingeleitet.Erst durch den neuen Gesetzentwurf werden Umwelt-verbandsklagen den Individualklagen gleichgestellt.Künftig können auch Verbände gegen Verletzungen allerumweltrechtlichen Vorschriften Klage einreichen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23987
Josef Göppel
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Dennoch beschreitet Deutschland noch immer einenSonderweg. Das Klagerecht bleibt eingegrenzt. Die„flankierenden Regelungen“ eines neuen § 4 a UmwRGschränken Klagerechte auf folgende Weise ein:Erstens. Die Einführung einer Klagebegründungs-frist. Zweitens. Das Gericht muss den Sachverhalt einerbehördlichen Entscheidung nur formal auf Vollständig-keit hin überprüfen, nicht jedoch auf inhaltliche Fehleroder Lücken. Drittens. Ein Gericht kann erhöhte Anfor-derungen an die aufschiebende Wirkung von Rechtsbe-helfen anordnen.Auch der Bund der deutschen Verwaltungsrichtersieht hier eine Gefahr. Er befürchtet, dass Deutschlanddie Vorgaben aus Brüssel nicht weit genug umsetzt. DieVerwaltungsrichter hegen weiter Bedenken gegen denneuen § 4 a UmwRG. Dieser Position schließe ich michan. Der Bundesrat hat sich bereits im September für dasStreichen der „flankierenden Maßnahmen“ ausgespro-chen.Ich werde mich auch weiterhin dafür einsetzen, dassGenehmigungen bei fehlerhaften Umweltverträglich-keitsprüfungen aufgehoben werden müssen. Hier mussrechtliche Klarheit geschaffen werden.Anerkannte Umweltverbände werden in ihren Rech-ten durch die Änderungen zwar gestärkt – das Klage-recht ist ein wichtiger Schritt zur Mitgestaltung – den-noch erfüllen die deutschen Vorschläge noch nicht alleeuropäischen Anforderungen. Es muss mit weiteren Nie-derlagen vor dem Europäischen Gerichtshof gerechnetwerden. In Deutschland machen Umweltverbandsklagenim Übrigen nur 0,03 Prozent aller Verwaltungsgerichts-verfahren aus. Die Angst vor einer Klageflut ist alsonicht begründet.Andere europäische Länder haben es vorgemacht.Auch wir sollten die Bürger stärker einbinden. Dafürmüssen neue Möglichkeiten der Partizipation geschaf-fen werden.
Es ist eine traurige Angelegenheit, die es heute zu be-sprechen gilt. Und es hätte nicht so weit kommen müs-sen, das steht fest. Die handwerklichen Fehler im Um-welt-Rechtsbehelfsgesetz waren schon länger klar, derReformbedarf ist offensichtlich. Die notwendigen Klar-stellungen und inhaltlichen Verbesserungen der in unse-rer Zeit enorm wichtigen Beteiligungsrechte nun auf dievom Minister Altmaier vorgelegte Art und Weise ange-hen zu wollen, zeigt schlicht, dass es in dieser Sacheüberhaupt kein Problembewusstsein gibt.Diese mangelnde Ernsthaftigkeit wurde durch HerrnMinister Altmaier auf einer Pressekonferenz vom16. August 2012 erneut auch persönlich zur Schau ge-stellt: Angesprochen auf das Umwelt-Rechtsbehelfsge-setz, erklärte er, und ich zitiere: „Das hat uns der EuGHeingebrockt“.Das Rechtsverständnis des Juristen Altmaier ist be-merkenswert: Nicht die handwerklichen Fehler des Ge-setzes sind schuld an der Verurteilung der BundesrepublikDeutschland wegen nicht EU-rechtmäßiger Umsetzungder Aarhus-Konvention und der Richtlinie zum Zugangzu Gerichten, sondern der EuGH als Überbringer derschlechten Nachrichten. Hört sich so ein Minister an,der Einsicht zeigt und die aufgezeigten Rechtswidrigkei-ten in der Gesetzgebung aktiv und zur allgemeinen Zu-friedenheit lösen will? Ich denke kaum.Dabei haben wir als Arbeitsgruppe Umwelt der SPD-Bundestagsfraktion schon vor Jahren im Plenum mit ei-ner Erklärung nach § 31 GO auf die Unionsrechtsmän-gel im Rechtsbehelfsgesetz hingewiesen. Die Beschrän-kung der Rügebefugnis von Umweltverbänden aufdrittschützende Normen ist offensichtlich eine politischmotivierte Fehleinschätzung gewesen.Nun scheint sich diese Erkenntnis bei Herrn Altmaierauch durchgesetzt zu haben, der Richterspruch desEuGH hat seinen Reflexionsprozess aber nicht ausrei-chend angeregt. Betrachtet man den jetzt vorliegendenEntwurf, so ist immerhin der eben angesprochene Fehlergeheilt. Allerdings hat der Gesetzentwurf im Beratungs-verfahren vom ersten Entwurf bis zur heutigen Vorlagean anderen Stellen Änderungen erfahren, die wieder miteiniger Wahrscheinlichkeit EU-rechtswidrig sein wer-den.Die besagten Änderungen gehen auf Interventionenund ein Positionspapier des Bundesverbandes der Deut-schen Industrie, BDI, zurück, dessen Formulierungsvor-schläge – flankiert durch das Bundeswirtschaftsministe-rium – dann auch teilweise in die Vorlage des BMUübernommen wurden. Man fragt sich doch manchmal,wer im BMU eigentlich die Hosen anhat.Der BDI und das BMWi sind beide nicht eben dafürbekannt, eine breite Öffentlichkeitsbeteiligung bei Pla-nungs- und Genehmigungsverfahren zu befürworten,wie sie der heutigen Zeit und den komplexen Problem-stellungen in diesen Verfahren angemessen wäre. Viel-mehr argumentieren sie mit der Straffung der Verfahren,indem Bürger- und Verbänderechte eingeschränkt wer-den sollen und der Zugang zu Gerichten erschwert wer-den soll. Dass auf europäischer Ebene und darüber hi-naus durch die Aarhus-Konvention schon seit Jahrengenau das Gegenteil, nämlich eine Stärkung der Bürger-und Verbänderechte, vorangetrieben wird, wird vomBDI und BMWi, und nun anscheinend auch vom BMU,leider ignoriert.Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler hat dieseanachronistische Einstellung mit seiner Forderung un-terstrichen, man müsse europäisches Naturschutzrechtmal eben bei der Planung von Stromleitungen außerKraft setzen können. Im BDI-Positionspapier liest sichdas dann so: „Vor dem Hintergrund der aktuellen politi-schen Bemühungen zur Beschleunigung von Planungs-und Genehmigungsverfahren ist die Ausweitung derKlagerechte kontraproduktiv“ und „Der Ausweitung derKlagerechte für Verbände hinsichtlich des Gerichtszu-gangs müssen interessengerechte Beschränkungen ge-genüberstehen, um die Ausgewogenheit des deutschenRechtsschutzsystems zu gewährleisten“. Zu diesemZweck wurden daher im Gesetzentwurf die Präklusions-regeln verschärft und formale Hürden in der Verwal-
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23988 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Dr. Matthias Miersch
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tungsgerichtsordnung geschaffen, die mit einem hoheneuroparechtlichen Risiko verbunden sind. Ein Schelm,wer bei dem aktuell vorliegenden Entwurf des BMU nunBöses denkt.Wir haben auf Basis dieser Überlegungen eine Sach-verständigenanhörung im Umweltausschuss beantragtund werden das weitere Gesetzgebungsverfahren kri-tisch begleiten. Ziel des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzesmuss nicht nur seine EU-Konformität sein, sondern auchdem Geist des Gesetzes muss Rechnung getragen wer-den: Vorausschauende, transparente und bürgernahePlanungsverfahren mit breiten Beteiligungsmöglichkei-ten für Betroffene und Verbände werden letztlich dazuführen, Genehmigungsprozesse zu beschleunigen undweniger kostenintensiv zu gestalten. Wer erst allesdurchwinkt und sich nachher auch noch über Ärgerwundert, der hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt.
Derzeit bestimmt § 2 des Umwelt-Rechtsbehelfsgeset-zes, UmwRG, dass den Umweltverbänden nur dann eineigenes Klagerecht zusteht, wenn sie Vorschriften rügen,die dem Umweltschutz dienen, Rechte Einzelner begrün-den und für die Entscheidung von Bedeutung sein kön-nen.Genau diese Beschränkung stellt heute das Problemdar. Nach dem sogenannten Trianel-Urteil des Europäi-schen Gerichtshofs vom 12. Mai 2011sind Vorschriften des deutschen Umwelt-Rechtsbehelfs-gesetzes über den Gerichtszugang nicht mit Art. 10 a derUVP-Richtlinie der EU – jetzt Art. 11 – vereinbar, soweitanerkannte Umweltvereinigungen darin auf die Rügeder Verletzung subjektiv-öffentlicher Rechte beschränktwerden. Der nationale Gesetzgeber darf zwar den Ge-richtszugang von Einzelpersonen entsprechend eingren-zen, nicht jedoch den Gerichtszugang anerkannter Um-weltvereinigungen.Damit sind die Klagemöglichkeiten für Umweltver-bände nach geltendem deutschem Recht auf drittschüt-zende und auf dem Europarecht basierende Normen be-schränkt. Dies ist nach dem oben genannten EuGH-Urteil europarechtswidrig.Der EuGH hat dies damit begründet, dass nachArt. 10 a der UVP-Richtlinie, mit dem die EuropäischeUnion Vorschriften der UNECE-Aarhus-Konventionüber den Gerichtszugang in Umweltangelegenheitenumgesetzt hat, Umweltverbände die Möglichkeit erhal-ten müssen, die Verletzung aller für die Zulassung vonVorhaben maßgeblichen Umweltvorschriften gerichtlichgeltend machen zu können, die auf dem Unionsrecht ba-sieren. Anerkannten Umweltverbänden ist danach inUmweltangelegenheiten ein weiterer Zugang zu den Ge-richten zu gewähren. Es bedarf somit einer Anpassungdes deutschen Rechts an die europarechtlichen Vorga-ben.Seit dem 10. Oktober 2012 liegt daher ein Gesetzent-wurf der Bundesregierung zur Änderung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes und anderer umweltrechtlicherVorschriften vor, um insbesondere bei dieser Problema-tik Abhilfe zu schaffen.Umweltverbände sind damit nicht mehr auf die Gel-tendmachung von Grundrechtsverstößen beschränkt, dieauch die betroffenen Bürgerinnen und Bürger zu einerKlage berechtigen würden. Mit seinem Urteil hat derEuGH die Rechte von anerkannten Umwelt- und Natur-schutzverbänden in Deutschland damit gestärkt. Diesekönnen nun auch die Beachtung eines vorsorgendenUmweltschutzes, beispielsweise im Bereich der Luftrein-haltung und des Artenschutzes, einfordern. Dies gehtdeutlich über die bisherigen Klagerechte hinaus.Ziel des vorliegenden Gesetzentwurfs ist es, nebender europarechtlich gebotenen Ausweitung des Ver-bandsklagerechts auch einen Ausgleich zwischen Um-weltschutz und der Verwirklichung von Großprojektenzu schaffen, beispielsweise solchen, die zur Umsetzungder Energiewende notwendig sind, aber auch Vorhabender Wirtschaft, um Arbeitsplätze in Deutschland zu hal-ten. Es geht insgesamt nicht nur um Projekte wie denBau von Automobilfabriken, Stahl- oder Kohlekraftwer-ken, sondern auch um den dringend notwendigen Aus-bau der Stromnetze und Speicherkraftwerke. Wenn man,wie die Grünen, mit Nachdruck den Ausstieg aus derAtomkraft und die Energiewende gefordert hat, dannmuss man jetzt auch ehrlich zu den Bürgern und konse-quent im Handeln sein.Art. 1 des Gesetzentwurfs enthält die zur Umsetzungdes Trianel-Urteils notwendigen Änderungen desUmwRG. Dazu ist vorgesehen, bei der Umweltverbands-klage die bisherige Beschränkung der Rügebefugnis aufindividualrechtsschützende Umweltvorschriften ersatz-los entfallen zu lassen.Die Art. 2 bis 13 des Entwurfs enthalten weitere punk-tuelle Anpassungen verschiedener Rechtsvorschriften.Bei diesen Änderungen ergibt sich der Regelungsbedarfnicht aus dem Trianel-Urteil. Vielmehr geht es um dieUmsetzung von Vorgaben, die sich aus anderen Urteilendes EuGH und aus Forderungen der EuropäischenKommission ergeben, ferner um inhaltliche Klarstellun-gen sowie redaktionelle und rechtstechnische Korrektu-ren.Die Herausforderung bei der Novellierung des Um-welt-Rechtsbehelfsgesetzes besteht darin, einen Aus-gleich zwischen der europarechtlich gebotenen Auswei-tung der Verbandsklage und der Umsetzung bzw.Verfahrensbeschleunigung bei dringend notwendigenInfrastrukturprojekten zu schaffen; denn es ist zu be-fürchten, dass durch die Ausweitung der Verbandsklagedie Genehmigungsdauer für Projekte noch weiter zu-nimmt und auch die Kosten für diese Projekte weitersteigen. Hierdurch könnte für Deutschland ein erheb-licher Wettbewerbsnachteil entstehen. Diese Interessenwill der vorliegende Gesetzentwurf berücksichtigen. Zielist es, die möglichen kontraproduktiven Wirkungen vonVerbandsklagen abzufedern. Insbesondere soll verhin-dert werden, dass das Instrument der Verbandsklage inder Praxis zu sachlich ungerechtfertigten Verzögerun-gen von Vorhaben instrumentalisiert wird.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23989
Judith Skudelny
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Dazu wird beispielsweise mit dem neuen § 4 a „Maß-gaben zur Anwendung der Verwaltungsgerichtsord-nung“ eine zwingende Klagebegründungsfrist von sechsWochen eingeführt. Die Klagebegründungsfrist be-schneidet nicht die Möglichkeit des Gerichts, daraufhinzuwirken, dass unerfahrene oder nicht fach- undrechtskundige Individualkläger sachdienliche Tatsachenund Beweismittel vortragen. Diese Klagebegründungs-frist kann auf Antrag durch das Gericht nach seinem Er-messen verlängert werden.Die Verbandsklage bezieht sich auf nahezu alle indus-trierelevanten Entscheidungen, wenn mit ihr behörd-liche Entscheidungen bei UVP-pflichtigen Vorhaben,Genehmigungen für Anlagen nach einem förmlichenimmissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren,wasserrechtliche Erlaubnisse und Planfeststellungsbe-schlüsse für Deponien angegriffen werden können. Dieszeigt die hohe praktische Relevanz und Bedeutung die-ses Gesetzentwurfs, insbesondere vor dem Hintergrundder Herausforderungen der Energiewende. Als liberalePartei wollen wir in Deutschland Vorhaben verwirk-lichen und nicht ausbremsen; denn bereits jetzt dauernGenehmigungsverfahren in Deutschland zu lange.
über die europarechtlichen Anforderungen hinausgehen,würden die Klagemöglichkeiten erheblich ausgeweitet,wodurch Deutschland ein wesentlicher Wettbewerbs-nachteil entstehen würde. Wir wollen Arbeitsplätze inDeutschland halten und neue schaffen. Dazu benötigenwir Vorhabenträger, die weiterhin in den StandortDeutschland investieren. Was wir nicht brauchen, sindForderungen wie die der Grünen, die den Wirtschafts-standort Deutschland und damit Arbeitsplätze gefähr-den.Das bedeutet nicht, dass wir die demokratischen Mit-wirkungsrechte der Bürger beschneiden wollen. Die He-rausforderungen der Energiewende beispielsweise wol-len wir nicht gegen die Bevölkerung durchsetzen,sondern mit ihr umsetzen. Die bestehenden Klagemög-lichkeiten haben sich dazu als ausreichend und ange-messen erwiesen. Eine über die Vorgaben des EuGHhinausgehende Erweiterung der Klagemöglichkeiten istnicht erforderlich.Ziel muss es sein, ein ausgewogenes Maß an demo-kratischen Mitwirkungsrechten der Bürger auf der einenSeite und die Umsetzbarkeit von notwendigen Vorhabenwie dem Netzausbau und dem Bau von Speicherkraft-werken auf der anderen Seite zu gewährleisten.
Zu der heute vorliegenden Novelle der Bundesregie-rung zum Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz fällt mir nur nochdie Filmkomödie „Und täglich grüßt das Murmeltier“ein. Die Debatten um das Recht der Umweltverbändeund jeder Person, Genehmigungen von Großvorhabengerichtlich überprüfen zu lassen, finden in diesemHause seit Jahren mit schöner Regelmäßigkeit statt.Worum geht es? Es geht um die Aarhus-Konvention,eine Vereinbarung der europäischen Länder zu mehrBürgerrechten in Umweltfragen, die 2001 in Kraft trat.In Europa hat seitdem jede Person das Recht auf Infor-mationen über die Einhaltung von Umweltvorschriftenbis hin zur Klagemöglichkeit bei Beeinträchtigungen derUmwelt durch Großvorhaben. Die Bundesregierung hatdazu mit großer Verspätung, erst 2006, ein sehr halbher-ziges Gesetz verabschiedet. Und auch das muss gesagtwerden, der damalige Bundesumweltminister der SPD,Sigmar Gabriel, hat dabei keine besonders rühmlicheRolle gespielt. Meine Fraktion hat damals darauf hinge-wiesen, dass das Gesetz unzureichend ist und mit einemEntschließungsantrag die Bundesregierung aufgefor-dert, umgehend einen neuen Gesetzentwurf vorzulegen,der den geforderten Rechtsschutz aller Umweltbelangedurchsetzt. Der Europäische Gerichtshof hat unsere Kri-tik mit seiner Entscheidung im Mai 2011 bestätigt. Nurwenige Monate später erinnerten die Grünen mit einemGesetzentwurf die Bundesregierung an ihre nicht erle-digte Hausaufgabe.Nach einem weiteren Jahr haben Sie nun, meine Da-men und Herren auf der Regierungsbank, eine Gesetzes-novelle vorgelegt. Aber Sie wollen damit das bisherschon unzulängliche Klagerecht in unserem Land nochweiter einschränken. Das ist das Gegenteil von dem,was der Europäische Gerichtshof entschieden hat. Unddas ist das Gegenteil von Bürgerbeteiligung, Transpa-renz und Akzeptanz, die Bundesminister Altmaier vorwenigen Wochen als seine Arbeitsschwerpunkte postu-liert hat. Hier wird geltendes Recht komplett auf denKopf gestellt. Selbst der Bundesrat versagt dafür die Ge-folgschaft. Diese Gesetzesnovelle ist so nicht haltbar.Das werden in der nächsten Woche auch die Sachver-ständigen der öffentlichen Anhörung des Umweltaus-schusses im Bundestag bestätigen.So durchsichtig präsentiert uns die Bundesregierungihre Klientelpolitik auch nicht alle Tage. Und wenn diemöglichen Auswirkungen auf unsere Lebensumweltnicht so gravierend wären, hätte das Ganze sogar einengewissen Unterhaltungswert. Was steckt also dahinter,wenn bei Verstößen gegen Umweltvorschriften das Kla-gerecht weiter eingeschränkt werden soll? Zeit – es gehtum Zeitgewinn für weitere Genehmigungen von Groß-projekten, die eben nicht die Umweltstandards einhal-ten. Wahrscheinlich reicht das dem FDP-Wirtschaftmi-nister Rösler schon. Aber das ist ganz schlechter Stil undwird kaum zur Verbesserung des derzeit schlechten Ima-ges der Politik beitragen.Ich fordere die Bundesregierung heute erneut auf,umgehend einen neuen Gesetzentwurf vorzulegen, derden Rechtsschutz aller Umweltbelange durchsetzt unddamit das vom Europäischen Gerichtshof bestätigte un-eingeschränkte Informations- und Klagerecht für allePersonen und Umweltverbände gegen die Genehmigungaller Großprojekte, die Umweltvorschriften nicht ein-halten. Dabei empfehle ich, den Grünen-Gesetzentwurfaus dem letzten Jahr und den Antrag der Linken aus demJahr 2006 hinzuzuziehen. Darin findet sich alles, umdieses Gesetz zu dem zu machen, was es sein soll undwas die Bürgerinnen und Bürger von ihm erwarten: dieZu Protokoll gegebene Reden
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Sabine Stüber
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Umsetzung des Gedankens der Aarhus-Konvention, sowie es erstmals im Völkerrecht verankert wurde, in deut-sches Recht. Das heißt, ich sage es zum Schluss nocheinmal: Jede Person hat das Recht auf Information, Be-teiligung und Klagemöglichkeit zum Schutz der Umwelt.
Das gute alte Sprichwort „Was lange währt, wird
gut“, stimmt in diesem Fall leider gar nicht. Nach einer
fast einjährigen Ressortabstimmung und anderthalb
Jahre nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs
legt die Bundesregierung nun endlich einen Gesetzent-
wurf zum Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz vor. Dieser aber
ist eine Enttäuschung auf ganzer Linie. Wir haben be-
reits Ende letzten Jahres einen fachlich fundierten Ge-
setzentwurf vorgelegt, den Sie postwendend abgelehnt
haben. Hätten Sie mal damals unserem Gesetzentwurf
zugestimmt, dann hätte wir heute ein modernes und eu-
roparechtskonformes Beteiligungsrecht im Umweltbe-
reich. Stattdessen haben wir hier nun einen Entwurf auf
dem Tisch, der leider nicht zustimmungsfähig ist, weil er
erneut zu erheblichen Rechtsunsicherheiten führen wird.
Lassen Sie mich daran erinnern, welches der eigent-
liche Grund für die Neuregelung ist. Mit dem sogenann-
ten Trianel-Urteil stellte der Europäische Gerichtshof
fest, dass das deutsche Verbandsklagerecht nicht euro-
parechtskonform ist. Die Klagemöglichkeiten der Bür-
gerinnen und Bürger werden bisher unverhältnismäßig
stark eingeschränkt. Dies wurde zwar auch bereits bei
der Verabschiedung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes
von der Opposition und dem Sachverständigenrat für
Umweltfragen kritisiert, aber sie brauchten ja erst ein
Gerichtsurteil, um dies zu glauben.
Und was passiert nun, nachdem sie über anderthalb
Jahre Zeit hatten, darüber nachzudenken, wie dieses
recht deutliche Urteil umgesetzt werden kann? Sie legen
einen Gesetzentwurf vor, der absolut unzureichend ist.
Ich habe größte Zweifel, ob die vorgeschlagene Neurege-
lung den europa- und völkerrechtlichen Vorgaben ent-
spricht. Insbesondere die Regelungen der Aarhus-Kon-
vention werden sträflich missachtet. Das novellierte
Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz wird daher erneut gericht-
lich zu überprüfen sein. Eine Mehrbelastung der Ge-
richte, die sich eigentlich niemand wünschen kann, und
eine Verzögerung einer eindeutigen Gesetzgebung sind
die Folgen.
Und wenn Sie mir nicht glauben wollen, dann warten
Sie die Anhörung am Montag ab. Da werden Ihnen die
Gutachterinnen und Gutachter mit Sicherheit die Schwä-
chen Ihres Gesetzentwurfs verdeutlichen. Verschließen Sie
sich nicht allen Argumenten, und ergreifen Sie die
Chance, im parlamentarischen Verfahren den Gesetz-
entwurf so zu korrigieren, dass die Rechtsunsicherheiten
auf ein Minimum reduziert werden.
Da Sie nur zähneknirschend akzeptieren wollen, dass
die Klagemöglichkeiten gegen Vorhaben mit Umwelt-
auswirkungen ausgeweitet werden müssen, versuchen
Sie nun auf leicht durchschaubare Weise, durch die Hin-
tertür, die Klagemöglichkeiten wieder zu beschränken.
Sachliche Gründe für Einschränkungen beispielsweise
bei der Begründungsfrist oder bei der Begrenzung des
Rechtsschutzes gibt es nicht. Und bitte kommen Sie mir
nicht wieder mit dem Argument, mehr Klagerechte wür-
den allein dazu missbraucht, wichtige Infrastrukturpro-
jekte zu verzögern. Dies ist, gelinde gesagt, eine Unter-
stellung der übelsten Art, werte Kollegen von CDU/CSU
und FDP. Umfassende Klagemöglichkeiten führen häu-
fig dazu, dass sorgsamer geplant wird, dass alle umwelt-
rechtlichen Vorschriften eingehalten werden, und sie
steigern die Akzeptanz. Nur schlecht geplante Projekte,
bei denen, absichtlich oder fahrlässig, bestehende
Rechtsvorschriften ignoriert werden, müssen erweiterte
Klagemöglichkeiten fürchten.
Die Verbandsklage ist das erfolgreichste Instrument
zum Abbau von Vollzugsdefiziten im Naturschutzrecht.
Wir Grüne wollen auch, dass die Vollzugsdefizite im
Umweltrecht abgebaut werden. Bei Ihnen, werte Kolle-
gen von CDU/CSU und FDP, gewinnt man aber eher
den Eindruck, dass es Ihnen ganz recht ist, wenn mög-
lichst viele Vollzugsdefizite beim Umweltrecht entstehen.
Sie wollen anscheinend nicht, dass die bestehende Ge-
setzgebung möglichst konsequent umgesetzt wird. Das
zeigt sich nicht nur hier, sondern auch darin, dass in den
Ländern, in denen Schwarz-Gelb regiert, die Umwelt-
verwaltungen systematisch kaputtgespart werden oder
wurden. Ohne Fachverwaltung lässt sich der Vollzug
nicht mehr kontrollieren und ohne umfassende Klage-
rechte kann auch niemand mehr einen ordnungsgemä-
ßen Vollzug einklagen.
Aber damit werden Sie nicht durchkommen; wir wer-
den auf Bundesebene dafür sorgen, dass es zukünftig
starke Klagerechte für Umweltverbände gibt. Und wir
werden auf Landesebene die von Ihnen kaputtgesparten
Umweltverwaltungen wieder stärken. Wir machen Um-
weltpolitik nicht allein für den Grünen Tisch, wir wollen
Umweltgesetze auch umsetzen.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 17/10957 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esanderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dannist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. IljaSeifert, Dr. Martina Bunge, Matthias W.Birkwald, weiterer Abgeordneter und derFraktion DIE LINKEBehindern ist heilbar – Unser Weg in eineinklusive Gesellschaft
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Vizepräsidentin Petra Pau
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– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. IljaSeifert, Dr. Martina Bunge, Agnes Alpers,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKETeilhabesicherungsgesetz vorlegen– Drucksachen 17/7872, 17/7889, 17/10008 –Berichterstattung:Abgeordnete Maria MichalkAuch hier nehmen wir, wie in der Tagesordnung aus-gewiesen, die Reden zu Protokoll.
Wohl niemand bestreitet in diesem Hohen Haus, dassinklusive und integrative Ansätze seit langem sich wieein roter Faden durch unsere parlamentarische Arbeitziehen. Wir wollen die Rahmenbedingungen für die Teil-habe von Menschen mit Behinderungen in allen Berei-chen unserer Gesellschaft voranbringen. Inklusion istdie konsequente Weiterentwicklung von dem, was wirvor langer Zeit unter dem Begriff der „Integration“ be-gonnen haben.Unter Integration wird die Eingliederung von Außen-stehenden in etwas Bestehendes verstanden.Inklusion bedeutet aber Einbeziehung und Öffnungdes Bestehenden. Das bedeutet, selbst auf andere zuzu-gehen, eigene Grenzen zu verschieben. Wenn wir Teil-habe, Chancengleichheit und Vielfalt in unserer Gesell-schaft verwirklichen wollen, müssen wir uns selbstöffnen. Das bedeutet:Wir brauchen eine gesellschaftlichtragfähige Kultur der Inklusion. Vorbehalte, Begeg-nungsängste, Umgangsunsicherheiten und ähnliche Er-scheinungsformen müssen überwunden werden, undzwar von jedem einzelnen von uns. Am erfolgreichstenwird dieser Prozess gelingen, je intensiver sich jede Bür-gerin und jeder Bürger mit diesen Fragen beschäftigt,unabhängig davon, ob eine persönliche Betroffenheit inder Familie, im Freundes- oder Kollegenkreis vorliegt.Mut machen dazu gelungene Beispiele aus dem wah-ren Leben, so wie ungelöste Situationen natürlich Zwei-fel an der Verwirklichung dieses Zieles schüren.Ich möchte nicht nur zum Nachdenken anregen, son-dern zum Handeln vor Ort. Das liegt ganz im Interesseder Kampagne der Bundesregierung, die unter anderemmit dem Motto „Behindern ist heilbar“ für Offenheitund aktives Handeln wirbt. Insofern ist Mahnung ausdem Antrag der Linken kein neuer Ansatz, und die auf-geführten 10 Punkte sind keine neue Idee. Ich will daranerinnern, dass wir den Nationalen Aktionsplan der Bun-desregierung sowohl im Deutschen Bundestag debattiertals auch Anhörungen zu ihm durchgeführt haben. Er istkein Gesetz, sondern ein Programm, das selbstverständ-lich immer wieder mit neuen Umsetzungsideen angerei-chert wird. Ich will auch daran erinnern, das inDeutschland das Diskriminierungsverbot existiert. ImBundeshaushalt sind finanzielle Grundlagen aufgenom-men, die in der mittelfristigen Finanzplanung fortge-schrieben werden.Das geforderte „Screening“ aller bestehenden Ge-setze und Verordnungen auf behindertenrelevante The-menstellungen ist ein ständiger Prozess und parlamenta-rische Praxis. Auch die Forderung, den Kostenvorbehaltin § 13 SGB XII aufzuheben, ist unrealistisch, weil damitdas Subsidiaritätsgebot aufgegeben wird. Und eine hö-here Sensibilität bei den Ausschreibungen von öffentli-chen Aufträgen, Projekten und Maßnahmen in diesemBereich unter Qualitätsgesichtspunkten zu erreichen –auch dieser Punkt ist parlamentarisch bearbeitet und aufden Weg gebracht. Im Übrigen ist darauf zu verweisen,dass eine offizielle Übersetzung der BRK verwendetwird, die keine Interpretationsspielräume zulässt. Wohlniemand kann ernsthaft bestreiten, dass der Konsultati-onsprozess und die Erarbeitung des NAP unter breiterEinbeziehung der betroffenen Menschen und ihrer Inter-essensvertretungen stattgefunden hat und in der Umset-zung der permanente Dialog gepflegt ist, weil unstrittigist, dass nicht über Menschen mit Behinderungen ge-sprochen wird, sondern mit ihnen. Sie sind Experten ineigener Sache.Zusammenfassend ist festzustellen, dass alle 10 Punkteaus dem Antrag bereits heute „unser täglich Brot“ sind.Der Antrag hat sich erledigt bzw. wäre nicht notwendig.Die weitere Aufforderung, ein Teilhabesicherungsge-setz vorzulegen, ist parlamentarisch zwar legitim, abernicht verantwortungsvoll. Es liegt uns allen am Herzen,die volle und wirksame Teilhabe für Menschen mit Be-hinderungen durch flächendeckende, soziale, inklusivausgestaltete Infrastrukturgegebenheiten zu sichern.Und der Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile istunser gemeinsames Ziel. Das ist auch das Wesensmerk-mal des SGB IX in seiner aktuellen Fassung. Nicht vonungefähr ist der Beschluss der SMK zustande gekom-men, stärker als bisher die individuelle Situation des je-weils Betroffenen zu berücksichtigen.Ich habe es bereits in meiner Rede zur 1. Lesung die-ses Antrages gesagt: Der Paradigmenwechsel im SGBIX, der vom Gesetzgeber beschlossen und mit der UN-Behindertenrechtskonvention unterstrichen wurde, mussvor Ort gelebt werden. Vor Ort ist das Mühen deutlicherkennbar. Aber leider erreichen uns immer wieder Bei-spiele, dass vom Gesetzgeber gegebene Entscheidungs-spielräume zum Nachteil des Betroffenen nicht genutztwerden. Das muss sich ändern.Deshalb ist auch der Beschluss der Bund-Länder-Ar-beitsgruppe zur Weiterentwicklung der Eingliederungs-hilfe der ASMK so wichtig, wo vereinbart wurde, dassein Verfahren etabliert werden sollte, das den Menschenmit Behinderungen in seiner Situation ganzheitlich er-fasst, ihn aktiv einbezieht und sein Wunsch- und Wahl-recht berücksichtigt. In Zukunft sollte also stärker alsbisher die Gesamtplanung der Unterstützungsnotwen-digkeiten und -möglichkeiten erfolgen, und zwar träger-übergreifend. Die trägerübergreifende Arbeit ist nachder Gesetzeslage bereits heute möglich, wird aber in vielzu geringem Umfang praktiziert. Da sind wir uns einig.Hintergrund ist natürlich die Kostenbetrachtung. Uns istdie Forderung, die Bund-Länder-Finanzbeziehungen indiesem Bereich zu überprüfen und neu zu regeln, nicht
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Maria Michalk
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verborgen geblieben. Ich denke, wir müssen uns mit die-ser Frage beschäftigen, aber nicht auf der Grundlage ei-nes neuen Behindertenbegriffs, wie im Antrag beschrie-ben. Was wir brauchen, ist ein nach festen Kriterienagierendes, für alle Bundesländer verbindliches Verfah-ren. Die Gesetzesgrundlage ist das eine, die Ausfüh-rungsbestimmungen und die gängige Praxis in den Län-dern das andere. Das beweist der sehr breite Korridorder bewilligten Eingliederungshilfe je Person im jewei-ligen Land.Die Komplexität dieser Thematik verbietet Schnell-schüsse. Ich wünsche mir auch, dass wir in der gemein-samen Arbeit zwischen Bund und Ländern in diesemThemenbereich zu einem tragfähigen Ergebnis kommen.Aber wie Sie wissen, hält der seit Jahren geführte inten-sive Diskussionsprozess an. Da alle hier im DeutschenBundestag vertretenen Fraktionen in unterschiedlicherKonstellation Regierungsverantwortung in den Länderntragen, haben wir uns gegenseitig keinen Vorwurf zumachen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken. Ich bin
Ihnen sehr dankbar, dass Sie mit Ihren beiden Anträge
„Behindern ist heilbar – unser Weg in eine inklusive Ge-
sellschaft“ und „Teilhabesicherungsgesetz vorlegen“,
die wir heute diskutieren, einen Beitrag dazu leisten, die
Diskussion über die Behindertenrechtskonvention auf-
rechtzuerhalten. Die Ermöglichung einer gleichberech-
tigten und selbstbestimmten Teilhabe für Menschen mit
Behinderungen ist mir eine Herzensangelegenheit und
sollte auch zu keinem Zeitpunkt aus dem Fokus unserer
politischen Arbeit geraten.
Mit dem Nationalen Aktionsplan der Bundesregie-
rung sorgt die unionsgeführte Bundesregierung für eine
umfassende Umsetzung der UN-Behindertenrechtskon-
vention und kommt einen großen Schritt voran auf dem
Weg in eine inklusive Gesellschaft. Der Nationale Ak-
tionsplan hat bereits und wird auch weiterhin das Leben
der rund 9,6 Millionen Menschen mit Behinderung in
Deutschland maßgeblich verbessern und beeinflussen.
Aber wir wollen nicht nur die physischen Barrieren be-
seitigen, sondern auch die psychischen, die eine Integra-
tion und Berührungen mit Menschen mit Behinderungen
erschweren. Mit den zahlreichen Einzelprojekten in un-
serem Aktionsplan beseitigen wir eben diese Barrieren.
Aufführen möchte ich hier zum Beispiel die Aufhe-
bung der 50-km-Regelung nach § 147 Abs. 1 SGB IX, die
das Bundesministerium für Arbeit und Soziales mit der
Deutschen Bahn ausgehandelt hat. Diese Regelung er-
möglicht den schwerbehinderten bzw. Schwerkriegsge-
schädigten Reisenden eine bundesweite, kostenfreie
Nutzung der Nahverkehrszügen der DB Regio AG.
Anführen möchte ich an dieser Stelle auch die
Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung – BITV –
2.0, welche sicherstellt, dass öffentlich zugängliche In-
ternetdienste und -angebote der Bundesverwaltung für
Menschen mit Behinderung uneingeschränkt genutzt
werden können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken: Wenn
Sie in Ihrem Antrag eine Einbeziehung der betroffenen
Menschen fordern, dann darf ich Sie darauf hinweisen,
dass die Entwicklung des Nationalen Aktionsplans ge-
rade gemeinsam mit Menschen mit Behinderung und ih-
ren Verbänden stattfand. Hierdurch wurden Qualität und
Wirkung der Maßnahmen gewährleistet.
Bemerkenswert finde ich auch, dass Sie sich sogar
den Titel der Kampagne des Bundesministeriums für Ar-
beit und Soziales „Behindern ist heilbar“, mit dem das
selbstverständliche Zusammenleben von Menschen mit
und ohne Behinderung in das Bewusstsein aller Men-
schen in Deutschland gebracht werden soll, zu eigen ge-
macht haben.
Ich freue mich, dass auch Sie die Kampagne für ge-
lungen erachten.
Aber zurück zu Ihrem Antrag: Mit der Forderung
nach zahlreichen neuen Leistungsansprüchen und der
Aufhebung der Anrechnung von Einkommen und Vermö-
gen in der Eingliederungshilfe unterlaufen Sie das Sys-
tem der beitragsfinanzierten Vorsorge und stellen auf
eine überwiegend steuerfinanzierte Leistung ab.
Mit der Einführung eines Teilhabesicherungsgesetzes
zulasten des Bundes mit generell bedürftigkeitsunabhän-
gigen Teilhabeleistungen – die im Übrigen deutlich über
den derzeitigen Aufwendungen für die Eingliederungs-
hilfe liegen würden und nicht gegenfinanziert sind – lö-
sen Sie die strukturellen Probleme der Eingliederungs-
hilfe für behinderte Menschen nicht.
Des Weiteren wäre eine zusätzliche Belastung für den
Bundeshaushalt in Milliardenhöhe vor dem Hintergrund
der in der letzten Sitzungswoche in erster Lesung debat-
tierten vollständigen Übernahme der Kosten der Grund-
sicherung im Alter und bei Erwerbsminderung durch
den Bund nicht vertretbar.
Meine sehr geehrten Damen und Herren der Fraktion
Die Linke, lassen Sie mich abschließend nochmals be-
tonen, dass ich Ihnen für Ihren Diskussionsbeitrag
dankbar bin – allerdings ist die Behindertenpolitik der
christlich-liberalen Koalition nicht von unerreichbaren
Versprechungen und einer fahrlässigen Auseinanderset-
zung mit den haushaltsrechtlichen Rahmenbedingungen
gekennzeichnet, sondern von realistischen Maßnahmen,
die Schritt für Schritt wirkungsvoll umgesetzt werden
und auf einer notwendigen, belastbaren Kostenfolgen-
abschätzung basieren. Wir sind mit unserem Aktionsplan
zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention
auf einem sehr guten Weg.
Daher müssen wir Ihre beiden Anträge leider ableh-
nen.
Wir befassen uns heute mit zwei Anträgen der Frak-tion Die Linke. In dem einen Antrag wird ein Teilhabege-setz gefordert; der andere Antrag trägt den Titel „Behin-dern ist heilbar – Unser Weg in eine inklusiveGesellschaft“. Dieser Weg ist lang. Auch wir müssen imBundestag noch so manche Barrieren beseitigen.Zu Protokoll gegebene Reden
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Gabriele Hiller-Ohm
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Wir alle erinnern uns: Im letzten Jahr musste der Tagder Menschen mit Behinderungen im Deutschen Bun-destag ausfallen und alle Gäste wieder ausgeladenwerden. Das war eine peinliche Angelegenheit. Leiderwar den Organisatoren zu spät aufgefallen, dass für dievielen angemeldeten Rollstuhlfahrerinnen und Roll-stuhlfahrer die Sicherheit hier im Gebäude nicht ge-währleistet werden konnte.Diesmal wird es klappen. Der Tag findet nun nächsteWoche statt. Etwa 300 Betroffene aus beinahe allenWahlkreisen werden nach Berlin kommen und mit unsPolitikerinnen und Politikern diskutieren.Wir möchten von ihnen lernen: Wir möchten unserenBlick auf Politik mit und für Menschen mit Behinderungschärfen. Wir möchten Vorschläge von den Expertinnenund Experten in eigener Sache bekommen. Und wirmöchten lernen, welche Barrieren es gibt und wie sie ab-gebaut werden können.Ich freue mich auf den Dialog.Die Mehrzahl der Gäste könnte ohne Einladung desBundestages einschließlich Übernahme der Fahrtkostenüberhaupt nicht zu uns nach Berlin kommen, weil einesolche Reise schlichtweg zu teuer wäre. Traurige Wahrheit ist: Jemand, der einen verantwor-tungsvollen Job hat und den ganzen Tag arbeitet, wirdauf Sozialhilfeniveau heruntergerechnet, nur weil er be-hinderungsbedingte zusätzliche Ausgaben hat. DieseMenschen müssen ihre gesamten Lebensverhältnisseoffenlegen – aufgrund ihrer Behinderung. Eltern, wennsie im gleichen Haushalt leben, und Ehepartner werdenmit belastet. Das entspricht nicht der UN-Behinderten-rechtskonvention.Es ist eine riesige Ungerechtigkeit, wenn ein Menschmit Behinderung von einem eigentlich ausreichendenGehalt nicht leben kann. Die Menschen sind arm, weilihr Verdienst auf die Eingliederungshilfe nach Sozialhil-fekriterien angerechnet wird. In der Anhörung im ver-gangenen Jahr wurde ein bedrückendes Beispiel einesDiplominformatikers genannt, der sagte: „Ich verdienegut, aber für meine Lebensassistenz wird mir so vielGeld abgenommen, dass … ich bei knapp über 900 Europro Monat bin. Ganz davon abgesehen, dass ich meineLebenspartnerin nicht heiraten kann. Es ist eine Situa-tion, die unglücklich ist und die behinderte Menschenauch in der Lebensorientierung ständig mit der Frage,Sozialhilfe ja oder nein, wie komme ich da heraus, be-schäftigt.“Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Siehaben recht mit Ihrer Forderung in Ihrem Antrag zumTeilhabegesetz: Wir müssen dringend eine Einkommens-und Vermögensunabhängigkeit prüfen. Wir müssen wegvom Fürsorgegedanken, der hinter der Sozialhilfe steht,und hin zum Inklusionsgedanken, der hinter einer Teil-habeleistung stünde.Das haben wir schon im letzten Jahr in unserem An-trag „UN-Konvention jetzt umsetzen – Chancen für eineinklusive Gesellschaft nutzen“
gefordert. Wir wollen ein Leistungsrecht zur sozialenTeilhabe im SGB IX schaffen. Anders als Sie können wiruns dabei aber durchaus auch eine Grenze der Anrech-nungsfreiheit bei sehr hohen Einkommen oder Vermö-gen, insbesondere aus Schadensausgleichen, vorstellen.Sonst gibt es wieder neue Ungerechtigkeiten. Im Unter-schied zu Ihnen würden wir die Leistungsausführunglieber bei den Kommunen sehen, die durch die Einglie-derungshilfe viel Erfahrung damit haben. Deshalb wer-den wir uns zu Ihrem Antrag zum Teilhabesicherungs-gesetz enthalten, auch wenn wir uns einig sind: Wirbrauchen eine umfassende Überarbeitung des Sozial-gesetzbuches IX, des Behinderungsbegriffs und derInstrumente. Wir brauchen ein neues System, dasMenschenrechte, Selbstbestimmung und Inklusion kon-kret verwirklicht.Die aktuellen Bestrebungen zur Reform der Einglie-derungshilfe und die Übernahme der Finanzverantwor-tung durch den Bund bieten hier eine Chance, die nichtungenutzt bleiben sollte. Insbesondere sind wir als Bun-despolitikerinnen und -politiker gefragt, die Position desSGB IX zu stärken und nicht die Verantwortung für dieTeilhabe gänzlich an die Sozialhilfe abzugeben. DieseVerantwortung gilt es wahrzunehmen, sehr verehrte Kol-leginnen und Kollegen aus den Regierungsfraktionen.So weit sind wir nicht und so weit kommen wir auchnicht mit den Plänen der Bundesregierung. Bis auf einenseitenschweren, aber weitestgehend inhaltsleerenAktionsplan zur Umsetzung der Konvention haben wirvon Union und FDP nichts Wegweisendes auf den Tischbekommen. Mir fällt nur ein Programm aus Mitteln desAusgleichsfonds ein. Diese Gelder standen jedoch schonvorher für Menschen mit Behinderung zur Verfügung.Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, mar-schieren da schon eher in die richtige Richtung mitIhrem Antrag „Behindern ist heilbar – Unser Weg ineine inklusive Gesellschaft“. Auch wir fordern ganzÄhnliches in unserem Antrag, den wir übrigens gemein-sam mit den Betroffenen und ihren Verbänden formulierthaben. Dies war uns ganz wichtig, denn „Nichts überuns ohne uns“ oder „Selbst Aktiv“ ist unsere Leitlinie.Leider ist es nicht die der Bundesregierung und das kri-tisieren Sie zu Recht.Sie greifen die Probleme der Übersetzung und desmangelnden Inhalts des Nationales Aktionsplans
zur Umsetzung der UN-Behindertenkonvention auf.Hier möchte ich insbesondere auf die Aufhebung desKostenvorbehalts in § 13 SGB XII hinweisen, die Sie undauch wir fordern. Der Kostenvorbehalt bedeutet zumBeispiel, dass ein junger Mensch, der nach einem Unfallbehindert ist, gegen seinen Willen in einem Pflegeheimuntergebracht werden kann, weil das billiger ist, alswenn er weiterhin in seiner Wohnung lebt. In was für ei-nem Staat leben wir denn, in dem erwachsene Menschenin ein Heim gezwungen werden können? So etwas darfnicht sein!Aber auch in diesem Antrag der Linken gibt es einigePunkte, denen wir uns so nicht anschließen können. Siewollen zum Beispiel neben dem Nationalen Aktionsplaneine Liste mit zu ändernden Vorschriften. Wir wollen allZu Protokoll gegebene Reden
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Gabriele Hiller-Ohm
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das im Nationalen Aktionsplan haben und ihn stärken –durch eine Beteiligung des Parlaments und der Betroffe-nen. Auch hier muss ganz klar gelten: „Nichts über unsohne uns“. Deshalb werden wir uns, so richtig die Ziel-setzung ist, auch bei diesem Antrag enthalten.Ich freue mich auf eine anregende Diskussion im Aus-schuss und mit unseren Gästen am Tag der Menschenmit Behinderungen in der nächsten Woche hier bei unsim Bundestag.
„Behindern ist heilbar“ – das ist der Slogan desNationalen Aktionsplans zur Umsetzung der UN-Behin-dertenkonvention. „Behindern ist heilbar“ ist auch Titeldes Antrages der Fraktion Die Linke. Wir sind uns offen-sichtlich alle einig, dass die Teilhabechancen von Men-schen mit Behinderung verbessert werden können undBarrieren, die Inklusion verhindern, abgebaut werdenmüssen. Der Slogan drückt zudem eine Perspektive aus,die sich auch in der UN-Behindertenrechtskonventionwiderspiegelt: Nicht die Menschen mit Behinderungmüssen sich an die Gesellschaft anpassen, sondern dieGesellschaft muss Rahmenbedingungen schaffen, dieTeilhabe aller Bürgerinnen und Bürger ermöglicht.Ich freue mich, dass mit der Ratifikation der UN-Behindertenrechtskonvention die Diskussionen umPartizipationsmöglichkeiten von Menschen mit Behin-derung zugenommen haben. Es vergeht nicht eineWoche, in der Zeitungen nicht über das Thema Inklusionund Behinderung berichten, vor allem im Zusammen-hang mit dem Thema Bildung. Dort steht die Frage imMittelpunkt: Bekommen Kinder mit Behinderung durchgemeinsames Lernen eine bessere Schulbildung?Zunehmend wird auch in Spielfilmen das ThemaBehinderung aufgegriffen. Der Deutsche Bundestagbefasst sich mit den Bedürfnissen behinderter Men-schen. Spätestens seit dem Inkrafttreten der UN-Behin-dertenrechtskonvention sind Schlagworte wie Inklusion,Teilhabe, Selbstbestimmung und Partizipation wegwei-send für die Behindertenpolitik in Deutschland. DiesePrinzipien sind Richtschnur der liberalen Politik. UnserZiel ist es, Menschen mit Behinderung echte Teilhabe zuermöglichen. Die UN-Konvention gilt dabei als Mess-latte für politische Entscheidungen und das betrifft nichtnur die Sozialpolitik! Es ist wichtig, dass wir Politik fürMenschen mit Behinderung als Inklusionspolitik begrei-fen. Daher begrüße ich die Anträge der Linken alsAnstoß für weitere Diskussionen.Inhaltlich muss ich jedoch klar widersprechen. Eswird mit dem Antrag der Linken der Eindruck erweckt,dass unsere Gesetze nicht im Einklang mit der UN-Behindertenrechtskonvention seien und nur ein einkom-mensunabhängiges Teilhabegeld der richtige Weg sei.Die UN-Behindertenrechtskonvention lässt den einzel-nen Vertragsstaaten jedoch Gestaltungsspielraum, wieLeistungen für Menschen mit Behinderung erbrachtwerden. Es kann der UN-Behindertenrechtskonventionkeinesfalls entnommen werden, dass Leistungen unab-hängig von Einkommen und Vermögen erbracht werdenmüssen. Dies ist angesichts der Haushaltslage auchnicht finanzierbar. Denn würde die individuelle Bedürf-tigkeitsprüfung wegfallen, würden auch Menschen miteinem hohen Einkommen Anspruch auf steuerfinanzierteTeilhabeleistungen haben. Der Personenkreis würdesich erheblich erweitern. Der Vorschlag der Linken folgtnicht dem Prinzip, nur denen zu helfen, die bedürftigsind.Erreichbare Ziele sollten angesteuert werden. Die ge-samte Gesellschaft ist aufgerufen, Menschen mit Behin-derung teilhaben zu lassen und nicht an den Rand zudrängen. Daher sehe ich die UN-Behindertenrechtskon-vention auch als gesellschaftspolitischen Impuls.Doch Inklusion ist noch nicht jedermann ein Begriff.Fragt man Menschen auf der Straße, so können vielenichts mit diesem Wort anfangen. Der Begriff an sich istnicht barrierefrei, weil er erklärungsbedürftig ist. Be-dauerlicherweise nimmt die Hälfte der Deutschen ihrezehn Millionen Mitbürger mit Behinderung nicht wahr,und jeder Dritte hat überhaupt keinen Kontakt zuMenschen mit Behinderung. Das ergab eine Umfrageder Aktion Mensch und zeigt uns, dass noch viel zu tunist.Noch viel zu oft spielen und lernen Kinder mit Behin-derung getrennt von ihren nichtbehinderten Alters-genossen. Noch viel zu oft erleben Menschen mit Be-hinderung Diskriminierung. Noch viel zu oft wirdBehinderung mit Leistungsminderung gleichgesetzt. Vorallem im Arbeitsleben wird das Potenzial von Menschenmit Behinderung zu wenig erkannt. Die Linken plädierenin ihrem Antrag für eine Prüfung der derzeitigen Ge-setze. Es ist in diesem Zusammenhang besonders wich-tig, dass alle Regelungen und Gesetze, die Menschen mitBehinderung eigentlich die Aufnahme von Arbeit unddas Berufsleben erleichtern sollen, vorurteilsfrei geprüftwerden, ob sie dieses Ziel auch erfüllen.Die Teilhabe von Menschen mit Behinderung kannnicht allein durch Gesetze gesichert werden. Entschei-dend ist ein Wandel in der Gesellschaft. Rückblickendhaben sich in den letzten Jahrzehnten die Teilhabechan-cen von Menschen mit Behinderung insgesamt erheblichverbessert. Es ist erfreulich, dass mit der UN-Behinder-tenrechtskonvention weitere Entwicklungen stattfinden.Die Ambulantisierung schreitet voran. Mehr und mehrProjekte machen es möglich, dass Menschen außerhalbvon großen Einrichtungen leben können, wie beispiels-weise das Hamburger Projekt Alsterdorf, wo sich einegroße Einrichtung für Menschen mit Behinderungen ineinen Stadtteil für alle fortentwickelt hat. Noch nie spra-chen so viele Menschen über inklusive Bildung. Neue in-klusive Modelle entstehen. Insgesamt beschäftigen nichtimmer weniger, sondern immer mehr UnternehmenMenschen mit Behinderung. Mit dem NationalenAktionsplan und seinen Maßnahmen sind wir auf einemguten Weg, die Teilhabechancen zu erhöhen. InklusiveProzesse wurden angestoßen, weitere werden folgen. Esist ganz natürlich, dass sich im Laufe dieser Entwick-lung auch Konflikte ergeben. Diese sollten aber nichteinfach beiseite geschoben werden, sondern zum Anlassgenommen werden, Veränderungen vorzunehmen. Be-hindern ist dann heilbar, wenn Menschen die für sie not-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23995
Gabriele Molitor
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wendige Unterstützung und Assistenz bekommen und essich alle Menschen zur Aufgabe machen, Bedingungenzu schaffen, die Menschen mit Behinderung ein gleich-berechtigtes und selbstverständliches Miteinander er-möglichen.
Am 1. Dezember 2011 hatten wir hier im HohenHause eine behindertenpolitische Debatte im Bundes-tag. Wir diskutierten unter anderem die Anträge derFraktion Die Linke „Behindern ist heilbar – Unser Wegin eine inklusive Gesellschaft“ ,Drucksache 17/7872,und „Teilhabesicherungsgesetz vorlegen“ ,Drucksache17/7889. Thema war auch der für den 2. und 3. Dezem-ber geplante Dialog der Politik mit Menschen mit Be-hinderungen, welcher aus sicherheits- und brandschutz-technischen Gründen abgesagt werden musste, weil sichzu viele Rollstuhlfahrer unter den eingeladenen Teilneh-mern befanden. Hier hatte das wirkliche Leben vonMenschen mit Behinderungen den Bundestag kalt er-wischt.Heute, fast ein Jahr später, entscheiden wir über diebeiden Anträge der Linken, und in ein paar Tagen, am26. und 27. Oktober, kommen rund 300 Menschen mitBehinderungen aus allen Bundesländern in den Bundes-tag, um mit uns Abgeordneten über die Umsetzung derUN-Behindertenrechtskonvention zu diskutieren. Ich freuemich auf diese erstmalig stattfindende Veranstaltung,auch wenn sie aufgrund der baulichen Gegebenheitenmit Kompromissen und Einschränkungen beim Konzeptund der Zahl der Rollstuhlfahrer verbunden ist. Und ichbin sicher: Auch wenn beide Anträge heute mit IhrerMehrheit abgelehnt werden – sie bleiben aktuell, und siewerden von der Behindertenbewegung und von den Lin-ken bei dieser Veranstaltung und darüber hinaus wiederauf die Tagesordnung gesetzt werden.Was hat die Bundesregierung in den letzten dreiein-halb Jahren, seitdem die UN-Behindertenrechtskonventioninnerstaatliches Recht ist, für deren Umsetzung getan?Sie legte – sehr spät – einen Nationalen Aktionsplan vor,der vor allem Prüfaufträge und Absichtserklärungenenthält, die Vorschläge aus der Behindertenbewegungaber weitgehend unberücksichtigt ließ. Gibt es inzwi-schen eine Überprüfung aller Gesetze und Verordnun-gen auf Änderungsbedarf, damit sie den Maßstäben derUN-Behindertenrechtskonvention gerecht werden? Fehl-anzeige! Und die Einbeziehung von Menschen mit Be-hinderungen und deren Organisationen bei der Erarbei-tung von Konzepten und Gesetzen, die sie direkt oderindirekt betreffen? Überwiegend Fehlanzeige! Gibt esein Konjunkturprogramm zur systematischen und be-schleunigten Beseitigung von baulichen Barrieren? Fehl-anzeige! Gibt es Maßnahmen zur Verbesserung der – fi-nanziellen – Lebenssituation zur Sicherung umfassenderTeilhabe am Leben in der Gesellschaft? Fehlanzeige!Nein, zum Teil gibt es sogar Verschlechterungen! Gibt eseinkommens- und vermögensunabhängige Sicherung per-sonaler Assistenz? Fehlanzeige!Und wie sieht es aus mit Maßnahmen zur Bewusst-seinsbildung? Da hat sich etwas, wenn auch viel zu we-nig, getan. Es gibt eine teure Kampagne der Bundesre-gierung unter der Überschrift „Behindern ist heilbar“.Fazit: Behindertenpolitik ist weiterhin kein inklusiverBestandteil der Politik in allen Bundesbehörden, son-dern eine Nische im Bundesministerium für Arbeit undSoziales. Es wird viel geredet – das ist auch schon waswert –, aber kaum was getan…Im unlängst veröffentlichten 4. Armuts- und Reich-tumsbericht gibt es kaum Angaben über die Lebenssitua-tion von Menschen mit Behinderungen. Auch in der Stu-die der Universität Heidelberg zur Lebenssituation voncontergangeschädigten Menschen spielte die finanzielleSituation keine Rolle. Daten darüber waren vom Auf-traggeber politisch nicht gewollt. Gleichzeitig erklärtdie Bundesregierung auf diesbezügliche Fragen der Lin-ken seit vier Jahren, dass sie diesbezüglich keine Er-kenntnisse hat. Wer aber mit Betroffenen redet, die gel-tende Sozialgesetzgebung kennt und auch etwas genauerin den Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregie-rung schaut, wird feststellen: Behinderung ist ein Ar-mutsrisiko, und zwar für die Betroffenen und ihre Ange-hörigen. Behinderung führt sehr schnell zu Armut. Undwer dort erst mal angekommen ist, bleibt in der Regelauch lebenslänglich arm.Eine wesentliche Ursache ist das Fehlen von persön-licher bedarfsgerechter einkommens- und vermögensun-abhängiger Assistenz und Pflege. Deswegen kämpft dieBehindertenbewegung seit vielen Jahren für ein entspre-chendes Teilhabesicherungsgesetz. Deswegen brachtedie Linke, wie auch schon in der 14. und 16. Wahl-periode, einen Antrag für ein solches Leistungsgesetz inden Bundestag ein. Den Beratungsverlauf und das Ab-stimmungsverhalten der Fraktionen zu beiden Anträgenkann die interessierte Öffentlichkeit der vorliegendenBeschlussempfehlung des federführenden Ausschussesfür Arbeit und Soziales, Drucksache 17/10008, entneh-men. So heißt es in diesem Bericht: „Die Fraktion derSPD forderte … das auch in der Konvention verankerteMotto ,Nichts über uns ohne uns‘ müsse umgesetzt wer-den. Das sei in den Anträgen der Fraktion Die Linke of-fensichtlich geschehen.“ Stimmt. Deswegen finde ich esunerklärlich, dass sich die Fraktion der SPD bei beidenAnträgen nur zu einer Stimmenthaltung durchringt. DieFraktion der CDU/CSU betonte, dass sie grundsätzlichdie permanente Diskussion über die Behindertenrechts-konvention begrüße. Sie lehne aber die Anträge ab, weilder eine überflüssig sei, denn es gäbe einen tollen Ak-tionsplan der Bundesregierung und eine erfolgreicheKampagne. Und der Antrag für ein Teilhabesicherungs-gesetz sei nicht finanzierbar.Liebe Kolleginnen und Kollegen aus den christlichenParteien, Sie forderten am 3. April 2001, Bundestags-drucksache 14/5804, eine „umfassende Lösung mit Ver-besserungen für behinderte Menschen“. „Diese kann“,so steht es in Ihrem Antrag, „nur in einem eigenstän-digen und einheitlichen Leistungsgesetz für Behinderteerreicht werden, das vom Bund zu finanzieren ist. DiesesGesetz müsste vermögens- und einkommensunabhängigausgestaltet sein und die Leistungen, die derzeit in derEingliederungshilfe … enthalten sind, zusammenfas-Zu Protokoll gegebene Reden
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Dr. Ilja Seifert
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sen …“. Demnach müssen Menschen mit Beeinträch-tigungen und ihre Angehörigen „vor wesentlichen Son-derbelastungen und vor einer Stigmatisierung als Sozial-hilfeempfänger geschützt werden“. War das alles Lüge,weil Sie gerade in der Opposition waren, oder kann IhreForderung aus dem Jahr 2001 in Folge ihrer Regie-rungspolitik in den letzten sieben Jahren nicht mehr auf-rechterhalten werden?Auch die FDP will beide Anträge ablehnen. Dasüberrascht mich nicht, auch wenn in dem Bericht steht:„Die FDP lobte die Anträge als Diskussionsbeitrag.Grundsätzlich stimme die Fraktion der FDP auch ein-zelnen Vorschlägen zu …“. Welchen, bleibt ihr Geheim-nis, denn es liegt von der FDP nichts zur Abstimmungauf dem Tisch.Bündnis90/Die Grünen will dem Antrag „Behindernist heilbar“ zustimmen, den Antrag für ein Teilhabesi-cherungsgesetz dagegen ablehnen. Im Bericht heißt es:„Den weitergehenden Vorschlägen zu einem Teilhabesi-cherungsgesetz allerdings nicht. Dazu habe man andereVorstellungen.“ Das überrascht mich, schließlich hatdie Fraktion der Grünen im Wahlkampf 2009 die diesbe-züglichen Forderungen aus den Behindertenverbändenausdrücklich unterstützt.„Behindern ist heilbar“ – es wird aber noch ein lan-ger Heilungsprozess, bis Menschen mit Behinderungenselbstbestimmt und ohne Diskriminierungen am Lebenin der Gesellschaft teilnehmen können, bis alle Barrie-ren beseitigt sind und Inklusion kein Fremdwort mehrist. Unbestritten: Es ist kein einfacher Weg in eine inklu-sive Gesellschaft. Den müssen wir gemeinsam beschrei-ten, parteiübergreifend, in Bund, Ländern und Kommu-nen, in der Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und allenanderen Bereichen der Gesellschaft. Die Vorschläge derLinken für diesen Weg liegen auf dem Tisch. Ich meine,sie sind gut, können aber – durch die Diskussion in undmit der Gesellschaft – durchaus noch besser werden.Lassen Sie uns daran arbeiten, nicht stur ablehnen!
Die UN-Konvention über die Rechte von Menschenmit Behinderungen hat die Entwicklung sozialer Bürger-rechte für behinderte Menschen einen entscheidendenSchritt weitergebracht und eine qualitativ neue Dimen-sion aufgemacht: In keiner internationalen Menschen-rechtskonvention kommt der Empowerment-Ansatz soprägnant zum Tragen wie hier. Die formulierten Befähi-gungsansprüche auf Selbstbestimmung, Diskriminie-rungsfreiheit und gleichberechtigte gesellschaftlicheTeilhabe für Menschen mit Behinderungen werden nichtnur das deutsche Sozialrecht, sondern den gesamtenMenschenrechtsdiskurs verändern.Zum ersten Mal werden Menschenrechte nicht aus-schließlich als Abwehrrechte gegen den Staat begriffen.Nach dieser Konvention, der ersten großen Menschen-rechtskonvention des 21. Jahrhunderts, stehen staatlicheund gesellschaftliche Institutionen in der Pflicht, denMöglichkeitsraum und Handlungsraum von Menschenzu garantieren und durch aktives Handeln möglich zumachen. Es gilt nach diesem Menschenrechtsdokumentnicht nur, die Menschenwürde durch das Unterlassenvon staatlichen Übergriffen zu garantieren, sondern ge-rade durch staatliches Tätigwerden überhaupt erst zuermöglichen. Viele Beobachterinnen und Beobachtergehen davon aus, dass die Anspruchsrechte auf Befähi-gung Wirkung auf weitere Gruppen weit über den Kreisder Menschen mit Behinderungen hinaus entfalten. DieKonvention gibt damit wichtige Impulse für eine Weiter-entwicklung des internationalen Menschenrechtsschut-zes. Es eröffnet sich meines Erachtens auch eine Per-spektive für eine neue Phase der Entwicklung sozialerMenschenrechte.Spätestens mit der UN-Behindertenrechtskonventionsind Phänomene wie „gesellschaftliche Ausgrenzung“,„Diskriminierung“, „rechtliche Entmündigung“ und„medizinische Zwangsbehandlung“ nicht bloß gesell-schaftliches Übel, sondern müssen richtigerweise alsVerletzung von Menschenrechten verstanden werden.Die Entwicklung eines anderen Menschenbildes für alleMenschen, die nicht den herrschenden Vorstellungenvon Normalität entsprechen, wie in der Konvention for-muliert ist, liefert dafür die Grundlage: Unter Buch-stabe e der Präambel der Konvention wird Behinderungals ein sich verändernder Zustand – als Prozess – be-schrieben, der aus der Interaktion zwischen Menschenmit Beeinträchtigungen und Barrieren in der Einstel-lung sowie der Umwelt entsteht und im Ergebnis diegleichberechtigte, uneingeschränkte und wirksame Teil-nahme an der Gesellschaft behindert.Dieser Satz greift fundamental die Ursachen vonAusgrenzung an: Behinderung – ja Benachteiligungschlechthin – wird als soziale Konstruktion begriffen.Wer konstruiert? Ein Netz definitionsmächtiger, ressour-censtarker und durchsetzungsfähiger Akteure, die nichtunbedingt bewusst organisiert sein müssen, die nichteinmal die Bevölkerungsmehrheit darstellen oder reprä-sentieren müssen! Im Ergebnis erzwingt dieses Netz einebestimmte Definition von Normalität. Über den gesell-schaftlichen Diskurs, rechtliche Normen und Sanktions-drohungen wird diese Definition von Normalität als gesell-schaftliche Wirklichkeit rationalisiert und reproduziert.Mit der Übernahme des sogenannten sozialen Mo-dells von Behinderung stellt die UN-Konvention nichtsweniger dar als die Anerkennung von Behinderung alsBestandteil menschlichen Lebens. Weiter gedacht: DieAnerkennung von „Anderssein“ als Bestandteil mensch-lichen Lebens wird schlechthin vorangetrieben. Setztesich diese Auffassung mehrheitlich in der Gesellschaftdurch, führte dies in der Konsequenz dazu, dass es kein„Anderssein“ mehr gibt, sondern nur noch ein „So-sein“. Damit verbunden dürfte eine Aufwertung all jenerUmgangsweisen und Praktiken verbunden sein, derersich die heute noch als „unvollkommen“ Stigmatisiertenbedienen.Die mit der Konvention postulierte Akzeptanz des„Soseins“ ist ein wichtiger Beitrag zur Humanisierungder Gesellschaft. Sie hat das Potenzial, auch eine Ant-wort auf die Gefahr neuer Ausgrenzungen darzustellen,die zu beobachten sind: In dem Maße, in dem Beschäf-tigte zusehends die Rolle eines Arbeitskraftunterneh-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23997
Markus Kurth
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mers einnehmen und ihnen mithin die individu-elle Verantwortung für das einwandfreie Funktionierenzugewiesen wird, sind die neuen Dogmen der sozial kon-struierten Normalität zunehmend geeignet, neue For-men der Exklusion hervorzubringen. In der „Aktivge-sellschaft“, Lessenich, ist jeder, der sich nicht fit hält,sich nicht weiterbildet, raucht oder sich gar den Zumu-tungen gewisser Arbeitsverhältnisse wie Niedriglohnbe-schäftigung zu entziehen versucht, beinahe ein wandeln-des Standortrisiko, mindestens aber ein potenziellerfiskalpolitischer und volkswirtschaftlicher Schadensfall.Ein solches Verständnis von Eigenverantwortung – so essich denn weiter verbreitet – ginge mit neuen Diskrimi-nierungen gegenüber sich abweichend verhaltendenMenschen einher. Die von der Großen Koalition be-schlossenen Leistungsausschlüsse in der gesetzlichenKrankenversicherung für Hauterkrankungen und Ent-zündungen nach Tätowierungen bzw. Piercings zeigendeutlich, dass diese neuen Diskriminierungen mehr alseine vage Befürchtung darstellen.Vor diesem Hintergrund ermöglicht die UN-Konven-tion über die Menschenrechte von Menschen mit Be-hinderungen, eine universelle Forderung an Staat undGesellschaft zu stellen: „Anderssein“ ist nicht zu diskri-minieren, sondern „Sosein“ ist zu ermöglichen. Andersausgedrückt: Je größer die Diskriminierungsfreiheit undBarrierefreiheit in einer Gesellschaft ist, je schneller dieBedingung der Möglichkeit von Freiheit hergestelltwird, desto kleiner wird die Zahl behinderter und ausge-grenzter Menschen zukünftig sein und desto wenigerwird die Beeinträchtigung eines Menschen diesen daranhindern, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Unterdem Aspekt der Möglichkeit des „Soseins“ verwundertes übrigens nicht, dass die Würde – sehr viel direkter alsin anderen Menschenrechtskonventionen – auch als Ge-genstand notwendiger Bewusstseinsbildung angespro-chen wird. Im Ergebnis kann dieses Menschenrechts-dokument alle Mitglieder der Gesellschaft von demZwang entlasten, sich den Norm- und Normalvorstellun-gen der übermächtigen, definitionsmächtigen Kollektivezu unterwerfen. Es stellt daher eine emanzipatorischeErrungenschaft ersten Ranges dar, die so noch längstnicht erkannt worden ist. Den Staat stellt sie vor großeHerausforderungen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf
Drucksache 17/10008. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung
des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache
17/7872. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen gegen die Fraktion Die Linke und die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion
der SPD angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/7889. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthal-
tung der SPD-Fraktion angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durch-
führung der Verordnung Nr. 1177/2010
des Europäischen Parlaments und des Rates
vom 24. November 2010 über die Fahrgast-
rechte im See- und Binnenschiffsverkehr sowie
zur Änderung des Luftverkehrsgesetzes
– Drucksache 17/10958 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Rechtsausschuss
Ausschuss für Tourismus
Auch hier nehmen wir die Reden, wie in der Tages-
ordnung ausgewiesen, zu Protokoll.
Diesen Sitzungstag hat unsere verehrte Bundeskanz-lerin mit einer wegweisenden Regierungserklärung zuEuropa begonnen. Im Mittelpunkt der Ausführungen derKanzlerin standen die Vertrauenskrise des Euro, diebesorgniserregende finanzielle Situation einiger Mit-gliedstaaten der Europäischen Union sowie die Reform-bemühungen in diesen Ländern, die von interessiertenKreisen immer weiter verzögert werden. Die Menschenin Deutschland sind verunsichert. Denkt der Bürger anEuropa in der Nacht, so ist er um den Schlaf gebracht.Glücklicherweise haben wir mit Angela Merkel undWolfgang Schäuble starke Führungspersönlichkeiten,die uns und die Europäische Union mit sicherer Handdurch diesen schweren Sturm lenken werden. Die Regie-rungserklärung der Bundeskanzlerin hat in eindrucks-voller Weise gezeigt, dass sie die richtigen Akzente zusetzen weiß. Unser aller Unterstützung ist ihr sicher.Voller Verständnislosigkeit kann ich – das könnenaber sicher auch die meisten Deutschen – nur auf diekruden Vorstellungen der Opposition blicken. Niemandaußer den SPD-Funktionären kann nachvollziehen, wa-rum es für Deutschland so vorteilhaft sein soll, wenn dieSchulden vergemeinschaftet werden. Vielleicht solltendie Damen und Herren der Opposition einmal die Schul-den fremder Menschen, Menschen, die nicht unverschul-det in die Schuldenfalle geraten sind, aus ihrem Privat-vermögen bezahlen, damit sie sehen, wie toll ihre Ideensind. Doch Europa besteht nicht nur aus Krisen, Schul-den und Bürokratie. Europa ist mehr. Europa ist der ge-meinsame Weg aus den Ruinen des Zweiten Weltkriegs inGedenken an die gefallenen, toten und ermordeten Men-schen als ewige Mahnung hin zu Frieden, Freiheit undWohlstand auf dem gesamten Kontinent. Diesen Zielenfühlt sich die Union von Konrad Adenauer über HelmutKohl bis hin zu Angela Merkel verpflichtet. Auf diesemWeg haben wir nicht nur die längste Friedensperiode inEuropa seit Menschengedenken erlebt, sondern aucheine Entwicklung von Handel und Wandel, die niemandvorhergesehen hat, ja auch so nie vorhersehen konnte.
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23998 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Hans-Werner Kammer
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Nahezu jeden Tag gibt es dank der Europäischen Unionfür die Bürger in der Bundesrepublik Deutschland Fort-schritte, Fortschritte, die in vielen Fällen auch die Miss-helligkeiten des täglichen Lebens wirksam bekämpfen.Europa ist nicht in erster Linie das Europa der Tech-nokraten und Konzernlenker, der Kapitalgesellschaftenund Konzerne. Europa ist in erster Linie das Europa derMenschen, das Europa der Europäer.Daher genießen der Schutz des Verbrauchers und dieverbesserte Teilhabe von Menschen, die Einschränkun-gen ausgesetzt sind, am täglichen Leben, aber auch anden kleinen Freuden des Daseins, die für uns, die wirglücklicherweise gesund sind, selbstverständlich sind, inEuropa eine sehr hohe Priorität. Trotz des sperrigen Ti-tels freue ich mich daher, heute zur Durchführung derVerordnung Nr. 1177/2010 des Europäischen Par-laments und des Rates sprechen zu dürfen. In dieser Ver-ordnung werden nicht nur die Fahrgastrechte im See-und Binnenschiffsverkehr gestärkt, sondern auch die Si-tuation von Personen mit eingeschränkter Mobilität ver-bessert.Durch diese Verordnung wurden die Rechte der Ver-braucher im See- und Binnenschiffsverkehr in zentralenPunkten gestärkt. Ich möchte hier einige ansprechen:Wir alle wissen, dass auch bei sorgfältigster Planungund einer hervorragenden unternehmerischen Leistungder Reiseveranstalter Verspätungen nicht immer vermie-den werden können. Nichts aber ist ärgerlicher, als imUngewissen gelassen zu werden. Daher müssen die Pas-sagiere im See- und Binnenschiffsverkehr so schnell wiemöglich, spätestens aber eine halbe Stunde nach derplanmäßigen Abfahrtszeit, über die Lage und, sobalddiese Informationen vorliegen, über die voraussichtlicheAbfahrtszeit und die voraussichtliche Ankunftszeit infor-miert werden.Wenn Fahrgäste aufgrund einer Annullierung oderVerspätung einen Anschluss versäumen, so müssen sieüber alternative Anschlüsse unterrichtet werden.In den Fällen, in denen die Abfahrt im See- und Bin-nenschiffsverkehr ganz annulliert wird oder sich ummehr als 90 Minuten über die planmäßige Abfahrtszeithinaus verzögert, müssen den Fahrgästen in den Hafen-terminals kostenlos Imbisse, Mahlzeiten oder Erfri-schungen in angemessenem Verhältnis zur Wartezeit an-geboten werden. Wenn die Fahrt ganz annulliert wirdoder sich so verspätet, dass ein Aufenthalt von eineroder mehreren Nächten erforderlich wird, haben diePassagiere nicht nur das Recht auf die erwähnten Im-bisse, Mahlzeiten oder Erfrischungen, sondern auch ei-nen Anspruch auf eine kostenlose angemessene Unter-bringung an Bord oder an Land sowie die Beförderungzwischen dem Hafenterminal und der Unterkunft. Da-rüber hinaus muss in diesen Fällen den Passagiereneine anderweitige Beförderung zum frühestmöglichenZeitpunkt und ohne Aufpreis zum Reiseziel unter ver-gleichbaren Bedingungen angeboten werden. Ersatz-weise können die Fahrgäste sich für die Erstattung desFahrpreises und eine kostenlose Rückfahrt zum Abfahrts-ort entscheiden.Des Weiteren haben die Fahrgäste Anspruch auf eineEntschädigung durch Fahrpreisnachlässe bei verspäte-ter Ankunft. Das Prinzip, dass durch die Anwendung aufden Luftverkehr bekannt geworden ist, gilt also auch fürden See- und Binnenschiffsverkehr.Schließlich haben auch Menschen mit Behinderungvielfältige Ansprüche auf Unterstützung und Hilfe. Den-jenigen unter Ihnen, die aus einer falsch verstandenenMarktradikalität Überregulierung und Bevormundungder Unternehmen annehmen, möchte ich zurufen, dasswir in einer sozialen Marktwirtschaft leben. Der sozia-len Marktwirtschaft Ludwig Erhards, in der der Menscheine zentrale Rolle einnimmt. Wir von der Union habenimmer für diese soziale Marktwirtschaft gefochten undwerden dies auch weiter tun. Zur Beruhigung sei nochangeführt, dass die Verordnung Nr. 1177/210 desEuropäischen Parlaments und des Rates vom 24. No-vember 2010 die Unternehmen nur zu dem verpflichtet,was jeder anständige Mensch sowieso täte.Als nationalem Gesetzgeber obliegt es uns, für dieEinhaltung und Durchsetzung der Verordnung in Bezugauf den See- und Binnenschiffsverkehr die entsprechen-den Stellen einzurichten. Außerdem mussten wir Sank-tionen für Verstöße gegen die Verordnung festlegen. Diezuständige Stelle für Beschwerden über einen mutmaßli-chen Verstoß gegen die Verordnung ist in Zukunft dasEisenbahn-Bundesamt, das zu diesem Zweck mit um-fangreichen Befugnissen ausgestattet wurde, die zur Er-reichung des Zieles der Verordnung erforderlich und nö-tig sind.Ferner haben wir die Voraussetzungen für die Ein-richtung von Schlichtungsstellen zur Beilegung vonStreitigkeiten aus der Beförderung im See- und Binnen-schiffsverkehr genannt, die von den Fahrgästen im Fallevon Problemen angerufen werden können, ohne dass dasRecht, die Gerichte anzurufen, verloren geht.Wie jedes Gesetz, das kein zahnloser Tiger seinmöchte, weist auch dieses Sanktionsmöglichkeiten auf.Verstöße gegen die Verordnung können mit einer Geld-buße bis zu 30 000 Euro geahndet werden.Ich denke, dass dieses Gesetz in hervorragenderWeise den Absichten der Verordnung Nr. 1177/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom24. November 2010 über die Fahrgastrechte im See- undBinnenschiffsverkehr entspricht. Dieses Beispiel zeigt,dass Europa auch in der Krise für die Menschen da ist.
Mobilität wird immer wichtiger für jeden Einzelnenvon uns. Wir unternehmen Urlaubsreisen, besuchenFreunde und Verwandte in aller Welt, und auch beruflichist heute eine immer größer werdende Mobilität undFlexibilität gefragt. Passagierrechte bilden ein Kernele-ment der verkehrspolitischen Vision Europas. Die EU-Kommission hat es sich zum Ziel gemacht, das Reisen inder EU einfacher und angenehmer zu gestalten, dieQualität des Reisens zu verbessern, die Reisenden bes-ser zu schützen und die europäische Verkehrsbranche at-traktiver zu machen. Die EU-Passagierrechte ruhen aufZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 23999
Ulrike Gottschalck
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drei Eckpfeilern: Diskriminierungsfreiheit, genaue, zeit-gerechte und zugängliche Informationen, unverzüglicheund angemessene Hilfeleistungen.Im Flugverkehr enthält vor allem die sogenannteFluggastrechteverordnung, Verordnung Nr. 261/2004, die am 17. Februar 2005 in Kraft getreten ist, diewichtigsten Regelungen zu Verspätungen, Annullierun-gen und Überbuchungen. Daneben gibt es noch dieVerordnung Nr. 1107/2006 für die Rechte von be-hinderten Flugreisenden und Flugreisenden mit einge-schränkter Mobilität und die Verordnung Nr. 1008/2008 für Bestimmungen zur Preisfestsetzung. Für Bahn-reisende gilt in Deutschland seit dem 29. Juli 2009 dasGesetz zur Anpassung eisenbahnrechtlicher Vorschrif-ten an die Verordnung Nr. 1371/2007. Voraussicht-lich 2013 werden Fahrgastrechte für Busreisende wirk-sam. Im Dezember dieses Jahres tritt eine EU-Verordnung für Fahrgastrechte von Schiffsreisenden inKraft, die Verordnung Nr. 1177/2010 des Europäi-schen Parlaments und des Rates vom 24. November2010. Diese Verordnung enthält im Wesentlichen fürSchiffsreisende bei Annullierung oder Verspätung derAbfahrt um mehr als 90 Minuten den Anspruch aufErstattung des Fahrpreises oder eine anderweitige Be-förderung und eine angemessene Unterstützung bezüg-lich Verpflegung und Unterbringung für die Nacht,Schutz von Menschen mit Behinderungen oder einge-schränkter Mobilität, Mindestanforderungen an die In-formation für alle Fahrgäste und ein vorgeschriebenesBeschwerdemanagement. Erstmals sollen mit dieserVerordnung nun auch für die Schifffahrt unabhängigeDurchsetzungsstellen auf nationaler Ebene geschaffenwerden, die unter anderem für ein Beschwerdemanage-ment und die Erstellung von Statistiken über die Anzahlund Art der Beschwerden eingeführt werden. Mir ist be-sonders auch wichtig an dieser EU-Verordnung, dass diequalifizierten Hilfeleistungen für Mobilitätsbehinderteund ihre Berücksichtigung bei den Anmelde- und Orga-nisationsprozessen von Schiffsfahrten und -reisen nun inden Fokus rücken.Mit dem vorliegenden EU-Fahrgastrechte-Schiff-fahrt-Gesetz, FahrgRSchG, will die Bundesregierung dieGrundlage und Ermächtigung zum Erlass einer Rechts-verordnung zur Durchsetzung und Einhaltung der EU-Verordnung schaffen und die umsetzungsbedürftigenRegelungen bezüglich der Durchsetzung durch natio-nale Durchsetzungsstellen in nationales Recht umsetzen.Gleichzeitig verlängert sie die Übergangsfrist des § 73Abs. 4 LuftVG um zwei weitere Jahre und gewährleistetso, dass die langjährig ausgeübten Tätigkeiten ausländi-scher Flugsicherungsorganisationen gemäß § 31 b Abs.6 LuftVG fortgesetzt werden können. Dieses Gesetz be-darf nicht der Zustimmung des Bundesrates, gleichwohlhat der Bundesrat seine Empfehlung gemäß Art. 76 Abs.2 des Grundgesetzes abgegeben.Als zuständige Behörde für die Durchsetzung der EU-Verordnung hat die Bundesregierung das Eisenbahn-Bundesamt eingesetzt. Die weitere Ausgestaltung derSchlichtungsstelle für Schifffsreisende wurde im vorlie-genden Gesetzentwurf offengelassen. Der Bundesratweist daher völlig zu Recht darauf hin, dass die Rege-lungen zur Schlichtung im See- und Binnenschiffs-verkehr insbesondere mit den Schlichtungsregeln imEnergiewirtschaftsgesetz, in der Eisenbahn-Verkehrs-ordnung sowie im Entwurf eines Gesetzes zur Schlich-tung im Luftverkehr harmonisiert werden müssen.In der Stellungnahme des Gesetzentwurfs zählt derBundesrat auf, wie die Situation der Schlichtungsstellenfür Fahrgäste in Deutschland ist. Bahnkunden könnensich an die vereinsgetragene Schlichtungsstelle für denöffentlichen Personenverkehr e. V., söp, wenden, fürFlugpassagiere sollen laut einem aktuellen Gesetzent-wurf der Bundesregierung eine privatrechtliche Schlich-tungsstelle auf freiwilliger Basis und eine behördlicheSchlichtungsstelle bei einer Bundesbehörde eingerichtetwerden. Damit wird völlig unnötig die Gründung vondrei Schlichtungsstellen für die Fahrgäste in Deutsch-land vorbereitet. Dies ist in der heutigen Zeit, in derPassagiere und Fahrgastunternehmen verstärkt nachder Intermodulität, also einer stärkeren Verzahnung derverschiedenen Verkehrsträger verlangen, kontraproduk-tiv.Das Verhalten der Bundesregierung auf die Vor-schläge des Bundesrates ist wieder einmal bezeichnend.Einerseits begrüßt sie die Vorschläge des Bundesratesnach einer harmonisierten Schlichtungsstelle, trifft an-dererseits aber keine konkreten Vorkehrungen in ihremGesetz, damit eine wirklich verkehrsträgerübergreifendeSchlichtungsstelle Realität wird. Wir halten dieverkehrsträgerübergreifende Schlichtungsstelle für denöffentlichen Personenverkehr e. V., söp, die gerade imBahnbereich hervorragende Arbeit geleistet hat, fürsehr geeignet. Genau wie bei der Bahn könnte sie auchbei Schiffs- und Luftverkehr zur Wiederherstellung einesvertrauensvollen Miteinanders von Fahrgästen und Un-ternehmen beitragen.Der Bundesrat plädiert in seiner Stellungnahme au-ßerdem für eine Pflicht der Unternehmen zur Beteili-gung an einer Schlichtung für alle Beförderer, Reisever-anstalter und Reisevermittler. Dies halte ich ebenfallsfür einen guten Vorschlag, der die Verbraucherrechteweiter stärkt. Leider lehnt die Bundesregierung diesenVorstoß ab und bleibt damit hinter den Richtlinien derEU zurück.Abschließend möchte ich eine Empfehlung der EU-Verordnung über die Fahrgastrechte im See- undBinnenschiffsverkehr erwähnen, die mir besonders amHerzen liegt. In der Einleitung wird empfohlen, dass beider Gestaltung neuer Häfen, bei Abfertigungsgebäudenund Renovierungsarbeiten auf Barrierefreiheit geachtetwerden muss. Besondere Beachtung soll eine Konzep-tion für alle Verwendungsarten – Design for all – finden.Die SPD-Fraktion hat gerade eine Kleine Anfrage zumuniversellen Design an die Bundesregierung verfasst.Aus unserer Sicht ist es wichtig, den Ansatz des univer-sellen Designs nicht nur im Baubereich, sondern auchfür alle Verkehrsträger voranzutreiben.
Wenn wir über Fahrgastrechte im Allgemeinen reden,denken wir zuallererst an den Flugverkehr. Verschiebun-Zu Protokoll gegebene Reden
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24000 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Torsten Staffeldt
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gen und Ausfälle dominieren nicht nur unsere Gedan-ken, sondern sind auch Gegenstand zahlreicher Bericht-erstattungen verschiedener Medien. In den meistenFällen aber landen wir problemlos und pünktlich amZielflughafen. Dann erwischt uns die Sorge, dass unserGepäck beschädigt ist oder vielleicht gar nicht seinenZielort erreicht haben könnte. Vielen Mitbürgern fälltaber auch als Gegenstand von Beschwerden die Bahnein, die deutlich pünktlicher ist als ihr Ruf. Das wirdsich aber ein Bahnreisender sicherlich nicht vor Augenführen, wenn er bei minus 20 Grad am Berliner Haupt-bahnhof auf seinen 15 Minuten verspäteten Zug wartet.Für beides gibt es bewährte Entschädigungssysteme,sodass die Kunden zu ihrem guten Recht kommen. DieBahn ist beispielsweise verpflichtet, ab einer Verspätungvon 60 Minuten ihren Kunden einen 25-prozentigen Ra-batt einzuräumen, und die FluggastrechteverordnungEG Nr. 261/2004 sorgt für einen gerechten Entschädi-gungsanspruch von Passagiere gegenüber ihren Flugge-sellschaften. Auch wenn die Erfahrung zeigt, dass sichdie Airlines in den meisten Fällen sehr kulant zeigen, sowird diese christlich-liberale Koalition die Verbraucher-rechte durch die Einrichtung einer eigenen Schlich-tungsstelle für den Flugverkehr noch weiter stärken.Woran die wenigsten aber denken, ist, dass es auchPassagiere im Schiffsverkehr gibt. Um auch deren Rechtezu stärken, hat die Europäische Union vor zwei Jahrendie Verordnung Nr. 1177/2010 erlassen, die Ende diesesJahres in Kraft tritt. Diese regelt die Fahrgastrechte imBinnen- und Seeschiffsverkehr, wenn der Einschiffungs-hafen oder Ausschiffungshafen in der EuropäischenUnion liegt. Neben Regelungen zu Verspätungen undAnnullierungen beinhaltet sie auch das Verbot der Dis-kriminierung und das Gebot der Unterstützung gegen-über Menschen mit Behinderungen und Mobilitätsein-schränkungen. Das hier vorgelegte Gesetz soll nun dieVerordnung in deutsches Recht transferieren.Ich finde es gut, dass die Bundesregierung dabei vonder Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, dass sich derBeschwerdeführer zuerst an das betroffene Unterneh-men wenden muss, bevor die Schlichtungsstelle einbezo-gen wird. Ich bin nämlich der Überzeugung, dass ähn-lich wie im Flugverkehr oder bei der Bahn sich auchhier die allermeisten Probleme bereits ohne Schlichtunglösen lassen. Daneben ist es gelungen, die Schlichtungmöglichst unbürokratisch zu gestalten, indem es einezentrale Anlaufstelle geben soll, ohne in jedem Bundes-land noch eine zusätzliche Beschwerdestelle einzurich-ten.Ich glaube, dass der Bundesregierung mit dem hiervorgelegten Gesetz zur Durchführung der EU-Verord-nung ein guter Aufschlag zur Stärkung der Verbraucher-rechte gelungen ist, und freue mich auf die weiteren Be-ratungen.
Mit der Europäischen Verordnung Nr. 1177/2010 er-
reichen Fahrgäste im See- und Binnenschifffahrtsver-
kehr einige wesentliche Verbesserungen. Die wesentli-
chen Regelungen der Verordnung treten in den
Mitgliedsländern unmittelbar in Kraft. Damit erhalten
Schiffsreisende ähnliche Rechte wie Bahn- und Flugrei-
sende. Diese Gleichstellung begrüßt die Linke. Jedoch
krankt die Verordnung an den ebenso gleichen Stellen
wie im Bereich der Fluggastrechte. Zwar sollen auch die
Betreiber von Fahrgastschiffen einen Teil des Reiseprei-
ses bei verspäteter Ankunft am Zielhafen erstatten. Wie
im Luftverkehr beinhaltet die Regelung jedoch scheu-
nentorgroße Schlupflöcher, bei denen sich Reiseveran-
stalter durch Hinweise auf schlechtes Wetter oder au-
ßergewöhnliche Umstände aus der Pflicht stehlen
können.
Insgesamt jedoch dürfen die Fahrgäste dankbar sein,
dass hier die Europäische Union zum größten Teil selbst
unmittelbares Recht setzt und so der Bundesregierung
kein großer Spielraum bleibt, die Stärkung von Fahr-
gastrechten zu torpedieren. Obwohl die neuen Regelun-
gen gerade für Menschen mit eingeschränkter Mobilität
entscheidende Verbesserungen enthalten, erklärte Ver-
kehrsminister Ramsauer zum Beschluss der Verordnung
durch das Europäische Parlament: „Bei der Verordnung
fehlen das Augenmaß und die nötige Balance zwischen
Kosten für die Verkehrsunternehmen und dem effektiven
Nutzen für die Fahrgäste.“ Und: „Die Bundesregierung
hat sich in Brüssel gegen die Verordnung in der vorlie-
genden Form ausgesprochen.“
Die Umsetzung des kleineren Teils der Verordnung,
der erst noch in nationales Recht umgesetzt werden
muss, trägt dann auch die entsprechende Handschrift
der Bundesregierung. Obwohl an dieser Stelle Rege-
lungskompetenz besteht, unterlässt es die Bundesregie-
rung, den Unternehmen gegenüber den Reisenden aus-
reichend deutlich ausformulierte Informationspflichten
über die Schlichtungsstelle aufzutragen.
Weiter versäumt es die Bundesregierung, die Sanktio-
nen bei Verstoß gegen die Fahrgastrechte gerade im
Sinne von Menschen mit Behinderung ausreichend zu
konkretisieren. So spart die Verordnung zum Gesetzent-
wurf die Sanktionierung zahlreicher behindertenspezifi-
sche Verstöße gegen die EU-Verordnung aus.
Die Linke wird sich im Gesetzgebungsprozess dafür
einsetzen, dass der Bundestag seinen verbliebenen
Spielraum bei den Fahrgastrechten im Schiffsverkehr im
Sinne der Fahrgäste und nicht im Sinne der beteiligten
Unternehmen nutzt.
Zwei Dinge stehen hier heute zur Debatte: zum einenFahrgastrechte im See- und Binnenschiffsverkehr, zumanderen die Änderung des Luftverkehrsgesetzes. Bei bei-den Themen hatten wir ausführliche Stellungnahmen derBundesländer, die an Kritik nichts offen ließen. Und washat die Bundesregierung dazu zu sagen? Man muss hierauf Seite 48 von einem 50-seitigen Dokument schauen,um sich dann mit zweieinhalb Seiten Gegenäußerung zu-frieden zu geben. Den absolut berechtigten Einwendun-gen zur Schlichtung im Luftverkehr werden gar nurzwölf Zeilen gewidmet. Ist das Ihr Ernst, meine liebeKolleginnen und Kollegen von der Koalition? Halten SieZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24001
Markus Tressel
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es für angemessen, angesichts der Kritik des Bundesra-tes, wo nahezu alle Länder Änderungsbedarf sahen?Einen besonderen Gruß sende ich an dieser Stelle malnach Bayern. Sie haben im Bundesrat wirklich sehr guteArbeit geliefert. Aber das, was CSU und FDP hier ablie-fern, ist unterirdisch. Ramsauer und Aigner führen mitdem Verkehrs- und dem Verbraucherministerium aufBundesebene zwei Ministerien, denen man nun wirklichnicht unterstellen kann, dass sie in diesem Bereich nichtbetroffen seien. Das BMVBS war auch stets in die Ver-handlungen des BMJ unter Führung der FDP eingebun-den. Das, was Sie hier abliefern, ist Ausdruck des blan-ken Versagens. Und ich sage Ihnen auch eines: Wenn esIhnen wirklich ernsthaft um verkehrsträgerübergrei-fende und neutrale Schlichtung gegangen wäre, würdenSie das hier nicht durchgehen lassen. Bei Ihrer Reisedurch das Verbraucherrecht haben Sie wirklich nocheinmal eindrucksvoll unter Beweise gestellt, dass Sienichts anderes als blinde Passagiere sind.Lassen Sie mich eines kurz zitieren. Schauen Sie malauf Seite 50: „Die Bundesregierung weist für den Be-reich des Luftverkehrs darauf hin, dass sich inzwischenzahlreiche Luftfahrtunternehmen zu einer freiwilligenSchlichtung bereit erklärt haben.“ Ich frage Sie: Wer istdenn schon Mitglied bei einer anerkannten Schlich-tungsstelle? Die Verordnung gibt es schließlich schonseit siebeneinhalb Jahren. Seit 2005 bestand dazu dieMöglichkeit. Erst bei der Schlichtungsstelle Mobilität,jetzt bei der SÖP. Wo ist denn die Schlichtungsstelle fürFlugreisende? Was passiert denn derzeit mit den ganzenBeschwerden, die Fluggäste an die Airlines richten unddie dort nur unzureichend bearbeitet werden? Sie habenes wirklich nicht begriffen. Weder erkennen Sie die man-gelhafte Rechtsdurchsetzung der Fluggastreche nochwelches Potenzial eine unabhängige Schlichtungsstellefür die Reisenden bringt, wohl gemerkt im Zusammen-hang mit anderen zu nutzenden Instrumenten, wie bei-spielsweise einer konsequenten Sanktionierung.Und damit möchte ich auch noch kurz etwas zu denanderen Bereichen des Reiserechts betonen: Auch hier– liebe Kollegen von der CSU – bauen Sie nicht Büro-kratie ab, sondern auf. Was ist denn mit Herrn Stoiber?Wo ist denn seine Aufgabe? Ist das Reiserecht davonausgenommen? Wir brauchen endlich einen Rechtsaktfür alle Reisenden. Was soll denn dieser Käse mit denganzen sektorspezifischen Regelungen? Natürlich brau-chen wir auch Fahrgastrechte für See- und Binnen-schiffsverkehr. Natürlich brauchen wir Fahrgastrechteim Bus- und Bahnverkehr. Und selbstverständlich brau-chen wir dringend ein ordentliches Maß an Verbrau-cherschutz für Fluggastrechte. Aber: Wir brauchen einReiserecht, dass auch den intermodalen Verkehrskon-zepten gerecht wird. Wir brauchen ein Recht, das Quali-tät sichert. Wir brauchen ein Recht, das den Reisenden,auch ohne dafür ein Jurastaatsexamen gemacht zu ha-ben, klar und einfach darstellt, welches Recht sie haben –ganz im Sinne der Reisenden. Denn die sind es, um die esprimär geht, und nicht allein die Wahrung der Interessender Wirtschaft.E
Mit dem von der Bundesregierung eingebrachtenEntwurf eines Gesetzes zur Durchführung der Verord-nung Nr. 1177/2010 des Europäischen Parlamentsund des Rates vom 24. November 2010 über die Fahr-gastrechte im See- und Binnenschiffsverkehr sowie zurÄnderung des Luftverkehrsgesetzes werden zum einendie gesetzlichen Grundlagen im nationalen Recht für dieEinhaltung und Durchsetzung der durch die Verordnung
Nr. 1177/2010 des Europäischen Parlaments und
des Rates über die Fahrgastrechte im See- und Binnen-schiffsverkehr und zur Änderung der Verordnung
Nr. 2006/2004 unmittelbar geltenden Fahrgastrechte imSee- und Binnenschiffsverkehr durch die Einrichtungentsprechender Stellen sowie der Festlegung eines Sank-tionsregimes bei vermeintlichen Verstößen geschaffen.Mit dem Gesetzentwurf setzt die Bundesregierung da-mit das verbraucherpolitische Ziel der Stärkung undweiteren Verbesserung der Rechte von Verbrauchern imSee- und Binnenschiffsverkehr in Bezug auf Personen-verkehrsdienste und Kreuzfahrten unter besondererBerücksichtigung von Belangen behinderter und mobili-tätseingeschränkter Menschen in Deutschland um.Diese Passagiere erhalten nach Inkrafttreten des vorge-legten Gesetzentwurfs das gleiche europaweite Schutz-niveau, wie es schon im Luft- und Eisenbahnverkehrbesteht und künftig auch auf den Buslinienverkehr aus-geweitet wird.Der Entwurf des eingebrachten EU-Fahrgastrechte-Schifffahrt-Gesetzes bestimmt im Wesentlichen die Auf-gaben und die Zuständigkeit des Bundes für den Bereichdes Verkehrsträgers Schiff zur Durchsetzung der Fahr-gastrechte. Ferner werden die für die Durchführung derVerordnung Nr. 1177/2010 notwendigen Befug-nisse sowie Mitwirkungspflichten abschließend nor-miert. Zudem enthält der Gesetzentwurf Regelungen zurindividuellen Streitbeilegung sowie zur Möglichkeit derAnrufung einer verkehrsträgerübergreifenden Schlich-tungsstelle.Neben den Fahrgastrechten im Schiffsverkehr wirdmit dem Gesetzentwurf die Luftsicherheit durch auslän-dische Flugsicherungsorganisationen in grenznahenBereichen und an Flugplätzen durch die Verlängerungder bestehenden Übergangsfrist für deren Aufgaben-wahrnehmung aufgrund einer Änderung von § 73 Abs. 4Luftverkehrsgesetz weiterhin dauerhaft gewährleistet.Mit der durch den Gesetzentwurf erfolgten Änderungvon § 73 Abs. 4 des Luftverkehrsgesetzes wird die dortgeregelte und am 31. Dezember 2012 endende Über-gangsfrist für ausländische Flugsicherungsorganisatio-nen nach dem LuftVG um zwei Jahre bis zum 31. Dezem-ber 2014 verlängert. Damit wird gewährleistet, dass diemit ausländischen Staaten ausgehandelten völkerrecht-lichen Übereinkünfte zur Durchführung der Flugsiche-rung in Deutschland fristgerecht in Kraft gesetzt werdenkönnen. Andernfalls würden die bisherigen und teilweiseseit Jahrzehnten im deutschen Luftraum in grenznahenBereichen ausgeübten Tätigkeiten ausländischer Flug-Zu Protokoll gegebene Reden
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24002 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Parl. Staatssekretär Enak Ferlemann
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sicherungsorganisationen mit Ablauf der bislang gelten-den Frist als nicht mehr gestattet gelten.Ich glaube, wir haben heute einen guten Entwurf vor-gelegt, und freue mich auf zügige parlamentarische Be-ratungen.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/10958 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind
damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Bettina
Herlitzius, Hans-Josef Fell, Oliver Krischer, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Beitrag der Raumordnung zu Klimaschutz
und Energiewende
– Drucksache 17/9583 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir
die Reden zu Protokoll.
Die Energiewende ist für die BundesrepublikDeutschland neben der Euro-Krise die größte wirt-schaftspolitische Herausforderung seit dem Wiederauf-bau und die größte umweltpolitische Herausforderungüberhaupt. Gerade weil unsere umwelt- und energie-politischen Ziele zu Recht ehrgeizig und anspruchsvollsind, bedürfen sie auch einer besonders sorgfältigenPrüfung im Hinblick auf ihre möglichen Auswirkungenauf Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitsplätze, aber auchauf die Kompetenzaufteilung zwischen Bund, Ländernund Kommunen. Alle Möglichkeiten, die zu einem er-folgreichen Abschluss dieses Mammutprojektes führenkönnen, müssen berücksichtigt und integriert werden.Deshalb müssen auch die positiven Auswirkungen derRaumordnung betrachtet werden.Die von den Grünen geforderten Änderungen undVorschläge sind jedoch in keiner Weise zielführend, daes im Wesentlichen um Ziele geht, die auch ohne die be-antragten Gesetzesänderungen und Raumordnungs-pläne des Bundes erreicht werden können, sodass dievorgeschlagenen Maßnahmen lediglich deklaratori-schen Charakter besitzen.Zudem werden die erfolgreichen föderalen Struktureninfrage gestellt. Der Bund ist für die Planung eines aus-reichenden Hochspannungsnetzes zuständig, welchesgewährleistet, dass der produzierte Strom vom Ort derEntstehung dahin transportiert wird, wo der Strom ge-braucht wird. Die Ausweisung raumordnerischerGebiete für erneuerbare Energien ist aber originärerKompetenzbereich der Landesplanungen. An dieser Auf-teilung, die sich über Jahrzehnte bewährt hat, werdenwir nichts ändern. Die planerische Konkretisierung desAusbaus erneuerbarer Energien auf Grundlage des § 17Abs. 1 ROG ist nicht notwendig. Es ist nicht sinnvoll,dass der Bund den Gemeinden vorschreibt, ob und inwelchem Umfang entsprechende Flächen für erneuer-bare Energien festgeschrieben werden.Die bisherigen Erfahrungen beim Ausbau der erneu-erbaren Energien zeigen, dass die Erstellung eines ge-samtdeutschen Raumordnungsplanes mit verbindlichenFlächenvorgaben für erneuerbare Energien für die ein-zelnen Bundesländer nicht notwendig ist. Die Energie-konzepte der Länder werden nach derzeitigem Standdazu führen, dass die von der Bundesregierung anvisier-ten Ziele für erneuerbare Energie nicht nur erreicht,sondern übertroffen werden.Eine verbindliche Vorgabe durch den Bund ist in derPraxis schon deshalb nicht sachgerecht, weil für eineffizientes Raummanagement die örtlichen Gegebenhei-ten der einzelnen Regionen in Ansatz gebracht werdenmüssen, so dass eine Steuerung nur auf Ebene der überdie entsprechende Ortskenntnis verfügenden Landes-und Regionalplanungen möglich ist. Im Übrigen wäreein entsprechender gesamtdeutscher Plan nicht zielfüh-rend, weil er keine positive Wirkung in der Praxis garan-tieren könnte.An dieser Stelle möchte ich auf den Flächenver-brauch eingehen, der zunehmend zu einem Problemwird. Es ist in unserem Sinn, eine möglichst geringe In-anspruchnahme land- und forstwirtschaftlicher Flächenzu erreichen. Ich möchte auf die Doppelbelastung derLand- und Forstwirtschaft durch Inanspruchnahmelandwirtschaftlicher Flächen zunächst für den Eingriffselbst und dann für Kompensationsmaßnahmen im Rah-men des Naturschutzausgleichs hinweisen. Deshalb soll-ten bei der Umweltprüfung neben Schutz und Schonungvon Naturräumen auch der Schutz von land- und forst-wirtschaftlichen Flächen, agrarstrukturelle Belange so-wie für die Landwirtschaft besonders geeignete Bödensowie der Bodenschutz Berücksichtigung finden.Wichtig ist auch, dass wir hier die Bevölkerung, ins-besondere unsere Landwirte, mitnehmen. Bei Kompen-sationsmaßnahmen müssen Inhalt, Art und Umfang vonAusgleichs- und Ersatzmaßnahmen zur Entsiegelung,Wiedervernetzung von Lebensräumen, Bewirtschaftungund Pflege sowie zum Ersatzgeld und zur Definition„agrarstrukturelle Belange“ und „besonders geeigneteBöden“ berücksichtigt werden. Eine Erhöhung der ein-maligen Dienstbarkeitsentschädigung auf 20 Prozentdes Grundstückswertes bei Freileitungen und mindes-tens 50 Prozent des Grundstückswertes für 380-kV-Erdverkabelungen sowie die Ergänzung der einmaligenDienstbarkeitsentschädigung um eine jährlich wieder-kehrende und unbefristete Nutzungsvergütung solltendiskutiert werden.Der Ausbau der erneuerbaren Energien ist auch fürDeutschland ein Kraftakt. Die von der Bundesregierunganvisierten klimapolitischen Ziele sind mehr als erfüllt.Wir sind auf dem Weg zur Energie von morgen: sauber,bezahlbar, verlässlich.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24003
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Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zeigt wieder
einmal deutlich, dass Sie verzweifelt versuchen, unsere
Erfolge in der Energiepolitik schlechtzureden. Statt
unsere energiepolitischen Vorhaben konstruktiv zu be-
gleiten, haben Sie sich auf Blockade und Lamentieren
spezialisiert. Doch die Fakten zeigen deutlich, dass un-
sere Gesetzgebung zum Erreichen der energiepoliti-
schen Ziele erfolgreich ist. Wir erreichen nicht nur un-
sere Ausbauziele bei den erneuerbaren Energien,
sondern übertreffen auch bei Weitem alle Ausbauziele,
die sich Grün oder Rot in ihrer Regierungszeit gesetzt
haben.
Allein im vergangenen Jahr ist der Anteil der erneu-
erbaren Energien am Strommix um 3 Prozent auf über
20 Prozent gestiegen, seit unsere schwarz-gelbe Koali-
tion regiert, ist der Anteil der erneuerbaren Energien um
fast 10 Prozent gestiegen. So schnell wie bei keiner an-
deren Regierung zuvor. Damit gehören wir in Europa zu
den Spitzenreitern beim Ausbau der erneuerbaren Ener-
gien. Auch die Bundesländer überbieten sich in ihren
Energiekonzepten. Insgesamt wollen 14 Bundesländer
energieautark und zehn von ihnen zum Stromexporteur
werden. Alle Ausbauziele zusammen liegen 60 Prozent
über denen der Bundesregierung. Allein im ersten Halb-
jahr dieses Jahres sind laut Branche 26 Prozent mehr
Windenergieanlagen aufgestellt worden als im Vorjah-
reszeitraum, insgesamt 414 Windenergieanlagen mit ei-
ner Leistung von zusammen 1 004 Megawatt. Diese Zah-
len zeigen deutlich, dass der Zubau vor Ort floriert und
keineswegs am jetzigen Raumordnungsgesetz scheitert.
Das aktuelle Raumordnungsgesetz ist eben kein „Er-
neuerbaren-Ausbau-Verhinderungs-Gesetz“, wie es der
vorliegende Antrag suggeriert. Im Gegenteil: Es be-
inhaltet ausreichende Regelungen für Klimaschutz und
den Ausbau der erneuerbaren Energien. So wird schon
zu Beginn des Gesetzes in § 2 Abs. 2 Nr 6 Raumord-
nungsgesetz geregelt: „Den räumlichen Erfordernissen
des Klimaschutzes ist Rechnung zu tragen sowohl durch
Maßnahmen, die dem Klimawandel entgegenwirken als
auch durch solche, die der Anpassung an den Klima-
wandel dienen. Dabei sind die räumlichen Vorausset-
zungen für den Ausbau der erneuerbaren Energien … zu
schaffen.“
Auch der Flächensicherung für erneuerbare Ener-
gien und Klimaschutz wird im Raumordnungsgesetz
Rechnung getragen. Raumbedeutsame Nutzungen und
Funktionen des Raumes sowie alle denkbaren raumord-
nerischen Steuerungsfunktionen sind dort ausreichend
abgedeckt. Die von Ihnen geforderte Ergänzung im § 8
Abs. 5 ROG ist also nicht sinnvoll, da sie eine rein dekla-
ratorische Normierung ohne eigenen Regelungsgehalt
darstellen würde.
Wenn die Grünen an der einen Stelle mehr Bürgerbe-
teiligung beim Ausbau der Netze oder Umbau von Bahn-
höfen fordern, dann sollten sie auch beim Ausbau der er-
neuerbaren Energien konsequent bleiben und nicht
einen Bundesausbauplan für erneuerbare Energien for-
dern. Denn auch aus Gründen der Akzeptanz ist es rich-
tig, dass auf Landesebene und kommunaler Ebene vor
Ort entschieden wird, wo die erneuerbaren Erzeugungs-
anlagen gebaut werden. Vorgaben für den Ausbau der er-
neuerbaren Energien durch das Raumordnungsgesetz
würden die Akzeptanz der erneuerbaren Energien nur
unnötig gefährden. Denn die Leute vor Ort wollen mit
eingebunden werden, wenn vor ihren Häusern Wind-
mühlen oder Biogasanlagen gebaut werden. Geeignete
Gebiete für erneuerbare Energien festzulegen, kann also
besser durch die Länder als durch den Bund geschehen.
Denn die Länder verfügen zusammen mit den Kommu-
nen eindeutig über die bessere Ortskenntnis in den
Regionen. Dass dies funktioniert, beweisen sowohl alle
Energiekonzepte der Länder mit ihren teils überborden-
den Ausbauzielen als auch die laufende Umsetzung
durch die Landes- und Regionalplanung der Bundeslän-
der.
Dieser Antrag zeigt wieder einmal den Realitätssinn
der Grünen. Sie verkennen die Lage und die eigentlichen
Herausforderungen der Energiewende. Unser Haupt-
problem ist nicht, dass wir den Zubau durch EEG-
Novellen durch das Raumordnungsgesetz verhindern.
Vielmehr stellt uns der äußerst schnelle Ausbau der er-
neuerbaren Energien vor massive, andere Herausforde-
rungen. So ist es nun an der Zeit, dass die erneuerbaren
Energien schneller zu Markt- und Wettbewerbsfähigkeit
geführt werden. Deshalb haben wir mit der Marktprä-
mie erstmals ein Instrument für mehr Systemintegration
der erneuerbaren Energien geschaffen. Damit wird an-
gereizt, dass die erneuerbaren Energien nicht einfach
blind einspeisen, sondern sich besser in das System inte-
grieren. Weitere Schritte werden und müssen folgen.
Zum einen müssen die erneuerbaren Energien für den
Verbraucher bezahlbar bleiben. Deshalb fühlen wir uns
in der Pflicht, die Förderung der Erneuerbaren so effi-
zient wie möglich zu gestalten. Dies haben wir in ver-
gangenen EEG-Novellen versucht, doch auch hier wur-
den wir zu oft von Ihnen im Bundesrat gehindert. Zum
anderen muss der Ausbau der erneuerbaren Energien
mit dem Ausbau der Netze in Einklang gebracht werden.
Diesen und weiteren Herausforderungen stellen wir
uns. Wo Sie schon mit Wahlkampfgetöse starten, leiten
wir zusammen mit Bundesumweltminister Peter
Altmaier einen Verfahrensprozess ein und packen diese
Herausforderungen ganz konkret an. Das Parlament,
die Länder und auch die Bürger bekommen die Möglich-
keit, sich an diesem Verfahren zu beteiligen. Das ist auch
Ihre Chance, zu zeigen, dass Sie es ernst meinen mit der
Energiewende.
Das Raumordnungsgesetz beinhaltet die Leitvorstel-lung einer nachhaltigen Raumordnung, die die sozialenund wirtschaftlichen Anforderungen an den Raum in derBundesrepublik mit den ökologischen in Einklang bringtund ausgewogen gestaltet. Mit der letzten Novelle 2008wurden nicht nur Anpassungen hinsichtlich der Födera-lismusreform vorgenommen, sondern wurde das Raum-ordnungsgesetz, ROG, auch an die aktuellen „Leitbilderund Handlungsstrategien für die Raumentwicklung inDeutschland“ angepasst. Diese Neufassung hatte unteranderem die Verringerung der Flächeninanspruch-Zu Protokoll gegebene Reden
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24004 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Michael Groß
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nahme, den Klimaschutz, die Stärkung des ländlichenRaumes und das Hervorheben der interkommunalen undeuropäischen Zusammenarbeit zum Ziel. Insgesamtwurde die Raumordnungsgesetzgebung derart gestaltet,dass sie künftig von vornherein flexibel auf besondereEntwicklungen reagieren kann. Auch die EU-Richtliniezur strategischen Umweltprüfung wurde im damaligenGesetz vollständig umgesetzt. Ziel war es zu diesem Zeit-punkt bereits, die Raumordnung umfassend auf klima-bedingte Veränderungen vorzubereiten und deren Aus-wirkungen einzubeziehen.Wegen der unmittelbaren Auswirkungen der Raum-ordnung auf die Bauleitplanung sind detaillierte Vorga-ben in der Raumordnung eher zurückhaltend zu bewer-ten. Als NRW-Bundestagsabgeordneter kann ichdarüber informieren, dass der weit überwiegende Teilder kommunalen Flächennutzungspläne in NRW bereitsDarstellungen zu Konzentrationszonen mit Windenergieenthält.Mit Klimaveränderungen wird zunehmend die Frageder Ernährung und als wichtigstes Produktionsmittelder Boden – also die Fläche – eine gewichtige Rollespielen. Bereits jetzt ist die Konkurrenz um die Flächesehr hoch. Auch der Präsident des Deutschen Bauern-verbandes lenkte das Augenmerk um die Flächenkon-kurrenz von Nahrung und Energie mit einer öffentlichenPetition auf die schwindende landwirtschaftliche Flä-che. Mit dem ZDF-Thementag gegen Hunger – als im-mer noch größtes Gesundheitsrisiko in der Welt – wirdder Ernst der Lage sehr deutlich. Hier liegt aus Sicht derSPD die Aufgabe der Raumordnung klar in der Identifi-zierung und Abwägung spezifischer Nutzungskonkurren-zen.Es ist ohne Zweifel eine politische Aufgabe, den Aus-bau erneuerbarer Energien zu beschleunigen. Auch dieMinisterkonferenz für Raumordnung bekräftigte, dass„die verstärkte Nutzung regenerativer Energien und derhierzu erforderliche Netz- und Speicherausbau derüberörtlichen, planerischen Konzeption sowie derFlächen-, Standort- und Trassenvorsorge durch dieLandes- und Regionalplanung bedarf“. Gerade regene-rative Energien bieten die Chance dezentraler Struktu-ren und können nur vor Ort und in Kooperation vonBund, Land und Kommunen entwickelt werden. Dazusind die ordnungspolitischen Voraussetzungen zu schaf-fen.Das Netzausbaubeschleunigungsgesetz, NABeG, hateine Reihe von Verbesserungen bei der Öffentlichkeits-beteiligung im Rahmen der Bundesnetz- und Bedarfs-planung geschaffen, so zum Beispiel die Verpflichtungder Betreiber von Übertragungsnetzen, den Entwurf desNetzentwicklungsplans vor Vorlage bei der Regulie-rungsbehörde im Internet zu veröffentlichen, sowie dieverpflichtende Öffentlichkeitsbeteiligung im Zuge derstrategischen Umweltprüfung. Darüber hinausgehendhalten wir weitere Verbesserungen der Bürgerbeteili-gung für geboten.Für den ambitionierten Ausbau der regenerativenEnergien in Deutschland müssen wir die Menschen mit-nehmen, aber insbesondere gewinnen und regionaleBelange berücksichtigen. Ich verweise an dieser Stelleerneut auf unseren Antrag und das SPD-Konzept imRahmen des Infrastrukturkonsenses zu umfassenderBürgerbeteiligung. Bei der Raumordnung muss jedochmit Augenmaß gehandelt werden und ein Abwägungs-prozess gestaltet werden. Dies geht nur über regionalePlanung, horizontal und vertikal abgestimmte regionaleKonzepte – gerade für die Gestaltung der Energie-wende. Eine einseitige Auslegung der Raumordnungs-gesetze wäre hier sicher nicht zielführend.Wichtig ist also eine enge inhaltliche und politischeAbstimmung mit den Ländern, ob überhaupt und in wel-cher Form eine Änderung der Raumordnung verfolgtwerden sollte.
Die christlich-liberale Regierungskoalition hat sich derunumkehrbaren und umfassenden Energiewende ver-schrieben. Ob im Bundesministerium für Wirtschaft un-ter Führung des FDP-Vorsitzenden Dr. Philipp Rösler,im Umweltministerium unter dem ChristdemokratenPeter Altmaier oder im BMVBS unter dem CSU-Minis-ter Dr. Peter Ramsauer – alle Parteien der Koalition ar-beiten intensiv und nachdrücklich an der Umsetzung derBeschlüsse zur Energiewende. Das beinhaltet selbstver-ständlich auch, die klimagerechte Entwicklung in denStädten und Gemeinden zu fördern, den CO2-Ausstoß zuverringern, die erneuerbaren Energien auszubauen.Überall dort, wo Bau-, Stadtplanungsvorschriften sowieRaumordnung dazu einen Beitrag leisten können, wer-den wir das tun. Denn Raumordnung und Stadtentwick-lung, Klimaschutz und Energiewende sind für die FDPkein Widerspruch, sondern bilden eine Einheit, die espolitisch weitblickend, sozialverträglich, ökologisch sinn-voll und ökonomisch vertretbar zu gestalten gilt.Mit den Änderungen des Baugesetzbuches tun wir ge-nau das. Wir gestalten und begleiten unter anderemauch die Energiewende und leisten den fachlichen Bei-trag zum Klima- und Naturschutz, der in Verantwortungfür lebende wie zukünftige Generationen notwendig ist.Kursorisch lassen Sie mich einige Themen aufgreifen.Bereits in § 1 des novellierten Baugesetzbuches werdendie Bedeutung der Fläche und die Schonung der Naturin besonderer Weise hervorgehoben und gestärkt. DieNotwendigkeit der Umwandlung landwirtschaftlich oderals Wald genutzter Flächen soll zukünftig begründetwerden. Der Innenentwicklung von Städten und Gemein-den wird daher eine wichtige Rolle zugewiesen. Brach-flächen, Baulücken, Gebäudeleerstand und Möglichkeitender Nachverdichtung werden ausdrücklich hervorgeho-ben. Das wird den Flächenverbrauch in der Zukunftbremsen und damit das natürliche und klimafreundlicheRegenerationspotenzial stärken. Gleiches gilt für § 17,wo der Spielraum der Gemeinden im Interesse der In-nenentwicklung erhöht wird, wenn es darum geht, vonObergrenzen für die Festsetzung des Maßes für baulicheNutzungen abzuweichen. Die FDP hält am Ziel des Nullneuflächenverbrauchsfest und sieht vor dem Hintergrund der demografischenEntwicklung einen politisch begleiteten negativenZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24005
Petra Müller
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Flächenverbrauch für angezeigt. Und lassen Sie micheinfügen: Die Innenentwicklung werden wir nicht nur imBaugesetzbuch fördern. Mit den für den Bundeshaushalt2013 erhöhten Mitteln für die Städtebauförderpro-gramme „Aktive Stadt- und Ortsteilzentren“ um 4 Mil-lionen auf 97 Millionen Euro, „Kleine Städte und Ge-meinden“ um 10 Millionen auf 55 Millionen Euro,„Stadtumbau Ost und West“ zusammen 116 MillionenEuro werden wir passgenau unter anderem das tun, wasSie fordern: den Flächenverbrauch senken, die Innen-städte fördern, den natürlichen Lebensraum erhalten,die Klimabilanz verbessern. Das ist Politik der FDP unddas ist Politik der christlich-liberalen Union.Doch zurück zur Baugesetzbuchnovelle. Mit § 136werden wir die Belange des Klimaschutzes und derKlimaanpassung ausdrücklich in die Beurteilung städte-baulicher Missstände einbeziehen. Damit wird deutlich,dass beide Aspekte – Klimaschutz und Klimaanpas-sung – auch im Rahmen der städtebaulichen Sanierungund als Bestandteil städtebaulicher Gesamtmaßnahmenzukünftig berücksichtigt werden. Die bereits vielerortspraktizierten Aktivitäten zur klimagerechten Stadterneue-rung finden damit auch im Gesetzestext eine Stütze. DieStädte und Gemeinden können davon Gebrauch ma-chen; es liegt in ihrem planerischen Ermessen. Die FDPund die Bundesgesetzgebung fordern sie dazu ausdrück-lich auf und schaffen dafür den rechtlichen Rahmen.Gleichzeitig sollen in § 136 die energetische Beschaf-fenheit und die Gesamtenergieeffizienz als Kriterien be-nannt werden für die Sanierungsbedürftigkeit. Damitsollen städtebauliche Sanierungsmaßnahmen zukünftigeinen stärkeren Beitrag dazu leisten, dem Klimawandelentgegenzuwirken. Dafür wird es notwendig sein, dieAusstattung baulicher Anlagen mit nachhaltigen Versor-gungseinrichtungen, mit Erneuerbare-Energien-Anlagen,mit Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen und einer verbes-serten Wärmedämmung zu versehen. Was die Nutzung vonSolarthermie- und Photovoltaikanlagen betrifft, werdenwir die Baunutzungsverordnung – §§ 14 und 17 – ent-sprechend anpassen.Die Möglichkeiten, den Klimaschutz politisch und ge-setzgeberisch zu fördern und die Energiewende in unse-rem Land voranzutreiben sind vielfältig. Die christlich-liberale Koalition beweist unter anderem mit der No-velle des Baugesetzbuches oder mit der Fortentwicklungder Städtebauförderprogramme, dass sie auch weiterhinhandwerklich solide und ökologisch nachhaltig undpolitisch erfolgreich daran arbeitet.
Dem hier vorliegenden Antrag der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen stimmen wir insgesamt zu, auchwenn wir nicht jede einzelne Forderung eins zu einsübernehmen würden. Wenn die Umsetzung dieses An-trags aber einen Beitrag leisten kann zur Beschleuni-gung der Energiewende, hat er unsere Unterstützung. Esist absolut richtig, dass die Raumordnung einen gewichti-gen Beitrag zum Gelingen der Energiewende leistenkann. Voraussetzung ist aber, dass der Bund mit seinerGesetzgebung die Landesbehörden unterstützt und derenKompetenz, aber auch deren Motivation stärkt. Ob dazuein Bundesraumordnungsplan, wie in Punkt 3 des An-trags gefordert wird, das richtige Instrument ist, lasseich erst einmal dahingestellt. Richtig ist jedenfalls dasAnliegen, das ich dahinter vermute.Die Energiewende ist eine Aufgabe von geradezu his-torischer Bedeutung. Als politische Aufgabenstellung istsie aber noch relativ jung und die verfügbaren Planungs-instrumente, die Planungsgremien und der gegebeneRechtsrahmen haben darauf noch nicht in der notwen-digen Konsequenz reagiert. Anstelle eines Bundesraum-ordnungsplanes – der könnte vielleicht der zweiteSchritt sein –, würde ich eine generelle Revision sämt-licher Planungs- und Rechtsvoraussetzungen anregen.Das gesamte System von Planungshoheit, Ämterbefug-nis und die in den letzten Jahrzehnten geübte Planungs-praxis gehören auf den Prüfstand, und zwar unter derPrämisse, ob sie den objektiven Erfordernissen des Kli-maschutzes und der Energiewende noch gerecht werden.Klimaschutz ist eine internationale Aufgabe, die aberin Regionen und Gemeinden verwirklicht werden muss.Die Frage ist: Ist die Raumordnungsplanung in ihrerjetzigen traditionellen Verfasstheit in der Lage und istsie motiviert, dazu einen entscheidenden Beitrag zu leis-ten? Ich meine, es gibt da bedeutende Reserven und Po-tenziale zu heben, für die aber bundespolitische Priori-tätensetzungen einschließlich des dafür erforderlichenRechtsrahmens notwendig sind.Insofern ist mir auch die Forderung im Punkt 4 desAntrags zu zögerlich, wonach die Bundesregierung an-gehalten ist, zu „prüfen, ob der Klimaschutz und derAusbau erneuerbarer Energien gestärkt werden können,indem im Raumordnungsgesetz die Möglichkeit geschaf-fen wird, Flächenvorgaben verbindlich auf die Länder-ebenen zu konkretisieren“. Der Bund muss, ausgehendvon Klimaschutzerfordernissen, einen Prioritätenkatalogfestlegen, den die Landesplanung in ihre Prämissen zurFortschreibung von Raumordnungskonzepten und -pla-nungen übernimmt. Er muss auch mit den Ländern ge-meinsam eine Hirarchie der Entscheidungsebenen ab-stimmen, mit der Planungszeiträume verkürzt undunmissverständliche Rechtssicherheit in den einzelnenPlanungsschritten erreicht werden können. Weder derKlimaschutz noch die Energiewende dürfen durch Lan-desgrenzen aufgehalten werden.Wenn es Landesinteressen oder regionale Interessengibt, die zu Verhinderungsplanungen verleiten, müssendiese Interessen mit den Bundesinteressen verglichenund Interessenkonflikte durch Vereinbarungen ausge-glichen werden. Die Frage ist, ob in der Bürgerbeteili-gungspraxis eine ausreichende Berücksichtigung allerInteressen stattfindet oder ob Planungsvorgaben dazuführen können, dass berechtigte Bürgerinteressen zufrüh und ohne Nachteilsausgleich weggewogen werden.Zur Bürgerbeteiligung wäre es sinnvoll, ein Instrumentder Bestandsaufnahme der Interessen aller von derRaumordnungsplanung Betroffenen am Beginn einerPlanfortschreibung oder einer Planänderung zu finden,und zwar mit dem Ziel, Einvernehmen herzustellen undauf eine vertragliche Grundlage zu heben. GeschiehtZu Protokoll gegebene Reden
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Heidrun Bluhm
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das nicht, entscheiden womöglich am Ende einer jahre-langen Planungsphase Oberverwaltungsgerichte da-rüber – und zwar aus rein rechtsformalen Gründen –, obdie Energiewende gelingt oder ob die Akteure, die die-sen Prozess voranbringen wollen, irgendwann entnervtoder pleite aufgeben.Akzeptanz im Kleinen ist notwendig, damit die Ener-giewende im Großen gelingen kann.
Die Raumordnung wird von dieser Regierung ver-
nachlässigt. Denn schon im Jahr 2010 sollte der neue
Raumordnungsbericht vorliegen. Doch es hat bis An-
fang dieses Jahres gedauert, also zwei Jahre länger als
geplant. Jetzt liegt der Bericht zwar vor, aber Sie wei-
gern sich, den Bericht im Parlament zu debattieren.
Die Gründe dafür sind offensichtlich. Sie wollen den
Bericht dem Bundestag nicht vorlegen, weil er aufzeigt,
welche Steuerungspotenziale in der Raumordnung lie-
gen. Er zeigt sehr deutlich auf, wo sie tatenlos sind und
wie sie es versäumen, die Energiewende ernsthaft zu be-
treiben. Herr Minister Raumsauer, lassen Sie die Poten-
ziale der Raumordnung nicht ungenutzt. Gerade im Be-
reich der Energiewende gibt es über die Raumordnung
Gestaltungsmöglichen. Laut Raumordnungsbericht 2012
sollten im besonderen Maße der Ausbau erneuerbarer
Energien und Leitungsnetze, Risikomanagement und
Schutz kritischer Infrastrukturen als Aufgabe der Bun-
desraumordnung gesehen werden. Und auch die wich-
tigen Themen wie Begrenzung des Flächenverbrauchs
und der Aufbau eines nationalen Biotopverbundsystems
wären hier gut aufgehoben. Doch in keinem dieser Be-
reiche werden Sie – als Regierung – aktiv.
Der aktuell wichtigste Handlungsansatz ist jedoch
der Ausbau der erneuerbaren Energien und der Lei-
tungsnetze. Dazu kann die Raumordnung einen wesent-
lichen Beitrag leisten, wie wir in unserem Antrag aufzei-
gen. Das hat mittlerweile sogar Bundesumweltminister
Peter Altmeier erkannt. Vor kurzem sagte er: „Die wich-
tigste Aufgabe ist, ein Gesamtkonzept auszuarbeiten, in
dem der Ausbau der erneuerbaren Energien und der
Stromnetze besser miteinander verzahnt werden.“ Wir
sind gespannt auf Ihre Vorschläge! Denn das Ministe-
rium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ignoriert
weiterhin kosequent die Potenziale der Raumordnung
für die Energiewende und den Klimaschutz. Dabei ist
dafür nicht einmal eine Gesetzesänderung notwendig.
Denn schon mit einem Bundesraumordnungsplan, der
übrigens eh im Raumordnungsgesetz vorgesehen ist,
lässt sich hier schon viel erreichen.
Ein Bundesraumordnungsplan für erneuerbare Ener-
gien schafft Transparenz, bietet den nachfolgenden Ebe-
nen Orientierung und schafft so einen Beitrag zur sach-
gerechten Verteilung erneuerbarer Energien im Raum.
Dabei geht es selbstverständlich nicht darum, ein plan-
wirtschaftliches Instrument zu schaffen, das den Län-
dern keinen Handlungsspielraum mehr lässt, sondern
vielmehr darum, eine Grundlage für einen koordinierten
Ausbau zu schaffen. Das wäre ein echter Beitrag zur
Energiewende, im Gegensatz zu dem Ausbaustopp für
Windkraft, den Minister Altmeier fordert.
Die Verhinderung von Windkraftanlagen ist kein neues
Thema. So kam es in der Vergangenheit vor, dass Gemein-
den die Möglichkeit zur Festlegung von Windkrafteig-
nungsgebieten genutzt haben, um Windkraftanlagen zu
verhindern. Damit werden gesetzliche Möglichkeiten, die
eigentlich den Ausbau erneuerbarer Energien befördern
sollen, ad absurdum geführt. Denn solche Eignungsge-
biete sind mit einer Sperrwirkung ausgestattet. Das heißt,
werden Flächen als Eignungsflächen für Windkraft vorge-
sehen, ist diese Nutzung auf umliegenden Flächen nicht
möglich. Hier muss das Raumordnungsgesetz angepasst
werden, um diese missbräuchliche Verhinderungsplanung
zu erschweren. Eignungsgebiete für Windkraft sollten nur
noch in Ausnahmefällen möglich sein.
Auch zum Thema Repowering von Windkraftanlagen
muss das Raumordnungsgesetz überarbeitet werden.
Denn der Austausch alter Windkraftanlagen durch mo-
derne und effizientere Anlagen wurde mit der letzten
BauGB-Novelle schon in das Baugesetzbuch aufgenom-
men. Dieser Ansatz muss auch in das Raumordnungsge-
setz übertragen werden. Dazu haben Sie vor elf Monaten
in Ihrer Antwort auf unsere Kleine Anfrage angemerkt,
dass Sie noch nicht abschließend entschieden haben, ob
eine solche Änderung sinnvoll ist. Geschwindigkeit ist
bei der Energiewende nicht Ihre Sache, das ist klar. Viel-
leicht haben Sie hier mittlerweile doch eine Entschei-
dung getroffen und die Notwendigkeit dieser Regelung
erkannt. Dann freuen wir uns über Ihre Unterstützung
für unseren Antrag.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/9583 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a und 25 b auf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-zung des Seearbeitsübereinkommens 2006 derInternationalen Arbeitsorganisation– Drucksache 17/10959 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales RechtsausschussAusschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklungb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Herbert Behrens, Dr. Kirsten Tackmann,Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter undder Fraktion DIE LINKEUnverzügliche Ratifizierung des Seearbeits-übereinkommens der Internationalen Arbeits-organisation– Drucksachen 17/9066, 17/9614 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Johann WadephulWie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wirdie Reden zu Protokoll.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24007
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Wir diskutieren heute ein sehr wichtiges Regelwerk –den Entwurf für das neue Seearbeitsgesetz. Dabei gehtes um die Arbeits- und Lebensbedingungen der Seeleutean Bord von Kauffahrteischiffen unter deutscher Flagge.Wir setzen damit das Seearbeitsübereinkommen der In-ternationalen Arbeitsorganisation – kurz ILO – aus demJahr 2006 in deutsches Recht um. Gleichzeitig wird dieRatifizierung des ILO-Abkommens vorbereitet. Deutsch-land trägt mit diesen Vorhaben seinen Teil dazu bei, dassdas ILO-Übereinkommen weltweite Gültigkeit erlangenkann. Wenn dieses Ziel erreicht ist, herrschen überallauf See dieselben Bedingungen für Seeleute. Vor demHintergrund des zunehmenden globalen Wettbewerbs istdies auch wichtig; denn nur mit weltweit einheitlichenMindeststandards kann der Wettbewerb nicht auf Kostender Beschäftigten stattfinden. Zusammen mit den neuaufgenommenen Elementen der Flaggenstaatkontrolleund der Hafenstaatkontrolle, auf die ich gleich noch nähereingehen werde, bilden diese Mindeststandards das Kern-stück des ILO-Übereinkommens aus dem Jahr 2006.Nach der Flaggenstaatkontrolle muss jeder Staat dieEinhaltung der Bestimmungen des Seearbeitsüberein-kommens auf Schiffen unter seiner Flagge überwachen.Die Hafenstaatkontrolle sieht vor, dass jeder Staat, indessen Häfen Schiffe unter fremder Flagge einlaufen,die Einhaltung der ILO-Anforderungen zu überprüfenhat. Somit ist gewährleistet, dass auf allen Schiffen welt-weit dieselben Bedingungen herrschen müssen, auch aufSchiffen unter der Flagge solcher Staaten, die das ILO-Abkommen nicht ratifiziert haben. Zahlenmäßig sprechenwir von circa 65 000 Handelsschiffen oder etwa 1,2 Mil-lionen Seeleuten, die von diesen Vorhaben betroffensind. Sie erkennen hiermit die enorme Tragweite unserernationalen Bemühungen.Bevor ich näher auf die markantesten Neuerungenunseres vorliegenden Gesetzentwurfs eingehe, möchteich gerne noch ein paar Bemerkungen zu dem Antragder Linksfraktion machen. Sie haben, meine Damen undHerren von den Linken, in Ihrem Antrag die Bundesre-gierung aufgefordert, das Seearbeitsübereinkommen derInternationalen Arbeitsorganisation unverzüglich zu ra-tifizieren. Wie ich schon in meiner letzten Rede zu die-sem Thema dargelegt habe, ist uns in der Union der Ar-beitsschutz und die Gesundheit der auf See tätigenMenschen ein wichtiges Anliegen. Dafür muss es dieeingangs erwähnten Mindestbedingungen geben. Soweit sind wir uns einig.Aber was den richtigen Zeitpunkt für die Ratifizie-rung angeht, überlassen Sie doch besser uns die Ent-scheidung. Es macht nämlich wenig Sinn, den zweitenSchritt vor dem ersten zu gehen. Wenn wir das ILO-Übereinkommen ratifizieren, ohne zuvor die internatio-nalen Bestimmungen in nationales Recht umgesetzt zuhaben, fehlt uns ein wichtiger Baustein. Für alle Schiffe,die unter der deutschen Bundesflagge in See stechen, be-nötigen wir ein Regelwerk, das international Bestandhat. Das ist zudem eine wesentliche rechtliche Voraus-setzung, um überhaupt das ILO-Abkommen ratifizierenzu können. Das deutsche Seemannsgesetz, das bis zumInkrafttreten des neuen Seearbeitsgesetzes gültig ist, er-füllt dies nicht vollständig. Sonst brauchten wir ja auchdas aktuelle Gesetzgebungsverfahren nicht. Die mo-derne, global ausgerichtete Handelsschifffahrt erfordertgerade im Bereich des Arbeits- und Sozialrechts eineneue Rechtsgrundlage. Meine Fraktion hat deswegenauch Ihren Antrag ablehnen müssen.Wie Sie wissen, wird das neue Seearbeitsgesetz der-zeit erarbeitet. Es noch in diesem Jahr verabschiedetwerden, sodass es im ersten Quartal 2013 in Kraft tretenkann. Die Ratifizierung selbst ist dann nur noch reineFormsache.Bis das neue Gesetz in Kraft tritt, stehen die Seeleuteunter deutscher Flagge aber keinesfalls schutzlos da.Das aktuelle Seemannsgesetz setzt bereits einen hohenStandard für den Schutz der Lebens- und Arbeitsbedin-gungen an Bord. Das beginnt bei den Regelungen überdas Heuerverhältnis, Arbeitsschutz, Verpflegung, Unter-bringung und geht hin bis zu Vorschriften über die medi-zinische Versorgung, Urlaub und Landgang.Der Entwurf für das neue Seearbeitsrecht setzt jedochweitere, ganz neue Maßstäbe.So berücksichtigt es neue Entwicklungen im Bereichder Schifffahrt, sei es im Bereich des Handels oder etwader Offshoreindustrie.Der persönliche Geltungsbereich des Gesetzentwurfsist weiter gefasst als der bisherige im Seemannsgesetz.So gilt das Gesetz zum Beispiel auch für selbstständig anBord Tätige oder für abhängig Beschäftigte, die bei ei-nem anderen Arbeitgeber als dem Reeder des Schiffs be-schäftigt sind.Eine Neuerung ist auch die Definition des Reeders imBereich des Seearbeitsrechts und seine Verantwortungfür die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Seeleute anBord seines Schiffs. Dies gilt unabhängig davon, ob erselbst ihr Arbeitgeber ist oder ein Dritter. Damit werdendie Seeleute davor geschützt, dass ein Reeder versuchenkönnte, seine Pflichten gegenüber den Seeleuten auf an-dere abzuwälzen.Um die bereits angesprochenen umfangreichen Kon-trollen künftig effizienter zu gestalten, sieht das neueGesetz ein transparentes Verfahren vor, mit dem die See-diensttauglichkeit der Besatzungsmitglieder eines Schiffesfestgestellt werden kann. An dessen Ende erhalten dieSeeleute dann ein Seetauglichkeitszeugnis.Eine bessere Übersicht und klarere Abgrenzungenfinden sich auch bei den neu geregelten Arbeits- undRuhezeiten. Erforderliche Abweichungen von Höchst-arbeitszeiten oder Mindestruhezeiten sind für bestimmteSchiffskategorien oder bestimmte Arbeitseinsätze vorge-sehen. Um die Besatzungsmitglieder nicht zu überfor-dern, werden daneben auch Ausgleichsruhezeiten vorge-schrieben.Als letztes positives Beispiel aus diesem Regelwerkmöchte ich den Bereich der Berufsausbildung an Borderwähnen. Dieser wird erstmals gesetzlich normiert.Das Berufsbildungsgesetz, das die Ausbildung an Landregelt, wird den besonderen Anforderungen auf See nurin Teilen gerecht. Die neuen Vorschriften im Seearbeits-Zu Protokoll gegebene Reden
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24008 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Dr. Johann Wadephul
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gesetz orientieren sich hieran so weit wie möglich. Al-lerdings berücksichtigen sie eben auch die besonderenGegebenheiten einer Berufsausbildung an Bord.Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf leistet die Bun-desregierung also ihren Beitrag zur weltweiten Anwen-dung des Seearbeitsübereinkommens. Sie trägt mitSorge dafür, dass auf See angemessene Bedingungen fürdie Beschäftigten gelten. Durch ihre Gesetzesvorhabensichert sie gleichzeitig, dass der Wettbewerb auf Kauf-fahrteischiffen nicht über die Besatzungsmitglieder aus-getragen wird.
Ich hatte gehofft, dass ich mich hier schon vielschneller wieder zum Seearbeitsübereinkommen äußernkann. Denn es war eine ganz schöne Hängepartie derBundesregierung, bis der Gesetzentwurf zur Umsetzungdes Seearbeitsübereinkommens fertig war. Das Seearbeits-übereinkommen war 2006 von der Internationalen Ar-beitsorganisation, ILO, beschlossen worden. In der Gro-ßen Koalition hatten wir noch intensiv an derUmsetzung gearbeitet, doch seit 2009 wurde das allesschleifen gelassen. In Antworten auf schriftliche Fragender SPD-Fraktion und im Ausschuss wurden von derBundesregierung immer wieder verschiedene Daten ge-nannt, zu denen ein Gesetzentwurf vorgelegt werdensollte. Und jedes Mal verstrichen diese Daten, ohne dassetwas geschah. Deswegen möchte ich zunächst der Bun-desregierung gratulieren, dass es nach viel zu langerZeit nun endlich geglückt ist, einen Gesetzentwurf vor-zulegen, und es damit endlich einen Schritt vorwärtsgehtauf dem Weg zu guten und fairen Arbeitsbedingungenauf See.Leider stimmt aber der Spruch „Was lange währt,wird endlich gut“ nicht immer. So ist das auch hier, undder Teufel steckt im Detail. Der Bundesrat hat bereits ei-nige wichtige Anmerkungen vorgebracht, so beispiels-weise bei der Anerkennung von Ausbildungsberufen inder Seeschifffahrt. Hier war es bisher so, dass die Län-der einbezogen werden – und dabei muss es auch blei-ben, auch wenn der Gesetzentwurf der Bundesregierungzunächst anderes vorsah. Wir haben an der Küste vielegute Ausbildungsstandorte für Seeleute. Diese gute Aus-bildung müssen wir auch in Zukunft gewährleisten.Die Verfassung der ILO besagt, dass es durch dieUmsetzung von Übereinkommen nicht zu einer Schlech-terstellung im Vergleich zu den davor geltenden Rege-lungen kommen darf. Wir dürfen also keine der Regelun-gen, die bisher bestehen, verwässern. Doch auch hiersehe ich im Gesetzentwurf der Bundesregierung Pro-bleme.Zum einen, und auch dies kritisiert der Bundesrat,werden die hafenärztlichen Dienste abgeschafft. Wirdürfen aber die Gesundheitsämter bei der Kontrolle derArbeits- und Gesundheitsbedingungen nicht außen vorlassen, denn hier wird gute Arbeit geleistet. Hier hatsich ein Modell bewährt, das wir nicht abändern sollten.Auch in Zukunft sollen die Gesundheitsämter hier über-wachen. Alles andere wäre eine Schlechterstellung derSeeleute.Die Gefahr einer Schlechterstellung sehe ich zum an-deren in der Formulierung zu Höchstarbeitszeiten undMindestruhezeiten. Wir haben derzeit eine Regelung imSeemannsgesetz, die im Großen und Ganzen gut funk-tioniert. Nach Art. 19 der Verfassung der Internationa-len Arbeitsorganisation, dem Schlechterstellungsverbot,müssen wir uns auch hier daran orientieren, was bisherin Deutschland gilt. Die nun vom BMAS vorgesehenenRegelungen sind jedoch eine Schlechterstellung im Ver-gleich zu den bisher geltenden Höchstarbeitszeiten. Mirist absolut bewusst, dass es in der Schifffahrt immer wie-der Extremsituationen geben kann, in denen eine langeArbeitszeit der Besatzungsmitglieder notwendig ist. Wirbrauchen aber klare Regeln, die besagen, dass über-lange Arbeitszeiten nicht die Regel sind. Bislang habendie Tarifvertragspartner hierzu Regelungen mit Augen-maß getroffen – Regelungen, die für Seeleute und Reedergleichermaßen praktikabel waren. Hier dürfen wir ers-tens nicht die Seeleute schlechterstellen, wenn die Bun-desregierung einfach die Höchstarbeitszeit im Vergleichzum bisherigen Seemannsgesetz verlängert. Und zweitensdürfen wir nicht zulassen, dass ein funktionierendes Sys-tem der Tarifvertragspartner zerstört wird, indem dieBundesregierung hier ohne Not gesetzlich regulieren will.Die Anerkennung der Ausbildungen, die Rolle derGesundheitsämter und die Regelung von Höchstarbeits-zeiten sind nur drei Beispiele, anhand derer ich hier zei-gen will, dass der Entwurf zum Seearbeitsgesetz nochnicht der Weisheit letzter Schluss ist. Wir müssen im Ge-setzgebungsprozess noch an entscheidenden Stellennachbessern, und hier möchte ich meine Kolleginnenund Kollegen von Union und FDP auffordern, sich denSachargumenten nicht zu verschließen und noch mal ge-nau nachzuprüfen, damit das Schlechterstellungsverbotaus der ILO-Verfassung respektiert wird. Lassen Sie unsbei den Beratungen im Ausschuss gemeinsam handeln,um faire Arbeitsbedingungen auf See zu schaffen.Bei aller Kritik an der deutschen Umsetzung des See-arbeitsübereinkommens – zu spät und kritisch an denangesprochenen Punkten – möchte ich betonen, dass dasSeearbeitsübereinkommen ein großartiges Beispiel da-für ist, wie die internationale Arbeitsmarkt- und Sozial-politik funktionieren kann – und funktionieren muss.Beim Seearbeitsübereinkommen werden weltweit gültigeStandards gesetzt, die viel Missbrauch, der insbesondereauf ausgeflaggten Schiffen stattfindet, verhindern wer-den. Das ILO-Übereinkommen steht für weltweit guteArbeitsbedingungen, die auch weltweit kontrolliert wer-den. Denn auf See kann kein Staat alleine garantieren,dass faire Arbeitsbedingungen gewährleistet sind. Hierbrauchen wir die internationale Kooperation.Das Seearbeitsübereinkommen ist nicht das einzigeILO-Übereinkommen, das in Deutschland so lange liegt,bevor etwas geschieht. Ich habe Sorge, dass dieschwarz-gelbe Bundesregierung auch beim im letztenJahr geschlossenen Übereinkommen 189 zu den Rechtenvon Hausangestellten die Umsetzung auf die lange Bankschiebt. Es ist niemandem damit geholfen, wenn auf in-ternationaler Ebene gute und wegweisende Überein-kommen geschlossen und diese von allen gelobt wer-den – beim Übereinkommen zu Hausangestellten nichtZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24009
Josip Juratovic
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zuletzt von der Kanzlerin, als sie im vergangenen Jahrbei der ILO-Arbeitskonferenz sprach. Was zählt, sindaber nicht die Worte, sondern die Taten. Deswegen for-dere ich, dass das ILO-Übereinkommen zu Hausange-stellten nicht erst mal in die Schublade gelegt wird, son-dern dass hier schnell ein klarer Plan zur Ratifizierungvorgelegt wird.Die Arbeit der ILO kann nur funktionieren, wenn dieMitgliedstaaten nach dem Beschluss der Übereinkom-men zu Hause ihre Hausaufgaben erledigen. Die Ratifi-zierungen und die Umsetzung der Übereinkommen sinddie Hausaufgaben, die Deutschland von den jährlichenInternationalen Arbeitskonferenzen bekommt. Wir müs-sen in der Umsetzung der Hausaufgaben besser undschneller werden und mit gutem Beispiel internationalvorangehen. Denn nur so können weltweit gute Arbeits-bedingungen auch tatsächlich umgesetzt werden undbleiben nicht nur der Papiertiger ILO-Konferenzen inGenf.
Die christlich-liberale Bundesregierung schafft mitdem vorliegenden Gesetzentwurf die Voraussetzungendafür, dass die Bundesrepublik Deutschland das See-arbeitsübereinkommen, Maritime Labour Convention,MLC, der Internationalen Arbeitsorganisation, ILO, von2006 ratifizieren kann.Das Seearbeitsübereinkommen ist die erste Kodifizie-rung des Seearbeitsrechts, in der mehr als 60 beste-hende Übereinkommen und Empfehlungen der ILO ineinem Regelwerk zusammengefasst werden. Das Seear-beitsübereinkommen wird zukünftig verbindlich welt-weite Mindeststandards für die Arbeit und das Leben dermehr als 1,2 Millionen Seeleute an Bord von Kauffahr-teischiffen setzen. Damit ist es eine Art Bill of Rights derSeeschifffahrt. Konkret geht es um Beschäftigungsbedin-gungen, Unterkunft und Verpflegung, Gesundheitsschutzund soziale Sicherung. Wegen der Vorgaben des Art. 59Grundgesetz wird Deutschland zunächst das nationaleRecht ändern und erst dann das Seearbeitsübereinkom-men ratifizieren.Für die Umsetzung des Seearbeitsübereinkommensmuss eine Vielzahl von Gesetzen und Verordnungen an-gepasst und aktualisiert werden. Kern der Umsetzungs-gesetzgebung ist ein neues Seearbeitsgesetz, mit demdas alte, aus dem Jahr 1957 stammende Seemannsgesetzersetzt wird. Der Entwurf passt das Recht im Bereich derArbeits- und Lebensbedingungen der Seeleute an dieEntwicklungen der heutigen, zunehmend global aus-gerichteten modernen Seeschifffahrt an. ÜberkommeneRegelungen, insbesondere im Bereich des Urlaubs-,Kündigungs-, und Heimschaffungsrechts, werden imSeearbeitsgesetz modernisiert.Künftig wird das Seearbeitsrecht für alle Personengelten, die an Bord eines Schiffes unter deutscherFlagge tätig sind. Daneben werden das Verfahren zurFeststellung der Seediensttauglichkeit, die Berufsausbil-dung an Bord und die medizinische Ausstattung auf eineeinheitliche rechtliche Grundlage gestellt. Neu geregeltwerden die Vorgaben des Seearbeitsübereinkommensüber die Arbeitsvermittlung, die Arbeitsinspektion unddie soziale Betreuung der Seeleute.Eine weitere wichtige Neuerung ist die Regelung derflaggen- und hafenstaatlichen Kontrollen zur Durchset-zung der Anforderungen des Seearbeitsübereinkommens– Arbeitsinspektion. Das bestehende System der flag-gen- und hafenstaatlichen Kontrollen – Schiffssicher-heit, Umweltschutz – wird auf die Überprüfung derArbeits- und Lebensbedingungen der Besatzungsmit-glieder erstreckt. Dabei werden Schiffe unter deutscherFlagge, ebenso Schiffe unter fremder Flagge, die deut-sche Häfen anlaufen, überprüft. Auch Schiffe aus Nicht-vertragsstaaten, die das Seearbeitsübereinkommen nichtratifiziert haben, müssen dessen Mindeststandards be-achten; sogenannte Nichtbegünstigungsklausel. Siewerden künftig in den Häfen ratifizierender Staaten kon-trolliert werden können – auch wenn sie unter derFlagge eines Landes fahren, das das Übereinkommennicht ratifiziert hat. Bei Hafenstaatkontrollen werden siekeine günstigere Behandlung erfahren als Schiffe ausVertragsstaaten. Damit stärken wir die Wettbewerbsfä-higkeit der Reeder, die Schiffe unter deutscher Flaggebetreiben.Die Novellierung des Seearbeitsrechts nutzt diechristlich-liberale Bundesregierung auch dazu, über-holte Regelungen zu streichen. So wird es das im bishe-rigen Seearbeitsrecht vorgesehene Musterungsverfah-ren künftig nicht mehr geben. Das baut Bürokratie abund entlastet alle Beteiligten finanziell um bis zu 2 Mil-lionen Euro.Für die Arbeits- und Lebensbedingungen der See-leute ist die Ratifikation des Seearbeitsübereinkommensvon entscheidender Bedeutung. Die Verbesserungenkönnen dazu beitragen, die Attraktivität seemännischerBerufe zu steigern. Für die deutschen Reeder ist dieRatifikation von erheblicher wirtschaftlicher Bedeu-tung. Sie schafft die Garantie, dass im Bereich derArbeits- und Lebensbedingungen an Bord von Kauffahr-teischiffen ein weltweit fairer Wettbewerb besteht. DieReeder aus anderen Staaten müssen die gleichen Anfor-derungen des Seearbeitsübereinkommens erfüllen. Da-raus folgen faire, einheitliche Wettbewerbsbedingungenfür alle Reeder.Im Rahmen der Umsetzungsgesetzgebung muss – wiebereits erwähnt – eine Vielzahl von Gesetzen und Ver-ordnungen angepasst und aktualisiert werden. In diesemZusammenhang mussten viele Detailfragen geklärt wer-den. Dazu sind auch die Sozialpartner in der Seeschiff-fahrt in die Diskussion eingebunden worden. Dass wirheute mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung dasVerfahren zur Ratifikation des Seearbeitsübereinkom-mens einleiten, halte ich in Anbetracht des umfassendenRegelungsgegenstandes und der Reichweite des Abkom-mens für einen beachtlichen Erfolg. Das ist auch einErfolg des guten sozialen Dialogs in der Branche.Deutschland stärkt mit der Umsetzung des See-arbeitsübereinkommens die Arbeits- und Sozialrechteder Seeleute und schafft die Voraussetzungen für einenfairen Welthandel. Ich gehe insgesamt davon aus, dassZu Protokoll gegebene Reden
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Dr. Heinrich L. Kolb
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wir hier eine hohe Akzeptanz im Interesse der betroffe-nen Seeleute und Reeder erreichen werden.
1,2 Millionen Seeleute stehen weltweit unter demDruck globalisierter Transportbedingungen und arbei-ten unter zum Teil katastrophalen Arbeitsbedingungen,mangelnder sozialer Absicherung und Niedriglöhnen.Viele Reeder fahren unter Billigflagge und halten sichnicht an den Tarifvertrag der Internationalen Transport-arbeiter-Föderation ITF. Sie zahlen ihnen mitunterkaum mehr als 500 US-Dollar pro Monat.Nach jahrelangen Verhandlungen war es der Inter-nationalen Arbeitsorganisation, ILO, gelungen, im Fe-bruar 2006 einstimmig ein weltweit gültiges einheit-liches Seearbeitsübereinkommen zu verabschieden. Dochleider konnte dieses Abkommen bis heute nicht in Krafttreten. Deutschland und andere Länder haben die Rati-fizierung verschleppt.Steckt Vorsatz dahinter? Deutsche Reeder verfügenüber eine der größten Handelsflotten der Welt. Aber nurauf jedem zehnten Schiff gelten auch die deutschenRechtsvorschriften, denn nur 366 Handelsschiffe fahrenunter deutscher Flagge. Die meisten Reeder umgehendie Vorschriften, indem sie unter einer Billigflagge fah-ren. Nach eigenen Angaben sparen sie pro Schiff zwi-schen einer Viertelmillion und einer halben MillionEuro.Doch diese Blockadehaltung war nicht mehr auf-rechtzuerhalten. Am 20. August diesen Jahres hatten33 Schifffahrtsnationen das Abkommen ratifiziert, diezusammen über fast 60 Prozent der Tonnage der Welt-handelsflotte verfügen. Damit kann das Abkommen nunauch ohne Zustimmung Deutschlands im nächsten Jahrin Kraft treten und würde auch gegen den erklärten Wil-len der Regierung bei uns gelten.Nachdem nun selbst die Reeder vor den negativenAuswirkungen warnten, da deutsche Schiffe zukünftigwesentlich intensiver in den Häfen kontrolliert würdenals Schiffe von Staaten, die das Abkommen freiwillig um-gesetzt haben, blieb der Koalition nichts anderes übrig,als ein eigenes Seearbeitsübereinkommen vorzulegen.Doch leider planen Sie, wichtige Details immer nochsehr zulasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerumzusetzen, und fallen dabei zum Teil sogar hinter denStand bereits existierender Regelungen zurück. Insbe-sondere ergibt sich eine Schlechterstellung bezüglichder §§ 3, 4 und 48 in Art. 1 des Gesetzentwurfs zur Um-setzung des Seearbeitsübereinkommens 2006 der ILO.Wir erwarten, dass dies unverzüglich geändert wird.Wichtig ist, dass der Reeder auch weiterhin als Bürgefür die Seeleute bestehen bleibt und die Einhaltung derGesetze gewährleisten muss, selbst wenn er Teile seinerAufgaben auf Dritte überträgt. Dies ist deshalb so indem internationalen Abkommen vereinbart worden, weiles in der Schifffahrt immer wieder vorkommt, dass bei-spielsweise Seeleute von Bemannungsagenturen, BA, imAuftrag des Reeders an Bord geschickt werden, dasSchiff von A nach B bringen und anschließend von denenkein Geld bekommen. In solch einem Fall haben die See-leute dann das Recht, sich wegen der Heuerzahlung di-rekt an den Reeder zu wenden. Es gibt in der Schifffahrteben auch Reeder, die sich um die Heuerzahlung an dieBesatzung drücken. In einem solchen Fall haben dieSeeleute international das Recht, in einem ausländischenHafen sogenannte Schiffsgläubigerrechte geltend zu ma-chen und notfalls das Schiff an die Kette legen zu lassen,bis die Heuerforderung erfüllt ist.Auch die Höchstarbeitszeiten und Mindestruhezeitenwurden gegenüber dem internationalen Abkommen ver-schlechtert. Da auf See ein normaler Achtstundentagnicht immer möglich ist, wurde eine maximale Höchst-arbeitszeit an zwei aufeinanderfolgenden Tagen vontäglich 14 Stunden vereinbart. Wenn selbst dies in einerExtremsituation nicht ausreicht, können die Tarifver-tragsparteien nach der Norm A 2.3 Abs. 13 unter Ein-haltung der Vorgaben einen Tarifvertrag zur Verlänge-rung der maximalen Höchstarbeitszeiten vereinbaren.Hier wurde das Abkommen jedoch so übersetzt, dass beiuns jetzt das Bundesministerium für Arbeit und Sozialesohne Information der Sozialpartner die Höchstarbeits-zeit nach dem Seemannsgesetz in § 48 in Art. 1 des Ge-setzentwurfs pauschal für alle Schiffe verlängernkönnte. Der neue Text in Abs. 2 bedeutet für Seeleutebeispielsweise auf einem großen Feederschiff eine Verlän-gerung der täglichen Höchstarbeitszeit von 10,3 Stun-den auf 13 Stunden bzw. eine Verlängerung der wöchent-lichen maximalen Arbeitszeit von 72 auf 91 Stunden. Daviele Rechte von Seeleuten im Rahmen des Seearbeits-übereinkommens nicht direkt im Gesetz, sondern perVerordnungen geregelt werden können, fordern wir,diese in die parlamentarische Beratung einzubeziehen.Dies gilt insbesondere für die Schiffsbesetzungsverord-nung.Die Linke fordert, dass die Regelungen zu Höchst-arbeitszeiten und Mindestruhezeiten umgehend korri-giert werden und die zulasten der Seeleute eingefügtengravierenden Abweichungen vom Abkommen behobenwerden.
Das Seearbeitsübereinkommen der InternationalenArbeitsorganisation, ILO, wurde mittlerweile von über30 Staaten ratifiziert, die zusammen mehr als 33 Prozentder Welthandelstonnage pro Jahr transportieren. Damitsind die Mindestvoraussetzungen erfüllt und das Über-einkommen kann im Sommer 2013 in Kraft treten.Es wird also Zeit, dass die Bundesregierung mit demGesetzentwurf auch in Deutschland die Bedingungenzur Ratifizierung des Seearbeitsübereinkommensschafft. Es geht schließlich darum, dass die circa1,2 Millionen Seeleute weltweit bessere Arbeits- undLebensbedingungen erhalten. Die Seeleute, die Tag fürTag den Welthandel und die stark ausdifferenzierteArbeitsteilung aufrechterhalten, bekommen endlich dieWertschätzung, die sie verdienen.Der Gesetzentwurf geht in die richtige Richtung.Aber eine Passage ist höchst problematisch. Die Bun-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24011
Beate Müller-Gemmeke
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desregierung hat ihre Hausaufgaben nur zum Teil ge-macht. Gegenüber dem Referentenentwurf wurden ei-nige Verbesserungen vorgenommen. Sie muss dennochnacharbeiten und zumindest den zentralen Kritikpunktbis zur zweiten Lesung beseitigen.Wir kritisieren insbesondere eine gravierende Ver-schlechterung zulasten der Seeleute, die die Bundes-regierung gegenüber dem ILO-Entwurf zum Seearbeits-übereinkommen vorgenommen hat. Dabei geht es um dieHaftungsfrage des Reeders, falls dieser Personal übereine Bemannungsagentur einstellt und diese Seeleutenicht oder nicht wie vereinbart bezahlt. Nach dem ILO-Entwurf ist der Reeder für alle Forderungen der See-leute uneingeschränkt haftbar. Die Bundesregierung hatdie Haftungsfrage in dem Gesetzentwurf aber erheblichverkompliziert und zulasten der Seeleute abgeschwächt.Laut dem Gesetzentwurf tritt der Reeder nur noch alsBürge auf, wenn er Personal über eine Bemannungs-agentur anstellt. Für deutsche Seeleute wird es schwerund für ausländische Seeleute dürfte es nahezu unmög-lich sein, ihre Ansprüche gegenüber dem Reeder geltendzu machen. Daher fordern wir die Bundesregierung auf,die Haftung entsprechend dem ILO-Entwurf zu regelnund § 4 Abs. 2 des Seearbeitsgesetzes ersatzlos zu strei-chen. Die Seeleute haben ein Recht auf ein einfachesund faires Verfahren, in dem der Reeder, wie es die ILOverlangt, der Durchgriffshaftung unterliegt.Über den Gesetzentwurf hinaus erwarten wir von derBundesregierung, dass sie die Ausflaggung erschwertund dafür sorgt, dass wieder mehr Schiffe eingeflaggtwerden. Derzeit hat Deutschland mit circa 3 000 Schif-fen die weltweit größte Handelsflotte. Davon fahrenaber nur 300 Schiffe unter deutscher Flagge. Die Ein-flaggung würde auch dazu beitragen, dass die Arbeits-bedingungen besser kontrolliert und damit verbessertwerden können.Es ist dringend erforderlich, dass die Lebens- undArbeitsbedingungen auf den Schiffen verbessert werden,denn die Schiffe sind aus Kostengründen die meiste Zeitauf See. Die Seeleute sind auf angemessene Unterkünfte,Freizeiteinrichtungen und medizinische Betreuung an-gewiesen. Aufgrund der erheblichen Missstände und derVerschiedenheit der Arbeitsbedingungen ist es an derZeit, dass weltweit geltende Arbeitsnormen, Beschäfti-gungsbedingungen und Mindestanforderungen an dieInfrastruktur an Bord geschaffen und wirkungsvolldurchgesetzt werden. Deshalb sollte die Bundesregie-rung mit dem Gesetzentwurf nicht die Reeder schonen,sondern die Belange der Beschäftigten in den Mittel-punkt stellen.D
Ich freue mich, dass hier heute die erste Lesung desneuen Seearbeitsgesetzes und begleitender Gesetzesän-derungen ansteht. Bereits der Titel des Gesamtvorha-bens macht deutlich, dass unser Gesetzentwurf Teil einesumfassenden Prozesses ist. Umgesetzt werden soll dasSeearbeitsübereinkommen 2006 der InternationalenArbeitsorganisation, ILO. Das Seearbeitsübereinkom-men ist im Februar 2006 von den Vertretern der in derInternationalen Arbeitsorganisation versammelten Staa-ten ohne Gegenstimme verabschiedet worden. Nachdemdie dafür erforderlichen Ratifikationen jetzt vorliegen,wird das Seearbeitsübereinkommen am 20. August 2013in Kraft treten.Das Übereinkommen konsolidiert und aktualisiertdas internationale Seearbeitsrecht. Regelungen aus35 Übereinkommen und 30 Empfehlungen der ILO wer-den in eine einheitliche Urkunde überführt. Umfassendwerden alle Aspekte der Arbeit und des Lebens an Bordvon Handelsschiffen geregelt. Die Anforderungen bezie-hen sich auf die Begründung der Beschäftigungsverhält-nisse, ein Mindestmaß an arbeitsrechtlichem und sozia-lem Schutz und auf die Durchsetzung dieser Standards.Abgebildet ist die ganze Breite des Arbeitens an Bordvon Seeschiffen. Vorsorge wird getroffen hinsichtlich derArbeitssicherheit, für eine ausreichende und angemes-sene Unterkunft und Verpflegung, aber auch für einegute medizinische Versorgung und soziale Absicherung.Ich will einzelne Punkte hervorheben. Eine Neuerungist der verpflichtend vorgegebene Abschluss eines aus-führlichen schriftlichen Heuervertrags. Die detailliertenAnforderungen an den Vertragsinhalt stellen sicher, dassdas Besatzungsmitglied jederzeit seine wesentlichenRechte und Pflichten nachlesen kann. Ein Vertragsent-wurf muss dem Besatzungsmitglied rechtzeitig vorVertragsschluss übermittelt werden. So werden für dasBesatzungsmitglied verbesserte Prüf- und Beratungs-möglichkeiten sichergestellt.Ein weiterer Schwerpunkt von Übereinkommen undGesetzentwurf sind die Regelungen zur Erfüllung undDurchsetzung der Mindestanforderungen zum Schutzder Seeleute. Hier sind zwei Stichworte wichtig: Flag-genstaatkontrolle und Hafenstaatkontrolle. Sie wissen,Handelsschiffe führen die Flagge eines bestimmtenStaates. Dieser Staat ist völkerrechtlich für schiffsrecht-liche Regelungen einschließlich arbeitsrechtlicherRegelungen verantwortlich. Das Seearbeitsübereinkom-men gestaltet diese Regelungspflicht inhaltlich aus. Zu-gleich verpflichtet es den Flaggenstaat dazu, dieRegelung effektiv auf den Schiffen unter seiner Flaggedurchzusetzen. Hierzu wird der moderne Weg einer Zer-tifizierung beschritten. Ergebnis der Flaggenstaatkon-trolle ist, dass für das Schiff ein Seearbeitszeugniseinschließlich einer Seearbeitskonformitätserklärungausgestellt wird. Diese Dokumente sind eine Aufstellungder nach dem jeweils einschlägigen nationalen Recht andie Lebens- und Arbeitsbedingungen auf dem Schiff zustellenden Anforderungen und der vom Reeder zu ihrerErfüllung getroffenen Maßnahmen. Bestätigt wird, dassdas Schiff den arbeitsrechtlichen Anforderungen genügt.Die Dokumente werden aktuell gehalten, indem inbestimmten Intervallen Überprüfungen und nach fünfJahren eine Neuausstellung vorgegeben werden. DerGesetzentwurf überträgt diese Aufgaben für Schiffe un-ter deutscher Flagge der Berufsgenossenschaft fürTransport und Verkehrswirtschaft, die bereits eineDienststelle Schiffssicherheit unterhält.Zu Protokoll gegebene Reden
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24012 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe
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Seearbeitszeugnis und Seearbeitskonformitätserklä-rung spielen eine wichtige Rolle für den zweiten Pfeilerder Durchsetzung des Seearbeitsübereinkommens, dieHafenstaatkontrolle. Das Seearbeitsübereinkommenverpflichtet die Vertragsstaaten dazu, ausländischeSchiffe in ihren Häfen auf die Einhaltung der Mindest-standards aus dem Übereinkommen zu überprüfen.Dabei gilt die Kontrollpflicht gleichermaßen gegenüberSchiffen von Staaten, die dem Seearbeitsübereinkommenbeigetreten sind, wie gegenüber Schiffen von Staaten, diedies nicht getan haben. Bei den Kontrollen in ausländi-schen Häfen können Schiffe auf die von ihren nationalenBehörden ausgestellten Seearbeitspapiere verweisen.Die Dokumente erbringen dort einen Anscheinsbeweisdafür, dass die Anforderungen aus dem Seearbeitsüber-einkommen erfüllt sind. Hier wird deutlich, welche Be-deutung die mit dem vorliegenden Gesetzentwurf fürSchiffe unter deutscher Flagge eingeführte Möglichkeithat, das Seearbeitszeugnis ausgestellt zu erhalten.Schiffe unter deutscher Flagge werden dadurch gut undsicher durch Kontrollen in ausländischen Häfen kom-men. Kostspielige Verzögerungen bei der Kontrolle, Ver-längerungen der Hafenliegezeit oder sogar eine Fest-haltung seitens des Hafenstaates werden vermieden.Meine Ausführungen habe ich bisher auf die das See-arbeitsübereinkommen der Internationalen Arbeitsorga-nisation bedingten Neuerungen konzentriert. Darüberwill ich einen zweiten Schwerpunkt des Gesetzes nichtunerwähnt lassen. Dieses Gesetz modernisiert grundle-gend das deutsche Seearbeitsrecht und bereitet es aufdie Anforderungen der kommenden Jahrzehnte vor. Bis-her ist die Materie im Wesentlichen durch das See-mannsgesetz aus dem Jahr 1957 geregelt. Seitdem ha-ben sich aber die Verhältnisse verändert. DieHandelsschifffahrt ist sehr viel internationaler gewor-den. Der Anteil an ausländischen Seeleuten aus Unions-ländern, aber auch aus Drittstaaten, ist stark angestie-gen. Es ist deshalb nicht mehr zeitgemäß und entsprichtnicht den Bestimmungen des Übereinkommens, wennetwa bei der Erkrankung eines Besatzungsmitglieds dieZahlung des sogenannten Reederkrankengeldes nurdann vorgeschrieben ist, wenn das Besatzungsmitgliedin Deutschland seinen Wohnsitz hat. Der zunehmendinternationalen Zusammensetzung der Besatzung wider-spricht es auch, wenn bei der Gewährung von „Heimat-urlaub“ als Urlaubsort ausschließlich auf den Gel-tungsbereich des Grundgesetzes abgestellt wird.Bedeutende Modernisierungen sollen auch in ande-ren Bereichen geschaffen werden. So fehlt es bisher beider Berufsausbildung an Bord von Seeschiffen an einerklaren, einheitlichen und den praktischen Erfordernis-sen entsprechenden gesetzlichen Grundlage. Die Praxisbehilft sich hier mit einer Teilregelung in der Schiffs-mechaniker-Ausbildungsverordnung und einer analogenAnwendung von Vorschriften des Berufsbildungsgeset-zes. Mit dem Gesetz wird nun erstmals die Berufsausbil-dung für einen Beruf an Bord von Seeschiffen auf eineumfassende und angepasste gesetzliche Grundlage ge-stellt.Schließlich trägt das Gesetz zur Entbürokratisierungbei. Beispielsweise wird das Musterungsverfahren auf-gegeben, das bisher vor der Einstellung von Besatzungs-mitgliedern die Beteiligung der Seemannsämter er-fordert. Auch Seefahrtsbücher, wie sie bisher denBesatzungsmitgliedern von den Seemannsämtern ausge-stellt werden, müssen nicht mehr geführt werden. Wirt-schaftlich ist dies keine Kleinigkeit. Wir erwarten hierEntlastungen für die Betroffenen von circa 800 000 Euroallein an zu entrichtenden Gebühren.Ein letzter Aspekt. Mit der Energiewende einher gehtder Ausbau von Windenergieanlagen auf See. In dendeutschen Küstengewässern und der deutschen Außen-wirtschaftszone sind viele solcher Anlagen in Bau oderin Planung. Dies wird zu stark ansteigenden Beschäftig-tenzahlen in den genannten Seegebieten führen. Der Ih-nen vorliegende Gesetzentwurf leistet einen Beitrag zurrechtlichen Bewältigung dieser Entwicklung. Es wirdklargestellt, dass das Arbeitszeitgesetz auch in der deut-schen Außenwirtschaftszone gilt. Rechtsverordnungenwerden vorbereitet, durch die an die besonderenVerhältnisse der Offshoreindustrie angepasste Höchst-arbeitszeiten geregelt werden sollen.Ich hoffe, ich habe Interesse und Verständnis für die-sen wichtigen Gesetzentwurf fördern können. Schließenwill ich mit einem Ausblick auf zukünftige Entwicklun-gen. Die Bundesregierung strebt die Ratifizierung desSeearbeitsübereinkommens an. Die Vorbereitung deshierzu noch erforderlichen förmlichen Ratifikationsge-setzes steht vor dem Abschluss. Bitte wundern Sie sichalso nicht, wenn Sie bald erneut mit dem Seearbeits-übereinkommen befasst werden, dann unter demGesichtspunkt der Ratifikation. Heute geht es um dieUmsetzung der Anforderungen aus dem Seearbeitsüber-einkommen. Hier möchte ich Sie um zügige und ziel-gerichtete Beratung bitten, damit wir den dargestelltenBeitrag zu besseren Arbeits- und Lebensbedingungen anBord von Seeschiffen leisten können.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 17/10959 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Ich sehekeine anderweitigen Vorschläge. Dann ist die Überwei-sung so beschlossen.Tagesordnungspunkt 25 b. Wir kommen zur Abstim-mung. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-fehlung auf Drucksache 17/9614, den Antrag der Frak-tion Die Linke auf Drucksache 17/9066 abzulehnen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegendie Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Die Umsetzung der UN-Resolution 1325 mit ei-nem Rechenschaftsmechanismus fördern– Drucksachen 17/8777, 17/10904 –
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24013
Vizepräsidentin Petra Pau
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Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Egon JüttnerHeidemarie Wieczorek-ZeulDr. Rainer StinnerStefan LiebichKerstin Müller
Auch hier nehmen wir, wie in der Tagesordnung aus-gewiesen, die Reden zu Protokoll.
Die UN-Resolution 1325 wurde am 31. Oktober 2000vom UN-Sicherheitsrat einstimmig verabschiedet. DieCDU/CSU-Fraktion steht genauso wie die Bundesregie-rung voll hinter dieser Resolution. In ihr wird die gleich-berechtigte Einbindung von Frauen in politische Pro-zesse und Institutionen, bei der Planung, bei derpersonellen Ausgestaltung von Friedensmissionen undbei der Verhandlung von Friedensabkommen gefordert.Es war Zeit, diese Resolution zu verabschieden und derRolle von Frauen in Konfliktsituationen Rechnung zutragen. Denn Zivilpersonen, und hier insbesondereFrauen und Kinder, stellen die weitaus größte Mehrheitder von bewaffneten Konflikten betroffenen Personendar. Die dramatischen Bilder aus Syrien zeigen dies ge-rade auch in jüngster Zeit wieder deutlich: Frauen undKinder machen nicht nur den Hauptanteil an Flüchtlin-gen und Binnenvertriebenen aus, sie werden auch in zu-nehmendem Maße von Kriegsparteien oder terroristi-schen Akteuren gezielt angegriffen. So galten bis 2010circa 27,5 Millionen Menschen als binnenvertrieben.Als Opfer von Verfolgung und Krieg haben sie meist we-der rechtlichen noch physischen Schutz. Der für sie zu-ständige Staat gewährleistet ihnen oft keinen Schutz. Siemüssen ihre Häuser verlassen und sind häufig Men-schenrechtsverletzungen ausgesetzt, bevor sie ihrenWohnort verlassen oder verlassen müssen. Und alsFlüchtlinge haben viele aus Furcht vor Verfolgung im ei-genen Land ihre Heimat verlassen, weil sie einer be-stimmten Ethnie angehören, eine andere Religion als dieMehrheit ausüben oder eine andere politische Überzeu-gung vertreten. Teilweise werden sie verfolgt, misshan-delt oder gefoltert. Und gerade Frauen und Mädchensind verstärkt Opfer von Vergewaltigung. Den Schutz ih-res Landes können sie nicht in Anspruch nehmen undverlassen es deshalb.Während auf der einen Seite Frauen von Kriegen,Bürgerkriegen und sonstigen bewaffneten Auseinander-setzungen überdurchschnittlich stark betroffen sind,wird ihre Rolle bei der Verhütung und Beilegung vonKonflikten und bei der Friedenskonsolidierung nichtausreichend gewürdigt. Es ist auch nicht sichergestellt,dass Frauen an allen Anstrengungen zur Wahrung undFörderung von Frieden und Sicherheit gleichberechtigtund in vollem Umfang teilhaben. Die Resolution 1325vom Oktober 2000 führt nun aber dazu, dass die Rollevon Frauen an den Entscheidungen im Hinblick auf dieVerhütung und Beilegung von Konflikten ausgebautwird. Sie garantiert, dass in allen Bereichen von Frie-denssicherungseinsätzen eine Geschlechterperspektiveintegriert wird. Die Resolution regt an, die Zahl derFrauen in Entscheidungsfunktionen, bei Feldmissionender Vereinten Nationen, bei den Militärbeobachtern, derZivilpolizei sowie beim Menschenrechtspersonal undbeim humanitären Personal auszuweiten. Sie empfiehlt,das gesamte Friedenssicherungspersonal im Hinblickauf den Schutz, die besonderen Bedürfnisse und dieMenschenrechte von Frauen und Kindern in Konflikt-situationen speziell auszubilden und das Datenmaterialzu den Auswirkungen bewaffneter Konflikte auf Frauenund Mädchen zu konsolidieren. Dies sind wichtige undrichtige Schritte, die die volle Unterstützung der Bun-desregierung und der CDU/CSU-Fraktion haben.Wir begrüßen es ausdrücklich, dass die Resolutionnicht Halt macht bei der Rolle von Frauen und Mädchenim Konfliktfall, sondern auch dazu auffordert, deren be-sonderen Bedürfnisse bei der Normalisierung, der Wie-dereingliederung und beim Wiederaufbau nach Konflik-ten Rechnung zu tragen. Hervorzuheben ist in diesemZusammenhang insbesondere die Aufforderung, mehrFrauen zu Sonderbeauftragten und Sonderbotschafte-rinnen des Generalsekretärs der Vereinten Nationen zubenennen. Wir hoffen, dass in dieser Hinsicht möglichstviele Mitgliedstaaten dieser Aufforderung nachkommenund dem Generalsekretär geeignete Kandidatinnen vor-schlagen. Wir halten dies für einen äußerst wichtigenund wirksamen und vor allem symbolträchtigen Schritt.Ich weise in diesem Zusammenhang auf so herausra-gende Persönlichkeiten hin wie Hina Jilani, die UN-Sonderbeauftragte für Menschenrechtsverteidiger, oderdie UN-Sonderbotschafterin gegen Beschneidung, WarisDirie, die zudem seit Juli 2010 auch noch Friedensbot-schafterin der Afrikanischen Union ist.Hina Jilani, eine 1953 in Pakistan geborene Anwältinund Menschenrechtsaktivistin, gründete 1980 gemein-sam mit ihrer Schwester Asma Pakistans erste Anwalts-kanzlei für Frauenrechte und ist Mitbegründerin derKommission für Menschenrechte in Pakistan. KofiAnnan berief sie einst zur Sonderbeauftragten des Gene-ralsekretärs der Vereinten Nationen für die Lage vonMenschenrechten. Waris Dirie, ein 1965 geborenes ös-terreichisches Model somalischer Herkunft, Bestseller-autorin und Menschenrechtsaktivistin, machte sich imKampf gegen die Beschneidung von Frauen und Mäd-chen einen Namen. Sie entstammt einer Nomadenfami-lie. Als sie im Alter von 13 Jahren an einen alten Mannverheiratet werden sollte, floh sie durch die Wüste nachMogadischu. In ihrem Buch „Wüstenblume“ berichtetesie über ihre Beschneidung und löste damit ein weltwei-tes Medienecho aus.Wir unterstützen die in der Resolution 1325 gemachteAnregung, in den Mitgliedstaaten der Vereinten Natio-nen Leitlinien für die Aus- und Fortbildung sowie Mate-rial über den Schutz, die Rechte und die besonderen Be-dürfnisse von Frauen sowie über die Wichtigkeit derBeteiligung von Frauen an allen Friedenssicherungs-und Friedenskonsolidierungsmaßnahmen zur Verfügungzu stellen. Dies ist eine wichtige präventive Maßnahme,die hoffentlich dazu führt, die Sensibilität für die Situa-tion von Frauen in Konfliktsituationen, für ihre spezifi-schen Probleme und Herausforderungen zu schärfen.Man kann nur hoffen, dass sich daraus ein positiver Ne-beneffekt ergibt und die angedachten Maßnahmen eine
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24014 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Dr. Egon Jüttner
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Strahlkraft auf die gesamte Gesellschaft haben und sichdurch sie positive Auswirkungen auf den gesamtgesell-schaftlichen Umgang mit Frauen und ihre gesellschaftli-che Rolle ergeben. Die Resolution bringt mit der Forde-rung, Maßnahmen zur Gewährleistung des Schutzes undder Achtung der Menschenrechte von Frauen und Mäd-chen, insbesondere im Zusammenhang mit der Verfas-sung, dem Wahlsystem, der Polizei und der rechtspre-chenden Gewalt des jeweils betroffenen Landes zuergreifen, eine Kernforderung deutscher Außen- undMenschenrechtspolitik zum Ausdruck, die ausdrücklichdie Unterstützung der CDU/CSU-Fraktion findet.Ich kann mir gut vorstellen, dass viele Menschen, diesich mit dem Thema Frauen in Konfliktsituationen be-schäftigen, die Wirksamkeit der in der Resolution 1325angeregten Maßnahmen möglicherweise mit einer gewis-sen Skepsis betrachten und bezweifeln, dass in den Kon-fliktherden dieser Welt auf die Stimme von Frauen gehörtund auf ihre Rechte eingegangen wird. Vor dieser Einstel-lung kann ich nur warnen. Ich teile sie nicht, denn sie ent-spricht meines Erachtens nicht den Realitäten. In einerReihe von Ländern, in denen es große soziale Spannun-gen, ethnische Konflikte oder kriegerische Auseinander-setzungen gegeben hat oder noch gibt, konnten Frauenbeachtlichen Einfluss erlangen und haben es sogar an dieSpitze von Staat und Regierung geschafft. Ich denke hieran Indira Gandhi in Indien, an die Friedensnobelpreis-trägerin Ellen Johnson-Sirleaf in Liberia, an BenazirBhutto in Pakistan oder an Chandrika Kumaratunga inSri Lanka, um nur einige Beispiele zu nennen. IndiraGandhi ist ein Beweis für die Fähigkeit von Frauen zurpolitischen Gestaltung. Ellen Johnson-Sirleaf, die ersteweibliche Präsidentin Afrikas, regiert das vom Bürger-krieg ruinierte Liberia. Sie erhielt den Friedensnobel-preis. Mit Benazir Buttho stand zum ersten Mal eineFrau an der Spitze eines modernen islamischen Staates.Chandrika Kumaratunga, von 1994 bis 2005 Präsiden-tin Sri Lankas, schlug während ihrer Regierungszeiteinen verbindlichen Kurs ein gegenüber den Separatis-ten, um den Bürgerkrieg im Land zu beenden.Sicherlich teilt nicht jeder die Positionen dieser oderanderer Frauen an der Spitze von Staat, Regierung oderinternationaler Organisation, aber allein die Tatsache,dass eine Frau in diesen häufig männlich geprägten Ge-sellschaften mit am Verhandlungstisch sitzt, ist ein Fort-schritt und sollte anderen Frauen Mut machen, sich zuengagieren und einzumischen.Deutschland hat von Beginn an zu den Unterstützernder Resolution 1325 gehört. Ausdruck unseres Bekennt-nisses zu deren Inhalten ist Deutschlands Teilnahme ander auf VN-Ebene von Kanada im Jahre 2001 initiierten„Freundesgruppe der Resolution 1325“. Die nationaleUmsetzung erfolgt durch die jeweils beteiligten Res-sorts, in deren Zusammenhang die Ressortarbeitsgruppe„1325“ eingerichtet wurde. Seit 2004 berichtet die Bun-desregierung dem Bundestag über die Umsetzung derResolution 1325. Die Europäische Union wendet die Re-solution im Rahmen der Europäischen Sicherheits- undVerteidigungspolitik an.Die Frage ist nun, ob es darüber hinaus noch einesweiteren nationalen Aktionsplans bedarf, der die Umset-zung der Resolution garantiert. In ihrem Antrag fordertdie SPD einen Evaluations- und Rechenschaftsmecha-nismus, wie es ihn in der Resolution 1612 zu Kindern inbewaffneten Konflikten gibt. Bei der Rekrutierung vonKindersoldaten, deren gezielter Tötung, Verstümmelung,Vergewaltigung, Entführung und der Verneinung huma-nitären Zugangs sowie bei Angriffen auf Schulen undKrankenhäuser handelt es sich um die Verletzung vonhumanitärem Völkerrecht. Entsprechend kann dies auchmit Sanktionen belegt werden. Die Resolution 1325 be-handelt aber, grob dargestellt, vier Aspekte: Präventionvon Gewalt, angemessene Reaktion auf Gewalt, Ent-schädigung und Partizipation von Frauen in allen Pha-sen von Friedensprozessen.Geahndet werden kann jedoch nur die Partizipationvon Frauen in allen Phasen von Friedensprozessen. Einnationaler Aktionsplan ist nach unserer Auffassung je-doch nicht erforderlich. Für Frauen nämlich gibt esschon einen der Resolution 1612 vergleichbaren Mecha-nismus, und zwar in Form der im Jahre 2000 verab-schiedeten Resolution 1960 bei sexueller Gewalt gegenFrauen. Ein nationaler Aktionsplan würde somit gegen-über dem bestehenden deutschen Engagement für dieUmsetzung der Resolution 1325 keinen entscheidendenMehrwert bedeuten.Aus diesem Grund stimmen wir dem Antrag nicht zu.
Mit der Verabschiedung der Resolution 1325„Frauen, Frieden und Sicherheit“ und der Folgeresolu-tionen 1820, 1888 und 1889 trägt der Sicherheitsrat demTatbestand Rechnung, dass Frauen und Kinder in krie-gerischen Konflikten systematisch Opfer von Gewaltwerden, Frauen aber auch eine besondere Rolle als Ak-teurinnen in der Friedenspolitik einnehmen. In der Re-solution wird dazu aufgefordert, dass Kriegsparteien dieRechte von Frauen schützen, Frauen bei der Verwirkli-chung von Frieden und Sicherheit auf allen Ebenen ver-stärkt einbezogen und eine Gender-Perspektive veran-kert wird.Mehr als zehn Jahre nach Verabschiedung der Reso-lution 1325 sind die Fakten immer noch ernüchternd:30 Prozent des internationalen Personals in Peace-keeping-Missionen sind weiblich, davon aber nur1,9 Prozent des militärischen Personals und 7,3 Prozentder Polizeikräfte. Blickt man auf die Führungsebene,finden sich noch weniger Frauen und auch ihre welt-weite Beteiligung an Friedensverhandlungen ist mit4 Prozent vernichtend gering. Daher greifen wir alsSPD-Bundestagsfraktion mit dem vorliegenden Antragden Vorschlag von UN-Generalsekretär Ban Ki-moonaus dem Jahre 2009 auf, einen Evaluations- und Re-chenschaftsmechanismus für die Resolution 1325 einzu-richten. Die Motivation für einen solchen Mechanismusresultiert aus den Erfahrungen mit der Resolution 1612zu Kindern in bewaffneten Konflikten. Mittels eines„Monitoring and Reporting“-Mechanismus werden sys-tematisch verlässliche Informationen zu Kindern in be-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24015
Heidemarie Wieczorek-Zeul
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waffneten Konflikten gesammelt. Verletzungshandlun-gen wie die Rekrutierung und der Einsatz von Kindernals Soldaten werden dabei besonders berücksichtigt.Durch das systematische Sammeln, Vergleichen und Pu-blikmachen von Informationen kann Transparenz herge-stellt und der Druck auf Nationalstaaten erhöht werden,die Resolution des Sicherheitsrats entsprechend umzu-setzen. Besonders wirksam hat sich dabei das Instru-ment des „Naming and Shaming“ in den Berichten desGeneralsekretärs erwiesen: Es werden jene Staaten inden Berichten aufgelistet, die die Resolution 1612 nichtadäquat umsetzen. Im Jahr 2010 befanden sich 57 Grup-pierungen in 22 Ländern auf einer solchen Liste derSchande. In letzter Konsequenz kann der SicherheitsratSanktionen gegen einen Staat beschließen.Wir sind überzeugt, dass die Einführung eines Eva-luations- und Rechenschaftsmechanismus vergleichbardem der Resolution 1612 zu Kindern in bewaffnetenKonflikten, der Resolution 1325 zu Frauen, Frieden undSicherheit ein besseres Umsetzungsergebnis verschaffenwürde. Ban Ki-moon hatte bereits 2005 gefordert, dassStaaten nationale Aktionspläne zur Umsetzung der Re-solution 1325 vorlegen sollen. Jedoch sind bislang vonden 25 Ländern, die die Resolution ratifiziert haben, nur15 dieser Aufforderung nachgekommen. Auch die Bun-desregierung hat bislang nichts unternommen, einensolchen Aktionsplan vorzulegen. Das ist besonders bit-ter, wenn man bedenkt, dass sie seit Anfang 2011 alsnichtständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat vertretenist und so ihren Einfluss geltend machen könnte. Sie darfsich da auch nicht hinter der EU verstecken, indem siesich darauf beruft, dass dort die Defizite bei der Umset-zung der Resolution ursächlich zu suchen sind. Viel-leicht ist es Ihnen entfallen, aber auch die EU hatte dieMitgliedstaaten dazu aufgefordert, Aktionspläne vorzu-legen.Nach der ersten Beratung unseres Antrages im Deut-schen Bundestag hatten wir uns darum bemüht, mit denParteien der Regierungskoalition einen gemeinsamenAntrag zu formulieren. Danach entstand auch der Ein-druck, dass es keine generellen Vorbehalte gegen einensolchen Mechanismus gibt. Wie wir feststellen mussten,scheut sich die Regierungskoalition jedoch, mehr Ver-bindlichkeit und Nachprüfbarkeit in der Frage Förde-rung und Gleichberechtigung von Frauen bei Friedens-sicherung und Wiederaufbau einzugehen. Das spiegeltin etwa auch das Regierungsgebaren im eigenen Landwider. Der Widerstand gegen eine gesetzliche Quote fürFrauen in Aufsichtsräten ist ein Hemmschuh auf demWeg zu mehr Geschlechtergerechtigkeit.Einer der Haupteinwände der CDU/CSU- und FDP-Vertreter gegen unseren Antrag ist, in Deutschland gebees keinen Handlungsbedarf in unserem Sinne. UnserEinwand dagegen ist: Ein solcher Evaluierungsmecha-nismus wäre gerade unschätzbar für die Menschen inden Ländern, in denen Frauen besonders häufig Opfervon Gewalt werden und in denen sie durch einen Be-richtsmechanismus gegenüber dem UN-Sicherheitsratsolidarischen Schutz erhalten würden. Es ist zutiefst be-dauerlich, dass die Parteien CDU/CSU und FDP diesensolidarischen Schutz verweigern.Trotz allem: Der Handlungsbedarf, die Vorgaben derResolution 1325 umzusetzen, besteht unverändert fort.Wir sollten alle gemeinsam dazu beitragen, dass die Si-tuation von Frauen in bewaffneten Konflikten, bei derHerstellung und Sicherung von Frieden und beim Wie-deraufbau verbessert wird. Besonders möchte ich daherden Nichtregierungsorganisationen danken. Sie setzensich unermüdlich für eine bessere Berücksichtigung derResolution 1325 und einen nationalen Aktionsplan ein.Ihnen gebührt unser ganz besonderer Dank. Gemeinsammit ihnen werde ich mich mit der SPD-Bundestagsfrak-tion auch weiterhin im Sinne der Resolution 1325 undder Folgeresolutionen engagieren.
„Wenn wir über die Schaffung von Frieden sprechen– was nach wie vor eine der wichtigsten Aufgaben füruns im Bereich der internationalen Sicherheit ist –, wis-sen wir, dass etwas fehlt. Und das sind Frauen.“ Diesewahren Worte stammen von Hillary Clinton. Sie hatrecht: Der internationalen Sicherheit kann man garkeine größere Bedeutung zusprechen. Die Zahl derFrauen aber, die in Friedens- oder Verhandlungs-prozesse eingebunden sind und dort eine führende Rolleübernehmen, liegt leider nicht in einem zufriedenstellen-den Bereich, noch nicht. Bei der Analyse aller Handlun-gen, die in Deutschland für die Gleichberechtigung be-reits veranlasst wurden, stellt sich dem Betrachter nichtmehr die Frage, ob Frauen in Deutschland unterstütztwerden. Die Frage, die sich stellt, ist, ob Deutschlandzusätzlich einen nationalen Aktionsplan benötigt. Einensolchen nationalen Aktionsplan erarbeitet die Bundesre-gierung bereits. Dies ist nicht zuletzt auf die stetigzunehmende Zahl von Staaten mit einem solchen Planzurückzuführen. Die Erwartungen seitens einiger unse-rer Partner werden immer nachdrücklicher. So zum Bei-spiel in der Ratsarbeitsgruppe Vereinte Nationen. Aberauch die NATO und einige NATO-Partner haben eineentsprechende Erwartung zuletzt deutlich vorgetragen.Wir beobachten zufrieden, dass sich der Umgang derStaaten mit der Resolution 1325 allmählich von allge-mein-politischer Unterstützung zu operativer Umset-zung wandelt. Selbst die USA, die wir als Skeptiker derVereinten Nationen kennen, erstellen nun einen nationa-len Aktionsplan. Diese Entscheidung ist daher für unsein Ereignis mit Referenzwert. Deutschland steht denVereinten Nationen sehr aufgeschlossen gegenüber.Daher hat die Bundesregierung nicht gezögert, nunebenfalls mit einem nationalen Aktionsplan zu beginnen.Somit ist die Kernforderung Nr. 2 des hier diskutiertenAntrags bereits erfüllt und wird dementsprechend unnö-tig. Ich persönlich bin der Meinung, dieser deutscheAktionsplan muss jetzt richtig gut werden, um zu zeigen,dass Deutschland ihn braucht. Denn in Deutschland gibtes bereits zwei Aktionspläne. Deren Wirkungen solltennicht unterschätzt werden. Noch 2007 nannte die dama-lige rot-grüne Regierung den Aktionsplan „ZivileKrisenprävention“ mit integriertem Genderansatz alsbestes Beispiel für Deutschlands Vorreiterrolle in derzivilen Konfliktprävention. Dass dieser AktionsplanZu Protokoll gegebene Reden
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24016 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Bijan Djir-Sarai
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nicht mehr reicht, seitdem Sie in der Opposition sind,empfinde ich als scheinheilig.Das Feministische Institut der Heinrich-Böll-Stif-tung, lässt mit der Kritik, die vom Auswärtigen Amtbenannten Pläne und Projekte hätten gar nichts mit derUN-Resolution 1325 zu tun, erkennen, worum es indieser Debatte tatsächlich geht. Es geht nicht darum,besonders aktiv und effektiv für die Förderung derFrauen einzutreten und diese in jeglichen Friedenspro-zessen zahlreicher in Erscheinung treten zu lassen. Esgeht einzig und allein um das Verfassen eines Plans.Wie würde ein solcher Plan überhaupt aussehen?Nach Berechnung durch die Vereinigung „Bündnis1325“ wird ein Etat von 200 Millionen Euro benötigt.Bei einer so schwerwiegenden finanziellen Belastung istes meiner Meinung nach notwendig, sich vorher zufragen, wie effektiv ein solcher Plan ist und wie gut die-ses Geld Frauen hilft. Schauen wir uns die schon beste-henden Aktionspläne an, den bosnischen Plan beispiels-weise, der vom Frauensicherheitsrat für seine Gender-Equality-Gesetze gelobt wird. Liest der Betrachter einbisschen weiter, findet er die Aufforderung des Frauen-sicherheitsrats, diese tollen Gesetze doch auch bitte um-zusetzen, was tatsächlich immer noch nicht der Fall ist.Oder ist der Aktionsplan Großbritanniens effektiver?Er besticht, so das Heinrich-Böll-Institut, durch„schwammige Formulierungen“. Weiter erklärt dasInstitut: „An einigen Stellen bleibt der Sinn der stich-wortartigen Aneinanderreihungen von Punkten verbor-gen.“ Noch viel fragwürdiger wird der Aktionsplandadurch, dass er gar keine Mechanismen zur Evaluationvorsieht. Einen solchen Aktionsplan wollen sie also er-stellen? Für 200 Millionen Euro? Oder habe ich mirvielleicht einfach die falschen Aktionspläne ange-schaut? Einige Kolleginnen und Kollegen aus der Links-partei erklärten in der letzten Wahlperiode noch, mansollte einen Aktionsplan wie in den skandinavischenLändern verfassen. Das ist insofern sehr interessant, daauch der dänische Aktionsplan bereits gründlich durch-leuchtet wurde. Nach Untersuchungen besteht der Plangrößtenteils aus Ankündigungen. Bereits bestehendeProjekte sollen weiter verfolgt werden. Kompetenzenwerden nicht verteilt, sodass gar nicht klar ist, wer denPlan wie umsetzen soll. Der schwedische Aktionsplansteht dem dänischen in keiner Weise nach. Zudem ist erzeitlich begrenzt. Auch der Punkt der Finanzierungbleibt gänzlich unerwähnt.Zusammenfassend lässt sich sagen: Der hier gestell-ten Forderung nach einem Aktionsplan geht dasAuswärtige Amt bereits nach. Ich möchte mich aber inaller Entschiedenheit dafür aussprechen, dass ein sol-cher Plan nicht – wie von der Opposition gewünscht –nur nach der Öffentlichkeitswirksamkeit gestaltet wird.Die Effektivität des Plans muss im Mittelpunkt stehen.Ich habe hier grundsätzlich das Gefühl, dass der An-tragsteller die Aktionen und Vorgehensweisen der Bun-desregierung nicht ausreichend verfolgt. Ansonstenwäre Folgendes aufgefallen: Die erste Forderung nachverstärkter Wahrnehmung der Schlüsselrolle vonFrauen in Konflikten und nach Unterstützung derVereinten Nationen bei der Umsetzung der Resolution1325 ist hinfällig. Ihr wird schon seit vielen Jahrennachgegangen. Die Bundesregierung berücksichtigt diebesondere Rolle von Frauen in Fragen der Sicherheits-politik bereits. Genauso verhält es sich mit einem natio-nalen Aktionsplan.Bezüglich der Forderung nach der Einbringung einesResolutionsentwurfs im UN-Sicherheitsrat, der einenRechenschaftsmechanismus fordern soll, erwarte ich einbisschen mehr außenpolitisches Feingefühl. So etwaswürden wir zunächst mit unseren internationalen Part-nern abstimmen. Daher lehnt die FDP den hier vorlie-genden Antrag ab.
Es ist erfreulich, dass die Bundesregierung nächsteWoche endlich den von den Oppositionsfraktionen ininsgesamt fünf Anträgen in dieser Legislatur geforder-ten nationalen Aktionsplan zur UN-Resolution 1325,präsentieren wird. Wir freuen uns, weil dieser NationaleAktionsplan längst überfällig gewesen ist. Vor zwölfJahren wurde die UN-Resolution 1325 vom Sicherheits-rat der Vereinten Nationen verabschiedet. Seitdem hatsich die Bundesregierung im Gegensatz zu vielen ande-ren europäischen und außereuropäischen Staaten vor al-lem dagegen gewehrt, den in der Resolution gefordertenAktionsplan zu verabschieden. Diesen braucht es aber,wenn man bei den zahlreichen außen- und entwicklungs-politischen Aktivitäten Deutschlands endlich für mehrGeschlechtergerechtigkeit sorgen möchte. Als ich imSommer dieses Jahres in Washington mit der Direktorinder Organisation Women In International Security,Jolynn Shoemaker, darüber sprach, war die Enttäu-schung über die deutsche Zögerlichkeit sehr groß. Aberbesser spät als nie: Die Regierung folgt nun endlich denVorschlägen der Opposition. Aber wir sind auch befrem-det, weil nun doch ganz plötzlich ein Aktionsplan ausder Taufe gehoben wird, aber so ganz anders, als sichdas die zahlreichen Institutionen der Zivilgesellschaft,die sich seit Jahren für die Umsetzung von 1325 einset-zen, fordern. Denn er wird heimlich erstellt, ohne ihreEinbeziehung, ohne ihre Expertise und Erfahrung. Undwir sind befremdet, weil wir seit Wochen im Parlamentden Haushalt diskutieren und in keinem der Einzelpläneein noch so kleines Budget für 1325 zu finden ist. Wiesoll etwas stattfinden, wenn es nicht auch auf finanzielleFüße gestellt wird?Und wir, insbesondere als Linke, sind besorgt, be-sorgt, weil wir fürchten, dass der Inhalt dieses Aktions-plans wohl eher nicht dem entspricht, was wir uns imUmgang mit der Resolution 1325 wünschen. Wir möch-ten, dass die UN-Resolution als ein völkerrechtlich legi-timiertes Instrument genutzt wird, um Frieden zu schaf-fen, um Konflikte zu vermeiden und Frauen undMädchen zu schützen. Dieses Schützen, so glauben wir,kann und darf nicht militärisch passieren.Die Resolution 1325 bietet leider das Potenzial miss-braucht zu werden für etwas, das unserem Ziel von einerfriedlicheren Welt, in der Konflikte nicht mehr durchKriege gelöst werden, entgegensteht, indem dieZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24017
Stefan Liebich
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schlechte Situation von Frauen genutzt wird, um Kriegezu legitimieren. Das haben wir jetzt schon mehrmals ge-habt, mit schrecklichem Ausgang: In wohl kaum einerRegion der Welt geht es Frauen so schlecht wie inAfghanistan, dem Land, in das die meisten Hilfsleistun-gen weltweit fließen und wo die Bundeswehr seit fastzwölf Jahren Krieg führt. Afghanistan hat gezeigt, dassdas Projekt zivil-militärischer Zusammenarbeit geschei-tert ist. Aber auch die Folgen der Austeritätsprogrammetreffen Frauen besonders. Es gibt Berichte aus Grie-chenland, dass Frauen Krankenhäuser mit 1 000 Eurobestechen müssen, um dort ihr Kind zur Welt bringen zudürfen. Umso wichtiger ist es, dass wir uns auch mit denwichtigen Frauenorganisationen, die zu 1325 arbeiten,zusammensetzen und sehen, wie ein nationaler Aktions-plan aussehen kann. Wie echtes Engagement für einZiel, das wir, glaube ich, hier im Kern ja alle teilen,mehr Geschlechtergerechtigkeit hier, in Europa, in derganzen Welt, gestaltet werden muss.Der hier vorliegende Antrag der SPD leistet zu dieserDiskussion durchaus einen Beitrag. Klar ist ein Rechen-schaftsmechanismus wichtig. Wir werden uns bei derAbstimmung aber enthalten, weil wir doch finden, dassman in einem Parlamentsantrag weitergehen muss unddass wir mit unserem gemeinsamen rot-rot-grünenAntrag zur Forderung eines nationalen Aktionsplans zu1325 auch schon mal weiter waren.Und es kann auch nicht verschwiegen werden, dasswir Oppositionsfraktionen unterschiedliche Vorstellun-gen von dem haben, wie 1325 umgesetzt werden soll.Für uns ist die Resolution kein Instrument, dafür zu sor-gen, dass mehr Frauen als Soldatinnen in Kriege ziehen.Wir wollen es stattdessen als ein Instrument, das mit dendrei P – Partizipation, Prävention und Protektion –Frieden möglich macht. Dennoch sind wir uns über dieNotwendigkeit eines nationalen Aktionsplans in derOpposition einig. Und nun endlich folgt die Regierungdem auch.Wichtiger jedoch als jeder Aktionsplan dieser Welt istpolitischer Wille. Wir erwarten von der Bundesregie-rung, dass sie jetzt endlich Frauen mit an die Tische beiFriedensverhandlungen holt und Sicherheit für Men-schen beiden Geschlechts in all den vielen Kriegs- undKrisenregionen dieser Welt schafft. Soziale Sicherheitund Sicherheit vor Krieg und Zerstörung, nur dann kannauch ein Aktionsplan für die 1325 etwas nutzen.
Malala Yousufzai hat einen hohen Preis für ihren Mutgezahlt – religiöse Fanatiker in Pakistan schossen An-fang Oktober auf die 14-Jährige auf ihrem Weg zurSchule. Offen und mutig war sie seit Jahren im konflikt-trächtigen Swat-Tal für das Recht von Mädchen aufSchulbildung eingetreten; jetzt liegt sie schwerverletztim Krankenhaus. Erneut wurde ihr durch die Taliban derTod angedroht. Ich schicke ihr von hier aus unsere Soli-darität und die besten Genesungswünsche.Malalas Schicksal ist ein Beispiel von vielen dafür,welchen Gefahren Mädchen und Frauen in Kriegs- undKonfliktgebieten ausgesetzt sind.Diese Einsicht führte im Jahr 2000 mit dazu, dass dieUN-Resolution 1325 unterzeichnet wurde, um dieSchlüsselrolle von Frauen bei gewalttätigen Konfliktenund beim Friedensaufbau zu unterstützen. Das warwichtig. Aber hat sich danach viel bewegt? Die Mit-gliedstaaten waren aufgefordert, einen Aktionsplan vor-zulegen – Rot-Rot-Grün legten 2011 einen Antrag dazuvor, der abgelehnt wurde. Dem SPD-Antrag mit demVersuch, einen Rechenschaftsmechanismus zu imple-mentieren, droht jetzt ein ähnliches Schicksal durch dieKoalition von CDU/CSU und FDP.Was meinte unser Kollege Jürgen Klimke bei der ers-ten Beratung am 10. Mai so schön? Dass doch die Kol-legen von SPD und Grünen – Zitat – „aus lauter Profi-lierungssucht in UN-Fragen wieder einmal über dasZiel hinausgeschossen“ seien! Weder sei eine Rechen-schaftspflicht durch die Staaten notwendig noch ein Ak-tionsplan, weil diese – Zitat – „bis auf das politischeZeichen keinen entscheidenden Mehrwert erzeugen“würden.Mit Verlaub, lieber Jürgen Klimke, da haben Sie sichganz schön vergaloppiert! Denn wenn ich mich nichttäusche, dann arbeitet man jetzt gerade daran, einensolchen Aktionsplan auf den Weg zu bringen. Wenn dasstimmt, dann müsste die schwarz-gelbe Koalition hierund heute ihre Zustimmung zu diesem Antrag geben undvor allem sich bei der Opposition dafür bedanken, dassdiese so hartnäckig das Thema Aktionsplan und Rechen-schaftsmechanismus für die Resolution 1325 vo-rantreibt.Wir Grünen finden es ausgesprochen wichtig, dassauf der UN-Ebene mehr für Frauen getan wird. Auchdeshalb hatten wir diese Woche im Entwicklungsaus-schuss bei den Haushaltsberatungen für UN-Women14 Millionen Euro mehr gefordert, was CDU und FDPabgelehnt haben.Die Gründe unseres Engagements für einen Aktions-plan führe ich Ihnen gerne noch mal auf – denn die un-geheuerliche Gewalt, die vor allem Frauen und Mäd-chen in Konflikten erleben, muss viel intensiver alsbisher bekämpft werden. Frauen sind konfrontiert mitAusbeutung, Unterdrückung, sexueller Kriegsgewalt bishin zu Massen- und Mehrfachvergewaltigungen, sexuel-ler Sklaverei und Zwangsprostitution.Vor diesem Hintergrund ist es unfassbar, dass Frauenin Friedensverhandlungen kaum gehört und nicht einge-bunden werden. Für Frauen gehen die Probleme imPost-Konflikt-Kontext weiter: Gewalt und Traumatisie-rungen, vermehrte häusliche und öffentliche Gewaltsind an der Tagesordnung. Schon daran merkt man, dassder Weg zum Frieden nur über die Unterstützung derFrauen und die Befriedung ihrer Situation führen kann.Sonst bleibt es bei den Ursachen, die leicht zu erneutemAusbruch von gewalttätigen Konflikten führen können.Mit der Resolution 1325 wurden zentrale Forderun-gen der Geschlechtergerechtigkeit völkerrechtlich ver-bindlich verankert. Die drei Schlagworte dafür heißen:Prävention, Partizipation, Protektion. Dies war der Auf-takt für die Verankerung von Gender-Aspekten in Frie-densprozessen. Auf der Resolution 1325 aufbauend sindweitere Resolutionen verabschiedet worden, zum Bei-Zu Protokoll gegebene Reden
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24018 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Ute Koczy
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spiel 2008 die UN-Resolution 1820 – sexuelle Gewaltals Kriegsverbrechen und Gefahr für Frieden undSicherheit – oder 2009 die UN-Resolution 1888 – Präzi-sierung bisheriger Forderungen, Sonderberichterstatterund Sanktionsmöglichkeiten – sowie die UN-Resolution1889: Rolle von Frauen in friedensstabilisierendenMaßnahmen in Post-Konflikt-Situationen aus dem Jahre2009.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der schwarz-gelben Koalition, wollen Sie weiterhin dafür sorgen,dass diese wichtige Rolle der Resolution 1325 durchdeutsche Drückebergerei vor einem Aktionsplan abge-schwächt wird?Besser wäre es, Sie stimmten heute zu und unterstütz-ten das Anliegen; denn wenn der Aktionsplan jetzt dochkäme, dann hätten Sie sich eine Verteidigung Ihrer lah-men Argumentation sparen können.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Auswärtige Aus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/10904, den Antrag der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/8777 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion ge-
gen die Stimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit
– zu der Verordnung der Bundesregierung
Verordnung zur Umsetzung der Richtlinie
über Industrieemissionen, zur Änderung der
Verordnung zur Begrenzung der Emissionen
flüchtiger organischer Verbindungen beim
Umfüllen oder Lagern von Ottokraftstoffen,
Kraftstoffgemischen oder Rohbenzin sowie
zur Änderung der Verordnung zur Begren-
zung der Kohlenwasserstoffemissionen bei der
Betankung von Kraftfahrzeugen
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dirk Becker,
Gerd Bollmann, Marco Bülow, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der SPD
Schadstoffbelastung durch Abfallmitverbren-
nung senken – Gleiche Bedingungen für Müll-
verbrennung und Abfallmitverbrennung
– Drucksachen 17/10605, 17/10707 Nr. 2.3,
17/9555, 17/11060 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Paul
Ute Vogt
Dr. Lutz Knopek
Ralph Lenkert
Dorothea Steiner
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
sicherheit hat in seiner Beschlussempfehlung den Antrag
der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/9555 mit dem
Titel „Schadstoffbelastung durch Abfallmitverbrennung
senken – Gleiche Bedingungen für Müllverbrennung
und Abfallmitverbrennung“ mit einbezogen. Über diese
Vorlage soll jetzt abschließend beraten werden. Ich sehe,
Sie sind damit einverstanden. Dann ist das so beschlos-
sen.
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Die Umsetzung der Richtlinie für Industrieemissio-
Gesetzgebungsvorhaben im Umweltrecht in dieserLegislaturperiode. Die Richtlinie 2010/75/EU stellt daszentrale europäische Regelwerk für die Zulassung undden Betrieb von Industrieanlagen und damit für die Luft-reinhaltung dar. Der Wirtschaftsstandort Deutschlandist davon in besonderer Weise betroffen, schließlichstehen von den europaweit durch die Richtlinie erfasstencirca 52 000 Anlagen rund 9 000 Anlagen in Deutsch-land. Es handelt sich zum Beispiel um Anlagen zur Ener-gieerzeugung, Stahlwerke, Anlagen zum Gießen undWalzen von Metallen, die Automobilindustrie, indus-trielle Chemieanlagen, Mineralölraffinerien und anderemehr.Im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte haben wir inDeutschland ein im internationalen Vergleich sehrhohes Umweltschutzniveau erreicht. Um dieses hoheUmweltschutzniveau sicherzustellen, haben wir ein um-fangreiches Regelungswerk, das der Zulassung und demBetrieb genehmigungsbedürftiger Anlagen zugrunde zu
diesen Regelwerken sind zum Beispiel die technischenAnforderungen an eine Anlage definiert und spezifischeEmissionsgrenzwerte vorgeschrieben. Auch wird dieDurchführung von Emissionsmessungen verlangt undwerden entsprechende Abnahmen und regelmäßigeÜberprüfungen auferlegt.Die europäische Industrieemissionsrichtlinie fußt– wie auch bereits die Vorgängerrichtlinie über die inte-grierte Vermeidung und Verminderung der Umwelt-verschmutzung, IVU-Richtlinie – auf einem Konzept,welches die Verminderung und Vermeidung von Ver-schmutzung der Luft, des Wassers und des Bodens sowiedie Erreichung einer hohen Energieeffizienz integriertbetrachtet. Die IED legt dabei neue, engere Ziele zurVerbesserung der Luftqualität und der Emissionsstan-dards auf EU-Ebene fest. Diese äußern sich insbeson-dere in strengeren Genehmigungs- und Grenzwertanfor-derungen, der Aufwertung der Merkblätter zurbestverfügbaren Technologie, BVT, sowie in erweitertenBerichts- und Überwachungspflichten für Betreiber undBehörden. Die Umsetzung der IED in nationales Rechtmuss bis 7. Januar 2013 erfolgen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24019
Dr. Michael Paul
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Sowohl aus Umweltsicht als auch aus Sicht des Wirt-schaftsstandorts Deutschland ist es positiv zu bewerten,dass die Verbindlichkeit der besten verfügbaren Technik,BVT, mittels der BVT-Merkblätter in Europa zunehmendvereinheitlicht wird. Dass dadurch europaweit ein insge-samt höherer Umweltschutzniveau gewährleistet wird,kann aus Sicht der Umwelt nur begrüßt werden. Einheit-liche Rahmenbedingungen innerhalb der EU stärkenaber auch die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen In-dustrie, da dann gleiche „Spielregeln“ für alle europäi-schen Anlagen gelten.Die Umsetzung eines Teils der IED beraten wir heute:die Zweite Verordnung zur Umsetzung der Richtlinieüber Industrieemissionen, die sich insbesondere mit denGroßfeuerungsanlagen und mit derAbfallverbrennung und -mitverbrennung
befasst. Ein anderer Teil der Umsetzung wird uns in we-nigen Tagen hier beschäftigen, dabei geht es insbeson-dere um Änderungen des BImSchG. Ein dritter Teilschließlich liegt zur Beratung und Beschlussfassungdem Bundesrat vor. Es handelt sich also um ein Rege-lungspaket, das vielfältige Auswirkungen auf dieseIndustrien hat.Dabei ist die Änderung der Großfeuerungsanlagen-verordnung im Kontext der Energiewende zu sehen.Auch wenn wir im Jahr 2020 unsere Stromversorgung zu40 Prozent aus erneuerbaren Energien decken, heißt dasim Umkehrschluss, dass 60 Prozent der Stromerzeugungdann noch immer aus konventionellen Kraftwerkenstammen. Bestehende Anlagen werden weiterbetriebenwerden. Für diese bestehenden Anlagen wie auch fürneue Anlagen gilt es, einen gesetzlichen Rahmen zuschaffen, der auf der einen Seite das hohe, nationaleUmweltschutzniveau erhält, auf der anderen Seite dieMöglichkeiten zur Erzeugung von Strom aus fossilenEnergien nicht erdrosselt.Dies ist auch die Grundlage, auf der wir die IED insdeutsche Recht umsetzen: Die Grenzwerte und Vorgabenaus der IED werden überall dort, wo sie strengere Maß-nahmen verlangen, eins zu eins in das nationale Rechtübernommen. War der erreichte Umweltstandard inDeutschland bereits höher, so wurde von diesem höherenStandard nicht abgewichen. Es gibt also keine Reduzie-rung der nationalen Umweltstandards.Allerdings gab es auch einige Punkte, an denen wei-tergehende Maßnahmen über die IED hinaus und auchüber den bisherigen nationalen Standard hinaus disku-tiert wurden. Hier sind insbesondere die Grenzwerte fürStaub und Sickstoffoxide zu nennen. Gerade bei Staubund Stickoxiden können mancherorts in Deutschland dieUmweltqualitätsnormen nicht eingehalten werden. MitBlick auf Staub gibt es in manchen Umweltzonen zu vieleTage, an denen die Grenzwerte überschritten werden,und bei den Stickoxiden können zum Teil die Immissions-jahresgrenzwerte nicht eingehalten werden. Ursache fürdiese Grenzwertüberschreitungen sind in nahezugleichen Anteilen der Verkehr, die Heizungsanlagen derprivaten Haushalte sowie die Industrie. Bei den indus-triellen Anlagen haben die Großfeuerungsanlagen unddie Müllverbrennungs- und -mitverbrennungsanlageneinen erheblichen Anteil. Deshalb wurde im Rahmen derUmsetzung der IED in der 13. und 17. BImSchV fürdiese Anlagen nationale Verschärfungen in Bezug aufStaub- und Stickoxide aufgenommen, die sich an derLeistungsfähigkeit der Anlagen orientieren.Auch im Hinblick auf Quecksilber haben wir einenneuen Emissionsgrenzwert eingeführt, der so nicht inder IED vorgesehen ist. Aufgrund der toxischen Eigen-schaften dieses Schwermetalls halten wir Maßnahmenzur gezielten Emissionsminderung bei den Verbren-nungsanlagen für geboten. Der neue im Jahresmittel-wert einzuhaltende Emissionswert für Quecksilber istanspruchsvoll. Bei den Anlagen werden hierfür Nach-rüstungen und zum Teil erhebliche Anpassungsmaßnah-men erforderlich. Es stellt sich die Frage, ob wir an-spruchsvoll genug sind. Die jetzt eingeführte Regelungist als wichtiger Zwischenschritt zu sehen im Rahmen ei-ner umfassenden Quecksilberminderungsstrategie.Zusammenfassend möchte ich folgendes Fazit ziehen:Die Vorgaben der Richtlinie über Industrieemissionenheben die Anforderungen an den Betrieb von Großfeue-rungsanlagen und Abfallverbrennungsanlagen europa-weit auf ein hohes Niveau. Um die vorgeschriebenenGrenzwerte einhalten zu können, müssen die betroffenenUnternehmen meist erhebliche Maßnahmen ergreifen.An einigen wichtigen Stellen legen wir die Messlattenoch höher als in der europäischen Gesamtschau. Dochdies halte ich vor dem Hintergrund der Vorsorge für not-wendig und gegenüber der Wirtschaft für vertretbar.
Diese EU-Richtlinie ist wie eine Medaille. Sie ist vonzwei Seiten zu betrachten: Die eine ist die Umweltpoli-tik, die andere die Industriepolitik. Unsere Aufgabe istes, hier einen ausgewogenen Ausgleich zu erzielen.Gerade wenn wir die Energiewende vernünftig ge-stalten wollen – und das heißt, die Kontinuität bei derStromerzeugung zu bezahlbaren Preisen zu sichern –,müssen wir auch die Nutzung bestehender Anlagen undden notwendigen Neubau von modernen Kraftwerken imAuge behalten. Bestandskraftwerke stehen für einen ent-scheidenden Teil der Energiesicherheit gerade. Sie sindzur Netzstabilisierung und Grundlastversorgung nebenden erneuerbaren Energien noch immer unverzichtbar.Wie oft bei der Umsetzung von EU-Richtlinien in na-tionales Recht gibt es Stimmen, die für uns in Deutsch-land gleich „noch eins draufsetzen möchten“ und wei-tere Verschärfungen – schärfere Grenzwerte – fordern.Hiervor kann ich nur warnen. Deutsche Alleingängesind umweltpolitisch nur ein Tropfen auf den heißenStein, für die Wirtschaft und Verbraucher aber verhee-rend.Bei der IED-Richtlinie – lndustrieemissionsrichtlinie –gibt es vor allem zwei Punkte, bei denen ich Nachbesse-rungsbedarf sehe:Zum Ersten geht es um die Grenzwerte für Gaskraft-werke. Gerade wegen der zunehmenden fluktuierendenEinspeisung erneuerbarer Energien müssen die Kraft-werke in Zukunft flexibler gefahren werden. An- undZu Protokoll gegebene Reden
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24020 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Franz Obermeier
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Abfahrvorgänge werden zunehmen, und dies ist ja auchgewollt. Deshalb halte ich es für falsch, wenn bei denMessungen – wie jetzt geplant – auch die An- und Ab-fahrvorgänge mit berücksichtigt werden sollen. Dies isteine Verschärfung, die über die IED-RL hinausgeht.Also, das An- und Abfahren der Kraftwerke sollte he-rausgenommen werden, dieser Passus ersatzlos entfal-len.Zum Zweiten geht es um die Staubemissionswerte fürAltanlagen: Ab 2019 soll auch für Bestands- und Altan-lagen nach § 11 Abs. 1 ein Staubjahresmittelgrenzwertvon 10 Milligramm pro Normkubikmeter gelten. DieseRegel würde dazu führen, dass eine Reihe von altenKraftwerken vom Netz genommen werden müssten. Daswürde genau in die Zeit fallen, wo die letzten Kernkraft-werke vom Netz gehen. Mit Blick auf die Netzstabilitätkönnte dies negative Folgen haben. Die Einhaltung vonschärferen Jahresmittelwerten für bestehende Anlagenwürde zu entsprechenden Nachrüstungen und Kostenführen und am Ende weiter die Verbraucher zusätzlichbelasten. Ich plädiere dafür, hier eine Verschiebung desDatums zu prüfen.Insgesamt rege ich an, diese beiden Punkte nochmalsaufzugreifen und entsprechende Anpassungsmöglichkei-ten zu prüfen.Zum Schluss: Ich sage: Wir müssen die Energiewendesorgfältig, Schritt für Schritt und mit Augenmaß vorneh-men. Resultat einer nationalen Verschärfung der Emis-sionsgrenzwerte bei den Kraftwerken nur bei uns inDeutschland wären geringere Versorgungssicherheitund mehr Stromimporte aus ausländischen Anlagen. Daausländische Anlagen lediglich die niedrigeren Vor-schriften der EU-Richtlinie erfüllen müssen, hätte diesunmittelbare Wettbewerbsnachteile für deutsche Kraft-werksbetreiber. Zudem würden Finanzmittel für aufwen-dige Nachrüstmaßnahmen nicht für Investitionen in dieEnergiewende zur Verfügung stehen – man kann jedenEuro nur einmal ausgeben.Die Energiewirtschaft wird durch die laufende Kraft-werkserneuerung zukünftig ohnehin weniger Luftschad-stoffe emittieren. Zusätzlich wird die wachsende Nut-zung von erneuerbaren Energien dazu führen, dasssämtliche Emissionen aus fossilen Kraftwerken zurück-gehen werden, weil sie schlicht weniger eingesetzt wer-den.Gerade in den nächsten Jahren sollte darauf verzich-tet werden, zusätzliche Kraftwerkskapazitäten „aus demMarkt zu regulieren". Dies unterstreicht auch derBericht der Bundesnetzagentur vom Mai 2012, in demexplizit empfohlen wird, keine weiteren Kraftwerke still-zulegen.Richtig ist, europäische Gemeinsamkeit zu praktizie-ren und mit allen politischen Möglichkeiten auch welt-weit Verbesserungen einzufordern. Nur so können Wett-bewerbsverzerrungen zum Nachteil Deutschlandsvermieden werden.Soll die Stromversorgung sicher und vor allem nochbezahlbar bleiben, müssen wir auch an den erforderli-chen Neubau modernster Kraftwerke denken. UnsereWirtschaft, unser Wohlstand und unser Sozialstaat hän-gen vom Strom ab. Wir brauchen realistische Rahmenbe-dingungen. Sonst wird es keine Investoren geben.Unsere gemeinsame Aufgabe ist es, für eine verlässli-che und umweltverträgliche Stromversorgung zu sorgen,die uns aber nicht die Basis unseres Sozialstaates– Wirtschaft und Arbeitsplätze – unter unseren Füßenwegzieht.
Ich will mal mit dem Erfreulichen beginnen: Die Bun-desregierung scheint es mit dieser Vorlage zur Richtlinieüber Industrieemissionen, der sogenannten IED-Richt-linie, immerhin einmal zu schaffen, die EU-Vorgaben in-nerhalb der vorgegebenen Frist zum 6. Januar 2013in nationales Recht umzusetzen. Die IED ist eine derwichtigsten Richtlinien zur immissionsschutzrechtlichenRegelung der Genehmigung und Überwachung von In-dustrieanlagen und der Sachverständigenrat der Bun-desregierung in Umweltfragen nennt sie zu Recht das„Grundgesetz des Anlagenlagenrechts“. Sie regelt dieintegrierte Vermeidung und Verminderung der Umwelt-verschmutzung von Luft, Wasser und Boden durch indus-trielle Anlagen und bildet damit tatsächlich eine umfas-sende Grundlage, um die Industrie europaweit weiter anumweltverträgliches Wirtschaften heranzuführen bzw.dafür zu verpflichten.Bereits die Vorgängerrichtlinie, Richtlinie zur in-tegrierten Vermeidung und Verminderung der Um-weltverschmutzung, IVU, hatte die Harmonisierung desUmweltschutzniveaus und die Vermeidung von Wettbe-werbsverzerrungen in der EU zum Ziel. In der Praxiswurde dieses Ziel bisher jedoch nicht erreicht. Geschei-tert ist es bislang vor allem an der mangelnden Verbind-lichkeit der dort festgelegten Vorgaben.Die IED sorgt nun für eine solche Verbindlichkeit –und dies in allen Ländern der EU. Genehmigungsfähigist demnach nur noch die Technologie, die dem derStand der Technik entspricht, eine Praxis, die wir ausDeutschland bereits über die BVT-Merkblätter kennen,BVT heißt „beste verfügbare Technik“.Durch einzelne Rechtsetzungen wie zum Beispiel dieVorgaben aus dem Bundes-Immissionsschutzgesetz, demWasserhaushaltsgesetz oder auch der TA Luft sind inDeutschland in vielen Bereichen bereits Grenzwerteumgesetzt, die ein hohes Umwelt- und Gesundheits-schutzniveau schaffen. Dies hat auch bewirkt, dass derdeutsche Anlagenbau eine gute Positionierung bei derProduktion umweltverträglicher Industrieanlagen erreichthat und sich gegenüber europäischen Mitbewerbern ei-nen Wettbewerbsvorsprung verschaffen konnte. Wennnun der Betrieb von Anlagen europaweit unter gleicheStandards gestellt wird, ist dies zum einen eine Anglei-chung der Wettbewerbsbedingungen, birgt zum anderenaber auch die Chance von neuen Absatzmärkten für um-weltverträgliche Technologien. Deshalb begrüßen wirdie grundsätzliche Konzeption zur Umsetzung der IED.Allerdings bleibt die Bundesregierung mit ihrem Ver-ordnungsentwurf hinter den notwendigen RegelungenZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24021
Ute Vogt
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zurück. Denn so erfreulich die europaweiten Verbesse-rungen zu bewerten sind, in Deutschland selbst wirdsich an der faktischen Lage leider rein gar nichts verän-dern. Nun kann man sich zurücklehnen und sagen, diesliegt daran, dass Deutschland bisher bereits strengeGrenzwerte festgelegt hatte, und die anderen zieheneben nun nach. Aber das ist doch eine mehr als defensiveHaltung.Auch unsere Anhörung vergangenen Montag hat be-stätigt, dass die Vorgaben für die deutsche Industrie al-les andere als hart sind. Die Bundesregierung sollte dieChance ergreifen, unsere Vorreiterrolle zu sichern undauszubauen. Denn auch künftig überleben am Markt dieUnternehmen, die am effizientesten und fortschrittlichs-ten sind. Deshalb brauchen wir – wie bisher – ambitio-niertere Ziele, zumindest zur Reduzierung der Quecksil-berbelastung und auch bei den Feinstaubwerten. Dennmachen wir uns nichts vor: Freiwilligkeit führt leider inden seltensten Fällen zu Verbesserungen. Besondersschwer wiegt ihre Unterlassung in Sachen Quecksilber-verschmutzung. Selbst in den USA, die bisher nicht da-für bekannt sind, die schärfsten Umweltgesetze zu ha-ben, ist man uns weit voraus. Ab dem Jahr 2016 darfdort kein bestehendes Kraftwerk im Monatsdurchschnittmehr als 1,5 Mikrogramm pro Kubikmeter Quecksilberemittieren. Für Neuanlagen ist sogar ein noch weitschärferer Wert, 0,35 Mikrogramm pro Kubikmeter bei5 Volumenprozent O2, vorgeschlagen. Man muss sichdas auf der Zunge zergehen lassen: Wir haben inDeutschland bisher nach bester verfügbarer Technikkeine Anlage, die über 20 Mikrogramm pro KubikmeterQuecksilber emittiert, nach Umsetzung der IED sollennun jedoch 30 Mikrogramm pro Kubikmeter erlaubtsein. Und in den USA ist gleichzeitig die Reduzierungauf ein Zehntel vorgesehen. Dies folgt keiner Logik undschon gar nicht der Vorgabe, die beste verfügbare Tech-nik einzusetzen. Da überzeugt auch der Bezug auf dieEins-zu-eins-Umsetzung der europäischen Vorgabennicht. Es verbietet uns schließlich niemand, mindestensunsere bisherigen Standards zu halten. Im Gegenteil:Die Richtlinie lässt dies sogar ausdrücklich zu. Und beiuns in Deutschland existiert die dafür notwendige Tech-nik bereits und wird genutzt, um die Emissionen vonQuecksilber auf sogar unter 1 Mikrogramm pro Kubik-meter zu senken. Das Umweltbundesamt, UBA, schlägtdeshalb vor, den deutschen Grenzwert auf zunächst3 Mikrogramm zu senken. Und sie sollten dieser Emp-fehlung im Interesse der Gesundheit, der Umwelt, aberauch der Standortsicherung folgen.Ebenso wenig ambitioniert ist der Umgang mit demThema Feinstaub. Wir sind bereits heute technisch inder Lage, weit niedrigere Grenzwerte für Feinstaub ein-zuhalten. Und wir sind es den Menschen in Deutschlandauch schuldig – denn Feinstaub ist der Hauptverur-sacher von Luftverschmutzung. Die gesundheitlichenFolgen sind immens – und auch die damit verbundenenKosten für unser Gesundheitssystem. Vor allem Kinderleiden an den Auswirkungen und gesundheitlichen Fol-geschäden. Die Verordnung hätte auch hier genutztwerden müssen, eine Verbesserung herbeizuführen. Dashaben Sie bisher nicht getan. Nutzen Sie die verblei-bende Zeit, unsere Änderungsvorschläge zu prüfen undin das Gesetz einfließen zu lassen.
Mit dem vorliegenden Verordnungsentwurf der Bun-desregierung wird ein wichtiger Teil der europäischen In-dustrieemissionsrichtlinie in deutsches Recht umgesetzt.Durch die Richtlinie über Industrieemissionen – kurz:IED – wird die bisherige Richtlinie über die integrierteVermeidung und Verminderung der Umweltverschmut-zung von 1996 überarbeitet und mit sechs sektoralenRichtlinien, die Anforderungen für bestimmte Anlagen-arten enthalten, zusammengefasst. Insbesondere werdenin den Anhängen V und VI die Richtlinien für Großfeue-rungsanlagen und zur Abfallverbrennung und zur Ab-fallmitverbrennung in die IED integriert. Diese beidenAnhänge werden heute mit einer Novellierung der13. und der 17. Bundesimmissionsschutzverordnung indeutsches Recht umgesetzt. Die Richtlinie stellt zukünf-tig das zentrale europäische Regelwerk für die Zulas-sung und den Betrieb von Industrieanlagen dar. Sie er-fasst europaweit circa 52 000 Anlagen, in Deutschlandcirca 9 000 Anlagen.Zwei Prinzipien haben uns bei der Überarbeitung derbeiden Bundesimmissionsschutzverordnungen geleitet.Zum einen haben CDU/CSU und FDP im Koalitionsver-trag vereinbart, EU-Vorgaben möglichst ein zu eins indeutsches Recht zu übernehmen. Diesen Willen habendie Koalitionspartner im Entschließungsantrag „Markt-wirtschaftliche Industriepolitik für Deutschland – Inte-graler Bestandteil der Sozialen Marktwirtschaft“ nocheinmal bekräftigt und beschlossen, „bei der Umsetzungder europäischen Industrieemissionsrichtline auf unbü-rokratische und praxisnahe Regelungen zu setzen, keinenational einseitigen Verschärfungen vorzunehmen unddie europäischen Vorgaben im Verhältnis ein zu eins innationales Recht zu übernehmen“. Jede Abweichungvon dieser Vorgehensweise bedarf daher einer überzeu-genden Begründung. Zum anderen hat uns das unge-schriebene parlamentarische Gesetz, dass die Integra-tion von EU-Vorgaben nicht mit einer Aufweichungnationaler Umweltstandards einhergehen darf, geleitet.Der Verordnungsentwurf der Bundesregierung wirddiesen Anforderungen weitestgehend gerecht. In zweiwesentlichen Punkten, namentlich der Einführung einesneuen Jahresmittelwertes für die Emissionen von Staubund Quecksilber, geht der Regierungsentwurf über dieVorgaben der IED hinaus. Diese Abweichung ist jedochzur Erfüllung der Ziele der Luftqualitätsrichtlinie undzur Verringerung hochtoxischer Quecksilberimmissio-nen gut begründet und für die deutsche Industrie mit nurgeringem Aufwand erfüllbar.Meine Fraktion hätte sich gewünscht, dass die zu-künftig im Rahmen der Energiewende vermehrt notwen-digen schnellen An- und Abfahrvorgänge insbesonderefür Gaskraftwerke zur Stabilisierung der fluktuierendenEinspeisung erneuerbarer Energien eine stärkere Be-rücksichtigung in der Verordnung gefunden hätten. Auf-grund des engen Zeitrahmens zur Umsetzung der IEDwar eine entsprechende Einigung mit dem Koalitions-Zu Protokoll gegebene Reden
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24022 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Dr. Lutz Knopek
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partner jedoch nicht möglich. Da es die begründete An-nahme gibt, dass der Bundestag sich erneut mit dieserVerordnung nach der Befassung des Bundesrates be-schäftigen wird, werden wir dem Verordnungsentwurfheute zunächst zustimmen.
Schwarz qualmende Schornsteine wecken Ängste vor
Gefahren, und wir alle werden vorsichtig – was wir
nicht sehen und riechen können, dem können wir nicht
ausweichen. Gerade die Abgase der Industrieproduktion
enthalten oft schädliche Bestandteile. Die anstehende
Verordnungsänderung bot die Chance, bewährte Um-
welttechniken konsequent einzusetzen und zukünftig
mehr Schwermetalle, Stickoxide und Benzole aus der
Luft zu entfernen. Weniger Allergien, weniger Infek-
tionskrankheiten, weil die Immunabwehr nicht durch
Quecksilber geschwächt wird – das wäre doch ein loh-
nendes Ziel und würde die gesamte Volkswirtschaft von
Gesundheitskosten entlasten.
Leider beschränkt sich diese Koalition auch bei die-
sem Thema auf Kostensenkung für ihre Klientel, die
Energie-, Chemie-, Zement- und Stahlindustrie. Die
verhältnismäßig hohen Schadstoffgrenzwerte bringen
diesen Industriebereichen Kosteneinsparungen zulasten
unser aller Gesundheit. Dabei opfern sie langfristig ihre
Wettbewerbsfähigkeit kurzfristigen Renditezielen, weil
international der Trend zu schadstoffarmer Produktion
zunimmt. Selbst China verweigert inzwischen oft die un-
gebremste Schadstoffemission.
Zu den Einzelheiten: Während Unternehmen in den
USA jetzt im Monatsmittel maximal 3 Mikrogramm
Quecksilber pro Kubikmeter Abluft ausstoßen dürfen,
soll das deutsche Jahresmittel bei maximal 10 Mikro-
gramm liegen. Dass jetzt sogar die USA mehr Wert auf
Umweltschutz legen, macht nachdenklich.
Auch am Beispiel Stickoxide wird deutlich, dass die
Bundesregierung je nach Betroffenem Unterschiede in
den Umweltstandards macht. Während im Verkehrsbe-
reich der Ausstoß an Stickoxiden trotz steigenden Ver-
kehrs sinkt, wächst er in der Industrie seit zwölf Jahren
an. Deshalb verfehlt Deutschland die Erfüllung seiner
Verpflichtung zur Senkung des Stickoxidausstoßes um
25 Prozent. Trotzdem legt diese Verordnung für die In-
dustrie Grenzwerte fest, die mehr als das Doppelte über
dem technisch leicht Erreichbaren liegen.
Aus den Zementöfen emittieren durch Brennstoffe aus
Abfall Stäube mit gefährlichen Anhaftungen von Fura-
nen und Dioxinen, die in einer Abfallverbrennunganlage
nicht in die Luft gelangen würden. Bereits 60 Prozent
der Energie für einen Zementofen wird aus sogenannten
Ersatzbrennstoffen gewonnen. Dies wird dann auch
noch als stoffliches Recycling verkauft. Weil man aber
die Abgase bei Zementöfen nicht so genau prüfen muss
wie in der Müllverbrennungsanlage, merkt keiner, wel-
che Schadstoffe aus dem Schornstein quellen. Statt die-
sen bekannten Missstand zu beseitigen, steckt diese Re-
gierung den Kopf in den Sand.
Die Linke fordert die Anwendung der Grenzwerte von
Abfallverbrennungsanlagen für die Mitverbrennung von
Abfall, egal ob in Zement- oder Stahlwerken. Wenn diese
Grenzwerte nicht eingehalten werden, muss die Mitver-
brennung verboten werden. Wir unterstützen die SPD
bei ihrem entsprechenden Vorschlag.
Wir fordern für Deutschland Grenzwerte für Queck-
silber wie in den Vereinigten Staaten. Dass ich das ein-
mal im Umweltbereich sagen muss, ist traurig.
Die Linke fordert, dass die Stickoxidgrenzwerte hal-
biert werden.
Wir stimmen für die Gesundheit der Bevölkerung, und
deshalb stimmt die Linke der Umsetzung der Richtlinie
über Industrieemissionen nicht zu.
Mit der vorliegenden Verordnung hat die Bundesre-gierung leider die Chance vertan, eine maßgebliche Ver-besserung der Umweltsituation in Deutschland herbei-zuführen und schädliche Emissionen langfristig zureduzieren. Die europäische Richtlinie hätte die Mög-lichkeit eröffnet, bei wichtigen Schadstoffen die Grenz-werte zu verschärfen und damit sowohl messbare Ver-besserungen für die Luftqualität zu erreichen als auchAnreize zur Weiterentwicklung neuer Technologien zusetzen. Stattdessen machen Sie nur kleine Schritte beider Absenkung der Grenzwerte. Sie führen neue Rege-lungen ein, die weitgehend wirkungslos bleiben werden.Die formulierten Anforderungen an die Vermeidung undVerminderung von Industrieemissionen gehen nicht überden bereits erreichten Stand der Technik hinaus. Verra-ten Sie mir bitte, wie dadurch Anreize zu neuen Innova-tionen gesetzt werden sollen? Wie soll denn so die Belas-tung mit Industrieemissionen maßgeblich verringertwerden, werte Kolleginnen und Kollegen von der Regie-rungskoalition?Und Sie vergeben auch die deutsche Vorreiterrolle imUmweltschutz. Es ist ja nahezu peinlich, dass selbst dieUSA, ja die USA, bisher nicht gerade bekannt für pro-gressive Umweltpolitik, zukünftig strengere Grenzwertefür Quecksilber in Großfeuerungskraftwerken habenwerden als die Bundesrepublik. Im Rahmen dieser Ver-ordnung hätte man die Grenzwerte deutlich senken müs-sen, technisch ist das schon lange kein Problem mehr.Und selbst der Referentenentwurf des Umweltministe-riums sah strengere Grenzwerte vor. Sie aber sind leidermal wieder eingeknickt und lassen zu, dass alte Kohle-kraftwerke nicht mal den Stand der Technik erfüllenmüssen. Sie sind eingeknickt vor der Industrielobby, dieihre alten Kohlekraftwerke, die Dreckschleudern, nichtkostenpflichtig modernisieren will. Dabei haben die ge-nug Rendite, um das zu finanzieren. Die bekannten Ge-fahren für die Gesundheit durch Quecksilber, insbeson-dere für Kinder, ignorieren Sie dabei gekonnt. Hier gehtRücksicht auf die Großindustrie vor verbesserten Ge-sundheitsschutz von Bürgerinnen und Bürgern.Auch in puncto Feinstaub hätte man deutliche Fort-schritte erzielen können, wenn man nur gewollt hätte.Die Feinstaubbelastung in unseren Städten ist bei un-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24023
Dorothea Steiner
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günstiger Witterungslage extrem hoch. Allein mit Maß-nahmen im Verkehrssektor, die wir dringend brauchen,werden wir das Feinstaubproblem aber nicht ausrei-chend in den Griff kriegen. Wir müssen auch die perma-nente Belastung durch Industrieemissionen verringern.Auch hier vergibt die Bundesregierung die Chance, dieSchadstoffbelastung der Luft maßgeblich zu reduzieren,mit allen daraus folgenden Risiken für die Gesundheitvieler Menschen.Genau das Gleiche bei den Stickoxiden. Auch hier sinddie vorgeschlagenen Grenzwerte noch immer deutlich zuhoch. Sie wollen weiterhin die Braunkohle bevorzugen,obwohl es keinen Anlass dazu gibt. Die verschiedenenBrennstoffe müssen bezüglich der Stickoxidemissionenendlich gleichgestellt werden. Wir brauchen sowohl fürdie Kohlekraftwerke als auch für die Abfallmitverbren-nung strengere Grenzwerte für Stickoxide, die eine sub-stanzielle Verbesserung der Luftqualität zur Folge ha-ben.In Sachen Luftreinhaltung versagt Ihr Verordnungs-entwurf auf ganzer Linie. Aber auch beim zweiten Teilder Umsetzung der IED-Richtlinie, den wir hier in dernächsten Woche diskutieren werden, sieht es nicht bes-ser aus. Ich will den Details nicht vorgreifen, aber las-sen Sie mich eins doch sagen: Sie, Herr Altmaier, habensich auf die Energiewende verpflichtet, es ist Ihr großesProjekt. Wir alle wollen, dass die Energiewende klappt,und wir alle wissen, das der Schlüssel dazu Energieeffi-zienz ist. Die Umsetzung der IED-Richtlinie hätte dieMöglichkeit eröffnet, hier einen großen Schritt voranzu-kommen. Die IED-Richtlinie erlaubt es den Mitglied-staaten, Energieeffizienz als Grundpflicht der Betreibervon Industrieanlagen festzulegen. Warum haben Sie dieChance vergeben, hier klare Mindestwirkungsgrade fürdie Energienutzung bei Industrieanlagen festzulegen?Das hätte einen wirklichen Fortschritt bei der Energie-effizienz im industriellen Bereich gebracht. Warum, frageich Sie, vergeben Sie auch diese Möglichkeit, einen maß-geblichen Beitrag zur Energiewende zu leisten?Mein Fazit kann nur heißen: Diese Verordnung istkein Beitrag zu angemessenen Umweltstandards undkein Beitrag zum verbesserten Umweltschutz. Nochhaben Sie die Chance, beim Gesetzentwurf in SachenEnergieeffizienz nachzubessern. Bitte tun Sie dies, damitdie Umsetzung der IED-Richtlinie nicht auch noch zu ei-nem Reinfall für die Energiewende wird.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss fürUmwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehltunter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/11060, der Verordnung der Bundesregie-rung auf Drucksache 17/10605 zuzustimmen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-lung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und derFDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion DieLinke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Ent-haltung der SPD-Fraktion angenommen.Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Frak-tion der SPD auf Drucksache 17/9555. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmender Oppositionsfraktionen angenommen.Ich rufe die Zusatzpunkte 7 a und 7 b auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten UlrikeGottschalck, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der SPDNeue Impulse für die Förderung des Radver-kehrs setzen – Den Nationalen Radverkehrs-plan 2020 überarbeiten– Drucksache 17/11000 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung InnenausschussAusschuss für GesundheitAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für TourismusHaushaltsausschussb) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungNationaler Radverkehrsplan 2020 – Den Rad-verkehr gemeinsam weiterentwickeln– Drucksache 17/10681 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für TourismusAuch hier wird vorgeschlagen, die Reden zu Proto-koll zu geben.1) – Sie sind damit einverstanden.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 17/11000 und 17/10681 an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.– Sie sind damit einverstanden. Dann sind die Überwei-sungen so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einfüh-rung eines Zulassungsverfahrens für Bewa-chungsunternehmen auf Seeschiffen– Drucksache 17/10960 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Auswärtiger AusschussInnenausschussRechtsausschussAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungWie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wirdie Reden zu Protokoll.1) Anlage 7
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24024 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
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Lassen Sie mich zu Beginn auf die positive Entwick-lung der rückläufigen Piratenangriffe zu sprechen kom-men. Schon im Jahr 2011 ist die Zahl der Geiselnahmenim Zusammenhang mit Angriffen durch Piraten weltweitvon 1181 im Jahr 2010 auf 802 zurückgegangen. Das In-ternational Maritime Bureau, IMB, verzeichnete bisEnde Mai 2012 rund um das Horn von Afrika 60 Pira-tenangriffe. Im Vergleich zum Vorjahr ist hier erneut einsignifikanter Rückgang zu registrieren. Die Fachpresseund Experten begründen diese guten Nachrichten unteranderem mit dem verbesserten Selbstschutz, wie etwader Einhaltung der Best-Management-Practices-Verhal-tensregeln der International Maritime Organization,IMO, aber auch mit der effektiven Arbeit der internatio-nalen Seestreitkräfte.Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion,es sei an dieser Stelle erinnert, dass Sie vor einigen Mo-naten in diesem Hohen Hause der deutschen Beteiligungam Atalanta-Einsatz ihre Zustimmung versagt haben.Für Ihr wahlkampfgeleitetes Taktieren setzen Sie die Si-cherheit der Besatzungen auf deutschen und allen ande-ren Handelsschiffen aufs Spiel. Sie haben sich offenkun-dig nicht nur von der Reformpolitik der Agenda 2010des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder ver-abschiedet, sondern auch von Zeiten, als sich die SPDnoch um die maritime Wirtschaft bemühte. Ihr nichtnachzuvollziehendes Abstimmungsverhalten offenbartIhr Desinteresse an der maritimen Branche. Der Gipfeldieser beschämenden Gleichgültigkeit ist die Charte-rung des unter portugiesischer Flagge fahrenden Kreuz-fahrtschiffes MS Princess Daphne durch eine Beteili-gungsgesellschaft der SPD. Zulasten der deutschenFlagge will sich Ihre Parteiführung im Willy-Brandt-Haus die Wahlkampfkasse aufbessern, weil im Madeira-Register die arbeits- und sozialrechtlichen Standardsweitaus geringer sind als in Deutschland. Ihr Antrag„Maritimes Bündnis fortentwickeln – Schifffahrtsstand-ort“, dessen Forderungen nach einer Stärkung des ma-ritimen Standortes Deutschland und der Verbesserungder Situation von nautischem und technischem Perso-nals wir hier schon diskutieren durften, ist in diesem Zu-sammenhang nicht nur fragwürdig, sondern beschä-mend. Bevor Sie die Bundesregierung mit Forderungenkonfrontieren, sollten Sie in Ihren Reihen zunächst ein-mal wieder ein Bewusstsein für maritime Fragen entwi-ckeln.Abgesehen davon, dass Sie mit Ihren aktuellen Forde-rungen nach Transparenz in Fragen von Nebeneinkünf-ten der Bundestagsabgeordneten und der Parteienfinan-zierung an dieser Stelle hier Ihr wahres Gesichtoffenbaren, verprellen Sie die Besatzungen auf denSchiffen unter deutscher Flagge. Glaubwürdigkeit inwichtigen Fragen der maritimen Politik sieht andersaus.Die Union hat in dieser Bundesregierung, aber auchunter der großen Koalition bereits seit 2008 unter-schiedliche Maßnahmen ergriffen, etwa durch die Betei-ligung der Bundeswehr im Zuge internationaler Ein-sätze, um die humanitären Hilfslieferungen für dasafrikanische Krisengebiet zu sichern und um natürlichdem auftretenden Phänomen der Schiffs- und Besat-zungsentführungen sowie der Lösegelderpressung wirk-sam entgegenzutreten. Der Aufbau staatlicher Strukturenals Voraussetzung zum wirtschaftlichen Wiederaufbau inSomalia und der damit verbundenen Eindämmung vonHunger und Armut ist ebenfalls eine wesentliche Maß-nahme, der sich Deutschland verpflichtet fühlt. Die Bun-desrepublik leistet hier einen wichtigen Beitrag: Deut-sche Soldaten, die Sie durch Ihre Verweigerung beiAtalanta offenbar nicht weiter beteiligen wollen, partizi-pieren beispielsweise auch an der EU-geführten Ausbil-dungsmission Eutm Somalia. Bislang konnten dadurch1 800 Soldaten der somalischen Übergangsregierung inUganda ausgebildet werden. Bis Dezember dieses Jah-res sollen es dann 3 000 somalische Soldaten sein.Im Februar 2010 wurde als Reaktion auf die weltweitsteigenden Piraterievorfälle das Piraterie-Präventions-zentrum bei der Bundespolizei See in Neustadt in Hol-stein geschaffen. Diese Einrichtung bietet den deutschenReedern unterschiedliche Dienstleistungen zur Vorbeu-gung möglicher Attacken durch Piraten an. Mit Risiko-analysen, der Darstellung technischer Präventionsmaß-nahmen, wie etwa der aktiven Abwehr durch nautischeManöver, und der Vermittlung von Verhaltensgrundsät-zen ist eine wichtige Anlaufstelle eingerichtet worden.Die deutschen Reeder sind gesetzlich dazu angehalten,die Eigensicherung ihrer Schiffe zu unterstützen und dieUmsetzung der Best Management Practices zu gewähr-leisten. Sie sehen, die unionsgeführten Bundesregierun-gen haben in vielfältiger Weise zu Verbesserungen derGefahrenabwehr auf Handelsschiffen beigetragen.Doch lassen Sie mich zum vorliegenden Gesetzent-wurf der Regierungskoalition kommen, die im Gegen-satz zu Ihnen, geschätzte Mitglieder der Opposition, mitsachlicher Arbeit und im Dialog mit den Betroffenen Lö-sungsvorschläge zur Abwehr von Piraterie vorlegt. Ichmöchte die Gelegenheit daher nutzen, mich bei den be-teiligten Ressorts, dem Bundeswirtschaftsministeriumund dem Bundesministerium des Innern, zu bedanken,dass es ihnen gelungen ist, trotz der schwierigen recht-lichen und inhaltlich komplexen Problematik bei der Zu-lassung von privaten Sicherheitsunternehmen einen un-bürokratischen und für alle akzeptablen Gesetzentwurfvorzulegen. Da uns bewusst war, dass die Anwesenheitvon privaten Sicherheitsunternehmen an Bord von Schif-fen bereits Realität ist und auch ein hohes Maß an Si-cherheit gewährleistet, bestand die Herausforderungnun darin, allen Beteiligten Rechtssicherheit zu ver-schaffen.Um es noch einmal festzuhalten: Bisher ist der Ein-satz privater Sicherheitsunternehmen nicht verboten,sondern bislang nur nicht geregelt, da wir es hier mit ei-ner Sondersituation zu tun haben, deren Ausmaß undKonsequenzen erst in den letzten Jahren deutlich wur-den. Der Einsatz von Bewachungsunternehmen auf ho-her See stellt aus sicherheitstechnischer Perspektiveeine Sondersituation dar, zumal, anders als auf demFestland, keine hoheitlichen Kräfte angefordert werdenkönnen. Insofern müssen die privaten Sicherheitsunter-nehmen höchsten Anforderungen entsprechen. Das Er-fordernis von Bewachungsunternehmen wird schnellZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24025
Eckhardt Rehberg
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sichtbar, denn der Erfolg gibt ihnen Recht: Sofern Bewa-chungsunternehmen an Bord von Handelsschiffen wa-ren, ließen die Piraten von ihrem geplanten Angriff aboder die Angriffe konnten erfolgreich abgewehrt wer-den. Die Bundesregierung hat in den letzten Monaten inenger Abstimmung mit Verbänden und Koalitionsabge-ordneten nun ein Ergebnis präsentiert, das dem An-spruch Rechnung trägt, diese Maßnahmen auf einrechtssicheres Fundament zu stellen.Der Gesetzentwurf wurde mit den Betroffenen disku-tiert und stellt in dem Bündel an Aktivitäten zur Pirate-riebekämpfung eine weitere wichtige Ergänzung dar.Damit wird den Forderungen und Bedürfnissen derBranche entsprochen. Diese Arbeit erfährt im Übrigenauch die Würdigung der deutschen Reeder, die nebenanderen Interessenvertretungen und den Bundesländernim Diskussionsprozess eingebunden waren und auchweiterhin sind.Bei der inhaltlichen Ausgestaltung gilt es, die He-rausforderung zu meistern, der Besatzung den nötigenSchutz vor etwaigen Angriffen zu ermöglichen und dabeiaber die Gefahr zu minimieren, dass Menschen zu Scha-den kommen. Diese anspruchsvolle Aufgabe kann nichtausschließlich durch die EU-geführte Atalanta-Missionerfüllt werden. In einem Seegebiet, das 18-mal größer istals Deutschland, ist die Bedrohung für die Schiffsbesat-zung und den freien Warenverkehr nach wie vor hoch. Essei an dieser Stelle erwähnt, dass 95 Prozent des inter-nationalen Warenverkehrs und 90 Prozent der europäi-schen Güterexporte an Drittstaaten über den Seeweg er-folgen. Nach den Krisenjahren 2008 und 2009 hat sichder Welthandel und damit auch die maritime Wirtschafterholen können. Das führt nun erfreulicherweise dazu,dass der internationale Seeverkehr seinen Wachstums-prozess fortsetzt. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit ei-nes Piratenüberfalls unter 1 Prozent liegt und wir 2011einen Rückgang von Angriffen durch Piraten verzeich-nen dürfen, ist der Anlass zur Sorge nach wie vor gege-ben. Ein wachsender Schiffsverkehr bedeutet einerseitswirtschaftlich positive Effekte, allerdings auch zusätz-liche Angriffsmöglichkeiten für die Piraten. Insbeson-dere vor den Küsten Somalias, an denen 236 der 439 Atta-cken im Jahr 2011 erfasst wurden, muss also weiter aktivdie Pirateriebekämpfung verfolgt werden. Auch wenndie Erfolgsquote der Piraten in den letzten zwei Jahren,insgesamt betrachtet, erheblich gesunken ist, bestehtalso kein Grund zum Aufatmen.Die bisher getroffenen Maßnahmen haben bereits zueiner Reduzierung der Attacken durch Piraten geführt.Dennoch bleibt der Handlungsbedarf, wie eingangs be-reits erwähnt, gegeben. Immer mehr Reeder setzen inter-national agierende Bewachungsunternehmen ein, um inrisikobehafteten Gebieten besseren Schutz in Anspruchzu nehmen. Umso bedeutsamer ist es, dass Bewachungs-unternehmen eingesetzt werden, die über die nötigeProfessionalität, Zuverlässigkeit und ausreichend Er-fahrung verfügen. An erster Stelle muss hier Rechts-sicherheit geboten werden. Dieser Forderung der Ree-der wird die Bundesregierung nachkommen, indem vonden Bewachungsunternehmen und ihren Mitarbeiterneindeutige Anforderungsprofile gesetzlich eingefordertwerden. Dabei geht es vor allem um die fachliche, derbesonderen Situation auf den Schiffen angepasste Quali-fikation und Eignung derjenigen, die für zusätzliche Si-cherheit an Bord sorgen sollen. Das Personal muss ne-ben den sicherheitstechnischen Anforderungen auchüber maritime Kenntnisse verfügen, denn die Leistungenwerden auf hoher See erbracht und bedürfen einer ge-wissen Vertrautheit mit den Vorgängen an Bord einesSchiffes. Allein hieran wird der Regelungsbedarf deut-lich, dem die Bundesregierung nachkommt und sich da-bei an den noch vorläufigen Leitlinien der IMO orien-tiert. Die Bundesregierung richtet sich dabei auch nacheuropäischen Nachbarn, die ebenso Bewachungsunter-nehmen zertifizieren. Mit der Orientierung an europäi-schen Standards bilden wir vergleichbare und rechtlichverbindliche Normen für internationale Bewachungs-unternehmen, die zügig zugelassen werden können. Fürunsere Seeleute und die deutschen Reeder wird eine not-wendige Rahmenbedingung für zusätzliche Sicherheit anBord geschaffen. Die Zulassung der Bewachungsunterneh-men über das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhr-kontrolle mit Unterstützung der Bundespolizei erfolgenzu lassen, ist aus Sicht der CDU/CSU-Bundestagsfrak-tion richtig.Die ebenfalls notwendig gewordene Änderung desWaffenrechts sowie deren über die Bundesländer zuerfolgende Bearbeitung ist mit dem vorliegenden Ge-setzentwurf ebenfalls unbürokratisch gelöst: Dank dererfolgreichen Abstimmung zwischen Bund und betroffe-nen Ländern ist es gelungen, die Erlaubniserteilunghinsichtlich des Waffenrechts über die Freie und Hanse-stadt Hamburg abzuwickeln. Den Bewachungsunter-nehmen wird damit ein föderales und behördlichesDurcheinander erspart.Abschließend möchte ich auf die Notwendigkeit hin-weisen, dass die hierzu parallel ebenfalls erforderlicheRechtsverordnung sobald wie möglich beschlossen wird.Diese soll die verschiedenen Verpflichtungen für die Be-wachungsunternehmen enthalten, etwa das Führen einesProzesshandbuches, das Verfahrensabläufe zur Planungund Durchführung von Einsätzen auf See beschreibt unddokumentiert.Die Koalition unterstreicht erneut, dass sie verläss-licher Partner der maritimen Wirtschaft ist und es auchbleiben wird. Die Opposition kann im Gesetzgebungs-verfahren beweisen, ob sie der Branche mit über400 000 Mitarbeitern in Deutschland ähnlich treu zurSeite steht.
Der Gesetzentwurf nimmt die Forderungen aus unse-rem Antrag vom April im Wesentlichen auf und geht ins-gesamt in die richtige Richtung. Unsere Forderung, dieBefugnisse privater Sicherheitsdienste beim Einsatz ge-gen Piratenangriffe an Bord von Handelsschiffen unterdeutscher Flagge gesetzlich zu regeln und die Bestim-mungen der Gewerbeordnung in Bezug auf einen inter-nationalen Einsatz privater Sicherheitsdienste anzupas-sen, ist ebenso berücksichtigt wie die grundsätzlicheVorgabe, dass die Zertifizierung nach den vorläufigenZu Protokoll gegebene Reden
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24026 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Ingo Egloff
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Leitlinien für Schiffseigner, Schiffsbetreiber und Schiffs-führer der International Maritime Organization, IMO,erfolgen soll, damit nur zuverlässige und ausreichendgeschulte Sicherheitskräfte zum Einsatz kommen dürfen.Mit der Zuständigkeit des Bundesamtes für Wirtschaftund Ausfuhrkontrolle, BAFA, und der Unterstützungdurch die Bundespolizei wird die Zulassung auf eine so-lide Basis gestellt.Der Einsatz hoheitlicher Sicherheitskräfte auf undzum Schutz von Handelsschiffen soll auch in Zukunftnicht der Regelfall werden. Wir fordern aber, dass eineunmittelbare Zuständigkeit des Bundeskriminalamts unddie Einführung einer Sonderstaatsanwaltschaft zur opti-malen Durchführung von Ermittlungsverfahren geprüftwerden.Zu klären bleibt die Ausgestaltung des Zulassungs-verfahrens, zu der die konkrete Formulierung derRechtsverordnung von der Bundesregierung noch vorge-legt werden muss. Dies muss rasch geschehen: Zwarorientieren sich heute bereits die meisten Sicherheits-dienste und Reeder an den Leitlinien der IMO, aber bisfür Handelsschiffe unter deutscher Flagge nach diesemGesetzentwurf verbindliche Regeln vorliegen und derEinsatz von Bewachungsunternehmen beginnt, die eineZertifizierung durch die BAFA vorweisen können, wirdwohl mindestens ein weiteres Jahr verstreichen.Im vorliegenden Gesetzentwurf fehlt die von uns be-reits im April geforderte Festschreibung, dass die Kom-mandokette an Bord beim Einsatz privater Sicherheits-kräfte auf der Grundlage der im Seemannsgesetzgeregelten Stellung des Kapitäns, der Rechtsverhält-nisse der Besatzung und der sonstigen im Rahmen desSchiffsbetriebs an Bord tätigen Personen vertraglichklar definiert und sichergestellt wird. Mit anderen Wor-ten: Es muss klar sein, dass Sicherheitskräfte erst aufAnweisung des Kapitäns tätig werden dürfen. Bei denVerhaltensregeln für das Sicherheitspersonal mussdabei insbesondere berücksichtigt werden, dass Schiffs-führung und Sicherheitskräfte durchaus unterschiedli-che Ansichten haben können, ob Maßnahmen notwendigsind oder nicht.Wir begrüßen, dass durch die Einführung des Zulas-sungserfordernisses den Reedern vorgeschrieben wird,nur durch die BAFA zertifizierte Bewachungsunterneh-men einzusetzen. Im Zuge der für diese Vorschrift benö-tigten Änderung der See-Eigensicherungsverordnungmuss darüber hinaus aber auch sichergestellt werden,dass die umfassenden Informationsrechte der zuständi-gen Bundesbehörden und beauftragten Stellen auchbeim Einsatz privater Sicherheitskräfte gewahrt bleibenund sie von diesen auf Verlangen alle notwendigen Aus-künfte und erforderlichen Unterlagen erhalten.Über die jetzt vorgelegten gesetzlichen Regelungenhinaus bleibt die Bundesregierung aufgefordert, ge-meinsam mit den Partnern des Maritimen Bündnissesgegenüber den deutschen Reedereien für eine Rückflag-gung des Schiffsbestandes unter deutsche Flagge einzu-treten. Dies ist nicht nur Bestandteil der Vereinbarungenim Rahmen der Nationalen Maritimen Konferenzen. DerGesetzgeber kann nach dem Prinzip der Flaggenhoheitnur Regelungen treffen, die sich auf Schiffe unter deut-scher Flagge beziehen. Es wird im Interesse auch derReeder sein, durch ein gesetzlich und durch Rechtsver-ordnung eindeutig geregeltes Zulassungsverfahren nichtnur Sicherheit an Bord, sondern auch Rechtssicherheitzu gewinnen.
Über 90 Prozent des Welthandels und fast 95 Prozentdes Außenhandels der Europäischen Union werden überden Seeweg abgewickelt. Die Bundesrepublik Deutsch-land, als weltweit zweitgrößte Handelsnation, nutzt fürnahezu 70 Prozent des Im- und Exports maritime Trans-portwege. Rund 45 000 Handelsschiffe sind derzeit aufinternationalen Gewässern unterwegs und transportie-ren mehr als 7 Milliarden Tonnen Güter pro Jahr – mitsteigender Tendenz. Die Ozeane sind die mit Abstandwichtigsten Verbindungswege unserer zunehmend glo-balisierten Welt.Doch nicht nur die Industrienationen rund um denGlobus haben die Bedeutung maritimer Handelswegeerkannt, sondern auch Piraten. Wie schon in der Antikewissen diese auch heute um den Gegenwert der wertvol-len Fracht und die hohe Bedeutung eines möglichst un-gehinderten Welthandels. Piraterie ist selbstverständ-lich kein neues Phänomen; sie hat aber in Bezug auf ihrAusmaß eine neue Dimension erreicht. Allein im Jahr2011 ereigneten sich weltweit 439 derartige Attacken,mehr als die Hälfte davon am Horn von Afrika. Insbe-sondere aufstrebenden und entwickelten Volkswirtschaf-ten entstehen durch die weltweit stark gestiegene Zahlvon Übergriffen erhebliche wirtschaftliche Schäden.Aber auch die erhebliche Bedrohung für Leib und Lebender Seeleute zeigt deutlich, dass die Bekämpfung der Pi-raterie eine wichtige Aufgabe ist. Dafür müssen zweck-mäßige und effiziente Maßnahmen ergriffen werden.Erfreulicherweise ging die Anzahl der Überfälle indiesem Jahr bisher um rund ein Drittel zurück. Die Ur-sache ist aber nicht etwa das nachlassende Interesse amKapern von Schiffen. Vielmehr zeigen die bisher ergrif-fenen Maßnahmen erste Wirkungen. Neben der starkeninternationalen Militärpräsenz in den besonders betrof-fenen Seegebieten – die Deutsche Marine ist bekannter-maßen auch erfolgreich in die EU-geführte OperationAtalanta eingebunden – heuern Reeder zunehmend be-waffnetes Sicherheitspersonal für ihre Schiffe an. Ge-rade diese Maßnahme hat sich offenbar als besonderswirksam erwiesen. Allein die abschreckende Wirkungbewaffneter Sicherheitskräfte und der einsetzende Wi-derstand haben dazu geführt, dass bisher keines der sogesicherten Schiffe entführt wurde.Diese Form der Selbsthilfe der Reeder zeigt aberauch den Handlungsbedarf des Gesetzgebers. Den Be-fürchtungen der Branche, durch unangemessenes Han-deln des angeworbenen Personals eine unkalkulierbareEskalation in Konfliktsituationen hervorzurufen, ist ent-sprechend zu begegnen. Reedereien brauchen in dieserFrage Rechtssicherheit und müssen auf die Entschei-dungen und Fähigkeiten des von ihnen beauftragten Si-cherheitspersonals vertrauen können.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24027
Manfred Todtenhausen
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Die Bundesregierung hat daher einen Gesetzentwurfvorgelegt, der erstmals ein transparentes und für dieWirtschaft möglichst unbürokratisches Zulassungsver-fahren für private bewaffnete Sicherheitsdienste aufdeutschen Schiffen etabliert. Das Verfahren orientiertsich eng an den Leitlinien der Internationalen Schiff-fahrtsorganisation, IMO. Ziel ist es, dass nur zuverläs-sige, besonnene und fachkundige Sicherheitskräfte aufdeutschen Handelsschiffen zum Einsatz kommen. Zu-sätzlich sollen aber auch die Bewachungsunternehmenhohen Qualitätsstandards und Überwachungsmechanis-men unterliegen. Zukünftig wird das Bundesamt fürWirtschaft und Ausfuhrkontrolle, BAFA, als zuständigeBehörde zentral für die Zulassung und Überwachungvon Sicherheitsunternehmen und deren Personal zustän-dig sein. Es wird diese Aufgabe in enger Kooperationmit der Bundespolizei erfüllen. Ergänzend wird dasLand Hamburg als zentrale Waffenbehörde einheitlichund transparent die Erteilung und Verwaltung der erfor-derlichen Waffenberechtigungen vornehmen. Damitbleibt das hohe Schutzniveau des Waffenrechts auch beidiesem speziellen Anwendungsfall erhalten.Auf Schiffen unter deutscher Flagge ist immer auchdeutsches Recht anzuwenden. Die vorgesehenen Regelngelten deshalb selbstverständlich auch für im Auslandniedergelassene Bewachungsunternehmen, sobald sieentsprechende Aufträge auf deutschen Schiffen überneh-men. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf gehen wir inDeutschland und auch im internationalen Vergleichneue Wege. Unsere einheitlichen und qualitätsorientier-ten Sicherheitsstandards könnten zu einem neuen Güte-siegel werden, das letztlich auch die deutsche Flagge inder internationalen Handelsschifffahrt stärkt.An dieser Stelle möchte ich nicht versäumen, demBundeswirtschaftsministerium und insbesondere demParlamentarischen Staatssekretär und maritimen Koor-dinator, Hans-Joachim Otto, zu danken, der mit persön-lichem Einsatz und dem notwendigen Fingerspitzenge-fühl bei sensiblen Fragen Geschick und Kompetenzbewiesen hat.Ich bitte Sie daher, den vorliegenden Gesetzentwurfzu unterstützen. Lassen Sie uns gemeinsam die Voraus-setzungen dafür schaffen, dass unsere Schiffe die Welt-meere ein Stück sicherer passieren können.„Über den Wind können wir nicht bestimmen, aberwir können die Segel richten.“
Die Tatsache, dass noch niemals Schiffe unter deut-scher Flagge gekapert worden sind, auf denen sich be-waffnetes Sicherheitspersonal befand, führt nichtzwangsläufig zu dem Ergebnis, die Sicherheit derSeeschiffe privaten Bewachungsunternehmen anzuver-trauen. Der Schutz vor Kriminalität – also auch vor Pi-raterie – ist eine hoheitliche Aufgabe des Staates. Ge-rade wenn es sich um schwerste Straftaten wieEntführung und Erpressung handelt, ist die Abgabe deshoheitlichen Handelns an private Sicherheitsdienste äu-ßerst bedenklich und wird von der Linken strikt abge-lehnt. Die Sicherheitsfirmen sollen militärisch ausgerüs-tet und für die Abwehr schwerster Verbrechen zuständigsein. Andererseits dürfen sie nur im Rahmen der Jeder-mannsrechte wie Notwehr, Notstand und Selbsthilfe han-deln. Es ist äußerst fraglich, inwieweit Privatfirmen einangemessenes Handeln gewährleisten können und wieVorfällen mit Schusswaffeneinsatz rechtlich aufzuarbei-ten sein sollen. Was passiert mit Gefangenen? HabenMitarbeiter von Sicherheitsfirmen die entsprechendeAusbildung und rechtliche Befähigung? Mit dem im Ge-setz vorgeschriebenen Zulassungsprozedere für geeig-nete Mitarbeiter und der Berichtspflicht bei Einsätzenist eine Angemessenheit im Handeln wohl kaum abzusi-chern.Die Bundesregierung gibt an, dass weltweit 160 bis180 Unternehmen diese spezielle Art maritimer Sicher-heitsdienstleistungen anbieten, zehn von ihnen kommenaus Deutschland. Einige internationale Sicherheits-firmen waren in den letzten Jahren in den Schlagzeilen,weil sie in Gebieten mit kriegerischen Auseinanderset-zungen wie im Irak völlig unverhältnismäßige Gewalt-anwendungen zu verantworten hatten. Will die Bundes-regierung sehenden Auges solche Situationenheraufbeschwören? In der Antwort auf die Kleine An-frage der Grünen zum Zulassungsverfahren für Bewa-chungsunternehmen auf Seeschiffen muss die Bundesre-gierung selbst eingestehen, dass eine Vor-Ort-Kontrollevon ausländischen Bewachungsunternehmen nicht mög-lich ist. BAFA und Bundespolizei könnten nur die Plau-sibilität der zur Zertifizierung eingereichten Dokumenteüberprüfen. Mit solcherlei Zulassungsverfahren willman also Unternehmen legitimieren, Aufgaben aus demengsten Kreis hoheitlichen Handelns zu übernehmen?Ein unglaublicher Vorgang!Interessant ist auch der Zeitpunkt, zu dem das Gesetztverabschiedet werden soll. Laut dem letzten „Piraterie-bericht der Bundespolizei See“ sind die Piraterieaktivi-täten am Horn von Afrika um 67 Prozent und weltweitum 33 Prozent zurückgegangen. Dies ist auf ein Bündelvon Maßnahmen zurückzuführen, insbesondere auf diemilitärisch geschützten Konvoifahrten, die Sicher-heitsteams auf Schiffen, die Verfolgung der Geldwäschevon Lösegeldern und auf die Stärkung der somalischenZentralgewalt. Man könnte meinen, der Gesetzentwurfaus dem Hause von Minister Rösler soll in letzterSekunde der Sicherheitsbranche Zugänge zu neuenMärkten eröffnen, genau in dem Moment, wo das Pro-blem seine hohe politische Relevanz verliert.Es liegen sinnvolle Vorschläge auf dem Tisch, wie diezivile Seefahrt geschützt werden könnte. Der VerbandDeutscher Reeder fordert hoheitliche Kräfte, konkret dieBundespolizei, und kann sich sogar eine Seesicherheits-gebühr vorstellen, um die Reedereien an den Kosten zubeteiligen. Der Vorsitzende der Gewerkschaft der Poli-zei schlägt die Umschulung von Bundeswehrsoldatenvor, die durch die Bundeswehrreform freigesetzt werden.Über die Eingliederung in eine zu schaffende Strukturder Bundespolizei und nach gründlicher rechtlicher undfachlicher Ausbildung könnte dann ein Einsatz auf See-schiffen erfolgen.Zu Protokoll gegebene Reden
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24028 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
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Die Bundesregierung hat zu Recht erkannt, dass zurRegulierung des Tätigkeitsfeldes privater bewaffneterSicherheitsunternehmen die geltenden Anforderungender Gewerbeordnung nicht mehr ausreichen.Lassen Sie mich noch einmal aus führen, welche An-forderungen dies zur Zeit sind: Wer ein Sicherheits-gewerbe eröffnen will, muss nachweisen, dass er zuver-lässig ist und über die notwendigen Mittel verfügt.Zusätzlich muss er sich von einer Industrie- und Han-delskammer 80 Stunden unterrichten lassen, welcherechtlichen und betriebswirtschaftlichen Vorschriftenfür ein solches Gewerbe zu beachten sind. Ob er das al-les versteht, ist dabei unerheblich. Eine Prüfung ist nichtvorgesehen. Bei seinen Angestellten ist dann diese Un-terrichtung auf 40 Stunden verkürzt. Auch bei ihnen istkeine Prüfung vorgesehen. Dies sind äußerst niedrigeSchwellen.Seit Ende des Ost-West-Konflikts hat es im Sicher-heitsbereich eine ungeahnte Privatisierungswelle gege-ben. Die Anzahl von privaten Sicherheitsunternehmenhat sich seit 1994 in Deutschland mehr als verdoppelt.In demselben Maße ist der Umsatz der Branche gewach-sen.Wir Bündnisgrüne setzen uns seit Jahren dafür ein,dass diese Schwellen erhöht werden, um gerade bei denSicherheitsunternehmen, deren Angestellte auch Waffentragen, stärker als bisher Zuverlässigkeit und Geeignet-heit sowohl der Unternehmensführung als auch der An-gestellten sicherzustellen. Hier gibt es schon gute Vor-schläge der Länder. Das ist ein Ziel, das sowohl imInteresse der Öffentlichkeit als auch im Interesse derAuftraggeber und der Branche selbst liegt. Und die Län-der haben in ihrer Stellungnahme zu dem Gesetzentwurfzu Recht darauf hingewiesen, dass aus ihrer Sicht auchklarere gesetzliche Regelungen für deutsches Sicher-heitspersonal auf ausländisch geflaggten Schiffen not-wendig sind.Ich finde es daher befremdlich, dass Sie sich gewei-gert haben, heute auch über den Antrag meiner Fraktionzum selben Thema zu debattieren. Ich weiß ja, dass derAntrag gut ist – dass er aber so gut ist, dass es Ihnen of-fensichtlich peinlich ist, ihn neben Ihrem Gesetzentwurfaufzusetzen, überrascht mich dann doch. Sie begnügen sich in Ihrem Gesetzentwurf damit, ei-nen kleinen Tätigkeitsbereich privater Sicherheitsunter-nehmen strenger zu regulieren. Hier sind wir ja imGrundsatz bei Ihnen, auch wenn der von Ihnen verwen-dete Begriff der Bewachungsunternehmen gegenüberdem, was diese bewaffneten Sicherheitsteams bei Pira-tenangriffen an Bord leisten müssen, äußerst vernied-lichend ist. Auch wird erst die Rechtsverordnung zumGesetz zeigen, wie ernst Sie es mit der Regulierung tat-sächlich meinen. Und da ist es für uns sehr unverständ-lich, dass Sie sich bisher weigern, uns Einzelheiten überdie von Ihnen geplanten Zulassungserfordernisse mitzu-teilen. Die Antworten auf unsere Kleine Anfrage zumThema grenzen schon hart an eine Missachtung des par-lamentarischen Fragerechts.So antworten Sie auf die Frage, ob für eine ZulassungKenntnisse des Sicherheitspersonals zu Menschenrech-ten nachzuweisen sind, dass das Sicherheitspersonal dieMenschenrechte einhalten müsse.Sie lassen uns im Unklaren, wie Sie bei Ihrem unter-nehmensbezogenen Ansatz sicherstellen wollen, dassdas von den Unternehmen eingesetzte Bewachungsper-sonal über die erforderlichen Fähigkeiten und Kennt-nisse verfügt. Die Kriterien der International MaritimeOrganization, IMO, sind zwar eine gute Grundlage.Aber durch welche konkreten Unterlagen sollen sie be-legt werden? Die Frage stellt sich vor allem bei auslän-dischen Unternehmen und vor allem vor dem Hinter-grund, dass Sie nicht beabsichtigen, Vor-Ort-Kontrollendurchführen zu lassen. So laufen Sie Gefahr, dass Ihr Zu-lassungsverfahren zu einem zahnlosen Papiertiger wird.Sie wissen ja, Papier ist geduldig. Oder wollen Sie nurdie deutschen Sicherheitsunternehmen kontrollieren?Als Ergebnis würde dieses Arbeitsfeld wohl auslän-dischen Sicherheitsunternehmen überlassen bleiben, diesich effektiver Kontrolle entziehen.Mir ist daher nicht klar, warum Sie sich bei all unse-ren Nachfragen immer wieder weigern, klare Zulas-sungskriterien auf europäischer Ebene zu entwickeln.Dann hätten wir wenigstens auf dem europäischenMarkt klare Regelungen. Ich möchte an dieser Stelleauch auf den International Code of Conduct for PrivateSecurity Service Providers, ICoC, hinweisen. Auch wennsich bei dieser Selbstverpflichtung die Frage stellt, wieihre Einhaltung überprüft werden kann; sie zeigt jedoch,dass sich die dazugehörigen Unternehmen zumindestmit wichtigen menschen- und völkerrechtlichen Aspek-ten ihrer Arbeit auseinandergesetzt haben.Wir hoffen, dass Sie uns in den anstehenden Aus-schussberatungen mehr Details zum geplanten Zulas-sungsverfahren geben werden.Aber nun zu dem, was man Ihrem Gesetzentwurf be-reits entnehmen kann. Es beruhigt mich, dass Sie immerwieder klarstellen, dass es keine Aufweichung des Waf-fenrechts geben wird. Weiterhin begrüßen wir, dass Siein dem Gesetzentwurf deutlich machen, dass dieBordrechte des Kapitäns unangetastet bleiben. Einewichtige Klarstellung ist auch, dass die bewaffneten Si-cherheitskräfte an Bord bei der Abwehr von Piraten aufdie Jedermannsrechte wie Notwehr, Notstand undSelbsthilfe beschränkt sind. Ich wüsste allerdings gern,wie Sie sicherstellen wollen, dass ausländische Sicher-heitskräfte darüber informiert sind, was in Deutschlandunter „Jedermannsrechte“ fällt.Etliche Fragen bleiben auch weiter noch offen: Wiewerden die Waffen des Sicherheitspersonals an Bordverwahrt? Wie wird verhindert, dass sich das Sicher-heitspersonal schwere Waffen aus schwimmenden Waf-fendepots besorgt?Wichtig ist uns auch, dass die Dokumentationspflich-ten ausreichend ausgestaltet werden. Es muss möglichsein, Zwischenfälle hinreichend nachzuverfolgen. Hiersollte uns der Fall der in Indien verhafteten italieni-schen Soldaten zu denken geben, die beim Schutz einesZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24029
Katja Keul
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italienischen Frachters indische Fischer, die sie für Pi-raten hielten, erschossen. Ein Austausch dieser Doku-mentationen könnte zudem im Rahmen der InternationalMaritime Organization wichtige Erkenntnisse im Kampfgegen die Piraterie liefern.Wir unterstützen jeden Schritt, der dazu führt, dassklarere Regeln für die deutsche Sicherheitswirtschaft,ihrem sensiblen Tätigkeitsfeld entsprechend aufgestelltwerden. Wir hoffen, dass die anstehende Rechtsverord-nung, die die Zulassungskriterien für Bewachungsunter-nehmen auf Seeschiffen regeln soll, in diese Richtungweist. Wir appellieren aber an Sie, liebe Kolleginnenund Kollegen der Koalition: Bleiben Sie nicht dabei ste-hen! Nehmen Sie unsere Vorschläge auf! Sorgen Sie fürmehr Qualität im Sicherheitsgewerbe, indem Sie in derGewerbeordnung sicherstellen, dass es nicht dem Zufallüberlassen bleibt, ob im Sicherheitsgewerbe Zuverläs-sigkeit und Geeignetheit die grundlegenden Maßstäbedarstellen! Die Vorlage dieses Gesetzentwurfs ist dasEingeständnis einer Regelungslücke, die lange geleug-net wurde. Zur Schließung dieser Regelungslücke bedarfes allerdings erheblich mehr, als der heute vorliegendeEntwurf leistet.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/10960 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 31 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingrid
Remmers, Kersten Steinke, Dr. Kirsten
Tackmann, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE
Bürgerbeteiligung stärken – Petitionsrecht
ausbauen
– Drucksache 17/10682 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Rechtsausschuss
Petitionsausschuss
Innenausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir
die Reden zu Protokoll.
Das Petitionsrecht hat sich in unserem Land bewährtund hilft, Politikverdrossenheit abzubauen. Wir verste-hen uns als Anlaufpunkt für viele Bürgerinnen und Bür-ger, die Sorgen und Nöte haben und für die Lösung ihresProblems Hilfe benötigen.Die Arbeit des Petitionsausschusses ist gerade imHinblick auf die Fortentwicklung im Bereich der öffent-lichen Petitionen seit dem Jahr 2005 eine Erfolgs-geschichte. Inzwischen werden monatlich zwischen30 und 80 neue Petitionen im Internetportal eingestellt.Durch die Veröffentlichung im Internet werden einerbreiten Öffentlichkeit Themen von allgemeinem Inte-resse vorgestellt.Vor einigen Wochen haben wir an gleicher Stelle denJahresbericht 2011 des Petitionsausschusses des Deut-schen Bundestages debattiert. Die Diskussionen derAbgeordneten belegten eindrucksvoll: Die Bürgerinnenund Bürger haben Vertrauen in unsere Arbeit, undobwohl es eine Vielzahl von Beauftragten in den ver-schiedensten Ministerien, Behörden oder Institutionengibt, ist die Zahl der Petitionen mit 15 000 bis 18 000 inden letzten Jahren nahezu gleich geblieben. Im vergan-genen Jahr haben den Deutschen Bundestag 15 191 Ein-gaben und Petitionen erreicht, das heißt täglich etwa60 Petitionen als Neueingang. Nimmt man die Massen-petitionen aus dem im Internetportal veröffentlichtenPetitionen hinzu, so haben sich etwa 500 000 Bürgerin-nen und Bürger am Petitionswesen im Jahr 2011 betei-ligt. Die Zahlen belegen eindrucksvoll, dass sich dasPetitionsverfahren bewährt hat. Dort, wo die Abgeord-neten Handlungsbedarf sahen, wurde eine Neufassungunserer Verfahrensgrundsätze vorgenommen und von ei-ner breiten Mehrheit im Ausschuss geteilt.Die These der Fraktion Die Linke, dass die Petitionennicht immer die Fachpolitiker und Fachpolitikerinnenerreichen, teilen wir nicht. Die Massenpetitionen, dievon allgemeinem öffentlichen Interesse sind und imInternetportal des Deutschen Bundestages eine breiteUnterstützung erfahren, werden in aller Regel auch inden Fachausschüssen diskutiert und durch Anträgebegleitet. Die Möglichkeit zur Überweisung in den je-weiligen Fachausschuss gibt uns § 109 der Geschäfts-ordnung des Deutschen Bundestages. Danach holt derPetitionsausschuss eine Stellungnahme der Fachaus-schüsse ein, wenn die Petitionen einen Gegenstand derBeratung in diesen Fachausschüssen betreffen. DieEmpfehlungen der Fachausschüsse fließen dann in dieBearbeitung der Petitionen mit ein und helfen uns beiden entsprechenden Votierungen.Das Argument der Fraktion Die Linke in ihrem An-trag, der Grad des öffentlichen Interesses an einemThema kann leicht über die Zahl der Mitzeichnenden ge-messen werden, lehnen wir ab. Bei der hier geführtenDiskussion darf der Einzelfall des „kleinen“ Bürgersohne Unterstützung aus dem Internet nicht ins Hinter-treffen geraten. Die Mehrzahl der Petitionen eignen sicheben nicht für eine breite öffentliche Diskussion imInternet. Das Grundgesetz mit seinem Grundrecht inArt. 17 verpflichtet uns Mitglieder des Petitionsaus-schusses, das Anliegen des Einzelnen besonders im Augezu behalten. Schon jetzt beobachten wir eine zuneh-mende Instrumentalisierung der öffentlichen Petitionendurch Verbände und Lobbyisten. Schon jetzt bietet dasInstrument der öffentlichen Petitionen hier den Verbän-den ein Podium, der Diskussion politischen Nachdruckzu verleihen. Dem Ansinnen der Fraktion Die Linke,diese Entwicklung noch auszubauen, würde dem Anlie-gen des einzelnen Petenten und seinem Grundrecht inArt. 17 GG widersprechen. Die Behandlung einer Peti-tion im nichtöffentlichen Petitionsverfahren ist keinezweitrangige Bearbeitung. Für mich ist jede Petition,jedes Anliegen gleichwertig, und ich möchte bei meiner
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24030 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Günter Baumann
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Petitionsbearbeitung keinerlei Unterscheidung zwi-schen öffentlicher und nichtöffentlicher Petition ma-chen. Auch würde eine noch stärkere Bedeutung vonQuoren aus meiner Sicht das Individualgrundrecht ausdem Grundgesetz noch weiter in den Hintergrund drän-gen. Wir als Abgeordnete der CDU/CSU-Fraktion mes-sen auch den Wert einer Petition nicht nach der Anzahlder Unterstützer.Zusammenfassend möchte ich klarstellen: Der Peti-tionsausschuss hat die ureigene Aufgabe, sich mit denSorgen und Nöten der Menschen in konkreten Einzelfäl-len zu beschäftigen und leistet hier eine hervorragendeArbeit. Für diese Arbeit haben wir gute Instrumente mitdem Grundgesetz und unseren Verfahrensregeln. UnserSystem der Bürgerbeteiligung wird in vielen Ländernanerkannt, und bei Auslandsreisen hören wir immer wie-der hohe Wertschätzung über unser Petitionswesen. Icherkenne keinen Grund, unser bewährtes System zu ver-ändern oder ein Petitionsgesetz neu zu schaffen. Des-halb lehnen wir den Antrag der Linksfraktion ab.
Die Bundesrepublik Deutschland verfügt über einsehr gutes und bürgernahes Petitionsrecht, das sich inden letzten Jahrzehnten bewährt hat, weshalb der hiervorliegende Antrag der Fraktion Die Linke abzulehnenist.Der sukzessive Ausbau des Petitionswesens inDeutschland ist eine Erfolgsgeschichte, die weltweitBeachtung findet und auf reges Interesse stößt. Mit derEinführung der sogenannten Onlinepetitionen im Sep-tember 2005 haben wir die direkte Bürgerbeteiligung alsTeil des Petitionsrechtes weiter gestärkt. Seitdem kön-nen die Bürgerinnen und Bürger schnell und unkompli-ziert über das Internet Petitionen einreichen oder mit-zeichnen, aber auch im Internet veröffentlichtePetitionen diskutieren. Mehr als 5 000 Petitionen, dassind rund ein Drittel aller eingereichten Petitionen, wur-den im Jahr 2011 über das Webformular auf der Inter-netseite des Deutschen Bundestages eingereicht. Auchdie rege Beteiligung der Nutzer der Internetplattformdes Deutschen Bundestages in der Diskussion und Mit-zeichnung veröffentlichter Petitionen zeigt, dass wirüber ein leicht zugängliches und unkompliziertes Peti-tionsrecht verfügen, dass einer aktiven Bürgerbeteili-gung in keiner Weise entgegenwirkt.Das System der E-Petitionen wurde daher auch imJahr 2010 durch die Aktion Mensch und die Stiftung Di-gitale Chancen mit dem Preis „BIENE“ ausgezeichnet.Ich begrüße es sehr, dass nun auch der Thüringer Land-tag das System der elektronischen Petitionen einführt.Der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages istVorbild auf nationaler, europäischer und internationalerEbene. In der vergangenen Sitzungswoche trafen sichMitglieder des Petitionsausschusses gleich mit zwei De-legationen aus Südafrika und Tadschikistan, die zu Gastim Deutschen Bundestag waren, um mehr über dieArbeit des Petitionsausschusses zu erfahren und unsereErfahrungen beim Auf- und Ausbau der eigenen Peti-tionssysteme zu berücksichtigen.Gerade kehren wir von einer Delegationsreise desPetitionsausschusses aus der Türkei zurück. Auch dortzeigte man ein großes Interesse am deutschen Petitions-system. Ich bin mir sicher, dass auch unsere türkischenKollegen zahlreiche Anregungen aus unserem Erfah-rungsaustausch annehmen und das türkische Petitions-recht weiter verbessern werden.Beim Austausch mit unseren internationalen Kolle-gen, sei es nun im Rahmen der europäischen oder welt-weiten Ombudsmannkonferenzen, stelle ich immer wie-der fest, dass unser deutsches Petitionssystem für vieleParlamente dieser Welt Vorbildcharakter besitzt. Dasbestehende Petitionsrecht hat sich in Deutschland be-währt.Dies hat sich auch bei der Neufassung der Verfah-rensgrundsätze des Petitionsausschusses im vergange-nen November gezeigt, die von einer breiten Mehrheitgetragen worden ist.Die Darstellung unseres Petitionssystems im Antragder Linken ist realitätsfern. So heißt es in der Begrün-dung des Antrages, die Petitionsanliegen erreichtennicht die zuständigen Fachpolitikerinnen und Fachpoli-tiker. Dies ist schlichtweg falsch. Für die öffentlichenAnhörungen des Petitionsausschusses werden häufig diezuständigen Fachpolitiker als stellvertretende Mitglie-der des Petitionsausschusses für ihre Fraktionen be-nannt, um an der Beratung der Petitionen teilzunehmen.Nicht selten werden Petitionsanliegen aufgrund des§ 109 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundesta-ges an die zuständigen Fachausschüsse überwiesen, umin einem laufenden Gesetzgebungsverfahren Berück-sichtigung finden zu können. Auch ohne die zwingendeNotwendigkeit einer Überweisung nach §109 der Ge-schäftsordnung überweist der Petitionsausschuss eineVielzahl der eingereichten Petitionen zur Mitberatungund Abgabe einer Stellungnahme an die zuständigenFachausschüsse.Nicht umsonst setzt sich der Petitionsausschuss desDeutschen Bundestages aus einer bunten Mischung vonFachpolitikern aus jedem Bereich zusammen. Als Be-richterstatter setze ich mich beispielsweise überwiegendmit Petitionen auseinander, die aus meinem FachgebietVerkehr, Bau und Stadtentwicklung stammen. Die Kolle-gen aus dem Bereich Arbeit und Soziales kümmern sichüberwiegend um Petitionen, die das SGB betreffen –usw. Bei der Bearbeitung von Petitionen bringt also je-der von uns seine eigene Fachexpertise ein.Oft genug tragen wir als Mitglieder des Petitionsaus-schusses schnell und unbürokratisch Themen in unsereArbeitsgruppen und Fachausschüsse oder suchen daspersönliche Gespräch mit den zuständigen Kollegen.Diese Praxis hat sich grundsätzlich bewährt, um vielenBürgerinnen und Bürgern rasch und kompetent zu hel-fen.Unser Petitionsrecht muss sich auch weiterhin auf dieEinzelanliegen der Bürgerinnen und Bürger fokussieren.Es handelt sich hierbei um das Kerngeschäft des Peti-tionsausschusses. In vielen Fällen kann der Petitions-ausschuss schon durch das Einholen einer Stellung-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24031
Gero Storjohann
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nahme bei den zuständigen Behörden Abhilfe schaffen,da die Behörden vor Ort noch einmal genau prüfen, obsie ihren Ermessensspielraum angemessen ausgeschöpfthaben. Der Argumentation des Antrages, der Grad desöffentlichen Interesses an einem Thema könne leichtüber die Zahl der Mitzeichnenden gemessen werden,kann nicht gefolgt werden. Dies war sicherlich auchnicht die Intention der Mütter und Väter des Grundge-setzes, als sie in Art. 17 des Grundgesetzes das Peti-tionsrecht für jedermann verankerten. Denn grundsätz-lich kann sich jeder in Deutschland mit jedem Thema anden Petitionsausschuss des Bundestages wenden, unab-hängig von seinem Alter, seiner Staatsangehörigkeit undseinem Wohnort. Das Petitionsrecht gilt also für Kinderund für Erwachsene, für Ausländer und für Deutsche.Das Anliegen einer Einzelperson kann von einem sehrviel größeren öffentlichen Interesse sein als ein Anlie-gen, das eine Vielzahl von Mitzeichnern besitzt.Einer zunehmenden Instrumentalisierung des Peti-tionswesens durch große Verbände sollten wir daher imSinne der Bürgerinnen und Bürger, die sich mit ihrenzum Teil sehr persönlichen Anliegen an den Petitions-ausschuss des Deutschen Bundestages wenden, durcheine Behandlung von sogenannten Massenpetitionen imPlenum des Deutschen Bundestages nicht weiter Vor-schub leisten, zumal durch unsere öffentlichen Aus-schusssitzungen Petitionen von öffentlichem Interessebereits eine geeignete Plattform, um den Gegenstand ei-ner Petition darzustellen und zu diskutieren, besitzen.Der Wert einer Petition darf sich nicht allein durchdie Zahl der Unterstützer bemessen. Verbandsarbeitmuss Verbandsarbeit bleiben und darf nicht das bürger-nahe Petitionswesen unterwandern.Zusammenfassend betrachtet möchte ich noch einmalbetonen, dass wir in der Bundesrepublik Deutschlandüber ein sehr gutes Petitionswesen verfügen, das seinerAufgabe, sich den einzelnen Bitten und Beschwerden derMenschen anzunehmen, mehr als gerecht wird. Daherist der Antrag der Fraktion Die Linke abzulehnen.
Das Petitionswesen ist ein ganz besonders wichtiger
Teil unseres demokratischen Systems. Wir sollten immer
wieder darüber nachdenken, wie wir das Petitionswesen
und damit die direkten Einflussmöglichkeiten der Men-
schen auf unser Parlament und seine Entscheidungen
stärken können. Leider eignet sich jedoch der von der
Fraktion Die Linke vorgelegte Antrag hierzu nicht. Sie
fordert die Bundesregierung dazu auf, ein Petitions-
gesetz vorzulegen, welches die Behandlung von Massen-
und Sammelpetitionen im Plenum und in den zuständi-
gen Fachausschüssen vorsieht.
Das Recht, Bitten und Beschwerden an den Bundes-
tag zu richten, ist im Grundgesetz verankert. Für die
Frage, wie der Bundestag bestimmte Anliegen und Vor-
haben bearbeitet und wie er seine Arbeitsabläufe intern
organisiert, gibt er sich selbst am Anfang jeder Legisla-
turperiode eine Geschäftsordnung. In Abschnitt IX der
GO-BT „Behandlung von Petitionen“ werden die Zu-
ständigkeit des Petitionsausschusses, die Überweisung
von Petitionen, die Rechte des Petitionsausschusses, die
Übertragung von Befugnissen auf einzelne Petitionsaus-
schussmitglieder sowie das Abfassen von Beschlussemp-
fehlung und Bericht des Petitionsausschusses geregelt.
Die Befugnisse des Petitionsausschusses, Akten ein-
zusehen, Auskünfte einzufordern und Amtshilfe zu ver-
langen, sind im Gesetz nach Art. 45 c GG, dem soge-
nannten Befugnisgesetz, festgelegt.
Das eigentliche Petitionsverfahren regelt der Aus-
schuss selbst, indem er nach § 110 Abs. 1 GO-BT Grund-
sätze über die Behandlung von Bitten und Beschwerden
aufstellt.
Vor diesem Hintergrund finde ich als Sprecherin für
Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung der
SPD-Bundestagsfraktion die Aufforderung der Fraktion
Die Linke an die Bundesregierung, ein Petitionsgesetz
vorzulegen, äußerst bedenklich. Die Abgeordneten soll-
ten die Abläufe des Parlaments auch zukünftig unbe-
dingt selbst bestimmen – dazu bieten Geschäftsordnung
und Verfahrensgrundsätze des Petitionsausschusses ge-
nügend Möglichkeiten.
Ich begrüße es aber, dass Sie mit Ihrem Antrag dieses
Thema auf die Tagesordnung gebracht haben. Es gibt
viele Stellen, an denen wir das Petitionswesen und den
Ablauf des Verfahrens noch verbessern könnten. Ein
wichtiger Punkt ist nach wie vor die lange Bearbei-
tungszeit. Meine Fraktion hat sich bereits für die Einfüh-
rung der gleichzeitigen Berichterstattung eingesetzt.
Wir werden sehen, welche Verbesserungen durch dieses
Instrument in Zukunft erzielt werden. Teilweise werden
die Berichterstattungen absichtlich verzögert, was je-
doch vertretbar ist, wenn dies im Interesse der Petenten
geschieht. Nicht vertretbar ist es, wenn die Verzögerun-
gen auf Unstimmigkeiten innerhalb einer Fraktion oder
Koalition bzw. auf die Untätigkeit der Bundesregierung
zurückzuführen ist.
In dieser Woche haben wir in einer öffentlichen Sit-
zung endlich das Thema Vorratsdatenspeicherung bera-
ten. Bereits letztes Jahr um diese Zeit hatte die dazuge-
hörige öffentliche Petition 64 704 Mitzeichnungen
erreicht. Dreimal haben die Oppositionsparteien im Pe-
titionsausschuss versucht, das Thema auf die Tagesord-
nung zu setzen. Sie wurden jedesmal von CDU/CSU und
FDP blockiert. Die Regierungskoalition wollte eine öf-
fentliche Debatte so lange wie möglich vermeiden, da
sie nach wie vor keine gemeinsame Position zu dem
Thema vorweisen kann. Hier brauchen wir Mechanis-
men, die sicherstellen, dass eine Beratung zeitnah
durchgeführt wird und Themen nicht ausgesessen wer-
den können.
Unsere Demokratie braucht kritische und strittige öf-
fentliche Debatten. Das Einreichen von Onlinepetitio-
nen und deren öffentliche Beratung im Parlament ist
hierfür ein ausgezeichnetes Instrument, das wir weiter
ausbauen und verbessern sollten.
Die FDP-Bundestagsfraktion setzt sich bereits seitJahren für die Einführung direktdemokratischer Ele-Zu Protokoll gegebene Reden
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24032 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Stephan Thomae
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mente auf Bundesebene ein. Auf Länder- und Kommu-nalebene sehen die Verfassungen der Bundesländer Bür-gerentscheide, Bürgerbegehren und Bürgerbefragungenvor. In der Europäischen Union ist die Einführung derEuropäischen Bürgerinitiative in Vorbereitung. Auf Bun-desebene fehlt ein vergleichbares plebiszitäres Element.Deshalb finde ich jeden Antrag positiv, der mehr Bür-gerbeteiligung fordert. Aber gut gemeint ist nicht immerauch gut gemacht. Und das erkennt man bei diesem An-trag der Fraktion Die Linke „Bürgerbeteiligung stärken– Petitionsrecht ausbauen“, Drucksache 17/10682.Der Petitionsausschuss wirkt überwiegend im Ver-borgenen. Er ermöglicht es den Bürgerinnen und Bür-gern, sich mit ihren Bitten und Beschwerden unmittelbarund direkt an die Volksvertretung zu wenden. Jedermannkann seine Anliegen schriftlich an den Petitionsaus-schuss richten. Das Petitionsverfahren ist in den§§ 108 ff. der Geschäftsordnung des Deutschen Bundes-tages, GO-BT, in den Grundsätzen des Petitionsaus-schusses über die Behandlung von Bitten und Beschwer-den, Verfahrensgrundsätze, und in der Anlage zuZiffer 7.1 Verfahrensgrundsätze, Richtlinie für dieBehandlung von öffentlichen Petitionen, öP, geregelt.In dem Antrag der Linken soll ein Entwurf für ein Pe-titionsgesetz durch die Bundesregierung vorgelegt wer-den, der unter anderem die Behandlung von Massen-und Sammelpetitionen im Plenum und in den zustän-digen Fachausschüssen vorsieht. Das Parlament solldas Petitionsrecht also aus seinen Händen in die Händeder Regierung geben. Das unterstützen wir Liberalenicht. Das Petitionswesen ist einer der parlamentari-schen Grundpfeiler des Parlaments. Als Seismographder Gesellschaft können Massenpetitionen Fehlentwick-lungen anzeigen und politische und mediale Prozesse inGang setzen. Der Petitionsausschuss kann dann auf dieBegehren der Petenten und Petentinnen schnell reagie-ren. Das geht aber nur, wenn das Petitionsrecht in derHand des Parlamentes bleibt. Denn nur so kann garan-tiert werden, dass das Verfahren reibungslos verläuftund sich selbstständig an neue Gegebenheiten anpasst.Aber in Ihrem Antrag der Fraktion Die Linke stecktauch eine gute Idee. Ich stimme mit Ihnen überein, dassdie gegenwärtigen Regelungen zum Petitionsrecht nichtausreichen. Weil die Demokratie ein ständiges „Stirbund werde“ ist, ist der Ruf nach mehr Bürgerbeteiligungin aller Munde. Aufgrund der neuen Medien wird esauch immer einfacher und wünschenswerter, die Bürgerdurch innovative Art und Weise am Staat teilhaben zulassen. Der Bildungsstand der Menschen, ihre Informa-tions- und Kommunikationsmöglichkeiten, nicht zuletztunter Nutzung moderner Medien, erlauben ein vielfa-ches Mehr an Zusammenwirken. 79 Prozent der Deut-schen sind einer aktuellen Umfrage zufolge für mehrMitbestimmung.Daher wollen wir Liberalen nicht nur die repräsenta-tive parlamentarische Demokratie weiterentwickeln,sondern auch die direkte Demokratie. Wir wollen nichteinfach nur entweder parlamentarische oder direkte De-mokratie, sondern eine Verknüpfung der beiden, wirwollen ein Ineinandergreifen, eine Verzahnung.In der 16. Legislaturperiode trat der Petitionsaus-schuss mit der Einrichtung öffentlicher Petitionen etwasstärker ins Rampenlicht. Seither können Petitionen aufeiner eigenen Homepage des Petitionsausschusses un-terstützt werden, in Diskussionsforen können die Bürgeran der Meinungsbildung mitwirken. Die Petitionsseitendes Bundestages erzielen die höchsten Zugriffszahlenaller Webseiten des Parlaments. Sechs Petitionen fandenüber 100 000 Unterstützer, zahlreiche weitere immerhinnoch über 50 000 Mitzeichner. Findet eine öffentlichePetition bei Einreichung oder innerhalb von drei Wo-chen nach der Einreichung mindestens 50 000 Un-terstützer, kann eine öffentliche Anhörung des Hauptpe-tenten im Petitionsausschuss stattfinden, wenn derAusschuss nicht mit Zweidrittelmehrheit etwas andersbeschließt.Die FDP will nun einen weiteren Schritt tun. Nachdem Willen der FDP sollen Petitionen im Rahmen desBürgerplenarverfahrens, die bei ihrer Einreichung oderinnerhalb von zwei Monaten seit Einreichung von min-destens 100 000 Menschen unterstützt werden, öffentlichin einer Bürgerstunde im Plenum debattiert und zuranschließenden Beratung in die zuständigen Fachaus-schüsse überwiesen werden. Erst nach dieser „Ehren-runde“ sollen diese Petitionen in die öffentliche Anhö-rung des Hauptpetenten im Petitionsausschuss münden.Abschließend werden die Petitionen vom Fachausschusszusammen mit einer inhaltlich begründeten Stellung-nahme zurück an den Petitionsausschuss überwiesen,wo die Petition gemäß Art. 45 c Grundgesetz abschlie-ßend beraten und behandelt wird.In Zeiten, in denen es Mode geworden ist, sich vonden Parteien, der Politik und sogar der Demokratieselbst abzuwenden, will sich das Parlament mit dieserGeste den Menschen stärker zuwenden. Die Erweite-rung des Petitionsverfahrens durch die Einführung desBürgerplenarverfahrens ermöglicht es Bürgerinnen undBürgern, Themen von öffentlichem Interesse direkt aufder Tagesordnung des Plenums zu platzieren. Die Bür-ger sollen stärker in die parlamentarischen Vorgängeeingebunden, ihre Themen unmittelbar den Weg ins Ple-num des Deutschen Bundestages, die Kronkammer unse-rer parlamentarischen Demokratie, finden können. Esmacht in der öffentlichen Wahrnehmung einen Unter-schied, ob eine Bundestagsfraktion oder ob 100 000Bürger eine Debatte auf die Tagesordnung einer Sit-zungswoche bringen. Die Anliegen der Bürger werdennicht im Schatten dunkler Ausschusssitzungssäle bera-ten, sondern unter dem Sonnenlicht der Reichstagskup-pel. Diese Änderungen bewirken ein Stück unmittelbarerDemokratie. Der Deutsche Bundestag ist schon heute ei-nes der transparentesten und durchsichtigsten Parla-mente der Welt – in seiner Architektur und in seinen Ver-fahrensweisen. Er wird jetzt auch permeabler unddurchlässiger für die Bitten und Beschwerden der Men-schen. Und dabei ist, wie gezeigt, die Idee so neu nicht:Der Bundestag kehrt mit diesen Änderungen zu seinenWurzeln zurück.Bei unserer Initiative bleibt das ureigene Recht derPetitionen das Recht des Parlamentes. Der vorgeschla-gene Weg erscheint als geeignete Möglichkeit, dieZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24033
Stephan Thomae
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Vorzüge der parlamentarischen Demokratie mit denVorzügen der direkten Demokratie zu paaren. Das Bür-gerplenarverfahren setzt den im Jahr 2005 mit der Ein-führung der öffentlichen Petition beschrittenen Wegkonsequent fort und trägt bereits Züge eines Volksinitia-tivrechtes. Die Anregung wird aus der Mitte der Gesell-schaft geboren, die Befassung und Beschlussfassung fin-det aber auf der parlamentarischen Ebene statt undgarantiert jenes Maß an Transparenz und Beteiligungder betroffenen Kreise, die sich in der über 60-jährigenVerfassungswirklichkeit unseres Landes herausgebildethaben. Dabei wird die parlamentarische Behandlung al-ler anderen Petitionen wie bisher dadurch nicht ver-schlechtert.Der vorliegende Antrag „Bürgerbeteiligung stär-ken – Petitionsrecht ausbauen“ kann dieses nicht si-chern. Aus diesem Grund lehnen wir den Antrag derFraktion Die Linke ab.
Es ist keine große Neuigkeit, dass Koalitionsverträge
mitunter nicht eingehalten werden. Schließlich verän-
dern sich ja manchmal auch die äußeren Umstände, so-
dass die Politik schnell reagieren muss. Deswegen be-
grüße ich zum Beispiel auch den Ausstieg aus der
Kernenergie. Im Koalitionsvertrag war ja noch die Ver-
längerung der Laufzeiten für Atomkraftwerke vorgese-
hen. Ich frage mich allerdings, warum in der schwarz-
gelben Koalition die Angst vor der eigenen Bevölkerung
so schnell zugenommen hat, dass nicht mal die guten
Absichten zur besseren Bürgerbeteiligung und der Aus-
weitung des Petitionsrechts umgesetzt werden. Leider
lesen nicht alle Journalisten und interessierten Bürger
am Ende einer Legislaturperiode dieses 133 Seiten
starke Märchenbuch, um mal zu schauen, wie viele Vor-
haben denn still und heimlich begraben worden sind.
Deswegen gibt es auch heute unseren Antrag.
Sie haben versprochen, das Petitionsrecht zu erwei-
tern. Massenpetitionen mit mehreren Tausend Mitzeich-
nenden sollen auch im Plenum debattiert und in den
Fachausschüssen beraten werden, ein guter Plan.
Manchmal ist die Schwarmintelligenz der Bürgerinnen
und Bürger dem Gespür von uns Politikerinnen und
Politikern nämlich doch überlegen. Oder welche Frak-
tion hat das Thema Hebammenvergütung vor dem Ein-
gang der fast 200 000 Unterschriften in einen der Aus-
schüsse gebracht? Warum diskutieren wir hier nicht mal
fraktionsübergreifend die Ideen für ein Grundeinkom-
men? Warum kann sich die Regierung um eine klare
Position zur GEMA herumdrücken? Weil es dazu keine
ordentliche Aussprache gibt, wo die Parteien und die
Regierung Farbe bekennen müssen und die vielen Tau-
send Petentinnen und Petenten die Debatte mitverfolgen
können.
Verstehen Sie mich nicht falsch, ich finde die öffentli-
chen Sitzungen des Petitionsausschusses zu den Massen-
petitionen natürlich richtig. Wir können die Regierung
zu ihren Positionen befragen, aber es wird viel zu oft ab-
gewiegelt, verschoben, verschleppt, und am Ende fühlt
sich kein Bürger ernst genommen, der sich für ein
Thema interessiert und engagiert. Schließlich dauert es
meistens mehrere Monate bis Jahre, bis der Ausschuss
nach einer Anhörung die Petition abstimmt und eine
Antwort der Regierung dazu vorliegt.
Stellen Sie sich vor, es gäbe zumindest eine halbe
Stunde Aussprache im Plenum zur Kernzeit, in der das
Anliegen von mehr als 50 000 Unterzeichnenden debat-
tiert wird. Wäre das nicht ein hervorragender Bestand-
teil für mehr direkte Demokratie? Selbst wenn keine der
Fraktionen das Petitionsanliegen unterstützen würde,
dann kann das zumindest in den Reden dazu schlüssig
begründet werden. Was glauben Sie, wie intensiv die
Menschen die Anträge der Fraktionen in einem Fach-
ausschuss lesen würden, die sich inhaltlich auf eine
Massenpetition beziehen? Deswegen ärgert es mich so,
dass die guten Absichten bei der Änderung der Verfah-
rensgrundsätze einfach unter den Tisch gefallen sind.
Der Kollege Thomae hatte per Pressemitteilung noch im
Juni 2011 angekündigt, dass die FDP-Fraktion für die
Behandlung von Massenpetitionen im Plenum und den
Fachausschüssen stimmen wird. In den Obleuteberatun-
gen war dann plötzlich keine Rede mehr davon. Hat da
vielleicht der größere Koalitionspartner kalte Füße be-
kommen? Das ist mehr als traurig. Ich schlage den bei-
den Regierungsparteien folgenden Tausch vor: Die FDP
gibt ihren Widerstand gegen die Finanztransaktion-
steuer auf und bekommt dafür die Erweiterung des Peti-
tionsrechts. Glauben Sie mir, das würden die Wählerin-
nen und Wähler sicher eher honorieren als den
umgekehrten Deal! Und wenn Sie jetzt argumentieren,
dass die Regierung der falsche Adressat für solch einen
Antrag ist, weil er die Parlamentsrechte berührt, dann
kann ich nur antworten: Einem ausformulierten Antrag
der Koalitionsfraktionen zur Änderung der Geschäfts-
ordnung mit den genannten Inhalten würden wir ganz si-
cher zustimmen. Leider habe ich wenig Hoffnung, dass
das in dieser Legislaturperiode noch passiert. Wenn sie
nicht mehr Bürgerbeteiligung wollen, dann frage ich
mich nur, warum Sie es vorher in den Koalitionsvertrag
schreiben. Ich nenne das die reine Wählertäuschung.
Petitionen sind heute zu einem unverzichtbaren undselbstverständlichen Bestandteil zivilgesellschaftlichenEngagements der Bürgerinnen und Bürger geworden.Rot-Grün hatte zu Beginn seiner Regierungszeit ver-sprochen, das Petitionsrecht zu einem echten Instrumentpolitischer Mitbeteiligung für die Bürgerinnen und Bür-ger auszubauen. Und Rot-Grün hat dieses Versprechenselbstverständlich gehalten. Insbesondere die von Rot-Grün gegen heftigen Widerspruch von CDU/CSU undFDP eingeführten Instrumente der elektronischen undöffentlichen Petitionen haben zu einer eindrucksvollenErweiterung der Beteiligungsmöglichkeiten der Bürge-rinnen und Bürger im Petitionsrecht beigetragen.Ganz anders die jetzige CDU/CSU-FDP-Koalition.Ginge es nach CDU/CSU und FDP, wäre der Petitions-ausschuss auch heute noch immer ein wenig beachteterKummerkasten. Es ist peinlich, dass CDU/CSU undFDP an ihr bisher nicht eingelöstes Versprechen erin-Zu Protokoll gegebene Reden
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24034 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Memet Kilic
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nert werden müssen, bei Massenpetitionen eine Behand-lung des Anliegens im Plenum des Deutschen Bundes-tages unter Beteiligung der zuständigen Ausschüsse zuermöglichen. Dabei würde dieser Vorschlag auch unsereZustimmung finden. Aber offenbar ist die Regierungsko-alition selbst zu kleinsten Reformschritten im Petitions-recht nicht fähig. Denn die stärkere Beachtung von Mas-senpetitionen kann nur ein Baustein der Reform desPetitionsrechts hin zu mehr Offenheit und Bürgerbeteili-gung sein.Grundsätzlich sollten alle Petitionen öffentlich bera-ten werden. Dass Petitionen von einer öffentlichen Be-ratung ausgenommen sind, in denen der Petent keineöffentliche Beratung wünscht, private oder datenschutz-rechtliche Belange dem entgegenstehen, ist selbstver-ständlich. Heute ist es aber Praxis, dass selbst öffent-liche Petitionen nichtöffentlich beraten und beschiedenwerden. Dies ist absurd und nicht mehr vermittelbar.Bündnis90/Die Grünen sehen die technischen undgrundsätzlichen Möglichkeiten des Petitionsrechts beiweitem nicht ausgeschöpft. So ist die Frist von vier Wo-chen zur Mitzeichnung zu kurz, ist das Quorum von50 000 Mitzeichnern zu hoch.Bündnis 90/Die Grünen streben darüber hinaus einenweiteren grundlegenden Ausbau der Mitwirkungsmög-lichkeiten und eine umfassende Transparenz des Verfah-rens für die Bürgerinnen und Bürger im Petitionsrechtan. Wir sind der Überzeugung, dass eine Stärkung desPetitionsrechts ein richtiger Weg ist, repräsentative undteilnehmende Demokratie auf neuartige Weise miteinan-der zu kombinieren.Wir wollen darum das Instrument der öffentlichen Pe-tition zu einer wirklich „Offenen Petition“ für die Bür-gerinnen und Bürger machen. Petitionen sollten nichtnur wie bisher gemeinsam im Onlineangebot des Peti-tionsausschusses diskutiert werden, sondern auch ge-meinsam erarbeitet und eingereicht werden können.Diese Bitten zur Gesetzgebung sollten dann auch eineangemessene Bearbeitung in den Fachausschüssen undim Plenum finden.Die Linke fordert die Bundesregierung auf, ein Peti-tionsgesetz vorzulegen. Dies lehnen wir ab. Das Peti-tionsbehandlungsrecht ist ein Parlamentsrecht. Adressateiner Petition ist die Volksvertretung, mit Rechten undPflichten des Parlamentes. Diese sind im Grundgesetz,im Befugnisgesetz, in der Geschäftsordnung des Bundes-tages und in den Verfahrensgrundsätzen niedergelegtund konkretisiert. Dieses Regelwerk eröffnet dem Parla-ment und dem Petitionsausschuss genau jene Spiel-räume und Möglichkeiten, die für flexibles Handeln undAgieren und letztlich für eine erfolgreiche Arbeit auchim Härte- und Ermessensfall günstig sind. NotwendigeÄnderungen können und sollten in diesem Handlungs-rahmen vorgenommen werden. Ein Petitionsgesetz, dasdiese Handlungsspielräume einengt und dem ErmessenFesseln anlegt, brauchen wir nicht.Geradezu absurd ist es, die Formulierung eines sol-chen Gesetzes und der Regularien der Petitionsbearbei-tung in die Hände der Regierung zu legen. Das Peti-tionsrecht ist Instrument zur Kontrolle und Korrekturder Exekutive durch das Parlament. Das Parlament darfsich nicht von der Regierung vorschreiben lassen, wie eszu handeln hat. Das Petitionsrecht gehört in die Handder Volksvertretung und nicht in die Finger der Regie-rung.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/10682 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federfüh-
rung beim Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung liegen soll. Sind Sie damit einverstan-
den? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 32 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette
Groth, Katrin Werner, Wolfgang Gehrcke, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Freiheit für Mumia Abu-Jamal
– Drucksache 17/8916 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Dem Antrag der Fraktion Die Linke „Freiheit fürMumia Abu-Jamal“ kann die CDU/CSU-Bundestags-fraktion nicht zustimmen. Wir möchten juristische Fällenicht politisch instrumentalisieren. Dies lehnen wir so-wohl im konkreten Fall als auch ganz generell ab. DieUnabhängigkeit der Justiz ist ein hohes Gut, das es per-manent zu verteidigen gilt. Urteile dürfen nicht politischsein, und genauso wenig dürfen sie von der Politik fürpolitische Zwecke missbraucht werden. Alle politischHandelnden sollten die Unabhängigkeit der Justiz alsTeil der Gewaltenteilung anerkennen und respektieren.Dies gilt nicht nur für unser eigenes Land, sondern auchfür andere Länder und selbstverständlich auch für dieVereinigten Staaten.Der Respekt vor der Unabhängigkeit der Justiz einesjeden Landes ist nicht gleichbedeutend damit, dass wirdas Strafverständnis einer jeden Rechtsordnung teilenoder jeden Urteilsspruch für angemessen halten. DieCDU/CSU lehnt genauso wie jede andere Fraktion desHohen Hauses die Todesstrafe ab. Wir sind froh, dasshierüber in Deutschland ein breiter politischer und ge-sellschaftlicher Konsens besteht. Wir werden auch nichtmüde, diese Rechtsauffassung gegenüber anderen Län-dern kundzutun. Dies zeigt auch unser Verhalten in derEntwicklungspolitik, wo wir Entwicklungshilfe mituntervon der Abschaffung bzw. der Nichtanwendung der Todes-strafe abhängig machen. Ein weiteres Beispiel sind un-sere regelmäßigen Proteste gegenüber der Vollstreckungvon Todesurteilen in China oder dem Iran oder unserekonsequente Positionierung in dieser Frage gegenüber
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24035
Dr. Egon Jüttner
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den USA und anderen Verbündeten. Wir stehen auch vollund ganz hinter dem Grundsatz, dass Mitgliedstaat derEU nur sein kann, wer die Todesstrafe abgeschafft hat.Diese eindeutige Positionierung gegen die Todes-strafe ist aber etwas völlig anderes, als einzelne Richter-sprüche zu beurteilen und per Ferndiagnose Freisprü-che zu fordern. Der Deutsche Bundestag kann – undsollte auch nicht – über Schuld und Unschuld von MumiaAbu-Jamal entscheiden. Es verwundert mich deshalb,wie man sich anmaßen kann, in diesem juristisch offen-sichtlich höchst komplexen Fall über die Ablehnung derTodesstrafe hinaus Position zu beziehen. Es ist nicht be-wiesen, ob es sich im Fall Mumia Abu-Jamal um ein ras-sistisch motiviertes Urteil handelt. JahrzehntelangesSchweigen des Angeklagten wurde von widersprüchli-chen Stellungnahmen abgelöst, unterschiedliche Zeu-genaussagen wurden gemacht und später widerrufen.Andere Personen behaupteten, die Mumia Abu-Jamalzur Last gelegte Tat begangen zu haben. Dies allesscheint mir doch ein recht verwirrender juristischerSachverhalt zu sein. Ich kann deshalb den DeutschenBundestag nur warnen, sich entsprechend zu positionie-ren. Wir sind kein Gericht, uns stehen nicht die Mittel ei-nes Gerichtes zur Erforschung des Tathergangs zur Ver-fügung und daher sollten wir uns auch kein Urteilanmaßen. Seit nunmehr 30 Jahren beschäftigt dieserFall die Gerichte in den Vereinigten Staaten, aber dieFraktion Die Linke meint, wir könnten ihn per Antraghier und heute entscheiden. Mit der CDU/CSU-Fraktionist so etwas nicht zu machen.Wir sollten uns vielmehr darauf beschränken, dieAussetzung der Todesstrafe durch die Staatsanwalt-schaft Philadelphia zu begrüßen. Dies ist meines Erach-tens genauso weit wie ein Parlament gehen darf, ohnedie Unabhängigkeit der Justiz anzutasten. Die Frage„Todesstrafe – Ja oder nein?“ hat nichts mit Schuldoder Unschuld zu tun. Sie ist keine Frage der angemes-senen, gebotenen und verhältnismäßigen Anwendungdes Strafmaßes. Es geht bei ihren Befürwortern undGegnern nie nur um einen konkreten Fall. Diese Fragedarf von der Bank des Richters und von der des Staats-anwaltes heruntergeholt werden hinein in die Gesell-schaft und damit auch hinein in dieses Haus. Es ist eineWertefrage und eine Frage von verfassungsrechtlichemAusmaß sowie eine Frage der Menschenrechte und derMenschenwürde. Zum Glück ist es auch eine Frage, diein unserer deutschen Werte- und Rechtsordnung schonseit 1949 entschieden ist. Die Antragsteller darf ich da-ran erinnern, dass die DDR erst 38 Jahre später, näm-lich am 17. Juli 1987, so weit war.Die CDU/CSU-Fraktion tritt weltweit für die Ab-schaffung der Todesstrafe ein, und die Bundesregierungwird nicht müde, dies gegenüber allen Nationen, seienwir eng mit ihnen verbündet oder nicht, zu betonen.30 Jahre beschäftigen sich die Gerichte bereits mit demFall Mumia Abu-Jamal. Der zuständige Bezirksstaats-anwalt wird, nachdem er die Todesstrafe ausgesetzthatte, mit folgenden Worten zitiert: „Es gab für mich nieeinen Zweifel, dass Mumia Abu-Jamal den PolizistenFaulkner erschossen und getötet hat.“ Der Verurteiltebleibe für den Rest seines Lebens hinter Schloss und Rie-gel, „und da gehört er auch hin“, so der Bezirksstaats-anwalt weiter. Bei der von mir und meiner Fraktion ge-forderten Anerkennung der Unabhängigkeit der Justiznehme ich diese Wertung zur Kenntnis. Eine Beurteilungkann ich mir nicht erlauben. Eine Beurteilung sollte sichkeiner von uns erlauben, der nicht mit juristischemSachverstand die Akten sorgfältig geprüft und alle Be-teiligten gehört hat.Worüber ich mir aber sehr wohl ein Urteil erlaubenkann, ist die Frage, ob wir eine Person, die von einemzuständigen Staatsanwalt mit diesen Worten einge-schätzt worden ist, in einer deutschen Gebietskörper-schaft zum Ehrenbürger ernennen sollen. Daran ändertauch nichts die Tatsache, dass die Stadt Paris diesenSchritt unternommen hat. Die Frage, ob wir den USAanbieten sollen, Mumia Abu-Jamal in Deutschland Auf-nahme zu gewähren, stellt sich für uns nicht. Mit Ehren-bürgerschaften sollten wir vorsichtig umgehen. MumiaAbu-Jamal gehört sicherlich nicht zu den Personen undPersönlichkeiten des öffentlichen Lebens, deren Taten sounumstritten waren und sind, dass sie die Verleihung ei-ner Ehrenbürgerschaft rechtfertigen. Die Stadt Paris istin ihrer Entscheidung frei, wen sie zum Ehrenbürgermacht und wen nicht. Wir respektieren zwar diese Ent-scheidung, nachvollziehen aber können wir sie nicht.Es besteht nach unserer Auffassung überhaupt keinGrund, den Vereinigten Staaten von Amerika die Auf-nahme von Mumia Abu-Jamal anzubieten. Die Todes-strafe gegen den Verurteilten ist ausgesetzt. Damit istunsere Hauptforderung erfüllt. Weder Mumia Abu-Jamal noch sein Opfer noch die Tat als solche oder einerder Zeugen stehen in irgendeinem Bezug zu Deutsch-land. Weshalb wir Mumia Abu-Jamal bei uns aufnehmensollen, ist für uns als CDU/CSU nicht nachvollziehbar.Eine fundierte Begründung hierfür bleiben Sie in IhremAntrag schuldig.Mit Ihrer Forderung nach Freilassung Mumia Abu-Jamals und Aufnahme in Deutschland zeigen Sie Ihrewahren Absichten. Es geht Ihnen in erster Linie nicht umGerechtigkeit bzw. ein gerechtes Urteil im konkretenFall. Ihnen geht es vor allem um die Diskreditierung desRechtssystems der Vereinigten Staaten, und es geht Ih-nen um die Freiheit für eine Ikone der internationalenLinken, losgelöst von der Frage „Schuldig oder un-schuldig?“. Wir halten das US-amerikanische Rechts-system gerade wegen der Todesstrafe durchaus für nichtperfekt. Aber ein Rechtssystem ändert oder reformiertman nicht, indem man sich Verurteilte herauspickt, mitdenen man politisch auf einer Wellenlänge liegt und sie,losgelöst von der Frage, ob schuldig oder nicht schul-dig, freispricht. Mit einem juristischen Freispruch hat soeine Entscheidung nichts mehr zu tun. Das ist einzig undallein ein politischer Freispruch. Deshalb lehnt dieFraktion der CDU/CSU den Antrag der Linken ab.
„Wie kann ein Staat, der die gesamte Gesellschaft re-präsentiert und die Aufgabe hat, die Gesellschaft zuschützen, sich selbst auf die gleiche Stufe stellen wie einMörder?“ Diese Frage stellte der damalige UN-Gene-Zu Protokoll gegebene Reden
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24036 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Angelika Graf
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ralsekretär Kofi Annan vor zwölf Jahren in New York.Damals wurde ihm bzw. der UN eine weltweite Petitionmit 3,2 Millionen Unterschriften gegen die Todesstrafeüberreicht.Ich kann seinen Worten nur zustimmen: Ein Staat hatzuvörderst die Pflicht, seine Bürgerinnen und Bürger zuschützen, ihr höchstes Gut, das Recht auf Leben, zu wah-ren und die Menschenwürde aller Bürger – dies gilt auchfür Verbrecher – zu verteidigen. Dies ist in zahlreicheninternationalen Übereinkommen festgelegt und bei derMehrheit der Staaten Konsens. Und dafür kämpft dieSPD seit langem und wird dies auch weiterhin mit allerKraft tun – zuletzt in unserem gemeinsamen Antrag mitden Grünen „Todesstrafe weltweit abschaffen“ aus demJahr 2010. Ich kann übrigens immer noch nicht verste-hen, warum sich die Regierungskoalition damals einemgemeinsamen Antrag verweigerte. In früheren Legisla-turperioden scheiterten solche Initiativen nicht an derbeschämenden Kleinlichkeit einzelner Unionsabgeord-neter.58 Staaten bestrafen derzeit Verbrechen wie Mord,Vergewaltigung oder Wirtschaftsdelikte mit dem Tod.25 von ihnen haben bis ins letzte Jahr die Todesstrafeauch noch vollstreckt. Im Iran steht die Todesstrafe so-gar auf das „Verbrechen“ der politischen Meinungs-äußerung. Dort wurden im vergangenen Jahr übrigensauch drei Personen hingerichtet, die ihre Straftraten be-gingen, als sie noch minderjährig waren. Mancherortsgilt die Todesstrafe auch für Drogendelikte, und nichtvergessen sollten wir die Vielzahl von Todesurteilennach dem Scharia-Recht: wegen Homosexualität, Ehe-bruchs oder Apostasie, also dem Abfall vom angeblich„wahren“ Glauben.Im März dieses Jahres hat Amnesty International sei-nen Bericht „Todesstrafen und Hinrichtungen 2011“veröffentlicht. China belegt den grausamen ersten Platz.Wie viele Menschen jährlich exekutiert werden, ist nichtganz klar. Amnesty schätzt ihre Zahl auf mehrere Tau-send. Der Iran mit 360 Hinrichtungen, Saudi-Arabienmit 82 und der Irak mit 68 Hinrichtungen – allein imvergangenen Jahr – folgen auf den Plätzen danach.Als einziges westliches Land halten die USA, bzw. 34ihrer 50 Bundesstaaten, an der Todesstrafe fest. Positivanzuerkennen ist aber, dass Illinois im vergangenenJahr die Todesstrafe abschaffte und der Gouverneur vonOregon, John Kitzhaber, verkündete, dass er währendseiner Amtszeit in seinem Bundesstaat keine weitereHinrichtung zulassen werde.Dennoch belegten die USA mit 43 Hinrichtungen imletzten Jahr den fünften Platz der Liste. Nach den Anga-ben des Death Penalty Information Center saßen im Ap-ril 2011 3 222 Personen im Todestrakt. Und dazu kom-men 78 weitere, denn die US-amerikanischen Richterverhängten in 78 Fällen erneut die Todesstrafe. Viele derVerurteilten sitzen mehrere Jahre, manche jahrzehnte-lang, im Todestrakt. Die Justiz hält es dabei nicht für nö-tig, ihnen mitzuteilen, wann die Strafe vollstreckt werdenwird. Das ist eine unmenschliche Behandlung und mei-ner Meinung nach psychische Folter.Besonders bedrückt mich die Tatsache, dass die USAeinerseits in der Spitzengruppe der Todesurteile sindund andererseits als Vertreter der sogenannten aufge-klärten westlichen Welt global für die Entwicklung vonMenschenrechten und Demokratie eintreten wollen. Dasmacht es auch für uns schwerer, weiterhin glaubwürdigfür die Abschaffung und Ächtung der Todesstrafe einzu-treten.Zuletzt sorgten die Fälle der zwei in den USA inhaf-tierten Afroamerikaner Troy Davis und Mumia Abu-Jamal für mediale Aufmerksamkeit und Empörung. Inbeiden Fällen bestehen erhebliche Zweifel an ihrerSchuld.Der hier diskutierte Antrag der Linken widmet sichMumia Abu-Jamal und fordert die Freilassung des Ver-urteilten. 30 Jahre zieht sich nun bereits der Prozess umden afroamerikanischen Journalisten hin. 1982 wurdeer wegen des Mordes an dem Polizisten Daniel Faulknerzum Tode verurteilt. Seit letztem Jahr steht nun fest:Mumia Abu-Jamal wird nicht hingerichtet. Das Todes-urteil wurde in eine lebenslange Haftstrafe umgewan-delt. Das macht deutlich, wie wichtig internationalerDruck in diesen Fragen ist.Die Schuldfrage ist aber immer noch nicht eindeutiggeklärt. Immer wieder wurden neue Zeugen angehört,alte Zeugen revidierten ihre Aussagen oder behauptetenim Nachhinein, von der Polizei erpresst worden zu sein.Er selber hatte seine Unschuld immer wieder beteuert,sich jedoch erst einige Jahre nach dem Vorfall über-haupt dazu geäußert. Unsere Forderung kann nur sein,endlich Licht in dieses Dunkel zu bringen.Sicher ist nämlich: Die internationalen Standards fürein faires Gerichtsverfahren wurden nicht eingehalten.Um die mageren Fakten herum entbrannte in den letzten30 Jahren ein hochpolitisierter Glaubenskampf entlangideologischer Fronten. Es wurde von Justizwillkür undRassismus gesprochen. Dabei mag es ja durchaus sein,dass dies die treibenden Gründe im Prozess und für dieVerurteilung gewesen sind. Das Problem allerdings ist:Es kann bislang anscheinend nicht wirklich nachgewie-sen werden. Und deshalb kann ich Sie, verehrte Kolle-ginnen und Kollegen der Linken, in Ihrer Forderung, dieVerantwortlichen für rassistisch motivierte Urteile zurRechenschaft zu ziehen, nur ausdrücklich unterstützen.Allerdings wird das ohne einen entsprechenden Nach-weis nicht gelingen.Die Umwandlung der Todesstrafe von Mumia Abu-Jamal in eine lebenslange Haft ist zu begrüßen – so bit-ter allerdings eine solche Strafe für einen ist, der seineSchuld bestreitet. Dies eröffnet aber die Chance für dieUSA, den Fall ehrlich aufzuarbeiten, daraus zu lernenund Konsequenzen zu ziehen.Etwas unlogisch erscheint mir Ihr Antrag bezüglichder Forderungen zwei und drei. Hier fordern Sie zum ei-nen die Freilassung von Mumia Abu-Jamal – Sie gehenalso von seiner Unschuld aus. Zum anderen bieten Sieim nächsten Punkt an, Mumia Abu-Jamal in Deutsch-land aufzunehmen – als Verurteilten; hier gehen Sie alsovon seiner Schuld aus. Diesen Widerspruch sollten SieZu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24037
Angelika Graf
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vielleicht bis zur nächsten Lesung noch einmal interndiskutieren.Die Aufhebung des Todesurteils gegen Mumia Abu-Jamal macht mir aber Mut. Genauso wie die weltweitenStimmen, die seit einigen Jahren verstärkt gegen die To-desstrafe laut werden. Vielleicht gibt es ja Hoffnung aufeine aufgeklärte Debatte über diese steinzeitliche Be-strafungsmethode. Wir können erfreut feststellen, dasssich weltweit immer mehr Politiker, Präsidenten, Minis-ter und Richter gegen diese grausame Form der Bestra-fung aussprechen und dass die Anzahl der Länder, diedie Todesstrafe verhängen und vollstrecken, laut Am-nesty-Bericht zurückgeht.Allerdings – und das ist das Wasser im Wein derFreude – nehmen die nackten quantitativen Zahlen einegegenläufige Entwicklung. Insgesamt ist die Anzahl deroffiziell registrierten Vollstreckungen angestiegen von527 in 2010 auf 676 in 2011. Dies ist vor allem auf dendeutlichen Anstieg von Hinrichtungen im Mittleren Os-ten, im Irak, im Iran und in Saudi-Arabien zurückzufüh-ren. Die Zahlen aus China – geschätzte mehrere Tausendim Jahr – sind da allerdings nicht dabei.Ich möchte noch einmal mein Eingangszitat von KofiAnnan in Erinnerung rufen: Ein Staat, der die Todes-strafe durchführt, stellt sich auf die gleiche Stufe wieein Mörder. – Daher appelliere ich an die Bundesregie-rung, sich in kommenden Gesprächen mit der US-Re-gierung – wie immer sie nach dem 6. November ausse-hen mag – dafür einzusetzen, dass die Todesstrafe inallen US-amerikanischen Bundesstaaten abgeschafftwird, und darauf zu drängen, das alle zum Tode Verur-teilten begnadigt werden. Außerdem fordere ich die Bun-desregierung dazu auf, in bilateralen Gesprächen mitallen Ländern, die den Internationalen Pakt über bür-gerliche und politische Rechte noch nicht ratifiziert ha-ben, für eine schnelle Ratifizierung zu werben. Ein wei-terer wichtiger Schritt wäre wegen der VorbildfunktionEuropas allerdings auch, wenn auch Polen als letztesMitglied der EU das Protokoll Nr. 13 zur EuropäischenMenschenrechtskonvention endlich verabschiedenwürde.
Wir befassen uns heute in erster Beratung mit einemAntrag der Linken zum Fall von Mumia Abu-Jamal. Zu-nächst möchte ich betonen, dass die FDP die Todes-strafe unter allen Umständen ablehnt, und zwar völligunabhängig von der Frage der Schuld oder Unschuldder dazu Verurteilten. Ich denke, alle Fraktionen diesesHauses sind sich in diesem Punkt einig. Die Todesstrafeist mit der Würde des Menschen unvereinbar, sie verletztdas unveräußerliche Grundrecht auf Leben. Sie ist durchnichts zu rechtfertigen. Weder hat sie eine abschre-ckende Wirkung bei der Verbrechensbekämpfung, nochkann sie aus dem Motiv der Sühne oder der Gerechtig-keit heraus begründet werden. Darum ist die weltweiteÄchtung und Abschaffung der Todesstrafe ein erklärtesZiel liberaler Menschenrechtspolitik und ein Arbeits-schwerpunkt dieser Bundesregierung. Schon unserKoalitionsvertrag hält dieses Ziel auf Seite 126 schrift-lich fest, und wir verfolgen diesbezüglich eine aktivePolitik. Damit wollen wir grundsätzlich auf diese Praxisin einzelnen Ländern Einfluss nehmen, um auf Ausset-zung und Abschaffung der Todesstrafe hinzuwirken. Zudiesen Ländern gehören leider auch die USA, mit denenwir jedoch grundsätzlich sehr eng und freundschaftlichverbunden sind. Die FDP-Bundestagsfraktion erhebtdaher die Stimme gegenüber sämtlichen Staaten, welchedie Todesstrafe vollstrecken, seien es nun demokratischeStaaten wie die USA oder autoritäre Staaten wie China,Iran oder Belarus.Selbst wenn sie wie im vorliegenden Fall von MumiaAbu-Jamal letztendlich nicht vollstreckt wird, so istbereits die Verhängung der Todesstrafe unmenschlich,wenn wir uns vergegenwärtigen, was schon allein dieVerurteilung zum Tode bei den betroffenen Menschen anLeid und Existenzangst verursacht. So auch im Fall vonMumia Abu-Jamal, der wegen Polizistenmord 1982 zumTode verurteilt wurde. Fast 30 Jahre beschäftigte derFall die Justiz, bis die Staatsanwaltschaft die Forderungnach der Todesstrafe im Dezember 2011 endlich fallenließ. Dies war ein überfälliger Schritt, der weltweit be-grüßt wurde.Ihr nun vorliegender Antrag, liebe Kolleginnen undKollegen der Linken, geht jedoch einen Schritt weiterund damit zu weit. Nicht nur fordern Sie darin die Bun-desregierung unnötigerweise auf, etwas zu tun, was siebereits umsetzt, nämlich die weltweite Ächtung undAbschaffung der Todesstrafe einzufordern und aktiv da-für einzutreten. Unter Punkt 2 fordern Sie außerdem dieBundesregierung auf, sich gegenüber der US-Regierungfür die Freilassung von Mumia Abu-Jamal einzusetzen.Die FDP-Bundestagsfraktion teilt die Einschätzung,dass die Verurteilung von Mumia Abu-Jamal den rechts-staatlichen Erwartungen, die wir an die USA stellen,nicht voll entsprochen hat. Namhafte und unabhängigeMenschenrechtsorganisationen wie Human RightsWatch und Amnesty International hatten wiederholtdarauf hingewiesen, dass juristische Standards in Bezugauf faire Verfahren während seines Prozesses nicht ein-gehalten wurden. Natürlich ist das Justizsystem der USAin der Pflicht, dafür zu sorgen, dass alle Angeklagtennach rechtsstaatlichen Grundsätzen und frei von jegli-cher Diskriminierung behandelt werden. Als Freund derUSA ist es auch unsere Pflicht, unsere amerikanischenPartner bei gegebenem Anlass darauf hinzuweisen.Als Bundestagsabgeordnete ist es von hier aus jedochnicht möglich, eine Entscheidung anstelle des Justiz-systems der USA über die Schuld oder Unschuld vonMumia Abu-Jamal zu treffen. Ich möchte die zustän-digen Behörden der USA jedoch auffordern, die seitensvieler Nichtregierungsorganisationen bestehendenZweifel am rechtsstaatlichen Verfahren ernst zu nehmenund auszuräumen.Ich möchte die Gelegenheit auch nutzen, daraufhinzuweisen, dass dank breiten zivilgesellschaftlichenEngagements die Todesstrafe in den USA auf demRückzug ist. In den vergangenen fünf Jahren haben vierUS-Bundesstaaten die Todesstrafe abgeschafft, zuletztConnecticut Ende April dieses Jahres; dem waren Ore-Zu Protokoll gegebene Reden
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24038 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Pascal Kober
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gon und Illinois vorausgegangen. Im November werdendie Bürger Kaliforniens in einer Volksabstimmung ent-scheiden, ob die Todesstrafe auch in dem bevölkerungs-reichsten US-Bundesstaat abgeschafft werden soll. Ichhoffe inständig, dass sie dem Beispiel der genanntenStaaten folgen, und werde die Abschaffung der Todes-strafe im Gespräch mit unseren amerikanischen Part-nern weiter mit Nachdruck thematisieren.
Seit fast 30 Jahren setzen sich weltweit viele Zehntau-sende Menschen für das Leben von Mumia Abu-Jamalein. Immer wieder war sein Hinrichtungstermin geplant,konnte aber durch die bewundernswerte weltweite Soli-darität verhindert werden. Der Einsatz für Mumia Abu-Jamal in der weltweiten Solidaritätsbewegung ist immerauch ein Kampf für Gerechtigkeit und gegen die Todes-strafe. Tausende von Institutionen, Organisationen undEinzelpersonen haben sich für das Leben von MumiaAbu-Jamal und gegen die Todesstrafe eingesetzt. Ihnenallen gilt unser Respekt und Dank.2003 wurde Mumia Abu-Jamal in Paris zum Ehren-bürger ernannt. Angela Davis, selbst eine prominenteehemalige politische Gefangene in den USA, hatte stell-vertretend für Mumia Abu-Jamal die Auszeichnung inParis entgegengenommen. Erst vor wenigen Tagen hatdie französische Stadt Bobigny eine Straße nach MumiaAbu-Jamal benannt. Dies sind Beispiele, wie auch Kom-munen und Parlamente ihre Solidarität zeigen können.Ich hoffe, dass auch in Deutschland viele Städte undKommunen diesem Beispiel folgen.Ein wichtiger Schritt in Deutschland waren der Be-schluss der Bremischen Bürgerschaft „Einsatz für dieAbschaffung der Todesstrafe und ihrer Vollstreckung“und ihre Solidarität mit der bundesweiten Kampagne zurAbwendung der Vollstreckung des Todesurteils anMumia Abu-Jamal. Einen solchen Beschluss hätten wiruns auch hier im Deutschen Bundestag gewünscht. Eswar jedoch auch in der Zeit von Rot-Grün nicht möglich,einen solchen Beschluss zu fassen, da sich auch die rot-grüne Bundesregierung einem solchen Signal verwei-gert hat.Jetzt ist Mumia Abu-Jamal nach 30 Jahren endlichaus der Todeszelle in den „normalen Vollzug“ verlegtworden. Mit seiner Verlegung hat Mumia Abu-Jamalendlich die Möglichkeit, seine Unschuld zu beweisen,ohne mit einer Hinrichtung rechnen zu müssen. Dies istein wichtiger Schritt. Trotzdem bleiben wir bei unsereForderung: „Lasst Mumia Abu-Jamal endlich frei!“Wir bitten alle Fraktionen im Deutschen Bundestag,unseren Antrag zu unterstützen, damit diese Forderungendlich auch von der Bundesregierung gegenüber denUSA vorgetragen wird.Durch seine aufrechte Haltung und seinen immer-währenden Einsatz gegen die Todesstrafe ist MumiaAbu-Jamal zum Sinnbild für den Kampf gegen dieTodesstrafe geworden. Für viele Menschen wurde erVorbild und Hoffnung zugleich. Auch die Fraktion DieLinke hat seinen Kampf gegen die Todesstrafe seit mehrals 20 Jahren aktiv unterstützt und sich in vielen Anträ-gen hier im Deutschen Bundestag für seine Freilassungeingesetzt.Die Todesstrafe ist eine barbarische Strafe, die mithumanitären und aufklärerischen Grundüberzeugungenin keiner Weise vereinbar ist. Staaten nehmen sich dasRecht, Menschen legal zu töten, und negieren damit dasindividuelle Menschenrecht auf Leben. Staaten, die dieTodesstrafe noch immer praktizieren, können nicht alsmoderne Rechtsstaaten angesehen werden. Die Todes-strafe ist eine Siegerjustiz, die auf Rache aufbaut. Racheals Grundmotiv von juristischen Entscheidungen ist je-doch mit einem modernen Rechtsstaat nicht vereinbar.Die Fraktion Die Linke wird ihren Einsatz gegen dieTodesstrafe so lange fortsetzen, bis diese weltweit ge-ächtet und verboten ist. Als Fraktion haben wir immerdie Anträge gegen die Todesstrafe in China, im Iranoder in anderen Staaten begrüßt und unterstützt, selbstwenn wir bei interfraktionellen Anträgen ausgegrenztwurden. Umso unverständlicher ist die Tatsache, dassdie Regierungsfraktionen, aber auch die SPD gegen dieAnträge der Fraktion Die Linke, die gegen die Todes-strafe in den USA gerichtet waren, gestimmt haben. Esmacht die menschenrechtspolitische Arbeit der anderenFraktionen nicht glaubwürdig, wenn sie bei ihrem „Ver-bündeten“ USA keine klaren Worte gegen die Todes-strafe finden, aber bei Staaten wie Iran oder Chinaschon. Die Fraktion Die Linke lehnt die Todesstrafe ab,gleich in welchem Land sie verhängt wird. Die gleicheKlarheit wünschen wir uns auch von den anderen Frak-tionen.In den Todestrakten der USA sitzen in der Regel keineReichen, sondern die Armen, Ausgegrenzten und Opferdes ungerechten rassistisch geprägten Justizsystems derUSA. Fast die Hälfte sind Afroamerikaner. Dazu kom-men überdurchschnittlich viele Angehörige anderer eth-nischer Minderheiten. Weiße US-Amerikaner werden inden USA viel seltener zum Tode verurteilt. Das liegtnicht zuletzt daran, dass sie aufgrund der Geschichtevon Sklaverei und Kolonialismus in der Mehrheit übermehr materiellen Wohlstand verfügen und daher häufigin der Lage sind, eine angemessene Verteidigung vorGericht zu organisieren. Aber auch in den USA wird derWiderstand gegen die Todesstrafe immer stärker. VieleMenschen verstehen die Zusammenhänge zwischen Ras-sismus und dieser Form der Klassenjustiz.Mumia Abu-Jamal hat diese Tatsachen als Journalistimmer klar benannt. Daher wird er von vielen auch als„Stimme der Unterdrückten“ bezeichnet. Er sprichtnicht nur für Gefangene oder für die Marginalisierten inden USA, sondern für uns alle, die gegen die Todesstrafekämpfen. Die Forderungen von Mumia Abu-Jamalwerden von vielen verstanden und weitergetragen. Siemotivieren Menschen in vielen Ländern der Welt, die be-stehenden Verhältnisse zu hinterfragen und kämpferischdazu beizutragen, diese Verhältnisse zu ändern. MumiaAbu-Jamal ist ein Symbol für den Kampf um Gerechtig-keit und gegen eine rassistisch motivierte Politik gegenMinderheiten.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24039
Annette Groth
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In unserem Antrag fordern wir die weltweite Ächtungund Abschaffung der Todesstrafe. Wir fordern dieBundesregierung auf, sich nachdrücklich gegenüber derRegierung der USA für die Freilassung von Mumia Abu-Jamal einzusetzen. Dies wollen wir mit einem Angebotan die USA verbinden, Mumia Abu-Jamal in Deutsch-land Aufnahme zu gewähren. Mumia Abu-Jamal sitztseit 30 Jahren unschuldig im Gefängnis. Jetzt ist es ander Zeit, dass er endlich in Freiheit leben kann. Bitteunterstützen Sie dieses Anliegen.
Seitdem ich das letzte Mal im Bundestag eine Rede
zum Thema Todesstrafe gehalten habe, sind eineinhalb
Jahre vergangen. Heute stelle ich mit Bedauern fest,
dass sich die Notwendigkeit, sich mit diesem Thema zu
befassen, seitdem keineswegs verringert hat. Nach wie
vor gilt es für Deutschland, sich auf bilateraler Ebene,
auf der Ebene der Europäischen Union und auf der
Ebene der Vereinten Nationen mit größten Anstrengun-
gen für die weltweite Abschaffung der Todesstrafe einzu-
setzen. In diesem Sinne stimmt meine Fraktion dem An-
trag der Linken zu.
Vor ein paar Tagen konnte man in der Presse einen
von Guido Westerwelle und anderen europäischen Au-
ßenministern verfassten Artikel lesen, der sich ebenfalls
mit dem Thema befasst. Darin ist von ermutigenden
Zahlen die Rede: In den vergangenen 20 Jahren hätten
über 50 Staaten der Todesstrafe „den Rücken gekehrt“.
Ich freue mich über jeden Staat mehr, der dies tut; je-
doch gibt es auch andere Zahlen: Im Jahr 2011 wurden
mindestens 680 Personen hingerichtet, während es im
Jahr 2010 noch 527 waren; des Weiteren wurden annä-
hernd 2 000 Todesurteile ausgesprochen, und mehr als
18 000 Menschen warteten auf die Vollstreckung ihres
Todesurteils. Diese Zahlen sind eher ernüchternd als
ermutigend. Unterm Strich zeigen sie nämlich zwei
Tendenzen. Die positive Tendenz wird in Herrn
Westerwelles Artikel hervorgehoben: Immer mehr Staa-
ten schaffen die Todesstrafe ab. Die negative ist die, die
meiner Meinung weitaus mehr ins Gewicht fällt: Die
Zahl der Hingerichteten nimmt zu.
Jede Person, die durch die Todesstrafe ihr Leben ver-
liert, erinnert uns daran, dass es der Menschheit seit
Hunderten von Jahren nicht gelungen ist, diesen men-
schenverachtenden Akt des Strafvollzugs abzuschaffen.
Die Todesstrafe gehört zu den ältesten Strafmaßnahmen
der Menschheit und scheint leider jede Gesellschafts-
form, auch wenn sie sich für noch so aufgeklärt hält, zu
überleben. Wie das Beispiel einiger Bundesstaaten in
den USA zeigt, gilt das auch für die Demokratie. Und ein
Blick auf China, das weltweit die meisten Todesurteile
vollstreckt, reicht, um zu erkennen, dass es sich mit dem
Kommunismus genauso verhält.
Aber ganz gleich, von welchem Land oder welcher
Staatsform gesprochen wird – was ihnen allen gemein-
sam ist, ist, dass die Verantwortlichen meinen, dass sie
andere Menschen aufgrund eines begangenen Verbre-
chens mit dem Tod bestrafen müssten, dass Personen,
die gegen Gesetze und Sittlichkeit verstoßen haben, das
Recht verlieren, weiterzuleben. Nein! Kein Staat hat das
Recht, über Leben oder Tod seiner Bürger zu entschei-
den. Das Recht auf Leben erwirbt jeder Mensch mit der
Geburt. Niemand darf es ihm nehmen, egal was er oder
sie getan hat.
Diese Universalität des Rechts auf Leben gebietet es
jedem politischen Akteur, jeder Regierung, auch der
Bundesregierung, sich gegenüber allen Staaten, in de-
nen die Todesstrafe praktiziert wird, mit der gleichen
Intensität für deren Abschaffung einzusetzen. Wirt-
schaftliche oder machtpolitische Interessen sollten dem
Engagement für Menschenrechte und Menschenwürde
nicht im Wege stehen. Länder wie Deutschland verlieren
ihr Gesicht, wenn ihre Regierungen bei Gesprächen mit
den USA oder China nicht immer wieder und bei jeder
Gelegenheit ihren Standpunkt und ihre menschenrechtli-
chen Errungenschaften betonen, nämlich den unbeding-
ten Schutz der menschlichen Würde und des Lebens. Ge-
rade stolze Nationen wie die USA und China, die auf
Gesichtswahrung großen Wert legen, sollten für dieses
Interesse Verständnis haben.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/8916 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 33 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe zu dem Antrag
der Abgeordneten Katrin Werner, Annette Groth,
Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
Menschenrechte und Demokratie in den Staa-
ten des Südkaukasus fördern
– Drucksachen 17/7645, 17/8681 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Steinbach
Ullrich Meßmer
Marina Schuster
Katrin Werner
Volker Beck
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
„Menschenrechte und Demokratie in den Staaten desSüdkaukasus fördern“, so lautet der Titel des Antrags,den wir heute abschließend beraten. Wie unterschiedlichdas Verständnis dessen ist, was unter einer solchenÜberschrift gefasst werden kann, wird klar, wenn mandiesen Antrag liest. Den Verfassern rate ich, die ideolo-gische Brille einmal beiseite zu legen, das klärt denBlick.So wird behauptet, es erfolgte mithilfe der EU-Aktionspläne der Europäischen Nachbarschaftpolitik
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24040 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Erika Steinbach
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eine Unterordnung der Menschenrechte unter einen neo-liberalen Wirtschaftsumbau mit der Folge der Zementie-rung von Massenarmut. Mit einer solchen Aussage leitendie Verfasser ihren Antrag ein.Das Gegenteil ist der Fall. Mit dem Projekt der Östli-chen Partnerschaft wird das Hauptziel verfolgt, die EUund die Partnerländer unter dem Dach der EuropäischenNachbarschaftspolitik politisch und wirtschaftlich einan-der anzunähern. Beziehungen sollen in den BereichenPolitik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur intensiviertwerden. Es geht auch darum, Kontakte zwischen denMenschen in der EU und den Partnerländern zu fördern.Das ist für die Länder, denen keine Beitrittsperspek-tive in die EU eröffnet wird, ein wichtiges Projekt. Dennhier entsteht durch Austausch eine Annäherung an euro-päische Werte. Dabei spielen die Menschenrechte einewesentliche Rolle. Der Anstoß politischer Reformen indiesen Ländern, die dringend notwendig sind, rangiertweit vor wirtschaftlicher Zusammenarbeit zum Beispielim Bereich der Energiewirtschaft. Die EU ist der wich-tigste Handelspartner für die drei Südkaukasus-Staaten.Das steht dem Engagement der EU im Bereich der Men-schenrechte in der Region nicht entgegen, sondern beför-dert es.Dieser Tage wurde der Europäischen Union der Frie-densnobelpreis für das Jahr 2012 verliehen. Das Nobel-preiskomitee begründete seine Entscheidung mit demBeitrag der Europäischen Union zu Frieden, Verständi-gung, Demokratie und Menschenrechten in den vergan-genen 60 Jahren. Dieser Beitrag ist nicht hoch genug zuschätzen.So enthält auch der Aktionsplan, der im Rahmen derEuropäischen Nachbarschaftspolitik mit Aserbaidschanim Jahr 2006 vereinbart wurde, wichtige Reformforde-rungen in den Bereichen Justiz und Verwaltung, Bürger-rechte und demokratische Standards.Seit dem Ende der Sowjetunion und den nachfolgen-den staatlichen Unabhängigkeiten vor 20 Jahren habenArmenien, Aserbaidschan und Georgien Entwicklungendurchlaufen, die von innenpolitischen, sozialen und wirt-schaftlichen Umbrüchen gekennzeichnet waren. Kriegeund Vertreibungen großer Bevölkerungsgruppen zähltendazu. Es ist dringend notwendig, die Menschenrechts-lage in den drei Südkaukasus-Staaten zu verbessern. Ge-rade weil die menschenrechtsverachtende Zeit vor derUnabhängigkeit immer noch nachwirkt, ist das soschwer. Im vorliegenden Antrag werden jedoch Ursacheund Wirkung verwechselt.Sie erheben gern und immer wieder die Forderung,die Bundesregierung müsse die wirtschaftlichen, sozia-len und kulturellen Menschenrechte den bürgerlichenund politischen Menschenrechten gleichstellen. DieWiener Weltkonferenz für Menschenrechte bekräftigte1993, dass die WSK-Rechte untrennbarer und gleichran-giger Teil der allgemeinen Menschenrechte sind und ineinem unauflöslichen Zusammenhang mit den bürgerli-chen und politischen Rechten stehen. Die Bundesregie-rung bekennt sich zur Gleichrangigkeit sowie zur Inter-dependenz aller Menschenrechte. Deshalb ist dieMenschenrechtspolitik Deutschlands in seiner Außen-und Entwicklungspolitik darauf ausgerichtet, auch denWSK-Rechten zur Umsetzung zu verhelfen. Tenor des An-trags ist jedoch, die WSK-Rechte den bürgerlichen undpolitischen Rechten voranzustellen. Diesem Ansinnenwiderspreche ich vehement.Die Europäische Union nutzt das Instrument des Men-schenrechtsdialogs mit ihren Partnerländern Armenienund Georgien. Die Bundesregierung thematisiert dieMenschenrechtslage in bilateralen Gesprächen mit allendrei Südkaukasus-Staaten regelmäßig und mahnt die Ein-haltung der entsprechenden internationalen Verpflich-tungen an. Flankiert wird dies durch die Unterstützung imRahmen der Entwicklungszusammenarbeit im Schwer-punktprogramm „Demokratie, Kommunalentwicklungund Rechtsstaat“ durch die Rechts- und Justizberatung inden drei Südkaukasus-Staaten.Menschenrechte und Demokratie in den Staaten desSüdkaukasus fördern Deutschland und die EuropäischeUnion bereits vielfältig. Den vorliegenden Antrag lehnenwir ab, da er in bekannter Tradition der Verfasser ein un-realistisches Bild zeichnet und unterstellt, dass dem nichtso sei.
Die Staaten des Südkaukasus, Georgien, Armenienund Aserbaidschan, haben seit ihrer Unabhängigkeit1991 schwierige Prozesse im Zuge der Konsolidierungihrer Staatlichkeit durchlaufen. Zwischenstaatliche Aus-einandersetzungen und Nationalitätenkonflikte spieltenhierbei ebenso eine Rolle wie wirtschaftliche Not,Flüchtlingselend und innenpolitische Instabilität. Undauch wenn alle drei Länder mittlerweile ihre Staatlich-keit konsolidiert haben und Mitglied im Europarat undPartnerländer der Europäischen Nachbarschaftsinitia-tive geworden sind, ist es richtig, sich auch weiterhin in-tensiv mit diesen Länder zu beschäftigen und Hilfe beider Weiterentwicklung von Demokratie und Menschen-rechten anzubieten. Denn nach wie vor ist die Men-schenrechtslage in allen drei Ländern problematisch.Insofern ist der Antrag zu begrüßen.Lassen Sie uns die einzelnen Länder ein wenig ge-nauer betrachten. In Armenien harrt die gewaltsameNiederschlagung der Massenproteste gegen die umstrit-tene Präsidentenwahl 2008 weiterhin der Aufklärung.Der regierungskritische Sender „Gala TV“ hat unlängstseine Sendelizenz verloren. Auch wird das Recht aufKriegsdienstverweigerung nicht eingehalten, obwohl esin der Verfassung verankert ist. Besonders die Situationder WSK-Rechte hat sich in Armenien verschärft. 34Prozent der armenischen Bevölkerung leben in Armut,weitere 20 Prozent gelten als unmittelbar armutsgefähr-det. Ein weiteres gravierendes Problem stellt die ge-schlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen dar. Häusli-che Gewalt gegen Frauen ist nach wie vor starkverbreitet, wobei es für betroffene Frauen kaum Schutz-räume gibt.In Georgien hat sich die Menschenrechtslage nachdem Kaukasuskrieg 2008 weiter verschlechtert. Auchhier gibt es bislang keine Aufklärung zu der Gewaltan-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24041
Ullrich Meßmer
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wendung durch Sicherheitskräfte während der Protestegegen Präsident Saakaschwili. Auch die Aufklärungmöglicher Verstöße gegen das Kriegsvölkerrecht wäh-rend des Kaukasuskrieges ist bislang unterblieben.Umso mehr erfreut es, dass in Georgien mit den Präsi-dentschaftswahlen 2012 ein demokratischer Wechsel ander Spitze geglückt scheint: Der HerausfordererSaakaschwilis, der Milliardär Iwanischwili, hat die Prä-sidentschaftswahlen vom Oktober 2012 nicht nur klarfür sich entschieden, sondern er wurde auch durch denunterlegenen amtierenden Präsidenten anerkannt, derdamit gleichzeitig seine Niederlage einräumte. Der neuePräsident sieht sich allerdings großen Erwartungen undHerausforderungen gegenüber. Das Land benötigt drin-gend Sozialprogramme, besonders die medizinische Ver-sorgung muss verbessert werden. Auch die Versorgungder Bevölkerung, von der 40 Prozent in Armut lebt, giltals große und entscheidende Herausforderung für denneuen Präsidenten. Dabei gilt es auch die besondersschlechte Situation der Binnenflüchtlinge im Auge zu be-halten. Des Weiteren müssen der Minderheitenschutzverbessert und die Korruptionsbekämpfung vorange-bracht werden. Auch die Medienfreiheit muss weiter ver-bessert werden, damit regierungskritische Journalistennicht weiter Repressalien oder wirtschaftlichen Schika-nen ausgesetzt werden.In Aserbaidschan bleibt vor allem die Lage bei denbürgerlichen und politischen Menschenrechten weiterangespannt. Noch immer werden Demonstrationen derOpposition in der Hauptstadt Baku verboten, werden re-gierungskritische Medien stark eingeschränkt und regie-rungskritische Journalisten und Blogger verfolgt undmit Haftstrafen bedroht. Daneben ist die Korruptionweit verbreitet. Von den 200 000 Kriegsflüchtlingen ausArmenien und den 800 000 Binnenvertriebenen alsFolge des armenisch-aserbaidschanischen Konflikts umBerg-Karabach leben noch etwa 20 Prozent in unzurei-chenden Wohnverhältnissen und es gibt insgesamt Pro-bleme mit ihrer Integration. Positiv lässt sich die Tole-ranz gegenüber Minderheiten und die religiöse Toleranzhervorheben. Anders als in Armenien und Georgien sindErfolge bei der Armutsbekämpfung in Aserbaidschan er-kennbar: Der Armutsanteil konnte von knapp 50 Prozent2001 auf nunmehr 9 Prozent gesenkt werden. Die wirt-schaftliche Dynamik des Landes, die vor allem von derErdöl- und Gasindustrie getragen wird, machte Sozial-programme möglich, die zusammen mit staatlicher Um-verteilungspolitik den Armutsanteil senken konnten.Dies ist – auch im Sinne der WSK-Rechte – zu begrüßen.Es darf jedoch nicht zu dem Schluss führen, dass dieMenschenrechtslage allein dadurch in Aserbaidschanum ein Vielfaches besser sei als in den anderen Länderndes Südkaukasus. Gerade mit Blick auf die bürgerlichenund politischen Rechte ist die Lage in Aserbaidschan si-cherlich schlechter als in Georgien, wo zum ersten MalWahlen nach demokratischen Standards stattgefundenund damit zu einem demokratisch legitimierten Wechselan der Staatsspitze geführt haben. Auch wäre derSchluss falsch, die WSK-Rechte höher als die bürgerli-chen und politischen Rechte anzusetzen. Ebenso ist esfalsch, die bürgerlichen und politischen den WSK-Rech-ten vorzuziehen. Menschenrechte können immer nur inihrer Gesamtheit verwirklicht werden, da sie einanderunmittelbar bedingen und unmittelbar voneinander ab-hängen.Die Darstellung der Situation in Aserbaidschan istdaher im Antrag eindeutig zu positiv und teilweisefalsch, auch wenn – und das möchte ich hier ausdrück-lich betonen – eine Verminderung von Armut natürlichimmer zu begrüßen ist. Ein ausschließliches Fokussierenauf staatliche Umverteilung und Sozialprogramme unddie generelle Absage an Privatisierungen helfen nicht inallen Situationen weiter. Häufig benötigen Länder zurVerbesserung der Durchsetzung der WSK-Rechte einBündel von Maßnahmen, und hierbei können Privat-investitionen und private Initiativen durchaus ihren Bei-trag leisten. In diesem Sinne ist der Antrag, der teilweiserichtige Analysen und Forderungen enthält, nicht mitzu-tragen. Die Unterstützung der einzelnen Länder selberist aber gleichwohl selbstverständlich wie auch politischgeboten.
Es ist unbestreitbar, dass wir uns für eine Förderungder Menschenrechte und der Demokratie in den Staatendes Südkaukasus einsetzen müssen. Insofern kann ichdem Titel – allerdings nur dem Titel – des vorliegendenAntrags der Linken zustimmen. Inhaltlich zeigt sich je-doch eine Perspektive von Menschenrechten, die nichtfalscher sein könnte. Sie ist schlicht selektiv.Die Linke hat bereits an anderer Stelle – ich erinnerean die Debatten zu Kuba – ihre Auffassung gezeigt, diewirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschen-rechte gegen bürgerliche und politische Rechte auszu-spielen. Dieser Ansatz ist falsch. Wir unterscheiden ebennicht nach Wertigkeit unterschiedlicher Menschenrechts-formen. Schutz und Wahrung aller Menschenrechte sindund bleiben Priorität der Bundesregierung. Dabei sinddie WSK-Rechte untrennbarer und gleichrangiger Teilder Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte undstehen in einem unauflöslichen Zusammenhang mit denbürgerlichen und politischen Menschenrechten.Der Antrag führt an, dass sich die Situation der WSK-Rechte im Südkaukasus aufgrund von Privatisierungs-politik verschlechtert habe. Diese Annahme stellt Ursacheund Wirkung in einen völlig falschen Zusammenhang.Weiterhin fordert die Linke die Bundesregierung auf,einer weiteren Privatisierung in den Ländern des Süd-kaukasus vorzubeugen, weil die Linken ihr Mantra wie-derholen, jede Privatisierung sei des Teufels. Das istfalsch, und es widerspricht nicht nur dem liberalen Geistder Freiheit, für den wir als FDP-Fraktion engagierteintreten, sondern auch den Grundsätzen von wirt-schaftlichem Freihandel, auf die sich zum Beispiel dieEuropäische Union gründet.In dem Antrag wird außerdem übersehen, dass einepositive wirtschaftliche Entwicklung und eine positiveMenschenrechtsentwicklung, gerade der WSK-Rechte,häufig einhergehen. Außerdem fehlt die historische Ein-bettung komplett: Der schlechte Zustand der WSK-Rechte im Südkaukasus ist natürlich auch auf den zumZu Protokoll gegebene Reden
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24042 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Marina Schuster
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Teil desolaten Zustand der Wirtschaft zurückzuführen.Dieser ergibt sich aber auch aus den postsowjetischenRahmenbedingungen und den Strukturen, die damalsaufgebaut wurden.Für besonders gefährlich halte ich den selektivenBlick des Antrags auf Aserbaidschan. Liebe Kollegenund Kolleginnen von der Linken, bis heute ist mir nichtklar, warum Sie die interfraktionelle Erklärung desMenschenrechtsauschusses zu Aserbaidschan nicht mit-getragen haben. Schlimmer, in Ihrem Antrag loben Siedie Innenpolitik des Landes. In keinem Wort wird er-wähnt, dass Aserbaidschan bis heute seinen Verpflich-tungen aus der Europäischen Menschrechtskonventionnicht voll nachkommt. Das Auftreten Aserbaidschans inStraßburg hat eindrücklich bewiesen, dass wir auch inZukunft nicht auf große Veränderungen und demokrati-sche Fortschritte hoffen dürfen.Voraussetzung für den Beitritt Aserbaidschans warunter anderem die Freilassung von politischen Gefange-nen. Diese Verpflichtung hat das Land bisher nicht er-füllt. Trotz mehrmaliger Aufforderungen hat sich Aser-baidschan geweigert, dem Sonderberichterstatter beider Parlamentarischen Versammlung des Europarates,Christoph Strässer, ein Visum zur Einreise nach Aser-baidschan auszustellen. Nachdem vor wenigen Wochenentsprechend einem aus Baku geäußerten Wunsch dieBeschränkung des Mandates allein auf politische Gefan-gene in Aserbaidschan fallen gelassen wurde, hat Aser-baidschan dem Sonderberichterstatter für politische Ge-fangene dennoch kein Visum ausgestellt, sodass eineReise abermals abgesagt werden musste. Das VerhaltenAserbaidschans ist nicht akzeptabel.Lassen Sie mich noch auf einen letzten Punkt einge-hen: Der Antrag versäumt eine grundsätzliche politischeund sicherheitspolitische Einbettung. Nach wie vor gibtes schwelende Konflikte zwischen den Staaten des Süd-kaukasus. Auch das erlebe ich immer wieder in der Par-lamentarischen Versammlung des Europarates. Natür-lich spielt der Berg-Karabach-Konflikt hier eine großeRolle. Sicherheitspolitische Aspekte gehören aber zurDiskussion der Entwicklung der betreffenden Länderdazu. Und eine wichtige Prämisse der EU-Nachbar-schaftspolitik ist ja gerade die Konfliktprävention. Auchhierauf geht der vorliegende Antrag nicht ein.Selbstverständlich wird sich die Bundesregierungauch weiterhin energisch für eine Förderung der Men-schenrechte in Armenien, Aserbaidschan und Georgieneinsetzen. Der Antrag der Linken ist hierzu jedoch nichtder richtige Ansatz und ist deshalb schlichtweg abzuleh-nen.
Der jüngste Folterskandal in georgischen Gefängnis-sen unterstreicht die Aktualität unseres Antrags. DerMenschenrechtslage in den Staaten des Südkaukasusmuss dringend größere Aufmerksamkeit geschenkt wer-den. Die Bilder und Videos der misshandelten, gefolter-ten, vergewaltigten und gedemütigten Häftlinge habenmich tief erschüttert. Der Folterskandal zeigt exempla-risch, dass die jahrelangen Vorschusslorbeeren desWestens für die vermeintlichen Demokratiefortschrittein Georgien offenbar verfrüht und politisch unzutreffendgewesen sind. Vor allem die deutsche Bundesregierunghat die Menschenrechtsbilanz und den neoautoritärenPolitikstil unter Präsident Saakaschwili stets beschö-nigt, da Georgien der engste Partner der USA, NATOund EU in der Region ist. Das kennen wir schon zurGenüge mit Blick auf die Menschenrechtsdefizite im ei-genen Land und in anderen Ländern mit prowestlichorientierten, autoritären Regimen. Wer sich gegenüberdem Westen kooperativ verhält, wird hofiert, und wersich dazu eine in Widerspruch stehende, eigenständigePolitik leistet, wird häufig sanktioniert. Die Linke wirdnicht müde werden, die Bundesregierung aufzufordern:Beenden Sie endlich ihre Politik der Doppelstandardsbei Menschenrechten!Immerhin – und dies stimmt mich vorsichtig optimis-tisch – ist die Aufarbeitung des Folterskandals in Geor-gien selbst in vollem Gang. Mehrere Minister musstenbereits ihren Hut nehmen und ein Großteil der Gefäng-nisleitungen und des Wachpersonals soll ausgetauschtwerden. Zumindest scheinen die Zeiten, in denen einsolcher Skandal ohne nennenswerte Folgen blieb, end-gültig vorüber zu sein. Hierzu gehört auch der von dengeorgischen Wählerinnen und Wählern herbeigeführtepolitische Wechsel bei den Parlamentswahlen am 1. Ok-tober 2012. Sofern der friedliche Machtwechsel gelingt,kann dies als starkes Signal für die Demokratie mitüberregionaler Bedeutung verstanden werden. Auchwenn zuletzt der Folterskandal viel Wasser auf die Müh-len des siegreichen Oppositionsbündnisses „Georgi-scher Traum“ gelenkt hat, bleibt die soziale Frage dasgrößte innenpolitische Problem Georgiens. Über dieHälfte der georgischen Bevölkerung lebt seit der Un-abhängigkeit vor über zwanzig Jahren in Armut.Das bringt mich zu einem wichtigen Punkt in unseremAntrag. Wie in der Beschlussempfehlung des federfüh-renden Ausschusses steht, meinten einige Kolleginnenund Kollegen aus anderen Fraktionen, wir würden inunserem Antrag die WSK-Rechte einseitig in den Vor-dergrund stellen. Dazu kann ich nur sagen: Entwederhaben Sie unseren Antrag nicht richtig gelesen odernicht richtig verstanden. Die Linke fordert in demAntrag die Bundesregierung wörtlich auf, „in der Men-schenrechts-, Entwicklungs- und Außenpolitik Deutsch-lands grundsätzlich den wirtschaftlichen, sozialen undkulturellen Menschenrechten den GLEICHEN Stellen-wert einzuräumen wie den bürgerlichen und politischenMenschenrechten“. Von einer Besserstellung der WSK-Rechte gegenüber den bürgerlichen und politischenRechten kann folglich keine Rede sein. Die jeweiligenRechte ergänzen sich vielmehr gegenseitig und hängenvoneinander ab. Gerade deshalb müssen aber dieAktionspläne der EU-Nachbarschaftspolitik mit denSüdkaukasus-Staaten dringend ergänzt werden, weil siebislang die wirtschaftlichen und sozialen Rechte starkvernachlässigen und sich vornehmlich auf gute Regie-rungsführung, Korruptionsbekämpfung und neolibera-len Wirtschaftsumbau konzentrieren. Es ist jedoch indiesen Ländern, vor allem in Georgien und Armenien,eine stärkere staatliche Sozialpolitik erforderlich, umZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24043
Katrin Werner
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die wirtschaftliche und soziale Situation der Bevölke-rungsmehrheit zu stabilisieren und zu verbessern. WennSie dies ablehnen, dokumentieren sie damit nur, dass Siean der Ideologie des ungehemmten Marktradikalismusfesthalten wollen und dass Ihnen die Lebensbedingun-gen der Bevölkerung egal sind. Das sollten Sie dann andieser Stelle auch ehrlicherweise zugeben.Ähnlich absurd ist die Behauptung, wir würden dieSituation bei den bürgerlichen und politischen Men-schenrechten in Aserbaidschan schönreden. In unseremAntrag steht unmissverständlich, dass in allen drei Süd-kaukasus-Republiken jegliche Formen repressiverGewaltausübung durch die dortigen Regierungen unter-bleiben sollen, freie und faire Wahlen durchgeführt unddie Versammlungs-, Meinungs-, Medien- und Pressefrei-heit uneingeschränkt garantiert werden müssen. Ge-nauso müssen selbstverständlich in allen drei Ländernumgehend alle gewaltlosen politischen Gefangenen frei-gelassen werden. Aserbaidschan bildet dabei keine Aus-nahme.Die Angaben darüber, wie viele politische Gefangenees gibt und nach welchen Kriterien jemand als ein poli-tischer Gefangener gilt, müssen aber stimmen. Ichbedauere es sehr, dass der Europarat in dieser Fragezutiefst gespalten ist. Dass es bei der Zahl von politi-schen Gefangenen erhebliche Unterschiede zwischenden drei Ländern gibt, ist eine Tatsache, die von interna-tionalen Menschenrechtsorganisationen bestätigt wird.Menschenrechtsverletzungen und politische Strafjustizgibt es auch in christlichen Ländern.Ein wichtiger Grund für ausbleibende Fortschrittebei Menschenrechten und Demokratie sind die schwe-lenden Konflikte in der Südkaukasus-Region. Sie dienenden dortigen Regierungen häufig als Rechtfertigungdafür, dass die Verteidigungs- und Abwehrbereitschaftgegen äußere Gegner zunächst wichtiger sei als dieDemokratieentwicklung in den Staaten selbst. DasGegenteil dessen wäre aber richtig: Fortschritte beiDemokratie und Menschenrechten würden die Vertrau-ensbildung zwischen den verfeindeten Konfliktparteienfördern und die Erfolgsaussichten für friedliche Lösun-gen der ethnoterritorialen Konflikte erhöhen. Die inner-staatlichen Konflikte in Georgien um die abtrünnigenProvinzen Abchasien und Südossetien sowie der zwi-schenstaatliche Konflikt Armeniens und Aserbaidschansum Berg-Karabach können nur nach den völkerrechtli-chen Prinzipien der Gewaltfreiheit, der territorialen In-tegrität, der Staatensouveränität und dem innerenSelbstbestimmungsrecht von Minderheiten beigelegtwerden. Das Selbstbestimmungsrecht ist nicht gleichbe-deutend mit einem Anspruch auf einen eigenen Staat.Von den Konfliktparteien ist zu verlangen, dass sie allesunterlassen, was diesbezügliche Spannungen unter ih-nen anheizt und Vertrauen zerstört. Die Glorifizierungvon Mördern als Nationalhelden und die Tötung vonZivilisten durch Heckenschützen, darunter selbst min-derjährige Kinder, sind klarer Ausdruck von fortbeste-hendem Feinddenken, das Versöhnungsfortschritte undFriedenslösungen massiv erschwert.Die Linke fordert die Bundesregierung auf, sich füreine Wiederbelebung des Friedensprozesses im Südkau-kasus einzusetzen und hierfür in den verantwortlichenGremien wie der Minsker Gruppe der OSZE deutlichaktiver mitzuarbeiten und zu diesem Zweck auch engermit Russland zu kooperieren. Zivile Konfliktlösungenwären für die Situation der Menschen und die Demokra-tieentwicklung im Südkaukasus weitaus wichtiger alsneue Freihandelsabkommen mit der EU, von denen nureuropäische Großkonzerne und die politischen Elitenprofitieren. Aus diesem Grund werben wir um Zustim-mung zu unserem Antrag und lehnen die Beschlussemp-fehlung des federführenden Ausschusses ab.
Am 15. Dezember des letzten Jahres hielt ich die ersteRede zum vorliegenden Antrag der Fraktion Die Linke.Meine Kritik an Ihrem Antrag zielte vor allem auf die ne-gative Einschätzung der Europäischen Nachbarschafts-politik in Bezug auf die südkaukasischen Staaten ab, wo-gegen die Lage in Aserbaidschan deutlich zu unkritischdargestellt wurde. Deshalb werden und können wir demAntrag nicht zustimmen.Heute möchte ich vor dem Hintergrund der aktuellenEntwicklungen meine Thesen aus dem Vorjahr überprü-fen. Ich beginne mit Georgien. Meine Fraktion hat in ei-nem eigenen Antrag, Bundestagsdrucksache 17/8778,im Februar 2012 für eine engere Kooperation mit Geor-gien plädiert. Zugleich haben wir aber auch auf die de-mokratischen und menschenrechtlichen Defizite imLand hingewiesen, darunter unter anderem die prekäreLage in den georgischen Gefängnissen. Genau dieseMissstände, dazu noch die dort stattfindende Folter, wa-ren ein entscheidender Grund für die Abwahl der Regie-rungspartei von Präsident Saakaschwili. Deshalb tut dieneue Regierung gut daran, nun – wie angekündigt –glaubwürdige Reformen im Strafvollzug anzugehen. DieWahlen in Georgien haben zu einem Regierungswechselgeführt. Am Mittwoch konstituiert sich das neue Parla-ment, danach wird der Ministerpräsident gewählt. Erst-mals seit der Unabhängigkeit steht Georgien vor derHerausforderung, eine Kohabitation zu gestalten, dasheißt, Präsident und Ministerpräsident gehören unter-schiedlichen Parteien an. Mit der ersten Benennung vonKabinettsposten setzte der künftige MinisterpräsidentIwanischwili positive Signale. Er macht keine Zuge-ständnisse an die nationalkonservativen Kräfte, denener im Wahlkampf an einigen Stellen auf seiner Liste be-dauerlicherweise Unterschlupf geboten hatte. Ebensopositiv hervorzuheben ist, dass sich die zukünftige Re-gierung im Parlament auf eine Dreifraktionenkoalitionstützen wird.Der Wahlgewinner hat mehrfach betont, am Ziel dereuroatlantischen Integration Georgiens festzuhalten.Daran muss man ihn messen. Seine erste Auslandsreiseist nach Washington geplant. Interessant erscheint mirferner, wie genau eine pragmatische Neugestaltung dergeorgisch-russischen Beziehungen aussehen wird. Aufjeden Fall sollte Deutschland diesen Annäherungspro-zess an Russland aktiv unterstützen. Erst nach einer Neu-Zu Protokoll gegebene Reden
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24044 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
Viola von Cramon-Taubadel
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gestaltung der Russland-Politik wird auch wieder Bewe-gung in die festgefahrenen Konflikte um Abchasien undSüdossetien kommen. Einen konstruktiven Beitrag kannhier sicherlich der neue Minister Paata Zakareischwilivon der Republikanischen Partei leisten. Wie kaum einanderer hat er sich seit dem Ausbruch der Konflikte zuBeginn der 1990er-Jahre immer wieder für eine Aussöh-nung eingesetzt und genießt auf beiden Seiten Vertrauen.Deutschland und die EU müssen Georgien mit glaub-würdigen Ansätzen für eine Einbindung der Sezessions-gebiete in die Östliche Partnerschaft zur Seite stehen.Berichte über das tatsächliche Ausmaß der Wahlfäl-schung zugunsten der bisherigen Regierungspartei lie-gen vor. Noch ist allerdings unsicher, wie mit diesenAuswertungen umgegangen wird. Zusammenfassendmuss man konstatieren, dass der Machtwechsel bislangvergleichsweise friedlich verlaufen ist, unter anderemauch weil Saakaschwili bereits vor der Bekanntgabe derEndergebnisse die Niederlage seiner Partei eingeräumthat. Das hat auf jeden Fall Respekt verdient, unabhän-gig davon, welche Motive ausschlaggebend für seineEntscheidung gewesen sein mögen.Kommen wir zu Aserbaidschan. Dieses Land bleibtfür Deutschland ein schwieriger Partner. Wir beschäfti-gen uns seit geraumer Zeit sehr intensiv mit den Verhält-nissen in Baku, und das nicht nur, weil Aserbaidschanals Gewinner im Eurovision Songcontest den Wettbe-werb im eigenen Land austragen durfte. Aufgrund desSongcontests stand Aserbaidschan mehrere Monate langim Licht der Weltöffentlichkeit. Kurzfristig hat das eini-gen Menschen im Land sicherlich geholfen, die mittel-und langfristigen Folgen dürften kaum zu einer verbes-serten Menschenrechtssituation in dem ölreichen Süd-kaukasus-Staat führen. Im Gegenteil. Nach Abreise derinternationalen Journalisten geht das Regime des Präsi-denten Alijew härter denn je gegen Oppositionelle vor.Im Zuge der Vorbereitung für den Wettbewerb ging dieRegierung unter anderem auch resolut gegen Haus-eigentümer vor, Zwangsenteignungen wurden vorge-nommen und Menschen aus ihren Häusern getrieben.Immer härtere Bandagen werden gegenüber der opposi-tionellen Presse angelegt. Die bekannte kritische Jour-nalistin Khadija Ismailowa sah sich sogar einerSchmierkampagne ausgesetzt, weil sie wiederholt überKorruption in großem Stil in Aserbaidschan geschriebenhat. In jedem der größeren Korruptionsfälle war eineBeteiligung des Präsidenten Alijew und seiner Familieauszumachen. Investigativer Journalismus kann in Aser-baidschan tödlich oder im Gefängnis enden. Auf derRangliste der Pressefreiheit 2011 liegt das Land derzeitauf Platz 162 von insgesamt 178 betrachteten Ländern.Von einer Verbesserung im Jahr 2012 ist kaum auszuge-hen. Aus unserer Sicht ist es wichtig, die wenigen un-abhängigen Nichtregierungsorganisationen zu unter-stützen. In diesem Zusammenhang sollte auch darübernachgedacht werden, den aus politischen Gründenzwangsweise exmatrikulierten Studentinnen und Studen-ten schnell und unbürokratisch einen Studienplatz inDeutschland oder in der Europäischen Union anzubie-ten. Ein ähnliches Verfahren ist bislang schon mitZwangsexmatrikulierten aus Belarus üblich. Schutz fürpolitische Oppositionelle sollte ebenso einen Vorrang inder Zusammenarbeit mit Aserbaidschan haben. Bei mei-nem letzten Besuch hörte ich von Oppositionspolitikern,wie insbesondere der Druck auf die eigene Familiewächst. Viele sind diesem nicht gewachsen und habenhäufig den Wunsch, für eine bestimmte Zeit das Land zuverlassen.Ein besonders unschönes Beispiel für die Abschaf-fung der Pressefreiheit ist der staatlich gesteuerte Bank-rott der beiden Oppositionszeitungen „Azadliq“ und„Müsavat“. Mit einem sogenannten Stadtverschöne-rungsprogramm in Baku sorgt die Stadtverwaltung da-für, dass die alten bisherigen Zeitungskioske abgerissenwerden und an gleicher Stelle neue Verkaufsstände ent-stehen. Die Krux besteht jedoch nun darin, dass derEigentümer der neuen Kioske – ein enger Freund desPräsidenten – den Pächtern „empfohlen“ hat, die bei-den einzigen Oppositionszeitungen nicht mehr in dasProgramm aufzunehmen. Damit bricht diesen faktischihre gesamte wirtschaftliche Grundlage weg. Sie könnenbereits jetzt ihre ausstehenden Schulden nicht beglei-chen und müssen Redakteure entlassen. An Werbung undAnzeigen von Unternehmen ist nicht zu denken, denn seitlangem werden aus Angst vor staatlichem Druck keinekommerziellen Anzeigen mehr in Oppositionszeitungengeschaltet. Wenn der Straßenverkauf tatsächlich weg-bricht, ist auch die letzte wirtschaftliche Grundlage ver-loren. Mit diesem Politikstil belastet Aserbaidschan diebilateralen Beziehungen, die auch besonders zur Lösungdes sich verschärfenden Konflikts um Berg-Karabachvon Bedeutung sind.Ich möchte hier nicht lange auf den in Ungarn verur-teilten Mörder eingehen, der überstellt nach Aserbai-dschan trotz eines völkerrechtlichen Vertrags nicht wei-ter inhaftiert, sondern als Held gefeiert und befördertwurde. Ein solches Verhalten Aserbaidschans ist aus un-serer Sicht vollkommen inakzeptabel.In diesem Zusammenhang hat sicherlich auch die ar-menische Seite reagiert, indem sie aus innenpolitischenErwägungen umgehend die diplomatischen Beziehun-gen zu Ungarn abbrach und Teilnehmer aus internatio-nalen Schulungen abberief. Die Bundesregierung sollteauch auf die armenische Seite einwirken, ihre ver-schärfte Kriegsrhetorik zu beenden, die gerade den Ein-druck erweckt, als habe sie nur darauf gewartet, die Es-kalation voranzutreiben. Armenien steht nach wie vor inder Pflicht, seine Truppen aus den besetzten Gebietenrund um Berg-Karabach abzuziehen. Ein erster Schrittin diese Richtung könnte einen Großteil des Konflikt-staus lösen. Stattdessen wird aber der Nationalismusauch von den moderaten Politikern in Armenien weiterbefeuert. Deshalb muss diesem auf beiden Seiten unbe-dingt Einhalt geboten werden. Wenn es zu einer Lösungim Karabach-Konflikt kommen soll, dann sind vor allemKompromissfähigkeit und Vertragstreue gefragt.Die Madrider Prinzipien stellten an dieser Stelle einewichtige Etappe dar. Nun muss die OSZE-Minsk-Gruppeaufpassen, dass die Verhandlungsbereitschaft der betei-ligten Staaten nicht gänzlich versiegt. Derzeit laufen alleZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24045
Viola von Cramon-Taubadel
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internationalen Bemühungen ins Leere, weil die Kon-fliktparteien kein echtes Interesse an einer Kooperationhaben, sie gefangen sind in ihrer jahrelangen Kriegsrhe-torik und jegliche Kompromisse als innenpolitischeSchwäche ausgelegt werden. Das einzige Mittel, daslangfristig helfen wird, sind die Step-step-Maßnahmender zivilen Konfliktlösung. Wir fordern daher die Bun-desregierung auf, diese Maßnahmen im Südkaukasus si-gnifikant zu erhöhen.Auch im Bundestag können wir mit unserem IPS-Pro-gramm einen kleinen Beitrag zur Weiterentwicklung ei-ner demokratischen Kultur leisten. Ich habe im Oktoberjeweils fünf hochqualifizierte und motivierte junge Men-schen aus Georgien und Aserbaidschan für das Prakti-kum im Bundestag ausgewählt. Herr Börnsen wähltedrei Stipendiaten aus Armenien aus. Lassen wir diesejungen Menschen im nächsten Jahr teilhaben an unserenEntscheidungsprozessen, die sie zu Multiplikatoren fürOffenheit und Kompromissfähigkeit in beiden Staatenwerden lassen können.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Menschenrechte und Humanitäre Hilfe empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8681, den
Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/7645
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen, der SPD-Fraktion und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 19. Oktober 2012,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen noch
einen schönen Abend.