Gesamtes Protokol
Ich grüße Sie sehr herzlich. Schönen Nachmittag!Bitte nehmen Sie Platz. Liebe Kolleginnen und Kolle-gen, die Sitzung ist eröffnet.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungBericht des unabhängigen ExpertenkreisesAntisemitismusAntisemitismus in Deutschland – Erschei-nungsformen, Bedingungen, Präventionsan-sätze– Drucksache 17/7700 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
SportausschussRechtsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für Kultur und MedienNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Sie sind damiteinverstanden.Somit eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat alsErster der Bundesinnenminister Dr. Hans-PeterFriedrich. Bitte schön, Kollege Dr. Hans-Peter Friedrich.
Dr. Hans-Peter Friedrich, Bundesminister des In-nern:Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bun-destag hat in der 16. Wahlperiode die Bundesregierungin einem Antrag aufgefordert, den Kampf gegen Antise-mitismus weiter und verstärkt zu führen und jüdischesLeben in Deutschland zu fördern. Im Zuge der Umset-zung dieses Antrags des Deutschen Bundestages ist einExpertengremium 2009 ins Leben gerufen worden, das,wie ich meine, einen sehr fundierten, einen sehr facetten-reichen und sehr gründlichen Bericht in zweijähriger Ar-beit erstellt hat. Dieser Bericht ist eine gute Diskussions-grundlage und ergänzt die eigenen Erkenntnisse, die dieBundesregierung anhand von vielen Programmen, diestandardmäßig wissenschaftlich begleitet werden, ge-wonnen hat. Insofern hat sich dies gelohnt und sollte inZukunft fortgeschrieben werden.Antisemitismus ist ein Thema, das nicht nur die jüdi-sche Gemeinde in Deutschland angeht. Es berührt dieGrundfesten unserer Demokratie, unserer Freiheit, unse-res Zusammenlebens. Der Kampf gegen Extremismus,egal woher er kommt, ist eine Aufgabe, bei der dieserStaat und diese Gesellschaft gemeinsam zusammenwir-ken.
Die Tatsache, dass die Zahl der antisemitischen Straf-taten in den letzten Jahren stabil geblieben bzw. sogarleicht gesunken ist, beruhigt uns nicht; denn das Niveauist nach wie vor sehr hoch. Allein die Tatsache, dass essolche Straftaten gibt, zeigt, dass das Problem vorhandenist und dass wir das Problem gemeinsam lösen müssen.Es gab erst vor wenigen Monaten hier in Berlin einenÜberfall auf den Rabbiner Daniel Alter. Ich glaube, dassdieser Überfall ein Handlungsauftrag an alle war, näm-lich sicherzustellen, dass es kein Stadtviertel in irgendei-ner Stadt dieses Landes geben darf, in dem Menschenum ihre Sicherheit oder gar um ihr Leben fürchten müs-sen, nur weil sie sich zu einer bestimmten Religion be-kennen, weil sie eine bestimmte Hautfarbe haben oderweil sie als anders erkennbar sind. Wir schulden es unse-rem Staat und unserer Demokratie, sicherzustellen, dassFreiheit, dass Recht und Toleranz überall im Lande, injedem Stadtviertel durchgesetzt werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Berichtspricht davon, dass circa 20 Prozent der Bevölkerung inDeutschland antisemitisches Gedankengut in irgendeiner
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Bundesminister Dr. Hans-Peter Friedrich
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Weise haben. Nun ist ein Streit darüber ausgebrochen,wie man auf diese 20 Prozent kommt.Die einen sagen, es seien viel mehr, die anderen sa-gen, so viel könnten es gar nicht sein. Natürlich kommtes immer darauf an, wie man die Fragen formuliert. Ent-scheidend ist jedoch nicht, welche Zahlenstatistiken vor-liegen. Entscheidend ist vielmehr, dass es immer nochoder schon wieder Ressentiments, Klischees und Ver-schwörungstheorien gibt, die mit unserer Demokratieund der freiheitlichen Grundordnung nicht vereinbarsind und gegen die wir mit aller Konsequenz vorgehenmüssen.Das Thema Antisemitismus wird aber auch von außenan unser Land herangetragen. Für islamistische Aktivis-ten und Organisationen weltweit sind Antisemitismusund Ressentiments gegen Juden ein nahezu selbstver-ständlicher Bestandteil ihrer Propaganda und ihrer Ideo-logie. Das gilt auch für die Gruppierungen, die inDeutschland tätig sind und die von unserem Verfas-sungsschutz beobachtet werden.Das Lagebild, das der Verfassungsschutz zeichnet,zeigt, dass auch für die Neonazis und die rechtsextremis-tischen Gruppen in Deutschland Antisemitismus ein ver-bindender und fester Bestandteil ihrer Propaganda undihrer Ideologie ist. Es ist wichtig, dass man die Erkennt-nisse, die der Verfassungsschutz gewonnen hat, einarbei-tet in die politische Bildung und in die Aufklärungsak-tionen, die wir jetzt und in der Zukunft gemeinsam aufden Weg bringen müssen.Das alles kann nicht darüber hinwegtäuschen, dassheutzutage 90 Prozent der antisemitischen Straf- undGewalttaten von den Neonazis begangen werden.Schauen wir einmal, wie das konkret abläuft: Die Neo-nazis nehmen jedes tagespolitische Ereignis sofort zumAnlass, um Verschwörungstheorien über die Juden inDeutschland, aber auch weltweit, zu verbreiten. Das al-les zeigt, dass wir gegen diese Volksverhetzung durchdie Neonazis mit aller Konsequenz vorgehen müssen.50 Prozent aller rechtsextremistischen Straftaten sindVolksverhetzungsstraftaten. Das macht deutlich, dassunser Staat und jeder Demokrat gefordert ist, den Anti-semitismus entschlossen zu bekämpfen – egal in welcherMaske er daherkommt – und ihm entgegenzutreten.
Es gibt zahlreiche Bundesprogramme, die aufzeigensollen, mit welchen Mechanismen die antisemitischePropaganda der Neonazis vorgeht, um junge Leute aufihre Seite zu ziehen und sie für sich zu gewinnen. Wirstellen fest, dass das Internet inzwischen zu einer bevor-zugten Plattform für diese Propagandisten geworden ist;denn es eröffnet – allen Propagandisten übrigens – welt-weit völlig neue Möglichkeiten, an junge Menschen, diein bestimmten Lebensphasen ein wenig anfällig seinkönnen, heranzukommen.Im Dezember 2011 haben wir das Gemeinsame Ab-wehrzentrum gegen Rechtsextremismus gegründet. EinSchwerpunkt der Arbeit dieses Zentrums besteht in derAuseinandersetzung mit der Frage, welche Erschei-nungsformen des Antisemitismus und des Rechtsextre-mismus es im Internet gibt und welche Gegenmaßnah-men man im Rahmen der politischen Bildung auch imInternet auf den Weg bringen kann, um diesen Propagan-damustern und -strukturen etwas entgegenzusetzen.Etwas entgegensetzen – das bedeutet auch, dass wirdie Zivilgesellschaft stärken müssen. Ein Programm ausdem Bundesinnenministerium, das sich „Zusammenhaltdurch Teilhabe“ nennt, setzt genau an dieser Stelle an. Esgeht dabei darum, Vereine und Organisationen zu stär-ken, Demokratietrainer auszubilden, die die Propaganda-strukturen und die Argumentationsmuster der Antisemi-ten ausfindig machen, entlarven und dann entsprechenddagegen argumentieren können.In der Deutschen Islamkonferenz steht das ThemaAntisemitismus ebenfalls auf der Tagesordnung. Seit2010 gibt es die Arbeitsgruppe „Präventionsarbeit mitJugendlichen“, die sich mit Extremismus und Gewaltphänomenübergreifend beschäftigt und die insbeson-dere den religiös begründeten und begleiteten Extremis-mus zum Gegenstand hat.Wir haben vor, bei der nächsten Islamkonferenz imMärz/April nächsten Jahres konkrete Handlungsempfeh-lungen auf den Tisch zu legen, wie diese Präventionsar-beit mit Jugendlichen in Zukunft verstärkt und weiterverbessert werden kann.Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland – das istdie positive Botschaft – wächst, und sie wächst stärkerals sonst wo in Europa. Die Bundesregierung unterstütztmit finanziellen Mitteln, aber auch ideell die Entwick-lung insbesondere der überregionalen Einrichtungen, dieZusammenarbeit mit dem Zentralrat der Juden inDeutschland und den Aufbau des jüdischen Lebens inDeutschland. Ich glaube, wir beobachten da seit vielenJahren eine sehr positive Entwicklung, und sie ist eswert, dass alle Ebenen des Staates sie unterstützen.
Der Bericht der Experten enthält viele Empfehlungen,die wir sorgfältig prüfen und die wir, soweit sie sinnvoll,notwendig, finanzierbar und nicht schon durchgeführtsind, unmittelbar umsetzen werden.
Entscheidend ist, dass wir diesen Bericht aktualisie-ren; ich würde vorschlagen, dass wir ihn mindestens ein-mal pro Wahlperiode auf den neuesten Stand bringen.Der vorliegende gründliche Bericht bildet hierfür ein gu-tes Fundament.Ich bedanke mich bei den Professoren, den Wissen-schaftlern und den Experten, die mitgemacht haben, fürihre Arbeit. Ich bedanke mich bei allen im Land, die essich zur Aufgabe gemacht haben, aktiv und leidenschaft-lich dem Antisemitismus entgegenzutreten.Vielen Dank.
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Bundesminister Dr. Hans-Peter Friedrich
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Vielen Dank, Herr Bundesminister. – Nächster Red-
ner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der Sozial-
demokraten unser Kollege Dr. Wolfgang Thierse. Bitte
schön, Kollege Dr. Wolfgang Thierse.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! SeitNovember 2011 liegt nun der erste Antisemitismusbe-richt dem Bundestag vor. Am 23. Januar 2012 habe ichihn mit Kollegen aller Fraktionen und Mitgliedern desExpertenkreises der Öffentlichkeit vorgestellt. Heute erstdebattieren wir darüber im Bundestag; das ist wahrlichetwas spät. Der Bericht hat größere Aufmerksamkeit alsbisher verdient.
Denn es gibt schlechten, bedrückenden aktuellen Anlass:In den letzten Wochen wurde in Berlin ein Rabbinerüberfallen. Der Generalsekretär des Zentralrats der Ju-den in Deutschland wurde bedroht. Das sind nur zweiBeispiele für den alltäglichen Antisemitismus inDeutschland.Auch im Zusammenhang mit der Beschneidungsde-batte sind antisemitische Untertöne unüberhörbar. Ich zi-tiere nur einen Satz aus vielen polemischen, ja hass-erfüllten Zuschriften an mich wörtlich: Ich bin keinRechtsradikaler, aber irgendwann muss mal Schluss seinmit dem ewigen Ducken vor den Juden. – Ein geradezuprototypischer antisemitischer Satz.Wie viele in Deutschland mögen genau so denken?Seitdem der Bericht vorliegt, wissen wir es: bis zu einemFünftel der Bevölkerung; ein erschreckender Befund.Der Bericht macht auf beunruhigende Weise deutlich,dass antisemitische Einstellungen bis weit in die Mitteder Gesellschaft reichen. Erscheinungsformen, Wir-kungsweisen und Ausbreitung dieser Menschenfeind-lichkeit genau zu kennen und zu beobachten, ist die Vor-bedingung für ein energisches und nachhaltigesHandeln. Das macht den Bericht so wichtig. Wir solltengemeinsam Konsequenzen aus ihm ziehen; denn – auchdas will ich, so wie der Herr Minister, betonen – derKampf gegen Antisemitismus ist nicht zuvörderst undschon gar nicht allein eine Sache der Juden in Deutsch-land, sondern unsere Sache, die Sache aller Demokraten,aller Anständigen im Lande.
Die Konsequenzen: Erstens. Wir brauchen Kontinui-tät und Stetigkeit in Analyse und Berichterstattung; hierbesteht, denke ich, Konsens. Der Bundestag hat schon inseiner Entschließung vom 4. November 2008 zum Aus-druck gebracht, dass er sich seiner Verantwortung be-wusst ist, jeder Form von Antisemitismus in Deutsch-land entgegenzuwirken. Regelmäßige Berichte überAntisemitismus in Deutschland erstellen zu lassen,wurde interfraktionell beschlossen. Alle Beteiligten wa-ren sich einig: Eine intensive und vor allem kontinuierli-che Berichterstattung ist notwendig. Deshalb sollte dasdeutsche Parlament in jeder Legislaturperiode über einensolchen Bericht und die Konsequenzen daraus debattie-ren.
Zweitens. Antisemitismus ist kein gänzlich isolierba-res Problem. Er ist eingebettet in und Teil von Rechts-extremismus, Rassismus, Islamismus, Israelfeindschaft,Minderheitenfeindlichkeit. Diesen Zusammenhang giltes mehr denn je zu beachten.
Sie kennen die Zahlen: 90 Prozent aller antisemiti-schen Straf- und Gewalttaten werden von Rechtsextre-misten begangen. Gerade weil wir das Phänomen, dasProblem nicht isolieren können und dürfen, halte icheine Ausweitung des Fokus auf weitere Formen grup-penbezogener Menschenfeindlichkeit – diesen Begriffverwendet Wilhelm Heitmeyer, um die unterschiedli-chen Formen von Menschenfeindlichkeit zu erfassen –für dringend erforderlich; denn unterschiedliche Vorur-teile und Feindbilder greifen eben ineinander und bildenein gefährliches Konglomerat.
Dass genau dies lange nicht erkannt wurde, zeigen aufdramatische Weise auch die Taten des NSU. Wer überAntisemitismus angemessen und folgenreich sprechenund wer handeln will, der darf über die anderen Erschei-nungsweisen menschenfeindlichen Verhaltens nichtschweigen.
Drittens. Erkenntnisse allein reichen nicht aus. Siemüssen in Strategien und Aktivitäten zur Überwindungvon Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit über-setzt werden. Der wissenschaftlichen Beobachtung müs-sen aktive Schritte folgen. Erforderlich ist, wie auch vonden Experten empfohlen, eine Verstetigung der Bundes-programme. Momentan sind dies vor allem Modellpro-jekte. Da aber gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit,Rassismus, Antisemitismus keine punktuellen, sondernandauernde Probleme und Herausforderungen sind, be-darf es auch keiner nur punktuellen, sondern eben einerdauerhaften Bekämpfung. Nur wenn dauerhafte Pro-gramme gefördert werden, kann die Arbeit ohne effi-zienzmindernde Förderlücken gesichert werden. Ausdem Nebeneinander und der zeitlichen Begrenztheit ver-
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Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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schiedener Aktionen und Programme, die stets neu ini-tiiert und aufgestellt werden, müssen Institutionen undInitiativen werden, die tatkräftig und verlässlich arbei-ten, damit sie nachhaltige Wirkung entfalten können.
Meine Damen und Herren, es ist ein bedauernswerterZustand, dass nach einer Schreckensmeldung in den Me-dien die öffentliche Erschütterung zwar groß ist, aberselten lange anhält. Es ist ein bedauernswerter Zustand,dass engagierte Menschen Projekte aufbauen, Netz-werke installieren und dass, kaum haben diese begon-nen, zu arbeiten und zu funktionieren, die Förderungausläuft und die Projekte enden. Diese Zyklen medialerKonjunktur und kurzfristigen staatlichen Engagementsgilt es zu durchbrechen.Über die genaue Form der Unterstützung und auchder Finanzierung der Bundesprogramme – ich persönlichplädiere dafür, dass wir endlich eine Bundesstiftung ein-richten –
wird man trefflich streiten können. Wichtig aber ist einKonsens über deren Notwendigkeit. Eine fraktionsüber-greifende Arbeitsgruppe Antisemitismus hat bereits gutzusammenarbeitet und sollte sich jetzt daranmachen, ei-nen gemeinsamen Antrag in dieser Richtung zu erarbei-ten.Der Beschluss von 2008 hat nichts von seiner Aktua-lität eingebüßt, wie wir immer wieder neu auf erschre-ckende Weise sehen.
Er ist zu erneuern und mit den Erkenntnissen dieses Be-richts anzureichern und umzusetzen. Wie 2008 ist esauch heute wünschenswert und dringend erforderlich,dass der Bundestag geschlossen Gesicht zeigt, dass ge-meinsam eine regelmäßige Berichterstattung über antise-mitische und andere Formen der Menschenfeindlichkeitetabliert wird, dass eine Verstetigung der Bundespro-gramme festgelegt wird und wir allen Menschen inDeutschland zeigen: Wir nehmen diese moralische undpolitische Herausforderung ernst. Wir tolerieren antise-mitische Menschenfeindlichkeit nicht, und wir stehendafür nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten ein –nicht punktuell, nicht zeitlich begrenzt, sondern fortwäh-rend.
Vielen Dank, Kollege Wolfgang Thierse. – Nächster
Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der
FDP unser Kollege Dr. Stefan Ruppert. Bitte schön, Kol-
lege Dr. Ruppert.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Ich bin ausgesprochen dankbar dafür, dass uns einewissenschaftlich begleitete Erfassung des Phänomensdes Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschlandvorliegt. Wir haben in diesem Hause schon häufiger überdieses Phänomen diskutiert. Ich finde, die Vielschichtig-keit, die dieser Bericht offenbart, hilft uns, unseren ana-lytischen Blick nochmals zu schärfen.Ich will drei Aspekte hervorheben: Lange Zeit vertra-ten Wissenschaftler und große Teile der Zivilgesellschaftin Deutschland die Vorstellung, dass die Bekämpfungdes Antisemitismus gelingt, wenn man die Gräuel derdeutschen Geschichte aufarbeitet, wenn man, um es mitNorbert Frei zu sagen, eine Vergangenheitspolitik be-treibt. Man glaubte, das Phänomen so überwinden zukönnen. Diese Schritte waren richtig und notwendig,aber wir stellen fest: Das allein reicht nicht aus. Der An-tisemitismus stirbt nicht biologisch aus, sondern erkommt, wie es in dem Bericht ausgedrückt wird, in Wel-lenbewegungen wieder. Das hat mich, offen gesagt,schon beunruhigt, weil ich eigentlich stolz auf die Artund Weise bin, wie sich dieses Land seiner Vergangen-heit, insbesondere den begangenen Gräueltaten und demHolocaust, gestellt hat, wie es diese Vergangenheit auf-gearbeitet hat. Aber das allein reicht, wie gesagt, nichtaus. Wir müssen uns dem Phänomen auf leider unabseh-bare Zeit jeden Tag neu stellen.Wir stellen auch fest, dass es nicht ausreicht, zu sa-gen, dass dieses Phänomen ein Aspekt des Rechtsextre-mismus ist. Leider – auch das wird in diesem Berichtaufgezeigt – ist das Phänomen des Antisemitismus tief inder Gesellschaft verwurzelt, auch in bürgerlichen Grup-pen, wahrscheinlich auch bei Wählergruppen unsererParteien. Auch auf dieser Ebene müssen wir uns diesemPhänomen stellen und es wirksam bekämpfen.Der Bericht ist gut, allein es ist nicht einfach, dieHandlungsoptionen, die sich daraus ergeben, zu definie-ren. Ich bin ein Anhänger von Extremismusbekämp-fungsprogrammen. Ich bin dafür, dass wir Ausstiegspro-gramme bewusst finanzieren. Das ist aber ein sehrpunktueller Ansatz, und am Ende ist das Problem nurdurch die Gesamtheit der Bürger, durch die Zivilgesell-schaft zu lösen und nicht durch einzelne Programme, sowichtig sie auch sind. Die Lösung dieses Problems istund bleibt also unser aller Aufgabe.
Ich gebe meinem Vorredner durchaus recht: Wir sol-len uns zu diesen Programmen bekennen. Das Konzeptmuss aber breiter angelegt sein, und deswegen solltenwir nicht, wie in so mancher Extremismusdebatte, in einLinks-Rechts-Schema verfallen und irgendwelche Dingegegeneinander aufrechnen. Ich finde, in der heutigen De-batte findet dies erfreulicherweise nicht statt. Nein, dieseDebatte führt uns Demokraten über Parteigrenzen hin-weg zusammen, bis weit in die Partei der Linken hinein.Es ist gut, dass wir das zusammen machen, dass wir alsDemokraten die Gemeinsamkeiten betonen und sagen,was wir hier gemeinsam verteidigen wollen. Ich glaube,für solche Debatten sollten wir uns öfter Zeit nehmen,
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Dr. Stefan Ruppert
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auch wenn sie keinen Raum für parteipolitische Reflexebieten, den Gesetzmäßigkeiten der Parteipolitik nichtfolgen und auf den ersten Blick keine politische Attrakti-vität entfalten. Ich glaube, wir tun gut daran, häufigereine solche breiter angelegte Debatte zu führen, in derwir die Gemeinsamkeiten betonen.
Ohne konkret auf die Beschneidungsdebatte einzuge-hen, möchte ich einen Punkt nennen, der mir in diesemZusammenhang besonders aufgefallen ist: In der Bevöl-kerung in Deutschland geht die Sensibilität für die iden-titätsstiftende Funktion von Religion leider mehr undmehr verloren. Religion, nicht nur jüdischer Glaube,wird häufig als etwas wahrgenommen, das in einemSpannungsverhältnis zur Moderne steht. Ich glaube,diese Betrachtung ist zutiefst falsch, weil Religion fürviele Menschen ein ganz wichtiger Teil ihrer Identitätist. Es gilt, dies im Sinne von Art. 4 unseres Grundgeset-zes gemeinsam zu schützen.
Es ist eben nicht so, dass die Moderne sozusagen denGlauben überwindet. Ich glaube auch, dass die rigideTrennung von Staat und Kirche oder von Staat und Reli-gionsgemeinschaften, die von manchen gefordert wird,dem Problem nicht gerecht wird. Warum zahlen wirdenn an den Zentralrat der Juden? Wir zahlen, weil wirüber jüdisches Leben in Deutschland glücklich sind,weil wir froh sind, dass dieses Leben wieder erstarkt undpräsenter wird. Alle laizistischen Konzepte würden einersolchen Konstruktion sicherlich eher zuwiderlaufen.Deswegen bin ich ein großer Anhänger des Koopera-tionsverhältnisses von Staat und Religionsgemeinschaf-ten.Dieser Bericht ist ein guter Auftakt. Er darf nicht dasEnde, sondern er muss ein erneuter Aufbruch zur Be-kämpfung des Antisemitismus sein. Er muss fortge-schrieben werden. Wir alle müssen uns fragen, auf wel-chen Ebenen wir dem Phänomen, das leider tiefer inunserer Gesellschaft verwurzelt ist, als wir alle es unswünschen, begegnen können.Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Dr. Ruppert. – Nächste Redne-
rin für die Fraktion Die Linke ist unsere Kollegin Frau
Petra Pau. Bitte schön, Frau Kollegin Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Er-innern wir uns: Ignatz Bubis war lange Jahre Vorsitzen-der des Zentralrats der Juden in Deutschland. Er starb1999. Sein Resümee war bitter – ich zitiere –:Ich wollte diese Ausgrenzerei, hier Deutsche, dortJuden, weghaben. Ich habe gedacht, vielleichtschaffst du es, daß die Menschen anders über einan-der denken, anders miteinander umgehen. Aber,nein, ich habe fast nichts bewegt.Ignatz Bubis ließ sich in Israel beerdigen – aus Angst,sein Grab werde in Deutschland geschändet wie das vonHeinz Galinski, weil er Jude war.Diese Geschichte fiel mir jüngst wieder ein. Ein Rab-biner wurde im Beisein seiner Tochter krankenhausreifgeschlagen, weil er Jude ist. Ein Taxifahrer verweigerteiner Familie die Fahrt zur Synagoge. Beides geschah imJahr 2012 in Berlin. In Göppingen skandierten Nazis:„Ein Baum, ein Strick, ein Judengenick.“ Die Polizeigriff nicht ein. Ich könnte noch mehr Beispiele nennen.Der Deutsche Bundestag hat im November 2008 ei-nen Beschluss gefasst: „Den Kampf gegen Antisemitis-mus verstärken, jüdisches Leben in Deutschland weiterfördern“. Auch ich hatte damals dafür geworben. Wirbeschlossen einmütig sieben konkrete Aufträge an dieBundesregierung. Über einen davon reden wir heute:über die Analyse einer Expertenkommission zum Anti-semitismus in Deutschland. Ich bedauere ebenso wie derKollege Thierse, dass wir das nicht dringlich auf die Ta-gesordnung gesetzt haben, sondern fast ein Jahr danach.Eine zentrale Aussage der Expertise ist: Nazis und Ju-denhass gehören zusammen. Dies ist kein Verweis aufvorgestern, sondern auf heute. Kurzum: Gegen Antise-mitismus heißt primär gegen Rechtsextremismus.
Aber der Bericht belegt auch: Judenfeindlichkeit gibtes quer durch alle gesellschaftlichen Schichten und poli-tischen Lager. Deshalb mahne auch ich – da haben Sie,Kollege Ruppert, recht –: Wir sollten uns hüten, das par-teipolitisch auszuschlachten; denn das hilft letztendlichnur Antisemiten. Wir müssen Antisemitismus partei-übergreifend ächten und viel mehr zur Prävention tun.
Im vorliegenden Bericht werden ausführlich Quellenund Formen von altem und neuem Antisemitismus be-schrieben. Er grassiert beim Sport, in Medien, auf Schul-höfen, unter Deutschen und Migranten, in Ost und West.Dass er anderswo stärker ausgeprägt ist – ich verweisezum Beispiel auf Ungarn –, sollte uns endlich gemein-sam beunruhigen.Antisemitismus ist ein drängendes EU-Problem. Aberer bleibt ein nicht delegierbares deutsches Problem. Esgibt engagierte gesellschaftliche Initiativen gegen Anti-semitismus; die Amadeu-Antonio-Stiftung, die Initiative„Gesicht Zeigen!“ und das Internetportal haGalil gehö-ren zu den bekannteren. Die Schwarzkopf-Stiftungbringt Jugendlichen den europäischen Gedanken undzugleich den Kampf gegen Antisemitismus nahe. An-wärterinnen und Anwärter der Berliner Polizei pflegen
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Petra Pau
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Patenschaften zum Denkmal für die Kindertransporte1938/39 und zu noch Lebenden unter den damals so ge-retteten Jüdinnen und Juden. So weit, so beispielhaft.Zugleich gibt es aber immer mehr Initiativen gegenAntisemitismus, die finanziell ausbluten, weil sie bun-despolitisch alleingelassen werden. Wir kennen das ausBerlin-Kreuzberg. Ähnliche Beispiele gibt es vielerorts:hehre Beschlüsse hier und verheerendes Versagen da.Das muss sich ändern. Das müssen wir, auch wir imBundestag, ändern.
Das mahnende Fazit im Expertenbericht lautet: Esgibt kein schlüssiges Gesamtkonzept gegen Antisemitis-mus. Gemeint ist hier die Bundespolitik. Ich finde, das-selbe trifft auf den Kampf gegen Rechtsextremismus zu.Es ist also höchste Zeit, dass wir heute über den Berichtreden. Aber es hilft nichts, wenn es folgenlos bleibt.Deshalb schließe ich mich den Vorschlägen, die hierschon gemacht wurden, an und schlage vor:Erstens. Das Mandat für die unabhängige Experten-kommission ist zu verlängern, verbunden mit hinrei-chenden Arbeitsbedingungen.Zweitens. Das gesellschaftliche, wissenschaftlicheund staatliche Engagement gegen Antisemitismus mussendlich koordiniert werden.Drittens. Das Thema Antisemitismus sollte in derAusbildung von Pädagogen, Journalisten, Polizisten undJuristen viel präsenter sein.Viertens. Die europäische Dimension des Antisemi-tismus muss stärker eingeblendet und als gemeinsamesProblem angenommen werden.Fünftens. Gesellschaftliche Initiativen gegen Rechts-extremismus, Rassismus und Antisemitismus sind end-lich verlässlich zu fördern.Drei Schlusssätze, liebe Kolleginnen und Kollegen.Ich weiß, dass ob der jüngsten Vorkommnisse Jüdinnenund Juden erwägen, Deutschland zu verlassen. IhreFlucht wäre für uns alle ein Armutszeugnis.
Umso mehr werde ich weiter gegen Antisemitismuskämpfen und jüdisches Leben fördern. Wir sollten uns inder hier schon angeregten weiteren Debatte bzw. den be-reits angeregten weiteren Debatten auch den anderensechs Beschlusspunkten aus dem Jahre 2008 zum Thema„Förderung jüdischen Lebens“ zuwenden.Ich danke Ihnen.
Vielen Dank, Kollegin Petra Pau. – Nächster Redner
in unserer Aussprache ist für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen unser Kollege Volker Beck. Bitte schön,
Kollege Volker Beck.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ichmöchte zunächst die Mitglieder der Expertenkommis-sion auf der Tribüne begrüßen. Da niemand daran ge-dacht hat, haben wir dafür gesorgt, dass sie der Debatteheute beiwohnen können.
Ich begrüße auch die Vertreterinnen und Vertreter derAmadeu-Antonio-Stiftung, des American JewishCommittee, des Zentralrates der Juden in Deutschlandund der jüdischen Gemeinde von Berlin. Ich glaube, dieWertschätzung derjenigen, die sich tagein, tagaus – undnicht nur einmal im Jahr in einer Debatte über einenBericht – im Kampf gegen den Antisemitismus engagie-ren, ist ein wichtiger Punkt bei der gesellschaftlichenAuseinandersetzung mit diesem Thema.
2011 gab es in Deutschland laut Bundesinnenministe-rium 1 239 antisemitische Straftaten und 29 Gewalttaten,davon allein 10 Gewalttaten in Nordrhein-Westfalen.Alle sieben Stunden eine antisemitische Straftat, an je-dem zwölften Tag eine antisemitische Gewalttat. Dasheißt, Antisemitismus – da muss ich Ihnen widerspre-chen, obwohl ich sonst mit vielem einverstanden bin,Herr Ruppert – kommt nicht in Wellen. Antisemitismusin Deutschland ist Teil des Alltags.An diesen Alltag dürfen wir uns nicht gewöhnen. Wirmüssen offensiv etwas dagegensetzen. Wir dürfen dieSituation in dieser Debatte nicht nur beklagen, sondernwir müssen klare Handlungsempfehlungen geben undKonsequenzen ziehen; sonst sind diese Debatten einStück weit wertlos. Wir sind uns einig: Wir finden Anti-semitismus in allen Fraktionen gleichermaßen verurtei-lenswert. Entscheidend ist, welche Konsequenzen wirdaraus ziehen.
Meine Damen und Herren, normalerweise sucht sichder Antisemitismus einen Vorwand, um sich politisch zuentladen. Häufig sind es politische und militärische Kon-flikte im Nahen Osten, die von Antisemiten auch innen-politisch instrumentalisiert werden. In diesem Jahr gabes die Beschneidungsdebatte. Es gibt viele Menschen indiesem Land und auch hier im Hohen Haus, die sagen:Der Weg, den das Justizministerium oder die Mehrheitdes Bundestages beschritten haben, ist der falsche Weg;den kann ich nicht mitgehen. – Diese Menschen tragendafür aber respektable Gründe vor.Allerdings was für Mails ich in diesem Zusammen-hang als Reaktion auf meine öffentlichen Interventionenbekommen habe – nicht nur von Rechtsextremisten –,das hat mich wirklich erschüttert. Ich muss sagen: Zumersten Mal habe ich viele jüdische Freunde verstanden,die manchmal darüber nachdenken, ob sie in diesem
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Volker Beck
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Land weiterhin leben wollen und weiterhin leben kön-nen. Ich zitiere nur einige dieser Zuschriften: Das sei dasschlimmste Verbrechen seit Auschwitz. – Juden seienBabymetzler. – Der Zentralrat der Juden lenke die deut-sche Politik, und ich sei ein Judenknecht. – Es gibt Ver-gleiche der Beschneidungen mit den Medizinversuchendes Naziarztes Mengele.Solche Dinge lehnen wir alle hier im Hause gemein-sam ab; das ist klar. Aber wir müssen uns dem stellen;denn das kommt aus der Mitte der Gesellschaft, daskommt nicht nur von politisch organisierten Rechts-extremisten. Das ist das Problem, mit dem wir uns aus-einandersetzen müssen. Da reicht es nicht – obwohl esabsolut notwendig ist –, dass wir auf die Straße gehen,dahin, wo die NPD und andere Organisationen hetzen,sondern wir müssen nachhaltig auch etwas für den Ein-stellungswandel mitten in unserer Gesellschaft tun.
Das ist die offene Frage, die hier auf dem Tisch liegt.Die Expertenkommission hat ja nicht nur einen Sach-standsbericht verfasst, sondern sie hat auch viele Emp-fehlungen erarbeitet. Da muss ich schon sagen: Schade,dass wir so spät darüber diskutieren; denn der Berichtwar schon im November 2011 fertig. Aber wenn wirschon so spät darüber diskutieren, hätte ich von Ihnen,Herr Bundesinnenminister, schon erwartet, dass dieBundesregierung uns in dieser Debatte eine Antwort aufdie Empfehlungen gibt, aus der hervorgeht, was sie da-von wann und wie umsetzen will.
Ich hätte mir nicht gewünscht, dass sie nur sagt: Daswerden wir alles prüfen. Wir schauen einmal; vielleichtist manches auch finanzierbar. – Nein, Herr Bundesin-nenminister, wir, Fraktionen und Bundesregierung, müs-sen uns nach dieser Debatte zusammensetzen undschauen, wie wir diese Dinge auf den Weg bringen.
Wir haben hier schon nach den NSU-Morden eineResolution verabschiedet. Darin haben wir die Bundes-regierung aufgefordert, zu überprüfen, wie wir dieHürden, die es gegenwärtig bei den unterschiedlichenProgrammen für Demokratie und gegen Rechtsextremis-mus gibt – diese Programme machen eine gute Arbeit –,stabilisieren können und wie wir dafür sorgen können,dass die Arbeit auch in den Regionen stattfinden kann,wo sie am nötigsten ist.Ich habe von der Familienministerin bis heute nichtsdazu gehört, was aus der Überprüfung geworden ist.Kein Punkt hat sich geändert. Der Bericht kritisiert aus-drücklich das Problem der Kofinanzierungen. In denRegionen, in denen wir ein besonders starkes Problemmit Rechtsextremismus und Antisemitismus haben, sindleider auch bei den kommunalen Akteuren die Sensibili-tät und das Problembewusstsein für die Problemlagezuweilen entsprechend schlecht ausgeprägt. Das heißt,die Bereitschaft der Kommunen, in die Kofinanzierungeinzusteigen, ist gerade dort oftmals nicht vorhanden,wo die Projekte am notwendigsten sind. Deshalb mussdie Kofinanzierungspflicht weg,
und wir müssen das ganze Verfahren auch entbürokrati-sieren.Wir müssen in dieser Debatte auch zum Ausdruckbringen, dass wir, was ich eingangs gesagt habe, dieLeute, die diese Arbeit tun – das sind Menschen, die vielfreie Zeit, viel private Energie, oftmals auch viel Geld indiese Arbeit stecken – –
Kollege Volker Beck, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Reinhard Grindel?
Ja.
Herr Kollege Beck, im Lichte der Diskussion, die wir
jetzt geführt haben: Sind Sie wirklich der Auffassung,
dass es diesem Thema und dieser Debatte angemessen
ist, einen derartig parteipolitisch-kleinteiligen Redebei-
trag zu halten?
Ich habe überhaupt nicht über Parteien geredet; inso-fern erstaunt es mich, wenn Sie hier von Parteipolitikreden. Ich habe dazu aufgefordert, dass wir uns frak-tionsübergreifend gemeinsam an einen Tisch setzen, umdie Empfehlungen abzuarbeiten.Wenn wir in den Debatten zu den NSU-Morden, zurFrage der Bekämpfung von Rechtsextremismus undAntisemitismus im Hohen Hause übereinstimmend zuAufforderungen an die Bundesregierung kommen, er-warte ich schon, dass das nicht leere Worte sind, sonderndass das Konsequenzen hat.
Diese stehen aus.Es geht nicht darum, Herr Grindel – darauf antworteich Ihnen wirklich sehr gerne –, dass wir eine Debattenach der anderen über Antisemitismus führen und unsam Holocaust-Gedenktag unserer Geschichte erinnern,aber für die Zukunft daraus keine Konsequenzen imSinne von Prävention ziehen.
Wir sollen uns hier nicht als Demokraten selbst be-weihräuchern, sondern wir müssen die Demokratinnenund Demokraten, die sich draußen in der Gesellschaftden Rechten entgegenstellen, ihnen widersprechen, mit
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Volker Beck
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den Jugendlichen arbeiten, damit der Einfluss derRechtsextremen auf die Köpfe abnimmt, tatkräftig unter-stützen. Daran sind wir zu messen und nicht daran, werim Deutschen Bundestag die schönste Rede zu diesemThema gehalten hat. Am Ende geht es um das, was wirgemeinsam zustande bringen, um die Welt und unserLand in die richtige Richtung zu verändern. 20 ProzentAntisemiten in Deutschland, das kann uns doch nicht ru-hen lassen.
Überlegen Sie, wie viele das hier im Haus wären, wennwir uns einrechnen würden. Daran sieht man: Das isteine gewaltige Quantität in der Anhängerschaft aller Par-teien, aller gesellschaftlichen Organisationen. Dem müs-sen wir uns stellen. Mit Verlaub, Herr Kollege: Wenn wiruns über diese Sachen nicht ernsthaft unterhalten – gege-benenfalls auch streiten –, kommen wir keinen Schrittvoran.
Ich will dazu beitragen, dass wir hier die entsprechen-den Dinge auf den Weg bringen. Dazu gehört für michdie Beseitigung der Extremismusklausel. Dazu gehörtfür mich, dass die Projekte, die vor Ort arbeiten, nichtimmer nur eine Finanzierung auf drei Jahre bekommen,und danach ist Schluss, dann muss man sich ein neuesProjekt ausdenken, oder das Geld geht in eine andereStadt, zu einem anderen Träger. Wenn wir verstandenhaben, dass Rechtsextremismus und Antisemitismus einkontinuierliches und dauerhaftes Problem in unseremLand sind, dann muss unsere Gegenstrategie dochgenauso nachhaltig sein. Wir können nicht davon aus-gehen, dass nach drei Jahren Projektarbeit das Problemgelöst ist und wir uns dem nächsten Thema zuwendenkönnen. Ich glaube, das sind wir vor dem Hintergrundunserer Geschichte unserem Land und den Menschen inunserem Land schuldig.Meines Erachtens ist die Arbeit gegen Antisemitis-mus nicht vordringlich die Aufgabe der Juden. Nein, esist die Aufgabe aller Nichtjuden. Wir können dankbarsein, dass sich die jüdischen Gemeinden und Organisa-tionen trotzdem – obwohl es nicht ihre Aufgabe ist – soengagiert um dieses Thema kümmern, und wir müssensie dabei unterstützen.
Vielen Dank, Kollege Volker Beck. – Nächster Red-
ner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der CDU/
CSU unser Kollege Dr. Hans-Peter Uhl. Bitte schön,
Kollege Dr. Hans-Peter Uhl.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen undKollegen! Lieber Kollege Beck, ich habe das Gefühl,dass Sie der Erste sind, der in die Debatte einen etwasanderen Zungenschlag hereingebracht hat, in diese dochsehr einvernehmliche Struktur des Umgangs mit diesemhochkomplexen Thema.
Wenn Sie hier der Bundesregierung Vorwürfe ma-chen, auf Bundesebene werde zu wenig getan, darf ichmir wenigstens formal den Hinweis erlauben, dass esnoch keine Bundesregierung gegeben hat, die so vielGeld zumindest für dieses Thema ausgegeben hat wiedie jetzige Bundesregierung. Auch dies muss in diesemZusammenhang gesagt werden.
Man hat die Mittel der Bundeszentrale für politischeBildung für den Kampf gegen Antisemitismus um1,4 Millionen Euro erhöht, und man hat die Mittel fürdie Arbeit des Zentralrats der Juden in Deutschland von5 Millionen Euro auf 10 Millionen Euro erhöht. Wennwir also diese formale Diskussion führen – das will ichaber nicht tun –, dann kann man dieser Bundesregierungwirklich keinen Vorwurf machen.Meine Damen und Herren, Charlotte Knobloch fragteanlässlich des sogenannten Beschneidungsurteils desKölner Landgerichts in einem Gastbeitrag in der Süd-deutschen Zeitung: „Wollt ihr uns Juden noch?“ WennCharlotte Knobloch, die ehemalige Präsidentin des Zen-tralrats der Juden in Deutschland und langjährige Vize-präsidentin des Jüdischen Weltkongresses, eine solcheFrage stellt – wollt ihr uns Juden noch? –, dann muss unsdas aufschrecken.Wir haben in München jüdische Nachbarn. Gleichnach seiner Verkündung haben sie mir dieses Urteil zurLektüre herübergereicht. Ich muss ehrlicherweise zuge-ben: Ich habe dieses Urteil gelesen und hatte als Juristam Anfang auch fast Sympathie für die Gedankenab-folge, weil wir in der Juristerei ja gelernt haben, dassselbst der lebensrettende Einsatz des Skalpells durch denArzt formalrechtlich zunächst einmal eine Körperverlet-zung ist, die dann aber ihren Rechtfertigungsgrund fin-det usw. usf. Das heißt, die rechtstechnische Art des Um-gangs mit dem Thema Beschneidung ist für die Juristenzunächst einmal nichts Außergewöhnliches.Kurze Zeit später wurde ich von unseren Nachbarn zueiner Bar-Mizwa, einer großen Familienfeier, eingela-den, die in etwa der Firmung im Katholizismus ent-spricht. Dort habe ich Charlotte Knobloch wieder getrof-fen, und ich habe dabei eine ganz außergewöhnlichaufgeregte Frau erlebt, die in ihrer Rede gesagt hat: DieBeschneidung gibt es bei uns seit Tausenden von Jahren.Sie gab es immer, sie gibt es heute, und sie wird es im-mer geben, solange es Juden gibt.Ich habe erst dann, nachdem ich auch mit ihr darübergeredet und sie mir von den E-Mails und Hinweisen ausder Bevölkerung berichtet hatte, die sie bekommen hatte
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 197. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Oktober 2012 23739
Dr. Hans-Peter Uhl
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– Herr Thierse hat recht: in der sich daran anschließen-den Debatte in Deutschland gab es subkutane antisemiti-sche Untertöne –, langsam verstanden und die nötigeSensibilität im Umgang mit diesem Urteil bekommen.Ich glaube, das sollte jeder von uns sehen.
Auch der Kollege Ruppert hat ja angesprochen, dasswir vielleicht nicht mehr das Feingefühl für die identi-tätsstiftende Bedeutung eines solchen Rituals für eineReligion wie das Judentum haben. Es fehlt uns diesesBewusstsein; sonst könnten wir mit diesen Dingen nichtso rechtstechnisch umgehen.Ich meine, wir sollten solch irritierende Botschaftenan die bei uns lebenden Juden vermeiden. Insofern ist esgut, dass wir alles tun, um das jüdische Leben inDeutschland zu stärken. Wir haben damals sofort einenAntrag gestellt, und ich hoffe, dass es hier eine große Ei-nigkeit geben wird, wenn der Gesetzentwurf der Bun-desregierung, der im Kabinett ja schon verabschiedetwurde, im Parlament beschlossen werden wird. Hier darfes keine Rechtsunsicherheit geben. Das ist sehr, sehrwichtig.Wir alle sollten Frau Charlotte Knobloch auf ihreFrage „Wollt ihr uns Juden noch?“ auch von dieser Stelleaus gemeinsam zurufen: Jawohl, wir wollen jüdischesLeben in Deutschland!
Nun zu der sehr schwierigen Frage: Wie geht man mitdem subkutan vorhandenen Antisemitismus in Teilen derGesellschaft um? Was ist das probateste Mittel? Waskann der Bund, was können die Länder, was können dieKommunen tun? Was kann oder muss die gesamte Ge-sellschaft tun? Wir haben ein Expertengremium einberu-fen. Dessen Bericht, ein sehr umfangreiches Kompen-dium mit einem sehr großen analytischen Teil, liegt vor.Seien wir aber ehrlich: In dem Teil – im Fazit –, in demes um ganz konkrete Projekte und ganz konkrete Vor-schläge dafür geht, was wir auf Bundesebene jetzt tunkönnen, um dieses Problem einigermaßen in den Griffzu bekommen, sind die Vorschläge des Expertenkreisesetwas dünn.Das ist auch der Grund, warum man dem Innenminis-ter keinen Vorwurf machen kann, irgendetwas aus demExpertenkreis nicht umgesetzt zu haben. Das ist nichtdas Thema. Vielmehr sind wir alle etwas zögerlich,wenn es darum geht, konkrete Projekte auf Bundesebenezu starten. Ich glaube, es ist ohnehin viel mehr Aufgabeder Kommunen, den Antisemitismus zu bekämpfen. Wirsollten assistieren – natürlich! – und alles dazu beitra-gen, was man tun kann.Trotz des Angriffs auf den Rabbiner Daniel Alter undseine Tochter, der entsetzlich und scheußlich ist – derRabbiner muss selbstverständlich von allen bestärkt wer-den –, haben wir in der Kriminalitätsstatistik in Deutsch-land, die wir alle kennen, im ersten Halbjahr 2012 glück-licherweise nur 13 Fälle von Gewalttaten gegen Juden zuverzeichnen. Zu diesen 13 Fällen zähle ich nicht dieSchmierereien usw., die wir von Nazihand kennen. Ichmeine nur wirkliche Gewalttaten gegen jüdische Men-schen. Es ist gut so, dass es nur 13 Fälle sind, auch wennnatürlich jeder einzelne Fall einer zu viel ist.Ich möchte Wert darauf legen, dass wir in den Kom-munen, dort, wo am Stammtisch immer wieder Antise-mitismus aufflackert, sofort zivilgesellschaftlich tätigwerden müssen, dass wir in den Schulen für Aufklärungsorgen müssen und dass wir in den Ländern vielleichtauch die Lehrerausbildung verbessern müssen, um einwaches Gespür für Antisemitismus zu bekommen.Ich komme aus München. München hat auf dem Ge-biet des Antisemitismus eine ganz besonders unrühmli-che Rolle als ehemalige sogenannte Hauptstadt der Be-wegung gespielt. Ich bin immer wieder glücklich, wennich in der Synagoge in München bin; übrigens ein ganzaußergewöhnlicher, architektonisch bedeutender Sakral-bau, der wirklich sehenswert ist. Ich bin auch glücklichüber den Umstand, dass nur einen Steinwurf weit ent-fernt vom Alten Rathaussaal, wo zur Reichskristallnachtaufgerufen wurde, mit dieser Synagoge wieder jüdischesLeben entstanden ist. Genau dahin gehört es. Inmittender Stadt muss der Treffpunkt für jüdisches Leben sein.So ist es in München, und so sollte es in jeder größerenStadt sein. Das heißt gut gelebte Nachbarschaft zwi-schen uns und den Juden.In der Adventszeit und in der Weihnachtszeit ist esvielleicht gut, einmal jüdische Nachbarn und Freunde zusich einzuladen. Wir haben das letztes Jahr getan. Es warsehr bereichernd, was das Verständnis für jüdisches Le-ben anlangt, diese Nachbarschaft gerade an einem sol-chen Tag zu erleben.Danke schön.
Vielen Dank, Kollege Dr. Hans-Peter Uhl. – Nächste
Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion der
Sozialdemokraten unsere Kollegin Gabriele Fograscher.
Bitte schön, Frau Kollegin Gabriele Fograscher.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Ich glaube, wir sollten uns hüten, in dieser Debatte allesMögliche miteinander zu vermengen und zu vermischen.Herr Uhl, die Zuwendungen an den Zentralrat der Judensind keine Maßnahmen zur Bekämpfung des Antisemi-tismus.
Auch die Diskussion um die Beschneidung muss an an-derer Stelle geführt werden.
Wir sprechen leider erst heute, fast ein Jahr nach sei-nem Erscheinen, über den ersten Bericht der unabhängi-gen Expertenkommission. Ich möchte diesem Gremium
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23740 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 197. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Oktober 2012
Gabriele Fograscher
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für seine umfangreiche, fundierte Vorarbeit und für die-sen differenzierten Bericht sehr herzlich danken.
Mein Dank geht auch an den VizepräsidentenWolfgang Thierse, der zu einer Pressekonferenz anläss-lich der Vorstellung dieses Berichts geladen hatte. Damitwurde der Blick der Öffentlichkeit nochmals verstärktauf das Problem des Antisemitismus in Deutschland unddie damit verbundenen Herausforderungen an Politikund Gesellschaft gelenkt.Der vorliegende Bericht fasst unterschiedliche, be-reits vorhandene Studien zusammen und kommt zu dembesorgniserregenden Fazit – ich zitiere –:Was die Verbreitung antisemitischer Einstellungenin der Bevölkerung anbelangt, so geben die durchden Expertenkreis ausgewerteten demoskopischenUntersuchungen übereinstimmend eine Größenord-nung von etwa 20 Prozent latentem Antisemitismusan.In dem Bericht wird auch festgestellt, dass es eineweitverbreitete Gewöhnung an alltägliche judenfeindli-che Tiraden und Praktiken in der Mitte der Gesellschaftgibt.Dieses Ergebnis ist erschreckend; denn es zeigt: Anti-semitische Einstellungen gibt es nicht nur an den Rän-dern, in der rechtsextremistischen und in der islamisti-schen Szene, sondern eben auch in der Mitte unsererGesellschaft. Allein im zweiten Quartal 2012 gab es inDeutschland 197 Straftaten mit antisemitischem Hinter-grund, darunter sechs Gewalttaten und 39 Propaganda-delikte. Dies zeigt, dass es mehr als an der Zeit ist, ent-schlossen Gegenmaßnahmen zu ergreifen.Dass etwa ein Fünftel der Bevölkerung antisemitischeEinstellungen hat, ist nicht nur eine Zahl, sondern es be-schreibt auch, dass dies der Nährboden für Pöbeleien,Schmierereien, Drohungen und Angriffe auf Menschenjüdischen Glaubens auf offener Straße ist. Besonders inBerlin hat es in letzter Zeit brutale Angriffe auf Mitbür-gerinnen und Mitbürger jüdischen Glaubens gegeben.Am 28. August 2012 wurde der Rabbiner DanielAlter, der mit seiner kleinen Tochter in Berlin-Schöne-berg unterwegs war, brutal angegriffen. Er wurde gepei-nigt und geschlagen. Sein Jochbein wurde zertrümmert.Laut Polizei sollen die Täter Jugendliche, vermutlicharabischer Herkunft, sein. Daniel Alter wurde angegrif-fen, weil er eine Kippa trug und dadurch als Jude zu er-kennen war.Kurz darauf, am 25. September, kam Stephan Kramer,Generalsekretär des Zentralrates der Juden, in Berlin-Charlottenburg mit seinen Kindern aus der Synagogeund wurde bedroht, weil er sein Gebetsbuch sichtbartrug. Er zeigte seine Waffe, die er als besonders gefähr-dete Person tragen darf. Nun wird auch gegen ihn wegenwechselseitiger Bedrohung ermittelt.Das sind nur die Fälle, die in die Medien gelangen.Doch das alltägliche Leben sieht noch anders aus. VieleVorfälle werden nicht erfasst, nicht angezeigt und nichtals antisemitisch motiviert eingestuft. Die Dunkelzifferist hoch.Wir nehmen diese Übergriffe nicht hin. Es sind An-griffe auf unsere freiheitlich-demokratische Grundord-nung. Es sind Angriffe auf die verfassungsmäßig garan-tierte Religionsfreiheit. Es sind Angriffe gegen jedenEinzelnen von uns.
Es kann nicht sein, dass in Deutschland jeder anziehenkann, was er will, aber eine Kippa nicht. Es kann nichtsein, dass in Deutschland jeder ein Buch bei sich tragenkann, aber ein jüdisches Gebetsbuch nicht. Das wollenund das können und das werden wir als Demokratinnenund Demokraten nicht zulassen. Deshalb ist es notwen-dig, dass wir über alle Fraktionsgrenzen hinweg dasThema Antisemitismus und Judenfeindlichkeit weiter imBlick behalten, weiter hier im Deutschen Bundestag dis-kutieren und uns auf präventive Maßnahmen einigen,um den Antisemitismus in Deutschland wirksam einzu-dämmen.Das Expertengremium selbst gibt schon Hinweise,was zu tun ist. Wir brauchen weiter gehende, tiefer ge-hende Untersuchungen, Forschungen und Studien auchzu Teilaspekten, zum Beispiel zu Fragen: Wie tradiertsich Antisemitismus? Welche Rolle spielt Antisemitis-mus im Internet? Welche Bevölkerungsgruppen sind be-sonders anfällig? Wie kann man diese erreichen? Deshalbbraucht der Deutsche Bundestag weiterhin die Unterstüt-zung und Zuarbeit von externen Experten. Diese Exper-ten brauchen dann für ihre Arbeit eine ausreichende per-sonelle und finanzielle Ausstattung.Wir wollen, dass dem Bundestag auch in Zukunft re-gelmäßig Berichte vorgelegt werden, die wir dann zeitnahdiskutieren können. Wir brauchen eine nachhaltige undverstetigte Finanzierung der erfolgreichen Projekte gegenAntisemitismus und gegen Rechtsextremismus. Nur mitbefristeten Modellprojekten werden wir des Problemsnicht Herr werden. Was wir nicht brauchen, ist eine De-mokratieerklärung der zivilgesellschaftlichen Projektträ-ger als Voraussetzung für Förderung. Das schafft Miss-trauen statt Vertrauen.
Unser Ziel ist es, einen gemeinsamen Antrag allerFraktionen dieses Hauses zu erarbeiten, der unser allerAnliegen bestärkt und auch weiterentwickelt. Im An-schluss an diese Debatte werden wir das erste Gesprächdazu führen. Ich hoffe sehr, dass wir gemeinsam einenkräftigen Schritt weiterkommen.Herzlichen Dank.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 197. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Oktober 2012 23741
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Vielen Dank, Frau Kollegin Gabi Fograscher. –
Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die Frak-
tion der FDP unser Kollege Serkan Tören. Bitte schön,
Kollege Serkan Tören.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich glaube, diese Debatte ist wirklich nicht ge-
eignet, hier einen Parteienstreit anzufangen. Aber lassen
Sie mich trotzdem etwas dazu sagen, Herr Beck.
Wer hier in schönen Reden und auch in Aufsätzen in
überregionalen Zeitungen immer vom jüdischen Leben
in Deutschland spricht und die Bundesregierung auffor-
dert, so schnell wie möglich einen Gesetzentwurf zur
Beschneidung vorzulegen, gleichzeitig aber keinen
Rückhalt von der eigenen Fraktion bekommt und im
Entschließungsantrag nicht einmal namentlich erscheint
– das Abstimmungsverhalten zu dem Entschließungsan-
trag, den wir gemeinsam verfasst haben, zeigt, dass die
Grünen da durchaus gespalten waren –,
der hat, glaube ich, nicht das Recht, sich in irgendeinem
Parteienstreit zu verfangen. Ich bin gespannt, ob Ihre
Fraktion gemeinsam den Antrag dann auch fraktions-
übergreifend unterstützen wird.
Bei der Gelegenheit möchte ich mich auch bei der
Justizministerin für den Gesetzentwurf bedanken.
Herr Kollege Tören, Sie haben sicherlich geahnt, dass
der Kollege Volker Beck jetzt eine Zwischenfrage an Sie
richten möchte. Gestatten Sie sie?
Das gestatte ich, ja.
Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Präsident. Eigentlich will ich, wie
es die Geschäftsordnung auch ermöglicht, an diesem
Punkt eine Zwischenbemerkung machen.
Ich habe diese Entschließung des Bundestages mit
unterstützt, und ich habe auch begrüßt, dass es den Ge-
setzentwurf aus dem Justizministerium gibt. Aber ich
weise ausdrücklich für alle Mitglieder meiner Fraktion,
die diesen Gesetzentwurf nicht unterstützen wollen, weil
sie entweder meinen, es wäre besser, das der Rechtspre-
chung zu überlassen, oder in der Grundrechtsabwägung
zu einem anderen Ergebnis kommen, den Vorwurf zu-
rück. Dass man sie aus diesem Grund in die Nähe des
Antisemitismus rückt, finde ich eine Ungeheuerlichkeit.
Ich habe eine dezidiert andere Auffassung als viele
bei uns, die im Namen des Kinderschutzes zu einer an-
deren Abwägung kommen. Aber ich habe großen Re-
spekt vor ihren Argumenten, und ich möchte mich im
parlamentarischen Verfahren auch darum bemühen, dass
wir möglichst viel von dieser Motivlage noch im Gesetz-
gebungsverfahren klären und in den Gesetzestext oder in
die Begründung aufnehmen können.
Ich finde es ungeheuerlich, wenn wir diese Debatte
mit solchen Argumenten führen und Leute in eine Ecke
stellen, in die gewiss niemand aus meiner Fraktion und
den Fraktionen der SPD und der Linken gehört, obwohl
es in diesen Fraktionen andere Meinungen gibt. Wie ich
vernommen habe, gibt es auch aus Ihrer Fraktion den
Ruf, die Abstimmung freizugeben, weil es auch bei Ih-
nen Menschen gibt, die aus respektablen Gründen zu ei-
nem anderen Ergebnis kommen als ich, die Mehrheit des
Hauses und die Justizministerin.
Ich kämpfe für meine Überzeugung, und ich glaube,
dass es richtig ist, jüdisches und muslimisches Leben in
dem Punkt Beschneidung nicht zu bestrafen. Aber man
kann doch nicht Menschen die Ehre abschneiden und sie
zu Antisemiten machen, wenn sie aus Kinderschutzgrün-
den und Respekt vor der körperlichen Unversehrtheit zu
einem anderen Ergebnis kommen.
Ich bitte Sie, sich bei den Leuten, die Sie gerade belei-
digt haben, zu entschuldigen.
Herr Beck, wenn Sie richtig zugehört hätten, dannhätten Sie feststellen können, dass ich Sie und Ihre Frak-tion nicht mit Antisemitismus in Verbindung gebrachthabe, sondern ich habe festgestellt, dass Sie zu einemParteienstreit Ausführungen gemacht und uns angegrif-fen haben, aber selbst in Ihrer Fraktion anscheinend dieReihen nicht halten können.
Ich möchte mich bei den Mitgliedern des unabhängi-gen Expertenkreises Antisemitismus ganz herzlich fürdie von ihnen geleistete Arbeit bedanken. Es ist schade,dass wir auch heute, mehr als 60 Jahre nach dem Endedes Naziregimes, über Antisemitismus sprechen müssen.Aber es ist wichtig, richtig und erfreulich, dass wir unsdieser gesellschaftlichen Herausforderung nach wie vorentschieden stellen.Der Bericht des unabhängigen Expertenkreises leistetdazu einen bedeutenden Beitrag. Eine besondere Bedeu-tung nimmt er in meinen Augen ein, da er sich nicht nur
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23742 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 197. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Oktober 2012
Serkan Tören
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mit den alten Formen des Antisemitismus – dem rechts-extremen und linksextremen – beschäftigt. Er setzt sichdarüber hinaus auch mit einer in Deutschland neuenForm auseinander: dem islamistischen Antisemitismus.Die Experten haben darauf verwiesen, dass in diesemBereich des Antisemitismus noch sehr vieles unklar ist.Wir brauchen noch viele weitere Studien, um zu verste-hen, wie ausgeprägt der islamistische Antisemitismus inDeutschland tatsächlich ist. Dabei gilt es, mit Vernunftund Redlichkeit vorzugehen. Der islamistische Antise-mitismus als neue und damit für die Öffentlichkeit be-sonders interessante Form des Antisemitismus darf denFokus nicht vom rechten und linken Antisemitismus ab-lenken.Gerade im rechtsextremen Bereich werden weit mehrantisemitische Gewalttaten verübt als im islamistischen.Nichtsdestotrotz darf aber auch keine falsch verstandeneToleranz gegenüber Muslimen im Allgemeinen dazuführen, dass der islamistische Antisemitismus ausge-blendet wird.Zur Lage in Deutschland. Es gibt islamistischen Anti-semitismus in Deutschland, und er hat auch ein Poten-zial, zu wachsen; denn mit einer Radikalisierung vonMuslimen geht in der Regel eine stärkere Abneigung ge-genüber Juden einher. Auch wenn der Islamismus inDeutschland weit weniger verbreitet ist als in der Öffent-lichkeit angenommen, so bietet er doch Anknüpfungs-punkte für antisemitische Einstellungen und Gewalt.Dem gilt es vorzubeugen und, wo vorhanden, entschie-den entgegenzutreten.
Muslime sind nicht wegen ihrer Religion, sondernhäufig wegen ihres Migrationshintergrunds eine Heraus-forderung für die Antisemitismusarbeit in Deutschland.Anders als viele andere Deutsche und genauso wie an-dere Einwanderer haben sie in der Regel keine Vorfah-ren, die die Judenverfolgung im nationalsozialistischenDeutschland als Täter oder Opfer erlebt haben. Es stelltsich daher die Frage: Wie gehen wir mit Deutschen undanderen Einwohnern in unserem Land um, die diese Er-fahrung nicht teilen?Ich möchte kurz auf meine persönliche Erfahrung undmeinen Umgang mit diesem Thema im Geschichtsunter-richt in der Schule eingehen. Für mich als Einwanderer-kind war es natürlich nicht einfach, die GeschichteDeutschlands als eigene Geschichte anzunehmen und diedaraus resultierende Verantwortung zu sehen. Es hataber geklappt, weil ich später ein Zugehörigkeitsgefühlbeispielsweise in Vereinen oder in der Nachbarschaftentwickelt habe. So bin ich zu der Erkenntnis gekom-men: Die Geschichte Deutschlands und die Geschichtedes Naziregimes sind auch Teil meiner eigenen Ge-schichte und Identität. – Ich konnte daraus die richtigenLehren ziehen. Aber das ist auch eine gesamtgesell-schaftliche Aufgabe. Daran müssen sich die Schulen,aber auch viele andere beteiligen, damit das funktioniert.Ich freue mich, dass sich bereits zahlreiche Vereinevon Migranten und Muslimen für die Überwindung undVorbeugung antisemitischer Einstellungen engagieren.Sie schützen und respektieren damit nicht nur das jüdi-sche Leben in Deutschland. Nein, sie bekennen sich da-durch zu unserer vielfältigen Gesellschaft und unterstüt-zen aktiv ihren Erhalt.Sehr geehrte Damen und Herren, lassen Sie uns denBericht des unabhängigen Expertenkreises zum Anlassnehmen, über die alten und die neuen Herausforderun-gen in der Antisemitismusarbeit zu diskutieren. LassenSie uns gemeinsam Lösungen entwickeln, die ein friedli-ches und respektvolles Miteinander in Deutschland aufDauer ermöglichen.Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Serkan Tören. – Letzte Redne-
rin in unserer Aussprache ist für die Fraktion der CDU/
CSU unsere Kollegin Frau Dr. Maria Flachsbarth. Bitte
schön, Frau Kollegin Dr. Flachsbarth.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ver-ehrte Gäste! Es ist schon gesagt worden: Die heutige De-batte hat eine schockierende Aktualität bekommen durchdie Angriffe auf Herrn Rabbiner Alter und seine kleineTochter sowie auf Sie, sehr verehrter Herr Generalsekre-tär Kramer. Das zeigt das hohe Erfordernis, entschiedengegen Antisemitismus einzutreten. Aber auch die De-batte über die Beschneidung muslimischer und jüdischerSöhne zeigt dieses hohe Erfordernis. Ich bekomme imMoment viele Zuschriften zu dieser Problematik. DieForm der verbalen Auseinandersetzung verletzt zum Teildie Gefühle der jüdischen und in diesem Fall auch dieder muslimischen Bürgerinnen und Bürger. Manchmalwird billigend in Kauf genommen, dass jüdische Men-schen sich fragen, ob sie mit ihrem Glauben hier inDeutschland wirklich zu Hause sein können. Es handeltsich oft um Stereotype, Klischees, Vorurteile und eingroßes Maß an Unkenntnis. Hier gibt es wieder diese un-selige und ungute Mischung, die der Expertenbericht zuRecht anprangert.Erfreulicherweise gab es jedoch nach diesen negati-ven Ereignissen eine Welle der Solidarität gerade vonVertretern der Religionen, aber auch aus der Politik. Esgab einen Schulterschluss mit der jüdischen Gemeinde.Ich möchte diesen Menschen zurufen: Selbstverständlichsind Sie hier willkommen, und selbstverständlich sindSie hier in Deutschland zu Hause! – Ich hoffe, dass De-mokraten und gläubige Menschen verschiedener Kon-fessionen nicht nur in dieser Ausnahmesituation zuei-nanderstehen, sondern dass sie auch weiterhin beherztfür den Dialog, die Rechte und die Freiheiten anderereintreten.Antisemitismus muss überall da, wo er auftritt, klarerkannt werden. Er muss klar benannt werden, und ermuss deutlich bekämpft werden. Dazu hat der Antisemi-tismusbericht mit seiner erweiterten Definition des Anti-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 197. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Oktober 2012 23743
Dr. Maria Flachsbarth
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semitismus, seinen Ausarbeitungen zu den verschiede-nen Erscheinungsformen und Begründungsmusternwichtige Erkenntnismerkmale an die Hand gegeben.Der Bericht hat wachgerüttelt, weil er zeigt, dass esAntisemitismus nicht nur im rechtsextremen Milieu gibt,sondern auch in der Breite der Gesellschaft. Er hat uns al-len den alarmierenden Auftrag gegeben, alle staatlichenund zivilgesellschaftlichen Institutionen zu fördern, wennes darum geht, sich dagegen einzusetzen, aber auch dieForderung nach mehr Zivilcourage erhoben; denn es gilt– das will ich hier auch ganz deutlich sagen –, ein großesund unverdientes und unerwartetes Geschenk der jüdi-schen Gemeinden an unser Land zu verteidigen, nämlichdass nach dem Grauen der Schoah jüdische Menschenwieder hier in Deutschland leben möchten, dass es wiederjüdisches Leben in all seinen Strömungen hier inDeutschland gibt. Es bereichert unsere Gesellschaft, dassjüdische Gemeinden ihre Bräuche, ihre Traditionen sicht-bar leben und mit ihrer Religion hier präsent sind.
Es ist gut, dass Jüdinnen und Juden als Bürgerinnen undBürger die Zukunft Deutschlands mitgestalten möchten,wobei ich mir persönlich wünschen würde, dass diesnoch mehr als bislang auch im Rahmen zum Beispielvon politischen Mandaten auf allen Ebenen geschieht.Dieses Bekenntnis, Antisemitismus zu bekämpfenund jüdisches Leben zu fördern, ist nicht nur ein Lippen-bekenntnis, sondern es ist auch Anlass, in dieser Debattezu bilanzieren, was denn seit der letzten Legislaturpe-riode geschehen ist. Die Einsetzung des Expertenkreisesund die Aufstockung der jährlichen Mittel für die Arbeitdes Zentralrats sind hier schon mehrfach genannt wor-den. Um Antisemitismus aber wirksam entgegentretenzu können, muss das Wissen um das Judentum an dieStelle von stupiden Vorurteilen treten. Deshalb ist esrichtig und gut, dass erst vor wenigen Monaten in Anwe-senheit von Ministerin Annette Schavan das Zentrum Jü-dische Studien Berlin-Brandenburg eröffnet wurde, mitdem die drei Universitäten Berlins, die UniversitätPotsdam, das Moses-Mendelssohn-Zentrum und dasAbraham-Geiger-Kolleg gemeinsam die Forschung undLehre in diesem Bereich verstärken. Der Bund gibt dafüreine Anschubfinanzierung von fast 7 Millionen Euro.Ebenso werden die Hochschule für Jüdische Studienin Heidelberg und das Abraham-Geiger-Kolleg in Pots-dam weiter gefördert. Es ist ein großer Gewinn für unserLand, dass die Ordination von 14 Rabbinerinnen undRabbinern, die in Potsdam ausgebildet worden sind, ge-feiert werden konnte.Mit ganz besonders großer Freude verfolge ich per-sönlich die Entwicklung des noch recht jungen Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerks, in dem derzeit 200 jungeStudierende und Promovierende materiell und ideell ge-fördert werden, die als aktive Bürgerinnen und Bürgerjüdischen Glaubens an wissenschaftlich relevanten Posi-tionen die Geschicke unseres Landes mitgestalten wer-den.Wir sind uns einig: Dieser Bericht hilft, dem Antise-mitismus wirksam entgegenzutreten, indem er eine Be-standsaufnahme vorlegt. Deshalb sollte in jeder Legisla-turperiode ein solcher Bericht erstellt werden, derausweist: Wo treten antisemitische Ressentiments vor-rangig auf? Was können wir dagegen tun? Wo zeigenPräventionsmodelle Erfolg, wo nicht? Wo haben wirZielgruppen noch zu wenig erreicht? Wie können Prä-ventionsprogramme effektiv weiterentwickelt werden?Es geht meiner Meinung nach aber nicht darum, einweiteres Gremium zu verstetigen. Was wir brauchen,sind eine kontinuierliche Überprüfung der Befunde undpraxisorientierte Empfehlungen. Daher plädiere ich da-für, dass künftig durch die Bundesregierung eine solcheBerichterstattung erfolgt, zu der die Evaluation der Bun-desprogramme zur Extremismusprävention herangezo-gen werden und bei Bedarf auch weitere wissenschaftli-che Expertise von externen Gutachtern angefordert wird.Zum Schluss meiner Rede möchte ich noch einmalauf die vielen kleinen und lokalen Initiativen hinweisen;denn oft sind es gerade diese ehrenamtlich getragenenInitiativen, die vor Ort Großartiges leisten, zum Beispielder Verein „Begegnung – Christen und Juden“ in Nieder-sachsen oder auch die bundesweit tätigen Gesellschaftenfür christlich-jüdische Zusammenarbeit, die an vielenOrten mit wenigen Menschen, aber mit viel Herzblutganz wichtige Ergebnisse erzielen, weil sie es nämlichsind, die die Begegnung in der Nachbarschaft ermögli-chen, die Unkenntnis, Fremdheit und Vorurteile über-winden und persönliche Freundschaften entstehen las-sen. Dafür möchte ich ihnen sehr herzlich danken.
Ich danke Ihnen.
Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Flachsbarth.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe dieAussprache. Wir haben eine wichtige und wertvolle De-batte geführt. Danke für all Ihre Beiträge und Ihre Teil-nahme.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/7700 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann haben wir gemein-sam die Überweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:Befragung der BundesregierungDie Bundesregierung hat als Thema der heutigen Ka-binettssitzung mitgeteilt: Stärkung der Rechte des leib-lichen, nicht rechtlichen Vaters.Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Berichthat die Bundesministerin der Justiz, unsere KolleginFrau Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Bitte schön,Frau Bundesministerin.
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23744 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 197. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Oktober 2012
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Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-ministerin der Justiz:Recht herzlichen Dank, Herr Präsident. – Sehr ge-ehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Europäische Ge-richtshof für Menschenrechte hat in zwei Entscheidun-gen aus den Jahren 2010 und 2011 festgestellt, dass esmit der Europäischen Menschenrechtskonvention nichtvereinbar ist, den leiblichen, also den biologischen Vater,der keine enge Bezugsperson des Kindes ist, kategorischvom Recht auf Umgang mit dem Kind und vom Rechtauf Auskunft über dessen persönliche Verhältnisse aus-zuschließen, dies also ohne Rücksicht auf die individuel-len Kindesinteressen und ohne Rücksicht darauf zu tun,ob ihm das Fehlen einer sozial-familiären Beziehung zu-gerechnet werden muss oder nicht.Mit dem heute vom Bundeskabinett beschlossenenGesetzentwurf wird das Umgangs- und Auskunftsrechtdes biologischen Vaters konventionskonform ausgestal-tet und in einen angemessenen Ausgleich mit den Inte-ressen der sozialen Familie gebracht. Im Zentrum stehtdabei das Wohl des Kindes.Der Entwurf stärkt in einer eigenen Bestimmung dieRechte des biologischen Vaters in zweierlei Hinsicht:Erstens soll es für das Umgangsrecht des leiblichenVaters künftig nicht mehr darauf ankommen, ob bereitseine enge Beziehung zum Kind besteht, also ob der Vaterüber längere Zeit mit dem Kind in häuslicher Gemein-schaft gelebt hat, ob er einmal Verantwortung übernom-men hat oder sich sonst um das Kind gekümmert hat.Entscheidend wird vielmehr sein, ob der leibliche Vaterein nachhaltiges Interesse an seinem Kind zeigt und obder Kontakt auch dem Wohl des Kindes dient. Das Krite-rium eines nachhaltigen Interesses, das vom Europäi-schen Gerichtshof für Menschenrechte in seinen Ent-scheidungen entwickelt wurde, stellt darauf ab, ob dieBereitschaft des leiblichen Vaters zur Zuwendung zumKind im Einzelfall tatsächlich manifest geworden ist. Dagibt es unterschiedlichste tatsächliche Situationen, dieman gar nicht alle im Einzelnen aufzählen kann. Dazugehören die räumliche Nähe zum Kind, überhaupt derVersuch der Kontaktaufnahme, eine frühere enge Bezie-hung – vielleicht auch in Vorbereitung der Geburt – zumKind und zur Mutter. Dieses bewusst offen gewählte Tat-bestandsmerkmal soll den Gerichten die Möglichkeit ge-ben, im konkreten Einzelfall zu prüfen, ob hinter demgestellten Antrag auf Umgang mit dem Kind wirklichein echtes nachhaltiges Interesse des leiblichen Vatersam Kind steht. Anders als nach bisheriger Rechtslage hatder leibliche Vater zukünftig auch dann die Möglichkeit,Kontakt zu seinem Kind aufzubauen, wenn die rechtli-chen Eltern – das ist ja die Ausgangskonstellation fürdiese neue gesetzliche Bestimmung – ohne Rücksichtauf das Kindeswohl jeglichen Kontakt verweigern.Zweitens erhält der leibliche Vater, wenn er tatsäch-lich Interesse an seinem Kind zeigt, das Recht, von denrechtlichen Eltern Auskunft über die persönlichen Ver-hältnisse und die Entwicklung des Kindes zu erhalten.Aber auch hier gilt, dass das dem Wohl des Kindes die-nen muss. Bisher haben nur die rechtlichen Eltern eingegenseitiges Auskunftsrecht.Die rechtliche Stärkung des leiblichen Vaters durchUmgangs- und Auskunftsrecht ist an die Bedingung ge-knüpft, dass der Antragsteller wirklich der leibliche Va-ter ist. Steht die biologische Vaterschaft nicht fest, weilsie zum Beispiel von den rechtlichen Eltern, von derMutter oder auch vom rechtlichen Vater, bestritten wird,muss sie im gerichtlichen Verfahren geklärt werden,möglicherweise auch im Rahmen einer Beweiserhebung.Deshalb sehen wir auch noch eine entsprechende verfah-rensrechtliche Regelung vor.Mit diesem Gesetzentwurf wollen wir also das ver-ständliche Anliegen des leiblichen Vaters hinsichtlichdes Umgangs mit seinem Kind, wenn bestimmte Voraus-setzungen vorliegen, in Einklang bringen mit den schüt-zenswerten Interessen der sozialen Familie, die darauserwachsen, dass die rechtlichen Eltern mit dem Kindoder den Kindern lange zusammenleben und den Kin-dern damit Rückhalt und Geborgenheit geben. Das allesist sehr schwierig in solchen persönlichen, emotional be-hafteten Beziehungen. Ich denke, wir tragen hiermit denInteressen des leiblichen Vaters in vorsichtiger, zurück-haltender Form Rechnung.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Bundesministerin. – Wir kommen
zunächst zu den Fragen, die zu diesem Themenbereich
gehören. Eine erste Wortmeldung habe ich schon. Die
Frage stellt Frau Kollegin Sonja Steffen.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Zunächst einmal vor-weg: Ich denke, wir alle hier begrüßen die Stärkung derRechte des leiblichen Vaters. Sie haben vorhin aber auchdargestellt, worin die Probleme liegen, nämlich die Inte-ressen der möglicherweise gewachsenen Familie ange-messen zu berücksichtigen und dabei das Kindeswohlnicht außer Acht zu lassen.Wir haben, wenn es um das Anfechtungsrecht desleiblichen Vaters geht, schon eine Regelung im Gesetz.Das ist § 1600 Abs. 1 Nr. 2 in Verbindung mit § 1600Abs. 4 BGB. Dort heißt es, dass das Bestehen einer so-zial-familiären Beziehung zwischen dem rechtlichen Va-ter, der Mutter und dem Kind das Anfechtungsrecht desleiblichen Vaters ausschließt. Diese Bestimmung kommtmitunter zum Tragen. In Ihrem bisherigen Entwurf habeich sie nicht gefunden. Deshalb meine Frage: Ist beab-sichtigt, der sozial-familiären Beziehung eine größereBedeutung beizumessen?Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-ministerin der Justiz:Wir gehen in unserem Gesetzentwurf einen anderenWeg, indem wir im Zusammenhang mit dem jetzt ge-schaffenen Recht auf Umgang und Auskunft inzidenterdie Möglichkeit bei Streitigkeiten eröffnen, die Abstam-mung zu klären. Wir gehen nicht den Weg, dem leibli-chen Vater generell ein eigenes, neues Anfechtungsrecht
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 197. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Oktober 2012 23745
Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
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zu geben, wenn es rechtliche Eltern gibt. Ein solchesselbstständiges Anfechtungsrecht hieße, in die sozial in-takte Familie hineinzuregieren. Deshalb stellen wir dasAnfechtungsrecht nicht neben die Möglichkeiten, diewir dem leiblichen Vater eröffnen – wovon er bisher,wenn die rechtlichen Eltern es so wollen, komplett aus-geschlossen ist, wenn er keine enge Bezugsperson desKindes werden will –; denn wir wollen keine Aufwei-chung oder Erweiterung von Anfechtungsrechten.
Vielen Dank. – Ich habe jetzt eine ganze Fülle von
Wortmeldungen. Ich bitte um Nachsicht, wenn mein
Versuch, sie in die richtige Reihenfolge zu bringen,
misslingt; dafür entschuldige ich mich gleich von vorn-
herein.
Die nächste Fragestellerin, die ich gesehen habe, ist
Frau Kollegin Mechthild Dyckmans.
Frau Minister, Sie hatten es schon erwähnt, aber ich
möchte es etwas genauer wissen. Wenn die leibliche Va-
terschaft des Antragstellers nicht feststeht, können dann
die rechtlichen Eltern verhindern, dass diese festgestellt
wird? Das ist ja oftmals ein Problem. Sie haben es zwar
schon erwähnt, aber vielleicht können Sie darauf noch
einmal genauer eingehen.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-
ministerin der Justiz:
Diese Konstellation ist sicherlich häufig anzutreffen:
Eine dritte Person kommt hinzu und sagt, sie sei der leib-
liche Vater. Diese Person hat vielleicht längere Zeit über-
haupt keinen Kontakt zum Kind oder zur Mutter gehabt
und beansprucht nun Rechte, in diesem Fall – darauf
konzentrieren wir uns – Umgangsrecht und Auskunfts-
recht.
Wenn dann die Mutter bestreitet, dass diese Person
der leibliche Vater ist, muss er, wenn er Rechte erhalten
möchte, in jedem Fall durch eine eidesstattliche Erklä-
rung zum Ausdruck bringen – das ist eine neue Bestim-
mung im FamFG –, dass er der Mutter in der fraglichen
Zeit beigewohnt hat. Dies ist immer Grundlage für die
Geltendmachung eines Anspruchs auf Umgang.
Es ist bekannt, dass die Abgabe einer falschen eides-
stattlichen Erklärung Konsequenzen nach sich zieht.
Wenn das Gericht für den Fall, dass diese Erklärung sei-
tens der Mutter bestritten wird, die Notwendigkeit der
Klärung der Abstammung sieht, kann dies im gleichen
Verfahren vorrangig – bevor man zur Frage des Kindes-
wohls kommt – geprüft werden. Dann entsteht die Ver-
pflichtung – das regeln wir in dieser Verfahrensbestim-
mung im FamFG –, dass entsprechende Untersuchungen
angestellt werden, um die Abstammungsfrage zu klären.
Sowohl das Kind als auch die Mutter müssen dann diese
Untersuchung über sich ergehen lassen.
Nächste Fragestellerin ist unsere Kollegin Ingrid
Hönlinger.
Frau Ministerin, vielen Dank für die Einführung in
diesen Gesetzentwurf. Es freut mich sehr, dass wir mit
diesem Gesetz die Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte zum Umgangs- und
Auskunftsrecht des leiblichen Vaters umsetzen wollen.
Ich habe eine Frage zu den unbestimmten Rechtsbe-
griffen, die sich in der Vorschrift befinden. Zum einen
wird gesagt, der Vater müsse durch sein Verhalten ge-
zeigt haben, dass er Verantwortung übernehmen will,
zum anderen muss ein „berechtigtes Interesse“ vorlie-
gen. Könnten Sie bitte Beispielmaterial liefern, was Sie
darunter verstehen?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-
ministerin der Justiz:
Es geht um ein nachhaltiges Interesse, das in § 1686 a
BGB, der neuen Vorschrift, geregelt ist. In der Begrün-
dung haben wir einige Beispielfälle angeführt, die An-
haltspunkte liefern können, ohne eine abschließende
Aufzählung darzustellen.
Dieses Interesse kann beispielsweise darin liegen,
dass sich der Vater über längere Zeit intensiv um Kon-
takt zum Kind und Informationen bemüht, sich vielleicht
auch zum Zeitpunkt der Geburt bemüht hat, indem er
beispielsweise in der Nähe der Mutter und des Kindes
wohnte oder Hilfestellungen angeboten hat, also im
Grunde sein gesamtes Verhalten zum Ausdruck bringt,
dass er wirklich ein Interesse am Kind hat. Es geht da-
rum, dass er eben nicht – das hat uns auch sehr beschäf-
tigt – vielleicht aufgrund rein emotionaler Verfasstheit
die rechtliche Elternschaft und die Beziehung innerhalb
der Familie stören möchte, und zwar aus ganz anderen
Gründen, die nichts mit dem Interesse am Kind und dem
Kindeswohl zu tun haben.
Vielen Dank. – Nächste Fragestellerin ist Frau Kolle-
gin Ute Granold.
Im Anschluss an die Frage der Kollegin Dyckmanshabe ich eine Frage zum Verfahren: Wäre es, weil ja dasUmgangsrecht dem Wohle des Kindes dienen soll, nichtsinnvoll, dass zunächst die Vaterschaft verbindlich fest-gestellt wird, bevor gegebenenfalls ein gerichtliches Ver-fahren auf Umgangsregelung eingeleitet wird? Wäre esdem Vater nicht zumutbar, zunächst in einem separatenVerfahren auf eigenes Risiko die Vaterschaft feststellenzu lassen und erst danach gegebenenfalls sein Umgangs-recht gerichtlich klären zu lassen?Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-ministerin der Justiz:Wir haben uns für einen anderen Weg entschieden,und zwar aufgrund folgender Überlegungen: Wenn sei-tens des Vaters gar nicht erst nachhaltig vorgetragenwird, dass ein wirkliches Interesse vorliegt, oder wennaufgrund der Gesamtumstände das Umgangsrecht mit ei-ner dritten Person – neben den rechtlichen Eltern – nicht
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23746 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 197. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Oktober 2012
Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
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dem Kindeswohl entspricht, dann wollen wir gar nicht,dass losgelöst von diesen Voraussetzungen ein Prozesszur Feststellung der tatsächlichen Abstammung geführtwird. Vielmehr soll gerade mit Blick auf das Kind unddas Kindeswohl nicht die ausschließliche Klärung derAbstammung ermöglicht werden; dies soll immer nurmit Bezug auf das Interesse am Kind und auf das Kin-deswohl möglich sein. Alles andere sehen wir als einezusätzliche Belastung an.
Wir wollen auch Männern die Chance der Fragestel-
lung geben. Kollege Jörn Wunderlich.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Justizministerin,
Sie sagten, Sie gingen einen anderen Weg. Der Gesetz-
entwurf betrifft nur die Fälle der leiblichen Väter, die
nicht rechtliche Väter sind, also nach geltender Rechts-
lage die Fälle jener leiblichen Väter, die weder Ehemann
noch durch Vaterschaftsanerkennungsurkunde aner-
kannte Väter sind. Das FamFG wollen Sie dahin gehend
ändern, dass letztendlich eine eidesstattliche Erklärung
ausreicht, um eine Prüfung durchführen zu lassen, inwie-
weit ein Umgang gewährt werden muss. Nach der UN-
Kinderrechtskonvention hat jedes Kind das Recht, seine
Herkunft, seine Abstammung zu erfahren.
In Ihrem Gesetzentwurf sind aber viele unbestimmte
Begriffe enthalten – es ist schon gesagt worden –, zum
Beispiel „nachhaltiges Interesse“, „berechtigtes Inte-
resse“. Erst in der zweiten oder gar dritten Stufe folgt
das Kindeswohl. Es kann sogar zu Blutentnahmen bei
Mutter und Kind und beim erklärten leiblichen Vater
kommen. Da frage ich: Muss die Kindeswohlfrage nicht
in den Vordergrund gerückt werden, gerade bei sozial in-
takten Familien, bei denen plötzlich von außen – ich
sage es einmal so, ohne dass ich irgendwelchen leibli-
chen Vätern zu nahe treten will – ein „Eindringling“
kommt?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-
ministerin der Justiz:
Wir sagen ja gerade, dass es dem Gericht bei dieser
Prüfung überlassen ist, zu sagen: Es ist offenkundig,
dass es nicht dem Kindeswohl dient. – Dann wird das
Gericht nicht in andere Prüfungen einsteigen. Wir wol-
len eine losgelöste, vorangestellte Feststellung der Ab-
stammung generell nicht vorsehen. Das war ein Aspekt
im Zusammenhang mit der Beteiligung der Länder; ein
entsprechender Vorschlag ist in verschiedenen Formulie-
rungen eingebracht worden. Gerade mit Blick auf das
Kindeswohl sehen wir eine losgelöste Feststellung nicht
vor. Wir geben dem Gericht Möglichkeiten, zu prüfen
und zu entscheiden, wie prioritär das Kindeswohl bei der
Frage einer weiteren Beweiserhebung zu beurteilen ist;
denn das Kindeswohl spielt für uns eine entscheidende
Rolle. Dass ein Antrag nur dann zulässig ist – das besagt
der neue § 167 a –, wenn der Antragsteller an Eides statt
erklärt, er habe beigewohnt, soll von vornherein vermei-
den helfen, dass Umgangsanträge einfach ins Blaue ge-
stellt werden, und diese unzulässig machen. In einem
entsprechenden Fall braucht man in andere Prüfungen
nicht mehr einzusteigen. Ich glaube, auch das wird dem
Kindeswohl wirklich gerecht.
Nächste Fragestellerin ist Frau Kollegin Katja Dörner.
Vielen Dank, Frau Ministerin, für Ihre Ausführungen.Sie haben schon einiges zur durchaus heiklen Angele-genheit der Feststellung der leiblichen Vaterschaft ge-sagt, die unter bestimmten Voraussetzungen – auch dashaben Sie ausgeführt – sehr wohl verlangt werden kann.Ich würde Sie bitten, auszuführen, wie sich das aus IhrerSicht in Relation dazu verhält, dass die bestehendensozial-familiären Beziehungen im Interesse des Kindes-wohls durchaus schützenswert sind; das hat der Europäi-sche Gerichtshof für Menschenrechte ausdrücklich fest-gestellt.Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-ministerin der Justiz:Gerade der Aspekt, dass hier die intakte sozial-familiäreBeziehung nicht gefährdet werden soll, hat uns bei derFormulierung des Gesetzes geleitet. Auf der anderenSeite können wir nicht an der geltenden Rechtslagefesthalten, die den leiblichen Vater sehr grundsätzlichweitestgehend von jeglicher Form des Umgangsrechtsausgeschlossen hat, es sei denn, er ist schon enge Be-zugsperson. Das können die rechtlichen Eltern nach gel-tendem Recht verhindern, indem sie sagen: Nein, wirlassen es nicht zu, dass ein Kontakt besteht.Wir machen einen, wie ich finde, sehr vorsichtigenSchritt, weil wir es auch im Interesse des Kindeswohlsfür sehr wichtig halten, dass die intakte Familienbezie-hung bestehen bleibt. Deshalb stellen wir Anforderun-gen an die Zulässigkeit des Antrages, Stichwort Beiwoh-nung. Wir schaffen mit dem Gesetz aber nicht ein neues,losgelöstes Anfechtungsrecht. Das ist in vielen Zusam-menhängen immer wieder erörtert worden. Denn dannwürde dem Kind in einem gerichtlichen Anfechtungs-verfahren vielleicht der rechtliche Vater genommen, unddas hätte zur Folge, dass die über Jahre bestehende so-zial intakte Familie dahin wäre. Das Kind hätte denrechtlichen Vater verloren, und der leibliche Vater hättemöglicherweise gar kein nachhaltiges Interesse, Rechteund Pflichten zu übernehmen.Ich denke, deshalb ist es gut, dass wir die zurückhal-tende Herangehensweise gewählt haben, nur das Um-gangs- und Auskunftsrecht zu gewähren – darauf bezogsich auch die EGMR-Entscheidung; wir gehen also nichtdarüber hinaus –, dies an bestimmte Voraussetzungen zuknüpfen und dem Gericht im Verfahren die Möglichkeitzu eröffnen, eine Beweiserhebung hinsichtlich der Ab-stammung vorzunehmen. Schonender geht es meinerAnsicht nach eigentlich nicht bei der Abwägung zwi-schen den Gesichtspunkten der sozial intakten Familieeinerseits und gewissen Rechten des leiblichen Vatersandererseits.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 197. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Oktober 2012 23747
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Nächste Fragestellerin ist Frau Kollegin Elisabeth
Winkelmeier-Becker.
Danke schön für die Möglichkeit zur Fragestellung. –
Frau Ministerin, sowohl beim Recht auf Umgang als
auch beim Recht auf Auskunft ist das Kindeswohl das
maßgebliche Kriterium. Sie haben hier allerdings unter-
schiedliche Maßstäbe angelegt. Beim Recht auf Umgang
muss der Umgang dem Kindeswohl dienen. Beim Recht
auf Auskunft hingegen ist eine negative Kindeswohl-
prüfung erforderlich; die Ausübung des Rechts auf
Auskunft darf dem Wohl des Kindes also nicht wider-
sprechen.
Vielleicht können Sie noch einmal erklären, welche
Aspekte zu diesen unterschiedlichen Maßstäben geführt
haben. Inwiefern ist an diesen beiden Stellen ein mögli-
ches Schutzinteresse der sozial intakten Familie mit zu
berücksichtigen, da dies ja kein eigenständiges Prüfkri-
terium ist?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-
ministerin der Justiz:
Wir haben das Umgangsrecht und das Auskunftsrecht
an unterschiedliche Anforderungen geknüpft. Beim
Recht auf Umgang geht es unmittelbar darum, dass di-
rekter Kontakt zum Kind bestehen soll. Insofern muss
das Kindeswohl bei einer Endabwägung des Gerichts
das ausschlaggebende Kriterium sein.
Bei dem Anspruch auf Auskunft über die persönli-
chen Verhältnisse geht es darum, von den rechtlichen El-
tern Einzelheiten zur Entwicklung des Kindes zu erfah-
ren, ohne dass damit bereits der Anspruch auf Umgang
begründet wird. Der Antragsteller muss hieran ein be-
rechtigtes Interesse haben und kann nicht einfach ins
Blaue hinein sagen: Jetzt will ich alles Mögliche wissen.
Wir haben hier eine etwas schwächere Formulierung
gewählt. Es heißt nicht: „muss dem Kindeswohl dienen“,
sondern: „dem Kindeswohl nicht widerspricht“. Es sol-
len keinerlei Auskünfte gegeben werden, die aus Sicht
der rechtlichen Eltern dem Kindeswohl widersprechen
würden.
Aus diesen Gründen haben wir uns für eine etwas un-
terschiedliche Gewichtung entschieden. Aber beide
Fälle haben wir mit Anforderungen versehen, die zwar
ziemlich große Hürden darstellen, die ich aber für richtig
halte.
Vielen Dank. – Nächste Fragestellerin ist unsere Kol-
legin Marlene Rupprecht.
Das Kindeswohl wurde jetzt mehrmals erwähnt. Nor-
malerweise sind die Eltern für das Kindeswohl zustän-
dig, und ich finde, da ist es auch gut aufgehoben. Ich
frage mich allerdings, ob es in einer Situation, in der sich
oftmals zwei oder drei Parteien streiten – ob leiblicher
Vater, rechtlicher Vater oder leibliche Mutter –, dort
wirklich gut aufgehoben ist. Schließlich können die Inte-
ressen der genannten Parteien mit denen des Kindes
kollidieren, und möglicherweise treffen die Parteien un-
tereinander eine Regelung, die nicht unbedingt dem Kin-
desinteresse – ich sage jetzt bewusst nicht „Kindes-
wohl“, sondern „Kindesinteresse“ – entspricht.
Für mich stellt sich daher folgende Frage: Wäre es
nicht sinnvoll, dem Kind von Anfang an einen Interes-
senvertreter zur Seite zu stellen? Ich glaube nämlich,
dass – ich will es vorsichtig formulieren – die anwalt-
schaftliche Vertretung des Kindes vor den Familien-
gerichten nicht immer so sehr im Mittelpunkt steht, wie
es eigentlich notwendig wäre, um die Interessen des
Kindes zu vertreten. Meine Frage lautet: Gibt es in die-
sem Fall eine Vertretung, zum Beispiel in Form eines
Rechtsbeistandes?
Die Wahlfreiheit, die wir schenken – Auskunft geben
oder nicht –, führt gegebenenfalls zu Pflichten. Wenn
wir die Biologie hoch einstufen – das tun wir mit dem
Begriff des biologischen Vaters –, dann darf es auch
keine Wahlfreiheit geben, wenn es darum geht, ob ich
meinen Pflichten nachkomme oder nicht. Vielleicht habe
ich Sie falsch verstanden. Ich möchte Sie bitten, das zu
erklären. – Danke.
Die Frage ist, glaube ich, angekommen.Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-ministerin der Justiz:Vielleicht zuerst zu Ihrem letzten Punkt, FrauRupprecht: Wir wollen auf keinen Fall eine Pflicht zumUmgang. Auch bezogen auf andere Personen – wirhaben eine Personengruppe aufgeführt, für die ein Um-gangsrecht möglich ist – haben wir keine Verpflichtungzum Umgang vorgesehen. Beim biologischen Vater wol-len wir eine solche Verpflichtung schon gar nicht. Wirwollen nur prüfen, ob es aufgrund bestimmter Vorausset-zungen vertretbar ist – das geht nicht voraussetzungslos –,dass der biologische Vater Umgang mit dem Kind hat.Wir wollen auf keinen Fall eine Verpflichtung zum Um-gang. Das würde auch eine ganz andere Art der Prüfungbedeuten. Das haben wir ganz bewusst nicht gemacht.Das ist auch ansonsten nicht im Familienrecht verankert.Zu Ihrer anderen Frage. Im Gegensatz zu anders gela-gerten Familienrechtsstreitigkeiten haben wir hier die Si-tuation, dass es rechtliche Eltern bzw. eine sozial intakteFamilie gibt. Das Kind, das möglicherweise nicht vomrechtlichen Vater gezeugt wurde, lebt also, vielleicht zu-sammen mit Geschwistern, in dieser Familie. So war derSachverhalt in dem einen Fall, der dem Urteil des Euro-päischen Gerichtshofs für Menschenrechte zugrunde lag.Ich denke, in diesem Fall haben zuallererst die recht-lichen Eltern die Entscheidungskompetenz, so sage iches einmal. Ich glaube nicht, dass man dieser besonderenInteressenlage und insbesondere dem Interesse desKindes Rechnung trägt, wenn man eine gesetzlicheVerpflichtung vorsieht, nach der dem Kind immer einAnwalt zur Seite gestellt werden muss.
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23748 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 197. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Oktober 2012
Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
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Im Verfahren haben wir viele andere Möglichkeiten,da dann die allgemeinen Regelungen für das familienge-richtliche Verfahren, FamFG, gelten. Wir schaffen hier janur eine zusätzliche Möglichkeit im Hinblick auf diesebesondere Konstellation. Dabei geht es um die Feststel-lung der leiblichen Vaterschaft, also der Abstammung.Ansonsten bietet das FamFG Möglichkeiten, wenn sichdas Kind selbst einbringen will bzw. soll. Dabei geht esimmer um das Kindeswohl: Dient das dem Kindeswohl?Wir haben inzwischen, nach langem Kampf, in gewis-sem Umfang Ausgestaltungsmöglichkeiten verankert –Stichwort Anwalt des Kindes –, die diesem AnliegenRechnung tragen.
Vielen Dank. – Nächste Fragestellerin ist Frau Kolle-
gin Ewa Klamt.
Vielen Dank. – Frau Ministerin, auch ich möchte auf
das Umgangsrecht eingehen, nicht auf die Pflicht zum
Umgang, sondern auf das Recht auf Umgang. Wie muss
ich mir das vorstellen? Wie regle ich das für ein relativ
kleines Kind? Wie hat das auszusehen? Wird das ange-
lehnt an das, was Familiengerichte zum Beispiel nach ei-
ner Scheidung entscheiden? Kann das in diesem Fall ein
begleitetes Umgangsrecht sein, da das Kind bei soge-
nannten rechtlichen Eltern lebt?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-
ministerin der Justiz:
Dazu machen wir bewusst keinerlei weitere Ausfüh-
rungen im Gesetz selbst. Es kommt auf die konkrete Si-
tuation an. Zu berücksichtigen ist aber auch, was bereits
jetzt im Rahmen des Umgangsrechts möglich ist. Es gibt
vielfältige Möglichkeiten zur Ausgestaltung des
Umgangsrechts in der konkreten Situation. Wenn die
Voraussetzungen zur Gewährung des Umgangsrechts
vorliegen, wenn dies kindesgerecht und altersgerecht ist,
dann kann man es anordnen. Dabei geht es auch um die
Frage – Sie haben das angesprochen –, inwieweit je-
mand dabei sein soll oder nicht. In diesem Zusammen-
hang gilt all das, was auch ansonsten hinsichtlich der
Ausgestaltung des Umgangsrechts gilt. Das ist Sache des
zuständigen Gerichts.
Vielen Dank. – Die nächste Frage stellt unsere Kolle-
gin Katja Keul.
Vielen Dank. – Frau Ministerin, ich habe nach Ihren
Ausführungen jetzt durchaus den Eindruck, dass Sie das
Kindeswohl tatsächlich bestmöglich berücksichtigen
wollen. Mich treibt aber noch eine andere Sache um. Sie
haben gesagt, dass die biologische Vaterschaft in diesem
Verfahren gegebenenfalls inzident überprüft und festge-
stellt werden muss. Das würde zu einer völlig neuen Si-
tuation führen. Wenn die biologische Vaterschaft eines
Mannes festgestellt würde, ohne dass die Vaterschaft des
rechtlichen Vaters angefochten wird, würde das dazu
führen, dass es in Zukunft zwei gerichtlich festgestellte
Väter für ein Kind geben kann. Dies galt bisher als aus-
geschlossen. Es würde also einen gerichtlich festgestell-
ten Vater geben, der rechtlicher Vater ist, und dann
würde es – das wäre systemwidrig – einen weiteren ge-
richtlich festgestellten Vater geben, der nicht rechtlicher
Vater sein soll. Das wäre etwas völlig Neues. Habe ich
das richtig verstanden?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-
ministerin der Justiz:
Wir begehen Neuland, indem wir den biologischen
Vater ein Stück weit in eine Beziehung zum Kind und zu
den rechtlichen Eltern bringen. Nehmen wir an, dass
rechtliche Elternschaft gegeben ist und es Streit um die
biologische Vaterschaft gibt, dass die Mutter die leibli-
che Vaterschaft des Mannes zum Beispiel vehement be-
streitet und sagt, das stimme nicht, dieser Mann könne
nicht der biologische Vater sein. Es kann ja nicht sein,
dass wir das ungeprüft lassen und auf der Grundlage die-
ses ungelösten Streits sagen: Ob er nun der biologische
Vater ist oder nicht, er bekommt kein Umgangsrecht.
Das würde dann auch nicht im Einklang mit dem Kon-
ventionsrecht der EMRK stehen. Daher sehen wir in
§ 163 a Abs. 2 vor, dass zur Klärung der leiblichen Va-
terschaft die entsprechenden Untersuchungen, wie wir
sie an anderen Stellen im geltenden Recht schon geregelt
haben, vorzunehmen sind.
In anderen Fällen kann die biologische Vaterschaft
auch unstreitig sein. Es kann natürlich auch sein, dass
die Mutter sagt: Jawohl, das ist der leibliche Vater. Auch
dann gibt es einen leiblichen Vater und einen rechtlichen
Vater. Im Falle des Streits um den leiblichen Vater er-
folgt im Rahmen dieses neu geschaffenen Umgangsrech-
tes die Feststellung, ob er es ist oder nicht.
Natürlich haben wir damit eine neue Situation, aber
dadurch kommt es nicht zur Anfechtung des rechtlichen
Vaters. Es wäre etwas anderes, wenn ich generell ein An-
fechtungsrecht schaffen würde. Gerade das machen wir
ganz bewusst nicht; denn die neue Regelung soll nicht
dazu führen, dass das Kind seinen rechtlichen Vater ver-
liert.
Vielen Dank. – Nächster Fragesteller – wieder aus
dem männlichen Bereich – ist der Kollege Stephan
Thomae.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Ministerin, eineFrage zum Verfahren: Was gilt während der Übergangs-zeit bis zum Inkrafttreten des neuen Gesetzes? Müssenoder können nationale Gerichte die Rechtsprechung desEGMR in solchen Verfahren bereits jetzt anwenden, be-vor das neue Gesetz in Kraft tritt?Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-ministerin der Justiz:Es gibt einen Grundsatz: Die nationale Justiz mussprüfen, inwieweit eine Entscheidung des EGMR Ein-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 197. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Oktober 2012 23749
Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
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gang finden kann in nationales Recht, ohne dass es bis-her eine gesetzliche Umsetzung gibt. Wir haben uns dasgenau angesehen; sonst hätten wir vielleicht gar keineRegelung schaffen müssen. In § 1684 BGB, also im gel-tenden Recht, ist festgelegt, wann es ein UmgangsrechtDritter geben kann, nämlich dann, wenn der Betreffendeeine enge Bezugsperson ist. Hier kann man das Gesetzalso nicht entsprechend der Entscheidung des EGMRauslegen. Die bisherige Regelung im BGB steht dementgegen, was wir jetzt hier schaffen. Deshalb brauchenwir diese neue Regelung. Bis wir sie verabschiedet ha-ben, wird es real keinen Weg geben, dass ein leiblicherVater ein Umgangs- oder Auskunftsrecht bekommt.
Vielen Dank. – Nächste Fragestellerin ist unsere Kol-
legin Sonja Steffen.
Vielen Dank. – Wir haben jetzt viel über das Kindes-
wohl geredet und auch viel über die soziofamiliären Zu-
sammenhänge, die man beachten muss. Ich will jetzt
noch einmal den Blick auf den leiblichen Kindesvater
wenden. In dem Gesetzentwurf heißt es: Das Recht auf
Umgang und das Auskunftsrecht können dann ausgeübt
werden, wenn – jetzt kommt die Tatbestandsvorausset-
zung – der Vater „durch sein Verhalten gezeigt hat, dass
er für das Kind tatsächliche Verantwortung tragen will“.
Jetzt stellen wir uns einmal den Normalfall vor. Die-
ser könnte so aussehen: Es gibt eine Familie – zumindest
nach außen hin intakt – mit ein, zwei oder drei Kindern.
Eines dieser Kinder ist nicht das biologische Kind des
rechtlichen Vaters; davon weiß der rechtliche Vater mög-
licherweise gar nichts. Wenn der leibliche Vater dann
früher oder später sein Recht einfordert – es kann ja eine
ganze Weile dauern, bis er auf diese Idee kommt –, muss
er durch sein Verhalten zeigen, dass er tatsächlich Ver-
antwortung für das Kind übernehmen will. Es besteht
keine Unterhaltspflicht, und er kann kein Anfechtungs-
verfahren durchführen.
Sie haben in Ihren Erläuterungen vorhin, glaube ich,
gesagt, dass solch ein verantwortungsbewusstes Verhal-
ten möglicherweise nur durch räumliche Nähe oder eine
Kontaktaufnahme unter Beweis gestellt werden kann.
Ich stelle mir das in der Praxis sehr schwierig vor. In die-
sen Fällen ist oft sogar von Stalking die Rede, und es
wird gesagt: Da kommt jemand, der in unsere Familie
eindringt. – Könnten Sie vielleicht ein paar Beispiele
nennen, um deutlich zu machen, was der leibliche Vater
tun muss, damit er sein Verantwortungsbewusstsein un-
ter Beweis stellen kann?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-
ministerin der Justiz:
Vielleicht darf ich noch einmal kurz auf den Geset-
zestext eingehen. In § 1686 a Abs. 1 wurde die Formu-
lierung gewählt, dass, solange die Vaterschaft eines an-
deren Mannes besteht, der leibliche Vater nachhaltiges
Interesse an dem Kind gezeigt hat. Es heißt nicht, dass
der leibliche Vater bereits Verantwortung übernommen
hat. Auch diese Überlegung hatten wir ursprünglich ein-
mal angestellt; aber das wäre ja eine noch größere
Hürde, als nachhaltiges Interesse zu zeigen. Wenn ein
Vater, der sein Kind zehn Jahre lang nicht gesehen hat,
anruft und sagt: „Ich bin zwar in Nigeria, stelle aber ei-
nen Umgangsantrag“, wird dies nicht Ausdruck eines
nachhaltigen Interesses am Kind sein.
Aber es gibt natürlich auch andere Situationen. Im
Falle von Stalking und Ähnlichem kann von einem nach-
haltigen Interesse natürlich keine Rede sein. Das hatte
ich vorhin so umschrieben: wenn eher Rache und andere
emotionale Gründe eine Rolle spielen, die sich gegen die
Mutter richten, aber gar nichts mit wirklichem Interesse
am Kind zu tun haben. Von daher kann dieses Verhalten
nur durch den ernsthaften Versuch einer Kontaktauf-
nahme unter Beweis gestellt werden. Der Vater darf na-
türlich nicht versuchen, den Kontakt zum Kind heimlich
in einem Hinterhof aufzunehmen, sondern er muss bei
den rechtlichen Eltern um Gespräche ersuchen; ich
meine, da ist die Realität vielfältiger, als man es sich als
Gesetzgeber jemals vorstellen kann. Das wäre dann ein
Anhaltspunkt, den das Gericht zu bewerten hat.
Wir haben uns, nachdem wir auch Stellungnahmen
vom Bundesrat und von den Ländern bekommen haben,
bewusst für die Formulierung „nachhaltiges Interesse
gezeigt hat“ und gegen die Formulierung „Verantwor-
tung übernommen hat“ entschieden. Denn Verantwor-
tung kann der leibliche Vater nicht übernehmen, weil er
in die rechtliche Familie – so nenne ich das einmal –
nicht eindringen kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, sind Sie damit ein-
verstanden, dass wir diese wichtige Befragung der Bun-
desregierung verlängern? – Das ist der Fall.
Die letzte Frage stellt unsere Kollegin Elisabeth
Winkelmeier-Becker. Gibt es noch weitere Fragen? –
Nein. Bitte, Frau Kollegin Elisabeth Winkelmeier-
Becker.
Vielen Dank für die weitere Fragemöglichkeit. – Inder Tat haben wir jetzt zum ersten Mal die Situation,dass es einen rechtlichen Vater und einen biologischenVater geben kann; das war in der Vergangenheit ausge-schlossen. Bisher gab es in allen Rechtszusammenhän-gen immer nur einen Vater, auch was den Unterhalt unddas Erbrecht angeht. Welche Konsequenzen hat die neueSituation, dass es zukünftig zusätzlich einen biologi-schen Vater geben kann, für andere zu regelnde Berei-che? Kann er in irgendeinem Zusammenhang selberunterhaltspflichtig werden? Gibt es in diesem Zusam-menhang eventuell auch ein Erbrecht des Kindes oder ir-gendwelche Rechtsansprüche des Kindes gegenüberdem biologischen Vater?Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-ministerin der Justiz:Nein. Wenn der biologische Vater nicht auch derrechtliche Vater wird – dafür gäbe es das Anfechtungs-
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23750 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 197. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Oktober 2012
Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
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verfahren –, gibt es über das hinaus, was wir geregelt ha-ben, keine weiteren Konsequenzen. Wir schaffen alsonicht etwa, verbunden mit weiteren Folgerungen, einRechtsinstitut des biologischen Vaters neben dem desrechtlichen Vaters. Da dies komplizierteste Auswirkun-gen hätte, wurde eine ganz beschränkte Regelung getrof-fen.Wir haben abgewartet, bis der EGMR seine beidenEntscheidungen getroffen hat; die zweite Entscheidungim September 2011 war ja absehbar. Wir haben dann na-türlich überlegt, ob wir vor diesem Hintergrund den Auf-trag haben, dem leiblichen Vater generell eine ganz an-dere Stellung einzuräumen. Ich hielte das insgesamt fürsehr problematisch und schwierig. Wir haben bewusstden Weg gewählt, uns sehr eng an dem, was sich aus denEntscheidungen ergeben hat, zu orientieren. Es musseine Abwägung getroffen werden, um entscheiden zukönnen: Soll der leibliche Vater neben dem rechtlichenVater ein Umgangsrecht und ein Auskunftsrecht bekom-men oder nicht? Das ist die Möglichkeit, die wir schaf-fen – mehr nicht. Vielleicht werden wir in ein paar Jah-ren ganz anders darüber debattieren. Aber ich halte dasin der jetzigen Situation und Lage so für absolut ausrei-chend. Wir müssen nicht mehr machen, wir handelnkonventionskonform. Aber ich halte es auch für richtig,wenn wir nicht mehr machen.
Vielen Dank. – Das war dieser wichtige Themenbe-
reich.
Jetzt stelle ich die Frage: Gibt es Fragen zu anderen
Themen der heutigen Kabinettssitzung? – Das ist nicht
der Fall. – Doch, Entschuldigung, ich bitte um Nach-
sicht. Bitte schön, Frau Kollegin Ingrid Hönlinger.
Vielen Dank. – Wir haben uns sehr eng im Bereich
des Familienrechts bewegt. Es gibt beim Familienrecht
aber noch einen weiteren Punkt, bei dem aus meiner
Sicht dringender Handlungsbedarf besteht, und zwar ist
das das Betreuungsrecht. Insoweit gibt es eine Recht-
sprechung dazu, dass eine Behandlung, die möglicher-
weise im Interesse des Betreuten ist, gegen dessen Wil-
len aber nicht durchgesetzt werden kann. Hierfür müssen
wir dringend eine Regelung schaffen. Ich möchte jetzt
gerne wissen, ob es Gegenstand der Kabinettsbespre-
chung war bzw. welche Schritte Sie hier in welchem
Zeitraum planen.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-
ministerin der Justiz:
Ich würde gern, Herr Präsident, darauf antworten. –
Das war nicht Gegenstand der heutigen Kabinettssit-
zung. Ich möchte Sie an dieser Stelle aber gerne kurz
informieren. Wir sehen da ganz dringenden Handlungs-
bedarf; denn durch die Rechtsprechung des Bundesge-
richtshofs ist die bisher als ausreichend angesehene
Rechtsgrundlage in § 1906 ff. BGB nicht mehr ausrei-
chend. Sie wurde als zu unbestimmt für Zwangsmaßnah-
men psychisch Kranker angesehen, sodass weder durch
Betreute noch durch Gerichtsersetzung diese Behandlun-
gen vorgenommen werden können. Die müssen in einem
bestimmten Umfang vorgenommen werden, weil das für
die psychisch Erkrankten teilweise von ganz gravieren-
der gesundheitlicher Auswirkung sein kann, wenn sie
nicht behandelt werden. Im Moment können sie ver-
wahrt werden, sediert werden. Man wird in die Gefahr
von Fixierung und anderen Dingen kommen, die wir
lange überwunden hatten mit dem neuen Betreuungs-
recht, das jetzt 20 Jahre gilt.
Deshalb haben wir im Ministerium Formulierungen
erarbeitet, die den Rechtszustand bis zu diesen beiden
BGH-Entscheidungen wieder herstellt und die auf dieser
rechtsstaatlichen Ebene, immer auch mit Zuständigkeit
des Gerichts, dann wieder auch die entsprechenden Be-
handlungen psychisch Erkrankter, die selbst nicht ein-
willigen können, ermöglichen. Wir haben nicht beson-
dere Regelungen für Gefahr im Verzuge vorgesehen,
sondern wir wollen das Gericht entscheiden lassen auf
dem Niveau, das wir hatten, solange diese Bestimmun-
gen als ausreichend angesehen wurden.
Wir wollen dann auch gerne mit den Abgeordneten
nach Wegen suchen, wie wir das in das bestehende an-
hängige Gesetzgebungsverfahren einbringen können. Es
ist ein dringendes Anliegen auch der Länder, hier zügig
zu einer Regelung auf Bundesebene zu kommen, zumal
teilweise auch die Unterbringungsmöglichkeiten in psy-
chiatrischen Einrichtungen nach Landesgesetz für ver-
fassungswidrig erklärt wurden, zum Beispiel in Baden-
Württemberg im Jahre 2011.
Wir haben also aufgrund dieser Dringlichkeit eine Re-
gelung erarbeitet, und wir versuchen jetzt, Wege zu fin-
den, über die wir uns dann auch im Einzelnen intensiv
werden unterhalten können, um das in das anhängige
Gesetzgebungsverfahren mit einzubringen, und zwar
ausnahmsweise mal, weil wir das für absolut eilbedürftig
halten.
Vielen Dank. – Mit Ihrem Einverständnis beende ichnun die Themenbereiche der heutigen Kabinettssitzung.Gibt es darüber hinaus noch Fragen an die Bundesregie-rung? – Das ist nicht der Fall, sodass ich die Befragungbeende.Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 3 auf:Fragestunde– Drucksache 17/10967 –Ich rufe auf die mündlichen Fragen aus Drucksache17/10967 in der üblichen Reihenfolge.Der erste Geschäftsbereich ist der Geschäftsbereichdes Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz undReaktorsicherheit. Zur Beantwortung der Fragen stehtuns unsere Kollegin Parlamentarische StaatssekretärinKatherina Reiche zur Verfügung.Die erste Frage stellt unsere Kollegin Dr. BärbelKofler:Plant die Bundesregierung ebenso wie die dänische Regie-rung ein nationales Verbot für das Inverkehrbringen von vier
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 197. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Oktober 2012 23751
Vizepräsident Eduard Oswald
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als fortpflanzungsgefährdend oder reprotoxisch eingestuftenPhthalaten, und wird sich die Bundesregierung auf EU-Ebenedafür einsetzen, dass wie geplant im Frühjahr 2013 über eineentsprechende EU-weit geltende Regelung entschieden wird?Bitte schön, Frau Staatssekretärin.Ka
Herr Präsident! Frau Kollegin Kofler! Ich beantworte
Ihre Frage wie folgt: Der zuständige Ausschuss für Risi-
kobeurteilung, RAC, der Europäischen Chemikalien-
agentur ECHA hat die von Dänemark eingereichten
REACH-Beschränkungsvorschläge für vier Phthalate
geprüft und die vorgeschlagene Beschränkung einstim-
mig als nicht berechtigt beurteilt.
Deshalb und weil eine Zulassungspflicht für diese
Phthalate ab dem Jahr 2015 bereits feststeht, erwägt die
Bundesregierung derzeit keine zusätzlichen nationalen
Verbotsmaßnahmen. Sie geht ferner davon aus, dass die
EU-Kommission keinen Beschränkungsvorschlag vorle-
gen wird.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Herzlichen Dank. – Ich habe eine generelle Nachfrage
zu diesem Themenkomplex. Sie sagen, für die Phthalate
seien vonseiten der Regierung keine weiteren Maßnah-
men geplant. Wie sehen Sie das denn generell? Das
UNO-Umweltprogramm UNEP hat vor gut einem Mo-
nat einen Bericht Global Chemicals Outlook vorgelegt,
in dem die internationale Gemeinschaft noch einmal auf-
gefordert wurde, mehr für den Schutz der Bevölkerung
vor negativen Auswirkungen chemischer Produkte zu
tun. UNEP mahnt rasches Handeln an – es geht schließ-
lich um die Auswirkungen auf das Leben von Menschen –,
auch vor dem Hintergrund, dass oft die Produktion von
Industrieländern in Entwicklungsländer verlagert wird,
wo der Schutzgedanke vielleicht nicht immer so zum
Tragen kommt, wie wir uns das wünschen würden.
Ich frage Sie nun: Wie bewertet die Bundesregierung
diesen UNEP-Bericht über die Auswirkungen von che-
mischer Produktion und den Schutz der Bevölkerung,
und welche Maßnahmen würden Sie gegebenenfalls er-
greifen?
Ka
Frau Kollegin, der Gegenstand ist jetzt nicht der
UNEP-Bericht, sondern das Verfahren selbst. Das Ver-
fahren bei REACH ist zweistufig: Da ist zum einen der
ECHA-Ausschuss für Risikobeurteilung und zum ande-
ren der ECHA-Ausschuss für sozioökonomische Ana-
lyse. Darin sitzen unabhängige Experten. Der RAC-Aus-
schuss hat ganz klar festgestellt, dass gegenwärtig kein
Risiko abgeleitet werden kann. Deshalb sehen wir hier
keinen Handlungsbedarf – im Gegensatz zu Dänemark,
wo ein eigenes, länderspezifisches Verfahren eingeleitet
wurde. Für Deutschland und die gesamte EU gilt ab
2015 ohnehin, dass Phthalate in das Zulassungsverfah-
ren müssen.
Sie verzichten auf die zweite Nachfrage? – Dann rufe
ich die Frage 3 des Kollegen Frank Schwabe auf:
Hält die Bundesregierung nach den Ergebnissen der Fra-
cking-Studien des Bundesministeriums für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit und des Landes Nordrhein-
Westfalen eine derzeitige Anwendung des Fracking-Verfah-
rens für vertretbar, und bis wann will die Bundesregierung ei-
nen Gesetzentwurf zur Änderung des Rechtsrahmens vorle-
gen?
Ka
Herr Kollege Schwabe, die Ergebnisse der beiden
Gutachten sowie der Studie der Bundesanstalt für Geo-
wissenschaften und Rohstoffe werden derzeit ausgewer-
tet. Nach Abschluss dieser Prüfung, die auch den Ände-
rungsbedarf wasserrechtlicher und bergrechtlicher
Vorschriften betrifft, werden die weiteren Schritte mit
den Betroffenen zu erörtern sein.
Ihre erste Nachfrage.
Frau Staatssekretärin, ich darf noch einmal nachfra-
gen. Heißt das, dass es einen Zeitplan dafür nicht gibt?
Wir sind ja in der Situation, dass bald die nächste Bun-
destagswahl stattfindet, und wir wissen, irgendwann
wird es schwierig mit bestimmten Gesetzgebungsvorha-
ben. Es ist allerdings so, dass sich in vielen Teilen des
Landes die Menschen Sorgen machen und im Moment
nicht klar ist, auf welcher Grundlage Untersuchungen
stattfinden, ob Fracking durchgeführt werden kann oder
nicht. Sehe ich es richtig, dass Sie heute nicht in der
Lage sind, einen Zeitplan zu nennen, wann wir allerspä-
testens mit einem neuen Gesetzgebungsrahmen rechnen
können?
Ka
Das sehen Sie falsch. Die beiden Gutachten dienendazu, zunächst einmal eine Fakten- und Datenbasis auf-zustellen.Zweitens findet am 5. Dezember ein großer Work-shop mit allen Beteiligten statt, auch mit internationalerBeteiligung, auf dem Erfahrungen und Ergebnisse aus-gewertet werden.Der Minister hat klargemacht, dass Transparenz beisolchen Vorhaben, auch bei Bohrungen und Probeboh-rungen, wichtig ist. Er hat ebenfalls klargemacht, dass esin Bezug auf Trinkwasserschutzgebiete einen Hand-lungsbedarf gibt. Diesen besprechen wir gerade inner-halb der Regierung.
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23752 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 197. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Oktober 2012
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Frau Staatssekretärin, es ist schön, dass wir das
Thema besprechen – das Thema ist ja auch nicht ganz
neu, sondern zwei Jahre alt – und dass der Minister
Dinge erkannt hat. Das habe ich ja alles gelesen, aber am
Ende sind wir hier, der Deutsche Bundestag, der Gesetz-
geber. Erst dann, wenn wir hier gehandelt haben, kann
man auf dieser Grundlage in Deutschland entsprechend
agieren.
Wir haben jetzt eine große Rechtsunsicherheit und
eine Unsicherheit in der Bevölkerung. Deswegen frage
ich Sie noch einmal: Sind Sie in der Lage, ein Datum zu
benennen, bis zu dem allerspätestens ein Gesetzentwurf
vorgelegt wird? Ist zumindest davon auszugehen, dass
das noch in dieser Legislaturperiode geschieht?
Ka
In zwei Bundesländern gibt es ein De-facto-Morato-
rium, andere Bundesländer gehen damit anders um. Es
ist eine Reihe von Fragen zu beantworten. Zu nennen
sind zum Beispiel die Frage der Beteiligungsrechte der
Umwelt- und Wasserverbände und die Frage, ob es rich-
tig ist, eine UVP-Pflicht für Fracking-Bohrungen einzu-
führen. Die Ausgestaltung muss sorgfältig geprüft wer-
den, und es ist guter Brauch, zunächst anzuhören und
Expertenmeinungen einzuholen. Dazu dient dieser
Workshop.
Da unter anderem das Bergrecht tangiert ist, das nicht
im BMU ressortiert, sind Abstimmungen mit anderen
Häusern notwendig. Wie lange die dauern, kann ich Ih-
nen nicht sagen.
Wir kommen nun zur Frage 2 des Kollegen Schwabe:
Wann stehen Entscheidungen der Europäischen Union im
Umgang mit Öl aus Teersanden an, und hat die Bundesregie-
rung dazu mittlerweile eine klare Haltung entwickelt?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Ka
Herr Kollege Schwabe, Deutschland hat sich am
23. Februar 2012 bei der Abstimmung im Ausschuss für
Kraftstoffqualität über den Vorschlag der Kommission
für eine Richtlinie zur Konkretisierung der Anforderun-
gen von Art. 7 a der Kraftstoffqualitätsrichtlinie enthal-
ten.
Die Europäische Kommission hat angekündigt, dass
vor der Übersendung des Vorschlags an den Rat eine
Folgenabschätzung durchgeführt werden soll. Mit einer
Vorlage der Folgenabschätzung und Übersendung des
Vorschlags an den Rat ist nicht vor Anfang 2013 zu rech-
nen. Die Bundesregierung wird diesen Vorschlag dann
im Lichte der Ergebnisse der Folgenabschätzung prüfen.
Ihre erste Nachfrage.
Frau Staatssekretärin, es ist ja schön, dass Sie etwas
Zeit für Ihre Positionsfindung in der Regierung gewon-
nen haben, aber es ist hier leider so wie bei allen energie-
politischen Themen. Mir fällt keines ein, bei dem die
Bundesregierung eine klare Position hat, die sie in Brüs-
sel vertritt.
Die Frage ist schlichtweg, ob wir in Brüssel eigentlich
in irgendeiner Richtung eine Rolle spielen wollen. Wir
sind ja nicht das kleinste Land der Europäischen Union.
Man wartet darauf, dass Deutschland seine Position ver-
tritt.
Alle Fakten beim Thema Teersande liegen auf dem
Tisch. Ich darf auch hier noch einmal feststellen, dass es
bisher keine Positionierung der Bundesregierung gibt
und Sie uns auch nicht ein Datum nennen können, bis
wann die Bundesregierung eine Position entwickelt hat,
und dazu nachfragen.
Ka
Wie ich Ihnen das eben und auch schon auf viele Fra-
gen hin bereits mitgeteilt habe, haben wir uns zum da-
maligen Zeitpunkt enthalten. Wir warten jetzt die Fol-
genabschätzung ab und werden uns dann positionieren.
Damit das richtig zugeordnet werden kann, halten wir
für das Protokoll fest, dass im Einvernehmen zwischen
Staatssekretärin und fragendem Abgeordneten die
Frage 3 als Erstes und dann die Frage 2 beantwortet
wurde.
Die Fragen 4 und 5 des Kollegen Oliver Krischer
werden schriftlich beantwortet. Auch die Frage 6 der
Kollegin Britta Haßelmann, die Fragen 7 und 8 des Kol-
legen Ulrich Kelber und die Fragen 9 und 10 des Kolle-
gen Hans-Josef Fell sollen schriftlich beantwortet wer-
den.
Ich rufe die Frage 11 des Kollegen Marco Bülow auf:
Welche Schlüsse zieht die Bundesregierung für ihr Han-
deln bezüglich der Sicherheit von Atomkraftwerken, AKW,
auf europäischer Ebene aus dem vom EU-Kommissar für
Energie, Günther Oettinger, vorgestellten abschließenden
AKW-Stresstestbericht, und plant die Bundesregierung, sich
für mehr AKW-Sicherheit in Europa zu engagieren?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Ka
Danke schön. Damit sind wir wieder in der richtigenReihenfolge. – Der eigentliche Stresstest, Herr KollegeBülow, der europäischen Kraftwerke ist bereits im April2011 abgeschlossen worden und hat Einblicke in wich-tige sicherheitstechnische Merkmale der europäischen
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Parl. Staatssekretärin Katherina Reiche
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Kraftwerke und in die Notfallschutzmaßnahmen ge-bracht.Die kontinuierliche Verbesserung der Sicherheit istein gemeinsames Ziel aller europäischen atomrechtli-chen Aufsichtsbehörden. Das ist in der europäischenRichtlinie zur nuklearen Sicherheit als Ziel für alle Mit-gliedstaaten in eigener Verantwortung vorgegeben. DieBundesregierung begrüßt es deshalb, dass die Ergebnissezu einem Aktionsplan der atomrechtlichen Behörden ge-führt haben. Nach diesem Aktionsplan sind bis zumJahresende nationale Aktionspläne für Verbesserungs-maßnahmen aufzustellen.Die Bundesregierung wird diesen Plan zusammen mitden zuständigen atomrechtlichen Behörden der Länderaufstellen. Alle nationalen Aktionspläne werden imFrühjahr des kommenden Jahres in einem erneuten Pro-zess der gegenseitigen Überprüfung gemeinsam disku-tiert werden.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Erst einmal vielen Dank, Frau Staatssekretärin. – Ei-
nige Mängel wurden schon offenbar. Gibt es daher be-
reits konkrete Pläne? Zum Beispiel ist die Erdbeben-
sicherheit kein unwichtiger Faktor. Planen Sie, darauf
zumindest in Norddeutschland und in Nordeuropa ein
besonderes Augenmerk zu legen? Ich gehe davon aus,
dass man zunächst auswertet und dann irgendwann zu
nationalen Plänen kommt. Aber richten Sie jetzt bei die-
sem Test oder bei den nationalen Plänen ein besonderes
Augenmerk auf diesen Faktor oder auf andere?
Ka
Vielleicht eine Vorbemerkung zu Ihrer konkreten
Frage, auf die ich natürlich noch komme. – Deutschland
hat diesen EU-weiten Stresstest von Anfang an unter-
stützt, weil wir es notwendig fanden, ein Gesamtbild al-
ler Kraftwerke in der Europäischen Union zu bekom-
men. Es ist aber am Ende so gewesen, dass der Bericht
von der Kommission ohne Rückabstimmung mit den na-
tionalen Atomaufsichtsbehörden erarbeitet wurde. Es
wurden auch nicht alle Ergebnisse mit einbezogen. Da-
durch kam es an manchen Stellen – lassen Sie es mich so
formulieren – zu einigen Verzerrungen.
Eine Verzerrung betrifft unter anderem die Auslegung
deutscher Kernkraftwerke in Bezug auf seismische Ge-
fährdungen. In einer Ad-hoc-Untersuchung unmittelbar
nach den Ereignissen in Fukushima haben wir seitens
der Bundesregierung die Länderbehörden aufgefordert,
noch einmal unmittelbar festzustellen, ob es in den deut-
schen Anlagen Risiken gibt. Es gibt standortspezifische
Bemessungsgrundlagen. Diese liegen über den üblichen
Anforderungen. Auch was die Erdbebeninstrumentie-
rung betrifft, haben wir das längst erledigt. Insofern sind
wir ein bisschen traurig, dass das die Kommission so
nicht aufgenommen hat.
Gleichwohl werden wir jetzt in Abstimmung mit den
Länderbehörden noch einmal die Dinge zusammentra-
gen, den Aktionsplan entwickeln. Aber genau diese bei-
den Punkte, die auch von der Presse aufgegriffen worden
sind – das ist das Notfallhandbuch, das es seit den 90er-
Jahren gibt, und das ist die seismische Auslegung – sind
in Deutschland erfüllt. Das werden wir sicherlich auch in
dem Bericht schreiben.
Ihre zweite Nachfrage? – Sie verzichten.
Dann rufe ich die Frage 12 des Kollegen Marco
Bülow auf:
Hat die Erkenntnis, dass bei den Überprüfungen im Rah-
men der europaweiten AKW-Stresstests im direkt angrenzen-
den Frankreich, dem Land mit den meisten Atomkraftwerken
in Europa, besonders viele Schwächen bei den dortigen
Atomkraftwerken und ihrer Aufsicht festgestellt wurden,
Konsequenzen für das Handeln der Bundesregierung und,
wenn ja, welche?
Ka
Die Bundesregierung engagiert sich in den europäi-
schen Gremien und Gruppierungen, insbesondere in
ENSREG, der Gruppe der für nukleare Sicherheit zu-
ständigen Behördenchefs aller europäischen Staaten, und
wirkt daraufhin, dass in allen Ländern hohe Standards
der nuklearen Sicherheit verwirklicht werden.
In bilateralen Gremien mit den Nachbarländern
Frankreich, Schweiz, Tschechien, den Niederlanden und
mit Österreich, in denen auch die jeweils angrenzenden
Bundesländer vertreten sind, führt das Umweltministe-
rium eine gegenseitige Information und Diskussion über
alle anstehenden Fragen zur kerntechnischen Sicherheit
der grenznahen Anlagen durch. Dabei bleibt die Verant-
wortung für den sicheren Betrieb der Anlagen in der Zu-
ständigkeit der jeweiligen Staaten. Die Bundesregierung
überzeugt sich durch ihre Mitwirkung in den Gremien
und Kommissionen vom jeweiligen Stand der Sicherheit
und wirkt auch auf Verbesserungen hin.
Ihre erste Nachfrage, bitte.
Frau Staatssekretärin, können Sie den letzten Satz einbisschen konkretisieren, weil gerade in Bezug auf Frank-reich die Sorgen nicht unberechtigt sind? Gerade dortstehen Atomkraftwerke nahe der Grenze, die nun wirk-lich erhebliche Sicherheitsmängel aufweisen, die schonziemlich alt sind und über die wir wenig Informationenhaben.Sie werden sicher zugeben, dass bei einem Unfall indiesen Atomkraftwerken Deutschland wahrscheinlichstärker betroffen sein wird als Frankreich, weil der Windhäufig aus dem Westen kommt und weil sie an Länder-grenzen stehen. Deswegen gibt es, glaube ich, auch inDeutschland in Bezug darauf ein sehr hohes Sicherheits-bedürfnis und ein sehr hohes Informationsbedürfnis. Da-
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Marco Bülow
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her noch einmal die Fragen: Können Sie konkretisieren,in welchem Kontakt Sie stehen und welche Informatio-nen Sie bekommen? Können Sie sicherstellen, dass derDialog mit den Franzosen das Ziel verfolgt, genau überdiese Atomkraftwerke, die an der deutschen Grenze ste-hen, noch einmal speziell zu sprechen?Ka
In dieser Fragestellung gibt es zwei Ebenen. Zur ers-
ten Ebene: Selbstverständlich hat auch Frankreich seinen
Bericht durch die Kommission bekommen, wertet diesen
aber für sich aus und zieht auch eigene Schlüsse daraus.
Zur zweiten Ebene: Ich kann sehr wohl die Sorgen
verstehen, wenn es Nachrichten aus Frankreich gibt, die
in der Region zu Besorgnis Anlass geben. Wir haben
eine regelmäßig tagende deutsch-französische Konsulta-
tionsgruppe, in die wir unsere Expertise einfließen las-
sen. Es gibt aber keine Möglichkeit bzw. keine rechtliche
Handhabe, Frankreich zu bestimmten Maßnahmen auf-
zufordern.
Ziel des Stresstests war es aber, zum Beispiel durch
Offenlegung unserer Standards und durch einen mög-
lichst objektiven Vergleich, andere Länder, die mögli-
cherweise Nachrüstbedarf haben, nicht nur zu animieren,
sondern auch auf sie Druck auszuüben, diesem nachzu-
kommen.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage. – Sie ver-
zichten, aber die Kollegin Ute Vogt hat noch eine Nach-
frage.
Frau Staatssekretärin, ist Ihnen bekannt, wann die
französische Regierung beabsichtigt, das Atomkraftwerk
Fessenheim vom Netz zu nehmen? Ist es im Interesse der
Bundesregierung, das Vom-Netz-Nehmen dieses alten
Kraftwerks zu beschleunigen? Wenn ja, was tun Sie da-
für?
Ka
Frau Kollegin, diese Frage hinsichtlich des Zeitpunk-
tes kann ich Ihnen nicht beantworten. Aber noch einmal:
Die unmittelbare Aufsicht und Verantwortung für die
Kernkraftwerke in Frankreich liegen bei der französi-
schen Regierung. Die regelmäßigen Konsultationen des
deutsch-französischen Gremiums sind auch ein Mittel,
um Informationen auszutauschen und zum Beispiel auf
unsere Standards und auf das hinzuweisen, was wir nach
dem Unfall in Fukushima noch einmal zusätzlich ge-
macht haben. Darüber hinaus gibt es die regelmäßig ta-
gende ENSREG. Auch das ist ein Gremium des Austau-
sches. Sie wissen aber so gut wie ich: Die französischen
Kernkraftwerke stehen nun einmal in Frankreich unter
unmittelbarer Aufsicht, und dort muss gehandelt werden.
Das Fragerecht ist leider nicht übertragbar, Kollegin
Vogt. Insofern hatten Sie nur eine Nachfrage.
Ich rufe die Frage 13 des Kollegen Manfred Nink auf:
Welche Erkenntnisse zieht die Bundesregierung aus den
Ergebnissen des europäischen Stresstests für Atomkraftwerke
in Bezug auf das französische Atomkraftwerk Cattenom, und
welche Auswirkungen haben die Erkenntnisse auf die Bewer-
tung der Risiken für die deutsche Bevölkerung in der grenzna-
hen Region und auf Szenarien zur Gefahrenabwehr?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Ka
Herr Kollege Nink, der Stresstest der europäischen
Kernkraftwerke hat Einblick in wichtige sicherheitstech-
nische Merkmale der europäischen Kraftwerke und in
die Notfallschutzmaßnahmen erbracht. Die kontinuier-
liche Verbesserung der Sicherheit – das hatte ich auch
gerade eben in der Antwort ausgeführt – ist ein gemein-
sames Ziel aller europäischen atomrechtlichen Auf-
sichtsbehörden. Es ist in der Europäischen Richtlinie zur
nuklearen Sicherheit als Ziel für alle Mitgliedstaaten in
eigener Verantwortung vorgegeben. Die Umsetzung der
notwendigen Maßnahmen ist danach von der zuständi-
gen französischen Aufsichtsbehörde zu überwachen.
Das Bundesumweltministerium – auch das hatte ich
erwähnt – wird im Rahmen der Deutsch-Französischen
Kommission für die Sicherheit kerntechnischer Einrich-
tungen, in der auch die grenzanliegenden Länder Baden-
Württemberg, Rheinland-Pfalz und das Saarland vertre-
ten sind, die in beiden Staaten aufgezeigten Verbesse-
rungsmöglichkeiten fachlich diskutieren und auf ihre zü-
gige Umsetzung hinwirken. Das ist in etwa das, was ich
auch schon gerade Herrn Kollegen Bülow und Frau Vogt
gesagt habe.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Schönen Dank, Frau Staatssekretärin. – Das ist nichtsNeues. Sie haben uns das auch schon vor etwa einemhalben Jahr in gleicher Weise gesagt. Das heißt, dass ichdavon ausgehen muss, dass die Bundesregierung igno-riert, dass das Atomkraftwerk Cattenom mittlerweile re-gelmäßig mit Störfällen behaftet ist, zum Beispiel nochvergangene Woche Montag. Da Sie immer wieder daraufhinweisen, dass das eine nationale Angelegenheit Frank-reichs ist, interessiert mich Ihre Meinung, warum dasluxemburgische Parlament fraktionsübergreifend einenProtestbrief an die Nationalversammlung Frankreichsgeschrieben hat. Dort scheint mir der Schutz der Bevöl-kerung eine wesentlich größere Rolle zu spielen als inder deutschen Bundesregierung.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 197. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Oktober 2012 23755
(C)
(B)
Ka
Die Bundesregierung kann nicht für Parlamentsakti-
vitäten sprechen. Ich habe bereits ausgeführt, was die
Bundesregierung ihrerseits macht, um mit Frankreich im
Gespräch zu bleiben und sich bei der Erstellung der Na-
tionalen Aktionspläne möglichst eng abzustimmen.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
Sie haben vorhin bei der Beantwortung einer Frage
des Kollegen Schwabe zu einem anderen Thema ausge-
führt, dass sich die Bundesregierung zuerst über eine Ex-
pertenrunde sachkundig macht und dann handelt. Wir
haben jetzt eine Expertenmeinung zu den Kraftwerken.
Jetzt haben Sie hier ausgeführt, dass Sie lediglich da-
rüber beraten werden und Verbesserungen ins Auge fas-
sen. Diese wollen Sie allerdings im Gegensatz zu Ihrer
vorigen Aussage auch den anderen nationalen Parlamen-
ten oder Regierungen nahelegen.
Sind Sie der Ansicht, dass man nur durch Verbesserun-
gen die derzeitige Sicherheitssituation am AKW Cattenom
verbessern und damit die Bevölkerung schützen kann,
oder sind Sie der Ansicht, dass man wie hier in Deutsch-
land auch die anderen Nationen im europäischen Ver-
bund dazu animieren müsste, einen Ausstieg aus der
Atomkraft voranzutreiben?
Ka
Herr Kollege, jetzt reicht leider die Zeit nicht, die ver-
schiedenen Ebenen und vor allem Fachbereiche vom
Fracking bis zur Kernkraft, die Sie angesprochen haben,
als eine Frage zu beantworten. Deshalb antworte ich wie
folgt: Sie wissen, dass die Zusammensetzung des Energie-
mixes in den unterschiedlichen Mitgliedstaaten unter-
schiedlich gehandhabt wird. So, wie wir uns dazu entschie-
den haben, aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie
auszusteigen und auf deutlich mehr erneuerbare Ener-
gien zu setzen, tun dies andere europäische Staaten auch.
Andere entscheiden sich für andere Wege oder setzen
sich längerfristige Ziele.
Europäische Räte und die Europäische Kommission
dienen dazu, sich in diesem Punkt auszutauschen. Wir
haben eine große Zahl von Gemeinsamkeiten, wenn es
zum Beispiel um EU-weite Ziele zur Erreichung von
Klimaschutzzielen, CO2-Reduktionsziele und den Aus-
bau der erneuerbaren Energien geht, aber die indivi-
duelle Energiestrategie bestimmt jedes Mitgliedsland für
sich.
Wir haben für unsere Kernkraftwerke hohe Sicher-
heitsstandards festgelegt und überprüfen sie auch per-
manent. Wir sind bei der Erstellung des Nationalen Ak-
tionsplans auf eine enge Zusammenarbeit mit den
atomrechtlichen Aufsichtsbehörden nicht nur angewie-
sen, sondern suchen diese. Wir haben bilaterale Kom-
missionen und treffen uns auch auf EU-Ebene, um über
Sicherheits- und Risikofragen zu sprechen. Das ist eine
Menge Informationsaustausch, aber am Ende steht die
nationale Souveränität der Mitgliedstaaten in ihren indi-
viduellen Energiestrategien.
Auch die Frage 14 wird vom Abgeordneten Manfred
Nink gestellt:
Welche konkreten Ziele verfolgt die Bundesregierung mit
der Initiierung eines Klubs von Ländern, „der sich der Durch-
setzung der erneuerbaren Energien verschreibt“, wie es der
Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
insbesondere auch das Ziel, Frankreich von einem schnellen
Ausstieg aus der Atomenergie zu überzeugen und das AKW
Cattenom möglichst bald endgültig vom Netz zu nehmen?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Ka
Herr Kollege Nink, die erneuerbaren Energien haben
in den letzten Jahren ein beeindruckendes Wachstum
verzeichnet, begleitet von großem technologischem Fort-
schritt und verbunden mit drastischen Kostensenkungen.
Deutschland war eines der Vorreiterländer bei dieser
Entwicklung. Gegenwärtig greifen immer mehr Staaten
erneuerbare Energien auf und diskutieren die Neuaus-
richtung ihrer Energiepolitik.
Das ist ein idealer Zeitpunkt für Deutschland, um mit
weiteren Vorreiterstaaten den Schulterschluss zu suchen,
politisches Momentum für den weiteren Ausbau zu er-
zeugen und in einem Renewables Club – das ist sozusa-
gen der Arbeitstitel – die Fragen zu thematisieren, die
für eine moderne Energieversorgung von zentraler Be-
deutung sind. Die Bundesregierung möchte mit einem
solchen Klub auf internationaler Ebene neue politische
Akzente setzen und die Chancen, aber auch die Heraus-
forderungen einer zukünftigen modernen und klimaver-
träglichen Energieversorgung, die zu einem wachsenden
Anteil auf erneuerbaren Energien beruht, aufzeigen und
international diskutieren. Der Renewables Club kann an-
dere weltweit davon überzeugen, dass verstärkte Investi-
tionen in erneuerbare Energien wirtschaftliches Wachs-
tum und damit gesamtgesellschaftlichen Nutzen bringen.
Die Initiative kann außerdem Wege aufzeigen, wie
ein kosteneffizienter Ausbau erfolgen kann und die He-
rausforderungen der System- und Marktintegration der
Erneuerbaren bewältigt werden können. Die Nutzung
der Kernenergie ist nicht Gegenstand des Renewables
Club.
Ihre erste Nachfrage.
Schönen Dank, Frau Staatssekretärin. – Könnten Siebitte etwas mehr konkretisieren, wie bei der Initiierung
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23756 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 197. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Oktober 2012
Manfred Nink
(C)
(B)
dieses Klubs der Länder beispielweise das EuropäischeParlament, der Bundestag oder der Ausschuss der Regio-nen eingebunden sind, oder wird das eine reine Regie-rungsangelegenheit?Ka
Um es vorweg zu sagen: In der Tat ist dieser Klub
nicht als Konkurrenzveranstaltung zu bestehenden inter-
national sehr erfolgreichen Institutionen wie der IRENA
gedacht. Er ist vielmehr als ein Ort des Austauschs ge-
dacht und soll politische Impulse setzen und politisches
Agenda-Setting betreiben. Die Grundidee ist das Zusam-
menbringen von Regierungen, die eine positive Haltung
gegenüber den erneuerbaren Energien haben und diese
voranbringen wollen. Es handelt sich also um eine Er-
gänzung zu bestehenden internationalen Organisationen.
Wie ich sehe, Herr Nink, verzichten Sie auf Ihre zweite
Nachfrage.
Dann kommen wir zur Frage 15 der Kollegin
Waltraud Wolff:
Welche Rolle spielt in den Überlegungen der Bundesregie-
rung zur Endlagerung radioaktiver Abfälle die Möglichkeit,
eine europäische Lösung zu finden und von einer nationalen
Einlagerung Abstand zu nehmen?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Ka
Frau Kollegin Wolff, es entspricht der nationalen Ver-
antwortung, dass die in kerntechnischen Anlagen in
Deutschland angefallenen radioaktiven Abfälle auch in
Deutschland entsorgt werden. Diese klare Positionierung
wurde beim Beginn des Konsultationsprozesses betref-
fend die Entwicklung eines Auswahlverfahrens für einen
Endlagerstandort für insbesondere wärmeentwickelnde
radioaktive Abfälle im Dezember 2011 zwischen der
Bundesregierung und den Bundesländern getroffen.
Frau Wolff, wie ich sehe, verzichten Sie auf eine
Nachfrage. – Frau Kollegin Ute Vogt hat eine Nachfrage.
Frau Staatssekretärin, streben andere europäische Län-
der eine europäische Lösung des Problems der Endlage-
rung bzw. der Lagerung von hoch radioaktiven Abfällen
an?
Ka
Ja, solche Länder gibt es. Ich habe es so verstanden,
dass es eine Arbeitsgruppe der Europäischen Endlager-
Entwicklungs-Organisation gibt. Daran sind wir aber
nicht beteiligt, weil wir uns verpflichtet haben, selbst für
die Verbringung und die Lagerung kerntechnischen Ab-
falls zu sorgen.
Damit kommen wir zur Frage 16 der Kollegin
Waltraud Wolff:
Wie ist der Stand der Diskussion über eine europäische
Lösung für radioaktive Abfälle derzeit in Brüssel, und welche
Vorschläge wurden bisher konkret unterbreitet?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Ka
Frau Kollegin Wolff, im Rahmen der Entsorgungs-
richtlinie 2011/70/Euratom hat der Rat der Europäischen
Union die nationale Verantwortung für die Entsorgung
der radioaktiven Abfälle bekräftigt und die Mitgliedstaa-
ten verpflichtet, nationale Lösungen für die Entsorgung
dieser Abfälle voranzutreiben. Die Richtlinie geht aber
auch davon aus, dass Mitgliedstaaten eine gemeinsame
Nutzung von Endlagern vorsehen können, wenn sie sich
auf eine Vereinbarung zwischen den betreffenden Mit-
gliedstaaten stützt. Ein gemeinsames Endlager kann ins-
besondere für Mitgliedstaaten mit wenig Abfall oder un-
geeigneten geologischen Formationen zweckmäßig sein.
Konkret wurde die ERDO-Arbeitsgruppe – danach hat
Frau Vogt eben gefragt – gegründet, die die Option eines
gemeinsamen Endlagers untersucht. Mitglieder dieser
Arbeitsgruppe sind Österreich, Irland, die Niederlande,
Polen, Slowakei, Bulgarien, Italien, Litauen, Rumänien
und Slowenien, aber nicht Deutschland.
Ihre erste Nachfrage, bitte.
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin, für die Beantwor-
tung. – Sie haben ausgeführt, welche Länder sich an die-
ser Arbeitsgruppe beteiligen. Wie wir wissen, sind mit
dem Atomausstieg in Deutschland die Probleme nicht
gelöst. Die Bundesregierung hat erneut verlauten lassen,
sich um die Endlagerung radioaktiver Abfälle zu küm-
mern. Ein Atomendlagersuchgesetz ist auf dem Weg. Sie
suchen also nach einem geeigneten Endlager.
Frau Staatssekretärin, radioaktiver Abfall macht ja
nicht vor Grenzen halt. Wenn man mit dem Atomaus-
stieg in Deutschland auf europäischer Ebene verantwort-
lich umgehen will, dann würde mich schon interessieren,
wie die Bundesregierung, wenn sie auf europäischer
Ebene in den Arbeitsgruppen außen vor ist, diese Verant-
wortung in Europa wahrnehmen möchte.
Ka
Die Frage finde ich in mehrfacher Hinsicht interes-sant. Wir haben uns verpflichtet, unseren Abfall selbstzu entsorgen. Leider ist es nicht so, dass das Gesetz auf
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 197. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Oktober 2012 23757
Parl. Staatssekretärin Katherina Reiche
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dem Weg wäre; denn Rot-Grün sperrt sich gegen eineLösung bzw. erhebt immer neue Forderungen.Wir haben gesagt: Wir als Land, das die Kernenergieüber lange Zeit genutzt hat, müssen Verantwortung füreine sichere Endlagerung dieses Abfalls übernehmen.Würde Deutschland jetzt in eine solche Arbeitsgruppeeintreten – es ist übrigens keine EU-Arbeitsgruppe, son-dern ein Zusammenschluss von Vertretern aus EU-Län-dern; diese Gruppe ist nicht von einer EU-Ebene, etwader Europäischen Kommission oder dem Parlament, ein-gesetzt –, würde wahrscheinlich sofort, postwendend,der Vorwurf kommen: Aha, jetzt will sich Deutschlandelegant seines Abfallproblems entledigen.Es gibt hinreichend Arbeitsgruppen zur Entsorgung,zum Beispiel die ENSREG. Das ist die Ebene, auf derwir über Sicherheit sprechen. Sicherlich werden auchFragen der Endlagerung diskutiert. Aber wir wollen un-sere Probleme tatsächlich selbst anpacken und sehen unsauch in der Verpflichtung, dies zu tun, was nicht heißt,dass wir uns aus Diskussionen ausklinken.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
Ja, ich habe noch eine zweite Nachfrage. – Wenn Sie
an diesen Arbeitsgruppen auch nicht beteiligt sind: Ist
der Bundesregierung bekannt, ob in den Arbeitsgruppen
nach einem Endlager auf europäischem Gebiet gesucht
wird oder ob es auch Diskussionen gibt, europäischen
radioaktiven Müll in anderen Teilen der Welt zu lagern?
Ka
Solche Überlegungen sind mir nicht bekannt. Noch
einmal: Momentan werden die Mitglieder von interes-
sierten staatlichen Stellen dorthin delegiert. Es ist keine
EU-Arbeitsgruppe. Die IAEA und die Kommission ha-
ben lediglich Beobachter geschickt. Vermutungen, wie
Sie sie jetzt anstellen, kann ich nicht bestätigen; sie sind
mir nicht bekannt.
Damit kommen wir zur Frage 17 des Kollegen
Dr. Matthias Miersch:
Wird die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag vor
dem 20. Januar 2013 einen Gesetzentwurf zur bundesweiten
Suche nach einem Atommüllendlager in Deutschland vorle-
gen und, wenn nein, warum nicht?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Ka
Herr Kollege Miersch, die Bundesregierung hat in
dieser Legislaturperiode einen Konsultationsprozess mit
den Ländern und den politischen Parteien in Gang ge-
setzt, um einen Konsens über das weitere Vorgehen bei
der Suche und der Festlegung eines Endlagerstandorts
für insbesondere wärmeentwickelnde radioaktive Ab-
fälle zu erzielen. Dieser Prozess ist noch nicht beendet.
Eine Aussage dazu, ob und, wenn ja, wann ein Gesetz-
entwurf eingebracht werden wird, ist daher derzeit nicht
möglich.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Frau Staatssekretärin, es gab in der letzten Woche
mehrere Pressemeldungen – sie sind durch das Bundes-
umweltministerium nicht dementiert worden; jedenfalls
ist mir das nicht bekannt –, wonach der Bundesminister
Altmaier gesagt habe, er bringe ein Gesetz ein, sodass
eine Gesetzesberatung und Beschlussfassung des Deut-
schen Bundestages bis zum 20. Januar 2013, dem Tag
der niedersächsischen Landtagswahl, möglich sei. Wie
sehen Sie diese Verlautbarungen in der Presse? Gibt es
eine solche Verlautbarung durch das Ministerium?
Ka
Presseverlautbarungen kommentiere ich hier schon
mal gar nicht. Aber so viel: Das, was ich aus dem Pro-
zess beobachte, stimmt mich eher pessimistisch in der
Frage, ob seitens der SPD und der Grünen noch ein
ernsthaftes Interesse an einem solchen Konsens besteht.
Acht Termine haben stattgefunden. Ein grüner Minister-
präsident sagt, er sei bereit, diesen Weg jetzt zu gehen,
wird dann vom Fraktionsvorsitzenden Jürgen Trittin ge-
stoppt. Auf unserer Seite – das ist meine persönliche Be-
obachtung – stellt sich eher die Frage, ob Rot-Grün an
einem solchen Konsens interessiert ist. Es war ja nicht
Ziel, einfach nur einen Gesetzentwurf einzubringen; Ziel
war ja, einen nationalen Konsens nicht nur über den
Ausstieg aus der Kernenergie, sondern auch über das
Lösen der Endlagerfrage zu erzielen. Unser Angebot
liegt auf dem Tisch. Es ist jetzt an Ihnen, der Opposition
sowie den von SPD bzw. von den Grünen geführten Län-
dern, zu sagen, ob Sie diesen Weg mitgehen wollen.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
Nun geht es ja um einen Gesetzentwurf und nicht umein Konsultationspapier. Es wäre ja möglich, wenn einGesetzentwurf seitens der Bundesregierung vorliegt,dass der Bundesumweltminister diesen Gesetzentwurfnun einbringt. Habe ich Sie richtig verstanden, dass derBundesumweltminister nicht an die Einbringung einesGesetzentwurfs denkt, sondern nach wie vor den Kon-sultationsprozess als Voraussetzung für die Einbringungdieses Gesetzentwurfs ansieht?
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23758 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 197. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Oktober 2012
(C)
(B)
Ka
Der Minister denkt sehr wohl an einen konkreten Ge-
setzesvorschlag; das war ja auch verabredet. Es ging ja
nicht um Konsultationspapiere, sondern es ging am Ende
des Tages darum, ein Gesetz zu verabschieden, nämlich
ein Standortauswahlgesetz, bei dem jeder einzelne
Schritt mit parlamentarischer Abstimmung und der Be-
teiligung von Bundestag und Bundesrat erfolgt. Es wur-
den sogar konkrete Angebote an Herrn Trittin und Herrn
Gabriel geschickt. Das Endergebnis war, dass neue For-
derungen gestellt wurden. Insofern sage ich noch ein-
mal: Es liegt nicht an uns. Gehen Sie davon aus, dass wir
unsere Verantwortung kennen. Die Bundesregierung
hofft allerdings auch, dass andere Beteiligte – wie die
Länder – ihre Verantwortung ebenfalls kennen.
Damit kommen wir zur Frage 18 des Kollegen
Dr. Matthias Miersch:
Wie sieht die weitere Planung der Bundesregierung – so-
wohl zeitlich als auch verfahrenstechnisch – in Bezug auf die
frühzeitige Beteiligung der Öffentlichkeit und des Deutschen
Bundestages an der Erarbeitung eines Gesetzentwurfs zur
Endlagersuche für radioaktive Abfälle aus?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Ka
Herr Kollege Miersch, die Antwort ist relativ kurz;
denn die Beantwortung dieser Frage hängt von weiteren,
in der Antwort zu Frage 17 genannten Fragestellungen
ab.
Damit haben Sie das Wort zu Ihrer ersten Nachfrage.
Deswegen würde ich da gern nachfragen. Es gibt ein
verfassungsrechtlich sauberes Verfahren: Man kann das
aus dem Parlament heraus machen; man kann das von
der Bundesregierung aus machen. Es geht um einen Ge-
setzentwurf. Die Frage, die sich einfach stellt, ist: Inwie-
weit gedenkt die Bundesregierung, nun den Bundestag
zu befassen? Setzt der Bundesumweltminister sozusagen
auf ein Küchengespräch, oder setzt er auf einen Gesetz-
entwurf, und können wir mit diesem Gesetzentwurf in
diesem Jahr noch rechnen?
Ka
Herr Kollege Miersch, Ziel war es, einen möglichst
breiten Konsens hinzubekommen, um Bundestag und
Bundesrat gleichermaßen einzubinden. Noch hat der
Bundesumweltminister die Hoffnung, dass dies möglich
sein wird, nicht aufgegeben. Sollte sich zeigen, dass die
Opposition diesen Weg nicht mitgeht, werden wir einen
völlig normalen parlamentarischen Prozess beginnen.
Ihre zweite Nachfrage.
Können Sie dies noch einmal zeitlich – darum ging es
mir in meiner Frage – einordnen? Wann beginnen Sie
mit dem parlamentarischen Verfahren? Wie lange will
der Bundesumweltminister ausloten, ob es Ergebnisse
von Küchengesprächen bei einem guten Essen – oder
wie auch immer – gibt?
Ka
Herr Kollege Miersch, gutes Essen hat noch nieman-
den daran gehindert, zu guten Ergebnissen zu kommen.
Fakt ist, wir loten aus, ob ein Konsens möglich ist
und, wenn ja, welcher. Dann gehen wir ins Verfahren.
Sie haben allerdings vorhin ein Datum genannt, das bei
mir den Verdacht aufkommen lässt, Ihnen als Opposition
ginge es tatsächlich nur um die niedersächsische Land-
tagswahl und nicht um das Erreichen eines nationalen
Konsenses. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass eine
Wahlauseinandersetzung in einem Bundesland von Ih-
nen dazu instrumentalisiert werden könnte, diesen Kon-
sens zu torpedieren. Ich hoffe und setze immer noch da-
rauf, dass wir gemeinsam zu einer Lösung kommen.
Die Kollegin Vogt hat das Wort zu einer Nachfrage.
Frau Staatssekretärin, ich möchte gerne konkret wis-
sen, wann der Bundesumweltminister in der Lage ist, ei-
nen Gesetzentwurf im Deutschen Bundestag einzubrin-
gen; denn ich denke, über die wesentlichen Eckpunkte
besteht in der Tat schon an vielen Stellen Einigkeit.
Ka
Frau Kollegin Vogt, der Eindruck ist eben nicht, dass
Einigkeit besteht. Die Einigkeit bestand, bis sie Jürgen
Trittin aufgekündigt hat. Insofern laufen jetzt noch Ge-
spräche, um festzustellen, ob die Zustimmung auch sei-
tens der Länder und der Oppositionsparteien möglich ist.
Ist dies nicht möglich, gehen wir in das von mir skiz-
zierte Verfahren.
Die Frage 19 stellt die Kollegin Ute Vogt:Wie bewertet die Bundesregierung die Zeugenaussagender ehemaligen Bundesministerin für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit, Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel,vor dem 1. Untersuchungsausschuss „Gorleben“ des Deut-schen Bundestages am 27. September 2012: „Ich kann nachwie vor nicht einsehen, warum man einen Standort, den manso weit erkundet hat, nicht mal auf seine Eignung erkundenwill“ und: „Ich sage noch mal, dass ich zum damaligen Zeit-punkt und auch heute sagen würde …, … warum nicht mal
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Vizepräsidentin Petra Pau
(C)
(B)
gucken, ob Gorleben geeignet oder nicht geeignet ist“, vordem Hintergrund der öffentlichen Aussagen des Bundesminis-ters für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, PeterAltmaier, neben Gorleben auch alternative Standorte in einemergebnisoffenen Verfahren untersuchen zu wollen?Bitte, Frau Staatssekretärin.Ka
Die Ankündigung des Bundesministers für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit Peter Altmaier, alter-
native Standorte für die Endlagerung wärmeentwickeln-
der radioaktiver Abfälle in einem ergebnisoffenen Ver-
fahren untersuchen zu wollen, bedeutet, dass sich alle
potenziellen Standorte der Prüfung und dem Vergleich
anhand festgelegter wissenschaftlicher Kriterien zu un-
terziehen haben. Werden die noch festzulegenden Krite-
rien von einem Standort – das schließt Gorleben ein –
nicht erfüllt, scheidet dieser aus dem weiteren Auswahl-
verfahren aus.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Frau Staatssekretärin, die Bundeskanzlerin hat unter
anderem erklärt – ich zitiere –:
… warum nicht mal gucken, ob Gorleben geeignet
oder nicht geeignet ist.
Sie sagte:
Ich kann nach wie vor nicht einsehen, warum man
einen Standort, den man so weit erkundet hat, nicht
mal auf seine Eignung erkunden will.
Sehen Sie darin nicht ein Prä der Bundeskanzlerin,
zuerst Gorleben zu untersuchen, bevor man andere
Standorte untersucht?
Ka
Nein, das sehe ich nicht. Im Übrigen hat die Bundes-
kanzlerin recht.
Ich habe noch eine Nachfrage: Ist die Strategie des
Bundesumweltministers mit der Bundeskanzlerin abge-
stimmt?
Ka
Wir stimmen solch wichtige Fragen selbstverständ-
lich ab. Im Übrigen haben sowohl der Bundesumwelt-
minister als auch die Kanzlerin darauf hingewiesen, dass
nicht festgestellt ist, dass Gorleben nicht geeignet ist.
Das steht nicht fest. Insofern muss man zunächst Krite-
rien festlegen, und dann kann man ausschließen oder
einschließen. Das ist der Weg, den wir jetzt miteinander
gehen wollen.
Das Wort hat der Kollege Miersch zu einer Nach-
frage.
Frau Staatssekretärin, die Regierungschefin behaup-
tete vor 14 Tagen in einem Ausschuss des Deutschen
Bundestages, sie sehe nicht ein, warum man einen
Standort nicht erst einmal zu Ende erkundet. Ist das nicht
genau das, was augenblicklich gerade von den Men-
schen in Niedersachsen befürchtet wird, dass Gorleben
nämlich Referenzstandort bleibt, und zwar bis zum
Schluss?
Ka
Den Begriff „Referenzstandort“ haben Sie gerade ver-
wandt. Wir haben gesagt, wir wollen ein Gesetz vorle-
gen – das haben wir gerade miteinander besprochen –,
das zunächst wissenschaftliche Kriterien festlegt. Wenn
diese wissenschaftlichen Kriterien feststehen, wird man
sehen, welche Standorte geeignet oder nicht geeignet
sind. Die Bundeskanzlerin hat völlig zutreffend festge-
stellt, dass nicht festgestellt worden ist, dass Gorleben
nicht geeignet ist. Insofern Gorleben aus politischen
Gründen – das versuchen Sie gerade – herauszunehmen,
widerspricht unserem wissenschaftsbasierten Ansatz.
Die Kollegin Flachsbarth hat auch eine Nachfrage.
Bitte.
Frau Staatssekretärin, können Sie mir zustimmen,
dass der damalige Bundesumweltminister Gabriel Gorle-
ben als Referenzstandort definieren wollte? Können Sie
meiner Auffassung zustimmen, dass die derzeitige Bun-
desregierung auf das Ersuchen der Opposition sehr weit
zugegangen ist, Gorleben als einen von anderen Standor-
ten zu definieren und nach den Kriterien zu bewerten,
die gemeinsam erarbeitet werden müssen? Und: Geben
Sie mir recht, dass es nur noch kleiner Anstrengungen
bedürfen würde – wenn man es denn wollte –, einen
Konsens herzustellen?
Ka
Ich gebe Ihnen recht, Frau Kollegin – das besprechenwir schon seit gut einer Viertelstunde miteinander –: Esist die Auffassung von Herrn Gabriel gewesen. Ob er siejetzt noch teilt, kann ich nicht mehr erkennen, zumindestnicht bei der Art und Weise, wie er sich auf unsere Vor-schläge nicht eingelassen hat. Deshalb kann ich hier nurnoch einmal unser Angebot wiederholen, in ein gemein-
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Parl. Staatssekretärin Katherina Reiche
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sames Verfahren zu gehen und zu einem Konsens zukommen.
Die letzte Nachfrage dazu stellt die Kollegin Wolff.
Frau Staatssekretärin, Sie haben den Begriff „Refe-
renzstandort“ nicht in den Mund genommen. Dennoch
ist Gorleben von Anbeginn in diesem Verfahren. Können
Sie ausschließen, dass Gorleben als Referenzstandort
Gegenstand der Beratung ist?
Ka
Frau Kollegin Wolff, wir wollen eine ergebnisoffene
Suche. Gemeinsam mit dem Deutschen Bundestag wol-
len wir Schritt für Schritt Kriterien dafür festlegen, wie
gesucht wird und was geeignet erscheint.
Gorleben kommt als einer von mehreren möglichen
Standorten infrage. Solange nicht festgestellt ist, dass
Gorleben nicht geeignet ist, kann Gorleben im Verfahren
bleiben und sollte nicht aus politischen Gründen – es
sind ausschließlich politische Gründe, die hier angeführt
werden – herausgenommen werden.
Wir kommen zur Frage 20 der Kollegin Ute Vogt:
Wie bewertet die Bundesregierung diese Aussagen – siehe
Frage 19 – der ehemaligen Bundesministerin für Umwelt, Na-
turschutz und Reaktorsicherheit, Bundeskanzlerin Dr. Angela
Merkel, vor dem Hintergrund des Haushaltsentwurfs der Bun-
desregierung, der 76 Millionen Euro zur Erkundung des Pro-
„Erkundung weiterer Standorte für die Endlagerung radioakti-
ver Abfälle“ hingegen nur 3,5 Millionen Euro bereitgestellt
Ka
Frau Kollegin Vogt, die Bundesregierung strebt einen
parteiübergreifenden Konsens zur Auswahl des End-
lagerstandortes an. Die Konsultationen sind noch nicht
abgeschlossen. Insofern berücksichtigt der Haushaltsent-
wurf für das Jahr 2013 die bisherigen Planungen.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Frau Staatssekretärin, ist Ihnen bekannt, dass „Refe-
renzstandort“ bedeuten würde, dass man alle neuen
Standorte mit Gorleben vergleicht, während „ergebnis-
offene Erkundung“ bedeuten würde, dass alle Standorte
inklusive Gorleben sich einer Prüfung nach den gleichen
Kriterien unterziehen müssten? Würden Sie in Kenntnis
dieses Unterschieds bestätigen, dass für eine Untersu-
chung unter gleichen Kriterien ein Erkundungsstopp in
Gorleben notwendig wäre und damit das Geld nicht er-
forderlich sein würde?
Ka
Frau Kollegin Vogt, auch ein erneuter Versuch macht
die ganze Sache nicht besser.
Ich wollte es Ihnen erklären.
Ka
Man kann es ja noch einmal versuchen. – Der Haus-
haltsentwurf ist so aufgestellt worden, dass er die derzei-
tige gesetzliche Grundlage abbildet. Sollte sich der
gordische Knoten tatsächlich durchschlagen lassen,
muss man verschiedene Aspekte berücksichtigen.
Hierzu gehört nicht nur die Frage, wie das Verfahren
hinsichtlich seiner Abläufe gestaltet wird, sondern si-
cherlich auch die Frage einer finanziellen Beteiligung
derer, die kerntechnischen Abfall produzieren.
Es gibt viele Fragen, die noch zu klären wären. Diese
Fragen brauchen wir momentan aber nicht zu klären,
weil es noch keine gesetzliche Grundlage gibt. Hieran
versuchen wir, wie gesagt, weiterhin konsensual zu ar-
beiten.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
Ich habe keine weiteren Fragen mehr.
Sie verzichten.Da die Fragen 21 und 22 der Abgeordneten SylviaKotting-Uhl schriftlich beantwortet werden sollen, sindwir am Ende des Geschäftsbereichs des Bundesministe-riums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.Herzlichen Dank, Frau Staatssekretärin.Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums für Bildung und Forschung. Die Frage 23des Kollegen Willi Brase, die Frage 24 des KollegenKlaus Hagemann und die Frage 25 des Kollegen SwenSchulz sollen schriftlich beantwortet werden.Damit sind wir beim Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung. Auch hier sollen die Fragen schriftlich be-antwortet werden. Es geht um die Fragen 26 und 27 desKollegen Dr. Sascha Raabe und um die Frage 28 desKollegen Thilo Hoppe.Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministe-riums für Wirtschaft und Technologie auf. Die Frage 29der Kollegin Katja Keul und die Fragen 30 und 31 derKollegin Bärbel Höhn sollen schriftlich beantwortet
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 197. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Oktober 2012 23761
Vizepräsidentin Petra Pau
(C)
(B)
werden, wie auch die Frage 32 der Kollegin Lisa Pausund die Frage 33 des Kollegen Manuel Sarrazin.Ich rufe den Geschäftsbereich des AuswärtigenAmtes auf. Zur Beantwortung der Fragen steht dieStaatsministerin Cornelia Pieper zur Verfügung.Ich rufe die Frage 34 des Kollegen Uwe Kekeritz auf:Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über Gewaltund Arbeitsrechtsverletzungen gegen Minenarbeiter inMarikana, Südafrika, und inwieweit sind nach dem Kenntnis-stand der Bundesregierung deutsche Unternehmen und derenZulieferer- und Tochterunternehmen in die aktuellen Vor-kommnisse involviert?C
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich beantworte die
Frage des Abgeordneten Kekeritz wie folgt: Im Rahmen
eines Polizeieinsatzes gegen illegal streikende Berg-
arbeiter am 16. August dieses Jahres wurden im südafri-
kanischen Marikana mindestens 34 Menschen getötet
und mehrere Dutzend zum Teil schwer verletzt.
Bereits im Vorfeld waren bei gewaltsamen Auseinan-
dersetzungen zehn Menschen umgekommen, darunter
zwei Polizisten. Staatspräsident Zuma hat am 23. August
2012 eine unabhängige Untersuchungskommission mit
richterlichen Befugnissen eingesetzt. Diese verfügt über
ein umfassendes Mandat einschließlich der Untersu-
chung von Rechtsverletzungen. Die Ergebnisse der
Kommission werden für Anfang nächsten Jahres erwar-
tet. Ein interministerieller Ausschuss kümmert sich um
die Belange der Betroffenen bzw. ihrer Hinterbliebenen.
Herr Abgeordneter, ich will auch noch erwähnen,
dass deutsche Unternehmen nach Kenntnis der Bundes-
regierung nicht in die Vorgänge in Marikana involviert
waren.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Danke schön für die Beantwortung. – Sie sagten eben:
„illegal Streikende“. Sind Sie sich sicher, dass es sich
hier um einen illegalen Streik handelte? Wenn Sie sich
dessen sicher sind: Woran machen Sie das eigentlich
fest? Was ist die Rechtsvoraussetzung, um es als „illega-
len Streik“ zu bezeichnen?
C
Herr Abgeordneter, wie Sie wissen, kämpft Südafrika
noch mit dem sozioökonomischen Erbe der Apartheid.
Die hohe Arbeitslosigkeit und die soziale Ungleichheit
in dem Land bilden eine schwere Hypothek. In Süd-
afrika wird über Strategien zur Lösung dieser Herausfor-
derungen kontrovers diskutiert. Deutschland ist bestrebt,
im Rahmen einer umfassenden bilateralen Partnerschaft
zur friedlichen, stabilen Entwicklung des Landes beizu-
tragen. Sie haben gehört, dass die südafrikanische Regie-
rung gewillt ist, an einer lückenlosen Aufklärung der
Geschehnisse zu arbeiten. Ich habe Ihnen den Sachstand
wiedergegeben, der uns von der südafrikanischen Regie-
rung so bekannt ist.
Ihre zweite Nachfrage?
Ja.
Bitte.
Die Vorfälle wurden weltweit diskutiert. Da stellt sich
schon die Frage, ob von Deutschland oder – besser noch
– auf europäischer Ebene Initiativen ergriffen werden,
um soziale Standards bei der Beschaffung von Rohstof-
fen durchzusetzen. Inwieweit denken Sie in diese Rich-
tung? Verfolgen Sie vielleicht schon konkrete Ansätze,
um demnächst soziale Standards beim Bezug von Roh-
stoffen oder Lebensmitteln einzuführen?
C
Herr Abgeordneter, Sie haben genau wie ich verfolgt,
dass Staatspräsident Zuma dieses Thema anlässlich des
fünften EU-Südafrika-Gipfels am 18. September dieses
Jahres von sich aus in sehr offener Weise angesprochen
hat. Ähnliche Erfahrungen machte der Bundesminister
für Wirtschaft und Technologie, Dr. Rösler, anlässlich
seiner Reise nach Südafrika am 4. und 5. Oktober dieses
Jahres. Natürlich begrüßen wir den Willen zur Aufklä-
rung. Wir sind dabei, Südafrika mit entsprechenden
Maßnahmen und Projekten zu unterstützen. Ich denke,
es wird auch auf EU-Ebene weiterhin darüber diskutiert.
Der Kollege Schwabe hat eine Nachfrage.
Darf ich einmal nachfragen? Ich habe es einfach nicht
verstanden; Sie haben da etwas vorgelesen. Die Frage
war, ob die Bundesregierung über soziale Standards bei
der Rohstoffbeschaffung nachdenkt. Ich war vor kurzem
in Kolumbien und habe mir angeschaut, woher zum Bei-
spiel die Steinkohle kommt, die in deutschen Steinkohle-
kraftwerken verbraucht wird; ich habe mich mit den
Arbeitsbedingungen beschäftigt. Es wäre für die Men-
schen vor Ort sehr hilfreich, wenn es Kriterien zum Bei-
spiel beim Import von Steinkohle gäbe. Es wäre gut,
wenn es zumindest Transparenzrichtlinien gäbe, damit
klar wird, woher die Rohstoffe eigentlich kommen. Gibt
es solche Überlegungen in der Bundesregierung?
C
In erster Linie ist es die Aufgabe der südafrikanischenRegierung – Herr Abgeordneter, das wissen Sie –, fürNormalität, soziale Stabilität, aber auch soziale Stan-dards in diesem Bereich zu sorgen. Natürlich sind wir,
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23762 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 197. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Oktober 2012
Staatsministerin Cornelia Pieper
(C)
(B)
auch die Bundesminister, die Südafrika besuchen, mitder dortigen Regierung im Gespräch – das habe ich ge-rade gesagt –, damit Grundlagen für bessere Arbeitsbe-dingungen geschaffen werden können, gerade auch inden Minen, in denen solche schrecklichen Dinge passie-ren.
Die Fragen 35 und 36 des Kollegen Tom Koenigs sol-
len schriftlich beantwortet werden, wie auch die Fra-
gen 37 und 38 der Kollegin Inge Höger. Auch die
Frage 39 der Kollegin Viola von Cramon-Taubadel soll
schriftlich beantwortet werden. Die Fragen 40 und 41
des Kollegen Omid Nouripour werden ebenfalls schrift-
lich beantwortet.
Damit sind wir am Ende des Geschäftsbereichs des Aus-
wärtigen Amts. Danke, Frau Staatsministerin.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums des Innern. Zur Beantwortung der Fragen
steht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Christoph
Bergner zur Verfügung.
Die Frage 42 der Kollegin Haßelmann und die Fragen
43 und 44 des Kollegen Ströbele werden schriftlich be-
antwortet. Auch die Frage 45 des Kollegen Hunko soll
schriftlich beantwortet werden.
Ich rufe die Frage 46 der Kollegin Dr. Martina Bunge
auf:
Welche Positionen aus welchen Landesregierungen in den
neuen Bundesländern lagen der Aussage des Bundesministers
des Innern, Dr. Hans-Peter Friedrich, am 26. September 2012
bei der Befragung der Bundesregierung zugrunde, es gebe
„bisher keine einheitliche Haltung der Landesregierungen in
den neuen Ländern in der Frage der Angleichung des Renten-
systems“ ?
Bitte, Herr Staatssekretär.
D
Frau Kollegin Bunge, ich beantworte Ihre Frage,
welche Positionen aus welchen Landesregierungen be-
züglich der Rentenangleichung der Bundesregierung
vorlagen, wie folgt:
Bei der Befragung der Bundesregierung zum Jahres-
bericht zum Stand der Deutschen Einheit hat der Bun-
desminister des Innern dem Wunsch der Bundesregie-
rung Ausdruck verliehen, dass in der Frage der
Vereinheitlichung der Rentensysteme Ost und West ein
Konsens auch mit den Ländern herbeigeführt wird. Die
bislang diskutierten Modelle sind derzeit nicht geeignet,
eine Lösung im Sinne aller Beteiligten herbeizuführen.
Das heißt, eine entsprechende Konsenslösung lag nicht
vor, und dies war die Grundlage der Aussage des Minis-
ters in der Fragestunde.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Danke, Herr Bergner. – In Reaktion auf diese Antwort
des Bundesinnenministers in der letzten Sitzungswoche
hat sich auch die Ministerpräsidentin von Thüringen – in
Klammern: CDU –, die zugleich Vorsitzende der Minis-
terpräsidentenkonferenz ist, zu Wort gemeldet und ge-
sagt, sie sehe hier die Bundesregierung in der Pflicht.
Laut Pressemeldung hat sie ihr sogar Arbeitsverweige-
rung vorgeworfen. Sehen Sie in einer solchen renten-
rechtlichen Frage nicht auch die Bundesregierung bzw.
generell die Bundesebene in der Verantwortung, einen
Vorschlag vorzulegen, den die Länder zunächst diskutie-
ren? Erst danach kann entschieden werden: Gibt es eine
einheitliche Meinung?
D
Frau Kollegin Bunge, ich gebe Ihnen unumwunden
recht, dass die Verantwortung – auch die gesetzgeberi-
sche Verantwortung – beim Bund liegt. Gleichwohl hat
auch der Amtsvorgänger von Minister Friedrich schon
sehr früh zu Anfang dieser Wahlperiode im Gespräch
mit der Ministerpräsidentin und den Ministerpräsidenten
der neuen Länder keinen Zweifel daran gelassen, dass er
sich bei dieser sensiblen Frage einen Konsens mit den
Ministerpräsidenten als gewissermaßen politischen Re-
präsentanten der neuen Bundesländer wünscht, und ge-
nau das ist der Hintergrund der Diskussion.
Es gibt verschiedene Modelle: Sie selbst haben im
Deutschen Bundestag ein Modell eingebracht; der Sach-
verständigenrat hat ein Modell eingebracht, dem sich die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen weitgehend ange-
schlossen hat. Wir können zum gegenwärtigen Zeitpunkt
feststellen, dass keines dieser Modelle zu einem Konsens
mit den neuen Bundesländern – übrigens auch nicht mit
dem Beauftragten für die neuen Bundesländer – führen
könnte. Dies ist der Grund dafür – das haben wir im Be-
richt zum Stand der Deutschen Einheit zum Ausdruck ge-
bracht –, dass wir gesagt haben: Unter diesen Umständen
sollte am bewährten System festgehalten werden. Dieses
verhindert ja, dass das jetzt in den neuen Bundesländern
herrschende niedrigere durchschnittliche Lohnniveau
den heutigen Beitragszahlern, wenn sie in 10 oder 20 Jah-
ren in Rente gehen, bei der Ermittlung der Entgeltpunkte
nachträglich zum Nachteil gereicht.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
Diesbezüglich vertreten wir unterschiedliche Stand-punkte. Ich meine Folgendes: Auch wenn das Einkom-men vergleichbar ist, werden unterschiedliche Renten-werte berechnet.Der Bundesinnenminister spricht von einem regiona-len Unterschied, da das Lohnniveau im Osten niedrigerist. Diese Begründung findet sich auch in anderen Publi-kationen der Bundesregierung. Würden Sie als Ostbeauf-tragter mir zustimmen, dass das niedrigere Lohnniveauin Ostdeutschland auch mit dem Verlauf des Einigungs-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 197. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Oktober 2012 23763
Dr. Martina Bunge
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prozesses in wirtschaftspolitischer Hinsicht – Stich-worte: verlängerte Werkbank, kaum Forschung und Ent-wicklung, weniger Wertschöpfung – zusammenhängt?Würden Sie mir zustimmen, dass die Tatsache, dass wirin Ostdeutschland im Durchschnitt ein niedrigeres Lohn-niveau und damit einhergehend auch ein niedrigeresRentenniveau haben, Folge eines strukturellen Problemsist? Würden Sie mir zustimmen, dass Ostdeutschland in-sofern nicht mit Ostfriesland zu vergleichen ist, wie derBundesminister es getan hat? Würden Sie mir zustim-men, dass die Bundesregierung in der Verantwortungsteht, wenn es Verwerfungen sozialer Art gibt?D
Frau Kollegin Bunge, Ihre Analyse, der ich durchaus
zustimme, ist doch gerade ein Plädoyer für das beste-
hende System.
Wenn wir davon ausgehen – diesbezüglich stimme ich
Ihnen ja durchaus zu –, dass die Ursache für das im Ver-
gleich zum durchschnittlichen Lohnniveau im Westen
niedrige Lohnniveau in den neuen Bundesländern teilungs-
bedingt ist – dabei geht es auch um die wirtschaftliche
Ausgangslage der DDR –, dann sind wir gewissermaßen
auch verpflichtet, ein selbstständiges Erfassungssystem
zu nutzen, das sich nach dem jeweiligen Lohnniveau
richtet. Wenn wir durch politische Entscheidungen den
Rentenwert angleichen, dann sind die Aufwertungen der
Beitragsleistungen in den neuen Bundesländern erklä-
rungsbedürftig. Das würde nämlich sofort zu einem Ver-
gleich mit Regionen in den alten Bundesländern führen,
in denen das Lohnniveau ebenfalls niedrig ist. Dieser
Aspekt führt im Ergebnis dazu, dass man sagt: Wenn
man kein besseres Konsensmodell findet, bleibt man bei
dem bestehenden, weil es unter diesen Umständen das
gerechteste ist.
– Ich wäre dankbar, wenn Frau Enkelmann diese Be-
hauptung in eine Frage kleiden würde.
Ich würde sie nämlich gerne zurückweisen.
Es sieht im Moment nicht so aus, als würde sie Ihnen
diesen Wunsch erfüllen.
Vielleicht stellt Ihnen aber die Kollegin Behm eine
Frage, die Ihnen die Möglichkeit gibt, das, was Sie noch
loswerden wollten, zu sagen, Herr Bergner. – Bitte.
Ich weiß nicht, was die Kollegin Dagmar Enkelmann
fragen wollte. Ich habe zu diesem Komplex eine Fülle
von Fragen.
Was mich beschäftigt, ist Folgendes: Die Kanzlerin
hat zu Beginn der Legislaturperiode versprochen, in die-
ser Legislaturperiode eine Rentenangleichung zwischen
Ost und West hinzubekommen. Das hat ihr natürlich eine
ganze Menge Zuspruch von Ostdeutschen eingebracht.
Jetzt sagt sie bzw. die Bundesregierung: Nein, wir haben
kein Modell. Wir können uns mit den Bundesländern
nicht einigen. Deswegen bleibt alles beim Alten. – Dies
führt zu einem großen Vertrauensverlust. Gleichzeitig
zeigt das eine gewisse Unfähigkeit der Bundesregierung,
sich dem Thema mit der notwendigen Ernsthaftigkeit zu
widmen; denn es gibt Modelle, zum Beispiel das Modell
der Grünen. Unser Modell zur Rentenangleichung würde
für sozialen Frieden sorgen – in dieser Frage steht der
soziale Friede in Ostdeutschland wirklich auf der
Kippe – und helfen, Altersarmut zu verhindern, und
zwar sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland. Ich
würde Sie gerne fragen, warum die Bundesregierung es
nicht schafft, sich mit den Oppositionsfraktionen, die gut
durchgerechnete und sehr sinnvolle Modelle vorgelegt
haben, an einen Tisch zu setzen, um diese Sache noch im
Laufe dieser Legislaturperiode zu einem guten Ende zu
bringen.
D
Frau Kollegin, ich habe meine Argumente bereits inmeiner Antwort auf die Frage der Kollegin Bunge vorge-tragen. Ich habe gesagt, warum ich das Modell, das dieLinke vorgeschlagen hat, für nicht konsensfähig halte.Möglicherweise ist es auch verfassungsrechtlich nichttragfähig.Ich sage Ihnen auch gerne, weshalb ich das Modell,das Bündnis 90/Die Grünen vorgeschlagen haben unddas auf dem Votum des Sachverständigenrats beruht, fürnicht konsensfähig halte. Ich selbst als Beauftragter derBundesregierung für die neuen Bundesländer müssteIhnen schon allein deshalb den Konsens verweigern,weil es zu einer maßlosen Enttäuschung der jetzigen Be-standsrentner in den neuen Bundesländern führen würde.
Ich weiß nicht, wie genau Sie sich mit Ihrem eigenenModell auseinandergesetzt haben. Sie wollen gewisser-maßen die Angleichung des Rentenwertes durch eineGegenrechnung bei den Entgeltpunkten kompensieren.Unter dem Strich blieben die Renten in den neuen Bun-desländern praktisch gleich, wobei zumindest ein Bezugzur allgemeinen Lohnentwicklung hergestellt wird.Ich will darauf aufmerksam machen, dass die Erwar-tungshaltung der allermeisten Rentnerinnen und Rentnerin den neuen Bundesländern dem diametral entgegen-steht. Dort erwartet man von einer wie auch immer be-
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Parl. Staatssekretär Dr. Christoph Bergner
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gründeten Anhebung des Rentenwerts auch eine ver-gleichbare Anhebung der Rentenleistung. Insofern kannich mich mit Blick auf diese Erwartungshaltung IhremVorschlag nicht anschließen.
Es gibt jetzt eine weitere Meldung zu einer Nach-
frage, nämlich durch den Kollegen Wunderlich.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Staatssekretär,
sehen Sie vielleicht eine Möglichkeit, einen Konsens
herbeizuführen, darin, dass man als Grundlage für die
Rentenwertberechnung, für die Rentenpunkte nicht das
Bundesdurchschnittseinkommen, sondern nach Ost und
West differenzierte Durchschnittseinkommen nimmt?
Denn die Höherpunktung durch das Bundesdurch-
schnittseinkommen, durch diese verfälschten Einkom-
menswerte führt ja letztlich zu diesem Gefälle. Könnte
man da einen Schnitt machen und das ostdeutsche
Durchschnittseinkommen als Grundlage für die Berech-
nung der Rentenwerte nehmen?
D
Sie meinen, dass man das ostdeutsche Durchschnitts-
einkommen auch für die Berechnung des Rentenwerts
West als Grundlage nehmen sollte? Ich würde sagen,
dass ein solcher Beschluss rentenrechtlich und mögli-
cherweise auch verfassungsrechtlich vollkommen an-
greifbar ist. Ich wüsste im Übrigen auch nicht, worin der
Wert dieser Entscheidung läge. Ich habe diesen Vor-
schlag noch nicht geprüft,
aber ich habe große Zweifel, dass dies renten- und ver-
fassungsrechtlich möglich ist; denn das bedeutete einen
Eingriff in die Leistungen der Bestandsrentner in den al-
ten Bundesländern.
Es haben sich noch die Kollegin Haßelmann und die
Kollegin Gleicke gemeldet. Diese zwei Fragen lasse ich
noch zu. – Bitte, Frau Haßelmann.
Ihre Aussage zu den Bestandsrenten stimmt doch so
überhaupt nicht; das haben Sie nicht richtig dargestellt.
Sie haben durch meine Frage die Gelegenheit, diese
Aussage in Ihrer Antwort zu korrigieren. Die von Ihnen
hier vertretene Auffassung ist jedenfalls nicht zutref-
fend; aber bei meiner Frage an Sie geht es um etwas an-
deres.
Es ging meiner Kollegin Cornelia Behm nicht darum,
dass Sie die Vorschläge der Grünen oder die Vorschläge
der SPD bewerten. Ich möchte Sie fragen, wann CDU/CSU
und FDP und die von ihnen getragene Bundesregierung
endlich einen Vorschlag für die Lösung dieses Problems
vorlegen.
Sie haben in dieser Legislaturperiode hier im Haus im-
mer wieder betont, dass es ein Problem gibt, das man lö-
sen muss. Wir nähern uns jetzt dem Ende der Legislatur-
periode und sind bisher mit keinem Vorschlag von CDU/
CSU und FDP konfrontiert worden.
Wann gedenken Sie, etwas vorzulegen?
D
Frau Kollegin, ich habe in meiner Position als Beauf-
tragter für die neuen Bundesländer nie einen Zweifel da-
ran gelassen, dass ich nach Prüfung aller mir bekannten
und auch in der Bundesregierung erörterten Modelle
unter dem Gesichtspunkt, dass ich in den neuen Bundes-
ländern keine Verlierer haben möchte bzw. keine zusätz-
liche Enttäuschung verursachen möchte, bei der Beibe-
haltung des bestehenden Modells bleibe.
Es kommt noch ein zweiter Gesichtspunkt hinzu, den
ich als Beauftragter für die neuen Bundesländer nicht
unerwähnt lassen möchte. Das bisherige Modell geht da-
von aus, dass sich im Zuge einer Entwicklung die Löhne
in den neuen Bundesländern an die in den alten Bundes-
ländern weitgehend angleichen werden. Ich gebe zu,
dass die Entwicklung der letzten Jahre in dieser Hinsicht
nicht sehr ermutigend war. Aber wenn wir gewisserma-
ßen aus dem System aussteigen und einen einheitlichen
Rentenwert schaffen, ist das meiner Auffassung nach das
Signal, dass wir die Hoffnung auf eine Angleichung der
Lohnverhältnisse aufgegeben haben. Das möchte ich als
Beauftragter der Bundesregierung für die neuen Bundes-
länder nicht tun.
– Für mich ist das bestehende System nach Prüfung aller
Umstände noch immer das gerechteste, das wir gegen-
wärtig anbieten können.
Das Wort hat die Kollegin Gleicke.
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Herr Kollege Bergner, gerade Ihr letzter Satz veran-
lasst mich zunächst einmal zu der Feststellung, dass
auch im neuen Bericht zum Stand der Deutschen Ein-
heit, den wir demnächst debattieren wollen, darauf hin-
gewiesen wird, dass die Einkommensunterschiede in Ost
und West wieder weiter auseinanderklaffen. Das heißt,
die Situation ist noch dramatischer geworden. Das Ni-
veau der Einkommen im Osten lag schon einmal bei
83 Prozent des Westdurchschnitts; unterdessen sind es
nur noch 80 Prozent. Sie haben die ganzen Jahre zusam-
men mit Ihren Parteifreunden die Auffassung vertreten,
dass es ganz toll ist, dass die Löhne in Ostdeutschland
niedriger sind. Insofern frage ich Sie erstens, was Sie tun
werden, um die Tarifbindung und die Zahlung von Tarif-
löhnen in Ostdeutschland voranzutreiben, damit sich
diese Lücke schließt.
Zweitens. Zu diesem Thema liegen ja mehrere Vor-
schläge auf dem Tisch. Alle drei Oppositionsfraktionen
haben dazu unterschiedliche Vorschläge gemacht. Wir
haben einen Härtefallfonds für bestimmte Berufsgrup-
pen und Betroffene gefordert. Im Rahmen eines Härte-
fallfonds könnte man zum Beispiel für in der DDR Ge-
schiedene eine sozialverträgliche Lösung finden. Wir
haben gesagt: Was man sofort machen könnte, ist, die
pauschal bewerteten Versicherungszeiten für Kinderer-
ziehung und Pflege von Angehörigen oder für Wehr- und
Zivildienstzeiten anzurechnen.
Wir machen uns zu diesem Thema Gedanken; denn
wir alle wissen, dass ein geteiltes Rentenrecht 22 Jahre
nach der deutschen Einheit keine Akzeptanz mehr hat.
Man muss sich Folgendes vor Augen halten: Jemand,
der im September dieses Jahres zu arbeiten angefangen
hat, dessen Arbeitsbiografie also gerade erst begonnen
hat, wird, wenn er im Jahre 2057 in Rente geht, in seiner
Rentenbiografie noch immer DDR-Rentenbezüge fin-
den. Das ist doch wirklich nicht mehr hinzunehmen.
Wann tun Sie hier endlich etwas?
D
Aber das ist doch gar nicht so.
Natürlich ist es so.
D
Frau Kollegin, Sie nannten gerade das Beispiel eines
jungen Mannes, der im Osten zu arbeiten beginnt.
– Oder das Beispiel einer jungen Frau. – Sie unterstell-
ten, der Umstand, dass man zu niedrigeren Löhnen im
Osten zu arbeiten begonnen hat, werde noch im Jahre
2057 in der Rentenbiografie abgebildet. Wenn Sie diese
Behauptung aufstellen, haben Sie das gegenwärtige Sys-
tem nicht verstanden.
Das gegenwärtige System beruht gerade darauf, dass
sich das im Osten gegenwärtig niedrigere Lohnniveau in
30 oder 40 Jahren, wenn man in Rente geht, nicht in den
Entgeltpunkten niederschlägt. Das ist der große Vorteil
des gegenwärtigen Systems, der in der Öffentlichkeit lei-
der nicht hinreichend bekannt ist.
Was Ihre zweite Bemerkung angeht, will ich darauf
hinweisen, dass der Härtefallfonds, den Sie vorgeschla-
gen haben, jedenfalls nach meiner Kenntnis an eine an-
dere Problematik anknüpft, nämlich an die offenen Fra-
gen im Bereich der Sonderversorgungssysteme. Die
Frage von Frau Bunge betraf allerdings die allgemeine
Angleichung.
Insofern müsste man darüber in einem anderen Zusam-
menhang diskutieren.
Die Antwort auf die Frage, ob es eine isolierte An-
rechnung bzw. Angleichung der unterschiedlichen Erzie-
hungszeiten gibt, wird einer weiteren Prüfung vorbehal-
ten sein. Das ist ein Vorschlag, für den ich durchaus ein
gewisses Verständnis habe, weil er nicht in die Systema-
tik insgesamt eingreift.
Was die niedrigeren Löhne im Osten betrifft, haben
Sie zu Recht darauf hingewiesen, dass sie darauf zurück-
zuführen sind, dass in den neuen Bundesländern niedri-
gere Tarife herrschen. Die meisten Tarife sind allerdings
angeglichen. Für mich ist jedoch nicht immer erklärlich,
warum die Tarifpartner für den Mindestlohnbereich noch
immer unterschiedliche Regelungen für Ost und West
treffen; aber das ist Sache der Tarifpartner. Hier handelt
es sich tatsächlich um strukturelle Nachteile, die aus
meiner Sicht, technisch ausgedrückt, einigungsbedingt
sind, die also noch immer den Strukturwandel in den
neuen Bundesländern im Einzelnen abbilden. Diese
Schwierigkeiten sind zu überwinden. Der Ansatzpunkt,
um die Voraussetzungen für ein gleiches Lohnniveau in
Ost und West zu schaffen, sind strukturelle Maßnahmen,
die sich auch im Rentenniveau niederschlagen sollten.
Ich weiß nicht, wen Sie zitieren, wenn Sie sagen,
meine Parteifreunde oder ich hätten gesagt, es sei toll,
dass die Löhne im Osten niedriger seien.
Wir haben immer darauf hingewiesen, dass im Struktur-
wandel die Lohnstückkosten eine entscheidende Rolle
für die Wettbewerbsfähigkeit spielen. Aber toll haben
wir das nie gefunden.
Ohne Zweifel ist das eine Debatte, die fortgesetztwerden muss. Herr Staatssekretär, ich muss Ihnen mittei-
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23766 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 197. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Oktober 2012
Vizepräsidentin Petra Pau
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len, dass es noch eine weitere Nachfrage gibt, und zwarvom Kollegen Lemme.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Staatssekretär
Bergner, ich frage Sie noch einmal nach der Anrechnung
der pauschal bewerteten Versicherungszeiten für Kinder-
erziehung, Pflege, aber natürlich auch für den Wehr- und
Zivildienst. Sie hatten ja eben angekündigt, das zu prü-
fen. Um konkret zu sein: Wie lange dauert denn Ihre
Prüfung?
D
Ich habe gesagt, dass dies prüfenswert ist. Ich persön-
lich habe auch ein gewisses Verständnis für diesen An-
satzpunkt. Ich möchte aber auf Folgendes aufmerksam
machen: Politisch befinden wir uns hier in der Schwierig-
keit, dass mit einer Entscheidung unter der Überschrift
„Angleichung“ ganz andere Erwartungen geweckt wer-
den und dass die Personengruppe, die von dem von Ihnen
angesprochenen Problem berührt ist, vergleichsweise
klein ist, gemessen an den allgemeinen Erwartungen, die
mit dem Begriff „Angleichung“ verbunden werden.
Die Frage 47 des Kollegen Volker Beck wird schrift-
lich beantwortet. Damit sind wir am Ende des Geschäfts-
bereichs des Bundesministeriums des Innern. Herzlichen
Dank, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums der Justiz. Die Frage 48 des Kollegen
Volker Beck und die Frage 49 der Kollegin Walter-
Rosenheimer werden schriftlich beantwortet.
Damit sind wir beim Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums der Finanzen. Die Frage 50 des Kollegen
Sarrazin, die Frage 51 des Kollegen Hunko, die Frage 52
der Kollegin Paus und die Frage 53 der Kollegin
Tackmann sollen schriftlich beantwortet werden.
Ich rufe auf den Geschäftsbereich des Bundesministe-
riums für Arbeit und Soziales. Die Frage 54 des Kolle-
gen Brase wird schriftlich beantwortet ebenso wie die
Frage 55 des Kollegen Gehring. Auch die Frage 56 des
Kollegen Gehring soll schriftlich beantwortet werden.
Die Frage 57 der Kollegin von Cramon-Taubadel wird
ebenfalls schriftlich beantwortet.
Damit sind wir beim Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Ver-
braucherschutz. Zur Beantwortung der Fragen steht der
Parlamentarische Staatssekretär Dr. Gerd Müller zur
Verfügung.
Ich rufe die Frage 58 der Kollegin Cornelia Behm
auf:
Welche Vorschläge zur Priorisierung der Fördergrundsätze
der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur
und des Küstenschutzes“, GAK, hat die Bundesregierung den
Ländern vorgelegt, und wann ist die Beschlussfassung im
Planungsausschuss für Agrarstruktur und Küstenschutz,
PLANAK, vorgesehen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Dr
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Damit sind wir beim
Lebensministerium. Wir kommen zu Fragen des ländli-
chen Raumes und der Feldmäuse. Wir sind ganz nah
– das sage ich auch den Zuhörerinnen und Zuhörern – an
den Themen, die Mensch, Tier und Umwelt berühren.
Die Kollegin Behm hat eine Frage gestellt, die ich wie
folgt beantworte: Das Bundesministerium hat einen Prio-
risierungsvorschlag für den Rahmenplan ab 2014 erarbei-
tet, der mit den Ressorts und den Ländern abgestimmt
wird. Danach sollen von den insgesamt 87 Fördertatbe-
ständen etwa ein Viertel gestrichen, die Hälfte modifiziert
und ein Viertel beibehalten werden. Die Priorisierung er-
folgte anhand eines mit den Ländern abgestimmten Kri-
terienkatalogs. Gründe für die Streichungsvorschläge
sind insbesondere eine geringe Inanspruchnahme, ver-
gleichsweise geringe Zielbeiträge zur Agrarstrukturver-
besserung usw. Diese Priorisierungsvorschläge sind in
zwei Anhörungen mit den Verbänden diskutiert worden.
Zurzeit werden insbesondere die zu modifizierenden
Maßnahmen fachlich beraten mit dem Ziel, Ende Novem-
ber/Anfang Dezember den überarbeiteten Rahmenplan
dem PLANAK zur Beschlussfassung vorzulegen. Soweit
es die Beratungen der Legislativvorschläge für die
ELER-Verordnung zulassen, ist die Beschlussfassung des
Rahmenplans 2014 durch den PLANAK für den 12. De-
zember 2012 geplant.
Frau Kollegin Behm wird sicher nachfragen. Dann
kann man das eine oder andere vielleicht noch so darstel-
len, dass es auch verstanden wird.
Dann hat die Kollegin Behm das Wort zur ersten
Nachfrage.
Da hat Ihnen wohl jemand Antworten aufgeschrieben,
mit denen Sie selber nicht so zufrieden sind.
Wir haben in der Tat wahrgenommen, dass Verbände-
anhörungen durchgeführt worden sind. Sie haben gesagt,
es habe sogar zwei gegeben. Ich frage Sie, warum die
Fraktionen nicht auf den gleichen Wissensstand gebracht
worden sind, warum sie die Vorlage zur Priorisierung
der Fördergrundsätze nicht in die Hand bekommen ha-
ben, und ob Sie bereit sind, uns diese Vorlage jetzt aus-
zuhändigen.
Dr
Frau Kollegin, mit „dass es auch verstanden wird“habe ich im Zusammenhang mit PLANAK gemeint,dass wir uns angesichts der dankenswerterweise vielenZuhörerinnen und Zuhörer einmal nicht in Beamten-deutsch ausdrücken, sondern so, dass es auch für jeman-den von außen verständlich ist.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 197. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Oktober 2012 23767
Parl. Staatssekretär Dr. Gerd Müller
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Sie sind eine hochinteressierte Kollegin; natürlichkann Ihnen die Vorlage zugeleitet werden. Es handeltsich hierbei allerdings um Regierungshandeln im Ver-hältnis zu den Ländern; dies muss selbstverständlich zu-nächst einmal auf Beamtenebene abgestimmt werden.Sie können aber kompletten Einblick bekommen.Wenn Sie mich jetzt fragen, wie die Priorisierungs-vorschläge aussehen, dann antworte ich darauf.
Die Kollegin Behm hat das Wort zu ihrer zweiten
Nachfrage.
Danke schön. – Dieses Regierungshandeln hat in der
Tat Auswirkungen auf die Agrarpolitik. Da das Parla-
ment die Regierung und damit das Regierungshandeln
zu kontrollieren hat – und nicht umgekehrt –, wäre es
wohl angemessen, dass wir entsprechend informiert wer-
den.
Wenn Sie gerne konkret werden wollen, möchte ich
wissen, wie mit den priorisierten Fördergrundsätzen He-
rausforderungen wie dem Erhalt der Biodiversität – ich
erinnere daran, dass die Agrarvogelwelt auf 50 Prozent
zurückgegangen ist –, dem Klimawandel und der wach-
senden Nachfrage nach Bioprodukten Rechnung getra-
gen wird.
Bitte, Herr Staatssekretär.
Dr
Frau Kollegin Behm, ich unterstreiche Ihre Aussage:
Das Regierungshandeln hat Auswirkungen. Da wir eine
gute Regierung haben, haben wir eine gute Agrarpolitik.
Biodiversität ist eines der zentralen Ziele. Wir haben
eine Biodiversitätsstrategie, über die wir schon verschie-
dentlich miteinander diskutiert haben und die natürlich
auch im Rahmen des PLANAK weiterhin ein zentraler
Punkt ist. Im Unterschied zu der Regierung, die unter
Einbeziehung Ihrer Fraktion gebildet wurde, haben wir
die Mittel für die GAK nicht gekürzt, sondern wieder
aufgebaut. Wir geben damit das klare Signal, dass wir Ja
sagen zur zukunftsorientierten Landwirtschaft und zur
Entwicklung der ländlichen Räume.
Jetzt ist es an der Zeit, neue Schwerpunkte zu setzen.
Der Ökolandbau bzw. die Biobetriebe sind ein wichtiger
Bereich. Im Unterschied zu Ihren Planungen haben wir
das Bundesprogramm Ökologischer Landbau vollinhalt-
lich und in voller Höhe weiterfinanziert. Wir würden uns
freuen, wenn wir im nächsten Jahr in Deutschland min-
destens 10 000 neue Ökobetriebe bekämen; denn die
Nachfrage ist groß, und wir wollen nicht unbedingt, dass
die Nachfrage aus ausländischen Quellen gedeckt wird.
Heimische Produktion ist das Beste.
Danke.
Die Frage 59 der Kollegin Dr. Tackmann wird schrift-
lich beantwortet.
Ich rufe die Frage 60 des Kollegen Harald Ebner auf:
Auf der Basis welcher Risikobewertungen durch welche
Fachbehörden hat die Bundesregierung eine Ausnahmegeneh-
migung für den breitflächigen Einsatz des Rodentizids Ratron
in Thüringen erteilt, obwohl die
erhebliche Toxizität dieses Wirkstoffes für zahlreiche Nicht-
zielorganismen und für einheimische Beutegreifer oder Zug-
vögel, die an Chlorphacinon verendete Nagetiere verzehren,
wissenschaftlich belegt ist und das Bundesamt für Verbrau-
cherschutz und Lebensmittelsicherheit deshalb 2010 verschie-
denen Pestiziden mit dem Wirkstoff Chlorphacinon die Zulas-
sung entzogen hatte?
Dr
Jetzt sind wir bei den Feldmäusen. Wir haben eine
große Feldmausplage in Thüringen, mit 30 bis 70 Pro-
zent Ernteausfall. Jetzt ist die Frage: Wie kann man das
wirksam bekämpfen? Das BVL hat nach Prüfung eine
Notfallzulassung für den Einsatz des Rodentizids Ratron
für 120 Tage ausgesprochen.
Die Alternative wäre, wie der Naturschutzbund und
vielleicht auch Sie, Herr Ebner, vorschlagen, eine ge-
zielte Bekämpfung in den Mäusebauen. Ich erinnere
mich hier an meine Kindheit; ich könnte fast als Fachex-
perte dazu angehört werden. Wir haben als Kinder Feld-
mäuse gefangen und dafür 1 D-Mark bekommen. –
Wenn Sie sich freiwillig zur Verfügung stellen, das per
Hand zu machen, dann können wir vielleicht auf den
Einsatz von Ratron verzichten.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Danke schön, Frau Präsidentin. – Herr Staatssekretär,ich teile natürlich Ihre Auffassung hinsichtlich der Be-deutung des Ministeriums, das Sie als „Lebensministe-rium“ beschrieben haben. Es geht dort sehr stark umÖkologie und Artenvielfalt; die Bedeutung ist enorm.Gerade aufgrund dieser hohen Verantwortung möchteich noch einmal nachfragen.Sie sind in Ihrer Antwort nicht auf meine Frage einge-gangen, auf Basis welcher Risikobewertungen die Bun-desregierung die Ausnahmegenehmigung für den breit-flächigen Einsatz erteilt hat. Die Risikobewertung istwichtig, weil das BVL die Zulassung für Pestizide mitdiesem Wirkstoff 2010 widerrufen hat, und zwar aus gu-tem Grund. Deshalb frage ich Sie noch einmal nach denRisikobewertungen. Ich füge hinzu: Trifft es zu, dass daszuständige BVL die Ausnahmegenehmigung aus fachli-chen Gründen nicht erteilen wollte, und, wenn ja, inwie-
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23768 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 197. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Oktober 2012
Harald Ebner
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weit hat die Bundesregierung auf eine Erteilung hinge-wirkt oder gedrängt?Dr
Herr Ebner, das Bundesamt hat diese Notfallzulas-
sung nach Prüfung und Risikoeinschätzung für 120 Tage
erteilt. Ich kann Ihnen das Gutachten dazu zuleiten; ich
habe es im Augenblick nicht vorliegen. Ich glaube aber,
das können wir unter vier Augen mit den zuständigen
Wissenschaftlern diskutieren.
Darüber hinaus wurde die Frage, welche alternativen
Methoden es gibt, in einem Expertenworkshop in Sach-
sen-Anhalt diskutiert. Auch die Agrarministerkonferenz
hat sich mit der Feldmausplage in Thüringen auseinan-
dergesetzt. Länderübergreifend wurde eine Arbeits-
gruppe eingesetzt, die klären soll, ob und welche ande-
ren Methoden es gibt.
Faktum ist aber – ich habe mir das noch einmal ange-
schaut –: Im Augenblick sind über 300 Betriebe mit Tau-
senden von Hektar durch Ernteausfälle von 30 bis
70 Prozent betroffen. Deshalb ist in diesem Fall die Not-
fallzulassung der Mäuseköder zur Bekämpfung erteilt
worden.
Ansonsten könnten wir mit Fallen über die Felder ge-
hen. Das wäre eine Alternative.
Sie haben das Wort zur nächsten Nachfrage.
Danke schön für die Wiederholung Ihrer Antwort. –
Ich muss trotzdem noch einmal nachfragen: Wie bewer-
ten Sie das Risiko einer breitflächigen Streuausbringung
von Ratron für Haustiere und für spielende Kinder, und
wie wird die Bevölkerung über den Einsatz dieses Kö-
ders informiert? Wie will die Bundesregierung verhin-
dern, dass stark bedrohte Rote-Liste-Arten in Thüringen
wie die Wiesenweihe, der Steinkauz oder der Feldhams-
ter durch den Einsatz von Ratron in ihrer Existenz ge-
fährdet werden?
Dr
Die Abwägung des Einsatzes müssen wir den Wissen-
schaftlern und den Experten vor Ort überlassen. Auf der
einen Seite steht die Mäuseplage, auf der anderen Seite
in der Tat natürlich eine mögliche Gefährdung. Wir sind
ja so weit gegangen, Erhebungen darüber durchzufüh-
ren, ob der Tod von sieben Feldhasen – Sie hören rich-
tig – mit dem Mittel „Ratron Feldmausköder“ in Verbin-
dung zu bringen ist. Wir können das Monitoring auch
noch ausweiten, aber es gibt natürlich Grenzen.
Man muss auch Vertrauen in unter Abwägung der
Wissenschaftler und Behörden getroffene Entscheidun-
gen haben und eine vor-Ort-bezogene Einzelfallent-
scheidung dann auch einmal akzeptieren. Wir sollten uns
nicht die Arroganz erlauben, zu meinen, dass wir im Ple-
num des Deutschen Bundestages besser beurteilen kön-
nen, wie man eine Feldmausplage in einem Landkreis in
Thüringen bekämpft.
Wir kommen zur Frage 61 des Kollegen Harald
Ebner:
Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus
der aktuellen Studie des US-Agrarökonomen Charles
rend auf Daten des US-Agrarministeriums, wonach in den
USA durch den Anbau von herbizidtoleranten gentechnisch
veränderten Organismen ein Anstieg des Herbizidverbrauchs
um 239 Millionen Kilogramm im Zeitraum 1996 bis 2011 er-
folgt ist, vor dem Hintergrund der Tatsache, dass einige in der
Europäischen Union bald zu erwartende Anbauzulassungen
gentechnisch veränderter Pflanzen ebenfalls eine Herbizidto-
leranz gegen Glyphosat oder Glufosinat (Mais) besit-
zen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Dr
Frage 61: Schade, dass Loriot nicht mehr lebt. –
Herr Ebner, in der Frage 61 geht es, wenn ich kurz ein-
führen darf, um das Thema, welche Schlussfolgerungen
die Bundesregierung aus der aktuellen Studie des US-
Agrarökonomen Charles Benbrook, basierend auf be-
stimmten Daten, zieht.
Ich komme zur Antwort, sonst sind meine 60 Sekun-
den für die Antwort schon vorbei: Bei der Zulassung
gentechnisch veränderter Organismen sowohl auf EU-
als auch auf nationaler Ebene muss sichergestellt sein,
dass auch langfristig negative Folgen für die Gesundheit
von Mensch, Tier oder Umwelt durch den Einsatz sol-
cher GVO mit Sicherheit ausgeschlossen werden kön-
nen.
Deshalb wird die Haltung der Bundesregierung zu
eventuellen Anträgen auf Anbauzulassungen unter Einbe-
ziehung aller vorliegenden wissenschaftlichen Gutachten
und Stellungnahmen für den Einzelfall erarbeitet. Hier-
bei werden alle verfügbaren Erkenntnisse berücksichtigt.
Aus diesem Grund werden auch die mit der Studie vor-
gelegten Hinweise auf einen Anstieg des Herbizidver-
brauchs nach mehrjährigem Anbau nach entsprechender
Prüfung in das weitere Verfahren bei der Festlegung ei-
ner Position zu Anbauzulassungen herbizidtoleranter
Pflanzen selbstverständlich einfließen.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 197. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Oktober 2012 23769
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(B)
Das freut mich zu hören, Herr Staatssekretär; denn
bislang wurde diese Verbindung von der Bundesregie-
rung immer wegdiskutiert. Man hat gesagt: Das eine hat
mit dem anderen nichts zu tun.
Ich frage angesichts dessen nach, dass Sie gesagt ha-
ben, Sie machten eine gute Agrarpolitik. – Heute Mor-
gen im Agrarausschuss hat die Ministerin zum Thema
gute Agrarpolitik gesagt, was den Antibiotikaeinsatz an-
geht, halte sie eine Reduktion des Mengeneinsatzes als
Ziel für nicht sinnvoll. – So viel zum Thema gute Agrar-
politik.
Ich halte eine Reduktion des Pestizideinsatzes für ein
gutes, notwendiges und sinnvolles Ziel. Deshalb meine
Frage: Wie gedenkt die Bundesregierung dann mit die-
sen Erkenntnissen umzugehen, sobald die Abstimmung
im StALuT über die Roundup-Ready-Sojabohne, näm-
lich eine glyphosatresistente Sojabohne, ansteht, ange-
sichts dessen, dass 70 Prozent des erwähnten Anstiegs
des Herbizidverbrauchs in den USA allein auf diese her-
bizidresistente Sojabohne zurückzuführen ist?
Dr
Auch an dieser Stelle ist ganz klar: Die Politik muss
sich auf die Wissenschaft verlassen und wissenschafts-
basierte Entscheidungen treffen, unabhängig von politi-
scher Couleur, ob nun links oder rechts, vorne oder hin-
ten. Das sind die wissenschaftlichen Vorgaben.
So erfolgt das Zulassungsverfahren im europäischen
und nationalen Rahmen. Das heißt, im Augenblick wer-
den mehrere Anträge bearbeitet. Die EFSA hat ihre Stel-
lungnahme noch nicht abgegeben. Es werden alle auch
von Ihnen genannten wissenschaftlichen Erkenntnisse
einfließen. Dann gibt es eine Empfehlung. Anschließend
gibt es eine Bewertung durch unsere Wissenschaftler
und leitenden Beamten, eine politische Vorgabe und
dann die Abstimmung im StALuT.
Sie haben das Wort zu einer zweiten Nachfrage.
Wenn wir die Frage des Pestizideinsatzes im Zusam-
menhang mit GVO ernst nehmen und auch hier eine
langfristige Reduktion erreichen wollen, dann müssen
wir uns auch vor Augen führen, dass in den letzten Jah-
ren zunehmend Schädlingspopulationen aufgetreten sind
und sich ausbreiten, die gegen die gentechnisch verän-
derten Bt-Pflanzen, also welche, die einen Bacillus-thu-
ringensis-Toxin produzieren, resistent sind und in diesen
Fällen eben auch zusätzliche Pestizide über das in den
Pflanzen gebildete Toxin hinaus eingesetzt werden.
Wie bewerten Sie denn diese Tatsache? Wie bewerten
Sie das insbesondere im Zusammenhang mit der Tatsa-
che, dass damit das Bacillus-thuringensis-Präparat für
den ökologischen Landbau völlig wirkungslos wird?
Dr
Sollten Ihnen neue wissenschaftliche Untersuchungen
oder Erkenntnisse vorliegen, die ich jetzt nicht habe – so
viel Wissenschaftlichkeit muss sein, dass man sich das
erst anschaut, bevor man Ja oder Nein sagt –, dann be-
rücksichtigen wir dieses gerne. Sie bekommen dann eine
Stellungnahme unserer Bundesämter.
Wir haben im Bundesinstitut für Risikovorsorge und
im BVL die besten Wissenschaftler. Darauf sind wir
stolz. Diese Wissenschaftler sind unabhängig. Wir stüt-
zen uns bei politischen Entscheidungen auf diese unab-
hängigen Gutachten. Das ist die absolut wichtige Grund-
lage.
Die Vorgabe in der Agrarpolitik ist klar; dieses Ziel
erreichen wir auch. Zur nachhaltigen Produktion gehört
auch eine Reduzierung des Pestizideinsatzes in der Flä-
che, in der Breite und in der Quantität. Auch dies konn-
ten wir in den letzten Jahren Zug um Zug bzw. Schritt
für Schritt, aber sehr effektiv umsetzen. Ich lade Sie ein.
In einer Stunde bin ich bei der FNR. Dort geht es um
nachhaltige Entwicklung und Produktion. Wir behandeln
da genau dieses Thema.
Wir sind damit am Ende des Geschäftsbereichs des
Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz. Danke, Herr Staatssekretär.
Die Frage 62 der Kollegin Keul zum Geschäftsbe-
reich des Bundesministeriums der Verteidigung wird,
wie auch die Frage 63 der Kollegin Bellmann zum Ge-
schäftsbereich des Bundesministeriums für Familie, Se-
nioren, Frauen und Jugend, schriftlich beantwortet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.
Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische
Staatssekretär Dr. Andreas Scheuer zur Verfügung. Al-
lerdings werden die Fragen 64 der Kollegin Bellmann,
65 des Kollegen Hofreiter und 66 ebenfalls des Kollegen
Hofreiter schriftlich beantwortet.
Ich rufe auf die Frage 67 der Kollegin Cornelia
Behm:
rung auf der Havel angesichts der durch das Bundesministe-
rium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung angekündigten
modifizierten Ausbauplanungen, und welche konkreten Bau-
maßnahmen stehen im Rahmen der Ausbaupläne noch an?
Bitte, Herr Staatssekretär.
D
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Der Kollege Staatssekretär Müller wird mir verzei-hen, wenn ich sage: Auch das Bundesministerium fürVerkehr, Bau und Stadtentwicklung ist ein bedeutendesLebensministerium der Bundesregierung, weil 82 Mil-
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23770 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 197. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Oktober 2012
Parl. Staatssekretär Dr. Andreas Scheuer
(C)
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lionen Bürgerinnen und Bürger fahren, wohnen und/oderbauen.Frau Behm möchte eine Frage zum Thema Güter-schiffsverkehr – aufgeschlüsselt nach Schiffsklassen undauf der Havel transportierte Mengen – beantwortet ha-ben. Da werden modifizierte Ausbauplanungen gemacht.Darauf jetzt die Antwort: Infolge der modifizierten Aus-bauplanungen werden keine signifikanten Auswirkun-gen auf die künftige Flottenstruktur und die Transport-mengen erwartet. Aktuell wird die Verkehrsprognose2025 zugrunde gelegt. Ich möchte Sie, Frau KolleginBehm, mit Rücksicht auf unsere Kolleginnen und Kolle-gen bitten, dass ich Ihnen die beiden Tabellen zu Flotten-strukturen und Mengen schriftlich geben kann. Denn obuns die Kolleginnen und Kollegen richtig zuhören, wennes bei der Flottenstruktur darum geht, zu Berg zu fahren,zu Tal zu fahren und die Anteile der Motorschiffe undder Schubleichter aufgeschlüsselt zu bekommen, istfraglich. Sie verzeihen mir, dass ich Ihnen diese Tabellengebe. Dann sind wir ein bisschen zeitökonomischer un-terwegs. Gleiches gilt für die Güterstruktur der Ladungs-mengen für 2025. Das geht von landwirtschaftlichen Er-zeugnissen über Futtermittel bis hin zu mineralischenBrennstoffen, Erdöl, Mineralölerze, Metalle etc. Auchdiese Aufstellung möchte ich Ihnen gerne geben.Ich komme zum Schlusssatz. Um das VerkehrsprojektDeutsche Einheit Nr. 17 zu vollenden, werden die Fluss-havel, der Sacrow-Paretzer-Kanal und die BerlinerNordtrasse ausgebaut. Der Umfang der Baumaßnahmenhat sich – das wird Sie interessieren – durch die bedarfs-gerechte Überarbeitung der Pläne erheblich reduziert.
Ich nehme an, dass die Kollegin Behm einerseits die-
ses Angebot akzeptiert, aber sicherlich jetzt ihre erste
Nachfrage stellt.
Ich habe nur eine Nachfrage. – Vielen Dank. Natür-
lich ist es sinnvoll, die Leute hier nicht mit so vielen
Zahlen, Daten und Fakten zu belasten, wenn wir zeitöko-
nomisch sein wollen.
Wir haben die Informationen, auf deren Basis ich jetzt
nachgefragt habe, nur aus der Zeitung. Deswegen würde
ich gerne folgende Fragen beantwortet haben: Wann und
wie ist es zu dieser Entscheidung gekommen? In welcher
Form werden die veränderten Planungen verbindlich?
Also, wann kann man da etwas in die Hand nehmen oder
vor die Augen gehalten bekommen?
D
Natürlich sind wir anhand dieser Flottenstruktur und
der Güterstruktur auch gerade von Ihrer Fraktion aufge-
rufen, das anzupassen, wenn Optimierungsmaßnahmen
durchgeführt werden.
Wir sparen damit auch Geld. Wir reduzieren gerade
die Investitionskosten an dieser Stelle durch verschie-
dene bauliche Veränderungen von 45 Millionen Euro auf
27 Millionen Euro. Es geht dabei auch um die Reduzie-
rung der Ausbautiefe und der Baggermengen und die
entsprechenden Kostenreduktionen.
Die Öffentlichkeit wird über die konkreten Planungen
rechtzeitig informiert. Die Planungen der WSV sind so
weit fortgeschritten, dass erste Abstimmungen mit den
Landesbehörden, den Verbänden und den Betroffenen in
Brandenburg bereits begonnen haben bzw. unmittelbar
bevorstehen.
Mitte 2013 soll für die Fahrrinnenanpassung das erfor-
derliche Planfeststellungsverfahren eingeleitet werden.
Wie Sie wissen, werden bei den Planungen und Planfest-
stellungsverfahren alle Belange abgefragt und verschie-
dene Erörterungstermine durchgeführt. Dann liegen die
konkreten Planungen vor. Jetzt über nicht vollständige
oder lückenhafte Planungen zu reden, wäre verfrüht. Wir
sind deshalb gerade im Abstimmungsprozess.
Die Frage 68 des Kollegen Dr. Ilja Seifert wird
schriftlich beantwortet.
Wir kommen zu den Fragen 69 und 70 des Kollegen
Michael Groß. Der Kollege ist offensichtlich nicht an-
wesend. Es wird verfahren, wie in der Geschäftsordnung
vorgesehen.
Wir sind damit am Ende der Fragestunde.
Ich unterbreche die Sitzung des Deutschen Bundesta-
ges bis 16.45 Uhr. Dann fahren wir fort mit der Aktuel-
len Stunde.
Ich bekomme gerade einen Hinweis. Damit jeder
weiß, woran er ist: Für vier Minuten ist die Sitzung des
Bundestages unterbrochen.
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
FDP
Finanzielle Belastungen der Geringverdiener-
haushalte durch die von der rot-grünen Bun-
desregierung beschlossenen Ökostromsubven-
tionen
Ich eröffnet die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Marie-Luise Dött für die Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bislangwar ich der Auffassung, dass wir hier im Parlament ei-
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Marie-Luise Dött
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nen weitgehenden Konsens haben, dass wir unsere Ener-gieversorgung schrittweise auf erneuerbare Energienumstellen. Wenn ich mir allerdings die vielfältigen Wort-beiträge in der Presse der letzten Tage ansehe, dann ge-winne ich zunehmend den Eindruck, dass die Oppositiondiesen Konsens entweder nie ernst genommen hat oderihn jetzt aufkündigen will.Vielleicht wollen Sie aber nur von Fehlern und Fehl-steuerungen, die Sie wesentlich mitverursacht haben,ablenken. Wer hat denn die erneuerbaren Energien mitvöllig überzogenen Vergütungssätzen gefördert? Ich er-innere: Das war Rot-Grün. Sie, meine Damen und Her-ren von den Grünen, haben dafür gesorgt, dass Strom ausPhotovoltaik mit über 50 Cent pro Kilowattstunde geför-dert wurde. Wir haben dafür gesorgt, dass dieser Stromdie Bürger heute nur noch 19 Cent kostet. Damit sicheinige die Taschen füllen konnten, haben Sie dafür ge-sorgt, dass diese überteuerten Anlagen die Stromrech-nungen der Bürger auch noch die nächsten Jahre belastenwerden. Sie, Frau Höhn und Herr Trittin, und Sie, HerrGabriel und Herr Kelber, haben den Bürgern damit einenKostenrucksack hinterlassen.
Heute tun Sie so, als hätten Sie damit nichts zu tun, alswären alle Anlagen erst in den letzten drei Jahren gebautworden. Das ist unredlich.
Was aber noch schlimmer ist: Sie bringen mit IhrerPolemik die Förderung der erneuerbaren Energien beiden Bürgern zunehmend in Misskredit.
Sie laufen herum und stellen das EEG als Subventions-maschine für Golfplätze und Imbissketten dar. Es ist jarichtig, dass wir dafür sorgen, dass energieintensive Un-ternehmen von hohen Strompreisen entlastet werden;dazu stehen wir. Wir wollen Tausende Arbeitsplätze inder Chemieindustrie, der Metallverarbeitung oder derGlasindustrie schützen.
Wir stehen dazu, weil wir auch künftig die gesamteWertschöpfungskette in Deutschland behalten wollen,weil wir Deutschland als Industriestandort erhalten undausbauen wollen. Es ist wirklich unlauter, dass Sie ver-schweigen, dass wir es waren, die dafür gesorgt haben,dass gerade Golfplätze, Imbissketten oder Rechenzen-tren seit dem 1. Januar dieses Jahres nicht mehr von derUmlage befreit werden, dass wir es waren, die gesetzlichfestgelegt haben, dass nur noch Unternehmen des produ-zierenden Gewerbes
berechtigt sind, die Umlagebefreiung zu beantragen,
und dass wir damit die von Ihnen eingeführten unbe-gründeten Ausnahmen für Unternehmen abgeschafft ha-ben.
Sie werfen uns einen Fehler vor, den Sie gemacht undden wir korrigiert haben.Sie, meine Damen und Herren von der SPD, stimmendem zu. Dabei waren Sie es, die in der Zeit der GroßenKoalition unsere Vorschläge für die Einführung derMarktprämie blockiert haben.
Das ist ein Instrument, das jetzt erfolgreich dafür sorgt,dass die erneuerbaren Energien endlich aus der Subven-tionierung in den Markt gebracht werden können.
Die Kosten für die Bürger spielten für Sie in der Diskus-sion niemals eine Rolle. Das ist die Wahrheit.
Meine Damen und Herren, unser Anliegen war es vonBeginn an, die erneuerbaren Energien mit möglichst ho-her Effizienz, also möglichst geringen Kosten für dieBürger, zu fördern. Deshalb haben wir die Förderung im-mer nachjustiert. Wir haben zum Beispiel bei der Förde-rung von Photovoltaikanlagen in mehreren Schritten er-hebliche Vergütungsreduzierungen vorgenommen.
Aber immer dann, wenn wir das getan haben, gerade umdie Kosten für die Bürger zu reduzieren, waren Sie es,die sich vehement dagegen gewehrt haben;
da waren Ihnen die Kosten für die Bürger, die Sie jetztmit Krokodilstränen beklagen, egal; da haben Sie jedesnoch so absurde Argument bemüht, um die Förderungmöglichst hoch zu halten.
Was war von Ihnen nicht alles ins Feld geführt worden,um die hohen Vergütungssätze zu retten, Herr Kelber?Sie haben den Zusammenbruch der gesamten Photovol-taikbranche vorhergesagt. Sie haben einen Ausbaustoppbei PV-Anlagen prognostiziert. Nichts davon ist einge-
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Marie-Luise Dött
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treten. Wenn Sie sich durchgesetzt hätten, dann würdenwir heute über ganz andere Größenordnungen bei derEEG-Umlage reden.
Vielleicht sollten Sie sich einmal mehr Zeit zum Nach-denken über Ihre Politik lassen, bevor Sie die Förderungder Erneuerbaren kritisieren.Meine Damen und Herren, wo wir gerade beim Nach-denken sind: Schön wäre es, wenn Sie statt Polemik kon-struktive Vorschläge für die Weiterentwicklung der För-derung der erneuerbaren Energien machen würden.
Dazu habe ich von Ihnen noch nichts gehört.Vielen Dank.
Nun hat der Kollege Rolf Hempelmann für die SPD-
Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Als ich gehört habe, dass Schwarz-Gelb diese Ak-tuelle Stunde mit dem Titel „Finanzielle Belastungen derGeringverdienerhaushalte durch die von der rot-grünenBundesregierung beschlossenen Ökostromsubventionen“auf die Tagesordnung gebracht haben, habe ich gedacht:Da muss sich jemand verschrieben haben. Als ich dannhörte: „Nein, da hat sich niemand verschrieben; die mei-nen das ernst“, wollte ich es immer noch nicht glauben.Ich habe jetzt wirklich den Eindruck: Sie haben da sozu-sagen einen Anfall von Masochismus. Sie wollen offen-bar leiden
und diese Aktuelle Stunde heute über sich ergehen las-sen.Meine Damen und Herren, wie sieht es denn wirklichaus mit Ihren Ambitionen für die Geringverdienerhaus-halte? Schauen wir uns doch einmal Ihren „record“ an:Das Bundesverfassungsgericht musste Sie zwingen,die Hartz-IV-Sätze nach oben hin anzupassen.
Das haben Sie nicht von sich aus getan, weil Sie einHerz für die Geringverdiener haben;
Sie mussten dazu genötigt werden.Heizkostenzuschüsse für Geringverdiener haben Sieabgeschafft.
Mindestlöhne lehnen Sie nach wie vor ab.
Reichensteuer – wenn wir einmal auf das andere Endeschauen – lehnen Sie auch ab.
Also, Ihre neue Ambition für die Geringverdiener istso glaubhaft wie Sie, Frau Dött, als Sie gerade versuchthaben, in machiavellistischer Weise Ihre Position darzu-stellen.Das Zweite. Es war die Rede von „Beschlüssen derrot-grünen Bundesregierung, die Belastungen produzie-ren“. Ja, mein lieber Freund! Jetzt müssen wir doch ein-mal nachrechnen: Wann war denn Rot-Grün zu Ende?War das nicht 2005? Danach gab es – wenn ich michrichtig erinnere – vier Jahre lang Schwarz-Rot. Da hätteder Partner der Sozialdemokraten, die Union, vier Jahrelang Gelegenheit gehabt, die Dinge zu ändern. Das ha-ben die aber nicht gemacht. Anscheinend war man ganzzufrieden mit dem Fördersystem.Anschließend gab es drei Jahre lang Schwarz-Gelb.Auch da stellt sich die Frage: Was ist denn geschehen?
Es ist also völlig klar: Sie versuchen heute von Ihremeigenen Versagen abzulenken. Sie haben die Anhebungder Erneuerbare-Energien-Umlage auf 5,3 Cent zu ver-antworten. Daran führt nun wirklich kein Weg vorbei.
Meine Damen und Herren, wenn Sie von Ökostrom-subventionen sprechen, dann sprechen Sie ja auch ganzgerne davon, was in diesem Zusammenhang für die In-dustrieunternehmen so passiert. Da muss ich Ihnen sa-gen: Wir, Rot-Grün, haben in der Tat, beginnend imJahre 2000, Ausnahmetatbestände für besonders ener-gieintensive Unternehmen geschaffen, und das aus gu-tem Grund. Wir wollten nämlich verhindern, dass dieihre Produktionsstätten in Länder mit weniger strengenAuflagen verlagern, in Länder ohne Emissionshandelbeispielsweise, ohne EEG und anderes. Das hatte also ei-nen guten Grund.Dieses Instrument hatte zehn Jahre lang eine hoheAkzeptanz. Warum? Weil wir das gezielt und sehr be-gründet für wenige Unternehmen gemacht haben, diewirklich im internationalen Wettbewerb standen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 197. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Oktober 2012 23773
Rolf Hempelmann
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Was haben Sie gemacht? Sie haben dieses Instrumentklientelpolitisch ausgeweitet.
Wenn man sich einmal anschaut, wer da heute allesdrin ist – Kartoffelverarbeiter, Futtermittelhersteller,Schlachtbetriebe, Erfrischungsgetränkehersteller, Milch-verarbeiter, Obstverarbeiter, Gemüseverarbeiter –,
dann muss ich sagen: Ich kann nicht so richtig erkennen,wo denn da eigentlich die im internationalen Wettbe-werb befindlichen energieintensiven Unternehmen sind.
Wenn ich sehe, dass Sie bei den Netzentgelten durchdie Senkung der Schwelle ohne weitere Konditionierun-gen mittlerweile auch Hotels – wieder einmal Hotels –,aber auch Rechenzentren und Golfplätze befreien, dannfrage ich mich wirklich: Wo ist hier eigentlich die Ab-wanderungsgefahr? Haben Sie Sorge, dass Ihr heimi-scher Golfplatz nach Asien abwandert, oder warum ma-chen Sie solche Sachen?
Das führt dazu, dass vernünftige Instrumente an Ak-zeptanz in der Öffentlichkeit verlieren. Das ist in IhrerVerantwortung. Deswegen sage ich: Seien Sie vorsichtigmit einer solchen Aktuellen Stunde.
Machen Sie Ihre Hausaufgaben. Kündigen Sie nichtnur ständig Maßnahmen an, zum Beispiel zur System-integration der erneuerbaren Energien, sondern tun Sieetwas. Darauf mache ich Sie aufmerksam, weil Sie ebenso gegen die Photovoltaik vorgegangen sind, bei der wirübrigens durchaus Angebote gemacht haben, auch zurAbsenkung der Förderung. Schauen Sie einmal sehr ge-nau hin, was Sie gerade bei der Offshorewindenergiemachen. Was Sie da zurzeit machen, bringt Kosten füralle Verbrauchergruppen, die unüberschaubar sind; Siewissen es auch selbst.
Kollege Hempelmann, achten Sie bitte auf die Zeit.
Bei Ihnen gibt es im Moment hektischste Reaktionen.
Sie versuchen gerade, Lasten auf die Endverbraucher zu
verteilen, Haftungstatbestände zu den Verbrauchern zu
verschieben, weil Sie nicht mehr wissen, wie Sie weiter-
machen sollen.
Seien Sie also ehrlich und geben Sie zu, dass Sie kei-
nen Plan haben. Dann sind wir auch bereit, Ihnen zu hel-
fen.
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Michael
Kauch das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HerrHempelmann hat gefragt, was diese Koalition für dieGeringverdiener getan hat. Die Geringverdiener – dasverwechseln Sie offensichtlich einmal wieder – sindnicht identisch mit den Hartz-IV-Empfängern.
Bei diesen wird nämlich ein Teil der steigenden Energie-kosten kompensiert. Die Geringverdiener sind diejeni-gen, die in diesem Land hart arbeiten, sich anstrengenund trotzdem nicht viel verdienen.
Wir setzen uns für diese Menschen ein. Seit diese Koali-tion regiert, haben wir so viele Beschäftigte wie seit derdeutschen Einheit nicht mehr.
Die Schaffung von Arbeitsplätzen ist die beste Sozial-politik für die Menschen.
Die Geringverdiener sind in der Tat davon betroffen,dass Strompreise steigen, und zwar durch ein Gesetz, dasnicht Schwarz-Gelb eingeführt hat. Wir haben es refor-miert.
Eingeführt wurde es von Rot-Grün. Deshalb entlassenwir Sie, meine Damen und Herren, nicht aus der Verant-wortung. Die Grenze ist für viele Menschen erreicht. Esist nicht wieder nur eine Erhöhung von 1,5 Cent proKilowattstunde, sondern wir haben nahezu eine Verdop-pelung der Haushaltsstrompreise seit zehn Jahren. HerrTrittin hat damals gesagt, das EEG koste nicht so viel. Eskoste einen Cappuccino im Monat. Diese Erhöhung kos-tet schon zwei Cappuccino im Monat.
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23774 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 197. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Oktober 2012
Michael Kauch
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Das ist der Latte-Macchiato-Fraktion der Grünen viel-leicht egal, aber für die normalen Menschen in diesemLand sind auch das Beträge.
Die Koalition aus CDU/CSU und FDP hat die Vergü-tungssätze gesenkt. Seit unserem Regierungsantritt sinddie Vergütungssätze für die Solaranlage auf dem Eigen-heimdach von 43 Cent auf 19 Cent gesunken.
Sie werden weiter fallen, und zwar nicht, weil Sie unsgedrängt haben; denn die Entscheidung wurde gegen Ih-ren erbitterten Widerstand, gegen Ihre Verzögerungstak-tik im Bundesrat getroffen.
Ihre Verzögerungstaktik ist der Grund dafür, dass die So-larförderung und der Solarausbau explodiert sind.
Immer mehr Leute haben den Schlussverkauf genutzt.Das ist der Grund, warum die Umlage in diesem Maßesteigt. Das ist Ihre Verantwortung. Das ist Ihre Verzöge-rungstaktik, meine Damen und Herren von Rot-Grün.
Sie haben die Ausnahmebestimmungen angespro-chen. Diese Ausnahmebestimmungen sind in der zwei-ten Wahlperiode von Rot-Grün eingeführt worden.
Sie haben energieintensive Unternehmen von der Um-lage befreit, und zwar aus gutem Grund.
Man wollte nämlich die Arbeitsplätze erhalten und Un-ternehmen, die im Wettbewerb stehen, nicht außer Lan-des treiben.
Wir haben an diesen Kriterien der Energieintensitätnichts, aber auch gar nichts geändert.
Wir haben die Schwellenwerte für die Unternehmens-größe gesenkt.
Meine Damen und Herren, Sie können johlen, wie Siewollen, das ist eine richtige Maßnahme;
denn Sie sind die Genossen der Bosse. Sie sind diejeni-gen, die nur an die Großunternehmen denken. Die Koali-tion aus CDU/CSU und FDP denkt an den Mittelstand,an den industriellen Mittelstand und an die Menschen,die dort arbeiten. Darauf sind wir stolz.
Sie können hier so viel lügen, wie Sie wollen.
Wenn Sie sagen, es seien Golfplätze von der Ökoumlagebefreit, dann sage ich Ihnen: Kein einziger Golfplatz inDeutschland ist davon befreit. Es gibt einen Golfplatz,der einen Antrag gestellt hat.
Es gibt aber keine Genehmigung. Diese Genehmigungwird auch nicht erteilt werden. Das ist die Wahrheit zuden Golfplätzen.
Die Hähnchen, von denen Sie reden und die hier ge-gessen werden, kommen nicht alle nur aus Deutschland,die kommen auch aus Polen, aus Frankreich. Auch diekann man nämlich über die Grenze schicken. Deshalbsind auch diese Unternehmen natürlich im internationa-len Wettbewerb, auch wenn die Hähnchen hier inDeutschland gegessen werden.
Ihre Ausflüchte sollten darüber hinwegtäuschen, dassSie am Erneuerbare-Energien-Gesetz nichts ändern wol-len. Deshalb sage ich Ihnen, was wir tun wollen.
Wir wollen das EEG reformieren, und zwar so, dass dieBürgerinnen und Bürger für jeden Euro, den sie für dieerneuerbaren Energien bezahlen, möglichst viel Strombekommen,
dass nicht nur die teuersten Technologien eine Markt-chance haben, sondern auch die billigen Technologien.Deshalb setzen wir uns stärker für die Direktvermark-tung ein. Im Übrigen hält es die FDP-Bundestagsfrak-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 197. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Oktober 2012 23775
Michael Kauch
(C)
(B)
tion für nötig, dass wir als Sofortmaßnahme die zusätzli-chen Mittel, die der Bund aus der Mehrwertsteuer aufdie erhöhte Umlage erzielt, an die Bürgerinnen und Bür-ger zurückgeben. Der Staat darf sich nicht dadurch be-reichern, dass die EEG-Umlage steigt. Deshalb sind wirdafür, über die Stromsteuer eine Absenkung herbeizu-führen.
Vielen Dank.
Herr Kollege, das Wort „Lüge“ ist unparlamentarisch.
Hier im Hause findet dies ohnehin nicht statt, weil jeder,
der hier Aussagen trifft, immer davon ausgeht, dass
seine Argumente die richtigen sind und diese nach bes-
tem Wissen und Gewissen vorgebracht werden.
Auch bei größter Leidenschaft in der Debatte kann
ich die Verwendung dieses Wortes nicht akzeptieren. Ich
rüge deshalb Ihre Aussage.
Als Nächste hat aus der Fraktion Die Linke unsere
Kollegin Eva Bulling-Schröter das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichhalte die ganze Debatte für ein Medienspektakel. Ausge-rechnet Union und FDP machen sich Sorgen um denStrompreis.
Ausgerechnet Sie wollen sozial sein.
Da kann ich eigentlich nur lachen.
Senkung der Rente, Leiharbeit, prekäre Beschäftigung,Dumpinglöhne überall, auch bei mir in Bayern, wo ja an-geblich alles so toll ist. Diese Parteien haben nichts mitsozialem Bewusstsein am Hut.
Aber sie haben den Strompreis in die Höhe getrieben.Dieser Preisanstieg stellt ein großes Problem dar.Auch Rot-Grün hat seinerzeit kräftig daran gearbeitet,die Lasten der Energiewende bei den Geringverdienernund kleinen Unternehmen abzuladen. Dieser Hinweis istrichtig. Aber die Koalition plagt nicht das soziale Gewis-sen; vielmehr macht sie sich Sorgen um die fossil-ato-mare Wirtschaft, um die „großen Vier“. Diese Unterneh-men verlieren nämlich jeden Tag Marktanteile an dieProduzenten der erneuerbaren Energien. Das findet dieKoalition Mist, das soll ausgebremst werden. So schautes nämlich aus.Fakt ist: Der Haushaltsstrompreis ist seit dem Jahr2000 viermal so schnell gestiegen wie der Verbraucher-preisindex. Eine vierköpfige Familie zahlt heute jährlichinflationsbereinigt rund 260 Euro mehr als damals. Faktist aber auch, dass die Umlage für die erneuerbarenEnergien daran nur einen Anteil von etwa 30 Prozenthat. 30 Prozent – und selbst davon hat ein Viertel nichtsmit Ökostrom zu tun. Das muss man immer wieder beto-nen.Der übrige Strompreisanstieg resultiert vielmehr auseiner Mischung aus Marktmacht, großzügigen Privile-gien für die Industrie sowie Steuern. Diese Schieflagebegann tatsächlich bereits unter Rot-Grün. Die Öko-steuer wurde seinerzeit mit der Absenkung der Renten-beiträge verbunden, was vor allem den Beziehern hoherEinkommen nutzte.Parallel wurde die energieintensive Industrie vollstän-dig von der Steuer befreit, der Rest der größeren Unter-nehmen wurde über den Spitzenausgleich privilegiert.Mit beiden Maßnahmen wurde eine einflussreicheLobby ruhiggestellt: Die Sozialdemokraten konnten beider großen Industrie punkten, die Grünen bei gut verdie-nenden Akademikern. Arme Familien dagegen zahlenbis heute drauf.
Als die PDS damals den sozialen Ausgleich forderte,welchen SPD und Grüne versprochen hatten – ich wardamals hier im Bundestag –, wurde sie von beiden als„Ökobremser“ beschimpft. Daran kann ich mich nocherinnern.Die Ausnahmeregelungen bei der EEG-Umlage sindnun einmal ein Werk von Jürgen Trittin und SigmarGabriel. Auch die kostenlose Vergabe der CO2-Emis-sionsrechte wurde damals eingefädelt. Dadurch gehenden Haushalten Milliarden Euro verloren – die Kostenwerden nämlich eingepreist, obwohl die Unternehmennoch gar nichts bezahlen –, während sich die Energie-versorger dumm und dämlich verdienen. Und wer be-zahlt? Natürlich die Haushaltskunden.Schwarz-Gelb hat nun die Befreiung der Industrievon der EEG-Umlage weiter vorangetrieben. Heute gabes wieder eine Anhörung zur Ökosteuer. Sie können esdoch nicht leugnen: Sie machen mit den Befreiungenweiter. Hinzu kommen Ermäßigungen bei Netzentgelten.Zudem wird die Industrie noch bis 2020 beim Emis-sionshandel beschenkt. Auch das können Sie nicht leug-nen.Ich sage: Das alles muss ein Ende haben.
Es kann nicht sein, dass vor allem jene die Energie-wende bezahlen, die jeden Monat neu rechnen müssen,wie sie über die Runden kommen. Fragen Sie doch end-lich einmal die Leute!
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23776 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 197. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Oktober 2012
Eva Bulling-Schröter
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Wir Linken wollen die Energiewende mit einem Sie-ben-Punkte-Programm sozial gestalten. Wir haben dazuVorschläge: Die Privilegien sollen abgebaut werden. Zu-dem fordern wir eine effektive Strompreisaufsicht, einewirkliche Aufsicht, die auch einmal Nein sagt, und dieReduzierung der wirkungslosen Stromsteuern; denn dasEEG ist das Lenkungsinstrument für die Energiewende,und dieses gilt es zu schützen und zu bewahren.
Katja Kipping hat schon im Sommer eine Abwrackprä-mie für Energiefresser vorgeschlagen; wir freuen uns,dass die Grünen sie jetzt auch vorschlagen. Danebenmüssen Stromsperren verboten werden. 600 000 bis900 000 Haushalten wird einfach der Strom abgestellt.Dies betrifft auch Mütter mit kleinen Kindern. Das istabsolut asozial. Da muss etwas passieren.
Nicht zuletzt wollen wir mit unserem Sockelmodellbeim Strompreis den Energieverbrauch nicht nur sozialgerechter, sondern auch ökologischer gestalten.Es muss endlich etwas getan werden. Das ist sozial,und nicht das, was Sie wollen.
Vielen Dank, Frau Kollegin Eva Bulling-Schröter. –
Nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen ist unsere Kollegin Frau Bärbel Höhn. Bitte schön,
Frau Kollegin Bärbel Höhn.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichhatte heute Mittag eine Diskussion bei der InitiativeNeue Soziale Marktwirtschaft zum Thema „Rettet dieEnergiewende“. Dieselbe Initiative – diejenigen, die abund zu S- und U-Bahn fahren, haben es wahrscheinlichschon mitbekommen – startet momentan für viel Geldeine große Kampagne und klebt Plakate zum Stopp desEEG, also zum Stopp des Herzstücks der Energiewende.Da gibt es viel Heuchelei. Das, was wir heute vonseitender Koalition erleben, ist auch nicht viel besser.
Auch CDU/CSU und FDP haben in ihrer Mehrheitdie Energiewende nicht gewollt. Sie wollten Laufzeit-verlängerungen für Atomkraftwerke und haben sie auchdurchgesetzt. Erst die Katastrophe von Fukushima hatSie zum Kurswechsel gezwungen. Jetzt bekennen Siesich zur Energiewende; aber den Ausbau der erneuerba-ren Energien wollen Sie abbremsen. Das geht nicht zu-sammen, meine Damen und Herren.
Sie sagen, der Ausbau sei zu teuer; aber die Kostenhaben Sie selbst durch Ihre Politik systematisch in dieHöhe getrieben.
Das, was Sie hier treiben, ist ein doppeltes Spiel, und da-mit kommen Sie nicht durch.
Fakt ist: 2009, als die schwarz-gelbe Koalition ins Amtkam, lag die EEG-Umlage knapp über 1 Cent; heute istsie fünfmal so hoch und beträgt 5,3 Cent.
Die Verantwortung dafür können Sie nicht auf andereschieben, meine Damen und Herren.
Natürlich hat der Anstieg der EEG-Umlage auch eineMenge mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien zutun; Investitionen in die Zukunft kosten Geld. Aber dieBundesregierung hat den Ausbau unnötig teurer ge-macht: 1 Cent der EEG-Umlage und der Netzdurchlei-tungsgebühren geht auf Geschenke an die Industrie zu-rück, die in der Regierungszeit von Angela Merkelverteilt wurden.
– Ich komme dazu. – Verbraucher und Mittelstand zah-len deshalb fast 4 Milliarden Euro mehr als nötig.
Das ist der Merkel-Mehrpreis der Energiewende, unddiesen Merkel-Zuschlag wollen wir abschaffen.
Lassen Sie uns das einmal durchgehen. Wie ist denndieser Merkel-Zuschlag zustande gekommen? Angefan-gen hat es mit Wirtschaftsminister Glos, der in der Gro-ßen Koalition die Aufnahme neuer Industriesubventio-nen in das EEG durchdrückte. Seine Klientelpolitikkostet die Verbraucher heute 1 Milliarde Euro im Jahr.Philipp Rösler war da nicht besser: Er setzte imEEG 2012 eine weitere Ausweitung der Ausnahmen fürdie Industrie durch. Das Ergebnis ist: Statt der 250 privi-legierten Unternehmen, die es 2005, am Ende der Regie-rungszeit von Rot-Grün, gab, haben wir mittlerweileüber 700,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 197. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Oktober 2012 23777
Bärbel Höhn
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darunter sind Schlachthöfe, Zuckerbäcker, Futtermittel-hersteller und der Flughafen von Stuttgart. Für dasnächste Jahr, für 2013, gibt es mehr als 2 000 Anträge.
Das ist ein ungerechtes Ergebnis Ihrer Politik, nicht derPolitik von Rot-Grün.
Fast alle dieser Anträge entsprechen den Kriterienund werden deshalb genehmigt werden müssen.
Das gilt auch für die Anträge zu Netzentgelten der bei-den Golfplätze, die Sie hier herunterzuspielen versu-chen. Diese Anträge erfüllen die Kriterien, die Sie selberaufgestellt haben.
Herr zu Guttenberg hat die Netzentgelte für die Groß-industrie 2009 abgesenkt, und Herr Brüderle hat sie 2011ganz abgeschafft. Mehrkosten für die Verbraucher:500 Millionen Euro. Herr Röttgen hat das EEG mit derteuren und ineffizienten Marktprämie befrachtet.Auch Herr Altmaier ist nicht besser; denn die weitereVerteuerung aufgrund der Liquiditätsreserve im Rahmender EEG-Umlage wird von den Verbrauchern gezahltwerden. Die ganze schwarz-gelbe Bundesregierung hatmitgemacht, die Kosten für Verbraucher und gerade fürden Mittelstand, für die kleinen und mittelständischenBetriebe,
in die Höhe zu treiben. Jetzt vergießen Sie Krokodilsträ-nen wegen der steigenden EEG-Umlage. Das glaubtIhnen niemand, meine Damen und Herren.
Wir Grüne wollen den Ausbau der erneuerbaren Ener-gien zu fairen Kosten fortführen. Deshalb wollen wirerstens den Merkel-Zuschlag abschaffen und die Indus-trieprivilegien auf schutzbedürftige Unternehmen be-schränken, also auf diejenigen, die im internationalenWettbewerb stehen und bei denen Arbeitsplätze wegfal-len könnten. Zweitens gehören alle Vergütungssätze undBoni im EEG auf den Prüfstand, und drittens brauchenwir ein neues Marktdesign für den Strommarkt, damitimmer mehr erneuerbare Energien auch außerhalb desEEG ihren Platz finden.„Rettet die Energiewende“ ist eigentlich ein gutesMotto. Aber dafür müssen wir das EEG weiterent-wickeln und dürfen es nicht abschaffen.
Dafür müssen wir die erneuerbaren Energien kosten-günstig ausbauen und dürfen sie nicht ausbremsen. Undwir müssen die Energiewende fair und nicht einseitig zu-lasten der Verbraucher und zulasten der kleinen und mit-telständischen Betriebe finanzieren.Deswegen werden wir auch an diesem Punkt nachha-ken. Wir werden Sie treiben, damit Sie das tun, wasAngela Merkel schon gestern verkündet hat: Sie willdiese ungerechten Ausnahmen überprüfen, weil wir sieaufgedeckt haben und Sie letzten Endes damit getriebenhaben.
Danke.
Vielen Dank, Frau Kollegin Bärbel Höhn. – NächsterRedner ist für die Bundesregierung Herr BundesministerPeter Altmaier. Bitte schön, Herr Bundesminister PeterAltmaier.
Peter Altmaier, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit:Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Werte Frau Kollegin Bärbel Höhn, ich habe denEindruck,
dass Sie mit Ihrer Rede die Energiewende nicht verteidi-gen, sondern schlechtreden wollten. Bei allen Fehlernund Schwächen, die es gibt: Das hat die Energiewendenicht verdient.
Deshalb, meine sehr verehrten Damen und Herren,sollten wir uns gemeinsam daran erinnern, dass wir dieseEnergiewende hier an dieser Stelle vor anderthalb Jahren
gemeinsam beschlossen haben.
Es stimmt, dass wir damals bei der Frage der Laufzeitenfür Kernkraftwerke unterschiedliche Auffassungen hat-ten, aber es stimmt auch, dass wir gemeinsam für denAusbau und die Förderung von erneuerbaren Energieneingetreten sind. Das war seit den Zeiten von PeterHarry Carstensen und Dietrich Austermann ein partei-übergreifender Konsens in diesem Haus.
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23778 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 197. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Oktober 2012
Bundesminister Peter Altmaier
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Wir haben das Erneuerbare-Energien-Konzept im Jahre2010 beschlossen. Wir haben es die ganzen Jahre ge-meinsam getragen.
Liebe Frau Höhn, wir sollten das, was wir gemeinsamerreicht haben, nicht schlechtreden.
Ich komme viel herum im Land, und ich rede mit denMenschen. Das, was insbesondere Ihr Fraktionsvorsit-zender Trittin, aber auch andere Vertreter von Bünd-nis 90/Die Grünen und auch – es tut mir leid, es zu sagen –von der SPD in den letzten Tagen zum Thema „Ausnah-meregelungen für die Industrie“ an falschen, an unrichti-gen Behauptungen,
an Unterstellungen verbreitet haben, hat der Akzeptanzdieser Energiewende mehr geschadet als alle Kampag-nen.
Ich will Ihnen eines sagen:
Man kann doch möglicherweise jenseits Ihrer unzutref-fenden Behauptungen etwa im Hinblick auf Golfplätzeund anderes über einzelne Anträge, die vielleicht abge-lehnt werden, und über einzelne Anträge, die vielleichtsogar genehmigt werden, durchaus mit Argumentenstreiten. Aber Sie wissen doch selbst: Wenn man diemöglichen Missbrauchsfälle tatsächlich identifiziert undabstellt – und ich habe gesagt, dass ich das prüfenwerde –, dann wird die EEG-Umlage weder wesentlichsinken noch wesentlich steigen.
Sie wird im Wesentlichen gleich bleiben.
Das ist die Situation. Das müssen Sie den Menschensagen.
Sie wissen doch ganz genau: Auch wenn wir sämtli-che Ausnahmeregelungen für energieintensive Unter-nehmen streichen würden, würde die EEG-Umlage zum1. Januar 2013 steigen.
Daran zeigt sich doch der Erfolg des Ausbaus des Be-reichs der erneuerbaren Energien. Das zeigt doch, waserreicht worden ist.Wir sollten uns auch darüber klar werden, dass wirein Interesse daran haben, den Konsens aufrechtzuerhal-ten, der seit dem Jahr 2000 zwischen uns allen herrscht:
Wir sollten die Energiewende so gestalten, dass derWirtschaftsstandort Deutschland dadurch nicht schwä-cher, sondern stärker wird und wir die Grundstoffindus-trien in Deutschland halten können. Dieser Konsensmuss Bestand haben und darf in diesem Hohen Hausenicht infrage gestellt werden, von niemandem.
Liebe Frau Höhn, ich hätte mir gewünscht, dass indieser Debatte ein Stück weit Gemeinsamkeiten deutlichgeworden wären.
Sie haben uns vorgeworfen, wir würden den Ausbau desBereichs der erneuerbaren Energien bremsen.
Was für ein Unsinn! Liebe Frau Höhn, wir haben imSommer eine deutliche und regelmäßige Absenkung,eine Degression der Einspeisevergütung für Photovolta-ikanlagen beschlossen, um das Ausbautempo wieder zudem ursprünglich vorgesehenen Korridor zurückzubrin-gen. Wir haben auch beschlossen, dass die Einspeisever-gütung generell ausläuft, wenn eine Gesamtleistung von52 Gigawatt erreicht ist. Diesen Beschluss haben wir ge-meinsam mit den Stimmen aller Vertreter der Grünen inBundesrat und Bundestag gefasst. Wenn Sie uns jetztvorwerfen, dass wir den Ausbau im Bereich der Photo-voltaik bremsen,
obwohl Sie diese Beschlüsse mitgetragen haben, weilSie wussten, dass sie richtig sind, dann ist das intellektu-ell unredlich. Das lassen wir Ihnen in dieser Debattenicht durchgehen.
Seit der Zeit der schwarz-grünen Pizza-Connectionhabe ich ein sehr großes Herz für meine grünen Freunde.Vieles von dem, worüber wir damals gemeinsam disku-tiert haben, haben wir erreicht. Peter Harry Carstensenwar einer der Ersten, die erkannt haben, welches Poten-zial in den erneuerbaren Energien steckt. Bei Ihnen unduns gab es einige, die das erkannt haben, aber wir warenin der Minderheit. Wir haben zwar viel erreicht, aber wirmüssen uns die Frage stellen, ob wir unsere Argumentewirklich alle paar Wochen ändern wollen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 197. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Oktober 2012 23779
Bundesminister Peter Altmaier
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Lieber Herr Kollege Hempelmann, das, was Sie zumThema Offshorewindenergie gesagt haben, hat mich sehrbetroffen gemacht.
Wissen Sie, alle Regierungen seit der rot-grünen Koali-tion haben gesagt – das gilt für die Große Koalition unddie jetzige Koalition –, dass wir den Bereich Off-shorewindenergie entwickeln wollen. Das haben wir allemiteinander gesagt. In Norddeutschland sind mit Blickauf den Ausbau des Bereichs der Offshorewindenergieinzwischen Tausende von Arbeitsplätzen in Küstennäheentstanden. Ein neuer Hafen wurde gebaut. Es wurdenFirmen gegründet, die sich dort angesiedelt haben. Zehn-tausende Menschen arbeiten in diesem Bereich.
Darf ich Ihre Aussagen so verstehen, dass Sie uns ein-laden, gegen die Nutzung der Offshorewindenergie zuarbeiten, und Sie diese Arbeitsplätze aufs Spiel setzenwollen?
Denken Sie daran, dass der Erfolg dieser Initiativen da-von abhängt, dass der Konsens Bestand hat. Das, waswir gemacht haben, ist im Prinzip richtig.
– Lieber Herr Hempelmann, ich kann es doch nicht än-dern. Im Sommer befand sich dieses Projekt in keinerguten Verfassung.
Dafür ist nicht irgendeine Regierung verantwortlich,sondern das ist Folge der Tatsache, dass viele dieSchwierigkeiten und Herausforderungen, die mit diesemProjekt in finanzieller, technologischer und anderer Hin-sicht verbunden sind, unterschätzt haben.
In so einer Situation muss die Regierung handeln.Jetzt komme ich zu dem entscheidenden Punkt: Wirhaben im Jahre 2000 das Erneuerbare-Energien-Gesetzverabschiedet.
– Dieser Bundestag hat es verabschiedet.
Dieses Gesetz ist inzwischen seit rund zwölf Jahren inKraft. Alle Probleme, mit denen wir heute zu kämpfenhaben, das Problem, dass der Netzausbau nicht nach-kommt, alle Probleme im Hinblick auf die Frage, wieman die erneuerbaren Energien speicherungsfähig ma-chen kann, alle Probleme, die damit zusammenhängen,dass wir für ein vernünftiges Ausbautempo sorgen müs-sen, und die Probleme zwischen Nord und Süd und Ostund West, die gelöst werden müssen, all diese Problemehätten Sie in den neun Jahren, in denen Herr Trittin undHerr Gabriel Umweltminister waren, klären können.
Ich habe in meinem Ministerium die Aktenschränkedurchwühlt. Ich habe kein einziges Konzept aus der ZeitIhrer Regierungsverantwortung gefunden, das aufzeigt,wie man diese Energiewende vernünftig umsetzt und zueinem Erfolg macht.
Ich glaube, in den letzten Wochen ist deutlich gewor-den, dass alle in diesem Haus die Energiewende wollenund für ihren Erfolg arbeiten. Ich halte daran fest: Wirkönnen gemeinsam einen Konsens erreichen.
Dazu gehört, dass die Energiewende in einem vernünfti-gen Tempo vorangetrieben wird, dass sie mit dem Aus-bau der Netze abgestimmt wird, dass wir neue technolo-gische Möglichkeiten entwickeln und dass wir dafürsorgen, dass es öffentliche Akzeptanz gibt. Ich möchteSie herzlich einladen, daran mitzuwirken. Mäßigen Siesich etwas in Ihrer Rhetorik,
und verstärken Sie Ihre Anstrengungen in der Sache.Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Bundesminister. – Nächster Red-
ner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der Sozial-
demokraten unser Kollege Matthias Miersch. Bitte
schön, Kollege Matthias Miersch.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Herr Minister, man fragt sich, wer sich hier mä-ßigen muss. Wenn im Jahr 2012 von der Regierungs-koalition eine Aktuelle Stunde mit einem solchen Titelbeantragt wird, dann, glaube ich, ist das angesichts derseit Monaten bekannten Problematik eine Bankrotterklä-rung der Regierung und der Koalition.
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23780 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 197. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Oktober 2012
Dr. Matthias Miersch
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Lieber Herr Minister Altmaier, Sie sind es, der hierund heute einmal hätte sagen können, was Sie vorhaben.Sie sind für vier Jahre gewählt worden, um unter ande-rem die Energiepolitik zu gestalten. Was hören wir?Nichts, nichts und wieder nichts.
Frau Dött fleht uns in dieser Aktuellen Stunde an, Vor-schläge zu machen. Ich frage Sie: Wo sind Ihre Vor-schläge als Regierung der Bundesrepublik Deutschland?
Die Probleme sind seit Monaten bekannt. Das, wasSie bei der Befreiung energieintensiver Unternehmenvon der EEG-Umlage angerichtet haben, war keineReform des Gesetzes, sondern die Deformierung einerguten Absicht von Rot-Grün.
Das ist nicht der rote, sondern der schwarz-gelbe Faden,der sich durch diese Legislaturperiode zieht. Sie habenkeine Linie in der Energiepolitik. Sie haben keinen Planin der Energiepolitik.
Sie wissen gar nicht, wohin Sie wollen, und ich unter-stelle sogar einem Teil dieses Hauses, dass insgeheimgehofft wird, dass die Energiewende scheitert, damitsich das alte Denken, das sich noch in einigen Köpfenhier befindet, wieder durchsetzt.
Energiepolitik war immer eine Frage der politischenGestaltung in der Bundesrepublik Deutschland. DieEnergieerzeugung mit Kohle, Gas und Atom war nie bil-lig, war nie sozial adäquat, sondern sie wurde sozial ad-äquat und ökonomisch sinnvoll gestaltet. Wir könntenauch die Energiewende ökonomisch und sozial gerechtgestalten. Aber dazu muss man handeln, und da habenSie nichts zu bieten.
Wir sind nun in der Situation – die Vorlagen sind da;Sie kennen sie –, dass durch Ihre Gesetzesänderung eineexorbitante, inflationäre Befreiung der energieintensivenUnternehmen und auch solcher Unternehmen, die esnicht sind, stattgefunden hat.
Herr Kauch, dafür zahlen müssen die Mittelständler, vondenen Sie sprechen, und die Verbraucherinnen und Ver-braucher. Sie leiden unter Ihren Fehlschüssen.
Wenn Sie das feststellen – das können wir, glaube ich,alle unisono feststellen –, dann frage ich Sie: Wann än-dern wir diesen Zustand? Herr Döring, beantworten Siemir einmal diese Frage. Wann machen Sie diesen kolos-salen Fehler – er ist nachlesbar – rückgängig? Wannbeenden Sie diese Privilegierung von Unternehmen, dienicht im internationalen Wettbewerb stehen und dieeigentlich nicht in diesen Topf gehören? Herr Döring,Sie haben gleich die Möglichkeit, darauf zu antworten;Sie reden ja nach mir. Ich hoffe, dass Sie nicht in irgend-welche Prüfungsrunden verfallen. Sie hatten MonateZeit, sich mit diesem Tatbestand zu beschäftigen.
Es geht um politische Gestaltung, Herr Minister. Dabitte ich Sie doch sehr, nicht bei RWE anzuklopfen undzu fragen: Könntet ihr mal? Das ist, wie gesagt, eineFrage der politischen Gestaltung. Vor dem Hintergrundder Strompreisgestaltung – ich wende mich jetzt von denPrivilegierungstatbeständen ab – frage ich Sie: Warumgeben die Stromkonzerne die gesunkenen Großhandels-preise momentan wohl nicht an die Verbraucherinnenund Verbraucher weiter? Wäre es nicht an der Zeit, da-mit aufzuhören, „Bitte, bitte!“ zu machen? Sollte mannicht endlich Pflöcke einschlagen, politisch steuern, wiedie Energiepreise entstehen, und Fehlentwicklungen ent-gegentreten? Das ist Ihre Aufgabe als Bundesumweltmi-nister. Es ist aber nicht Ihre Aufgabe, bei den Stromkon-zernen „Bitte, bitte!“ zu machen, meine sehr verehrtenDamen und Herren.
Ich komme zu einem weiteren Gesichtspunkt, den ichin die Diskussion einbringen will. Frau Dött, Sie habenVorschläge verlangt.
Wie ist das eigentlich? Ist es gerechtfertigt, dass Strom-konzerne Zertifikate, die sie frei zugeteilt bekommen ha-ben, bei der Strompreisbildung so behandeln, als hättensie dafür bezahlen müssen?
– Verweisen Sie nicht auf Trittin, auf Helmut Schmidtoder auf Helmut Kohl! Sie sind diejenigen, die jetzt steu-ern können, liebe Kolleginnen und Kollegen!
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 197. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Oktober 2012 23781
Dr. Matthias Miersch
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Warum setzen wir uns nicht heute oder morgen zu-sammen und beraten, wie diese Dinge geändert werdenkönnen und wie politisch gesteuert werden kann? Daswäre jetzt angebracht. Dann könnten wir die Energie-wende sozial gerecht und ökonomisch sinnvoll gestalten.Aber dazu sind Sie nicht in der Lage. Insofern hoffe ich,dass Ihre Regierungszeit bald vorbei ist.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Kollege Matthias Miersch. – Nächster
Redner ist für die Fraktion der FDP unser Kollege
Patrick Döring. Bitte schön, Kollege Patrick Döring.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! All denjenigen in diesem Haus, die vonRot und Grün gesprochen haben, sage ich: Geldverbren-nung, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist keine Formder regenerativen Energieerzeugung; das nur zur Erinne-rung.
Zu den Steigerungen bei der EEG-Umlage kommt es,weil Sie vor zwölf Jahren
eine Fördersystematik etabliert haben, die da lautet: Wirversprechen den Menschen, die in diese Erzeugungsfor-men investieren, für 20 Jahre feste Vergütungssätze. –Das ist die Lizenz zum Gelddrucken,
die brutalste Umverteilung von unten nach oben, die esunter rot-grünen Regierungen je gegeben hat.
Im vergangenen Jahr – das führe ich einmal aus – sindallein die Zusagen für den Bereich der Photovoltaik um5 Milliarden Euro gestiegen, und dies sogar garantiertfür eine Dauer von 20 Jahren. Diese 100 MilliardenEuro, die zulasten der deutschen Stromkunden gehen,verdanken wir Ihrer Systematik und Ihrer Verweige-rungshaltung, wenn es darum geht, diese Systematik in-frage zu stellen.
Sie haben bei der Frage, wie wir das EEG reformierenkönnen, verzögert und blockiert.
Sie waren nicht bereit, die Vergütungssätze abzusenken,als es nötig war.
Sie haben bei der letzten Novelle viel, viel Zeit ins Landgehen lassen.
Sie haben viel Zeit ins Land gehen lassen, um so dafürzu sorgen, dass in Deutschland ein unkontrollierter Zu-bau stattfindet – zulasten der normalen Stromkunden.
Davon wollen Sie jetzt ablenken. Das lassen wir Ihnenaber nicht durchgehen.
Interessant sind die Vorschläge, die man dieser Tagehört. Da sagt die Energie- und Umweltministerin desLandes Rheinland-Pfalz, Frau Lemke – in Klammern:Bündnis 90/Die Grünen –: Wenn die Leute mit dieserStrompreissteigerung nicht zurechtkommen, sollten sieseltener Licht anmachen.
Man kann sich das sehr schnell ausrechnen: Will ein nor-maler Haushalt diese Strompreissteigerung kompensie-ren, indem er weniger elektrische Energie verbraucht,darf er acht handelsübliche Glühbirnen fünf Stunden amTag nicht anknipsen.
Wenn man Ihren Ratschlägen folgt, dann sitzt man imDunkeln, meine sehr verehrten Damen und Herren. Dasist die Politik, die Sie machen wollen. Wir wollen sieaber nicht, weil wir an die Menschen in Deutschlanddenken.
Ich finde es spannend, wie der Kollege Miersch ge-rade argumentiert hat. Dazu kann ich nur sagen: Ichwürde gerne wissen, ob Sie sich an den Werkstoren der87 Unternehmen der chemischen Industrie, die derzeitvon der EEG-Umlage befreit sind, dafür einsetzen wür-
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23782 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 197. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Oktober 2012
Patrick Döring
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den, die Arbeitsplätze in diesen Unternehmen zu gefähr-den. Dann will ich einmal sehen, welche Papierfabrikenbald von Sozialdemokraten aufgesucht werden, um denArbeitnehmern zu sagen, dass deren Arbeitsplatz in Ge-fahr ist.
Das ist ein Punkt, der einfach unredlich ist. Von den734 derzeit von der EEG-Umlage befreiten Unterneh-men betreibt kein einziges einen Golfplatz, betreibt keineinziges einen Flughafen.
Dies hier zu behaupten, ist ein starkes Stück. Sie wollendiese Ausnahmen in Wahrheit nicht. Mit Ihrer Politik ge-fährden Sie bis zu 900 000 Arbeitsplätze. Wenn man sowie Sie argumentiert, dann muss man auch den nötigenMut haben.
Dann will ich einmal den Kollegen Miersch sehen.Wegen der internationalen Wettbewerbsfähigkeit solltedie Sozialdemokratie in 51 Großstädten Deutschlandssofort die Befreiung der Straßenbahn- und Schienen-bahnunternehmen von der EEG-Umlage einfordern, weilnatürlich keines dieser Unternehmen dem internationa-len Wettbewerb ausgesetzt ist.
Trotzdem ist es richtig, diese Unternehmen von dieserUmlage zu befreien, damit auch die einfachen Leuteweiterhin den Nahverkehr nutzen können. Wenn Sie denNahverkehr in Deutschland flächendeckend teuer ma-chen wollen, dann müssen Sie es hier auch sagen undnicht immer mit Exotenbeispielen kommen. Sie stellendie Energiewende infrage, nicht wir.
Insofern ist es schon bemerkenswert, wenn immerwieder der Eindruck erweckt wird, diejenigen, die sichredlich dafür einsetzen,
Marktwirtschaft in dieses System zu bringen – Markt-wirtschaft heißt keine festen Preise; Marktwirtschaftheißt, das Geld am Markt zu verdienen –, diejenigen, diewie wir das EEG mit degressiven Fördersätzen, mit rea-listischen Ausbauzielen schnell reformieren wollen,seien die Bremser der Energiewende. Ihre Politik führtdazu, dass Strom unbezahlbar wird. Das lassen wir Ihnennicht durchgehen. Darum werden wir für eine schnelleReform des EEG sorgen.Herzlichen Dank.
Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die
Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Thomas Bareiß.
Bitte schön, Kollege Thomas Bareiß.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Lassen Sie mich zu Beginn meinesBeitrags in Erinnerung rufen, auf welchem fachlichenNiveau sich die Grünen in den letzten Tagen wieder ein-mal in die Energiewende eingeschaltet haben. Herr Fell– er ist heute ebenfalls hier – schrieb auf seiner Home-page: „Erneuerbare Energien weisen weniger externeKosten auf als fossile und nukleare Energien.“
Herr Kretschmann, mein neuer Ministerpräsident inBaden-Württemberg, sagt: „Die Sonne schickt uns keineRechnung …“
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie versuchen,bei den Menschen den Eindruck zu erwecken, dass er-neuerbare Energien keine Mehrkosten verursachen. Siezerstören in dieser Energiedebatte unglaublich viel Ver-trauen und Glaubwürdigkeit. Wenn einmal über höhereKosten gesprochen wird, dann führen Sie hier in Deutsch-land eine Verteilungsdebatte. So schaffen Sie kein Ver-trauen in die Energiewende, keine Glaubwürdigkeit.Wenn Sie so weitermachen, werden wir Stück für Stückdie Akzeptanz und die Bereitschaft für die Energie-wende in Deutschland verlieren. Das ist Ihre Schuld,nicht unsere.
Wir versuchen, die Energiewende engagiert voranzu-treiben. Wir haben im Sommer 2011 den Ausstieg ausder Kernenergie beschlossen. Aber im Gegensatz zudem, was Sie vor zehn Jahren gemacht haben, haben wirden Einstieg in das regenerative Zeitalter vollführt.
Wir haben beschlossen, dass wir in die Energieeffi-zienz einsteigen. Wir haben sieben Energiepakete aufden Weg gebracht, und wir sagen, wo wir einsteigen –was Sie nicht geschafft haben.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 197. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Oktober 2012 23783
Thomas Bareiß
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Wir haben Gesetze zum Ausbau von Netzen inDeutschland verabschiedet. Wir haben die Speicherka-pazität ausgebaut und werden sie im nächsten Jahr wei-ter ausbauen. Wir haben die Speicherförderung mit insLeben gerufen. Wir haben Energieforschung betrieben,und zwar in einem Maße, wie es keine Bundesregierungvor uns gemacht hat. Wir haben Intensivierungen im Be-reich der Energieeffizienz vorgenommen. Wir haben denAusbau der Kraft-Wärme-Kopplung vorangetrieben.Wir haben die nachhaltige Finanzierung durch denKlima- und Energiefonds auf den Weg gebracht, und wirhaben den Einstieg in die Wettbewerbsfähigkeit erneuer-barer Energien ebenfalls mit auf den Weg gebracht. Dassind alles Punkte, die wir in den letzten zwölf Monatengemeinsam bewältigt haben.Sie haben in sieben Jahren Rot-Grün nichts getan fürden Einstieg.
Sie haben die Energiewende verschleppt und sie damitauch ein Stück weit verteuert. Das ist ein Problem, andem wir heute zu schleppen haben. Jetzt müssen wir dieEnergiewende umso schneller gestalten.Ich möchte ganz klar sagen, wo die Gründe dafür lie-gen, dass die erneuerbaren Energien so teuer gewordensind, warum der Umbau so teuer wird: Die Grünen ma-chen die erneuerbaren Energien immer teurer.Beispiel Netzausbau. Sie fordern vor Ort immer nurdie Erdverkabelung.
Das kostet vier- bis sechsmal mehr als Überlandleitun-gen. Sie fordern immer größere Abstände zu Siedlungs-flächen. Auch das würde ein Mehrfaches kosten.Beispiel Offshorewindparks. Alle Anträge der letztenMonate zum Bereich Offshore gehen in Richtung Ver-teuerung; ein Thema ist beispielsweise die Schweinswal-population, die Sie immer ansprechen, die Ihnen ja soenorm wichtig ist. Jede Windfarm wird 6 bis 8 MillionenEuro teurer werden, wenn es nach den Anträgen geht,die Sie die letzten Monate gestellt haben.
Beispiel Biogas. Wir brauchen den Energieträger Bio-gas. Jetzt wird über Flächenkonkurrenz diskutiert. Siesollten mit uns gemeinsam dafür sorgen, dass mehr Bio-gasanlagen entstehen, dass für die Energiewende ver-stärkt Biomasse eingesetzt wird. Stattdessen gehen Sienach Brüssel und versuchen, die Flächenstilllegung vo-ranzubringen und in Deutschland 700 000 Hektar stillzu-legen. Auch damit machen Sie die Energiewende teurer.Beispiel Wasserkraft. Die Wasserkraft kann einenkostbaren Beitrag zur Energiewende leisten. Wo immerSie vor Ort Verantwortung übernehmen, wird eine Nut-zung der Wasserkraft verhindert. Wasserschutzgesetze,Fischschutzgesetze, Fischtreppen: alles Punkte, durchdie die Wasserkraft teurer und teurer gemacht wird.Bei Kohle- und Gaskraftwerken ist es ebenso: Vor Orttreiben Sie die Kosten in die Höhe. Dadurch wird dieEnergiewende Stück für Stück teurer.
Wenn wir all diese Kosten aufsummieren würden,würden wir sehen, dass die Energiewende ohne Pro-bleme ein Stück weit bezahlbarer gemacht werdenkönnte. Dadurch ließe sich mehr einsparen als durcheine stärkere Belastung energieintensiver Industrien. Wirsollten sehen, dass wir vorankommen. Wir gehen dieEnergiewende engagiert an. Ich kann Sie nur immer wie-der auffordern: Machen Sie mit bei diesem Projekt, an-statt immer wieder auf die Bremse zu treten.Herzlichen Dank.
Nächste Rednerin in unserer Aktuellen Stunde ist für
die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin
Gabriele Groneberg. Bitte schön, Frau Kollegin Gabriele
Groneberg.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Die Debatte, die die Kollegen der Regie-rungsfraktionen hier heute organisieren, gleicht schon ei-ner Posse. Das ist, als wenn jemand, der stiehlt, ganz lautschreit: Haltet den Dieb!
Ihre chaotische Politik, Ihr abstruses Hin und Her, IhreUnfähigkeit, die Energiewende zu gestalten, muss derVerbraucher jetzt ausbaden. Sie versuchen, zu suggerie-ren, wir seien es gewesen.Herr Döring, irgendwie habe ich das Gefühl, Sie ha-ben die letzten Jahre verpasst oder durch einen Nebelwahrgenommen.
Die dramatische Steigerung der EEG-Umlage in Höhevon 4 Cent pro Kilowattstunde, über die wir heute disku-
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23784 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 197. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Oktober 2012
Gabriele Groneberg
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tieren, haben Sie in den letzten Jahren verursacht, nichtwir.Herr Bareiß, zehn Jahre lang haben Sie den Umbaudes Energiesystems erfolgreich verhindert. Sie haben dieUnternehmen durch Ihre atomfreundliche Politik aufeine falsche Fährte geführt. Damit haben Sie den Umbauin Richtung erneuerbare Energien letztendlich verhin-dert.
Das gilt genauso für den Netzausbau. Das gilt genausofür den Ausbau von Speichersystemen und alles andereauch.
Herr Altmaier, wenn Sie heute meinen, Sie seien imverkehrten Film,
dann sollten Sie einen Blick auf die Tagesordnung wer-fen: Die Aktuelle Stunde ist nicht von uns aufgesetztworden, sondern von Ihren Kollegen. Machen Sie sicheinmal klar, was hier heute so verzapft wird.Der Verbraucher ist mündig, und er weiß, dass er dieEnergiewende nicht zum Nulltarif bekommt. Aber dassdie Strompreise geradezu davonlaufen, das kann er undwill er sicher auch nicht verstehen. Noch weniger Ver-ständnis hat er für das, was Sie mit den Ausnahmerege-lungen veranstalten. Die Ausnahmeregelungen sindheute schon viel zitiert worden; ich will sie gar nicht be-schreiben. Für diejenigen, die diese Debatte verfolgen,kann man aber sagen, dass man sich diese Liste ganz le-gal aus dem Internet – von der Homepage des Bundesam-tes für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle – herunterladenkann. Tut man das, dann kommt man aus dem Staunennicht heraus.Der Beantwortung einer Kleinen Anfrage der Grünendürfen wir im Übrigen entnehmen, dass im Antragsjahr2006 bis zum Stichtag 30. Juni 406 Unternehmen mit543 Abnahmestellen Anträge auf Vergünstigungen beimStrompreis gestellt haben. Man höre und staune: 2012haben bis zum Stichtag 30. Juni 2012 gar 2 023 Unter-nehmen mit 3 172 Abnahmestellen Anträge gestellt. Wassagen Sie denn dazu, Herr Döring? Das haben Sie offen-sichtlich wohl nicht mitbekommen.
Sie toppen die ganze Geschichte aber noch: Sie habendie Investitionen in die Stromspeicher verschleppt – daswurde gerade schon gesagt –, Sie haben den Netzausbauverschleppt und damit die Netzanbindung von Offshore-anlagen gefährdet.
Das Ungeheuerliche ist: Die Haftung für dieses Risikowollen Sie jetzt auch noch durch eine neue Umlage aufdie Verbraucher umwälzen. Das ist nun wirklich abstrus.
Ich finde es überhaupt nicht gerecht, dass der Ver-braucher die Zeche für das zahlen soll, was Sie hier dieganzen Jahre versäumt haben. Warum geben Sie nichtoffen zu, dass Ihnen das Ganze entglitten ist, Sie hiereinfach gepennt haben und hier dringend eine Umkehrerforderlich ist? Der letzte Satz von Herrn Döring war indieser Beziehung schon interessant: dass das EEG jetztreformiert werden muss. Ich bin einmal gespannt, wel-che Deformationen Sie sich hier wieder einfallen lassen.
Rund 60 Euro Mehrkosten für einen normalen Haus-halt: Das hört sich im Moment vielleicht gar nicht einmalso viel an. Aber das summiert sich ja. Ich denke an dieHaushalte der Arbeitnehmer, die wenig verdienen, diestagnierende Lohneinkommen haben und die prekäre Be-schäftigungsverhältnisse hinnehmen müssen. Da fasseich mir natürlich schon an den Kopf, wenn Sie auf einmalIhr Herz für die Geringverdiener entdecken. Das glaubtIhnen irgendwie keiner. Herr Hempelmann hat dazu um-fangreiche Ausführungen gemacht. Was er gesagt hat,das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen.Fakt ist, dass die Ausgleichsregelungen für energiein-tensive Betriebe durch die letzte EEG-Novelle, die Sieletztendlich zu verantworten haben, ein enormes Aus-maß angenommen haben – ich habe die Zahlen genannt –und dass Sie die Last nun fast allein auf den Normalver-braucher und auf die kleinen Unternehmen umlegen.Herr Kauch, ich schätze Sie zwar sehr, aber dass aus-gerechnet Sie den Bürgerinnen und Bürgern die Mehr-einnahmen durch die Mehrwertsteuer als Entlastung zu-kommen lassen wollen, mögen Sie für sich vielleichtkalkuliert haben; allerdings haben Sie hier die Rechnungvollkommen ohne Ihre Kollegen aus der Regierungsko-alition gemacht. Sie werden Ihnen einen Strich durch dieRechnung machen. Fast könnte man meinen, dass Ihnendie Erhöhung der Umlage ganz gelegen kommt. Ichdenke einmal daran, dass Sie vielleicht vorhaben, damitdie Finanzierung des unseligen Betreuungsgeldes sicher-zustellen. Das ist nämlich eine ganz andere Nummer.
Selbst Kanzlerin Merkel – Ihre Parteikollegin – zwei-felt daran, ob es richtig ist, dass so viele Unternehmendiese Vergünstigungen erhalten. Gut, dem kann mannichts hinzufügen. Sie können das selber nachlesen,wenn Sie mir nicht glauben. Das hat sie auf dem Deut-schen Arbeitgebertag gesagt.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 197. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Oktober 2012 23785
Gabriele Groneberg
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Die Energiewende kostet Geld; das ist richtig. Die In-vestitionen zahlen sich auf Dauer aber sicherlich aus.Wir wollen bezahlbare Energie, nicht zu verwechselnmit billiger Energie. Wir wollen einen Umbau des Ener-giesystems. Sie haben aber offensichtlich nicht den Mutdazu, die dringend notwendige Änderung des EEG sodurchzuführen, dass wir in Deutschland vernünftig da-mit leben können. Deshalb versuchen Sie mit dieser Ak-tuellen Stunde, uns als Sündenbock zu benutzen. Ichsage Ihnen: Diese Rechnung wird nicht aufgehen.
Vielen Dank, Frau Kollegin Groneberg. – Die Parla-
mentarische Geschäftsführerin der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen hat sich zu Wort gemeldet. Bitte schön, Frau
Haßelmann, ich gebe Ihnen das Wort zur Geschäftsord-
nung.
Vielen Dank, Herr Präsident, dass Sie mir das Wort in
der Aktuellen Stunde geben. – Ich möchte gerne darum
bitten, dass meine Kollegin Bärbel Höhn am Ende der
Debatte das Wort für eine persönliche Erklärung be-
kommt, da sie von Herrn Altmaier in dieser Aktuellen
Stunde mehrfach angesprochen worden ist und sie vor
ihm, dem Vertreter der Bundesregierung, gesprochen
hat.
Bitte schön, zur Geschäftsordnung, Herr Manfred
Grund.
Herr Präsident, ich weise darauf hin, dass der Antrag
von Bündnis 90/Die Grünen zur Geschäftsordnung we-
der durch die Geschäftsordnung noch durch den Verlauf
der heutigen Debatte gedeckt ist. Wir werden diesem
Antrag nicht zustimmen.
Ich hatte gehofft, dass es hier zu einer einvernehmli-
chen Regelung kommt. Die Mehrheit widerspricht Frau
Haßelmann, sodass ich jetzt in der Debatte fortfahre.
– Nein. Ich habe das nicht so verstanden, dass das ein
Antrag ist.
– Dann unterbreche ich kurz, bis wir das hier geklärt ha-
ben. –
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich entscheide, um
den Frieden dieses Hauses insgesamt sicherzustellen,
dass diese persönliche Erklärung jetzt abgegeben wird.
Frau Kollegin Bärbel Höhn, Sie können Ihre persönli-
che Erklärung jetzt bitte abgeben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kann Herrn
Altmaier leider nicht mehr sehen. Er ist sonst nicht zu
übersehen; aber gerade jetzt sehe ich ihn nicht.
Er ist entschuldigt. Das ist geregelt.
Okay.
Ich will trotzdem sagen: Ich finde die Rede von HerrnAltmaier nicht in Ordnung, und zwar deshalb, weil erspeziell zu uns gesagt hat, wir hätten den einen oder an-deren konstruktiven Vorschlag machen sollen.
Gleichzeitig wurde aber von der Regierungskoalitioneine Aktuelle Stunde beantragt, in der die Koalitionsämtliche Belastungen Rot-Grün und mir zusammen mitHerrn Trittin anrechnet. Das ist nicht in Ordnung.
Es entspricht genau dieser Heuchelei, die wir hiermehrfach erlebt haben:
Auf der einen Seite wird versucht, so zu tun, als würdeman die Energiewende vorantreiben, und auf der ande-ren Seite wird sie konterkariert.
– Herr Döring, Sie sollten sich erst einmal um Ihre Ne-bentätigkeiten kümmern, bevor Sie hier den Mund auf-machen.
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23786 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 197. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Oktober 2012
Bärbel Höhn
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Angesichts dessen sage ich Ihnen hier sehr deutlich:
Das, was Sie hier vorgeführt haben, ist ein Widerspruch,der nicht hinnehmbar ist.
Die einen sagen, Herr Bareiß: Nichts ist verändert wor-den. Die anderen sagen, sie hätten schon 2000 zuge-stimmt. Meine Damen und Herren, so lassen wir mit unsnicht verfahren.
Zunächst einmal haben wir jetzt diese persönliche Er-
klärung gehört. Ich weise darauf hin, dass das Wort
„Heuchelei“ unparlamentarisch ist.
– Gut.
Ein Zweites, Frau Kollegin: Wir sollten verschiedene
Tatbestände nicht vermischen. Ich glaube, es war falsch,
dass wir so verfahren sind. Sie haben in Ihre persönliche
Erklärung auch noch einen anderen Tatbestand, bezogen
auf Herrn Döring, aufgenommen. Auch das sollte man
nicht tun, wenn es nur um die Sache gehen soll. Die Ge-
schäftsordnung ist damit ausgeschöpft.
Ich möchte jetzt gerne sachlich in der Debatte fortfah-
ren. Ich gebe dem Herrn Kollegen Franz Obermeier das
Wort.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Ichglaube, jetzt nehmen wir ein bisschen Dampf aus demKessel und kommen zu dem, worum es eigentlich geht:Diese Aktuelle Stunde wurde beantragt, um der Opposi-tion ein bisschen mehr Gründlichkeit beizubringen.
Herr Präsident, Sie haben vorhin die Frage gestellt, obwir hier im Plenum das Wort „Lüge“ verwenden dürfen.Selbstverständlich hat hier vor diesem Rednerpult nochnie ein Abgeordneter gelogen.Unabhängig davon tische ich Ihnen jetzt folgendenwahren Sachverhalt auf. Am 2. Oktober dieses Jahresgab es in einer Berliner Zeitung einen Namensartikel,geschrieben von Staatssekretär a. D. Rainer Baake,Grüne, seinerzeit Staatssekretär unter BundesministerJürgen Trittin.In diesem Namensartikel sind all die Vorwürfe, diedie Opposition erhoben hat – der Herr Krischer war be-sonders laut –, enthalten: dass diese BundesregierungKinobetreiber, Geflügelhöfe, Spielbanken, Bekleidungs-ketten, Hotels, Golfplätze und Pflegeheime von derEEG-Umlage ausnimmt. Das stand in dem Namensarti-kel des Herrn Baake. Daraufhin hat sich der Herr Bun-desminister a. D. Trittin erdreistet, öffentlich zu behaup-ten, dass wir Hähnchenmastanlagen von der EEG-Umlage ausnehmen.
– Lieber Rolf Hempelmann, Vorsicht, Vorsicht!
– Nein, nein. Sie müssen abwarten. Schreien Sie nicht zufrüh.Heute hat der Staatssekretär a. D. Baake alles schrift-lich zurückgenommen.
Er bittet die Presse, das Ganze richtigzustellen. Er ent-schuldigt sich für all das, was ich hier vorgelesen habe.Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, soll-ten ein bisschen herunterfahren. Auch Sie, Frau Höhn,sollten ein bisschen herunterfahren.
Denn das, was der Bundesminister zu den Ausnahmenvorgetragen hat, ist richtig und wahr. Frau Groneberg,diese Liste steht im Internet; aber Sie müssten sie auchlesen.
Dann würden Sie wissen, dass an den Behauptungen, diehier von Ihnen vorgetragen wurden, nichts dran ist.
– Haben Sie den Geflügelhof gefunden? Haben Sie dieHähnchenmast gefunden?
Nein, die haben Sie nicht gefunden. Ich habe diese Listedabei. Sie können es mir dann zeigen.Also, liebe Opposition, kehren wir zurück. Wenn wirdie Energiewende in unserem Land zum Erfolg führenwollen, dann hören Sie mit der Krakeelerei auf.Vielen Dank.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 197. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Oktober 2012 23787
Franz Obermeier
(C)
(B)
Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist der
Kollege Ingbert Liebing. Bitte schön, Kollege Ingbert
Liebing.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Das, was wir seitens der Opposition in der aktuellenEnergiedebatte und auch heute Nachmittag in dieser Ak-tuellen Stunde erlebt haben, ist widersprüchlich unddoppelzüngig, um nicht zu sagen: verlogen. Ich will Ih-nen dies auch gerne konkret belegen.
Ich fange mit Ihnen, Frau Höhn, an, da Sie sich soaufgeblasen haben. Sie wissen doch selber gar nicht, wieSie argumentieren wollen. Auf der einen Seite sagen Sie:Das ist eine hysterische Strompreisdebatte und alles halbso wild. Macht ein bisschen früher das Licht aus, dannkönnt ihr das alles bezahlen.
– Das sagen Sie selber. Ihre Ministerin in Rheinland-Pfalz argumentiert genau so. –
Wir haben das alles heute schon gehört. Ich komme nochzu anderen Zitaten. Auf der anderen Seite kritisieren Siebestimmte Steigerungen.Ich schaue aber auch auf das, was im Energiesektornoch passiert. Die Steigerungen des Benzinpreises ander Tankstelle – das ist das Dreifache dessen, worüberwir hier reden – sind Ihnen recht.
Sie wollten noch viel höhere Preissteigerungen des Ben-zinpreises. 5 D-Mark, das war Ihr Ziel; 2,50 Euro, das istIhr Ziel. Sie freuen sich über steigende Spritpreise, weilSie noch viel höhere Preise wollen. Das ist alles wider-sprüchlich.Einerseits beklagt die Opposition die hysterischeKostendebatte. Dazu gibt es ein Zitat von Herrn Heil,dem stellvertretenden SPD-Fraktionsvorsitzenden, vom6. Oktober auf Zeit Online, der die hysterische Kosten-debatte kritisiert. Andererseits beteiligen Sie sich selberan dieser Debatte, indem Sie die Befreiungen, die wirvorgenommen haben, um den Standort zu sichern, kriti-sieren. Sie fordern doch Sozialtarife und Ähnliches.
Außerdem fordern Sie einen Masterplan für die Ener-giewende. Sie kritisieren das Nebeneinander von16 Bundesländern. Wiederum Herr Heil fordert eineKoordination der Ausbaupläne.
Wir wollen das. Der Umweltminister hat genau das jetztzum Thema gemacht,
und Sie sind diejenigen, die es kritisieren, und es sinddie SPD-Ministerpräsidenten, die jetzt dagegen sind,
Herr Albig in Kiel vorneweg, dem ich vielleicht nochzugutehalten kann, dass er von dem ganzen Thema keineAhnung hat. Aber trotzdem: Das passt nicht zusammen,und das ist widersprüchlich.
Sie kritisieren die Härtefallklausel im EEG. Das ist,mit Verlaub, eine Regelung, die wir gemeinsam in derGroßen Koalition beschlossen haben. Jetzt aber kritisie-ren Sie sie.Wir suchen nach Lösungen, auch beim Thema Off-shore, und dann kritisieren Sie das wieder, HerrHempelmann. Das alles passt nicht zusammen.
Sie fordern eine stärkere Synchronisation des Aus-baus der erneuerbaren Energien mit dem Netzausbau –wiederum Herr Heil auf Zeit Online am 6. Oktober. Dasist genau das gleiche Thema, das der Minister angespro-chen hat. Er hat nämlich gesagt: Mit dieser Thematikmüssen wir uns auseinandersetzen. – Dann tut er es, undwiederum sind Sie diejenigen, die es kritisieren unddann zusammen mit den Ministerpräsidenten Ihrer Parteiblockieren.
Dies alles passt vorne und hinten nicht zusammen. Des-wegen ist das, was Sie heute Nachmittag geboten habenund was Sie in den letzten Tagen und Wochen in dieserEnergiedebatte geleistet haben,
Metadaten/Kopzeile:
23788 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 197. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Oktober 2012
Ingbert Liebing
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widersprüchlich, doppelzüngig und passt vorne und hin-ten nicht zusammen.
Es gibt zwei mögliche Interpretationen, meine Damenund Herren, warum Sie dies alles machen. Entwederwissen Sie gar nicht oder ist Ihnen nicht bewusst, wiewidersprüchlich Sie argumentieren –
das wäre schlimm genug –, oder Sie tun es bewusst, umdas eine und das andere und auf allen Feldern alles abzu-decken, egal wie diskutiert wird.
Das eine ist so schlimm wie das andere. Verantwortungs-volle Politik ist weder das eine noch das andere.
Deswegen ist es von vorne bis hinten nicht verantwor-tungsvoll, was Sie in dieser Energiedebatte leisten undwas Sie heute Nachmittag in dieser Debatte geleistet ha-ben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist kaum zu glau-
ben, aber wir haben nur noch eine Rednerin, und der hö-
ren wir jetzt auch gemeinschaftlich zu. Das Wort hat
Frau Kollegin Dr. Maria Flachsbarth. Bitte schön, Frau
Kollegin Dr. Flachsbarth.
Sehr geehrter Herr Präsident! Vielen Dank für Ihrefreundlichen Worte. – Liebe Kolleginnen und Kollegen!Es gibt wieder einmal eine Energiedebatte im DeutschenBundestag, und ich wundere mich.
Wir haben vor nicht allzu langer Zeit eine Debatte ge-führt, in der wir gemeinsam erklärt haben: Das EEG isteine Erfolgsstory, und sie gehört ganz selbstverständlichdem ganzen Haus.
– Nun mal ganz vorsichtig. Ich versuche gerade, etwasNettes zu sagen. Kann ich das vielleicht auch tun?Heute ist der Ausdruck Erfolgsstory noch nicht gefal-len,
und tatsächlich schauen wir heute ein wenig mehr alssonst auf die Kosten.Das EEG hat den Ausbau der Erneuerbaren effektivvorangetrieben – das ist richtig –, aber möglicherweisenicht an jeder Stelle effizient. Darum streiten wir, und esist richtig, dass wir darüber streiten, dass wir über denbesten Weg streiten. Allerdings sollten wir dabei freund-licherweise redlich bleiben.
Die Redlichkeit hat mir in der heutigen Debatte an dereinen oder anderen Stelle gefehlt.
Wenn man zum Beispiel über die Privilegierung re-det, dann ist das sicherlich richtig. Sie ist 2003/2004 un-ter Rot-Grün eingeführt worden – das stimmt –, inklu-sive des Schienenbonus, einer verkehrspolitischenMaßnahme, die mal eben mit ins EEG aufgenommenwurde. Alles prima, wir haben das weitergeführt. Vondaher kann man nichts dagegen sagen.Auch dagegen, dass wir dann diese Privilegierung aufmittelständische Betriebe ausgedehnt haben
– wir haben doch selber in unserem Wahlkreis einen sol-chen Betrieb, Herr Miersch –, ist nichts zu sagen.
Dass man aber dann in dieser Debatte Äpfel mit Birnenvergleicht, indem man sagt, bislang seien um die700 Betriebe privilegiert gewesen und demnächst wür-den es über 2 000 sein, ist nicht richtig; das stimmt sonicht. Zwar sind die 700 Betriebe tatsächlich privile-giert, aber bei den über 2 000 gibt es bisher nur die An-träge der Betriebe, von denen man noch nicht weiß, obsie privilegiert werden. Das stellt sich am Ende des Jah-res heraus.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 197. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 17. Oktober 2012 23789
Dr. Maria Flachsbarth
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Der nächste Punkt: Ihr Kollege Trittin spricht beimThema Golfplätze von einer großen Schweinerei undsagt: Dass sie privilegiert sind, geht gar nicht. – Ehrlichgesagt, finde auch ich das ausgesprochen unverständlich.
Unser Kollege Thomas Gebhart hat im Büro von HerrnTrittin angerufen und gefragt – wir sind immer bereit, et-was zu lernen –: Wie verhält es sich nun mit den Golf-plätzen? Um welchen Golfplatz handelt es sich denn umGottes willen? – Darauf hat er die Antwort bekommen:Es gibt keinen Golfplatz, der von der EEG-Umlage be-freit ist.
– Dann muss sich allerdings Ihr Fraktionsvorsitzendergeirrt haben; denn das ist die Antwort, die unser KollegeThomas Gebhart aus dem Büro des Fraktionsvorsitzen-den Trittin bekommen hat.Wir sollten versuchen, das Ganze in einen gemeinsa-men Kontext zu stellen und die Energiepolitik im Zu-sammenhang zu sehen, anstatt über solche Punkte zustreiten und die Menschen im Land, die hier zuschauenund sich wundern, durch eine solche Debatte wie dieheutige völlig zu verunsichern.
Wir sollten die Erhöhungen, die sich nun aus derEEG-Umlage ergeben, ins Verhältnis setzen. Die Strom-kosten machen in einem durchschnittlichen Haushaltmaximal 20 Prozent der Energiekosten aus. 40 Prozentsind Mobilitätskosten – ich erinnere an die gestiegenenPreise an den Tankstellen –, weitere 40 Prozent sindHeiz- und Wärmekosten. Von 2002 bis 2011 sind derRohölpreis um 210 Prozent, der Erdgaspreis um 123 Pro-zent und der Strompreis um insgesamt 56 Prozent gestie-gen. Dabei ist nicht zu vergessen: Die Wertschöpfungfindet bei Rohöl und Erdgas in erster Linie nicht inDeutschland, sondern in Saudi-Arabien, Russland undanderen Ländern statt. Bei den erneuerbaren Energienfindet die Wertschöpfung hingegen sehr wohl bei uns inDeutschland statt.
Dabei geht es auch um Importunabhängigkeit. Vor die-sem Hintergrund wundere ich mich über die eine oderandere Facette in dieser Debatte
und auch darüber, dass dies nicht stärker in den Mittel-punkt gestellt wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, worauf es jetzt an-kommt und woran wir gemeinsam arbeiten sollten, istder Ausbau der Netze. Die Netze müssen intelligent ge-macht werden. Die Erneuerbaren brauchen mehr Markt-nähe und müssen sich ihre Kunden suchen. Da hilftkeine Verweigerungshaltung, wie wir sie über langeJahre in der Großen Koalition leider erleben mussten.
Wir müssen gemeinsam daran arbeiten, die Akzeptanzerneuerbarer Energien in der Bevölkerung aufrechtzuer-halten. Seien wir doch gemeinsam verliebt ins Gelingen,und seien wir nicht nur verliebt in den eigenen partei-politischen Vorteil!
Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Flachsbarth.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie werden es nicht
glauben, aber die Aktuelle Stunde ist beendet.
Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesord-
nung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Donnerstag, den 18. Oktober 2012,
9 Uhr, ein.
Damit ist die heutige Sitzung geschlossen.
Vielen herzlichen Dank.