Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24047
(A) (C)
(D)(B)
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
* für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
sammlung der NATO
Anlage 2
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Grundgesetzes (Artikel 91 b) (Ta-
gesordnungspunkt 14)
Monika Grütters (CDU/CSU): Heute legt die Bun-
desregierung ihren Entwurf zur Änderung des Grundge-
setzes im Bildungsbereich vor. Lassen Sie uns noch ein-
mal vergegenwärtigen, warum wir über diese Änderung
beraten. Natürlich geht es zum einen darum, neue Mög-
lichkeiten für bildungspolitische Kooperationen zwi-
schen Bund und Ländern zu ermöglichen. Im Zentrum
steht aber heute vielmehr der Ehrgeiz, zukünftig wenigs-
tens nicht wieder hinter das aktuelle Kooperationsniveau
zurückzufallen. Wir sollten in der Debatte nie vergessen,
dass Hochschulpakt, Exzellenzinitiative und Qualitäts-
pakt für die Lehre in der verfassungsrechtlichen Istsitua-
tion nur zeitlich begrenzte Umwege um die grundgesetz-
lichen Kooperationsgrenzen sind. Ob sie einer Klage in
Karlsruhe standhalten würden, ist nicht geklärt, und an
eine einfache, generelle Entfristung ist angesichts der
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Bär, Dorothee CDU/CSU 18.10.2012
Beck (Reutlingen),
Ernst-Reinhard
CDU/CSU 18.10.2012*
Becker, Dirk SPD 18.10.2012
Bender, Birgitt BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
18.10.2012
Brinkmann (Hildesheim),
Bernhard
SPD 18.10.2012
Dagdelen, Sevim DIE LINKE 18.10.2012
Ernst, Klaus DIE LINKE 18.10.2012
Fischbach, Ingrid CDU/CSU 18.10.2012
Funk, Alexander CDU/CSU 18.10.2012
Gerdes, Michael SPD 18.10.2012
Hahn, Florian CDU/CSU 18.10.2012
Dr. Hein, Rosemarie DIE LINKE 18.10.2012
Heinen-Esser, Ursula CDU/CSU 18.10.2012
Hintze, Peter CDU/CSU 18.10.2012
Dr. Kaufmann, Stefan CDU/CSU 18.10.2012
Krichbaum, Gunther CDU/CSU 18.10.2012
Kuhn, Fritz BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
18.10.2012
Lanfermann, Heinz FDP 18.10.2012
Mißfelder, Philipp CDU/CSU 18.10.2012
Möller, Kornelia DIE LINKE 18.10.2012
Nink, Manfred SPD 18.10.2012
Ploetz, Yvonne DIE LINKE 18.10.2012
Rawert, Mechthild SPD 18.10.2012
Remmers, Ingrid DIE LINKE 18.10.2012
Scharfenberg, Elisabeth BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
18.10.2012
Schmidt (Eisleben),
Silvia
SPD 18.10.2012
Dr. Schwanholz, Martin SPD 18.10.2012
Silberhorn, Thomas CDU/CSU 18.10.2012
Simmling, Werner FDP 18.10.2012
Wagenknecht, Sahra DIE LINKE 18.10.2012
Walter-Rosenheimer,
Beate
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
18.10.2012
Weinberg, Harald DIE LINKE 18.10.2012
Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 18.10.2012
Werner, Katrin DIE LINKE 18.10.2012
Winkler, Josef Philip BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
18.10.2012
Ziegler, Dagmar SPD 18.10.2012
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Anlagen
24048 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
(A) (C)
(D)(B)
klaren Vorgaben des Grundgesetzes nicht zu denken.
Bund, Länder und Vertreter aller Parteien haben am Zu-
standekommen dieser Pakte mitgewirkt, weil ihnen be-
wusst war und ist, dass die Länder mit der Herausforde-
rung der doppelten Abiturjahrgänge, mit den Folgen der
Aussetzung der Wehrpflicht und mit der ohnehin gestie-
genen Zahl der Studierwilligen echt überfordert sind. Es
war und bleibt richtig, dass den Herausforderungen einer
wissensbasierten Gesellschaft nur mit einer gesamtstaat-
lichen Antwort begegnet werden kann. Der Hochschul-
pakt ist deshalb ein Ergebnis politischer Vernunft und
Zeichen eines verantwortungsvollen Umgangs mit dem
Zukunftsfeld Bildung, an dem alle politischen Akteure
im Bund und in den Ländern ihren verdienten Anteil ha-
ben.
Heute wissen wir, dass der Hochschulpakt aber auch
ein Signal war, das tief in die Gesellschaft hineingewirkt
hat. Die gemeinsame Anstrengung von Bund und Län-
dern und der Konsens über Parteigrenzen hinweg haben
gerade den jungen Menschen in unserem Land deutlich
gemacht, welche Bedeutung und welcher Wert einer aka-
demischen Ausbildung zukommt. Mehr als 46 Prozent
eines Jahrgangs studieren heute schon. Mittlerweile
kommen jedes Jahr mehr als 550 000 neue Studienan-
fänger an die Universitäten. Das sind gute Nachrichten,
aber auch große Herausforderungen, die über die Aus-
wirkungen von G 8 hinausgehen. Hoffen wir, dass dieser
Trend noch lange anhalten wird!
Aber – das wissen wir hier alle – der Hochschulpakt
als Voraussetzung dieser Erfolge ist endlich. Die zweite
Programmphase läuft 2015 aus, und eine beliebige Ver-
längerung dieses Instrumentes würde die Grenzen eines
unveränderten Grundgesetzes sprengen. Es geht also tat-
sächlich darum, dass wir die Erfolge sichern, die wir in
Bund und Ländern gemeinsam erreicht haben. Nicht nur
wir Politiker, sondern auch die Unis, die dort Beschäftig-
ten und vor allem die Studierenden – wir alle haben viel
zu verlieren, wenn wir es nicht schaffen, uns auf eine
Änderung des Grundgesetzes zu einigen. Diese Einsicht
liegt dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zugrunde,
der heute eingebracht wird. Er beschränkt sich zunächst
darauf, die Weichen für die dauerhafte Sicherung des be-
reits Erreichten zu stellen. In dieser Hinsicht verändert
der Entwurf den Status quo nicht, er macht ihn nur end-
lich verfassungssicher und damit zukunftsfest. Aber lei-
der, leider können manche Kollegen ihrem Oppositions-
reflex nicht widerstehen. Gerade der SPD gehen diese
Änderungen nicht weit genug. Sie will die Kooperati-
onsmöglichkeiten auch auf den Schulbereich ausweiten.
Und in der Tat: Auch und gerade im Schulbereich macht
die fehlende Kooperation große Probleme; das wissen
wir natürlich auch. Ein Kind, dessen Eltern von Berlin
nach Bayern umziehen, leidet, und es verliert nicht sel-
ten ganze Schuljahre dabei. Das ist vollkommen inak-
zeptabel. Wenn wir mit einer Grundgesetzänderung hier
Abhilfe schaffen könnten, wäre ich dazu sofort bereit.
Aber – und das wissen wir und Sie natürlich ebenso gut –
eine solche Regelung wird an den Ländern scheitern, so-
lange sie fürchten, dass die Länder bei einer Mitwirkung
des Bundes im Bereich Bildung den Kernbereich ihrer
Kompetenzen zumindest teilweise einschränken müss-
ten. Wenn wir nicht gemeinsam in der Lage sind, eine
solche Kooperationskultur sensibel zu beschreiben und
gesetzlich zu regeln, sind die Länder zu einer Verfas-
sungsänderung hier zum jetzigen Zeitpunkt nicht bereit.
Wer also das eine ultimativ mit dem anderen einfordert,
verhindert beides. So gelingt weder eine Verbesserung
der Hochschulsituation noch eine bessere Kooperations-
kultur in der Schulbildung.
Das hat die SPD noch nicht verstanden. Ihr Vorschlag
stellt eher ein kleines trojanisches Pferd dar. Wo außen
„Schulbereich“ draufsteht, ist ein kleiner Länderfinanz-
ausgleich drin. Sie glauben doch tatsächlich, die födera-
listischen Probleme im Schulbereich wären dann gelöst,
wenn der Bund Mehrwertsteuerpunkte an die Länder ab-
tritt. Damit wäre das Bildungsproblem aber gerade nicht
gelöst. Eine bedingungslose Zuweisung finanzieller
Mittel wird ja nicht die KMK revolutionieren und das
schaffen, worauf wir seit Jahrzehnten warten: die Bil-
dungssysteme und -leistungen der Länder endlich ver-
gleichbar zu machen. Vielmehr fürchten wir, dass derart
unspezifisch vom Bund an die Länder durchgereichte
Mittel in erster Linie von den Länderfinanzministern zur
Finanzierung der Lehrerpensionen verwendet würden.
Das aber ist sicher nicht der Sinn der Bildungspolitik –
und schon gar nicht der Bildungspolitik des Bundes.
Abgesehen davon muss ein Parlament, ein Haushälter
natürlich eine Mitverantwortung übernehmen können für
die Vergabe der Mittel und ihre Verwendung. Eine sim-
ple Abtretung erheblicher Mittel über Mehrwertsteuer-
punkte bedeutet auch einen Verzicht auf Mitwirkung –
was für ein politisches Ethos steckt dahinter? Einen sol-
chen Umgang mit Steuergeldern kann ich als Abgeord-
nete gegenüber meinen Wählerinnen und Wählern nicht
verantworten – zumal er die Probleme der föderalen Ver-
gleichbarkeit und Mobilität im Schulbereich überhaupt
nicht löst.
Ich bin mir sicher, dass auch der Großteil meiner Aus-
schusskolleginnen und Kollegen – auch die Damen und
Herren der SPD – das so sehen. Deshalb appelliere ich
an Sie: Lassen Sie uns gemeinsam den bereits beschritte-
nen Weg der verstärkten Kooperation im Bund-Länder-
Bereich und die bereits sichtbaren gemeinsamen Erfolge
zumindest im Hochschulbereich sichern! Hier gibt es be-
reits jetzt einen Konsens mit allen Ländern, der so für
den Schulbereich noch nicht besteht. Deshalb bitte ich
Sie, auf Ihre Ländervertreter einzuwirken, damit diese
die Einladung von Bundesministerin Annette Schavan
für Ende Oktober ernst nehmen und dort nicht um Län-
derfinanzfragen zocken, sondern sich um die Sicherung
der gemeinsamen Erfolge in der Hochschulpolitik und
der künftigen Perspektiven für die Bildungsbereiche be-
mühen. Es ist vielleicht die letzte Chance, dieses Thema
von überragender Bedeutung für die Zukunft unseres
Landes zu einem Erfolg zu führen.
Swen Schulz (Spandau) (SPD): Die Bundesregie-
rung hat einen Gesetzentwurf eingebracht – aber die
Koalition will ihn offenbar nicht im Plenum des Deut-
schen Bundestages debattieren, hat ihn weit hinten auf
der Tagesordnung versteckt und letztlich die Debatte nur
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24049
(A) (C)
(D)(B)
zu Protokoll gegeben. Hält die Koalition den eigenen
Vorschlag selbst für so schlecht? Zumindest sieht sie ein,
dass er keine Chance auf eine Umsetzung hat, weil
schlicht und einfach die Mehrheit fehlt, weil er nicht
überzeugend ist.
Im Konsens aller Fraktionen hatten wir eine Sachver-
ständigenanhörung zu diesem Thema angesetzt. Dort
gab es viele interessante und überzeugende Argumente
für mehr Kooperation von Bund und Ländern in der
Bildung. Doch die Regierungskoalition reduziert ihren
Vorschlag auf die Erweiterung der bestehenden Koope-
rationsmöglichkeiten von Bund und Ländern im Bereich
der Wissenschaft einzig und allein für eine Handvoll
besonderer Einrichtungen. Wir haben es in den vergan-
genen Monaten immer wieder gesagt: Nach der Methode
„Friss, Vogel, oder stirb“ wird diese Teilmaßnahme, für
die es zweifelsohne viel Zustimmung auch in unserer
Fraktion gibt, isoliert als einzig wahre und machbare
Lösung präsentiert. Doch dabei wird vollkommen außer
Acht gelassen, dass die Fixierung auf eine solche Teil-
lösung die Gesamtbalance zerstört und alles zum Schei-
tern bringt. Das Motto „Lasst uns den kleinsten gemein-
samen Nenner vereinbaren, alles Weitere sehen wir
dann“ sieht nur auf den ersten Blick wie ein vernünftiges
realpolitisches Vorgehen aus.
Der Bundesrat hat den Regierungsvorschlag bereits
abgelehnt. Zu Recht! Denn für diesen Bereich hatte die
SPD-Fraktion bereits Möglichkeiten der Kooperation
durchgesetzt. Auf dieser Basis werden etwa die Exzel-
lenzinitiative und der Hochschulpakt realisiert.
Die Hauptprobleme, vor denen wir heute stehen, sind
jedoch andere und benötigen dringend die Zusammenar-
beit von Bund und Ländern – und darum eben eine
durchgreifende Änderung des Grundgesetzes. Es geht
doch wohl nicht an, dass die Bundesregierung einige
wenige Einrichtungen vom Bund finanzieren und For-
scherstellen schaffen will, während sie nicht einmal da-
rüber nachdenkt, wie Ganztagsschulen eingerichtet oder
mehr Pädagogen zur Förderung von Schülern eingestellt
werden können. Auch die Bildung an den Hochschulen,
ihre Grundfinanzierung und die Lehre würde außen vor
gelassen.
Mehr Kooperation ist für Wissenschaft sinnvoll. Für
die Bildung, für die Lehre an den Hochschulen und ins-
besondere für die Schulen ist sie jedoch vordringlich und
zwingend nötig: Wir müssen endlich überhaupt damit
anfangen! Ich kenne kein Bundesland, das das Ganztags-
schulprogramm der Regierung Schröder heute noch für
schlecht hält. Die einzige – und berechtigte – Kritik ist,
dass es auf bauliche Investitionen beschränkt war. Doch
anders ging es damals nicht. Darum muss ein ganz neuer
Kooperationsartikel ins Grundgesetz, der die Bildung in
ihrer gesamten Breite im Blick behält. Die von der
Koalition geforderte Teillösung aber würde eine solche
Verbesserung für die Bildung auf den Sankt-Nimmer-
leins-Tag verschieben.
Nach der Ablehnung des Regierungsvorschlages im
Bundesrat hat Bundesministerin Schavan die Länder zu
einem Gespräch eingeladen. Es ist die Frage, was dabei
herauskommen soll, wenn doch andererseits Frau
Schavan immer so tut, als sei der Regierungsvorschlag
der einzig realisierbare.
Wir sind offen für eine Einigung. Sie muss nicht exakt
unseren Vorschlag abbilden. Aber sie muss der Bildung,
sie muss den Kitakindern, Schülerinnen und Schülern,
den Auszubildenden und Studierenden helfen.
Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD): Wir brau-
chen ganz dringend mehr Kooperation zwischen dem
Bund und den Ländern, was das Feld der Bildungspolitik
betrifft! Das mit der Föderalismusreform im Grundge-
setz verankerte Kooperationsverbot muss beseitigt wer-
den. Der ganz überwiegende Teil der Bevölkerung sieht
das so. Dies hat nun auch die Bundesregierung erkannt,
wie der vorliegende Gesetzentwurf zeigt, den wir heute
erstmalig diskutieren. Aber das was vorliegt ist sicher-
lich nur ein ganz kleiner Wurf und nicht geeignet, die
Aufgabe zu lösen.
Der Weg zu einer umfassenden und gewinnbringen-
den Kooperation ist aus meiner Sicht vergleichbar mit
einem Marathon. Um mit diesem Bild ein bisschen wei-
ter zu arbeiten, möchte ich einmal den vorliegenden Ge-
setzentwurf dort einordnen. Dann erscheint der vorge-
legte Gesetzentwurf nämlich in einem ganz anderen
Licht, als man ihn derzeit verkaufen will. Er würde maxi-
mal dazu nützen, die ersten beiden Kilometer zu schaf-
fen. Dann geht dem Kooperationswillen der Bundes-
regierung leider die Puste aus. Der vorliegende
Gesetzentwurf ist maximal ein kurzer Spurt in die rich-
tige Richtung, doch fehlt ihm tatsächlich die Ausdauer,
um grundlegend etwas zu verbessern.
Wenn man sich die Stellungnahme des Bundesrates
ansieht, so wird dieser Eindruck verstärkt. Selbst unions-
geführte Bundesländer haben mit dem Gesetzentwurf ein
Problem, wie man zum Beispiel auch an der Reaktion
aus Bayern sehen kann. So will Bayerns Wissenschafts-
minister Wolfgang Heubisch, dass nicht nur bei der Spit-
zenforschung kooperiert werden darf, sondern bei der
Grundfinanzierung der Hochschulen insgesamt ange-
setzt werden muss. Das wäre schon erfreulich, doch
würde auch eine solche Reform kaum für die ersten zehn
Kilometer reichen, um wieder auf den Vergleich mit dem
Marathon zurück zu greifen. Denn Bildung wird nicht
allein an den Hochschulen vermittelt.
Was ist mit den Schulen? Unabhängig von der Schul-
struktur gibt es in allen Bundesländern den dringenden
Wunsch nach einem Ausbau der Schulsozialarbeit oder
der Ganztagsbetreuung. Wo bleibt die außerschulische
und informelle Bildung? Die Bildungslandschaft in
Deutschland ist sehr breit aufgestellt. Wissen wird an un-
terschiedlichsten Orten und auf vielfältige Weise vermit-
telt. Bildung ist seit jeher eine der wichtigsten Ressourcen,
die unser Land hat. Wer ernsthaft eine Bildungsrepublik
will, der muss mehr tun, als nur Spitzenforschung bzw.
Hochschulen in den Blick zu nehmen, wenn es um
Kooperation zwischen Bund und Ländern geht.
Ich möchte nochmals einen Blick auf Bayern werfen,
um zu verdeutlichen, warum es nicht ausreicht, nur im
Bereich der Hochschulen das Kooperationsverbot zu än-
24050 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
(A) (C)
(D)(B)
dern, selbst wenn man die Mitfinanzierung aller Hoch-
schulen durch den Bund ermöglichen würde.
Bayern ist zwar bei verschiedensten Bildungstests
sehr gut. Aber deswegen ist die Welt an Bayerns Schulen
keineswegs in Ordnung. In keinem anderen Bundesland
sind zum Beispiel die Bildungsperspektiven in derart ho-
hem Maß vom Geldbeutel der Eltern abhängig wie im
Freistaat, ein Zeichen dafür, dass es dringend der Nach-
besserung bedarf, um durch das staatliche System mög-
lichst allen Kindern sehr gute Chancen zu ermöglichen.
Ähnlich sieht es mit der Ganztagesbetreuung aus.
Gerade Bayern wäre geholfen, wenn es endlich ein
bundesweites Ganztagsschulprogramm geben würde,
mit dem nicht nur in Infrastruktur, sondern auch in
Personal investiert werden könnte, ein Programm, mit
dem vor allem auch die Qualität an den Ganztagsschulen
und nicht nur die Quantität gefördert werden könnte. Es
gäbe eine Möglichkeit, an den Mittelschulen flächende-
ckend Schulsozialarbeit und gebundene Ganztagsbetreu-
ung anzubieten und den dort herrschenden Lehrermangel
zu bekämpfen, und zwar nicht nur mit geschönten Zah-
len, bei denen man so tut, als wären Teilzeitstellen oder
befristete Verträge gleichzusetzen mit Vollzeitlehrerstel-
len.
Weiter geht es mit der frühkindlichen Bildung. Auch
hier könnten mit einer umfassenden Öffnung des Koope-
rationsverbots gemeinsam die Angebote verbessert und
ausgebaut werden. Die CSU könnte endlich das unsin-
nige Betreuungsgeld fallen lassen, wenn Bund und Länder
umfassend im Bereich der Bildung kooperieren würden.
Dann müsste man nicht mit fragwürdigen Ersatzangebo-
ten darüber hinwegtäuschen, dass Bayern seine Hausauf-
gaben in der frühkindlichen Bildung noch nicht gemacht
hat.
Neben der Hochschule, den allgemeinbildenden
Schulen und der beruflichen Ausbildung gibt es unzäh-
lige Akteure, die im Bereich der informellen Bildung ak-
tiv sind. Auch hier könnten vonseiten des Bundes unter
Wahrung der Kultushoheit der Länder wertvolle Impulse
gesetzt werden, angesichts der Tatsache von Schulden-
bremse, knappen kommunalen Haushalten und unzurei-
chenden Bildungsbudgets der Länder eine sinnvolle
Form der Zusammenarbeit. Doch auch dafür braucht es
eine umfassende Änderung des Kooperationsverbotes,
das neben Wissenschaft und Forschung vor allem die
Zusammenarbeit im Bereich der Bildung erlaubt.
Eine Grundgesetzänderung kann man nicht alle Tage
neu diskutieren. Wenn wir nun das Projekt schon in An-
griff nehmen und wenn Sie ernsthaft eine Bildungsrepu-
blik wollen, dann haben Sie Mut und bringen Sie mit uns
eine Grundgesetzänderung auf den Weg, die mehr er-
laubt, als ein bisschen Spitzenforschungsförderung.
Mit unserem Vorschlag, einen neuen Art. 104 c in das
Grundgesetz aufzunehmen, würde Bildung insgesamt
profitieren. Unter Wahrung der Bildungshoheit der Län-
der könnte das gesamte Bildungssystem in Deutschland
gestärkt werden: Hochschulen, Schulen und die unter-
schiedlichsten Arten der informellen sowie außerschuli-
schen Bildung.
Darüber hinaus hätte unser Vorschlag den Vorteil,
dass er bereits von den SPD-geführten Bundesländern
mitgetragen wird und so eine breite Zustimmung im
Bundesrat gegeben ist. Um zu meinem Bild des Mara-
thons vom Anfang zurückzukommen: Unser Antrag
führt zum Ziel. Er ist dazu angelegt, die gesamte Strecke
des föderalen Langstreckenlaufes im Bereich der Bil-
dung zu schaffen. Das Ziel heißt mehr Bildungsgerech-
tigkeit und eine Bildungskooperation, die breiten Teilen
der Bevölkerung nutzt. Nehmen Sie die Bildung in
Gänze in den Blick, und gehen Sie mit uns den Weg über
einen neuen Art. 104 c!
Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP): Deutschlands
Hochschullandschaft steht in Zeiten des Bologna-
Reformprozesses, angesichts steigender Studierenden-
zahlen – ob nun durch die seit Jahren anwachsende Stu-
dienanfängerquote, die doppelten Abiturjahrgänge oder
die Aussetzung der Wehrpflicht – und durch die haus-
halts- und finanzpolitischen Zwänge – Stichwort Schul-
denbremsen – vor nie da gewesenen Herausforderungen.
Seit Jahren unternimmt der Bund massive Anstrengun-
gen, damit diese Entwicklung nicht zulasten von Studie-
renden und Lehrenden verläuft. Die christlich-liberale
Koalition hat mit ihren zahlreichen Initiativen wie dem
Hochschulpakt, dem Qualitätspakt „Lehre“, der Exzel-
lenzinitiative oder dem Deutschland-Stipendium – um
nur wenige zu nennen – in erheblichem Maße dazu bei-
getragen, dass die für die Hochschulen verantwortlichen
Länder mit diesen großen Herausforderungen nicht al-
lein gelassen werden. Leider gehen einige Länder nicht
so verantwortungsvoll mit diesen Bundesmitteln um,
wie es eigentlich im Interesse der Hochschulen sein
sollte. Und so verstärkt der Bund auf der einen Seite be-
ständig sein Engagement für die Hochschullandschaft,
und auf der anderen Seite fahren Länder wie Berlin ihre
Mittel im gleichen Maße zurück. Der Tagesspiegel
drückt es ganz treffend aus: Den Hauptstadthochschulen
bleibt nichts anderes, als die „Suppe mit Bundesgeld zu
strecken“. Der Senat stiehlt sich aus seiner Verantwor-
tung. Eine Schande! Die Regierungsfraktionen sind sich
einig, dass die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands zu-
nehmend von der Leistungsfähigkeit des Wissenschafts-
systems abhängen wird. Im Bereich der universitären
Forschung hat sich – nicht zuletzt wegen des enormen
Engagements des Bundes – enorm viel getan. Für den
Bereich der Hochschullehre gilt es, ein ähnliches Auf-
bauprogramm zu entwickeln. Es darf nicht hingenom-
men werden, dass diese wichtige Aufgabe zunehmend
unter die Räder gerät. Wir müssen Hochschullehre at-
traktiver gestalten, Betreuungsrelationen und -intensität
deutlich verbessern, innovativere Formen des Austau-
sches zwischen Lehrenden und Lernenden auf den Weg
bringen und die Brücke zwischen der Vermittlung von
Wissen und Kompetenzen und der Erfahrbarkeit von
Forschung schlagen. Das lässt sich nicht zum Nulltarif
haben.
Nicht zuletzt deswegen legt die Bundesregierung ei-
nen Gesetzentwurf vor, mit dem eine Änderung des
Grundgesetzes in Art. 91 b auf den Weg gebracht wird.
Ziel ist es, dass der Bund künftig im Hochschulbereich
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24051
(A) (C)
(D)(B)
stärker mit den Ländern kooperieren kann. Denn spätes-
tens seit dem in Zeiten der Großen Koalition im Jahr
2006 eingeführten Kooperationsverbot im Bildungsbe-
reich sind die Möglichkeiten des Bundes extrem einge-
schränkt, sich sinnvoll an der Finanzierung von Bil-
dungsvorhaben zu beteiligen. Heute wissen wir, dass die
Einführung dieses Kooperationsverbotes – um es mit
den Worten Hans-Dietrich Genschers zu sagen – „zu den
größten Fehlleistungen der schwarz-roten Koalition“ ge-
hörte. Die FDP hat sich damals wie heute massiv gegen
dieses Kooperationsverbot ausgesprochen. Insoweit ist
es nur konsequent, dass wir gemeinsam mit unserem Ko-
alitionspartner heute eine Regelung auf den Weg bringen
wollen, um das Kooperationsverbot im Wissenschaftsbe-
reich zu lockern.
In den Sonntagsreden von Vertretern von SPD, Bünd-
nis 90/Die Grünen und der Linken wird die Regelung
von 2006 verteufelt. Gleichzeitig gibt man sich Fantaste-
reien hin, malt sich aus, was wäre, wenn der Bund die
Zügel in der Hand hielte. Dass der Realisierungsgehalt
dieser nebulösen Vorstellungen jedoch gegen null ten-
diert, klammert man dagegen allzu gerne aus. Bezeich-
nend war die Reaktion der Kollegin Krista Sager auf den
Hinweis, dass der grüne Ministerpräsident Baden-Würt-
tembergs öffentlich erklärt habe, man werde die Länder-
hoheit im Schulbereich vehement verteidigen. Es mag
zwar sein, dass Herr Kretschmann nur ein einzelner Grü-
ner ist, doch es drängt sich die Frage auf, wie die grüne
Bundestagsfraktion angesichts der konträren Haltung ei-
gener Führungspersönlichkeiten – mögen diese noch so
verschroben sein – sich als seriöser Verhandlungspartner
gerieren will. Jedenfalls erschwert das elende Hickhack
die dringend erforderliche Konsensfindung – schließlich
benötigen wir nicht nur auf Bundesebene eine Zweidrit-
telmehrheit, auch die Länder müssen in gleichem Um-
fang mitziehen. Und wer solche Verhandlungen mit Ma-
ximalforderungen überlastet, seine unabgestimmten
Positionen in den Raum wirft, gefährdet auf unverant-
wortliche Weise ein für alle tragfähiges Ergebnis. Es
geht hier um die Zukunft unseres Hochschulsystems und
nicht um die Ausgestaltung eines Krötenwanderweges.
Hier sind die kleinkrämerischen Zänkereien entschieden
fehl am Platze.
Kurzum: Der Gesetzentwurf der Bundesregierung,
basierend auf dem Vorstoß des bayerischen FDP-Wis-
senschaftsministers Dr. Wolfgang Heubisch, bietet die
Chance, die wirklich drängenden Fragen zu lösen. Na-
türlich bleiben Wünsche unerfüllt. Mit Lob aus den Op-
positionsfraktionen war nicht zu rechnen. Aber im Inte-
resse der deutschen Hochschulen und Hunderttausender
Studierender wäre es angebracht, sich aus dem Schmoll-
winkel herauszubegeben und endlich die Ärmel aufzu-
krempeln und ernsthaft zu verhandeln. Forderungen mit
Blick auf den Schulbereich, auch wenn die FDP-Bun-
destagsfraktion diese grundsätzlich für sinnvoll hält,
sind aufgrund der Gemengelage – man denke an die
Worte des grünen Ministerpräsidenten – derzeit nicht
realisierbar. Unser Vorschlag lautet: Konzentrieren wir
uns auf das Machbare.
Die Oppositionsfraktionen tun sich mit ihrer Verwei-
gerungshaltung auch keinen Gefallen. Es mutet nicht
glaubwürdig an, wenn, wie derzeit im Deutschen Bun-
destag, die Änderung des Art. 91 b des Grundgesetzes
mit dem Hinweis, sie sei nicht weitreichend genug, ab-
gelehnt wird und man zeitgleich im Bundesrat verkün-
det, dass eine weiterreichende Lockerung des Koopera-
tionsverbotes nicht infrage kommt. Mit dieser
unsinnigen Haltung zementiert die Opposition das Ko-
operationsverbot auf lange Sicht – und die Hochschul-
verbände, Studierenden und Bevölkerung sind keines-
wegs so naiv, dies nicht zu erkennen. In der
Öffentlichkeit wird man sehr schnell erkennen, wer die
historische Chance verbockt hat. Und es ist doch klar,
dass wir die Gelegenheit nutzen werden, darauf auf-
merksam zu machen, wer die Saboteure einer Verfas-
sungsänderung waren. Ich würde mir jedoch für unsere
Hochschulen in Deutschland wünschen, dass Sie uns
diesen Wahlkampfschlager aus den Händen nehmen und
Vernunft walten lassen.
Während nahezu alle wichtigen Institutionen im Wis-
senschaftsbereich – von den Forschungsgemeinschaften
über die Hochschulverbände und den Wissenschaftsrat
bis hin zu den Sachverständigen in unserer öffentlichen
Anhörung am 19. März 2012 im Ausschuss für Bildung,
Forschung und Technikfolgenabschätzung – unseren Ge-
setzesvorschlag einhellig begrüßen, legen die Opposi-
tionsfraktionen aus rein wahltaktischem Kalkül unüber-
brückbare Steine in den Weg. Da ist es nur bezeichnend,
dass es mit Dr. Wolfgang Heubisch ein FDP-Wissen-
schaftsminister ist, der angesichts dieser Gefechtslage
einen Kompromissvorschlag formuliert, um doch noch
eine Grundgesetzänderung zum Wohle der Hochschulen
und damit der Studierenden zu ermöglichen. Mich ver-
wundert es nicht, dass aus den Reihen der Oppositions-
fraktionen hierzu keinerlei Verlautbarung zu vernehmen
ist. Einzig der sozialdemokratische Politikrentner Jürgen
Zöllner hat die Zeichen der Zeit erkannt, nur wird dieser
in seinen eigenen Reihen schon lange nicht mehr erhört.
Mich erreichen fast täglich Zuschriften von Hoch-
schulpräsidenten aus ganz Deutschland, die Mut ma-
chen, an dem Ziel festzuhalten, eine Mitwirkung des
Bundes bei der Hochschulfinanzierung durch die Ände-
rung von Art. 91 b Grundgesetz zu ermöglichen. Ich be-
zweifle, dass diese Briefe nicht auch die Vertreter der
Oppositionsfraktionen erreichen, und frage mich, ob
diese noch mit gutem Gewissen den Vertretern der
Hochschulen gegenübertreten können, sollten sie sich
unserem Gesetzesvorschlag verweigern und auf lange
Zeit das Kooperationsverbot zementieren. Mit diesem
fahrlässigen Handeln verpassen Sie die einmalige
Chance für Hochschulen und Wissenschaftseinrichtun-
gen und fügen unserem Land Schaden zu, da Sie die in-
ternationale Wettbewerbsfähigkeit unseres Wissen-
schaftssystems auf lange Zeit gefährden. Wiederholen
Sie Ihre Fehler aus dem Jahre 2006 nicht! Lassen Sie
diesmal Vernunft walten!
Nicole Gohlke (DIE LINKE): Im letzten Winterse-
mester fehlten mehr als 100 000 Studienplätze im
Bundesgebiet, Tausende Studienbewerber gingen leer
aus – trotz Studienberechtigung in der Tasche. In Baden-
Württemberg fehlen ab 2013 mindestens 7 000 Master-
24052 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
(A) (C)
(D)(B)
studienplätze pro Jahr, an der Hochschule Offenburg er-
hält nur jeder zehnte Bewerber eine Zulassung zu einem
Masterstudiengang. Das Studentenwerk fordert den Bau
von mindestens 25 000 Wohnheimplätzen, da viele
Studierende gerade jetzt zu Semesterbeginn keine finan-
zierbare Wohnung finden. In Hannover kommen bei-
spielsweise auf 760 freie Wohnheimplätze mittlerweile
2 650 Bewerber. In München sind derzeit mindestens
6 000 junge Menschen ohne Unterkunft. Und in den
Ländern werden ab 2014 mindestens 700 Millionen Euro
im Jahr für den Hochschulbau fehlen.
Ende 2011 stellte der Deutsche Philologenverband
fest, dass in der Bundesrepublik jede Woche rund 1 Mil-
lion Unterrichtsstunden ausfallen. Die durchschnittliche
Klassengröße liegt laut Statistischem Bundesamt bei
27 Schülern an Gymnasien und bei 26 an Realschulen
und integrierten Gesamtschulen. Eine 2009 von
Klaus Klemm veröffentlichte Studie schätzt den Einstel-
lungsbedarf von Lehrerinnen und Lehrern bis zum Jahr
2015/16 bei konstanter Schüler-Lehrer-Relation auf
195 921. Diese Liste wäre leicht zu erweitern, sie
beschreibt lediglich einen Ausschnitt der bildungspoliti-
schen Missstände und Leerstellen in der Bundesrepu-
blik.
Während die Presse voll ist von solchen Nachrichten,
verharrt die Bundesregierung im Aussitzmodus und hält
an ihrem völlig unzureichenden und vielfach kritisierten
Gesetzentwurf zur Lockerung des Kooperationsverbotes
fest. Seit der Bekanntmachung des Gesetzentwurfs im
März dieses Jahres wurde von den Oppositionsparteien,
von Gewerkschaften und vielen bildungspolitischen
Akteuren Kritik geübt. Im Bildungsausschuss gab es
eine Anhörung, in der die Sachverständigen fast einhel-
lig die Position vertreten haben, dass das Verbot der
Kooperation abgeschafft und die Zusammenarbeit von
Bund und Ländern endlich verfassungsrechtlich veran-
kert gehört. Dabei müsse vor allem sichergestellt wer-
den, dass sich die Zusammenarbeit auf die gesamte Bil-
dung erstreckt und eben nicht nur auf „Einrichtungen
und Vorhaben an einigen Hochschulen von überregiona-
ler Bedeutung“, wie das der schwarz-gelbe Entwurf vor-
sieht. Trotz dieser Kritik brachte die Bundesregierung
ihre Grundgesetzänderung völlig unverändert im Sep-
tember zur Beratung in den Bundesrat ein und erhielt
dort das absehbare Ergebnis: noch nicht einmal die ein-
fache Mehrheit der Stimmen. Manche Niederlagen
scheinen fast gewollt zu sein. Die Bundesregierung legt
einen sehr dürftigen Gesetzentwurf vor, verändert – trotz
großer Kritik – keinen Satz und stellt sich dann als poli-
tisch gescheiterter Veränderer des Kooperationsverbotes
dar. Meine Damen und Herren von der Bundesregierung,
das ist scheinheilig. Wenn Sie wirklich den politischen
Willen hätten, das Kooperationsverbot zu lockern, dann
stellten Sie sich der Kritik, nähmen Sie die Aufforderung
des Bundesrates ernst, über einen neuen Entwurf ge-
meinsam zu beraten, überarbeiteten Sie Ihren Vorschlag
und weiteten Sie die Möglichkeiten der Kooperation
endlich auf die gesamte Bildung aus. Sie sind weiterhin
am Zug, Damen und Herren von der Regierung!
Die derzeitigen Probleme in allen Bildungsbereichen
sind gravierend und werden in dem schwarz-gelben Ent-
wurf nicht berücksichtigt; denn Sie kümmern sich einzig
und allein um die Spitzenforschung. Statt des Umsteu-
erns weg vom gescheiterten Wettbewerbsföderalismus
hin zur politisch gewollten Kooperation von Bund und
Ländern im Sinne der Bildung, statt sich der Verantwor-
tung zu stellen, in einer gemeinsamen Kraftanstrengung
die Qualität des gesamten Bildungs- und Wissenschafts-
systems zu verbessern und endlich die Gleichheit von
Bildungschancen – unabhängig von regionalen, sozialen
oder herkunftsbedingten Unterschieden – politisch zu
gewährleisten, setzen Sie weiter auf die Förderung eini-
ger Leuchtturmprojekte in der Forschung.
Noch nicht einmal die grundlegenden Probleme der
Hochschulfinanzierung würden mit Ihrem Gesetz gelöst.
Wir brauchen dauerhaft ein gemeinsames Engagement
von Bund und Ländern für mehr Studienplätze, wenn
wir die unerträglichen Zustände bei der Hochschulzulas-
sung überwinden wollen. Wir brauchen gemeinsame Ini-
tiativen von Bund und Ländern zur Öffnung der Hoch-
schulen. Wir haben bereits eine Fernuniversität, die
bundesweit arbeitet und die für viele die einzige Chance
auf ein Hochschulstudium ist – aber der Bund gibt hier-
für keinen Cent, und die Fern-Uni Hagen pfeift finan-
ziell aus dem letzten Loch. Mit Ihrem Gesetzentwurf
würde sich hieran nicht das Geringste ändern, ganz zu
schweigen von den Problemen in der allgemeinen Bil-
dung: weder wäre ein neues Ganztagsschulprogramm
noch eine umfassende Verwirklichung von Inklusion mit
vereinten Kräften möglich. Wenn Sie diese Probleme
noch nicht einmal interessieren, sollten Sie von der Bil-
dungsrepublik schweigen!
Die föderalen Strukturen sind für diese Regierung
schon längst nur noch das Abschieben von Verantwor-
tung und die Ausrede für unterlassene Finanzierungen
und politische Steuerung. Der Föderalismus entlässt Sie
aber nicht aus Ihrer bildungspolitischen Verantwortung.
Wenn Sie keine Verantwortung tragen wollen, dann
treten Sie ab, statt Notwendiges zu verhindern.
Die Linke fordert weiterhin die sofortige Abschaffung
des Kooperationsverbotes, die Verankerung einer Ge-
meinschaftsaufgabe Bildung, eine gemeinsame Bil-
dungsplanung von Bund und Ländern und eine kontinu-
ierliche institutionelle Mitfinanzierung der Hochschulen
durch den Bund in der Fläche.
Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Endlich
findet nun die erste Lesung des Vorschlags der Koalition
zur Änderung des Grundgesetzes statt. Was Sie uns hier
leider nicht vorlegen, ist ein substanzieller Antrag zur
Aufhebung des Kooperationsverbots.
Der zuständigen Bundesbildungsministerin ist es bis-
her nicht gelungen, einen einigungsfähigen Vorschlag
vorzulegen. Stattdessen hat die Bundesregierung ihren
schwarz-gelben Entwurf auf den Weg gebracht, ohne
Gespräche mit den Oppositionsfraktionen und den Län-
dern zu suchen. Wer die benötigte Zweidrittelmehrheit
für mehr Kooperation erreichen möchte, sollte schon im
Verfahren und im eigenen Handeln kooperativ sein und
nicht einfach einen Konsens suggerieren, der bislang
nicht hergestellt wurde.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24053
(A) (C)
(D)(B)
Der Koalitionsvorschlag ist aber vor allem inhaltlich
nicht zielführend. Anstatt der allgemeinen Erkenntnis zu
folgen, dass die Einführung des Kooperationsverbots ein
riesiger Fehler war, legen Sie uns hier eine Verfassungs-
änderung vor, die nur auf den Bereich Wissenschaft un-
zureichend eingeht. Völlig unberücksichtigt lassen Sie
die Aufhebung des Kooperationsverbots im Bildungsbe-
reich. Deswegen hat ihr Vorschlag zu Recht im Bundes-
rat keine Mehrheit gefunden!
Wir Grüne waren von Anfang an gegen das Koopera-
tionsverbot. Wir sind daher weiter sehr an einer Eini-
gung interessiert. Denn es geht uns dabei um die bil-
dungspolitischen Zukunftschancen aller Kinder und
Jugendlichen in diesem Land. Auch die Koalition muss
doch erkennen, dass viele Bundesländer finanziell kaum
in der Lage sind, ihr Bildungssystem angemessen auszu-
finanzieren, vor allem wenn sie zugleich die Schulden-
bremse einhalten sollen. Auch deswegen brauchen wir
eine Ermöglichungsverfassung für bessere Bildung und
bessere Wissenschaft und ein Aufbrechen verfassungs-
rechtlicher Bildungsblockaden. Es ist im gemeinsamen
Interesse aller staatlichen Ebenen, die Leistungsfähigkeit
und Qualität der Bildung zu steigern; denn die immensen
Folgekosten unterlassener Bildungsinvestitionen und
unzureichender Qualifizierung tragen die Sozialkassen
aller Ebenen.
Wir setzen uns daher für einen kooperativen Bil-
dungsföderalismus ein. Es ist eine gesamtstaatliche Auf-
gabe, für gute Bildungsinstitutionen zu sorgen – von der
frühkindlichen Bildung über Ganztagsschulen bis hin zu
den Hochschulen. Dies muss sich auch in der Verfassung
widerspiegeln. Bildung muss in der Breite und von Be-
ginn an besser werden. Wir Grüne wollen daher eine
Verantwortungspartnerschaft und Vertrauenskultur mit
Ländern und Kommunen eingehen.
Wir sind es leid, dass hier Scheindebatten geführt
werden, für die jetzt wirklich keine Zeit mehr ist: Es ist
schlicht falsch, dass die Opposition die Hochschulen in
„Geiselhaft“ nehmen würde – uns Grünen geht es viel-
mehr um eine Lösung, die verbesserte Kooperation im
gesamten Bildungswesen ermöglicht. Nur wenn dies flä-
chendeckend gelingt, nützt dies auch nachhaltig der
Hochschulbildung.
Selbst wenn man für einen Moment den Aspekt der
Schulen ausblendet: Auch für die Wissenschaft ist der
vorliegende Vorschlag doch völlig unzureichend, weil
damit lediglich wenigen Spitzenuniversitäten oder ein-
zelnen exzellenten Einrichtungen vage Mittel in Aus-
sicht gestellt würden. Auch den Hochschulen wird der
Regierungsvorschlag so kaum gerecht. Wir wollen das
Maximum für eine bessere Bildung erreichen und sind
für dieses Ziel immer gesprächs- und handlungsbereit.
Und noch eine Scheindebatte sollten wir beenden: Es
ist völlig verfehlt, unseren Vorschlägen zu unterstellen,
wir wollten den Ländern die Zuständigkeit für die Schu-
len nehmen. Niemand – egal auf welcher Ebene, egal in
welcher Partei – braucht den Popanz aufzubauen, dass es
uns Grünen oder der SPD um ein Hineinregieren in die
Schulen vor Ort ginge. Als Grüne wollen wir Koopera-
tion ermöglichen – unter Wahrung der Kulturhoheit der
Bundesländer, im Einvernehmen mit ihnen und auf der
Basis fester Bund-Länder-Vereinbarungen, und das mit
dem klaren Ziel, kein Kind zurückzulassen und die Bil-
dungschancen aller Kinder und Jugendlichen zu verbes-
sern. Denn Bildung ist präventive Sozialpolitik, ermög-
licht Inklusion, Integration und Teilhabe, legt die Basis
für wirtschaftliche Entwicklung und Innovationsfähig-
keit.
Jedem und jeder ist offensichtlich, wie sehr die beste-
hende Verfassungslage sinnvolle Lösungen blockiert.
Bestes Beispiel sind die Verrenkungen des sogenannten
Bildungs- und Teilhabepakets. Anstatt die Bildungsein-
richtungen für alle Kinder und Jugendlichen zu stärken,
wurde hier ein Bürokratiemonster erschaffen, das eigent-
lich alle Beteiligten gern wieder verjagen würden. Dies
ist nur möglich, wenn wir die Verfassung entsprechend
ändern!
Wir begrüßen, dass Frau Ministerin Schavan nun end-
lich auf die Länder zugeht, um im Dialog zu der für eine
Grundgesetzänderung benötigten Zweidrittelmehrheit zu
kommen. Das war überfällig. Schade, dass sie unsere
ständig wiederholten Aufforderungen zu einem Reform-
konvent für eine Verfassungsänderung monatelang igno-
riert haben. Dies wäre nicht nur der effektivere Weg ge-
wesen, sondern hätte der Sache sicher gedient. Nun
müssen wir das immer enger werdende Zeitfenster auf
dem Weg zur Kooperationskultur endlich nutzen!
Jetzt ist es an der Zeit, Vorwürfe beiseitezulassen und
nicht mit dem Finger auf andere zu zeigen. Es ist bitter
nötig, endlich von den bildungs- und gesellschaftspoliti-
schen Notwendigkeiten auszugehen. Diese bestehen in
erster Linie darin, die Spaltungen im deutschen Bil-
dungssystem zu überwinden. Die Finanzierung von In-
klusion und besserer individueller Förderung wird nur
gemeinsam gelingen. Man kann es gar nicht oft genug
wiederholen: Kindeswohl muss vor Kooperationsverbot
gehen.
Die Bürgerinnen und Bürger, die Schülerinnen und
Schüler und die Eltern wünschen – ebenso wie ein
Großteil der Praktiker und Wissenschaft, der Städtetag,
die Gewerkschaften und Kirchen sowie Wirtschaftsver-
bände –, dass das Kooperationsverbot aufgehoben wird.
Ein Blockieren dieses Ziels nützt niemandem, sondern
schadet der Politik insgesamt. Zu Recht würde Bund und
Ländern Reformunfähigkeit vorgeworfen und der Föde-
ralismus blamiert. Das dürfen wir alle nicht zulassen. Ich
hoffe und bleibe optimistisch, dass wir gemeinsam mehr
erreichen können als den jetzt vorliegenden Koalitions-
vorschlag. Wir halten unsere ausformulierten Vorschläge
und Anträge für konkrete Änderungen der Art. 91 b und
104 c weiterhin für gute und machbare Lösungen. Dazu
muss sich die Koalition bewegen und endlich für einen
echten Konsens offen sein. Ihr Koalitionskonsens reicht
inhaltlich nicht aus.
Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bildung
und Forschung: Am 30. Mai haben wir im Kabinett den
Ihnen vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Ände-
rung des Art. 91b des Grundgesetzes beschlossen. Wir
wollen ermöglichen, dass Bund und Länder in Zukunft
24054 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
(A) (C)
(D)(B)
auch bei der institutionellen Förderung unserer Hoch-
schulen dauerhaft zusammenarbeiten können. Diese
Kooperation zielt auf zwei große Herausforderungen für
die Zukunft: Deutschlands Position im internationalen
Wettbewerb um Ideen und künftigen Wohlstand zu ver-
bessern und die Anzahl und Qualität der Fachkräfte von
morgen zu erhöhen.
In der Wirtschaft und in der Wissenschaft nimmt der
internationale Wettbewerb zu. Internationale Rankings
sprechen hier eine deutliche Sprache: Um zur Spitzen-
gruppe der Welt aufzuschließen, müssen deutsche Hoch-
schulen noch besser werden. Wir dürfen nicht nur an den
Wettbewerb zwischen einzelnen Bundesländern bei uns
denken – auch der ist wichtig – sondern eben auch an die
Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands insgesamt. Zum
Beispiel in Asien wird massiv in die dortigen Hoch-
schulsysteme investiert. Dies ist die eine Herausforde-
rung, vor der wir stehen und die wir nur gemeinsam
meistern können.
Es gibt aber eine zweite Herausforderung, die min-
destens ebenso wichtig ist: Wir müssen die Ressourcen
zur Verfügung stellen, die für die Aus- und Weiterbil-
dung der künftigen Fachkräfte auf höchstem Niveau in
Deutschland notwendig sind.
Die Zielrichtung meiner Intention lässt sich an den
Initiativen ablesen, die Bund und Länder in den vergan-
genen Jahren gemeinsam für einen befristeten Zeitraum
gestartet haben und mit denen wir die Hochschulen in
unserem Land erfolgreich vorangebracht haben. Hiervon
profitieren die Studierenden genauso wie die Forschung.
Beispielhaft nenne ich den Hochschulpakt 2020, mit
dem wir neue Studienmöglichkeiten für die zu erwarten-
den 327 000 zusätzlichen Studienanfänger schaffen.
Ich nenne weiter den Qualitätspakt Lehre, an dem ge-
genwärtig 186 Hochschulen aus allen 16 Ländern betei-
ligt sind.
Ich nenne schließlich die Exzellenzinitiative, mit der
wir die internationale Sichtbarkeit unserer Hochschulen
vor allem in der Forschung entscheidend verbessern und
nach vorne bringen.
Die Resonanz auf diese milliardenschweren
Programme zeigt: Es gibt in allen Ländern einen Bedarf
dafür. Es gibt ein immenses Interesse der Hochschulen.
Mit Blick auf die Studierenden und die Wett-
bewerbsfähigkeit unserer Hochschulen muss ich auch
sagen: Es gibt schlicht die gesamtstaatliche Notwendig-
keit, dass wir gemeinsam handeln.
Die angestrebte Änderung des Grundgesetzes trägt
wesentlich zur Bewältigung beider Herausforderungen
bei.
In den Reden, die anlässlich der Befassung mit dem
Gesetzentwurf im Bundesrat gehalten wurden, war von
den Länderkollegen zu hören, dass der Entwurf nicht
weit genug gehe, dass man auch den Bildungsbereich
mit einbeziehen müsse.
Ich wiederhole hier gerne noch einmal, was ich be-
reits in der Debatte im Bundesrat gesagt habe: Herzlich
gerne, gerne können wir über zweite und dritte Schritte
reden, aber zunächst einmal lassen Sie uns gemeinsam
jetzt diesen ersten Schritt tun.
Der Bundesrat hat die Bundesregierung aufgefordert,
mit den Ländern in Gespräche einzutreten. Deshalb habe
ich nun die Kultus- und Wissenschaftsminister der Län-
der für den 25. Oktober 2012 zu einem Gespräch einge-
laden. Ich frage aber: Gibt es einen Konsens der Länder
untereinander? Ich sehe nicht, dass die Länder wissen,
welche Änderungen sie wollen und wie weit diese gehen
sollen.
Im Übrigen habe ich bereits mehrfach vorgeschlagen,
entsprechend der Empfehlung von renommierten
Bildungspolitikern und Experten – wie zuletzt von der
Robert-Bosch-Stiftung – einen Bildungsrat einzurichten,
der analog zum Wissenschaftsrat mit Experten und Ver-
tretern der Politik von Bund und Ländern besetzt sein
soll.
Ein großer gemeinsamer Erfolg ist, dass wir das ver-
einbarte 10-Prozent-Ziel fast erreicht haben. Der Anteil
von Bildung und Forschung am Bruttoinlandsprodukt
lag 2008 bei 8,6 Prozent und ist in den Jahren 2009 und
2010 trotz einer Steigerung des BIP um 5,2 Prozent mit
9,5 Prozent auf hohem Niveau konstant geblieben. Ins-
gesamt betrugen 2010 die Bildungsausgaben 172,3 Mil-
liarden Euro. Damit ist das vereinbarte 10-Prozent-Ziel
in greifbarer Nähe.
Nun hat der Bundesrat in seiner Stellungnahme des
Weiteren gefordert, dass der Bund die Länderhaushalte
zur Erreichung der bildungspolitischen Zielsetzungen
mit zusätzlichen Umsatzsteuerpunkten unterstützt.
Diese Forderung lehne ich ab. Denn da machen es
sich die Länder zu einfach. Der Bund ist nicht die Spar-
kasse der Länder. Auch für den Bund gilt die Schulden-
bremse, und zudem ist die Finanzausstattung des Bundes
– dieser Hinweis sei erlaubt – deutlich ungünstiger als
die der Länder. Vielmehr geht es um zusätzliche Mittel –
nicht um schlichte Umverteilung.
Darüber hinaus halte ich eine solche Übertragung
auch nicht für zweckmäßig, da die übertragenen Mittel
der Gestaltungsund Kontrollmöglichkeit des Bundes ent-
zogen wären. Ich denke, hier haben wir in diesem Hause
einen Konsens. Es kann schließlich nicht sein, dass der
Bund das Geld gibt, aber inhaltlich dann nicht mitspre-
chen darf.
Sie alle wissen: Die Zeit drängt. Sie alle wissen: Die
Hochschulen brauchen diese Änderung jetzt. Sie alle
kennen die Appelle der Allianz der Wissenschaftsorgani-
sationen, der Hochschulrektorenkonferenz und der TU9.
Deshalb bitte ich Sie: Helfen Sie den Hochschulen
jetzt. Nehmen Sie nicht die Hochschulen und Studenten
als Geiseln. Gerne können wir über weitere Schritte re-
den, aber lassen Sie uns die Zeit nutzen und jetzt diesen
wichtigen Schritt gemeinsam tun.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24055
(A) (C)
(D)(B)
Anlage 3
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Rechtliche und fi-
nanzielle Voraussetzungen für die Zahlung
einer Ausstellungsvergütung für bildende
Künstlerinnen und Künstler schaffen (Tages-
ordnungspunkt 15)
Monika Grütters (CDU/CSU): Zum wiederholten
Mal – das letzte Mal war es im vergangenen Jahr am
7. Juli auf Antrag der Grünen – diskutieren wir heute das
Für und Wider einer Ausstellungsvergütung. Jetzt ist es
die Linke, die sich einer Forderung des BBK anschlie-
ßen will – es ist zwar alles schon mehrfach gesagt, aber
eben nicht von allen. Sie wollen einen „unverzichtbaren
Anspruch auf eine angemessene Vergütung für die Ver-
wertung ihrer Werke im Rahmen von öffentlichen Aus-
stellungen sichern“. Zugleich soll dafür gesorgt werden,
dass „Institutionen, die zeitgenössische Kunst ausstellen
(…), nicht über Gebühr belastet werden.“ Also muss der
Steuerzahler wieder einmal in die Tasche greifen, denn
Museen, die heute kaum noch einen Ankauf- oder Aus-
stellungsetat haben, müssten ja hier noch einmal draufle-
gen, und das geht eben aus den vorhandenen Haushalten
kaum.
Eine „Gerechtigkeitslücke“ gerade gegenüber bilden-
den Künstlern im Vergleich zu Künstlern anderer Spar-
ten, wie sie damals von den Grünen hier ausgemacht
wurde, kann ich nicht erkennen – wir alle wissen, dass es
sehr erfolgreiche Maler und Bildhauer gibt, ebenso wie
arme Poeten, und nur wenige wohlhabende Musiker.
Richtig ist: Der bildende Künstler lebt im Gegensatz zu
anderen Künstlern vom Verkauf seiner Werke, der Autor
vom Vertrieb, der Musiker von Aufführungen. Erfolg-
reich verkaufen kann ein Künstler dann, wenn er zuvor
bekannt gemacht wurde – zum Beispiel durch Ausstel-
lungen in Museen, Kunstvereinen, Galerien etc. Das
bringt dem bildenden Künstler eine große Öffentlichkeit
und bestenfalls Anerkennung seines Werkes.
Während die einen bei Lesung, die anderen bei Kon-
zerten eine direkte Vergütung erhalten, lebt der bildende
Künstler vom direkten Verkauf seiner Werke oder auch
zum Beispiel von der Nutzung der Abbildungen. Die
nun erneut geforderte Ausstellungsvergütung soll dazu
dienen, bildenden Künstlern auch aus der Ausstellung
ihrer Werke einen wirtschaftlichen Nutzen zukommen
zu lassen – auf dass sich ihre wirtschaftliche und damit
soziale Lage verbessere.
Abgesehen davon, dass auch eine Ausstellungsvergü-
tung die in vielen Fällen sicher schwierige wirtschaft-
liche Situation der Künstler mitnichten auffangen würde,
wäre die Ausstellungsvergütung so nur eine verkappte
zusätzliche Sozialleistung. Aber mit welcher Berechti-
gung eigentlich? Wenn auch in verschiedenen Systemen,
so arbeiten und leben doch alle Künstler von demselben
Prinzip: vom „Verkauf“, von der Verwertung, von der
Nutzung ihrer kreativen Arbeit – eben indem sie sie auf-
führen – Bühne, Musik – oder ihr Kunstwerk sein Publi-
kum – Kompositionen, Theaterstücke – oder halt neue
Besitzer – bildende Kunst – findet.
Die soziale Absicherung aller (!) Künstlerinnen und
Künstler in Deutschland unterstützen wir mit der Künst-
lersozialkasse – eine große und übrigens weltweit in die-
ser Form einzigartige Anerkennung, die die Gesellschaft
den besonderen Erfordernissen diesem uns so wichtigen
Berufsstand zollt.
Viele Befürworter einer Ausstellungsvergütung bli-
cken hoffnungsvoll auf das schwedische Modell, das
2009 in Kraft trat. Aber hat das schwedische Modell die
ökonomischen Verhältnisse der Künstler oder deren
Möglichkeit, ihre Werke auszustellen, tatsächlich signi-
fikant verbessert? Nicht, dass wir wüssten. Zu bedenken
ist aber sehr wohl, was für dramatische Konsequenzen es
gerade finanziell für die Museen hätte: Solange es die
Forderungen nach einem Vergütungsanspruch für die öf-
fentliche Ausstellung bildender Kunst gibt, werden sie
von fast allen im Kunstbetrieb Verantwortlichen abge-
lehnt.
Die Museen haben ja ein großes Interesse an Ausstel-
lungen zeitgenössischer Kunst. Sie verleihen den Häu-
sern Lebendigkeit und Aktualität. Umgekehrt wissen na-
türlich auch die Künstler um die Vorteile einer
Ausstellung in diesen Institutionen. Gerade Ausstellun-
gen ihrer Werke in öffentlichen Museen sind für die
Künstler wie ein Ritterschlag, die Arbeiten erfahren so ja
auch eine enorme Wertsteigerung.
Die Schattenseite: Durch Ausstellungsvergütungen
werden Ausstellungen für die Veranstalter erheblich teu-
rer, in der Folge planen die Museen weniger Ausstellun-
gen, oder man greift gleich auf die – freien – Werke zu-
rück, für die keine Gebühr bezahlt werden muss – und
das geht dann endgültig zulasten derjenigen Künstler,
die Sie doch begünstigen wollen. Nur die bekommen
dann noch weniger Präsentationsmöglichkeiten. In fast
allen Fällen werden schon heute Ausstellungen nicht
einmal kostendeckend durchgeführt. Künstler an Aus-
stellungseinnahmen zu beteiligen, würde in vielen Fällen
den finanziellen Ruin der Veranstalter bedeuten, und das
wäre dann das endgültige Aus einer wirksamen Kunst-
und Künstlerförderung.
Die meisten Museen verfügen ohnehin kaum noch
über große Ausstellungsetats. Ihr Budget für Ausstellun-
gen müsste also entsprechend erhöht werden. Wer, bitte,
will das bezahlen? BKM? Oder der Aufrichtigkeit und
Wahrheit halber dann doch lieber das Sozialministe-
rium?
Als eine Stiftungschefin, die beinahe jährlich Ausstel-
lungen erarbeitet, kann ich Ihnen aus langjähriger, per-
sönlicher Erfahrung berichten, dass die Mehrzahl der
(Kunst-)Museumsbesucher nicht an Werken zeitgenössi-
scher Künstler, sondern eher an Werken der klassischen
Moderne oder der aIten Kunst interessiert ist. Diese fal-
len ohnehin nicht unter die Ausstellungsvergütung. Für
Werke zeitgenössischer Künstler müssen wir das Publi-
kum zunächst mühsam begeistern. Kuratierung der Aus-
stellung, Transport der Werke, Schreiner-, Maler- und
Reinigungsarbeiten, Restaurierung, Beschriftung, Be-
24056 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
(A) (C)
(D)(B)
leuchtung, Bewachung, Heizung und Klimatisierung,
Herstellung von Katalogen, Plakaten, Einladungskarten,
deren Versand, Kosten für die Eröffnung etc. All diese
Kosten übernehmen wir als Aussteller bereits. Und dann
auch noch eine Vergütung an die Künstler zahlen als
„Belohnung“ dafür, dass wir sie bekannt machen?
Natürlich könnte man die Künstler an dem Gewinn,
der mit der Präsentation ihrer Kunstwerke erwirtschaftet
wird, beteiligen, wenn es denn überhaupt einen gäbe.
Doch wer am Erlös beteiligt wird, müsste auch einen
Teil der Kosten übernehmen – und diese übertreffen be-
kanntlich in fast allen Fällen die Einnahmen aus den
Ausstellungsprojekten. Hinzu kommt, dass der Kunst-
markt genau dieses Geschäft betreibt, in Galerien und
auf Messen. Museen haben einen anderen Auftrag. Die
Auswirkungen auf die private Kunstförderung und Aus-
stellungstätigkeit wären verheerend, weil sich solche
Kosten nicht über die Eintrittsgelder auf die Besucher
verlagern lassen.
Die Enquete-Kommission hat dem Deutschen Bun-
destag und der Bundesregierung empfohlen, erneut zu
prüfen, „mit welchen Regelungen und Maßnahmen im
Urhebervertragsrecht eine angemessene, an die wirt-
schaftlichen Verhältnisse angepasste Vergütung für alle
Urheber und ausübenden Künstler erreicht werden kann,
da die bisherigen Regelungen im Urhebervertragsgesetz
unzureichend sind“.
Die bildende Kunst wird über den Verkauf verwertet.
Glauben Sie wirklich, dass ein Künstler, dessen Werke
nicht gekauft werden, gegen Vergütung ausgestellt
würde? Sicher nicht. Eine Ausstellungsvergütung nach
dem von Ihnen vorgeschlagenen Modus käme vor allem
einem kleinen Kreis längst etablierter Künstler zugute.
Österreich jedenfalls hat die Ausstellungsvergütung
zurückgenommen – 1996 eingeführt, 2000 wieder abge-
schafft –: Dort gibt es keine Ausstellungsvergütung für
urheberrechtlich geschützte Werke der bildenden Kunst
mehr. Die Ausstellungsvergütung bewirkte nämlich
prompt eine Benachteiligung lebender Künstler und
wirkte sich am Ende sogar nachteilig für den ganzen
Kunststandort Österreich aus.
Positiv an Ihrem Antrag ist, dass wir einmal mehr das
wichtige Thema Soziale Lage der Künstler besprechen,
und das werden wir in einer der nächsten Ausschusssit-
zungen dann ja auch noch einmal tun. Es ist uns allen
wichtig, dass unsere Künstler für ihre Arbeit – gut – be-
zahlt werden. Aber eine pauschalierte Ausstellungszah-
lung für Einrichtungen des BKM, für Institutionen, die
überwiegend mit etablierten und auf dem Kunstmarkt
bereits eingeführten Künstlern arbeiten? Das jedenfalls
führt nicht zu mehr – sozialer oder wirtschaftlicher – Ge-
rechtigkeit.
Wichtiger ist es, die Chancen für Künstler zu verbes-
sern, überhaupt ausstellen zu können, nicht, sie gesondert
zu vergüten. Es braucht mehr Ausstellungsmöglichkeiten
für jüngere bildende Künstler, weitere Fördermöglichkei-
ten, Projektzuschüsse oder Arbeitsstipendien – Stiftung
Kunstfonds, Künstlerstipendien der Villa Massimo etc. – und
Ankaufetats für die Museen – und hier sind vor allem die
Länder und Kommunen gefragt.
Christoph Poland (CDU/CSU): Die Förderung von
Künstlerinnen und Künstlern in Deutschland hat einen
guten Ruf – und das zu Recht. Die Kultur hat in
Deutschland schon immer eine wichtige Rolle gespielt,
und der föderale Staat Bundesrepublik Deutschland
braucht und fördert diese kulturelle Klammer zwischen
Bund und Ländern in besonderer Weise. Der deutsche
Staat fördert seine Kultur mit „nur“ 1,67 Prozent aller
öffentlichen Haushalte, aber das sind circa 9,6 Milliar-
den Euro jährlich. Das hat einen positiven Effekt und
eine nachhaltige Wirkung!
Im föderalen Bundesstaat Bundesrepublik liegt die
Hoheit über Bildung und Kultur bei den Ländern. Sie fi-
nanzieren den Großteil der öffentlich geförderten Kultur
mit über 43 Prozent, die Kommunen sogar noch mehr,
mit 44,4 Prozent. 113 Millionen Menschen besuchten
2009 deutsche Museen – eine Steigerung von circa
2,2 Millionen gegenüber dem Vorjahr. Das sind zehnmal
mal so viele Gäste, wie alle Bundesligaspiele einer Sai-
son Besucher hatten.
Vor diesem Hintergrund kann ich nur feststellen: Der
Antrag der Linken ist populistisch. Ihn von den Grünen
fast wortwörtlich zu übernehmen, macht ihn und die
gute Absicht nicht besser!
Was würde eine Ausstellungsvergütung in Deutsch-
land bewirken?
Die ausstellenden Institutionen verzichten aus Kos-
tengründen gänzlich oder teilweise auf die Ausstellung.
Das kann uns nicht recht sein. Wir sind zu Recht stolz
auf eine breite Kulturszene.
Sie von den Linken nehmen bitte die Fakten zur
Kenntnis: Die Forderung nach einer Ausstellungsvergü-
tung geht von falschen Voraussetzungen aus. Denn nur
10 Prozent der Museen in Deutschland sind reine Kunst-
museen. Überwiegend werden Kunstwerke zu Illustra-
tionszwecken ausgestellt, und mit einer Ausstellungsge-
bühr würden diese Werke aus dem Ausstellungskonzept
herausgenommen und als verzichtbar angesehen. Die
Mehrzahl der Museen in Deutschland sind klein und
Einrichtungen mit geringen Besucherzahlen und wenig
Personal. Auch solche kleinen Museen würden auf zeit-
genössische Künstler verzichten, da der Verwaltungsauf-
wand für die Abrechnung der Ausstellungsvergütung in
keinem Verhältnis zu den Kosten steht.
Entscheiden sich die Aussteller für die Umlage der
Kosten, würde das automatisch zu einer Erhöhung der
Eintrittspreise führen. Das können wir nicht wollen.
Über 30 Prozent der Museen erheben keinen Eintritt,
und 33 Prozent haben einen Eintrittspreis bei maximal
2 Euro.
Der Jahresverdienst von Künstlerinnen und Künstlern
ist nicht hoch. Das ist beklagenswert, aber auch den
meisten Künstlerinnen und Künstlern bei Aufnahme
ihres Berufs klar. Daher unterstützen wir mit Bundesmit-
teln die Künstlerinnen und Künstler in Deutschland über
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24057
(A) (C)
(D)(B)
die Künstlersozialkasse. Es ist für uns in Regierungsver-
antwortung eine bürgerliche Tugend, die Kunst und Frei-
heit zu fördern. Das sage ich deutlich in Richtung der
Linken bei so populistischen Anträgen wie diesem.
Und nehmen Sie bitte auch aus der Diskussion schon
um den Antrag der Grünen zur Kenntnis: Das schwedi-
sche Modell einer Ausstellungsgebühr ist nicht übertrag-
bar, und das österreichische Modell wurde wieder abge-
schafft!
Meine Erfahrung als Ausstellungsmacher war immer,
dass es darum geht, Künstlern eine Plattform zu bieten
und Besuchern die Schwellenangst beim Ausstellungs-
besuch zu nehmen. Der Antrag der Linken ist kein Weg
dahin.
Siegmund Ehrmann (SPD): Vor knapp anderthalb
Jahren haben wir an gleicher Stelle einen Antrag der
Grünen debattiert, die ein Ausstellungshonorar bzw. eine
Ausstellungszahlung fordern. Dieser Vorschlag orientiert
sich am schwedischen Modell einer Künstlervergütung.
Dazu hatte die Friedrich-Ebert-Stiftung im Herbst 2010
eine Studie vorgestellt und am 25. November 2010 ein
Expertengespräch durchgeführt.
Ich habe schon damals deutlich gemacht, dass das
schwedische Modell nicht direkt auf Deutschland über-
tragbar ist. Im Vergleich zu Schweden, wo auch nur eine
geringe Zahl von Ausstellungshäusern und staatlichen
Museen unter diese Regelung fallen, sind es in Deutsch-
land deutlich mehr öffentliche Einrichtungen, die von ei-
ner solchen Regelung erfasst werden müssten, und diese
Einrichtungen befinden sich überwiegend in der kultur-
politischen Verantwortung von Ländern und Kommu-
nen. Die Forderung nach einer verpflichtenden Ausstel-
lungszahlung an bildende Künstlerinnen und Künstler
greift zu kurz, wenn damit nur der Bund angesprochen
wird. Es wäre nach einer Regelung zu suchen, die die
Länder und Kommunen und natürlich auch deren ak-
tuelle finanzielle Lage berücksichtigt. Was nützt eine
Forderung, wenn sie auch bei bestem Willen nicht erfüllt
werden kann.
Dass es Lösungen gibt, zeigt das Land Berlin. Hier
wurden erstmals im Sommer 2011 für eine vom Land or-
ganisierte Ausstellung – „based in berlin“, Gesamtetat:
1,2 Millionen Euro – Honorare gezahlt. Kritik gab es na-
türlich sofort an der Höhe hier: 500 Euro. Berlin hat aber
auch andere Wege gesucht und gefunden, die bildende
Kunst zu unterstützen. Über ein Atelierprogramm bei-
spielsweise wird die Möglichkeit zur Präsentation von
Kunst ebenfalls gefördert.
Ich meine, dass es sich die Linke etwas zu leicht
macht, wenn sie fordert, der Bund möge seinen Einfluss
geltend machen, dass auch die Länder und Kommunen
ein verpflichtendes Ausstellungshonorar zahlen mögen.
Sie sollten schon auch sagen, wie genau das gehen soll
angesichts der finanziellen Lage vieler Kommunen.
Wenn der Bund eine Ausstellungszahlung in seinen Ein-
richtungen ermöglichen würde, was vielleicht sogar fi-
nanziell überschaubar ist, würde er damit Länder und
Kommunen in erhebliche Erklärungs- und Handlungs-
nöte bringen. Von den über 6 500 Museen und Ausstel-
lungshäusern in Deutschland sind nach Angaben des In-
stituts für Museumsforschung nur knapp 60 in der
Trägerschaft des Bundes; der allergrößte Anteil öffentli-
cher Museen ist in kommunaler Trägerschaft. Gleich-
wohl sieht die SPD-Bundestagsfraktion den Bund in der
Verantwortung. Orientiert an pragmatischen Lösungen,
wie in Berlin, könnten und sollten erste Schritte hin zu
einer angemessenen Vergütung von bildenden Künstle-
rinnen und Künstlern erfolgen.
Damit wären wir beim zweiten Kernpunkt des Antra-
ges. Die Linke versucht nämlich, schlauer als die Grünen
zu sein, und fordert zunächst eine urheberrechtliche
Ausstellungsvergütung. Solange es diese aber nicht gibt,
soll es eine Ausstellungszahlung bzw. ein Ausstellungs-
honorar geben. Die Linke weiß also selbst, dass es neben
vielen Argumenten für eine Ausstellungsvergütung, die
wir als Kulturpolitiker allesamt teilen, auch eine Menge
von Argumenten dagegen gibt. Diese sollte man nicht
unterschätzen, zumal diese insbesondere von kommuna-
ler Seite und dem Deutschen Museumsbund, also den
Akteuren, die eine solche Vergütung finanziell zu schul-
tern hätten, vorgetragen werden. Sie argumentieren, dass
diese Zusatzkosten dazu führen könnten, dass im Ergeb-
nis weniger Ausstellungen durchgeführt werden und am
Ende nur die bekannten und etablierten Künstler profi-
tieren. Derartige Erfahrungen in Österreich haben dazu
geführt, dass man sich dort von einer entsprechenden
Regelung wieder verabschiedet hat.
Ich will die Argumente für und gegen eine urheber-
rechtliche Ausstellungsvergütung nicht alle einzeln noch
einmal vortragen. Für die SPD will ich an dieser Stelle
deutlich sagen, dass wir diese nun schon mehr als
30 Jahre alte Forderung maßgeblicher Verbände im Be-
reich der bildenden Kunst, eine Ausstellungsvergütung
einzuführen, immer positiv begleitet haben. Mit einem
Sondervotum hat sich die SPD in der Enquete-Kommis-
sion „Kultur in Deutschland“ für eine Ausstellungsver-
gütung ausgesprochen. Eine parlamentarische Initiative
der SPD-Kulturpolitiker 2005 war nicht erfolgreich,
auch weil die Verbände der bildenden Künstlerinnen und
Künstler unterschiedliche Vorstellungen hatten, wie ge-
nau eine Ausstellungsvergütung rechtlich ausgestaltet
sein soll.
Wir halten das Anliegen einer gerechten und fairen
Vergütung von bildenden Künstlerinnen und Künstlern
für mehr als berechtigt. Wir wollen, dass Kultur- und
Medienschaffende, Künstlerinnen und Künstler und
Kreative von ihrer Arbeit leben können. In unserem Pro-
jekt Kreativpakt haben wir deutlich gemacht, dass eine
öffentliche Förderung auch daran geknüpft sein sollte,
dass Tarifverträge und soziale Mindeststandards einge-
halten werden. Die Forderung nach einer Ausstellungs-
vergütung, unabhängig von der Frage nach der konkre-
ten Ausgestaltung, gehört dazu.
Wir halten es für wichtig, zu umfassenden und tragfä-
higen Lösungen zu kommen. Unser Ziel ist es, dass die
Künstler und Kreative durch ihr Schaffen und ihr Werk
auch ein angemessenes Einkommen erzielen können.
Die Vor- und Nachteile der vorgestellten Ansätze für
24058 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
(A) (C)
(D)(B)
Ausstellungszahlungen, -honorare bzw. Ausstellungs-
vergütung müssen sorgfältig abgewogen werden. Nur
mit einer sinnvollen und belastbaren Lösung ist den Kul-
turschaffenden auch wirklich geholfen. Dabei sollten al-
ternative Lösungen zur Förderung der bildenden Kunst
ebenfalls bedacht werden.
Burkhardt Müller-Sönksen (FDP): Das Thema
Ausstellungsvergütung ist im Deutschen Bundestag ein
wohlbekanntes. Bereits in der letzten Wahlperiode
wurde dieses Thema in der Enquete-Kommission „Kul-
tur in Deutschland“ ausführlich beraten und kontrovers
debattiert. Die Enquete-Berichte sowie die Sondervoten
spiegelten die Debatte wider; der Antrag der Fraktion
Die Linke wiederholt sie nun.
Zweifellos ist der Beteiligungsgrundsatz, nach dem
der Urheber oder Leistungsschutzberechtigte an jeder
wirtschaftlichen Nutzung seiner Werke oder Leistungen
angemessen zu beteiligen ist, einer der tragenden Leitge-
danken des Urheberrechts. Nach unserem liberalen Ver-
ständnis realisiert sich darin die Verwertungsfreiheit des
Einzelnen, die wir schützen und gewährleisten müssen.
Für uns ist und bleibt die Einführung einer Ausstellungs-
vergütung für bildende Künstlerinnen und Künstler aber
der falsche Weg, um ihre – teilweise auch für uns unbe-
friedigende – soziale Lage zu verbessern.
Der Antrag moniert die Ungleichbehandlung bilden-
der Künstlerinnen und Künstler. Für uns war diese Un-
gleichbehandlung ein Grund, genauer hinzusehen, und
wir stellten bereits in den Beratungen der Enquete fest:
Ungleiches wird richtigerweise und dem verfassungsmä-
ßigen Gleichheitssatz entsprechend ungleich behandelt.
Insofern drängt sich mir der Verdacht auf, dass die Lin-
ken Symbolpolitik betreiben. Nach dem Motto „Gut ge-
meint ist manchmal das Gegenteil von gut“ muss ich
dringend davor warnen, ungleich mit ungerecht gleich-
zusetzen und die besonderen Verhältnisse im Ausstel-
lungswesen zu verkennen.
Bei reinen Verkaufsausstellungen dürfte die Notwen-
digkeit einer weiteren Beteiligung selbst von der Links-
fraktion verneint werden. Mit Blick auf die zahlreichen
Ausnahmen, die der Antrag für kleinere Vereine und
Projekte, Eigentümer und Galeristen vorsieht, blieben
daneben nur große Ausstellungsformate vergütungs-
pflichtig. Unter diesen gibt es selbstverständlich Leucht-
türme wie die Documenta in Kassel oder den MOMA-
Besuch in Berlin, die sich gewinnbringend vermarkten
lassen. Hier werden in der Regel aber bereits etablierte
Künstler gezeigt. Bei allen Bemühungen um eine leben-
dige deutsche Kunstszene gebe ich mich nicht der Hoff-
nung hin, dass diese Formate die Regel werden könnten.
Regelmäßig betroffen wären also die übrigen Ausstel-
lungen: kleinere Ausstellungen in Museen und Kunst-
vereinen. Ausgerechnet diese engagierten Ausstellungs-
macher würden also zusätzlich unter wirtschaftlichen
Erfolgsdruck gesetzt. Für uns wäre es nur allzu verständ-
lich, wenn sie als Konsequenz vorrangig auf bekannte
und etablierte Künstlerinnen und Künstler setzen wür-
den, um das wirtschaftliche Risiko zu minimieren. Inso-
fern nützte die Ausstellungsvergütung vor allem denen,
die sie gar nicht bräuchten.
Es droht sogar, was der Kollege Siegmund Ehrmann
in einer ähnlich gelagerten Debatte zu einem Antrag der
Grünen so treffend als Bärendienst an den Künstlern be-
schrieben hat. Der Deutsche Museumsbund und Vertre-
ter der Kommunen und Länder, in deren Verantwortung
besonders viele kleinere Museen und Ausstellungsräume
stehen, weisen immer wieder auf den Effekt von Zusatz-
kosten hin: weniger Ausstellungen! Dies wäre aber ge-
rade für die von den Linken fokussierte Zielgruppe fatal.
Gerade junge und unbekannte Künstlerinnen und Künst-
ler profitieren unmittelbar von der Ausstellung ihrer
Werke, weil sie ihre Bekanntheit steigert und ihnen Kon-
takte zu Galeristen und Sammlern verschafft. Da es
schlechterdings nicht vorstellbar ist, dass ein Künstler
keine Werke verkauft und keine Aufträge erhält, aber so
oft ausgestellt wird, dass er davon leben könnte, könnte
sich die Lage bildender Künstlerinnen und Künstler also
sogar verschlechtern.
Schließlich sei nochmals darauf hingewiesen, dass die
Ausstellungsmacher schon aus wirtschaftlichen Gründen
die Ausstellungsvergütung einpreisen müssten. Letztlich
würde sie sich also in höheren Eintritts- oder Verzehr-
güterpreisen und sinkenden Besucherzahlen niederschla-
gen. Wenn die Linken, wie Sie in Ihrem Antrag ebenfalls
schreiben, die Zugänglichkeit zu den Ausstellungen für
alle Bürgerinnen und Bürger gewährleisten wollen, ist
dies sicherlich der falsche Weg.
Mein Kollege Reiner Deutschmann hat in der bereits
erwähnten Debatte darauf verwiesen, dass wir struktu-
relle Unterstützungsmöglichkeiten suchen sollten. Wie
lassen sich zum Beispiel durch Zwischennutzungen
günstige Atelier- oder Ausstellungsflächen gewinnen?
Welche Maßnahmen entlasten den allgemeinen Kunst-
handel nach der auf zwingendem EU-Recht beruhenden
Anpassung des Mehrwertsteuersatzes? Staatsminister
Neumann und Staatssekretär Otto prüfen derzeit unter
anderem die Möglichkeit einer Margenbesteuerung und
eine Anhebung des Bundeszuschusses zur KSK. Alle
diese Maßnahmen wirken strukturell und wären aus un-
serer Sicht geeigneter als die von der Linken geforderte
Mehrbelastung des Ausstellungswesens.
Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): Als läh-
menden Stillstand könnte man die Situation beschreiben,
mit der wir uns heute auseinanderzusetzen haben: Seit
30 Jahren debattieren bildende Künstlerinnen und
Künstler, die sie vertretenden Organisationen und Politi-
kerinnen und Politiker über „rechtliche und finanzielle
Voraussetzungen für die Zahlung einer Ausstellungsver-
gütung“, wie es in unserem Antrag heißt. Es geht darum,
eine seit langem bestehende Gerechtigkeitslücke im gel-
tenden Urheberrecht zu schließen. Einen ersten Schritt in
diese Richtung haben die Grünen mit ihrem Antrag „Für
eine Ausstellungszahlung an bildende Künstlerinnen
und Künstler sowie Fotografinnen und Fotografen bei
durch den Bund geförderten Ausstellungen“, Druck-
sache 17/6346, im letzten Jahr gemacht. Diesen Antrag
haben wir unterstützt. Er wurde leider im mitberatenden
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24059
(A) (C)
(D)(B)
Haushaltsausschuss abgelehnt. Seitdem wieder: lähmen-
der Stillstand.
Aber nun kommt Bewegung in die Geschichte. Am
12. Dezember gibt es im Kulturausschuss ein Fachge-
spräch zur bildenden Kunst unter anderem auch zum
Thema Ausstellungsvergütung. Der Antrag der Grünen
und unserer vom heutigen Tag stehen dann zur Diskus-
sion.
Schweden hat 2009 eine Ausstellungsvergütung ein-
geführt, deren Regelungen durch die Zusammenarbeit
von Künstlerorganisationen und dem schwedischen Kul-
turrat erarbeitet wurden. Seitdem sind alle staatlichen
Museen verpflichtet, für alle Werke im Eigentum eines
in Schweden lebenden Künstlers eine Ausstellungsver-
gütung zu zahlen. 109 Kunsteinrichtungen haben sich
dieser Regelung inzwischen angeschlossen. Schritt für
Schritt verbessert sich so die Situation der schwedischen
Künstlerinnen und Künstler. Außerdem ist diese Rege-
lung Ausdruck für die Anerkennung künstlerischer Leis-
tungen durch den Staat, durch die Gesellschaft. Ich
frage: Warum ist es eigentlich bei uns nicht möglich,
endlich eine Ausstellungsvergütung im Urheberrecht zu
verankern? Wenn sich die Bundesrepublik Deutschland
als Kulturstaat versteht und das Schaffen von Künstle-
rinnen und Künstlern für unverzichtbar hält, dann muss
sie auch die Konsequenzen daraus ziehen und dafür sor-
gen, dass Kreative von ihrer Arbeit leben können.
Museen, Kunstvereine und Kommunalverbände haben
in der Vergangenheit vor der Einführung der Ausstel-
lungsvergütung gewarnt. Sie machten deutlich, dass be-
reits jetzt die Etats für Ausstellungen so knapp bemessen
seien, dass die Einführung letztlich zu weniger Ausstel-
lungen und damit auch zu weniger Präsentationsmög-
lichkeiten für Künstler führen würde. Dieser Argumenta-
tion haben sich leider viele Politiker – namentlich aus
den Reihen der Koalition – angeschlossen. Sie alle ha-
ben gegen die Einführung einer Ausstellungsvergütung
argumentiert. Koalition und auch SPD werden nicht
müde, davor zu warnen, eine solche Vergütung würde
eventuell mehr schaden als nutzen. Hier gilt: Immer
wenn es darum geht, Ungerechtigkeiten aus der Welt zu
schaffen und Menschen zu einem besseren Anteil an ih-
rer Arbeit zu verhelfen, kommt dieses Totschlagargu-
ment. Das war bei der Diskussion um den Mindestlohn
so. Das war beim Folgerecht so. Gerade der Fall Folge-
recht zeigt, dass sich nichts von der Schwarzmalerei, die
jedem Vergütungsanspruch entgegengehalten wird, in
der Realität bewahrheitet hat. Anke Schierholz von der
VG Bild-Kunst hat belegt, dass zum Beispiel in Groß-
britannien nach der Einführung des Folgerechts das Auk-
tionswesen genauso blüht wie zuvor.
Dass die finanzielle Situation der Museen und anderer
Kulturstätten äußerst schwierig ist, ist auch uns bekannt.
Die Frage ist nur, welche Konsequenzen wir aus dieser
Tatsache ziehen. Finden wir uns damit ab, dass wir ein
kulturelles Prekariat haben? Halten wir das für normal,
oder tun wir etwas dagegen? Wir als Linke sind nicht be-
reit, diese Unterfinanzierung weiter hinzunehmen. Des-
halb fordern wir in unserem Antrag auch ein Umsteuern
in der Finanzpolitik des Bundes, um die Voraussetzun-
gen dafür zu schaffen, dass die Länder und Kommunen
ihre Aufgaben zur Daseinsvorsorge auch im kulturellen
Bereich leisten können. Uns geht es um eine Lösung, die
zum einen die Benachteiligung bildender Künstlerinnen
und Künstler im geltenden Recht beendet und darüber
hinaus sichert, dass die Vergütung auch wirklich den Ur-
heberinnen und Urhebern zugutekommt. Der Vergü-
tungsanspruch soll deshalb unverzichtbar sein, im Vo-
raus nur an eine Verwertungsgesellschaft abgetreten und
nur durch diese geltend gemacht werden können. Klei-
nere Vereine und Projekte, die zeitgenössische Kunst
ausstellen, sollen nicht über Gebühr belastet werden.
Hier sind Ausnahmeregelungen sinnvoll. Der Kunsthan-
del soll davon gänzlich ausgenommen werden.
Die konkrete Ausgestaltung der rechtlichen Regelung
sowie die Höhe und Kriterien einer Ausstellungsvergü-
tung sollen in einem Gremium mit den Vertreterinnen
und Vertretern der betroffenen Verbände und Institutio-
nen sowie ausgewählten Künstlerinnen und Künstlern
und Rechtsexperten beraten werden. Es geht ja nicht um
Millionen oder Milliarden an finanziellem Mehrbedarf.
Nehmen wir Berlin als Beispiel.
Schon mit circa 400 000 Euro jährlich ließe sich hier
laut einer Berechnung des BBK Berlin der Bedarf für die
Ausstellungen in den sechs größeren Landeseinrichtun-
gen sowie den Ausstellungsflächen der Kunstvereine
decken. Unsere Kolleginnen und Kollegen in der Links-
fraktion im Abgeordnetenhaus von Berlin haben in ih-
rem Antrag vom Februar dieses Jahres zur Zahlung von
Ausstellungsvergütungen in öffentlichen Einrichtungen
des Landes Berlin im vergangenen Jahr als ersten Schritt
einen Ausstellungsfonds für die kommunalen Galerien
in Höhe von 200 000 Euro im Jahr gefordert. Nehmen
wir an: Jeder Bezirk hat mindestens eine kommunale
Galerie. Dann wären dies ungefähr 18 000 Euro pro
Haus und pro Jahr. Und dies hieße um die 3 000 Euro
pro Ausstellung bei sechs bis sieben Ausstellungen.
Diese Summen kämen Künstlern zugute – einzeln oder
in der ausstellenden Gruppe. Ist das zu viel? Zu viel ver-
langt? Bricht damit unser öffentliches Finanzsystem zu-
sammen?
Es ist uns klar, dass wir mit diesen Forderungen die
finanzielle Situation von bildenden Künstlerinnen und
Künstlern nicht von Grund auf verbessern können. Es
geht dabei auch um Anerkennung ihres Schaffens und
um Gerechtigkeit. Vergessen wir bitte nicht, wie viel ge-
rade Kunstausstellungen wert sind für eine Stadt, eine
Region, wie viel sie beitragen, für deren Ausstrahlungs-
kraft und Faszination. Und alles ohne einen Euro Hono-
rar für die ausstellenden Künstler? Das kann doch unser
politischer Wille nicht sein.
Agnes Krumwiede (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wir begrüßen, dass nach unserem Grünen-Antrag zur
Ausstellungszahlung jetzt auch die Linken einen Antrag
mit derselben Intention vorlegen. Darin übernehmen die
Linken unter anderem unsere zentrale Forderung, dass
der Bund eine verpflichtende Ausstellungszahlung an
bildende Künstlerinnen und Künstler sowie Fotografin-
nen und Fotografen in seine Förderkriterien mit aufneh-
24060 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
(A) (C)
(D)(B)
men soll. Wir sind überzeugt: Dies wäre ein erster
Schritt von Bundesseite mit Signalwirkung an Länder
und Kommunen, um die bestehende Gerechtigkeitslücke
im Bereich bildende Kunst zu schließen. Interpretinnen
und Interpreten erhalten für ihre öffentlichen künstleri-
schen Darbietungen in der Regel eine Gage. Bildende
Künstlerinnen und Künstler müssen zumindest für die
öffentliche Ausstellung ihrer Werke vergütet werden.
Die Linken schließen bei dieser Forderung zu Recht den
Kunsthandel aus. In Galerien oder bei Kunstauktionen
besteht für Künstlerinnen und Künstler die Option, dass
ihre Werke verkauft werden und sie eine Gewinnbeteili-
gung erhalten, ganz im Gegensatz zu Ausstellungen in
Museen. Zwar werden Leihgebühren entrichtet, wenn
Kunstwerke eines Museums temporär in ein anderes
wandern. Aber die Schöpferinnen und Schöpfer selbst
erhalten keinen Cent für das Ausleihen ihrer Werke bei
nicht kommerziellen, öffentlichen Ausstellungen. Eine
Ausstellungsvergütung wäre keineswegs mit immensen
Kosten verbunden. Gerade einmal 2 bis 3 Prozent eines
Ausstellungsetats betreffen die Ausstellungsvergütung
an Künstlerinnen und Künstler, wie wir am Beispiel
Schweden sehen können.
Seit 30 Jahren appellieren Kunstverbände gemeinsam
mit der Gewerkschaft Verdi an die Politik, die Ungleich-
behandlung im Bereich bildende Kunst zu beenden.
Dass es höchste Zeit ist für ein entschlossenes politi-
sches Handeln zur Verbesserung der sozialen und wirt-
schaftlichen Situation insbesondere von bildenden
Künstlerinnen und Künstlern, belegen zahlreiche Statis-
tiken. Laut einer Studie des BBK – des Bundesverbands
der Bildenden Künstlerinnen und Künstler – nehmen
über 50 Prozent der befragten Künstlerinnen und Künst-
ler durchschnittlich lediglich 5 000 Euro pro Jahr durch
den Verkauf ihrer Werke ein. Nicht unerwähnt bleiben
sollte, dass Frauen im Bereich bildende Kunst ein Drittel
weniger verdienen als ihre männlichen Kollegen und
das, obwohl Frauen mit 60 Prozent an Kunstakademien
eindeutig in der Mehrheit sind. Werke von Künstlerinnen
sind wesentlich seltener in Galerien und Museen zu fin-
den; unter den ersten zehn der bedeutendsten und somit
bestverdienenden Künstlerinnen und Künstler der Ge-
genwart befinden sich laut Manager-Magazin gerade
einmal drei Frauen. Was die Gleichstellung von Frauen
auch im Kulturbetrieb betrifft, haben wir Grünen ja in
dieser Legislaturperiode bereits einen Antrag vorgelegt;
auf die Umsetzung unserer Forderungen durch die Bun-
desregierung warten wir bis heute vergeblich.
Während die Ausstellung von Kunstwerken im analo-
gen Raum den Künstlerinnen und Künstlern keinerlei
Vergütung einbringt, ist beispielsweise die öffentliche
Abbildung von Kunstwerken im Internet gemäß § 15
Abs. 2 UrhG vergütungspflichtig. Das heißt, die Schöp-
ferinnen und Schöpfer erhalten entsprechend
Ausschüttungen über die VG Bildkunst. Im bestehenden
Urheberrecht existiert eine rechtliche Lücke für eine
Ausstellungsvergütung von künstlerischen Werken im
analogen Raum, welche die Linken in ihrem Antrag
ebenso wie der BBK durch die Forderung einer entspre-
chenden Ergänzung eines Rechtsanspruchs füllen
wollen. Soweit dadurch der Zugang zu öffentlichen Aus-
stellungen und somit die Möglichkeit zur Teilhabe an
Kunstwerken für alle Bürgerinnen und Bürger nicht be-
einträchtigt werden, ist gegen diesen Vorschlag aus un-
serer Sicht nichts einzuwenden. Wir begrüßen in diesem
Zusammenhang auch, dass die Linken in ihrem Antrag
die Verantwortung des Bundes für eine bessere Finanz-
ausstattung der Länder und Kommunen nicht außer Acht
lassen.
Auch ein Rechtsanspruch auf eine Ausstellungsvergü-
tung als Ergänzung im Urheberrecht wird jedoch ohne
grundlegende Reformen beim Urhebervertragsrecht in
der Praxis – auch darauf gehen die Linken in ihrem
Antrag ein – nur wenig bewirken. Schöpferinnen von
künstlerischen Werken müssen eine stärkere Verhand-
lungsposition gegenüber den Verwertern ihrer Werke er-
halten, damit wirtschaftliche Gewinne der öffentlichen
Verbreitung nicht überproportional bei marktstarken
Verwertern und Vermittlern liegen. Die Bundesregierung
sollte diesbezüglich schleunigst einen Gesetzentwurf
vorlegen – Künstlerinnen und Künstler in Deutschland
sind darauf angewiesen, dass die Politik endlich
maßgebliche Entscheidungen trifft, um ihre soziale und
wirtschaftliche Lage zu verbessern.
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu
den Änderungen vom 10. und 11. Juni 2010 des
Römischen Statuts des Internationalen Strafge-
richtshofs vom 17. Juli 1998 (Tagesordnungs-
punkt 16)
Michael Frieser (CDU/CSU): Was bereits viel zu
lange währt, wird nun hoffentlich gut. In dem Gesetzent-
wurf zu den Änderungen vom 10. und 11. Juni 2010 des
Römischen Statuts des Internationalen Gerichtshofs vom
17. Juli 1998 wird nun das Verbrechen der Aggression
definiert. Dies ist ein wesentlicher Schritt, damit in Zu-
kunft die Strafandrohung durch den Internationalen
Strafgerichtshof nicht nur eine leere Drohung ist. Der In-
ternationale Strafgerichtshof muss als permanentes inter-
nationales Gericht in die Lage versetzt werden, die Ver-
antwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.
Um die Tragweite der geplanten Änderungen des Rö-
mischen Statuts zu erfassen, muss zunächst die histori-
sche Entwicklung, die zu diesen Änderungen führte, be-
trachtet werden. Am 30. September und 1. Oktober 1946
verkündete das Internationale Militärtribunal in Nürnberg
die Urteile gegen 22 Hauptkriegsverbrecher des Zweiten
Weltkrieges. Das Urteil von Nürnberg stellte einen Aus-
gangspunkt für weitere Bemühungen der Staatengemein-
schaft um einen internationalen Strafgerichtshof dar.
Nachfolgend bekräftigte die UN-Vollversammlung aus-
drücklich die Rechtsprinzipien, die in Nürnberg zur An-
wendung gekommen waren, als sogenannte Nürnberger
Prinzipien. Was in Nürnberg seinen Anfang nahm,
wurde stetig weiterentwickelt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24061
(A) (C)
(D)(B)
Bereits 1950 legte die Völkerrechtskommission der
UNO sieben Prinzipien vor, die den Anspruch darauf er-
hoben, dass schwere Verstöße gegen die internationale
Werteordnung geahndet werden. Diese Nürnberger Prin-
zipien haben im Römischen Statut des Internationalen
Gerichtshofs eine Weiterentwicklung erfahren. Das Sta-
tut ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der das Völkerstraf-
recht kodifiziert, damit in internationalen Beziehungen
keine rechtsfreien Räume verbleiben, in denen Men-
schen schutzlos den Gräueltaten von Kriegsverbrechern
ausgesetzt sind. Jede Person, die eine Tat begeht, die
nach dem Völkerrecht als Verbrechen bestimmt wurde,
ist dafür verantwortlich und wird der Bestrafung zuge-
führt, auch wenn das nationale Recht keine Strafe für
eine Tat vorsieht.
Um diese Prinzipien durchzusetzen, wurde mit dem
am 1. Juli 2002 in Kraft getretenen Römischen Statut der
Internationale Strafgerichtshof in Den Haag eingerichtet.
Der IStGH will die nationale Strafgerichtsbarkeit der
Staaten nicht ersetzen und ist auch kein letztinstanzliches
Rechtsmittelgericht, welches Verfahren der nationalen
Strafgerichtsbarkeit überprüfen könnte. Der IStGH er-
gänzt vielmehr die innerstaatliche Gerichtsbarkeit bei
der Verfolgung von Völkerrechtsverbrechen, deren Vor-
rang im Statut vielfach verankert ist. Der Internationale
Strafgerichtshof ist damit Ausdruck des gemeinsamen
Wunsches der Staatengemeinschaft, für Frieden und Ge-
rechtigkeit auch außerhalb der nationalen Grenzen ein-
zustehen.
Das erste Urteil sprach der Internationale Strafge-
richtshof am 14. März 2012 im Verfahren gegen den frü-
heren kongolesischen Milizenführer Thomas Lubanga,
der wegen der Rekrutierung und des Einsatzes von Kin-
dersoldaten für schuldig befunden wurde. Er wurde da-
für am 10. Juli 2012 zu einer Freiheitsstrafe von 14 Jah-
ren verurteilt. Dieses Urteil zeigt, dass die Nürnberger
Prinzipien kein theoretisches Konstrukt sind, sondern
auch in die Praxis umgesetzt werden können.
Doch die Entwicklung des Völkerstrafrechts ist durch
die Errichtung des Internationalen Strafgerichtshof 2002
nicht zu einem Abschluss gekommen. Jetzt gilt es zu be-
weisen, dass Deutschland aus seiner dunklen Vergangen-
heit gelernt hat und seiner völkerrechtlichen Verpflich-
tung nachkommt. Das Völkerstrafrecht muss zu einem
wirksamen Instrument der Friedenssicherung aufgebaut
werden. Bereits die Strafandrohung muss Aggressoren in
ihre Schranken weisen. Dazu ist die stetige Optimierung
und Weiterentwicklung des Völkerstrafrechts notwen-
dig, die mit der vorliegenden Änderung unterstützt wer-
den muss.
Obwohl bereits im ursprünglichen Statut das Verbre-
chen der Aggression als Straftatbestand angelegt gewesen
war, hatten sich die Vertragsstaaten auf der Gründungs-
konferenz weder auf eine Definition des Verbrechens der
Aggression einigen können noch auf die vorzusehende
Rolle des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Eine
Kodifikation des Tatbestands scheiterte auch an umstrit-
tenen Fragen wie dem Umfang des Rechts auf Selbstver-
teidigung und die Zulässigkeit humanitärer Intervention.
Nach Art. 5 des Statuts, wie es auf der Konferenz in
Rom verabschiedet wurde, besitzt der Gerichtshof die
sachliche Zuständigkeit für das Verbrechen der Aggres-
sion. Da aber keine Definition der Aggression beschlos-
sen werden konnte, bleibt die Norm eine leere Hülle, und
zwar so lange, bis eine Definition in das Statut eingefügt
wird. Dies ist angesichts der herausragenden Bedeutung
des Aggressionstatbestands, dessen Zweck es ist, die Ge-
waltanwendung als solche auf internationaler Ebene zu
pönalisieren, ein unhaltbarer Zustand.
Vom 31. Mai bis 11. Juni 2010 fand in Kampala die
erste Überprüfungskonferenz des Römischen Statuts des
Internationalen Strafgerichtshofs statt, in deren Mittel-
punkt die Bemühungen um eine Einigung in Bezug auf
das Verbrechen der Aggression standen. Mit den Ände-
rungen des Römischen Statuts des Internationalen Straf-
gerichtshofs werden nun eine Definition des Verbrechens
der Aggression und die Bedingungen der Ausübung der
Gerichtsbarkeit in das Römische Statut eingefügt. Auch
wird der Einsatz bestimmter Waffen und Geschosse, de-
ren Verwendung in internationalen bewaffneten Konflik-
ten bereits ein Kriegsverbrechen darstellt, auch im nicht
internationalen bewaffneten Konflikt unter Strafe ge-
stellt. Diese Änderungen sind die Früchte eines langwie-
rigen Prozesses, in dem das Völkerstrafrecht geschaffen
und weiter ausgestaltet wurde. Einzelne Staaten sind in
mühsamen Verhandlungen Kompromisse eingegangen,
um das gemeinsame, höhere Ziel voranzubringen: ein
umfassendes System internationaler Strafgerichtsbarkeit,
die die nationale Strafverfolgung wirksam ergänzt. Die
Normierung des Aggressionstatbestandes ist dabei von
herausragender Bedeutung. Nur durch diesen kann eine
wesentliche Lücke der völkerrechtlichen Strafbarkeit ge-
schlossen werden.
Der nun verabschiedete Tatbestand des Aggressions-
verbrechens stellt einen ausgewogenen Kompromiss dar
und trägt der Tatsache Rechnung, dass dieses Delikt im
Vergleich zu den anderen im Römischen Statut aufge-
führten Verbrechen durch die Kriminalisierung staatlicher
Angriffshandlungen und als Führungsverbrechen einen
besonderen Charakter hat. Die individuellen Tathandlun-
gen wurden fast wörtlich den Vorgaben des Statuts des
Nürnberger Militärgerichtshofs zum „Verbrechen gegen
den Frieden“ entnommen.
Von einem Verbrechen der Aggression wird ausge-
gangen, wenn eine Person, die tatsächlich in der Lage
ist, das politische oder militärische Handeln eines Staa-
tes zu kontrollieren oder zu lenken, eine Angriffshand-
lung plant, vorbereitet oder ausführt, die ihrer Art, ihrer
Schwere und ihrem Umfang nach eine offenkundige
Verletzung der Charta der Vereinten Nationen darstellt.
Die Formulierung stellt klar, dass es sich um ein soge-
nanntes Führungsverbrechen handelt, das hohe Anforde-
rungen an die individuelle Täterqualität stellt. Es betrifft
nicht die kleinen Befehlsempfänger, sondern zieht die
Täter zur Rechenschaft, die tatsächlich für den Angriff
auf den Frieden verantwortlich sind. Regierungsober-
häupter dürfen nicht über dem Gesetz stehen.
Eine Angriffshandlung stellt jede mit der Charta der
Vereinten Nationen unvereinbare Anwendung von Waf-
fengewalt durch einen anderen Staat dar, so zum Bei-
24062 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
(A) (C)
(D)(B)
spiel die Invasion des Hoheitsgebiets eines Staates oder
der Angriff auf dieses durch die Streitkräfte eines ande-
ren Staates. Auch eine militärische Besetzung, die sich
aus einer solchen Invasion ergibt, sowie die Bombardie-
rung oder Beschießung des Hoheitsgebiets sind umfasst.
Neben der Blockade der Häfen oder Küsten eines Staates
ist auch der Einsatz von Streitkräften eines Staates, die
sich mit der Zustimmung eines anderen Staates in dessen
Hoheitsgebiet befinden, unter Verstoß gegen die in der
entsprechenden Einwilligung oder Vereinbarung vorge-
sehenen Bedingungen strafbar. Damit ist nicht jede völ-
kerrechtswidrige staatliche Gewaltanwendung zugleich
ein Aggressionsverbrechen. Rechtlich umstrittene Ein-
sätze, die im Rahmen humanitärer Interventionen durch-
geführt werden, um das Leid von Menschen zu lindern
und weitere Gewalt zu verhindern, werden so nicht er-
fasst. Auch Fälle von nicht hinreichender Intensität sol-
len gerade nicht berücksichtigt werden.
Die Ausübung der Gerichtsbarkeit über das Verbre-
chen der Aggression wird in den Änderungen geregelt.
Der Gerichtshof kann seine Gerichtsbarkeit nur bei Ver-
brechen der Aggression ausüben, die ein Jahr nach Rati-
fikation oder Annahme der Änderungen durch 30 Ver-
tragsstaaten begangen werden. Eine weitere wichtige
Änderung betrifft die Strafbarkeit gewisser verbotener
Waffen in nichtinternationalen bewaffneten Konflikten.
Die Verwendung von Gift oder vergifteten Waffen, die
Verwendung erstickender, giftiger oder gleichartiger
Gase sowie aller ähnlichen Flüssigkeiten, Stoffe oder
Vorrichtungen, die Verwendung von Geschossen, die sich
im Körper des Menschen leicht ausdehnen oder flach-
drücken, sind in internationalen bewaffneten Konflikten
bereits strafbar. Der Zustand, dass der Einsatz von Gift-
gasen zwar in internationalen Konflikten bereits als
Kriegsverbrechen geahndet werden kann, Machthaber
aber ihr eigenes Volk mit diesen Waffen konsequenzlos
angreifen können, ist unerträglich. Hier kommt es nun zu
einer Angleichung, da eine grundsätzliche Unterschei-
dung zwischen den Konfliktformen auf humanitär völ-
kerrechtlicher Ebene heute nicht mehr angemessen ist.
Das Leiden und die Verletzungswirkung, die durch diese
Waffen ausgelöst werden, sind verurteilenswert, gleich
in welcher Art von Konflikt sie eingesetzt werden.
Diese Änderungen liegen mir als in Nürnberg direkt
gewähltem Abgeordneten besonders am Herzen. In
Nürnberg entsteht ein Institut für die Durchsetzung der
Nürnberger Prinzipien zum Völkerstrafrecht. Es soll als
Expertenforum dazu beitragen, Frieden mit den Mitteln
des Rechts zu sichern, indem es interdisziplinäre For-
schung betreibt und zielgruppenspezifisches Training zu
völkerstrafrechtlichen Themen sowie Menschenrechts-
bildung anbietet. Ziel der Akademie ist es, die Akzep-
tanz des Völkerstrafrechts und der Nürnberger Prinzi-
pien international zu fördern.
Die Bundesrepublik Deutschland hat an der Ausarbei-
tung des Römischen Statuts aktiv mitgewirkt. Wir müs-
sen uns weiterhin aktiv dafür einsetzen, dass der Inter-
nationale Strafgerichtshof möglichst effektiv arbeiten
kann und breite Unterstützung in der Staatengemein-
schaft findet. Das Gesetz zu den Änderungen vom 10.
und 11. Juni 2010 des Römischen Statuts des Internatio-
nalen Strafgerichtshof vom 17. Juli 1998 ist dabei ein
wichtiger und wirksamer Schritt, um Verbrechen gegen
den Frieden und die Sicherheit der Menschheit der Straf-
barkeit zuzuführen.
Christoph Strässer (SPD): Ich begrüße den Gesetz-
entwurf der Bundesregierung zu den Änderungen des Rö-
mischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs
vom 10. und 11. Juni 2010 in Kampala. Das nicht zuletzt
deshalb, weil ich in der ugandischen Hauptstadt an der
parlamentarischen Begleitung zur Konferenz der Ver-
tragsstaaten des Internationalen Strafgerichtshofes, IStGH,
teilnehmen durfte und so den schwierigen, aber auch be-
eindruckenden Einigungsprozess begleiten konnte. Es
gäbe vieles über diese Konferenz zu berichten. Vor allem
der Wille der meisten Beteiligten, eine tragfähige Eini-
gung unbedingt zu erreichen, war und ist für mich immer
noch unvergesslich.
Die Konferenz war von der internationalen Vereini-
gung „Parliamentarians for global Action“, PGA, in Zu-
sammenarbeit mit der Protokollabteilung des Parlamen-
tes von Uganda organisiert worden. Insgesamt nahmen
an der Veranstaltung neben den Organisatoren und wei-
teren offiziellen Vertretern 117 Parlamentarierinnen und
Parlamentarier aus mehr als 30 Ländern teil.
Das sichtbarste Ergebnis war die trotz großer Skepsis
erkennbare Zustimmung der großen Mehrheit der Kolle-
ginnen und Kollegen aus afrikanischen Ländern zur Ar-
beit des IStGH.
Eine vor Beginn der Konferenz befürchtete Tendenz,
die beklagte „Afrika-Lastigkeit“ der bisher bekannten
Ermittlungen könne auch auf der Review-Konferenz zu
einer Austritts- bzw. Kündigungswelle gerade afrikani-
scher Staaten führen, wurde eindrucksvoll widerlegt.
Im Gegenteil, es wurde ein sehr deutliches und klares
Engagement zur Unterstützung der Tätigkeit des Ge-
richtshofes erkennbar. In der Abschlusserklärung wur-
den in insgesamt 12 Punkten noch einmal die weitge-
henden Übereinstimmungen des Treffens niedergelegt.
Insbesondere wurde Wert darauf gelegt, gemeinsam in
den jeweiligen Regionen für eine weitere Verbreitung
des Statuts zu sorgen und das Statut in den nationalen
Gesetzeswerken vollständig zu implementieren.
Einer der Hauptschwerpunkte der damaligen Konfe-
renz und Thema des hier zu beratenden Gesetzentwurfes
der Bundesregierung war die Frage, ob der Internatio-
nale Strafgerichtshof auch über Aggressionsverbrechen
urteilen sollte.
Für mich stand schon damals fest, dass sich gerade
die deutsche Bundesregierung aufgrund unserer Ge-
schichte dafür einsetzen musste, dass der Internationale
Strafgerichtshof auch über Angriffskriege urteilen kön-
nen soll. Zweimal hat Deutschland die Welt in einen
Weltkrieg gestürzt, indem es Angriffskriege gegen seine
Nachbarn führte, Kriegsverbrechen von bis dahin nicht
gekanntem Ausmaß verübte und versuchte, die jüdische
Bevölkerung Europas auszulöschen. Das Nürnberger
Kriegsverbrechertribunal hat nach der Befreiung vom
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24063
(A) (C)
(D)(B)
Faschismus erstmals in der Rechtsgeschichte über einen
Angriffskrieg und Völkermord gerichtet.
Dabei wäre es 2010 in Kampala durchaus möglich ge-
wesen, dass dieser Straftatbestand aus dem Rom-Statut
gestrichen werden würde. Dahinter steckte seinerzeit vor
allem die Befürchtung, der Streit über eine Definition
von Aggressionsverbrechen könnte den IStGH insge-
samt schwächen.
Der SPD-Bundestagsfraktion und mir war es hierbei
wichtig, dass der Internationale Strafgerichtshof seine Ar-
beit nicht nur fortsetzen konnte, sondern dass er weitere
Rechte erhalten musste. Denn der IStGH und seine Arbeit
bedeuten einen wichtigen Fortschritt, ja einen Quanten-
sprung für die Wahrung und Durchsetzung der individu-
ellen Menschenrechte. In Kampala unterstützten wir inso-
fern alle Anstrengungen, die zwei Ziele befördern sollten:
die Definition des Straftatbestands „Aggressionsverbre-
chen“ in der Zuständigkeit des Internationalen Strafge-
richtshofes und die Stärkung der Arbeitsfähigkeit und die
Erweiterung der Kompetenzen des IStGH.
Deshalb ist dieser Gesetzentwurf ein Beleg für den Er-
folg dieser Konferenz. Denn wir verpflichten uns hiermit,
die Ergebnisse von Kampala in nationales Recht umzu-
setzen. Danach liegt ein Verbrechen der Aggression vor,
wenn die Planung, Initiierung oder Durchführung eines
bewaffneten Angriffs gegen einen anderen Staat vorliegt.
Dieses Verbrechen kann nur von politischen und militäri-
schen Entscheidungsträgern eines Staates begangen wer-
den. Durch die Änderung des Art. 8 Abs. 2 Buchstabe e
des Römischen Statuts wird außerdem der Einsatz be-
stimmter Waffen und Geschosse im Einklang mit dem
Völkergewohnheitsrecht und dem deutschen Völker-
strafgesetzbuch auch im nichtinternationalen bewaffne-
ten Konflikt unter Strafe gestellt. Die USA, die dem
IStGH bislang ferngeblieben sind und in Kampala nur
mit Beobachterstatus vertreten waren, scheiterten glück-
licherweise mit ihrem Versuch, den Streit um die Defini-
tion neu zu entfachen.
Große Diskussionen entbrannten über die Frage, wie
sich diese Definition auf das Verhältnis zwischen dem
IStGH und dem Sicherheitsrat der VN auswirken wird,
welcher laut Kap. VII der VN-Charta einen Akt der Ag-
gression in den internationalen Beziehungen bis dato als
einziger feststellen konnte. Hier kollidierten die Interes-
sen der fünf permanenten Mitglieder des Sicherheitsrates
– USA, Russland, China, Großbritannien, Frankreich –
mit jenen von Kanada, Australien und vor allem der süd-
amerikanischen und afrikanischen Vertragsstaaten. Wäh-
rend die Mitglieder des Sicherheitsrates ihr alleiniges
Recht auf die Feststellung einer Aggression erhalten
wollten, fürchtete die andere Gruppe eine Politisierung
und zunehmende Abhängigkeit des IStGH. Am Ende der
Diskussion stand schließlich ein Kompromiss, der meh-
rere Wege offenlässt, ein „Verbrechen der Aggression“
festzustellen und strafrechtlich zu verfolgen:
Erstens. Der Sicherheitsrat stellt ein „Verbrechen der
Aggression“ fest und beauftragt den Chefankläger des
IStGH, ein Verfahren einzuleiten.
Zweitens. Der Chefankläger selbst darf ein Verfahren
einleiten, wenn er der Meinung ist, dass ein „Verbrechen
der Aggression“ stattgefunden hat, der Sicherheitsrat je-
doch sechs Monate untätig bleibt.
Drittens. Ein Vertragsstaat bittet den Chefankläger,
ein Verfahren einzuleiten.
Natürlich gibt es auch Anlass zu Kritik. Denn den
Vertragsstaaten wird die Möglichkeit eingeräumt, ihre
Entscheidungsträger vor Strafverfolgung durch eine so-
genannte Opting-out-Erklärung zu schützen. Drittstaa-
ten, zum Beispiel USA, Russland und China, fallen per
se nicht unter die Aggressionszuständigkeit des IStGH.
Das hat die unerfreuliche Folge, dass der IStGH nicht
tätig werden darf, wenn ein Vertragsstaat, der die Ag-
gressionszuständigkeit des Gerichts anerkannt hat, von
einem Drittstaat oder einem ausoptierten Vertragsstaat
angegriffen wird.
Obwohl die Gerichtsbarkeit des IStGH in Bezug auf
das „Verbrechen der Aggression“ frühestens am 1. Ja-
nuar 2017 und nur, nachdem mindestens 30 Vertrags-
staaten die in Kampala formulierten Regelungen ratifi-
ziert haben, beginnt, sollten wir alle glücklich über die
Möglichkeit der Verabschiedung dieses Gesetzes sein
und dafür werben, wo immer es möglich ist, auch andere
Vertragsstaaten von der Notwendigkeit und Nützlichkeit
der Ratifizierung zu überzeugen.
Dass angesichts dieser Konflikte eine Einigung er-
reicht wurde, ist nämlich nichts weniger als ein histori-
scher Erfolg – zumal vor dem Hintergrund der seit Jahr-
zehnten festgefahrenen Absichten, den Sicherheitsrat
und die UNO insgesamt zu reformieren. Die Annahme
der Aggressionsbestimmung in Kampala und die Über-
nahme in deutsches Recht stellt deshalb einen riesigen
Schritt für die internationale Strafjustiz dar. In Anbe-
tracht der mehr als ein halbes Jahrhundert andauernden
Bemühungen zur Kodifikation des Aggressionsverbre-
chens kann man das Ergebnis aus Kampala mit Fug und
Recht als Erfolg bezeichnen.
Damit der IStGH seine gegenwärtigen und künftigen
Aufgaben erfüllen kann, braucht er die volle Unterstüt-
zung der Vertragsstaaten. Die zahlenmäßig gestiegenen
und meist sehr aufwendigen Untersuchungen und Ver-
fahren erfordern ausreichende finanzielle und personelle
Mittel. Schon jetzt stößt der Gerichtshof an die Grenzen
seiner Arbeitsfähigkeit. Die seit letztem Jahr laufenden
Untersuchungen in Libyen und in der Elfenbeinküste
sind finanziell bereits nicht mehr gedeckt. Deshalb sollte
Deutschland beispielgebend für andere Vertragsstaaten
seinen freiwilligen Beitrag an den Gerichtshof deutlich
erhöhen.
Die Ergebnisse der Konferenz von Kampala werden
den IStGH langfristig stärken, was einerseits eine große
Verantwortung und Herausforderung bedeutet, anderer-
seits aber auch eine große Chance ist. Treten die Rege-
lungen von Kampala 2017 wirklich in Kraft, kann jede
Gewaltanwendung gegenüber einem anderen Staat vor
dem IStGH angeklagt werden. Dies wäre ein großer
Schritt in Richtung einer starken und effizienten Ver-
rechtlichung der internationalen Beziehungen.
24064 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
(A) (C)
(D)(B)
Deshalb werden wir voraussichtlich nach den Aus-
schussberatungen diesem Gesetz zustimmen.
Marina Schuster (FDP): „Ein historischer Durch-
bruch für die Weiterentwicklung des Völkerstrafrechts“ –
eindeutiger könnte die Denkschrift zum Gesetzentwurf,
den wir heute debattieren, nicht sein. Die Einigung in
Kampala, den Tatbestand der Aggression unter die Ge-
richtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshof zu stel-
len, schließt eine große Lücke des Völkerstrafrechts. Sie
ist ein Meilenstein im internationalen Kampf gegen die
Straflosigkeit.
An dieser Stelle möchte ich mich bei Markus Löning,
dem Beauftragten der Bundesregierung für Menschen-
rechtspolitik und Humanitäre Hilfe, bedanken. Er war
Delegationsleiter in Kampala. Dabei wurde er maßgeb-
lich durch die juristische Expertise von Professor Dr.
Claus Kreß und der Völkerrechtsberaterin der Bundesre-
gierung, Dr. Susanne Wasum-Rainer, unterstützt. Es ist
dem Einsatz des Teams zu verdanken, dass bei dieser
Konferenz die Ziele Deutschlands vollständig erreicht
wurden.
Und auch ich stehe hier nicht ohne Stolz. Deutschland
ist nach San Marino und Liechtenstein das dritte Land,
das die Änderungen des Römischen Statuts ratifiziert.
Als Menschenrechtspolitikerin bin ich stolz, dass
Deutschland hier eine Vorbildrolle übernommen hat und
ein entscheidendes Signal an andere Länder sendet.
Ebenso kann ich selbstbewusst sagen, dass unsere christ-
lich-liberale Koalition heute ein wichtiges Ziel – wort-
wörtlich aus dem Koalitionsvertrag – erreicht hat. Die
FDP-Fraktion kann damit auf eine erfolgreiche Men-
schenrechtsbilanz zurückblicken, und auch das Gesetz
zu den Änderungen des Römischen Statuts geht auf eine
Initiative von uns Liberalen zurück.
Gleichzeitig mit der Definition des Tatbestands der
Aggression wurde in Kampala eine weitere wichtige Än-
derung des Römischen Statuts erreicht. Deutschland war
maßgeblich daran beteiligt, dass der Einsatz bestimmter
besonders grausamer Waffen und Geschosse auch in
nicht internationalen bewaffneten Konflikten in Zukunft
als Kriegsverbrechen eingestuft wird.
Mit dem Tatbestand der Aggression knüpft das Rom-
Statut direkt an die Nürnberger Prozesse an. Bereits im
Statut des Internationalen Militärgerichtshofs wurde die-
ser als „Verbrechen gegen den Frieden“ als zentraler An-
klagepunkt aufgeführt. Die Nürnberger und Tokioter
Prozesse legten den Grundstein für das Ende der Straf-
losigkeit und damit für eine der größten kulturellen Er-
rungenschaften der modernen Menschheitsgeschichte.
Die Ad-hoc-Tribunale für das ehemalige Jugosla-
wien, für Ruanda, Sierra Leone und Kambodscha führen
dieses Vermächtnis seit den 1990er- und 2000er-Jahren
fort.
Sicher ist Ihnen allen das Verfahren gegen den frühe-
ren serbischen Präsidenten Slobodan Milosevic wegen
Völkermordes und Verbrechen gegen die Menschlichkeit
noch in Erinnerung. In Den Haag hat nun gerade der
Prozess gegen den letzten Angeklagten vor dem VN-Tri-
bunal für das ehemalige Jugoslawien begonnen. Goran
Hadzic steht wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen
gegen die Menschlichkeit vor Gericht. Er soll an Mord,
Folter und Vertreibungen beteiligt gewesen sein.
In mühseliger Detailarbeit arbeitet das Tribunal für
Ruanda den grausamen Völkermord an Tutsi und Hutu
auf. Und mit der Verurteilung des ehemaligen liberiani-
schen Präsidenten Charles Taylor vor dem Sondergericht
für Sierra Leone konnte ein großer Erfolg im Kampf ge-
gen die Straflosigkeit erreicht werden.
Leider gibt es aber auch Beispiele, die zeigen, dass
Vergangenheitsbewältigung und Strafverfolgung nach
dem Ende von Unrechtsregimen oder Völkerrechtsver-
brechen häufig unbefriedigend sind. So geht die Aufar-
beitung der Schreckensherrschaft der Roten Khmer nur
schleppend voran. Auch wenn der hauptverantwortliche
Folterer „Duch“ verurteilt werden konnte, behindert die
Regierung in Phnom Penh die Ermittlungen derart, dass
bereits zwei anerkannte Richter aus Deutschland und der
Schweiz ihr Amt niedergelegt haben.
Kambodscha ist kein Einzelfall. Diesen Sommer hatte
ich die Gelegenheit, mich auf einer Reise nach Kenia di-
rekt vor Ort über den Versöhnungsprozess im Anschluss
an die blutigen Ausschreitungen nach den Wahlen 2007
und 2008 zu informieren. Es hat mich sehr beunruhigt,
zu hören, dass keiner der Täter bisher verurteilt wurde.
Viele Opfer fühlen sich alleingelassen. Dies zeigt, welch
große Bedeutung der Arbeit des Internationalen Strafge-
richtshofs zukommt, welcher seit 2009 diese Vorfälle
untersucht. Das Verfahren gegen vier hochrangige
Staatsbeamte ist für 2013 geplant. William Samoei Ruto,
Joshua arap Sang, Francis Kirimi Muthaura und Uhuru
Muigai Kenyatta werden Verbrechen gegen die Mensch-
lichkeit vorgeworfen. Die Ermittlungen des IStGH sind
die große Hoffnung der kenianischen Zivilgesellschaft,
die sich nach einer Aufarbeitung der Vergangenheit
sehnt.
Wir sehen also immer wieder, wie wichtig die Grün-
dung des Internationalen Strafgerichthofs war. Das
„Wunder von Rom“, wie der renommierte Völker-
rechtsprofessor Christian Tomuschat die diplomatische
Bevollmächtigtenkonferenz von 1998 kürzlich nannte,
bestätigte die Universalität des Gedankens von Nürn-
berg. Völkermörder, Kriegsverbrecher und Verbrecher
gegen die Menschlichkeit müssen nun grundsätzlich da-
von ausgehen, dass sie sich für ihre Taten verantworten
müssen, und zwar vor einem zentralen, überparteilichen,
objektiven Gericht – ohne zeitliche Begrenzung!
Der Beschluss von Kampala stärkt die Rolle der indi-
viduellen Verantwortung. Die Definition sieht vor, dass
das Verbrechen der Aggression nur von einer Person be-
gangen werden kann, die tatsächlich in der Lage ist, das
politische Handeln eines Staates zu kontrollieren oder zu
lenken. Man spricht hier auch vom „Führungsverbre-
chen“. Mit seinem Haftbefehl gegen den sudanesischen
Präsidenten Umar al-Bahir hat der Internationale Straf-
gerichtshof bereits bewiesen, dass er auch nicht vor Ver-
fahren gegen amtierende Staatsoberhäupter zurück-
schreckt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24065
(A) (C)
(D)(B)
Bis jetzt sind 121 Staaten dem Römischen Statut bei-
getreten; damit hat sich die Zahl der Mitgliedstaaten seit
dem Inkrafttreten des Vertrags verdoppelt. Wenn wir al-
lerdings das Ende das Straflosigkeit als ernsthaftes Ziel
verfolgen, reicht dies noch lange nicht. Bis jetzt sind we-
der China noch Russland oder die USA Mitglieder des
Römischen Statuts; das sind drei von fünf ständigen Mit-
gliedern des VN-Sicherheitsrates. Während diese Auf-
zählung oft und prominent erwähnt wird, werden viele
andere Staaten vergessen, die sich bisher auch noch nicht
zum Internationalen Strafgerichtshof bekannt haben: In-
dien, Indonesien, Israel und Irak. Tunesien ist erst kürz-
lich und als einziger Staat der arabischen Welt beigetre-
ten.
Weitere große Herausforderungen des Gerichts sind
die Beschleunigung der Verfahren und eine langfristige
Finanzierung. Nach Japan ist Deutschland der zweit-
größte Geldgeber des IStGH. Wir steuern knappe 12 Pro-
zent des 110-Millionen-Euro-Budgets bei. Um den sehr
hohen Erwartungen und Anforderungen gerecht zu wer-
den, ist es unabdingbar, dass das Gericht ausreichend mit
Ressourcen ausgestattet ist. Dies gilt insbesondere für
qualifiziertes Personal. Die Richter des IStGH müssen
nicht nur über solide Kenntnisse des humanitären Völ-
kerrechts und der Menschenrechte verfügen, sondern
brauchen auch praktische Erfahrungen in strafrechtli-
chen Prozessen. Deutschland stellt mit Hans-Peter Kaul
einen der 18 Richter.
Mit dem Institut zur Durchsetzung der Nürnberger
Prinzipien zum Völkerstrafrecht, das unsere christlich-
liberale Koalition ins Leben gerufen hat, haben wir ein
weiteres wichtiges Zeichen gesetzt. 2012 wurden bereits
mehrere Modellprojekte durchgeführt: unter anderem
eine Summer School zum Thema „From Nuremberg to
The Hague“ mit amerikanischen und zwei kenianischen
Studenten im Juni.
Immer wieder bemängeln Kritiker, dass es in der zehn-
jährigen Tätigkeit des IStGH lediglich ein einziges Urteil
gab. Im März wurde der kongolesische Milizenführer
Thomas Lubanga wegen der Rekrutierung von Kinder-
soldaten schuldig gesprochen. Selten wird hingegen von
den Schwierigkeiten gesprochen, die die Ermittler des
Gerichts bei ihren Untersuchungen bewältigen müssen.
Bei ihrer Arbeit ist die Anklagebehörde auf Zeugenaus-
sagen und vor allem auf die Kooperation der Behörden
vor Ort angewiesen. Ein Großteil der Ermittlungsarbeit
muss in Den Haag, dem Sitz des Gerichts, stattfinden.
Im Ergebnis wird hier auch von „remote justice“ – Ge-
rechtigkeit aus der Ferne – gesprochen und die entste-
hende emotionale Distanz kritisiert.
Sehr ähnlich ist der Vorwurf, dass es sich beim IStGH
um eine koloniale Institution handele. Kurz vor ihrem An-
tritt als neue Chefanklägerin widerlegte Fatou Bensouda
dies sehr energisch: „Als Frau, als stellvertretende Chef-
anklägerin, als Afrikanerin bin ich wirklich bestürzt,
wenn gesagt wird, dass der Internationale Strafgerichts-
hof immer nur Afrikaner ins Visier nimmt. Das tut er
nicht. Der IStGH kooperiert mit Afrika. Und er versucht,
die Opfer in Afrika zu beschützen.“ Zurzeit führt das
Gericht Vorermittlungen zu Fällen in Afghanistan,
Kolumbien, Südkorea, Georgien und in den palästinen-
sischen Gebieten und bestätigt damit den universellen
Fokus des Römischen Statuts.
Deutschland steht fest hinter dem Internationalen
Strafgerichtshof. Mit dem heute vorliegenden Gesetzent-
wurf bekennen wir uns klar zu seiner Arbeit, und wir
werden das Gericht auf seinem vielversprechenden Weg
mit großem Engagement begleiten.
Stefan Liebich (DIE LINKE): Am 25. April 2002
debattierte der Deutsche Bundestag die Ratifizierung des
Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtsho-
fes vom 17. Juli 1998 und stimmte schließlich einstim-
mig zu. Die Fraktion der PDS hatte dazu, zum Entwurf
eines Gesetzes zur Einführung des Völkerstrafgesetzbu-
ches, einen Entschließungsantrag eingebracht, der zwar
abgelehnt wurde, dessen teilweise Umsetzung wir aber
nun nach zehn Jahren erleben. Wir forderten damals die
Bundesregierung auf, die Definition eines Verbrechens
der Aggression, die Aufnahme eines Verbrechenstatbe-
standes des internationales Terrorismus, die Strafbarkeit
des Einsatzes von Atomwaffen und anderer grausamer
Waffen und die Festlegung einer Altersgrenze von 18
Jahren für den Einsatz als Soldat in den internationalen
Gremien anzumahnen und dafür tätig zu werden.
Jetzt liegt uns ein Gesetzentwurf der Bundesregierung
vor, ein Gesetzentwurf, der die Resolutionen der ersten
Überprüfungskonferenz des Rom-Statuts, die 2010 in
Kampala, Uganda statt fand, umsetzt und die Verände-
rungen des Rom-Statuts ratifizieren soll. Er regelt die
Definition eines Verbrechens der Aggression, die Straf-
barkeit der Verwendung von – im weiteren Sinne – che-
mischen Waffen, obwohl die Definition der Chemiewaf-
fenkonvention da sicher besser ist, und die Strafbarkeit
grausamer Waffen – hier im Sinne von zum Beispiel
Teilmantelgeschossen –; beides nicht nur in zwischen-
staatlichen Konflikten.
All das ist zu begrüßen. Immerhin, zwei von fünf For-
derungen unseres damaligen Entschließungsantrages
sind umgesetzt.
Und es gilt festzuhalten: Der Internationale Strafge-
richtshof in Den Haag hat trotz erheblichen Widerstan-
des der Regierung der Vereinigten Staaten seine Arbeit
aufnehmen können. 121 Staaten haben mittlerweile das
Rom-Statut ratifiziert. Mit der Verurteilung von Thomas
Lubanga im Juli dieses Jahres wurde das erste Verfahren
zum Abschluss gebracht. Lubanga war der Versklavung
von Kindern als Soldaten in Hunderten Fällen schuldig
gesprochen worden.
Im Fakultativprotokoll zu dem Übereinkommen über
die Rechte des Kindes, betreffend die Beteiligung von
Kindern an bewaffneten Konflikten, von der Bundes-
republik unterzeichnet, aber mit einem Vorbehalt verse-
hen, ist geregelt, keine Heranwachsenden unter 18 zum
Dienst in Streitkräften heranzuziehen. Auch im Sinne in-
ternationaler Glaubwürdigkeit kann ich Sie nur auffor-
dern: Ziehen Sie diesen Vorbehalt zurück! Auch in
Deutschland – und da müssen wir Vorbild sein – darf der
Dienst in Streitkräften erst ab 18 möglich sein.
24066 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
(A) (C)
(D)(B)
Festzuhalten bleibt auch: „Erste Pflicht der deutschen
Politik ist es, auf die Durchsetzung eines internationalen
Rechts zu drängen, das für alle Staaten verbindlich ist.
Ohne eine solche Rechtsordnung kann es keinen Frieden
geben. Auch international gilt: Die Freiheit des Stärke-
ren führt zur Unterdrückung. Das Recht schützt die
Freiheit der Schwächeren.“ Das schrieb unser späterer
Parteivorsitzender Oskar Lafontaine im Jahr 2005, und
ich stimme dem aus vollem Herzen zu.
Deshalb muss die Bundesregierung auf allen Ebenen
dafür wirken, dass die USA und Russland ihren Wider-
stand gegen den Internationalen Strafgerichtshof auf-
geben. Gut, dass die Tschechische Republik 2009 als
letzter EU-Mitgliedsstaat die Ratifizierungsurkunde hin-
terlegt hat. Bei den Beitrittsverhandlungen zur EU sollte
die Ratifizierung des Rom-Statuts und damit die Aner-
kennung eines wichtigen Teils des Völkerrechts Bedin-
gung sein, meine ich.
Historisch ist die Definition eines Verbrechens der
Aggression gar nicht hoch genug zu bewerten, bei allen
Abstrichen und vielen Kompromissen. Nach den Kriegs-
verbrechertribunalen von Nürnberg und Tokio und der
UN-Resolution 3314 von 1974 ist es gelungen, eine breit
getragene Definition zu erarbeiten, die dem Gericht
Raum zu eigenem Handeln lässt.
Deshalb werden wir unsere Kritik im parlamentari-
schen Beratungsverfahren benennen, dem Gesetzent-
wurf jedoch zustimmen. Hausaufgaben – nicht nur der
Bundesregierung; sie ist aber hier unser Adressat – blei-
ben: ein Tatbestand des internationalen Terrorismus und
die Strafbarkeit des Einsatzes von Atomwaffen und aller
Massenvernichtungswaffen.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Der Internationale Strafgerichtshof, IStGH, soll künftig
auch über das Verbrechen des Angriffskrieges urteilen.
Das beschlossen in der Nacht zum 12. Juni 2010 die da-
mals 111 Mitgliedstaaten des Römischen Statuts bei ei-
ner Konferenz in Ugandas Hauptstadt Kampala und füg-
ten einen neuen Art. 8bis in das Römische Statut des
IStGH ein. Demnach können der Sicherheitsrat der Ver-
einten Nationen, die Vertragstaaten des Römischen Sta-
tuts sowie die Chefanklägerin in Zukunft Ermittlungen
wegen Aggressionsverbrechen einleiten. Nun müssen
Präsidenten oder Armeeführer damit rechnen, wegen
völkerrechtswidriger Invasionen, Bombardements oder
Blockaden anderer Länder persönlich zur Verantwortung
gezogen zu werden. Dies ist gerade für uns Deutsche ein
wesentlicher Meilenstein in der völkerrechtlichen Ent-
wicklung. Es geht beim Verbrechen der Aggression um
nicht weniger als um das Erbe der Nürnberger Kriegs-
verbrecherprozesse. Wir Grüne hatten die deutsche De-
legation in Kampala durch einen Antrag unterstützt
(Bundestagsdrucksache 17/1767). Im Nachhinein ist es
umso bedauerlicher und unverständlicher, dass sowohl
die schwarz-gelbe Koalition als auch die SPD diesen
Antrag einst abgelehnt haben. 28 Monate nach Kampala
ist es aber nun doch ein gutes Zeichen, dass die Bundes-
regierung die dort gefundenen Beschlüsse ratifizieren
möchte.
In Kampala wurde ein Kompromiss in letzter Minute
gefunden. Der IStGH kann ab 2017 nun einerseits Ag-
gressionsverbrechen auch dann behandeln, wenn der Si-
cherheitsrat untätig bleibt – obgleich die Chefanklägerin
und die von einem Angriff betroffenen Staaten erst hohe
Hürden zu überwinden haben, ehe sie ein Verfahren ein-
leiten können. Andererseits darf der IStGH nicht gegen
Angehörige von Staaten ermitteln, die dem Statut fern-
geblieben sind, zum Beispiel die USA, China und Russ-
land. Ihre Führer müssen daher nicht befürchten, wegen
möglicher Aggressionen – etwa in Afghanistan, Tibet
oder Georgien – belangt zu werden. Mit dem universel-
len Anspruch des Gerichts ist dieser Kompromiss nach
Ansicht von Bündnis 90/Die Grünen nur bedingt verein-
bar. Mehr als bedauerlich ist zudem die vorgesehene Op-
tionslösung, wonach die Vertragstaaten erklären können,
dass der IStGH nicht für Aggressionen zuständig sein
soll, die durch ihre Staatsangehörigen begangen wurden
oder von ihrem Staatsgebiet ausgehen.
Darüber, dass wir Grünen und vermutlich auch die
Bundesregierung sich ein noch schöneres Ergebnis ge-
wünscht hätten, brauchen wir uns jedoch nicht lange zu
unterhalten. In erster Linie sollten wir uns über den in
Kampala erzielten Durchbruch freuen – Minimalkonsens
hin oder her. Der Sinn der neuen Einigung besteht vor al-
lem darin, eine gefährliche Lücke im Recht der Staaten-
welt zu schließen. Zwar können bislang Verbrechen in-
nerhalb des Kriegs verfolgt werden, auch Verbrechen
gegen die Menschlichkeit und Völkermord. Nur beim
Angriffskrieg selbst war das bisher nicht möglich. Dabei
gilt er seit den Nürnberger Prozessen gegen die NS-Füh-
rung als „das schwerste internationale Verbrechen“.
Die deutsche Delegation hat in Kampala – genauso
wie übrigens schon bei der Schaffung des Römischen
Statuts – einen sehr wichtigen und konstruktiven Beitrag
geleistet, um eine Einigung zu erzielen, und hat gemein-
sam mit den Niederlanden eine Gruppe der Gleichge-
sinnten organisiert, um auf einen Kompromiss hinzuar-
beiten. Und auch wenn Menschenrechtsorganisationen
wie etwa Amnesty International zu Recht kritisieren,
dass man den ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates
zu sehr entgegengekommen sei, so muss ich doch kon-
statieren, dass eine nicht ganz perfekte Regelung des
Tatbestandes des Aggressionsverbrechens immer noch
deutlich besser ist als gar keine Regelung. Dennoch hat
auch die Beharrlichkeit von Amnesty International, Hu-
man Rights Watch und anderen NGOs insgesamt eine
sehr wichtige und positive Rolle gespielt: Ohne deren
Forderungen wären insbesondere Großbritannien und
Frankreich nicht unter jenen enormen Druck geraten, un-
ter dem sie zuletzt standen. Auch Maximalforderungen
zu erheben, ist in Verhandlungsrunden legitim und von
großer Bedeutung. Wer den gefundenen Konsens nun für
zu schmalbrüstig erachtet, der sollte bedenken, dass die
Völkerrechtsentwicklung sich eher in Dekaden als in
Jahren vollzieht. Eine Erweiterung des Aggressionstat-
bestandes ist wohl im steten Prozess weiterhin möglich.
Die große Aufgabe, die in naher Zukunft zu bewälti-
gen sein wird, ist die Implementierung des Tatbestands
des Aggressionsverbrechens in die deutsche Rechtsord-
nung. Für die Umsetzung des Art. 8bis des Römischen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24067
(A) (C)
(D)(B)
Statuts ins deutsche Recht gibt es verschiedene denkbare
Varianten.
Die vermeintlich einfachste, zugleich aber auch un-
ambitionierteste Möglichkeit ist wohl, keine Änderun-
gen im deutschen Recht vorzunehmen und mit dem
bestehenden § 80 StGB weiter zu operieren. Die Mate-
rialien zu Art. 8bis des Römischen Statuts könnten dann
als reine Auslegungshilfe herangezogen werden. Dafür
spricht, dass es keine völkerrechtliche Pflicht gibt, das
Verbrechen der Aggression ins deutsche Recht zu imple-
mentieren. Gegen diese Variante ist jedoch einzuwen-
den, dass die Bundesrepublik ihrer Vorreiterrolle im
Völkerstrafrecht, die sie in Kampala erneut unter Beweis
gestellt hat, und auch ihrer historischen Verpflichtung
nur unzureichend Rechnung tragen würde.
Die zweite, genau gegensätzliche Lösung wäre wohl,
Art. 8bis des Römischen Statuts vollumfänglich in einer
ins Deutsche übersetzten Form im deutschen Recht abzu-
bilden. Hier stellt sich jedoch die Frage des Bestimmt-
heitsgrundsatzes im deutschen Recht, im Strafrecht zu-
mal. Dem wird Art. 8bis nicht gerecht. Insbesondere die
soeben dargestellte Entstehungsgeschichte des Kompro-
misses zum Tatbestand des Aggressionsverbrechens hatte
es erforderlich gemacht, auf Formulierungen zurückzu-
greifen, die wohl erst im Zuge der Rechtsauslegung und
-anwendung näher definiert werden. Ein Umstand zwar,
der in vielen nationalen Gesetzgebungsverfahren eben-
falls vorkommt. Dort aber wird im Regelfall mit bereits
bekannten Rechtsbegriffen jongliert, die die Verfas-
sungsmäßigkeit zumindest in der Regel nicht überstrapa-
zieren.
So bleibt als dritte Möglichkeit wohl nur ein Mittel-
weg. Aufbauend auf § 80 StGB müsste Art. 8bis des Rö-
mischen Statuts in modifizierter Form ins deutsche
Recht übernommen werden, wenn auch nicht unbedingt
im StGB. § 80 StGB ist anerkannt verfassungsgemäß
und hinreichend bestimmt, auch im Hinblick auf die De-
finition des Tatbestandsmerkmals des Angriffskrieges.
Natürlich müsste die Norm jedoch verändert werden.
Zum einen im Hinblick auf den Täterkreis; denn klar ist,
dass das Aggressionsverbrechen im Römischen Statut
ein Führungsdelikt, nach deutscher Wertung also ein ab-
solutes Sonderdelikt, darstellt. Insbesondere aber ist die
Klärung der Frage notwendig, ob der Bezug zu Deutsch-
land in der Norm erhalten bleiben solle.
Ob der Bezug zu Deutschland, wie ihn derzeit § 80
StGB vorsieht, aufrechterhalten bleiben oder zugunsten
eines echten Weltrechtsprinzips aufgehoben werden soll,
ist eine der beiden schwierigsten Fragen bei der Imple-
mentierung des Verbrechens der Aggression in die deut-
sche Rechtsordnung. Der Ständige Internationale Ge-
richtshof hatte im Jahr 1927 im Lotus-Fall geurteilt, dass
die Ausdehnung nationaler Strafgerichtsbarkeit nur dann
unzulässig sei, wenn ein ausdrückliches völkerrechtli-
ches Verbot nachweisbar wäre. Dieses wegweisende Ur-
teil hat das Weltrechtsprinzip begründet und gilt bis
heute. Diese Lotus-Entscheidung konsequent umzusetzen,
hieße, den Deutschland-Bezug aus dem neu zu schaffen-
den Tatbestand zu streichen. Damit infolgedessen jedoch
nicht wegen jeder weltweiten Aggression vor deutschen
Gerichten verhandelt werden müsste, wäre jedoch eine
strafprozessuale Einschränkung über § 153 f StPO zwin-
gend erforderlich.
Wir müssen uns daher fragen, ob wir so eine weite
Regelung im materiellen Strafrecht tatsächlich haben
möchten. Ob es wirklich sinnvoll wäre, den Anschein ei-
nes weltweit für alle Aggressionsverbrechen zuständigen
materiellen Strafrechts zu erwecken, wenn doch klar ist,
dass die Ermittlungsbehörden und auch die Gerichte in
der Vielzahl dieser Fälle an ihre Grenzen stoßen würden.
Die große Mehrzahl der Strafanzeigen nach einem
neuen, auf dem Weltrechtsprinzip basierenden Tatbe-
stand des Aggressionsverbrechens würde aufgrund be-
rechtigter strafprozessualer Erwägungen eingestellt.
Dies würde in erster Linie Enttäuschung hervorrufen und
das Bestreben um eine Stärkung des Völkerstrafrechts
vermutlich eher behindern als fördern.
Es ist daher notwendig, den neuen Tatbestand realis-
tisch und auch pragmatisch zu fassen. Der Bezug zur Bun-
desrepublik Deutschland – ähnlich wie er derzeit in § 80
StGB steht – sollte daher nicht pauschal aufgegeben wer-
den. Denn neben dem Argument, dass die mögliche Über-
frachtung der Gerichte und Ermittlungsbehörden Enttäu-
schung produzieren würde, stellt sich zusätzlich die
Frage, ob ein Weltrechtsprinzip im Falle der Aggression
völkerrechtlich überhaupt möglich wäre. Im Gegensatz
zu anderen Völkerrechtsverbrechen gibt es im Hinblick
auf die Aggression keine diesbezügliche Staatenpraxis.
Mit diesem Argument das Weltrechtsprinzip beim Ag-
gressionsverbrechen aber nun abzulehnen, wäre zu vor-
schnell. Jede Form des Völkergewohnheitsrechts nimmt
aus irgendeinem Anlass und durch irgendeine Norm ihren
Anfang. Das Völkerstrafrecht weiter voranbringen zu
wollen, hieße also, bei der Umsetzung des Aggressions-
verbrechens ins deutsche Recht nicht gänzlich auf einen
weltrechtlichen Anspruch zu verzichten. Zumal andern-
falls eine nicht zu erklärende Ungleichbehandlung zwi-
schen den einzelnen Völkerrechtsverbrechen die Folge
wäre. Eine vermittelnde Lösung wäre also auch hier an-
gebracht. Nicht alle Aggressionsverbrechen sind per se
vom Weltrechtsprinzip erfasst.
Nichtstaatliche Akteure schließt beispielsweise auch
Art. 8bis des Römischen Statuts aus. Zwar muss bei der
Fassung des Tatbestandes der Gefahr entgegengewirkt
werden, dass Angriffskriege in zwei Kategorien unter-
teilt würden: in solche, die von deutschen Behörden ver-
folgt oder nicht verfolgt werden. Doch dies kann durch
eine geschickte, sich am Sinn und Zweck der Norm
orientierende Formulierung des Tatbestandes und der
Tathandlung vermieden werden.
Dies leitet zu der zweiten aus meiner Sicht wesentli-
chen Frage bei der Implementierung des Verbrechens der
Aggression in die deutsche Rechtsordnung über, der
Frage nach der Definition des Angriffskrieges. Es er-
scheint charmant, die Definition aus Art. 8bis Abs. 2 des
Römischen Statuts zu übernehmen. Dies hieße jedoch
zum einen, sich erneut an bislang im deutschen Recht
undefinierte Rechtsbegriffe heranwagen zu müssen – mit
allen Schwierigkeiten im Hinblick auf das Bestimmt-
heitsgebot und die Verfassungsmäßigkeit, und zum an-
24068 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
(A) (C)
(D)(B)
deren, den in Art. 8bis enthaltenen Verweis auf die Reso-
lution 3314 (XXIX) der Generalversammlung der
Vereinten Nationen zu übernehmen. Zu Recht wird der
in Kampala gefundene Kompromiss für den Tatbestand
des Aggressionsverbrechens für diesen Verweis kriti-
siert. Denn die Bezugnahme auf die Resolution 3314
(XXIX) kontaminiert den Aggressionsbegriff mit politi-
schen Erwägungen der Sicherheitsratsmitglieder. Im
deutschen Strafrecht wäre es ein einmaliger Fremdkör-
per, würde die Einschätzung des UN-Sicherheitsrates zur
Tatbestandsvoraussetzung einer strafbaren Handlung.
Zur Lösung dieses Problems böte es sich an, die An-
griffshandlung im deutschen Recht gesondert und ohne
eine Bezugnahme auf die Resolution zu definieren.
Art. 3 der Resolution könnte hierfür aus seinem Kontext
herausgehoben und verwendet werden. Er ist progressiv
und wird international besonders von den kleineren Staa-
ten begrüßt.
Auch angesichts anderer Probleme bietet es sich aus
meiner Sicht nicht an, die Definition aus Art. 8bis Abs. 2
des Römischen Statuts einfach zu übernehmen. Etwa die
aus unserer Sicht unscharf formulierte Tathandlung der
Anwendung von Waffengewalt. Oder den Buchstaben f,
der Handlungen unter Strafe stellt, durch die ein Staat er-
laubt, dass sein Hoheitsgebiet mit Erlaubnis von einem
anderen Staat dazu genutzt wird, eine Angriffshandlung
gegen einen dritten Staat zu begehen. Die Flugbasen der
USA in der Bundesrepublik sind hierfür ein klassisches
Beispiel. Wann immer ein von den USA geführter Krieg,
bei dem in Deutschland stationierte amerikanische Sol-
daten eingreifen, mit dem Vorwurf der Aggression be-
legt wird, würden vermutlich sogleich zahlreiche Straf-
anzeigen gegen deutsche Verantwortliche eingehen, die
die Stationierung US-amerikanischer Truppen gestatten.
Und zwar unabhängig von der Frage, ob der Bezug zu
Deutschland im Aggressionsverbrechen aufrechterhalten
bleibt oder nicht.
Angesichts dieser und vermutlich noch vieler weiterer
Fallstricke sollte sich der Gesetzgeber daher die Mühe
machen, den Angriffskrieg selber zu definieren. Unbe-
nommen davon bleibt ja die Möglichkeit, in der Begrün-
dung des Gesetzentwurfs darauf zu verweisen, dass
Art. 8bis des Römischen Statuts zur weiteren Auslegung
des Begriffs herangezogen werden sollte.
Angesichts der bereits angesprochenen Vorreiterrolle,
die die Bundesrepublik Deutschland in den letzten Jahr-
zehnten im Völkerstrafrecht eingenommen hat und auch
weiterhin einnehmen sollte, bin ich der Meinung, dass
eine Platzierung des neuen Tatbestandes des Aggressi-
onsverbrechens im StGB unzureichend wäre. Anstatt § 80
StGB neu zu fassen, sollte eine neue Norm im Völker-
strafgesetzbuch geschaffen werden. Nur so könnte
Deutschland eine international mustergültige Regelung
schaffen. Die Bundesrepublik würde hierdurch ihren Wil-
len sichtbar bekräftigen, das Aggressionsverbrechen zu
ächten. Denn bei aller notwendigen Begrenzung des
Weltrechtsprinzips und bei allem verständlichen Wunsch,
die deutschen Gerichte nicht zu überfrachten, müssen wir
doch auch zugleich die Stärkung des IStGH als Institution
im Blick behalten. Es hilft dem Gerichtshof nicht, wenn
wir verhältnismäßig unambitionierte nationale Normen
kreieren, die die wesentlichen Problemfälle dann auf den
IStGH verlagern. Der IStGH ist ein Gericht nur für jenen
Notfall, in dem die nationalen Gerichte und Rechtsord-
nungen versagen. Daher plädiere ich für eine mutige Lö-
sung und die Schaffung eines neuen Tatbestandes im
VStGB. Ein Beharren auf § 80 StGB in einer modifizier-
ten Form wäre der Größe des Projektes nicht angemessen.
Zuletzt noch eine kurze Bemerkung zur prozessualen
Flankierung. Jede noch so gute neue Regelung würde an
Einfluss und Macht verlieren, wenn § 153 f StPO weiter-
hin so restriktiv angewandt würde wie bislang. Er muss
reformiert werden. Das Wort „insbesondere“ im zweiten
Absatz suggeriert in meinen Augen, dass es sich im Ver-
gleich zum ersten Absatz eher um eine Soll- als um eine
Kann-Vorschrift handelt. Zudem wird – etwa in der
zweiten Rumsfeld-Entscheidung – in der Rechtspraxis
regelmäßig geprüft, ob angesichts der Möglichkeiten der
Beweissicherung in einem fernen Staat oder der antizi-
pierten Rechtshilfe ein Verfahren denn überhaupt zu ei-
ner Anklage führen könne. Dieser Ansatz, so nachvoll-
ziehbar und menschlich er auch erscheint, muss sehr
kritisch hinterfragt werden. Er steht so nicht im Gesetz.
Wer Enttäuschungen bei der Umsetzung des Tatbestan-
des des Aggressionsverbrechens ins deutsche Recht vor-
beugen will, der sollte auch hier ansetzen.
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts zu dem Antrag: Für wirksamen
Rechtsschutz im Asylverfahren – Konsequen-
zen aus den Entscheidungen des Gerichtshofs
der Europäischen Union und des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte ziehen (Ta-
gesordnungspunkt 17)
Helmut Brandt (CDU/CSU): In ihrem Antrag, den
wir heute in zweiter Lesung beraten, kritisiert die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen, dass entgegen einer Grund-
satzentscheidung des Europäischen Gerichtshofes für
Menschenrechte in Deutschland keine Möglichkeit eines
effektiven Rechtsschutzes gegen die Überstellung in ei-
nen anderen EU-Mitgliedstaat auf Basis der Dublin-Ver-
ordnung bestehe. Nach der Entscheidung des Gerichts-
hofes vom 21. Januar 2011 müssen Behörden und
Gerichte eine Beschwerde, mit der geltend gemacht
wird, durch die Abschiebung in ein anderes Land einer
gegen Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonven-
tion verstoßenden Behandlung ausgesetzt zu sein, gründ-
lich untersuchen. Die zuständige Instanz muss die Kom-
petenz haben, die Beschwerde in der Sache zu prüfen.
Der Deutsche Bundestag soll daher die Bundesregie-
rung auffordern, einen Gesetzentwurf vorzulegen, mit
dem der in den §§ 27 a, 34 a Abs. 2 und 75 AsylVfG
vorgesehene Ausschluss des vorläufigen Rechtsschutzes
gegen Überstellungen im Rahmen der Dublin-II-Verord-
nung aufgehoben wird und stattdessen das Recht auf ei-
nen effektiven Rechtsschutz mit aufschiebender Wir-
kung festgeschrieben wird.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24069
(A) (C)
(D)(B)
Hintergrund des vorliegenden Antrags ist neben einer
Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Men-
schenrechte vom 21. Januar 2011 ein Urteil des Europäi-
schen Gerichtshofes vom 21. Dezember 2011. In dem
Verfahren von Asylbewerbern aus Afghanistan, dem
Iran und Algerien gegen das Vereinigte Königreich und
die Republik Irland hat der Europäische Gerichtshof ent-
schieden, dass ein Asylbewerber nicht an einen Mit-
gliedstaat überstellt werden darf, in dem er Gefahr läuft,
unmenschlich behandelt zu werden; das Unionsrecht
lasse keine unwiderlegbare Vermutung zu, dass die Mit-
gliedstaaten die Grundrechte der Asylbewerber beach-
ten.
Begründet wird der Antrag von Bündnis 90/Die Grü-
nen damit, dass ein Schutzsuchender grundsätzlich vor
einer Rückführung in einen anderen EU-Mitgliedstaat
die Möglichkeit einer effektiven rechtlichen Überprü-
fung mit aufschiebender Wirkung haben müsse: dass
viele Verwaltungsgerichte bereits dementsprechend ent-
schieden, reiche nicht aus.
Ihren Antrag lehnen wir ab. Die Regelungen des
Asylverfahrensgesetzes zum sicheren Drittstaat wurden
1996 vom Bundesverfassungsgericht grundsätzlich ge-
billigt. Und auch der Europäische Gerichtshof hat in sei-
nem Urteil vom 21. Dezember 2011 festgestellt, dass
eine Prüfung der Rechtstexte, die das Gemeinsame Eu-
ropäische Asylsystem bilden, die Annahme zulasse, dass
alle an diesem System beteiligten Staaten die Grund-
rechte beachten, einschließlich der Rechte, die ihre
Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention sowie in
der Europäischen Menschenrechtskonvention haben.
Die Mitgliedstaaten dürfen einander insoweit Vertrauen
entgegenbringen.
Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht eng um-
grenzte Ausnahmen festgelegt, in denen die von der Ver-
fassung beziehungsweise dem Gesetzgeber getroffene
Festlegung von Staaten als sicher und damit auch der
Ausschluss des vorläufigen Rechtsschutzes gemäß § 34 a
Asylverfahrensgesetz nicht gilt. Und auch der Europäi-
sche Gerichtshof hat entschieden, dass von einer Rück-
überstellung abzusehen sei, wenn ernsthafte und durch
Tatsachen bestätigte Gründe die Annahme nahelegen,
dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen
für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemi-
sche Mängel aufweisen.
Was Rücküberstellungen nach Griechenland anbe-
langt, hat der damalige Bundesinnenminister, Thomas de
Maizière, mit der bereits Anfang Januar 2011 zunächst
auf ein Jahr befristeten und zwischenzeitlich um ein wei-
teres Jahr bis Januar 2013 verlängerten vollständigen
Aussetzung von Überstellungen von Deutschland nach
Griechenland die entscheidende Konsequenz aus der
Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Men-
schenrechte gezogen. Hintergrund der Entscheidung des
Bundesinnenministers waren Berichte von Delegations-
teilnehmern sowie Nichtregierungsorganisationen und
dem Hohen Flüchtlingskommissariat, die immer wieder
auf die unhaltbaren Zustände in Griechenland hinwie-
sen. Trotz der geleisteten oder angebotenen Hilfe
herrschten und herrschen in den Flüchtlingslagern men-
schenunwürdige Zustände. Die griechische Regierung
ist nach wie vor nicht in der Lage und wohl auch nicht
willens, sich für eine deutliche Verbesserung der Lage
der Flüchtlinge einzusetzen.
Aufgrund der vollständigen Aussetzung von Über-
stellungen nach Griechenland gibt es derzeit keine Ge-
richtsverfahren, bei denen es auf die Frage vorläufigen
Rechtsschutzes gegen Überstellungen dorthin ankommt.
Ich versichere Ihnen, dass über eine mögliche Verlän-
gerung der Aussetzung von Überstellungen nach Grie-
chenland auf Basis der Dublin-Verordnung rechtzeitig
entschieden wird. Einen akuten Bedarf für eine generelle
Änderung des § 34 a Abs. 2 Asylverfahrensgesetz kann
ich deshalb nicht erkennen.
In Bezug auf Überstellungen in andere Mitgliedstaaten
sind derzeit keine Konsequenzen veranlasst. Die deutli-
che Verurteilung von Griechenland zeigt, dass es sich um
eine ganz außergewöhnliche und einzigartige Situation
handelt: Der Europäische Gerichtshof für Menschen-
rechte stützt seine Entscheidung auf übereinstimmende
und über einen längeren Zeitraum verfestigte Berichte
zahlreicher europäischer Institutionen und unabhängiger
internationaler Organisationen über massive strukturelle
Mängel im Griechenland-Asylsystem, die im Ergebnis
eine Schutzverweigerung bedeuten. Eine solche Situation
besteht in Bezug auf andere Mitgliedstaaten nach derzei-
tigem Kenntnisstand nicht.
Soweit Verwaltungsgerichte gleichwohl Überstellun-
gen in andere Mitgliedstaaten im Wege des vorläufigen
Rechtsschutzes untersagen, was zum Beispiel in Bezug
auf Italien teilweise der Fall ist, teilen wir die darin zu-
grunde liegende Einschätzung nicht: Weder für Italien
noch für andere Mitgliedstaaten gibt es konkrete An-
haltspunkte für sogenannte systemische Mängel des
Asylsystems, die zu einer generellen Aussetzung von
Überstellungen veranlassen.
Eine Änderung des § 34 a Abs. 2 Asylverfahrensge-
setz kommt überdies zum jetzigen Zeitpunkt für uns
auch deshalb nicht in Betracht, da aktuell auf europäi-
scher Ebene Verhandlungen über eine Neufassung der
Dublin-Verordnung stattfinden. Im Zuge dieser Gesprä-
che wird auch über die Möglichkeit eines einstweiligen
Rechtsschutzes gegen eine Abschiebungsanordnung im
Rahmen des Dublin-Verfahrens verhandelt. Ich bitte um
Verständnis, dass wir schon aus Gründen einer einheitli-
chen europäischen Regelung zunächst den Ausgang die-
ser Gespräche abwarten.
Ich warne jedoch ausdrücklich davor, das Dublin-Sys-
tem als solches infrage stellen. Denn die auf dem Verant-
wortungsgrundsatz basierenden Zuständigkeitsregelungen
der Dublin-Verordnung und ihres Vorgängerabkommens
haben sich in den über zehn Jahren ihrer Anwendung be-
währt. Das Dublin-II-Abkommen war und ist der Garant
dafür, dass wir keinen unkontrollierten und auch von uns
nicht mehr zu bewältigenden Asylbewerberstrom haben.
Und das Dublin-System bietet die Garantie dafür, dass
das europäische Asylsystem nicht dadurch ins Stocken
gerät, dass die staatlichen Behörden mehrere Anträge
desselben Antragstellers bearbeiten müssen.
24070 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
(A) (C)
(D)(B)
Einen Alleingang dahin gehend, den in den §§ 27 a,
34 a Abs. 2 und 75 AsylVfG vorgesehenen Ausschluss
des vorläufigen Rechtsschutzes gegen Überstellungen
nach Griechenland im Rahmen der Dublin-II-Verord-
nung generell aufzuheben, wird es deshalb mit uns nicht
geben.
Wichtig erscheint mir außerdem, dass wir auf euro-
päischer Ebene darüber nachdenken, die Visumsfreiheit
für Länder wie Serbien und Mazedonien schnellstmög-
lich auszusetzen. Die Zahlen der Asylbewerber des Mo-
nats September 2012 zeigen insbesondere einen sprung-
haften Anstieg von Asylanträgen durch serbische und
mazedonische Staatsangehörige. Das liegt zum einen an
der Abschaffung der Visapflicht für diese Länder, zum
anderen aber auch an der Rechtsprechung des Bundes-
verfassungsgerichts, das Asylbewerbern die volle Sozi-
alhilfe zuerkannte. So etwas spricht sich natürlich auch
in Staaten wie Serbien und Mazedonien, die ein beson-
ders großes Wohlstandsgefälle zum EU-Raum aufwei-
sen, rasend schnell herum. Diese Menschen kommen
nach Deutschland, um hier ein besseres Leben führen zu
können. Das mag menschlich verständlich sein; aber da-
für ist das Asylrecht nicht geschaffen worden.
Rüdiger Veit (SPD): In seinem Urteil vom 21. Ja-
nuar 2011, MSS. gegen Belgien und Griechenland (Be-
schwerde-Nr. 3096/09), hat der Europäische Gerichtshof
für Menschenrechte, EGMR, entschieden, dass die
Rücküberstellung in dem konkreten Fall nach Griechen-
land aufgrund der dortigen Haft- und Lebensbedingun-
gen eine Verletzung von Art. 3 der Europäischen Men-
schenrechtskonvention, EMRK, darstellt; zudem liege
eine Verletzung von Art. 13 EMRK, dem Recht auf eine
wirksame Beschwerde vor, da der Beschwerdeführer
keine Möglichkeit hatte, vor der Überstellung nach Grie-
chenland gegen diese Rücküberstellung wirksame
Rechtsmittel einzulegen. Mit anderen Worten: Aus die-
ser Entscheidung des EGMR folgt unzweideutig, dass es
Flüchtlingen, die rücküberstellt werden sollen, möglich
sein muss, dagegen Rechtsmittel einzulegen.
Das geltende deutsche Recht schließt in § 34 a Abs. 2
AsylVfG die Möglichkeit eines einstweiligen Rechts-
schutzes gegen Abschiebungen in einen sogenannten
sicheren Drittstaat aus. Damit entspricht es nicht der
Rechtsprechung des EGMR.
Ende des Jahres 2011 folgte die Große Kammer des
Gerichtshofs der Europäischen Union, EuGH, der Linie
des EGMR. In seiner Entscheidung vom 21. Dezember
2011 stellte sie fest, „dass das Unionsrecht der Geltung
einer unwiderlegbaren Vermutung entgegensteht, dass
der im Sinne der Verordnung Nr. 343/2003 – Dublin-II-
Verordnung – „als zuständig bestimmte Mitgliedstaat die
Unionsgrundrechte beachtet“. Der EuGH führte weiter
aus, „dass es den Mitgliedstaaten einschließlich der na-
tionalen Gerichte obliegt, einen Asylbewerber nicht an
den „zuständigen Mitgliedstaat, im Sinne der Verord-
nung Nr. 343/2003 – Dublin-II-Verordnung – zu über-
stellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die
systematischen Mängel des Asylverfahrens und der
Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem
Mitgliedstaat … Gründe für die Annahme darstellen,
dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer un-
menschlichen … Behandlung … ausgesetzt zu werden“.
Vielleicht wundern Sie sich, warum ich die Entschei-
dungen des EGMR und des EuGH hier noch einmal so
ausführlich darlege, sind sie doch auch hinreichend in
dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
genannt. Ich tue dies vor allem im Hinblick auf die Kol-
leginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion. Nach
dem Bericht des Innenausschusses zu dem vorliegenden
Antrag hatten sie die Ablehnung des Antrags empfohlen,
da er auf einer „fehlgehenden Interpretation einzelner
Entscheidungen des … EuGH und des … EGMR“
beruhe; mit diesen falschen Interpretationen der Recht-
sprechung der höchsten europäischen Gerichte wolle die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen den Asylkompromiss
von 1992/1993 „zu Fall bringen“.
Was ich zuvor zu den Entscheidungen des EGMR und
des EuGH berichtet habe, habe ich nicht interpretiert,
sondern zitiert. Die Entscheidungen dieser beiden
Gerichte sind eindeutig, klar verständlich und bedürfen
insofern keiner Interpretation mehr. Ich bin mir auch si-
cher, dass EGMR und EuGH bei ihren Entscheidungen
nicht im Sinn hatten, den deutschen Asylkompromiss
auszuhöhlen. Das erscheint abwegig. EuGH und EGMR
sind die für die Mitgliedstaaten maßgebenden Oberge-
richte. Sie haben entschieden, dass im Verfahren gegen
Überstellungen im Rahmen der Dublin-II-Verordnung
ein effektiver einstweiliger Rechtsschutz möglich sein
muss und dass es keine unwiderlegliche Vermutung für
die Einhaltung und Gewährung der durch die EMRK ge-
schützten Rechte in den Mitgliedstaaten gibt.
Das hat auch das Bundesverfassungsgericht in mehre-
ren Eilentscheidungen, in denen es die aufschiebende
Wirkung eingelegter Rechtsmittel gegen Rückführungen
nach Griechenland aufgrund einer „grundrechtskonfor-
men Auslegung“ des § 34 a Abs. 2 AsylVfG bejaht hat,
so entschieden. Ebenso urteilten verschiedene Verwal-
tungsgerichte quer durch die gesamte Republik. Nach
Griechenland wird derzeit – wie wir alle wissen – über-
haupt nicht mehr rücküberstellt.
Diese Entscheidungspraxis deutscher Gerichte kann
aber nicht dazu führen – wie die Kolleginnen und Kolle-
gen der Unionsfraktion jedoch meinen –, dass in
Deutschland kein Handlungsbedarf bestehe. Zudem
kann es nicht richtig sein, das Bundesverfassungsgericht
jeweils im Einzelfall mit der Frage zu bemühen, ob ein
einstweiliger Rechtsschutz gegen eine Überstellung an-
gezeigt sei, wenn der EGMR deutlich sagt, dass dies ein
Recht ist, das grundsätzlich gegeben sein muss. Es ist
eine Fragestellung, die der Gesetzgeber zu entscheiden
hat und wohl auch demnächst wird entscheiden müssen;
denn am 19. September 2012 hat der Innenausschuss des
EPs die geänderte Dublin-II-VO verabschiedet, auf die
sich EP, Rat und Kommission zuvor in Trilogverhand-
lungen in erster Lesung geeinigt hatten. In dieser Neu-
fassung ist ein einstweiliger genereller Rechtsschutz ge-
gen Rücküberstellungen vorgesehen.
Vor diesem Hintergrund begrüßen wir auch ausdrück-
lich die Entscheidung des EGMR von Anfang dieses
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24071
(A) (C)
(D)(B)
Jahres. Der EGMR hatte einen Fall zu entscheiden, in
dem Italien eine Gruppe von auf hoher See aufgegriffe-
nen Menschen an libysche Sicherheitskräfte zurücküber-
stellte (Urteil vom 23. Februar 2012, Hirsi Jamaa u. a.
gegen Italien, Nr. 27765/09). Damit verstieß Italien ge-
gen die Europäische Konvention für Menschenrechte,
EMRK: Wenn Vertreter eines EGMR-Vertragsstaates
effektive Kontrolle über eine Person, ein Gebiet oder ein
Schiff ausüben, dann sind sie an die EMRK – insbeson-
dere das Non-Refoulement-Gebot – auch außerhalb des
eigenen Hoheitsgebiets gebunden.
Bei einer Überarbeitung der Frontex-Verordnung
müssen wir darauf drängen, dass die EU-Menschen-
rechte bei Einsätzen der Grenzschutzagentur gewahrt
werden.
Die Entwicklungen an den EU-Außengrenzen – ins-
besondere zum Beispiel in Griechenland aber auch in
jüngster Zeit in Ungarn – haben deutlich gemacht, dass
wir in Europa dringend eine Verantwortungsteilung
brauchen. Ich halte das für die derzeit dringendste politi-
sche Aufgabe im Rahmen des europäischen Flüchtlings-
rechts. Eine solche ist im Dublin-II-System nicht vor-
gesehen. Das ist ungerecht. Es ist ungerecht gegenüber
den Mitgliedstaaten, die EU-Außengrenzen haben; sie
müssen die Hauptlast tragen, und es ist ungerecht gegen-
über den Flüchtlingen, weil die auf dem Papier verein-
heitlichten Aufnahme-, Verfahrens- und Anerkennungs-
bedingungen weit davon entfernt sind, in der Praxis
tatsächlich EU-weit gleich angewandt zu werden.
Gleichzeitig sollten wir darüber nachdenken, legale
Wege nach Europa zu öffnen. Eine Möglichkeit ist die
Vergabe von sogenannten Schutzvisa. Außerdem sind
wir für den Aufbau von langfristigen Resettlement-
Programmen mit einem bestimmten Kontingent. Die be-
stehenden Programme sollten dementsprechend ausge-
baut werden. Ich könnte mir zum Beispiel die Aufnahme
von 100 000 Personen pro Jahr EU-weit vorstellen, um
mal konkret eine Hausnummer zu nennen.
Um ein wirksames europäisches Asylsystem zu
haben, müssen wir an vielen Stellen Änderungen vor-
nehmen. Die von den europäischen Gerichten eingefor-
derte Möglichkeit der Gewährung einstweiligen Schut-
zes gegen Rücküberstellungen in Erstaufnahmeländer ist
ein notwendiger Schritt in diese Richtung.
Wir stimmen dem Antrag zu.
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Über das euro-
päische Asylsystem muss weiter beraten und nachge-
dacht werden, und das muss auch bei den anstehenden
Verhandlungen zum Ausdruck gebracht werden. Eine
Nachjustierung erscheint in mancher Hinsicht sinnvoll –
auch beim Rechtsschutz, allerdings ist es völlig überzo-
gen, in diesem Zusammenhang plakativ von „menschen-
und europarechtswidrigen Bestimmungen des deutschen
Rechts“ zu sprechen, wie die Antragssteller das zum
wiederholten Male tun.
Ob tatsächlich das von Regierungen vereinbarte Eu-
roparecht, wie die Grünen das mutig behaupten, das Ver-
fassungsrecht, etwa des Parlamentarischen Rates in
Deutschland bricht, darüber hat Karlsruhe sich bislang
nicht so eindeutig geäußert. Als Parlamentarier finde ich,
dass Recht, das direkt aus einer demokratisch-parlamen-
tarischen Willensbildung entsteht, grundsätzlich Vorrang
vor intergouvernementalen Vereinbarungen haben sollte.
Da ist der demokratische Einfluss mir denn doch zu indi-
rekt. Insofern sind Reformen zur Stärkung der parlamen-
tarischen Demokratie auf europäischer Ebene geboten.
Das Bundesministerium des Inneren hat voriges Jahr
alle Überstellungen nach der Dublin-II-VO nach Grie-
chenland ausgesetzt. Hier hat der Bundesinnenminister
die volle Unterstützung der FDP-Bundestagsfraktion.
Damit wird die schwierige Situation berücksichtigt, die
in Griechenland für Asylbewerber besteht.
Bereits im Jahr 2010 war nur ein kleiner Anteil von
Personen überhaupt nach Griechenland überstellt wor-
den; in den restlichen Fällen hatte die Bundesrepublik
Deutschland bereits von ihrem Selbsteintrittsrecht Ge-
brauch gemacht.
Das Bundesverfassungsgericht hat als Reaktion auf die
Aussetzung die Verfahren, die dort zur Geltendmachung
einstweiligen Rechtsschutzes anhängig waren, einge-
stellt. Es ist über die Notwendigkeit eines einstweiligen
Rechtsschutzes also nicht entschieden worden.
Man kann ja grundsätzlich der Auffassung sein, dass
Deutschland angesichts der bisherigen Situation des
Rechtsschutzes bei Dublin-II-Verfahren noch Nachhol-
bedarf hat. Die Bundesregierung geht aber sehr verant-
wortungsvoll mit dem Rückführungsmechanismus um:
Rückführungen sind nun ausgesetzt; bereits im vergan-
genen Jahr wurden nur 50 Personen nach Griechenland
zurückgeführt; beim Rest wurde vom Selbsteintrittsrecht
Gebrauch gemacht.
Gleichzeitig können auch Staaten wie Griechenland
nicht bevorzugt werden, wenn sie die Standards nicht
einhalten: Der Druck muss aufrechterhalten bleiben. Kon-
krete Hilfe hat die Bundesregierung für die griechischen
Behörden auch angeboten – hinsichtlich der menschen-
würdigen und schnelleren Gestaltung der Asylverfahren
und der Rahmenbedingungen hierzu ist dieses ebenso
wie zur stärkeren Grenzsicherheit vonnöten.
Der Schutz von Menschen in Not ist für uns ein hohes
Gut. Die FDP wird daher in der Koalition mit der CDU/
CSU die Asylpolitik weiterhin verantwortungsbewusst und
sensibel entwickeln und die EU-Planungen konstruktiv
begleiten.
Ulla Jelpke (DIE LINKE): Wir behandeln heute ab-
schließend einen Antrag der Grünen, in dem die volle
Wiederherstellung des Eilrechtsschutzes bei Abschie-
bungen im Rahmen des Dublin-Systems gefordert wird.
Innerhalb der EU ist im Regelfall der Staat für die
Durchführung des Asylverfahrens zuständig, in den eine
Person zuerst eingereist ist. Wenn Asylsuchende den-
noch nach Deutschland weiterreisen, wird ihr Asylantrag
nicht inhaltlich geprüft und sie müssen in das Erstein-
reiseland zurückkehren, um dort ihr Asylverfahren zu
betreiben. Im Zuge dessen erhalten sie einen Überstel-
lungsbescheid. Eine Klage gegen diesen Bescheid hat al-
24072 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
(A) (C)
(D)(B)
lerdings keine aufschiebende Wirkung – dies wird nach
geltendem Recht sogar ausdrücklich ausgeschlossen. Ein
solches Verfahren widerspricht dem EU-Grundrecht auf
effektiven Rechtsschutz. Der Europäische Gerichtshof
hat entschieden, dass die Behörden der Mitgliedstaaten
nicht einfach automatisch von einer „Sicherheit“ in an-
deren Mitgliedstaaten ausgehen dürfen. Ernstliche Zwei-
fel an der Funktionsfähigkeit des Asylsystems und den
Aufnahmebedingungen des Staates, in den überstellt
werden soll, müssen grundsätzlich überprüft werden
können. Die unerträglichen Zustände in Griechenland,
aber zum Beispiel auch in Italien und Ungarn, führen das
klar vor Augen. Deutsche Verwaltungsgerichte haben
deshalb in mittlerweile Hunderten Fällen entgegen dem
klaren Wortlaut des Asylverfahrensgesetzes einstweili-
gen Rechtsschutz verfügt.
Doch in der Bundesrepublik wird der Rechtsschutz
nicht allein durch die Rechtslage ausgehebelt, sondern
auch durch eine zutiefst rechtsstaatswidrige Behörden-
praxis. Im Mai dieses Jahres hat die Abschiebebeobach-
tung am Flughafen Frankfurt/Main ihren Tätigkeits-
bericht für das Jahr 2011 vorgelegt. Darin wird der Fall
eines 18-jährigen Jugendlichen aus dem Sudan dar-
gestellt. Gemäß der Dublin-Verordnung ist Italien der
zuständige EU-Staat. Der Jugendliche ist schwer trauma-
tisiert, durch das stabile Umfeld einer Jugendhilfeein-
richtung befindet er sich auf dem Weg der Besserung.
Doch dann wird er nachts aus der Einrichtung abgeholt
und zum Flughafen gebracht. Weder die Einrichtung
noch sein Anwalt werden vorher informiert. Anschlie-
ßende Recherchen des Forums Abschiebebeobachtung
ergeben, dass das Bundesamt für Migration und Flücht-
linge die zuständige Ausländerbehörde aufgefordert hat,
den Bescheid über die Überstellung erst zu übergeben,
wenn die Überstellung selbst stattfindet. Damit hat der
Betroffene keine Möglichkeit mehr, sich wirksam gegen
seine Überstellung zur Wehr zu setzen.
Ein neueres Beispiel stammt aus dem August dieses
Jahres. Da sollte ein Asylbewerber nach Italien zurück-
geschoben werden. Das Verwaltungsgericht entschied
jedoch, die Abschiebung dürfe nicht stattfinden, und er-
ließ eine einstweilige Verfügung. Der Betroffene wurde
da gerade zum Flieger gebracht. Die Bundespolizei
wollte nicht auf den von der Ausländerbehörde telefo-
nisch bereits angekündigten Beschluss warten und voll-
zog die Abschiebung in Kenntnis des Urteilsspruchs.
Eine Minute nachdem das Flugzeug seine Parkposition
verlassen hatte, traf die richterliche Verfügung dann
auch per Fax ein – zu spät. Inzwischen hat die Bundesre-
gierung den Asylbewerber auf Staatskosten zurückholen
müssen. Aber das Verfahren war eine unglaubliche
Belastung und Zumutung für den Betroffenen, der in
Europa Schutz vor Verfolgung sucht. Hätten seine
Rechtsmittel gegen die geplante Überstellung aufschie-
bende Wirkung gehabt, wäre allen Beteiligten eine
Menge erspart geblieben.
Die Bundesregierung weigert sich beharrlich, mir auf
meine zahlreichen parlamentarischen Fragen zu dieser
Zustellungspraxis auch nur einmal klar zu antworten.
Erst eine neue Weisung des NRW-Innenministeriums an
die Ausländerbehörden aus dem Juli hat bestätigt, dass
das Bundesamt durch seine Vorgaben in der Praxis tat-
sächlich effektiven Rechtsschutz bewusst verhindert hat.
In der Weisung aus Nordrhein-Westfalen heißt es – ich
zitiere –: „Das Bundesamt übermittelte die Rücküber-
stellungsbescheide in der Praxis an die Ausländerbehör-
den bislang mit der Bitte diese – möglichst am Überstel-
lungstag – … zuzustellen.“ Nun sendet das Bundesamt
den Dublin-Bescheid der zuständigen Ausländerbehörde
zwei Wochen vor Termin zu, lässt aber fatalerweise
komplett offen, wann er zugestellt werden soll.
Ich halte also fest, dass die Bundesregierung zur
rechtsstaatswidrigen Praxis des Bundesamtes bewusst
unzureichende Antworten gegeben hat. Nun hat das
Bundesamt den Schwarzen Peter den Ländern zugescho-
ben. Wann die Ausländerbehörden die Bescheide nun
zustellen, bleibt ganz ihnen überlassen. Zu befürchten ist
daher, dass viele an der gängigen Praxis festhalten. Es
kann aber nicht angehen, dass die Zustellung des Be-
scheids aus rein taktischen Erwägungen bis zur letzten
Minute herausgezögert wird. Die Effizienz des Behör-
denhandelns wird mit einem solchen Vorgehen über den
Rechtsstaat gestellt. Die Bundesregierung ist gefordert,
hier endlich für eine einheitliche und rechtsstaatliche
Praxis zu sorgen. Sobald feststeht, dass ein Asylbewer-
ber in einen anderen Staat überstellt werden soll, muss
das den Betroffenen auch rechtzeitig mitgeteilt werden.
In der ersten Debatte dieses Antrags haben Sie von
der CDU/CSU geäußert, die Einführung eines effektiven
Rechtsschutzes sei überflüssig. Denn es gebe ja bereits
das Selbsteintrittsrecht der EU-Staaten, von dem die
Bundesrepublik im Falle Griechenlands auch Gebrauch
mache. Da dort kein effektives Asylverfahren garantiert
ist, werden auch keine Asylsuchenden nach Griechen-
land zurückgeschoben. Ich darf Sie daran erinnern, dass
es zwei Jahre gedauert hat, bis sich diese Einsicht in der
Bundesregierung durchgesetzt hat – zwei Jahre, in denen
Asylsuchende in Not und Elend abgeschoben wurden.
Außerdem geht dieses Argument an der Sache voll-
kommen vorbei. Die Grünen fordern in ihrem Antrag,
den individuellen Rechtsschutz von Asylsuchenden zu
stärken. Dafür sollen Überstellungsentscheidungen ge-
richtlich überprüfbar gemacht werden. Das ist etwas
vollkommen anderes als das Recht des Staates, von einer
Überstellung im Einzelfall oder in bestimmte Länder ab-
zusehen. Das ist ein reines Gnadenrecht. Wir wollen
aber kein Gnadenrecht, sondern garantierte individuelle
Grundrechte, deren Einhaltung von Gerichten überprüft
werden kann. Die Linke stimmt dem Antrag der Grünen
deshalb zu.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Noch immer haben bei Überstellungen nach der Dublin-
II-Verordnung Schutzsuchende im Asylverfahren nach
deutschem Recht keinen Anspruch auf effektiven einst-
weiligen Rechtsschutz. Das ist eines Rechtsstaates un-
würdig. Denn wie sollen Asylsuchende die Gründe für
einen Verbleib in Deutschland und damit den sogenann-
ten Selbsteintritt zur Durchführung des Asylverfahrens
hier wirksam vorbringen? Krankheiten, familiäre Bin-
dungen, aber auch gravierende Mängel im Asylsystem
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24073
(A) (C)
(D)(B)
des Staates, in den zurücküberstellt werden soll, können
die Durchführung eines nationalen Asylverfahrens be-
gründen. Nur wie soll dies durchgesetzt werden können,
wenn aufgrund der Inhaftierung der allermeisten Dublin-
Asylfälle – Rücküberstellungshaft – es nur wenigen ge-
lingt, aus der Haft heraus einen Anwalt zu finden, der
den entsprechenden Rechtsschutzantrag auf den Weg
bringt?
Seit den mit dem 1. EU-Richtlinienumsetzungsgesetz
2007 eingeführten Änderungen wurde über § 34 a Abs. 2
AsylVfG der einstweilige Rechtsschutz gegen Entschei-
dungen im Verfahren nach der Dublin-II-Verordnung ge-
nerell ausgeschlossen. Vom Ausland aus kann ein effek-
tiver Rechtsschutz vor deutschen Verwaltungsgerichten
aber nicht greifen. Ein Rechtsbehelf ist nur dann wirk-
sam, wenn irreparable Folgen, wie sie durch die sofor-
tige Vollziehung einer hoheitlichen Maßnahme vor deren
gerichtlichen Überprüfung eintreten können, so weit als
möglich ausgeschlossen werden können.
Der Gesetzgeber ist hier zeitnah gefordert, die men-
schen- und europarechtswidrigen Bestimmungen des
deutschen Rechts aufzuheben und im deutschen Recht
effektiven Rechtsschutz gemäß der Europäischen Men-
schenrechtskonvention und unionsrechtlichen Vorgaben
festzuschreiben. Dies fordert der vorliegende Antrag.
Die Koalition hat in den Innenausschussberatungen
hingegen weiter auf Verzögerung und Abwiegeln ge-
setzt – und dies, obwohl inzwischen neben den deutli-
chen Urteilen des Europäischen Gerichtshofs und des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auch im
Entwurf der Kommission zur Reform der Dublin-II-Ver-
ordnung ein wirksamer Rechtsschutz bei Rücküberstel-
lungen vorgesehen werden soll.
In einem Urteil vom 21. Dezember 2011 in den ver-
bundenen Rechtssachen C-411/10 und C-493/10 hat der
Gerichtshof der Europäischen Union unmissverständlich
klargestellt, dass ein Asylbewerber nicht in einen Mit-
gliedstaat überstellt werden darf, in dem er Gefahr läuft,
unmenschlich behandelt zu werden. Der EuGH hat ferner
entschieden: Das Unionsrecht lässt keine unwiderleg-
bare Vermutung zu, dass die Mitgliedstaaten die Grund-
rechte der Asylbewerber beachten. Der Gerichtshof
stellte fest, eine Anwendung der Dublin-II-Verordnung
(EG 343/2003) auf der Grundlage einer unwiderlegbaren
Vermutung, dass die Grundrechte des Asylbewerbers im
zuständigen Mitgliedstaat beachtet werden, ist mit der
Pflicht der Mitgliedstaaten zur grundrechtskonformen
Auslegung und Anwendung der Verordnung unverein-
bar.
Zuvor hatte bereits der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte in einer Grundsatzentscheidung vom
21. Januar 2011 im Verfahren M.S.S. (Beschwerde-Nr.
3096/09) aus Art. 3 in Verbindung mit Art. 13 der Euro-
päischen Menschenrechtskonvention die Verpflichtung
der Vertragsstaaten abgeleitet, vor einer Überstellung an
den zuständigen Mitgliedstaat im Rahmen einer Einzel-
fallprüfung die Einhaltung der aus Art. 3 EMRK folgen-
den Verpflichtungen durch den zuständigen Mitglied-
staat zu prüfen. Art. 13, in Verbindung mit Art. 3,
EMRK sei dann verletzt, wenn es vor einer Überstellung
für den Betroffenen keine Möglichkeit gibt, gegen die
Entscheidung, ihn in einen anderen Mitgliedstaat zu
überstellen, wirksame Rechtsmittel einzulegen.
Das bedeutet im Klartext: Eine automatische Rück-
überstellung eines Asylbewerbers, ohne dass sich ein
Gericht mit den Verhältnissen in dem anderen Mitglieds-
land befasst, ist nicht im Einklang mit EU-Recht. Der
deutsche Gesetzgeber muss nunmehr endlich den Weg
frei machen und durch eine Gesetzesänderung gewähr-
leisten, dass Schutzsuchenden ein effektiver Rechts-
schutz gegen eine Abschiebung in einen anderen EU-
Mitgliedstaat gewährt wird.
Um auch dies klarzustellen: Die Entscheidung des
EuGH bezieht sich auf alle Mitgliedstaaten der Europäi-
schen Union – nicht nur auf Griechenland. Wenn nun
also die Bundesregierung, wie im Innenausschuss vorge-
tragen, sich in ihrer Haltung bestätigt fühlt, weil sie
keine Asylbewerber mehr im Rahmen des Dublin-II-
Verfahrens nach Griechenland zurücküberstellt, dann ist
dies viel zu kurz gegriffen, was die Dimension der Ent-
scheidung des EuGH angeht. Es geht also auch um sys-
temische Missstände in den Asylverfahren und der Aner-
kennungspraxis in anderen EU-Mitgliedstaaten, wie zum
Beispiel in Ungarn, wo ein diktatorischer Folterstaat wie
Syrien noch bis Anfang des Jahres als „sicheres Her-
kunftsland“ eingestuft war. Das ist schlichtweg unfass-
bar. Oder zu nennen in Bulgarien auch, wo Asylsu-
chende unter unwürdigen Bedingungen inhaftiert
werden, bloß weil sie einen Asylantrag stellen wollen.
Für den deutschen Gesetzgeber ergibt sich aus den
Urteilen des EuGH und des EGMR ein klarer Auftrag:
§ 34 a des Asylverfahrensgesetzes ist zu streichen.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Entwurf eines ... Gesetzes zur Änderung des
Strafgesetzbuchs (... Strafrechtsänderungs-
gesetz - ... StRÄndG)
– Beschlussempfehlung und Bericht zu dem
Antrag:
– Vorurteilsmotivierte Straftaten wirksam
verfolgen
(Tagesordnungspunkt 20 a und b)
Ansgar Heveling (CDU/CSU): Zweifellos machen
uns gerade die Straftaten besonders betroffen, bei denen
Hass die Triebfeder ihrer Begehung ist. Was sind das für
Menschen, die anderen Menschen Gewalt antun, nur
weil sie eine andere Hautfarbe, Religion, Herkunft oder
Weltanschauung haben oder weil sie Behinderungen ha-
ben? Natürlich denken wir dabei unmittelbar an die ak-
tuellen Fälle rechtsextremistischer Täter, die über den
Zeitraum eines Jahrzehnts Geschäftsleute griechischer
und türkischer Abstammung ermordet haben, aber auch
an die Übergriffe brutalster Art in U- und S-Bahnen
24074 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
(A) (C)
(D)(B)
sowie auf öffentlichen Plätzen, die in jüngster Zeit ins-
besondere von jugendlichen Tätern begangen worden
sind. Sicherlich haben wir noch die schrecklichen Bilder,
von Überwachungskameras aufgezeichnet, vor Augen:
Wehrlose Menschen werden verprügelt und zu Boden
getreten. Und auch dann noch, wenn sie schon am Boden
liegen, wird zielgerichtet weiter auf den Kopf eingetre-
ten. Aber uns sind darüberhinaus auch die vielen ande-
ren Vorfälle präsent: Hetzjagden auf Ausländer, Brände,
die in Asylbewerberheimen gelegt werden, Menschen,
die wegen ihrer Hautfarbe oder Herkunft auf brutalste
und menschenverachtende Weise gequält und misshan-
delt, ja getötet werden.
Es handelt sich dabei um schlimmste Übergriffe, und
alle diese Taten werden von uns allen gleichermaßen
verurteilt. Sie sind gerade auch deshalb von besonderer
Bedeutung, weil sie durch einen besonderen Unrechtsge-
halt gekennzeichnet sind. Denn es geht bei diesen Straf-
taten nicht um eine individuelle, persönliche Auseinan-
dersetzung zwischen Täter und Opfer. Das Opfer ist
vielmehr gerade nicht deshalb Opfer, weil es ein Indivi-
duum ist, sondern weil es Teil einer Gruppe ist, die vom
Täter als „anders“ abgestempelt wird.
Dem besonderen Unrechtsgehalt solcher Hasstaten
möchten der Bundesrat und die SPD-Fraktion durch die
zur Abstimmung stehenden Gesetzentwürfe Rechnung
tragen. Sie haben dabei zum Ziel, eine Ergänzung in § 46
Abs. 2 des Strafgesetzbuches aufzunehmen und damit die
Berücksichtigung des besonderen Unrechtsgehaltes bei
der Strafzumessung ausdrücklich zu verankern. Vorge-
schlagen wird, strafschärfende Regelbeispiele in die
Strafzumessungsregeln zur Motivation oder Zielsetzung
des Täters aufzunehmen. Besonders menschenverach-
tende, rassistische oder fremdenfeindliche Motive für die
Tat sollen damit bei der Strafzumessung strafschärfend
zu berücksichtigen sein. Ohne Frage ist dem Anliegen
von Bundesrat und SPD-Fraktion in der Sache insoweit
zuzustimmen, als dass die von mir eingangs angespro-
chenen Taten zu Recht die Frage aufwerfen, ob unser
Strafrecht in ausreichendem Maße Instrumente bereit-
hält, diese besonderen Umstände im Verfahren und vor
allem schlussendlich im Urteil im entsprechenden Maße
zu berücksichtigen. In den Beratungen zu den Gesetzent-
würfen und zum Antrag von Bündnis 90/Die Grünen,
der noch einmal einen ganz anderen Akzent setzt, haben
wir uns mit dieser Frage intensiv auseinandergesetzt.
Insbesondere die Sachverständigenanhörung hat dazu ei-
nen besonderen Beitrag geleistet.
Unser Fazit ist: Einer gesetzlichen Ergänzung in § 46
Abs. 2 StGB bedarf es nicht. Der Strafrahmen, also das
gesetzliche Höchst- und Mindestmaß, wird durch den
konkreten Gesetzesverstoß festgestellt, mit all seinen
Tatmodalitäten und Tatumständen, die den Strafrahmen
erhöhen oder mildern können. In diesem festgestellten
Strafrahmen sind sämtliche Umstände, die zugunsten,
aber auch zuungunsten des Täter sprechen, abzuwägen.
Das geltende Recht gebietet und gestattet es dabei jetzt
schon, derartige Hassmotivationslagen und Zielsetzun-
gen bei der Strafzumessung zu berücksichtigen. Dazu
gehören, sofern dies nicht bereits Tatbestandsmerkmal
ist, die Beweggründe und Tatziele, beispielsweise Taten,
die auf eine verfestigte rechtsfeindliche oder gleichgül-
tige Haltung zurückgehen. Als weiterer Strafschärfungs-
grund ist die Gesinnung, die aus der Tat spricht, zu be-
werten, wie etwa eine rohe, böswillige, gewissenlose,
grausame und/oder rücksichtslose Gesinnung. Das gel-
tende Recht gibt also bereits jetzt die Möglichkeit, die in
den Gesetzentwürfen als Regelbeispiel ausgestalteten
Strafzumessungsründe bei der Strafzumessung zu be-
rücksichtigen, ohne dass diese ausdrücklich festge-
schrieben sind. Das heißt zunächst einmal: Eine zu
schließende rechtliche Lücke gibt es nicht. Das, was
durch den Gesetzentwurf geregelt werden soll, ist bereits
geltendes Recht. Damit käme der Regelung nur eines zu:
Symbolcharakter.
Symbolische Gesetze mögen gelegentlich auch ihre
Berechtigung haben, insbesondere dann, wenn dadurch
Werte und Einstellungen bekräftigt werden. Gleichwohl
sollte man aber mit symbolischen Gesetzen sehr vorsich-
tig und zurückhaltend umgehen. Sonst sieht man irgend-
wann vor lauter Symbolen das Wesentliche nicht mehr.
Und genau dieser Frage, wo die wesentlichen Defizite an
dieser Stelle sind, sollten wir uns viel eher widmen. Im
rechtlichen, gesetzlichen Rahmen liegen sie jedenfalls
offenkundig nicht.
Tatsache ist zunächst, dass gesicherte rechtstatsächli-
che Erkenntnisse sowohl im Hinblick auf Art und Umfang
des Vorkommens von Straftaten, die durch rassistische,
fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende
Beweggründe motiviert sind, als auch auf den Umgang
der Strafverfolgungsbehörden in sämtlichen Stadien des
Verfahrens fehlen. Darauf hat in der Anhörung insbeson-
dere der Sachverständige Professor Radtke hingewiesen.
Hier kann ein Ansatzpunkt sein, sich die Sache noch ein-
mal genau anzuschauen. Insofern verweise ich in dieser
Hinsicht auch gerne, weil es ein wirklich sinnvoller
Punkt ist, auf die entsprechende Forderung im Antrag
von Bündnis 90/Die Grünen. Das ist eine Anregung, der
wir uns nicht verschließen sollten. Mit einer vertieften
Untersuchung lässt sich möglicherweise das herausfin-
den, wo wir momentan noch im Nebel stochern. Denn
mangels rechtstatsächlicher Erkenntnisse können wir
derzeit nicht beurteilen, ob es Defizite gibt oder nicht.
Ferner können wir nicht beurteilen, wo diese Defizite,
wenn es sie denn geben sollte, liegen: beim „Erstkon-
takt“ mit einem möglicherweise strafrechtlich relevanten
Vorfall, bei der staatsanwaltschaftlichen Ermittlung und
Anklagevorbereitung oder in der gerichtlichen Haupt-
verhandlung mit anschließender Urteilsfindung?
Angesichts der fehlenden Untersuchungserkennt-
nisse lässt sich dementsprechend auch ein etwaiger ge-
setzgeberischer Handlungsbedarf nicht klar erkennen.
Wir sollten das Thema aus den genannten Gründen nicht
aus dem Blick lassen. Und möglicherweise ist das Bun-
desjustizministerium ja auch auf Bitten bereit, eine ent-
sprechende rechtstatsächliche Untersuchung in Gang zu
setzen. Wenn eine solche dann vorliegt, mag das Anlass
sein, das Problem noch einmal anzugehen. Unmittelba-
ren Anpassungsbedarf bei § 46 StGB sehen wir indessen
nicht. Wir werden die Gesetzentwürfe und den Antrag
dementsprechend ablehnen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24075
(A) (C)
(D)(B)
Burkhard Lischka (SPD): Es ist jetzt knapp ein Jahr
her, da stockte uns allen gemeinsam der Atem, als wir
erfuhren, dass eine rechtsextremistische Terrorgruppe elf
Jahre lang durch dieses Land zog, mindestens zehn
schreckliche Morde verübte, Banküberfalle und Spreng-
stoffanschläge durchführte. Am Anfang war Erschre-
cken, Empörung, Wut und Trauer über diese fürchterli-
che Mordserie – und Scham, Scham darüber, dass dies in
unserem Land, ausgerechnet in unserem Land, 60 Jahre
nach der nationalsozialistischen Barbarei möglich war.
Und diese Scham empfinden wir noch heute. Erstaunlich
war allerdings das Erstaunen, das in mancher öffentli-
chen Äußerung zum Ausdruck kam. Nein, erstaunt und
überrascht konnte eigentlich niemand sein. Denn in den
20 Jahren zuvor waren bereits weit über 150 Menschen
durch braune Gewalt in unserem Land ums Leben ge-
kommen. Die braune Gewalt- und Blutspur hatte sich
bereits längst durch unser Land gelegt, spätestens seit
den Pogromen von Hoyerswerda, Rostock-Lichten-
hagen, Mölln und Solingen. Und auch diese schreck-
lichen Vorfalle waren nur die sichtbare Spitze alltägli-
cher neonazistischer Gewalttaten überall in unserem
Land: Kinderwagen, die in Hausfluren angezündet wer-
den, geschändete jüdische Friedhöfe, abgefackelte
Dönerbuden, Behinderte, Ausländer und Jugendliche,
die mit Baseballschlägern niedergeschlagen wurden,
Menschen, die sich nicht mehr in bestimmte Stadtteile
trauen. Das alles gehört zum Alltag in unserem Land.
Und hieran hat sich trotz aller Appelle nichts geändert,
bis zum heutigen Tag. Und damit werden wir uns nicht
abfinden. Niemals!
Rechtsextreme Gewalt wird seit vielen Jahren immer
wieder bagatellisiert und verharmlost. Auch das gehört
zum Alltag. Opfer brauner Gewalt berichten immer wie-
der und übereinstimmend, sie würden häufig nicht ernst
genommen. Zeugenaussagen werden zum Teil gar nicht
oder unvollständig aufgenommen. In manchen Fällen
wird den Opfern eine Mitschuld suggeriert. Rechtsextre-
mistische und rassistische Hintergründe einer Tat wer-
den nicht erkannt oder beiseite geschoben. Da sind die
Ermittlungen bei der NSU-Mordserie überhaupt keine
Besonderheit, wo ja auch über viele Jahre ein fremden-
feindlicher Hintergrund ausgeblendet wurde. Wie
schrieb die FAZ Anfang des Jahres: „Im gerichtlichen
Alltag spielt die rassistische und fremdenfeindliche Mo-
tivation von Straftaten nahezu keine Rolle“. Die feh-
lende Aufklärung und unzureichende Aburteilung
rechtsradikaler Straftaten sind verheerend, zuallerst für
die betroffenen Opfer, aber auch für die Angehörigen
und schließlich für unsere gesamte Gesellschaft. Denn
wenn die Opfer das Gefühl haben, im Stich gelassen zu
werden, wenn sie den Eindruck haben, es werde nicht
genau hingeschaut und verurteilt, dann ist das nicht we-
niger als eine Krise für unseren Rechtsstaat.
Da, wo Menschen durch Straßen gejagt, misshandelt,
geschlagen und getreten werden, da, wo sie um ihr Le-
ben fürchten, da müssen diese Taten auch strafrechtlich
als das behandelt werden, was sie sind: ein Anschlag auf
die Menschenwürde, ein Anschlag auf uns alle.
Und das sollte, das muss auch in unserem Strafgesetz-
buch Niederschlag finden, wie in vielen vielen anderen
Ländern auch. Deshalb unser Antrag, rassistische, frem-
denfeindliche und menschenverachtende Motive von
Gewalttaten strafschärfend zu berücksichtigen. Wenn
der Gesetzgeber angesichts brutalster Übergriffe die
Rechtslage hier klipp und klar verdeutlicht, dann sind
wir das den Opfern, aber auch unserem Rechtsstaat
schuldig! Es wird deshalb Zeit, höchste Zeit, dass wir
endlich ein klares Zeichen setzen.
Sönke Rix (SPD): Die Zahl der rechtextremistischen
Straf- und Gewalttaten ist in der zweiten Hälfte des letz-
ten Jahrzehnts nach einem vorübergehenden Rückgang
wieder gestiegen. Bereits nach der Wende 1989/90 nahm
in Deutschland die Anzahl rechtsextremistischer Straf-
und Gewalttaten drastisch zu. Im Jahr 2010 erfasste das
Bundeskriminalamt 15 905 rechtsextremistische Strafta-
ten, darunter 762 Gewalttaten. Damit kommt es in
Deutschland täglich zu durchschnittlich zwei bis drei ge-
waltsamen rechtsextremistischen Übergriffen. Dies kann
und darf in unserem Land nicht nur nicht toleriert
werden, vielmehr brauchen wir ein starkes Signal, das
wir dieser Motivation zur Gewaltausübung entgegenset-
zen. Wir brauchen eine Regelung im Strafgesetzbuch,
die rechten Gewalttätern klar verdeutlicht, welche Stra-
fen sie erwarten, wenn sie Menschen aufgrund rassisti-
scher, antisemitischer Motive, aufgrund ihrer Woh-
nungslosigkeit oder anderer sozialdarwinistischer
Beweggründe oder aufgrund ihrer sexuellen Orientie-
rung und/oder Geschlechtsidentität sowie aufgrund ihrer
Behinderung, ihrer nicht rechten Einstellung oder ihres
Engagements gegen Neonazis angreifen.
Ich bestreite nicht, dass die vorgeschlagene gesetz-
liche Verankerung auch Symbolpolitik ist. Es ist ein
Symbol an die betroffenen Minderheiten, dass Staat und
Gesellschaft rechte Gewalt nicht hinnehmen. Wir setzen
ein Zeichen, dass solche Taten ganz besonders geahndet
werden, da sie als Botschaftsverbrechen geeignet sind,
Angst und Unruhe zu schüren und demokratische Werte
an und für sich infrage zu stellen. Aber es handelt sich
nicht nur um Symbolpolitik. Wir wollen mit dieser Re-
gelung auch derzeit bestehende Defizite bei den Straf-
verfolgungsbehörden und Gerichten beheben. Viele Ver-
eine und Verbände, die sich für Demokratie und gegen
Rechtsextremismus und Rassismus engagieren, und
ganz besonders die Opferberatungsstellen sagen mir im-
mer wieder, dass vorurteilsmotivierte Straftaten im Rah-
men der Strafverfolgung durch die Polizei und die
Staatsanwaltschaften, aber auch bei der Strafzumessung
schlichtweg nicht erkannt werden.
Möglicherweise sollten wir den Begriff „Hasskrimi-
nalität“ noch einmal überdenken. „Hass“ reduziert die
Tat auf ein emotionales, individuelles Problem des
Täters und verbirgt die zugrunde liegenden, gesellschaft-
lich relevanten Vorurteile. Aus Respekt vor den Opfern
sollte man klar benennen, was Ziele und Beweggründe
waren – Rassismus, Antisemitismus, Homo-/Transpho-
bie, Sozialdarwinismus oder der Wille, ein extrem rech-
tes Weltbild umzusetzen und all jenen Gruppen ihr Recht
auf körperliche Unversehrtheit und Leben abzusprechen,
die als Feinde einer imaginierten Volksgemeinschaft gel-
ten.
24076 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
(A) (C)
(D)(B)
Die Beratungsstellen selbst sprechen von rechter Ge-
walt, um in der politischen Sphäre deutlich zu machen,
welche ideologische Basis den Taten zugrunde liegt.
Rechtsextremismus kann nicht nur mit Gesetzen, Polizei
und Verfassungsschutz erfolgreich bekämpft werden.
Viel wichtiger ist die Prävention. Wir müssen die gesell-
schaftlichen Bindekräfte stärken und den Rechtsextre-
men keine Räume überlassen, in die sie mit ihrer
Menschenfeindlichkeit eindringen können. Die Stärkung
der demokratischen Zivilgesellschaft muss im Zentrum
unserer Bemühungen stehen. Die Programme gegen
Rechtsextremismus müssen dauerhaft und verlässlich
unterstützt werden. Sie haben zum Aufbau lokaler Struk-
turen beigetragen und zeigen Wirkung. Bürgerinnen und
Bürger verteidigen die Demokratie gegen Neonazis: Im
persönlichen Gespräch, in Bildungseinrichtungen, am
Arbeitsplatz, in den Kommunalparlamenten und nicht
zuletzt auch zunehmend bei Demonstrationen und
Blockaden gegen Naziaufmärsche. Ohne die Opferbera-
tungen, mobilen Beratungsteams und die vielen Initiati-
ven vor Ort stünde der Kampf gegen Rechtsextremismus
in vielen Regionen auf verlorenem Posten. Viele Träger
leiden allerdings unter der Kurzfristigkeit und Prekarität
ihrer Finanzierung. Gelungene Modellprojekte können
deshalb oft nicht langfristig etabliert werden, Organisa-
tionswissen geht verloren, und qualifiziertes Personal
wandert ab. Das wollen wir ändern. Die dreijährige Be-
fristung der Projekte muss aufgehoben werden. Gute
Projekte dürfen auch länger dauern.
Nicht zuletzt ist es eine zentrale Aufgabe, den sozia-
len Zusammenhalt in unserer Gesellschaft zu stärken
und allen jungen Menschen gute Zukunftschancen zu ge-
ben. Dazu gehört, unsere Städte und Gemeinden finan-
ziell gut auszustatten, sodass sie Kultur, Sport, Jugend-
arbeit und Sozialarbeit wieder ausbauen können.
Staat und Gesellschaft müssen ein klares Zeichen set-
zen: Rechtsextreme, Rassisten und verfassungsfeindli-
che Parteien haben in einem demokratischen Deutsch-
land keinen Platz. Wir sind überzeugt: Die Stärkung der
Demokratie und der engagierten Demokratinnen und
Demokraten sind der beste Verfassungsschutz.
Darum möchte ich am Ende festhalten: Es ist wichtig,
dass die Opfer rassistischer, rechtsextremer und men-
schenverachtender Gewalt als solche anerkannt werden.
Und es folgt daraus für mich auch eine stärkere Bestra-
fung der Täter. Aber noch mehr wünsche ich mir, dass
solche Straftaten gar nicht erst passieren. Und das geht
nur mit einer Zivilgesellschaft, die mit beiden Beinen
fest auf dem Boden des Grundgesetzes steht.
Jörg van Essen (FDP): Ich denke, die bisherige
Debatte hat gezeigt, dass sich insgesamt das Gefühl ver-
breitet, dass es in Deutschland keine Situation geben
darf, in der rechtsradikale Straftäter ihre Taten ohne
Konsequenzen begehen dürfen.
Gerade der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen wie
auch der Gesetzentwurf der SPD zu einer Änderung des
§ 46 StGB könnten den Eindruck entstehen lassen, dass
es Defizite in der wirksamen Strafverfolgung oder Straf-
zumessung bei Hassdelikten geben könnte. Ich habe aber
über eine falsche oder unzureichende Strafzumessung
bezüglich rechtsradikaler Straftaten noch keinerlei Vor-
würfe mitbekommen. Ich kann ganz im Gegenteil aus
meiner Tätigkeit als Staatsanwalt in einer Staatsschutz-
abteilung nur feststellen, dass vorurteilsmotivierte Straf-
taten stets zutreffend und mit notwendig hohen Strafen
seitens der Gerichte gewürdigt wurden.
Es bedarf keiner Änderung des § 46 des Strafgesetz-
buchs, da die Berücksichtigung solcher Motive immer
Gegenstand der Rechtsprechung in unserem Land gewe-
sen ist. Zu Recht berücksichtigen die Gerichte, welche
Beweggründe den Täter zu seiner Tat veranlasst haben.
Im Rahmen der Strafzumessung werden alle Beweg-
gründe zugunsten und zulasten des Täters gegeneinander
abgewogen, sodass vorurteilsmotivierte Hassdelikte in
diese Abwägung ebenfalls miteinbezogen werden. Mir
ist kein Fall bekannt geworden, dass sich diese bewährte
Gerichtspraxis geändert haben sollte.
Die Grünen führen in ihrem Antrag selber aus, dass in
der deutschen Gerichtspraxis anerkannt ist, dass rassisti-
sche oder fremdenfeindliche Beweggründe nach § 46
Abs. 2 StGB zu berücksichtigen sind und regelmäßig zu
einer Strafschärfung führen.
Es ist nicht fördernd, wenn wir einige wenige Dinge
bzw. Motive in der Strafzumessung hervorheben. An-
dere Taten, die übrigens auch von Rechtsradikalen bzw.
von Menschen mit rechtsradikaler Gesinnung begangen
werden, sind in gleicher Weise verachtenswert und erfor-
dern eine entsprechende strafrechtliche Konsequenz. Vor
diesem Hintergrund ist eine generalisierende gesetzliche
Regelung bestimmter strafschärfender Motive in § 46
StGB der falsche Weg. Strafzumessung ist stets eine Ein-
zelfallentscheidung der Gerichte, denen man vertrauen
muss und kann.
Wir müssen daher Überlegungen anstellen, wie wir
auf anderem Weg mit diesem Problem besser fertig wer-
den. Zu verbessern wäre zum einen die frühzeitige
Berücksichtigung solcher vorurteilsmotivierten Hand-
lungen im Ermittlungsverfahren, um eine bessere Auf-
klärung der Tatmotive und der Gesinnung des Täters zu
ermöglichen. Zum anderen sollten die Verfahren be-
schleunigt werden, um eine klare, schnelle und eindeu-
tige Antwort der Gerichte auf dieses Fehlverhalten zu
geben. Dadurch wird dem Täter deutlich gemacht, dass
wir nicht bereit sind, ein solches Verhalten zu akzeptie-
ren.
Wir sollten den Weg der Veränderung des § 46 StGB
nicht gehen. Es ist nicht ersichtlich, was als Konsequenz
für die Justiz aus dieser Änderung zu erwarten ist. Wir
sollten uns in diesem Zusammenhang vor Augen halten,
dass die Justiz bzw. die Gerichte unabhängig und daher
die Auswirkungen einer Änderung des § 46 StGB nicht
abzuschätzen sind.
Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Wir debattieren
hier eine Änderung des Strafgesetzbuches, bei der es da-
rum gehen soll, dass menschenverachtende Tatmotive
als besondere Umstände in der Strafzumessung Anwen-
dung finden sollen. Es geht um sogenannte Hassdelikte,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24077
(A) (C)
(D)(B)
denen, da sind wir uns wohl alle einig, ein erhöhter
Unrechtsgehalt innewohnt.
Im Kern geht es darum, rassistische, fremdenfeindli-
che und sonstige menschenverachtende Beweggründe
und Ziele der Täter strafschärfend im Rahmen der Straf-
zumessung zu berücksichtigen.
Wir verstehen die Motive, die hinter den vorgeschla-
genen Gesetzesänderungen stehen, wir halten sie aber
für den falschen Weg. Bereits jetzt – die Gesetzesent-
würfe des Bundesrates und der SPD weisen explizit
darauf hin, und unter den Sachverständigen herrschte
diesbezüglich Einigkeit – können hassgeleitete Motive
der Täter strafverschärfend berücksichtigt werden. Es
fehlt also nicht an einer Rechtsgrundlage. Es fehlt an ei-
nem dem erhöhten Unrechtsgehalt von Hasskriminalität
angemessenen Umgang.
Wir sind nicht davon überzeugt, dass es hilfreich ist,
das Strafgesetzbuch zu ändern, um die Gerichte zu sensi-
bilisieren und der Rechtsprechung einen Anhaltspunkt
zu geben, wie es im Gesetzentwurf des Bundesrates
heißt. Wir glauben, dass das Problem viel früher anfängt.
Bei den Behörden, bei den Straftaten aufnehmenden
Polizeidienststellen und bei der Handhabung der öffent-
lichen Statistiken. Sie wissen genauso gut wie wir, dass
die Opferberatungsstellen für Opfer rassistischer Gewalt
stets höhere Zahlen ausweisen als zum Beispiel die
polizeiliche Kriminalstatistik. Hieran kann der Gesetzes-
vorschlag nichts ändern, sondern hier muss eine gesell-
schaftliche Sensibilisierung her.
Sensibilisierung mittels einer Änderung des Strafge-
setzbuches ist eine Scheinlösung. Natürlich weist diese
Regelung Richterinnen und Richter noch einmal geson-
dert auf die Möglichkeit hin, die Motive der Tat bei der
Strafzumessung zu berücksichtigen. Aber der Hinweis
im Gesetz ändert noch lange nicht die Handhabung des
Gesetzes.
Sensibilisierung setzt Aufklärung voraus und Präven-
tion. Wir leben in einer Zeit, in der sich ein Untersu-
chungsausschuss mit einer ganzen Mordserie beschäfti-
gen muss, weil offensichtlich niemand sich vorstellen
konnte, dass Nazis ihre Art von Hasskriminalität derart
ausleben. Wir leben in einer Zeit, in der wir immer wie-
der mit Nachrichten überrascht werden, dass V-Leute
des Verfassungsschutzes in Naziaktivitäten verwickelt
waren und sind, diese teilweise sogar gefördert haben.
Wir leben in einer Zeit, in der der Innenminister ganz
ungeniert fordern kann, Asylbewerbern und Asylbewer-
berinnen die Leistungen zu kürzen – obwohl ein anders-
lautendes Urteil des Bundesverfassungsgerichts vorliegt.
Auf dem Oranienplatz in Kreuzberg campen gerade
Flüchtlinge und Asylbewerber und Asylbewerberinnen,
um unter anderem gegen die Residenzpflicht zu protes-
tieren. Wenn wir anfangen, Flüchtlinge und
Asylbewerber und Asylbewerberinnen nicht weiter zu
diskriminieren, dann schaffen wir Sensibilität.
Sensibilisierung schaffen wir, wenn wir Projekte, die
sich um Aufklärung und Prävention kümmern, endlich
einer Regelfinanzierung zuführen, statt ihnen alle drei
oder vier Jahre aufzubürden, neue Projektanträge zu
schreiben. Sensibilisierung schaffen wir, wenn wir hier
und überall sagen: Gleiche Rechte für alle hier lebenden
Menschen.
Wenn wir das erreicht haben, dann werden Richterin-
nen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte,
aber auch Behörden und Polizistinnen und Polizisten
von sich aus die Motive von Hasskriminalität bei der
Strafzumessung und bei der Aufnahme von Straftaten
berücksichtigen. Eine Gesetzesänderung brauchen wir
dafür nicht.
Wir haben im Rechtsausschuss eine Anhörung zum
Thema Hasskriminalität durchgeführt. Die Sachverstän-
digen waren hinsichtlich einer Änderung des Strafge-
setzbuches unterschiedlicher Meinung. Ich will dennoch
auch auf ein methodisches Problem der Gesetzentwürfe
eingehen. Sie schaffen mit dem Begriff „menschenver-
achtende Bewegründe" in Abgrenzung zu fremdenfeind-
lich und rassistisch eine Formulierung, die Spielraum für
Ungenauigkeiten lässt. Wir sind uns sicherlich einig:
Auch Homophobie und Antisemitismus sind menschen-
verachtend, auch Straftaten gegen Obdachlose oder so-
zial benachteiligte Personen. Korrekt wäre es dann aber,
genau das auch in den Gesetzentwürfen aufzuschreiben.
Obwohl wir das hinter den Gesetzentwürfen stehende
Ansinnen teilen, können wir ihnen aus den genannten
Gründen nicht zustimmen. Wir sollten aber alle gemein-
sam dafür Sorge tragen, dass Hasskriminalität in diesem
Land keine Chance hat.
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wo-
rüber herrscht zwischen uns Einigkeit? Ja, es gibt Straf-
täter, die aus rassistischen, fremdenfeindlichen oder
menschenverachtenden Motiven heraus handeln. Ja, wir
wollen, dass diese Motive aufgedeckt und bei der Straf-
zumessung berücksichtigt werden, selbstverständlich
strafschärfend. Aber gibt es einen objektiven Befund,
dass dies in unseren Strafgerichten nicht geschieht?
An Gesetzen mangelt es nicht. § 46 Strafgesetzbuch
erlaubt und fordert die Erhebung und Berücksichtigung
aller Motive, also auch der rassistischen, fremdenfeindli-
chen oder menschenverachtenden. Deshalb hat der Sach-
verständige Graf, Richter am BGH, die Vorschläge des
Bundesrates und der SPD als überflüssig und reine Sym-
bolhandlung bezeichnet.
Die wenigen wissenschaftlichen Untersuchungen
über die Praxis an den Gerichten sprechen eher gegen
die These, dass rassistische, fremdenfeindliche oder
menschenverachtende Motive in großer Zahl unbeachtet
bleiben.
Und doch: Wir sollten auch diejenigen ernst nehmen,
die vor Ort Opferbetreuung betreiben, die die Neonazi-
und Rechtsradikalenszene beobachten, die die Strafver-
fahren verfolgen und die berichten, dass allzu oft rassis-
tische, fremdenfeindliche oder menschenverachtende
Motive unausgesprochen und ungesühnt bleiben. Des-
halb muss etwas gemacht werden, aber nicht irgendet-
was, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, sondern
das Richtige:
24078 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
(A) (C)
(D)(B)
Einige gewichtige Gründe sprechen gegen die Vor-
schläge der SPD und des Bundesrates.
Erstens. Sie setzen am Ende und nicht am Anfang an.
Die Strafzumessungsvorschrift des § 46 StGB richtet
sich an das Gericht, welches am Ende das Urteil spricht.
Man muss aber bei der Polizei und der Staatsanwalt-
schaft ansetzen. Dort werden die ersten Ermittlungen ge-
führt, dort werden die ersten Beweise gesichert und die
Zeugen verhört. Hier muss nach rassistischen, fremden-
feindlichen oder menschenverachtenden Motiven ge-
sucht und müssen Beweise hierfür gesichert werden.
Der Sachverständige Professor Radtke erklärte
hierzu: Man kann nicht die Strafzumessung ändern wol-
len, damit das Ermittlungsverfahren besser läuft. Des-
halb muss man die Ausbildung der Polizei darauf aus-
richten, dass rassistischen, fremdenfeindlichen oder
menschenverachtenden Motiven nachzugehen ist und
Beweise dafür zu sichern sind. Man muss die Richtlinien
für das Strafverfahren ändern und festlegen, dass bei
Vorliegen rassistischer, fremdenfeindlicher oder men-
schenverachtender Motive das öffentliche Interesse an
einer Strafverfolgung in der Regel zu bejahen ist. Das ist
nicht so spektakulär wie Gesetzesänderungsinitiativen,
aber es ist viel wirksamer.
Zweitens. Es wird die Gefahr von Fehlurteilen wegen
verbotener Doppelverwertung geschürt. Am Beispiel des
Strafverfahrens gegen den NSU ist dies deutlich zu ma-
chen. Im kommenden Prozess vor dem OLG München
wird es um die Frage gehen, ob die Morde an neun Tür-
ken und einem Griechen „aus niederen Beweggründen“,
also zum Beispiel aus rassistischen oder fremdenfeind-
lichen Beweggründen erfolgten. Bejaht das Gericht dies,
dann bleibt kein Raum mehr, etwaige rassistische, frem-
denfeindliche oder menschenverachtende Motive bei der
Strafzumessung zu berücksichtigen. Geschieht dies
trotzdem, hätten wir es mit einem Fehlurteil zu tun.
Auch in allen Verfahren wegen Volksverhetzung nach
§ 130 StGB haben wir mit dem Problem der verbotenen
Doppelverwertung zu tun, wenn § 46 nach den Vorstel-
lungen der SPD geändert wird. Der Sachverständige
Graf, Richter am BGH, hat davor ausdrücklich gewarnt.
Drittens. Bei der Strafzumessung nach § 46 StGB
sind die „Beweggründe und Ziele des Täters“ und/oder
seine „Gesinnung, die aus der Tat spricht“ in den Blick
zu nehmen. Die Gesetzentwürfe wollen die Worte „ras-
sistischen, fremdenfeindlichen oder menschenverachten-
den“ an die Beweggründe und Ziele hängen, nicht an die
Gesinnung, die aus der Tat spricht. Dies würde Fehl-
urteile provozieren, wenn die Beachtung rassistischer,
fremdenfeindlicher oder menschenverachtender Motive
losgelöst von ihrer Bindung an die Tat in die Strafzumes-
sung Eingang finden könnte. Dies wäre aber Gesin-
nungsjustiz, die aus rechtsstaatlichen Gründen auch bei
rassistischen, fremdenfeindlichen oder menschenverach-
tende Motivlagen untragbar wäre.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich
weiß, dass sie dies nicht wollen. Aber durch die Fehl-
lokation ihres Vorschlags provozieren sie falsche Urteile
und damit eine Beschädigung des Rechtsstaats.
Viertens. Wir kennen ausschließliche Strafschär-
fungsgründe – und der Bundesrat und die SPD wollen
doch wohl rassistische, fremdenfeindliche oder men-
schenverachtende Motive ausschließlich strafschärfend
in die Strafzumessung einfließen lassen – nur als Regel-
beispiele im materiellen Strafrecht mit der Folge erhöh-
ter Strafrahmen. Die Beweggründe eines Täters können,
angesiedelt im Allgemeinen Teil des StGB in § 46 im-
mer nur strafschärfend wie auch strafmildernd sein.
Aber genau das wollen weder der Bundesrat noch die
SPD. Darauf hat der Sachverständige Professor Radtke
ausdrücklich warnend hingewiesen.
Wir Grünen haben schon 2010 in unserem Antrag
„Daueraufgabe Demokratiestärkung – Die Auseinander-
setzung mit rassistischen, antisemitischen und men-
schenverachtenden Haltungen gesamtgesellschaftlich
angehen und die Förderprogramme des Bundes danach
ausrichten“, Drucksache 17/2482, 15 Punkte zum Vorge-
hen gegen rassistischen, fremdenfeindlichen oder men-
schenverachtenden Hass benannt. Wir wählen nicht die
verengte Sichtweise auf das Strafrecht, sondern schlagen
ein gesamtgesellschaftliches Vorgehen vor.
Mit unserem heutigen Antrag komplettieren wir unse-
ren Handlungskatalog um die Ausbildung der Ermitt-
lungsbeamten und klare Regeln in den Richtlinien für
das Strafverfahren. Wir gehen einen besseren und erfolg-
versprechenderen Weg. Den kontraproduktiven Vor-
schlägen der SPD und des Bundesrates können wir trotz
ihrer guten Absichten nicht folgen.
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
Zur Beratung: Antrag: Neue Impulse für die
Förderung des Radverkehrs setzen
– Den Nationalen Radverkehrsplan 2020
überarbeiten
– Unterrichtung: Nationaler Radverkehrsplan
2020 – Den Radverkehr gemeinsam weiter-
entwickeln
(Zusatztagesordnungspunkt 7)
Gero Storjohann (CDU/CSU): Das Fahrrad als Ver-
kehrsmittel nimmt einen wichtigen und stetig wachsen-
den Teil am Gesamtverkehrsaufkommen in Deutschland
ein. Radfahren schont die Umwelt; denn das Fahrrad ist
ein vollkommen emissionsfreies Verkehrsmittel. Rad-
fahren entlastet das motorisierte Verkehrsaufkommen in
unseren belebten Innenstädten. Radfahren ist gesund und
hält fit. Und nicht zuletzt: Radfahren macht Spaß.
Sicherlich hat jeder von uns schon Fahrradtouren mit
Freunden und Familie erlebt, an die er sich noch lange
gerne zurückerinnert. Das Fahrrad als Verkehrsmittel hat
viele Vorteile für den Einzelnen, für die Gesellschaft und
die Umwelt. Es gibt also viele gute Gründe, den Radver-
kehr weiter zu fördern. Deshalb hat die Bundesregierung
den Nationalen Radverkehrsplan 2020 vorgelegt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24079
(A) (C)
(D)(B)
Mit diesem neuen Nationalen Radverkehrsplan setzt
die christlich-liberale Koalition wichtige Impulse an die
zuständigen Länder und Kommunen. Die Aufgabe des
Bundes ist es, die Rahmenbedingungen für die weitere
Entwicklung des Radverkehrs zu schaffen. Der Bund
fördert den Radverkehr in seiner Zuständigkeit als Ge-
setzgeber und in seiner Verantwortung für den Bau von
Radwegen an Bundesstraßen und Bundeswasserstraßen.
Mit dem Nationalen Radverkehrsplan möchte der Bund
Förderer, Impulsgeber, Moderator und Koordinator sein.
Es werden grundsätzliche Leitlinien für die örtliche Rad-
verkehrsförderung in den kommenden Jahren formuliert.
Ziel ist es, den Radverkehr in Deutschland noch attrakti-
ver und sicherer zu machen. Deutschland soll noch fahr-
radfreundlicher werden.
Aber der Hauptadressat des Plans sind die Länder und
Kommunen. Sie sind es, die für die einzelnen Maßnah-
men der Radverkehrsförderung vor Ort zuständig sind.
So will es unsere föderale Ordnung. Und es dient auch
der Sache, dass diese Aufgabe bei den Ländern und
Kommunen angesiedelt ist. Denn es sind die Entschei-
dungsträger vor Ort, die am besten beurteilen können,
welche Maßnahmen in den Städten und Gemeinden Sinn
ergeben. Die kommunalen Entscheidungsträger wissen
am besten, wie weit ihre Kommune in der Radverkehrs-
förderung vorangeschritten ist und wie die nächsten
Schritte individuell aussehen können. Der Nationale
Radverkehrsplan ist deshalb kein verbindliches
Programm für die Kommunen, in dem der Bund den
Ländern und Kommunen vorschreibt, wie gute Radver-
kehrsförderung auszusehen hat. Stattdessen sammelt der
Nationale Radverkehrsplan Ideen einer guten Radver-
kehrsförderung. Er analysiert die aktuellen Entwicklun-
gen des Radverkehrs und formuliert Empfehlungen an
die Kommunen.
Wie sehen diese aktuellen Entwicklungen im deut-
schen Radverkehr aus? Hierzu möchte ich einige Zahlen
nennen. Derzeit gibt es in Deutschland 70 Millionen
Fahrräder. Die Branche verkauft jedes Jahr 4 Millionen
Räder und macht 5 Milliarden Euro Umsatz. Der Rad-
verkehr ist somit auch ein gewaltiger Wirtschaftsfaktor.
In etwas mehr als 80 Prozent aller deutschen Haushalte
ist mindestens ein Fahrrad vorhanden. Jeder vierte Haus-
halt verfügt sogar über drei oder mehr Räder. Derzeit
wird jeder zehnte Weg in Deutschland mit dem Rad zu-
rückgelegt – Tendenz steigend. Unser Ziel ist es, diesen
Anteil in den kommenden Jahren auf 15 Prozent zu erhö-
hen.
Eine Maßnahme, um dieses Ziel zu erreichen, liegt
beispielsweise im weiteren Ausbau von öffentlichen
Fahrradverleihsystemen. In einigen Städten gibt es sol-
che Systeme bereits. Das Bundesverkehrsministerium
hat hierzu einen Modellversuch „Öffentliche Fahrrad-
verleihsysteme“ durchgeführt. Durch solche Systeme
stehen den Bürgerinnen und Bürgern auch dann Fahrrä-
der als Verkehrsmittel zur Verfügung, wenn sie kein
eigenes Fahrrad besitzen. Solche Angebote sind für die
Bürgerinnen und Bürger attraktiv, weil das Fahrrad ge-
rade innerstädtisch bei kurzen Strecken oftmals das
schnellste Verkehrsmittel ist. Neun von zehn Fahrten mit
dem Fahrrad werden für die Bewältigung einer Strecke
von weniger als fünf Kilometer absolviert. Hier liegt ein
besonderes Potenzial des Radverkehrs. Innerstädtisch
kann der Anteil des Radverkehrs am Gesamtverkehrs-
aufkommen noch weiter gesteigert werden. Dazu muss
es gelingen, die Hürden zur Nutzung des Fahrrads auf
solchen Wegen zu senken – durch gute Fahrradinfra-
struktur oder beispielsweise durch solche öffentlichen
Verleihsysteme. Es muss auch gelingen, das Fahrrad in
ein Verkehrskonzept bestehend aus Radverkehr, ÖPNV
und Fußgängerverkehr zu integrieren – als Alternative
zum motorisierten Individualverkehr.
Die Kommunen sind bei der Schaffung solcher Struk-
turen unterschiedlich weit fortgeschritten. Deshalb gibt
der Nationale Radverkehrsplan den Kommunen die
Möglichkeit, sich selbst hinsichtlich ihres Entwicklungs-
stadiums bei der Radverkehrsförderung zu kategorisie-
ren. Das Konzept unterscheidet zwischen Einsteigern,
Aufsteigern und Vorreitern. Einsteiger sind diejenigen
Kommunen, die noch am Anfang der Radverkehrsförde-
rung stehen. Der Anteil des Radverkehrs liegt in diesen
Kommunen in der Regel deutlich unter 10 Prozent. Die
organisatorischen Strukturen der Radverkehrsförderung
sind entweder nicht vorhanden oder erst in den Anfän-
gen – in kleinen Kommunen auch durch begrenzte per-
sonelle Ressourcen. Als Aufsteiger werden diejenigen
Kommunen bezeichnet, die in der Radverkehrsförderung
fortgeschritten sind. Hier existieren ambitionierte Ziel-
werte, Förderstrategien und umfangreiche Maßnahmen
der Radverkehrsförderung. Der Radverkehrsanteil liegt
zwischen 10 und 25 Prozent. Mindestens eine Basisinf-
rastruktur für den Radverkehr ist vorhanden. Vorreiter
sind schließlich jene Kommunen, die ein hohes Niveau
der Radverkehrsförderung erreicht haben. Der Radver-
kehrsanteil liegt bei über 25 Prozent. Die Radverkehrs-
förderung stellt eine breit getragene gesellschaftliche
und politische Selbstverständlichkeit dar. Die Vorreiter
haben zudem eine besondere Vorbildfunktion für andere
Kommunen und tragen ihre Erfahrungen und ihr Fach-
wissen nach außen. Paradebeispiele für solche Vorreiter-
kommunen sind Münster mit einem Radverkehrsanteil
von 38 Prozent, Oldenburg mit 43 Prozent oder Greifs-
wald mit 44 Prozent.
Der Nationale Radverkehrsplan bündelt die Erfahrun-
gen dieser unterschiedlich kategorisierten Städte. Eines
der vorrangigen Ziele des Nationalen Radverkehrsplans
ist es, dass die Gemeinden voneinander lernen und ihre
unterschiedlichen Erfahrungen austauschen. Maßnah-
men zur Förderung des Radverkehrs sind dabei auf viel-
fältige Weise möglich und können durch Bund, Länder
und Kommunen gemäß des jeweiligen Kompetenzberei-
ches durchgeführt werden.
Ich möchte einige wichtige Handlungsfelder der zu-
künftigen Förderung des Radverkehrs erwähnen.
Wesentliche Grundvoraussetzung des Radverkehrs
sind durchgängige und vor allem alltagstaugliche Rad-
verkehrsnetze. Diese müssen alle wesentlichen regiona-
len Punkte verbinden. Aufgabe des Bundes ist hierbei
der Bau von Radwegen an Bundesstraßen und Bundes-
wasserstraßen. Gerade an den Bundesstraßen mit ihrem
schnellen Kfz-Verkehr sind gut ausgebaute Radwege
24080 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
(A) (C)
(D)(B)
notwendig, um Radverkehr und motorisierten Verkehr
zu entflechten und so zur Verkehrssicherheit beizutra-
gen. Der Ausbaustand von Radwegen an Bundesstraßen
ist bereits sehr hoch. Entlang der rund 40 000 Bundes-
straßenkilometer finden sich rund 19 000 Kilometer
Radwege. Dieser Ausbaustand ist auch vor dem Hinter-
grund bereits beachtlich, dass sich manche Bundesstra-
ßen aufgrund ihrer topografischen Verhältnisse nicht
zum Bau von Radwegen eignen. Der weitere Bau von
Radwegen wird gleichwohl mit jährlich 60 Millionen
Euro aus dem Bundeshaushalt gefördert.
Für die Land- und Kreisstraßen sind die Länder und
Kommunen verantwortlich. 25 000 Kilometer Radwege
an Landstraßen und 16 000 Kilometer Radwege an
Kreisstraßen sind vorhanden. Hier sind Länder und
Kommunen aufgefordert, in ihren Ausbaubemühungen
ebenfalls weiter fortzufahren. Gute Erfahrungen haben
einige Kommunen damit gemacht, die Förderung des
Radverkehrs als Teil einer integrierten Stadtentwick-
lungspolitik zu begreifen: Durch Fördermaßnahmen
können Stadtteile aufgewertet werden. Es lassen sich
Konzepte einer „Stadt der kurzen Wege“ entwickeln. Zu-
dem unterstützt der Radverkehr die Lärmreduktions- und
Luftreinhaltepläne der Kommunen. Durch aktive und
innovative Radverkehrspolitik steigern die Kommunen
somit direkt ihre Lebensqualität und Attraktivität.
Ein weiteres wichtiges Handlungsfeld, um das Fahr-
rad in den Kommunen noch populärer zu machen, ist die
Schaffung sicherer und ausreichender Abstellmöglich-
keiten an Bahnhöfen, an zentralen Anlaufpunkten in den
Städten und an touristischen Attraktionen. Erfahrungen
zeigen, dass ein Mangel an Abstellanlagen ein zentrales
Hindernis für die Fahrradnutzung sein kann. Hier sind
die zuständigen Kommunen aufgefordert, Abhilfe zu
schaffen. Um den Kommunen hierbei unterstützend un-
ter die Arme zu greifen, wird der Bund gute Beispiele
sammeln und veröffentlichen, innovative Lösungen an-
stoßen und den Kontakt und Erfahrungsaustausch zwi-
schen den Kommunen anregen.
Der Radverkehr wird zudem dann weiter wachsen,
wenn es uns gelingt, die Verkehrssicherheit von Radfah-
rern zu erhöhen. Auch wenn im Jahr 2011 die Zahl der
getöteten und schwerverletzten Radfahrer gestiegen ist,
sind die Zahlen in der langfristigen Betrachtung rückläu-
fig. Hier bleibt aber noch viel zu tun. Neun von zehn
Fahrradunfällen ereignen sich innerorts. Besonders ge-
fährdet sind Kinder und ältere Bürgerinnen und Bürger
über 65 Jahre. Bei diesen Gruppen sind die Unfallfolgen
auch meist besonders schwer. Die Hälfte der 2011 im
Straßenverkehr getöteten Radfahrer war über 65 Jahre
alt. Ein gesteigerter Bedarf nach mehr Verkehrssicher-
heit entsteht auch aus der zunehmenden Verbreitung von
Elektrofahrrädern, die deutlich höhere Endgeschwindig-
keiten erreichen als herkömmliche Fahrräder. Um die
Verkehrssicherheit weiter zu erhöhen, ist ein gemeinsa-
mes Handeln von Bund, Ländern und Kommunen zwin-
gend erforderlich.
Die Bundesregierung hat mit ihrem Verkehrssicher-
heitsprogramm bereits einen wichtigen Baustein zur
Stärkung der Verkehrssicherheit vorgelegt. Wichtig sind
darüber hinaus zielgerichtete Verkehrssicherheitskampa-
gnen. Zu nennen ist hier die Kampagne „Runter vom
Gas“ des Bundesverkehrsministeriums und des Deut-
schen Verkehrssicherheitsrates. Darüber hinaus ist es der
Koalition ein besonderes Anliegen, die freiwillige Helm-
tragequote weiter zu erhöhen. Fahrradhelme können ver-
hindern, dass es im Falle eines Unfalls zu schwersten
Kopfverletzungen kommt. In Zusammenarbeit mit der
Deutschen Verkehrswacht hat das Bundesverkehrsminis-
terium hierzu die Kampagne „Ich trag’ Helm“ gestartet.
Der Bund prüft zudem derzeit mit den Ländern, ob und
inwieweit das Sanktionsniveau im Bereich des Radver-
kehrs erhöht werden soll. Es geht dabei nicht nur um
Verstöße von Radfahrern, sondern auch um solche von
Autofahrern, die sich negativ auf den Radverkehr aus-
wirken können, wie zum Beispiel unzulässiges Parken
oder Halten auf Radwegen.
Länder und Kommunen sind im Bereich der Ver-
kehrssicherheit dazu aufgerufen, Analysen der Unfall-
schwerpunkte vor Ort durchzuführen und davon abgelei-
tet Strategien und Maßnahmenbündel zu entwickeln.
Wichtig sind auf Länderebene Verkehrssicherheitsnetz-
werke, die die Kompetenzen von Verwaltungen, Polizei,
Verbänden, Schulen und Verkehrsunternehmen bündeln
und die gesellschaftliche Aufmerksamkeit für das
Thema erhöhen. Zudem sind die Länder und Kommunen
dazu aufgerufen, beim Bau von Radinfrastruktur die
Empfehlungen des technischen Regelwerks für die
grundlegenden Anforderungen und Dimensionierungen
solcher Infrastruktur konsequent anzuwenden. Besonde-
rer Aufmerksamkeit der Kommunen bedarf zudem die
Verkehrssicherheit von Kindern auf dem Weg zur
Schule. Tempo 30 vor Schulen trägt zu einem sichereren
Schulweg bei. Durch die Polizei und die Verkehrswach-
ten kann Mobilitäts- und Verkehrserziehung in den
Schulen und Kindertageseinrichtungen sichergestellt
werden. Die Kommunen sollten dieses Engagement un-
bedingt weiter anerkennen und weiter ausbauen.
Wie ich beschrieben habe, sind jedoch nicht nur Kin-
der besonders gefährdet, sondern gerade auch ältere
Menschen. Deshalb sollte ein zukünftiger Schwerpunkt
auch auf die Mobilitätsbildung von Erwachsenen gelegt
werden. Die Kommunen sollten entsprechende Ange-
bote, wie zum Beispiel das Radverkehrstraining für
ältere Menschen oder für Menschen mit Migrationshin-
tergrund, stärker in ihre Aktivitäten zur Radverkehrsför-
derung integrieren. Der Bund wird bei Bedarf ergänzend
und unterstützend die Lehrinhalte der Fahrschulausbil-
dung und der Fahrerlaubnisprüfung sowie in Abstim-
mung mit den Ländern auch der Fahrlehrerausbildung
kontinuierlich überprüfen und anpassen.
Als letztes Beispiel möchte ich erwähnen, dass es für
den weiteren Erfolg der Fahrradverkehrsförderung be-
sonders wichtig ist, dass es uns gelingt, die verschiede-
nen Verkehrsmittel besser miteinander zu verknüpfen.
Auf lokaler Ebene sollten die Aufgabenträger des ÖPNV
die Fahrradmitnahme in öffentlichen Verkehrsmitteln
flächendeckend ermöglichen und für sichere Abstell-
möglichkeiten an Bahnhöfen und Haltestellen sorgen.
Zudem freut es mich außerordentlich, dass die Deutsche
Bahn AG zugesichert hat, dass es möglich sein wird, in
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24081
(A) (C)
(D)(B)
den zukünftigen ICx-Schnellzügen ab 2016 Fahrräder zu
transportieren. Hierdurch werden weitere Hürden der
Fahrradnutzung, beispielsweise bei der Fahrt in den Ur-
laub, abgebaut.
Der Nationale Radverkehrsplan ist ein überzeugendes
Programm für die Radverkehrsförderung auf allen politi-
schen Ebenen in den kommenden Jahren. Die christlich-
liberale Koalition misst dem Radverkehr einen besonde-
ren Stellenwert zu. Der Fahrradverkehr ist im Zentrum
der Verkehrspolitik angekommen.
Noch einige Worte zu dem vorliegenden SPD-Antrag.
Der Antrag der SPD wiederholt vieles, was bereits Inhalt
des Nationalen Radverkehrsplans ist. Einen darüber hi-
nausgehenden Mehrwert des Antrags vermisse ich. Ei-
nige Aussagen des Antrags sind zudem schlicht falsch.
So wird behauptet, dass der Bundesverkehrsminister In-
vestitionen in die Aufklärung über die Wichtigkeit der
freiwilligen Helmnutzung unterlasse. Hier empfehle ich
nochmals die Internetseite www.ich-trag-helm.de des
Bundesverkehrsministeriums und der Deutschen Ver-
kehrswacht. Es handelt sich genau um eine solche Auf-
klärungskampagne, wie sie von der SPD gefordert wird.
Offensichtlich haben sich die Kollegen der SPD nicht
ausreichend informiert, als sie ihren Antrag geschrieben
haben. Darüber hinaus verkennt der SPD-Antrag die
vorrangige Kompetenz der Länder und der Kommunen
für die Radverkehrsförderung. An mehreren Stellen
werden umfangreiche finanzielle Förderprogramme des
Bundes für den Radverkehr gefordert. Es scheint, als
wolle die SPD die Kompetenz der Radverkehrsförde-
rung beim Bund bündeln.
Wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion hingegen set-
zen hier auf die Verantwortung der Entscheidungsträger
von Ländern und Kommunen. Das föderale Verantwor-
tungssystem hat den Radverkehr primär dort angesiedelt.
Vor Ort kann sachgerechter entschieden werden, welche
Maßnahmen zur Förderung des Radverkehrs sinnvoll
sind. Der Bund bekennt sich hingegen zu seiner Verant-
wortung für den Bau von Radwegen an Bundesstraßen
und Bundeswasserstraßen und zu seiner Rolle als Mode-
rator und Koordinator. Hier leistet der Nationale Radver-
kehrsplan einen wichtigen Dienst. Der Nationale Radver-
kehrsplan wird dazu beitragen, Deutschland in den
kommenden Jahren noch fahrradfreundlicher zu gestalten.
Ulrike Gottschalck (SPD): Fahrradfahren ist ge-
sund, umweltfreundlich und kostengünstig. Der Ausbau
des Fahrradverkehrs erhöht die Lebensqualität, senkt
den CO2-Ausstoß und macht Städte und Gemeinden
lebendiger. Wir haben also sehr gute Gründe, den
Fahrradverkehr zu fördern; dies haben sozialdemokrati-
sche Verkehrspolitikerinnen und Verkehrspolitiker früh
erkannt.
Der erste Radverkehrsplan war ein Quantensprung,
weil sich sozialdemokratische Bundesverkehrsminister
zu einer aktiven Rolle bei der Förderung des Fahrradver-
kehrs bekannt haben. Es wurden Umsetzungsstrategien
zur Radverkehrsförderung initiiert, ein fahrradfreundli-
ches Klima angestoßen und wichtige Maßnahmen auf
den Weg gebracht. Mit der Einrichtung eines eigenen
Haushaltstitels für Bau und Erhaltung von Radwegen in
der Baulast des Bundes wurden die Ausgaben für Rad-
wege an Bundesstraßen verdoppelt. Seit 2003 konnten
so jährlich deutlich mehr Radwege gebaut werden. Es
wurde ein weiterer Haushaltstitel zum „Ausbau von
Betriebswegen an Bundeswasserstraßen“ mit einem
Anfangsfördervolumen von 10 Millionen Euro einge-
richtet, um den Ausbau und den Erhalt von Freizeitrad-
wegen im Verlauf von Bundeswasserstraßen zu fördern.
Weiterhin wurde das Fahrradportal www.nationalerrad-
verkehrsplan.de“ und der Bund-Länder-Arbeitskreis
„Fahrradverkehr“, BLAK, eingerichtet, um die Umset-
zung und Weiterentwicklung des NRVP zu fördern. Zu-
dem wurden jährlich 2 Millionen für nichtinvestive
Maßnahmen zur Umsetzung und Koordination des
NRVP zur Verfügung gestellt. Als Erfolg können wir zu-
dem den Aufbau der Fahrradakademie und einer Fahr-
radkommunalkonferenz für die bundesweite Vernetzung
der Kommunen verbuchen.
Noch einmal: Fahrradfahren ist umweltfreundlich, ge-
sund und hält mobil. Daher muss es unser gemeinsames
Ziel sein, den Radverkehrsanteil in Deutschland weiter
deutlich zu steigern. Das Verkehrsmittel Fahrrad muss
neben dem öffentlichen Verkehr und dem motorisierten
Individualverkehr als gleichwertiges Verkehrsmittel ei-
ner nachhaltigen integrierten Verkehrspolitik verstanden
werden und bei allen Konzepten für Verkehr, Stadtent-
wicklung und Raumordnung berücksichtigt werden.
Nun haben wir den am 5. September 2012 von der
Bundesregierung beschlossenen neuen „Nationalen Rad-
verkehrsplan 2020“ vorliegen. Auf 88 Seiten finden wir
eine umfassende Bestandsaufnahme und eine Analyse
der aktuellen Situation. Es sind gute Ansätze enthalten,
und ich bedanke mich ausdrücklich bei den wenigen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die in diesem großen
Ministerium überhaupt noch für Radverkehr zuständig
sind. Dies ist auch schon einer meiner Kritikpunkte.
Wenn der Radverkehr wirklich ein gleichwertiges Ver-
kehrsmittel werden soll, muss sich dies auch beim Perso-
nal im Ministerium widerspiegeln. Aber leider ist das
Gegenteil der Fall. Wie aus der Antwort zu meiner Klei-
nen Anfrage hervorgeht, sind nur 6 Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter für Radverkehr zuständig und davon haben
2 befristete Arbeitsverträge, die zum 31. Dezember 2012
auslaufen. Wie die Bundesregierung dann mit nur noch
vier Personen die notwendigen Aufgaben zur Förderung
des Radverkehrs erfüllen will, bleibt offen.
Dieser Widerspruch zwischen Ankündigung und
Realität zieht sich leider wie ein roter – oder besser:
schwarzer – Faden durch den NRVP. Die Wünsche und
Pläne des NRVP passen nicht zu der politischen Realität,
und ich befürchte, das liegt an der Hausspitze.
Die Radverkehrspolitik von Bundesverkehrsminister
Ramsauer ist unglaubwürdig. Die Bundesregierung will
den Anteil des Fahrradverkehrs erhöhen, kürzt aber die
Mittel. 2010 waren noch 100 Millionen Euro im Haus-
halt, für 2013 sind nur noch 60 Millionen Euro vorgese-
hen.
Nur wenige Empfehlungen der vom Minister eigens
eingesetzten Expertenkommission zur Fortentwicklung
24082 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
(A) (C)
(D)(B)
des NRVP 2020 wurden aufgenommen, und, wenn über-
haupt, sind sie nur sehr vage formuliert.
Anstatt sich als Impulsgeber für Fahrradverkehr zu
profilieren, verweist die Bundesregierung immer wieder
auf die Zuständigkeit der Länder und Kommunen und
spielt Schwarzer Peter.
Populistisch bedient der Minister mit öffentlichen Äu-
ßerungen über sogenannte Kampfradler negative Vorur-
teile. Er verleugnet, dass das Auto immer noch der
Hauptverursacher von Unfällen im Straßenverkehr ist.
Der Bundesverkehrsminister sollte sich lieber bei den
Länderministern dafür einsetzen, dass genug Polizei-
beamte zur Überwachung bestehender Gesetze für alle
Verkehrsteilnehmer zur Verfügung stehen. Verkehrsrow-
dys müssen bestraft werden, keine Frage – aber die fin-
det man leider bei allen Verkehrsteilnehmern.
Ein Manko ist auch, dass der Autoverkehr weitest-
gehend ausgespart wird; damit umschifft Minister
Ramsauer geschickt die Diskussion um den Platz im
Straßenraum. Mehr Fahrradfahrer brauchen auch mehr
Platz, um sicher radeln zu können.
Im NRVP fehlen konkrete ambitionierte Ziele und die
verbindliche Finanzierung einer engagierten Fahrrad-
politik des Bundes. Wir Sozialdemokraten fordern daher
mit unserem aktuell vorliegenden Antrag die Bundes-
regierung auf, das Fahrradfahren in Deutschland weiter
ernsthaft zu fördern und starke Impulse zu setzen.
Wir fordern unter anderem die Finanzausstattung für
den Bau von Radwegen an Bundesfernstraßen in einer
Höhe von 100 Millionen Euro in der mittelfristigen Fi-
nanzplanung festzuschreiben. Dies haben wir auch mit
einem Haushaltsantrag untermauert.
Eine Steigerung des Radverkehrs in Deutschland
durchschnittlich auf 20 Prozent am Modal Split der Ver-
kehrsträger bis 2020.
Die Beauftragung eines Parlamentarischen Staats-
sekretärs beim Bundesminister für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung mit der Funktion des Fahrradbeauf-
tragten und eine personelle Aufwertung des Ressorts.
Eine verlässliche Förderung mit Kontinuität.
Ein eigenständiges Themenfeld „Radverkehr im länd-
lichen Raum“.
Wir haben also gute Konzepte, damit das Fahrrad
wichtiger Bestandteil einer integrierten Verkehrs- und
Mobilitätspolitik wird. Grundvoraussetzung ist jedoch,
dass man es politisch will. Wir Sozialdemokratinnen und
Sozialdemokraten stehen bereit, die vagen Ankündigun-
gen im NRVP in konkrete Politik umzusetzen.
Torsten Staffeldt (FDP): Vorab: Als täglicher Fahr-
radnutzer habe ich ein großes Eigeninteresse daran, den
Radverkehr zu fördern. Doch der vorliegende Antrag der
Sozialdemokraten ist, wie leider häufig, ein klassischer
Schaufensterantrag. Er bedient die Wünsche der Klien-
tel, zeigt, dass die Sozialdemokraten vermeintlich han-
deln, ist aber letztlich fernab der Realität, insbesondere
was den Forderungsteil betrifft.
Niemand wird bestreiten, dass Fahrradfahren eine ge-
sunde und umweltfreundliche Alternative zum Auto dar-
stellt. Doch Forderungen, die das Thema Fahrrad auf den
Olymp aller Verkehrsträger setzen, fahren weit über die
Ziellinie hinaus und sind den anderen Verkehrsträgern
gegenüber maßlos übertrieben hoch, zumal ja im Antrag
der Sozialdemokraten von der Gleichwertigkeit der Ver-
kehrsträger die Rede ist. Insofern kann ja auch nicht der
Radverkehr Sonderregelungen, wohl aber die gleiche
Aufmerksamkeit wie andere Verkehrsträger erwarten.
Damit stelle ich erst einmal grundsätzlich Widersprüche
im Antrag fest.
Völlig zu viel in die Pedale des Antrages getreten
wird zum Beispiel in folgendem Punkt: Forderung eines
eigenen Parlamentarischen Staatssekretärs beim Bundes-
minister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung mit der
Funktion des Fahrradbeauftragten der Bundesregierung.
Dann können wir auch gleich aktuell einen Parlamentari-
schen Staatssekretär für den Wiederaufbau des Schlosses
oder für Wassersportler einsetzen.
Anderer Kritikpunkt: Es soll eine neue Promille-
grenze für Radfahrerinnen und Radfahrer eingeführt
werden. Andererseits – Zitat – „muss die Bundesregie-
rung auf die Länder einwirken, dass die Kontrolldichte
von Fahrradfahrern durch die Landespolizeien erhöht
wird“.
Bezieht sich das auf mehr Promillekontrollen, liebe
Antragsteller, oder etwa auf die Raser, die die Verkehrs-
sicherheit im Radverkehr nun wirklich gefährden, oder
warum sollen Radfahrer häufiger kontrolliert werden?
Das hätte ich gern erläutert bekommen. Abgesehen da-
von freuen sich sicherlich die Landespolizeien über den
Aufwuchs an Arbeit.
Nächster Kritikpunkt: Der Bau von Radwegen soll als
Teil von städtebaulichen Konzepten zur Umgestaltung
des öffentlichen Raumes im Rahmen von Städtebauför-
derung gefördert werden. Interessanter Versuch, über
den Radverkehr das Thema Städtebauförderung mit zu-
sätzlichen Hunderten von Millionen Euro zu beglücken!
Andererseits ist im Antrag die Rede davon, dass die
Förderung des Radverkehrs im ländlichen Raum als ei-
genständiges Themenfeld im Nationalen Radverkehrs-
plan 2020 verankert und mit eigenen Maßnahmen unter-
legt werden soll. Wir haben also die Forderung, den
Radverkehr bei der Städtebauförderung zu fördern, und
das Gleiche soll im ländlichen Raum erfolgen, also auf
dem Lande und in der Stadt. Sicher, es blieben nur noch
die Luft und das Wasser, aber die Fahrräder mit denen
man über das Wasser fahren und in der Luft fliegen
kann, wird es wohl erst in der Zukunft geben. Auszu-
schließen ist das natürlich nicht, wenn die SPD weiterhin
solche Anträge stellt.
Nächster Punkt: An anderer Stelle im Antrag heißt es,
dass das Radfahren „in allen Bevölkerungsschichten
eine breite Zustimmung und Akzeptanz“ verzeichnet. Es
ist von einem positiven Imagewandel die Rede. Anderer-
seits wird der Regierung „populistische Pflege von Vor-
urteilen“ vorgeworfen. Nach dieser Theorie bremst also
die Regierungskoalition das Fahrrad populistisch so sehr
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012 24083
(A) (C)
(D)(B)
aus, dass das Radeln immer beliebter wird? Meine Da-
men und Herren, hier wird in Bezug auf das Fahrrad
vonseiten der SPD gegen die Regierung getreten, was
das Zeug hält.
Sie sollten an dieser Stelle einen Gang runterschalten,
liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD. Diese an die
Regierung gerichteten Unterstellungen haben nichts in
einem ernst gemeinten Antrag zu suchen. Allein schon
deshalb lehnen wir den Antrag ab.
Herbert Behrens (DIE LINKE): Kleine Kinder da-
bei zu beobachten, mit welcher Lust und welchem Ent-
deckergeist sie auf ihren kleinen Fahrrädern unterwegs
sind, macht uns großen Spaß. Kinder erleben die neu ge-
wonnene Freiheit durch das Fahrrad ganz unmittelbar.
Stück um Stück erweitern sie ihren Erfahrungshorizont
und erobern sich ihre Welt. Alles spricht dafür, diese
Lust am Fahrradfahren zu erhalten und zu fördern. Das
können wir tun, indem wir das Fahrradfahren so sicher
und so angenehm wie möglich machen. Das muss auch
das Ziel eines Nationalen Radverkehrsplans sein.
Der Radverkehrsplan 2020 der Bundesregierung wird
dieser Anforderung nicht in vollem Umfang gerecht. Er
liefert uns zwar eine gute Beschreibung der Situation der
Radfahrerinnen und Radfahrer auf den Straßen. Er liefert
uns auch eine ganze Reihe von Handlungserfordernis-
sen. Wenn wir uns aber die Lösungsstrategien an-
schauen, dann wird es mit einem Mal ganz übersichtlich.
Da bleibt es bei Appellen und Vorschlägen. Formulie-
rungen wie: „Der Bund engagiert sich weiterhin …“,
„Die Bundesregierung unterstützt das Ziel …“, sind Ab-
sichtserklärungen, nicht mehr.
Der Antrag der SPD-Fraktion kritisiert das zu Recht
und fordert eine Reihe von Verbesserungen, damit das
Fahrradfahren in Deutschland attraktiver und sicherer
wird und mehr Leute mit dem Fahrrad fahren als heute.
Sie übernehmen dabei Forderungen des Allgemeinen
Deutschen Fahrrad-Clubs, ADFC, und des Ver-
kehrsclubs Deutschlands, VCD. Die Linke unterstützt
diese viel ehrgeizigeren Ziele der Clubs und wird dem
Antrag der SPD zustimmen.
Allerdings, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
SPD-Fraktion, taugt der Hinweis auf den sozialdemokra-
tischen Verkehrsminister, der mit dem Radverkehrsplan
2012 eine breite Akzeptanz und Zustimmung des Fahrra-
des initiiert habe, nicht wirklich. Ich glaube, das Fahr-
radfahren hat eine erfolgreiche Geschichte, die schon
vor 2002 begonnen hat.
Das ist jetzt Schnee von gestern. Wir können ja dazu-
lernen und künftig eine bessere Verkehrspolitik und
Fahrradverkehrspolitik machen. Was gehört unserer
Meinung nach dazu?
Das Fahrrad muss als selbstverständliches Verkehrs-
mittel wahrgenommen werden. Dafür müssen die spe-
ziellen Verkehrswege für Radfahrer mindestens in einem
genauso guten Zustand sein wie die für die Autofahrer.
Auf den Straßen brauchen die Radfahrer eigene Fahrspu-
ren. Für Autofahrer ist das schließlich völlig normal.
Wir müssen das positive Image des Radfahrens för-
dern. Dazu passt es überhaupt nicht, wenn der Bundes-
verkehrsminister in seinen Äußerungen über aggressive
Radfahrer in seiner Rhetorik nicht minder aggressiv da-
herkommt.
Wir müssen den Städten und Gemeinden Anregungen
geben, wie der Fahrradverkehr nachhaltig in das inner-
städtische Verkehrssystem eingebaut werden kann. Das
klappt nicht mit Projekten, die nach dem Projektende
wieder verschwinden. Es müssen gemeinsam mit den
Fachverbänden Handlungsempfehlungen und Rezepte
entwickelt werden, die in den Kommunen direkt umge-
setzt werden können.
Die höhere Bedeutung von Fahrradverkehr muss auch
im Verkehrsministerium erkennbar sein. Wir wissen um
das Schattendasein der Radverkehrspolitik im Ministe-
rium. Impulsgeber und Ratgeber kann man aber nur sein,
wenn dafür Personalkapazitäten vorhanden sind.
Noch eine weitere Anregung der Fachverbände hat
die SPD in ihrem Antrag aufgenommen, den die Linke
ausdrücklich unterstützt. Der Verkehrsminister geht
halbherzig an die Frage heran, wo wir eigentlich nach
acht Jahren Radverkehrsplan stehen wollen. 15 Prozent
aller zurückgelegten Wege sollen mit dem Fahrrad ge-
macht werden. Das ist keine einfach nur gegriffene Zahl.
Erhebungen und Prognosen mehrerer Instituten haben
diese Zahl ausgeworfen.
Berechnungen von Potenzialen, Szenariobeobachtun-
gen und Variationsrechnungen, wie sie im Radverkehrs-
plan genannt werden, sind jedoch keine politischen
Ziele.
Die Linke sagt, ein Radverkehrsanteil von 20 Prozent
an den zurückgelegten Wegen ist erreichbar, wenn man
neben dem politischen Willen auch die Unterstützung
für die derjenigen sicherstellt, die mitmachen sollen, das
zu erreichen. Das sind die Fachverbände, das Ministe-
rium, die Länder und Kommunen.
Der Radverkehrsplan bietet ein ordentliches Funda-
ment für eine Überarbeitung. Die Arbeit der vielen enga-
gierten Fahrradfreunde, die an diesem Plan der Bundes-
regierung beteiligt waren, ist keinesfalls umsonst. Wir
wissen, einige von ihnen hätten gerne mehr konkrete
Ziele dringehabt. Jetzt besteht die Chance, durch eine
Überarbeitung den Plan besser zu machen. Die Lust am
Fahrradfahren, die wir bei Kindern sehen, werden sie
sich so als Heranwachsende erhalten können. Und auch
als Erwachsene werden wir das Fahrrad als selbstver-
ständliches, gleichberechtigtes und attraktives Verkehrs-
mittel akzeptieren und nutzen.
Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir
beraten heute in erster Lesung den neuen Nationalen
Radverkehrsplan 2020. Bundesverkehrsminister Dr. Peter
Ramsauer hat am 5. September den Kabinettsbeschluss
zum Nationalen Radverkehrsplan 2020 medienwirksam
in die Kameras gehalten und sich plötzlich und unerwar-
tet als Förderer des Radverkehrs inszeniert. Sehr glaub-
würdig ist dies allerdings nicht, denn zuvor hat er sich in
seiner Amtszeit vor allem mit stigmatisierenden Äuße-
24084 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 198. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. Oktober 2012
(A) (C)
(D)(B)
rungen über sogenannte Kampfradler hervorgetan und
den Radverkehrsetat fast halbiert. Standen im Jahr 2010
noch 100 Millionen Euro für Radwegebau an Bundes-
straßen und Wasserstraßen zur Verfügung, sind es im
Etatentwurf 2013 nur noch 60 Millionen Euro. Dazu
passt auch, dass die schwarz-gelbe Bundesregierung als
erste Amtshandlung das Radverkehrsreferat im Bundes-
verkehrsministerium aufgelöst und mit reduziertem Per-
sonal einer anderen Abteilung im Ministerium zugeord-
net hat.
Schauen wir also genauer hin, was uns die Bundesre-
gierung als nationale Radverkehrsstrategie für die nächs-
ten Jahre präsentiert, um dafür zu sorgen, dass sich bis
zum Jahr 2020 wesentlich mehr Menschen gesund und
umweltfreundlich mit dem Fahrrad fortbewegen können.
Schließlich hatte Verkehrsminister Ramsauer eigens
dazu ein Expertengremium zurate gezogen und mit Ver-
tretern von Fachverbänden, Ländern und Kommunen
umfangreiche Abstimmungsprozesse durchgeführt. Was
wir bekommen haben, ist ein fachlich fundierter und na-
hezu umfassender Sachstandsbericht zur Situation des
Radverkehrs in Deutschland, der zahlreiche Maßnahmen
und kreative Ansätze zur Radverkehrsförderung auflistet
und den Trend zu einer neuen Fahrradkultur sehr gut be-
schreibt. Einen ambitionierten Aktionsplan mit einer
eindeutigen Strategie, wie sich die Bundesregierung
Deutschland zu einem fahrradfreundlichen Land entwi-
ckeln will, legt die Bundesregierung allerdings nicht vor,
zumal sie grundlegende Empfehlungen der Experten nur
halbherzig umsetzt oder ignoriert. So fehlen im Nationa-
len Radverkehrsplan 2020 klare Ziele und Fristen, bis
wann die Bundesregierung welche Maßnahmen zur Rad-
verkehrsförderung umsetzen will, insbesondere dazu,
wie der Radverkehrsanteil bis zum Jahr 2020 deutlich
gesteigert werden soll.
Der Nationale Radverkehrsplan 2020 enthält keinerlei
Aussagen zur Finanzierung der vorgeschlagenen Maß-
nahmen zur Radverkehrsförderung. Die Bundesregie-
rung überlässt die Finanzierung der meisten Maßnahmen
den Ländern und den klammen Kommunen, während
der Bund nicht mal ausreichend Mittel für die Instand-
haltung und den Ausbau von Radwegen an Bundesstra-
ßen und Bundeswasserstraßen zur Verfügung stellt. Wie
wenig ambitioniert die für möglich gehaltene Steigerung
des Radverkehrsanteil auf 15 Prozent bis zum Jahr 2020
ist, zeigen aktuelle Zahlen des Deutschen Mobilitätspa-
nels von 2011, das im Auftrag des Bundesministeriums
für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung jährlich erhoben
wird. Danach lag der Radverkehrsanteil am Verkehrs-
aufkommen im Jahr 2011 bereits bei 14,7 Prozent. Das
Bundesverkehrsministerium erklärt also zum möglichen
Anteil in 2020, was im Jahr der Erarbeitung des Nationa-
len Radverkehrsplans schon längst Realität in Deutsch-
land ist. Nicht jeder zehnte, sondern jeder siebte Weg
wird aktuell bereits mit dem Rad zurückgelegt.
Besondere Bedeutung muss dem Thema Verkehrssi-
cherheit beigemessen werden. Diese ist in hohem Maße
abhängig vom Zustand der Infrastruktur und dem örtli-
chen Geschwindigkeitsniveau. Rund 75 Prozent der Zu-
sammenstöße zwischen Radfahrenden und Kraftfahrzeu-
gen werden durch Autofahrerinnen und Autofahrer
verursacht. Die überwiegend Geschädigten sind Fahr-
radfahrerinnen und Fahrradfahrer. Betroffen sind bei
steigenden Unfallzahlen besonders ältere Menschen über
65 Jahre. Trotzdem unterlässt es die Bundesregierung,
die Restriktionen in der StVO abzuschaffen, die verhin-
dern, dass Kommunen Tempo 30 als Regelgeschwindig-
keit zur Erhöhung der Verkehrssicherheit einführen kön-
nen. Stattdessen lädt der Nationale Radverkehrplan 2020
die Verantwortung für die Sicherheit vor allem wieder
bei den Radfahrenden ab, die fluoreszierende Radhelme
tragen und bei Regelverstößen mit höheren Bußgeldern
bestraft werden sollen.
Wir fordern die Bundesregierung daher auf, den vom
Kabinett beschlossenen Nationalen Radverkehrsplan
2020 zu überarbeiten.
Erstens. Der Nationale Radverkehrplan 2020 muss
verbindliche Lang- und Mittelfristziele festlegen und
konkret benennen, welche Maßnahmen dazu bis wann
von welcher Akteursebene – Bund, Länder, Gemeinden,
Verbände – ergriffen werden sollen. Der Erfolg dieser
Maßnahmen muss evaluiert werden.
Zweitens. Der Nationale Radverkehrplan 2020 muss
als Ziel formulieren, dass der Radverkehrsanteil an allen
Wegen in Deutschland bis 2020 auf mindestens 20 Pro-
zent ansteigen soll.
Drittens. Die Bundeshaushaltsmittel für den Bau von
Radwegen entlang von Bundesstraßen müssen auf min-
destens das Niveau 100 Millionen Euro pro Jahr erhöht
und verstetigt werden.
Viertens. Die Bundesregierung muss sich eindeutig
zur Schaffung eines flächendeckenden integrierten Rad-
verkehrsnetzes in Deutschland bekennen. Der Bund ist
aufgefordert, die Länder und Gemeinden beim Ausbau
der Radverkehrsinfrastruktur durch die kontinuierliche
Finanzierung von innovativen Modellprojekten, soge-
nannte Leuchtturmprojekte, zu unterstützen. Darunter
verstehen wir beispielsweise Radschnellwege, Fahr-
radabstellanlagen und Ortsdurchfahrten sowie bundes-
weite Imagekampagnen.
Fünftens. Die Bundesregierung sollte eine(n) Radver-
kehrsbeauftragte(n) auf Staatssekretärsebene benennen.
Zur Koordinierung der bundesweiten Aktivitäten zur
Stärkung des Radverkehrs sollte im Bundesministerium
für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ein eigenständi-
ges Radverkehrsreferat eingerichtet und angemessen
personell ausgestattet werden.
198. Sitzung
Inhaltsverzeichnis
TOP 4 Regierungserklärung zum Europäischen Rat
TOP 5, ZP 2 Ausbildungspolitik
TOP 40, ZP 3 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
TOP 41, ZP 4 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
ZP 5 Aktuelle Stunde zu Transparenz bei Nebeneinkünften von Abgeordneten
TOP 6 Beaufsichtigung von Kreditinstituten (CRD IV)
TOP 7 Rentenpolitik
TOP 8 Wissenschaftsfreiheitsgesetz
TOP 9 Verteilung der Kosten und Nutzen der Energiewende
ZP 6 Wettbewerbsrecht undMedienvielfalt
TOP 11 Städtebauförderung
TOP 10 Reduzierung von Lebensmittelverlusten
TOP 20 Strafrecht menschenverachtende Beweggründe)
TOP 12 Weingesetz
TOP 15 Ausstellungsvergütung für bildende Künstler
TOP 14 Änderung des Grundgesetzes (Artikel 91b)
TOP 17 Rechtsschutz im Asylverfahren
TOP 16 Internationaler Strafgerichtshof
TOP 18 Anpassung des Bauproduktengesetzes
TOP 22 Auswirkungen des neuen Waffenrechts
TOP 19 Managementprämienverordnung
TOP 28 Perspektive der Staaten des westlichen Balkans
TOP 21 Änderung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes
TOP 24 Recht allerMenschen mit Behinderung auf Teilhabe
TOP 23 Fahrgastrechte im Schiffsverkehr
TOP 26 Beitrag der Raumordnung zur Energiewende
TOP 25 Umsetzung des Seearbeitsübereinkommens 2006
TOP 30 Umsetzung der Resolution 1325
TOP 27 Umsetzung der Richtlinie über Industrieemissionen
ZP 7 Förderung des Radverkehrs
TOP 29 Bewachungsunternehmen auf Seeschiffen
TOP 31 Petitionsrecht
TOP 32 Mumia Abu-Jamal (Menschenrechte in den USA)
TOP 33 Menschenrechte in den Staaten des Südkaukasus
Anlagen